Wir Angsthasen und Zimperliesen: Die neue Empfindlichkeit

Sicher liegt es an dieser ordinären Currywurst in scharfer Soße, die ich gestern hemmungslos aus einer Pappschale gepickt und, jawohl, genossen habe. Ethisch nicht zu vertretende Schlachtprodukte, weiß der inzwischen omnipräsente Veganer, blockieren das Gutsein und fördern fiese Überlegungen.

Freunde, das mag sein. Jemand wie ich, der Fleisch, Fisch und tierische Segnungen wie Milch, Eier, Honig ohne Zögern zu sich nimmt, der frisst auch eure Bedenken. Mit Mayo. Es tut mir leid. Aber wann sind wir eigentlich alle so extrem empfindlich geworden? Je besser es uns geht, desto weniger können wir vertragen. Das gilt nicht nur fürs Essen, sondern auch für stickige Luft, Lärm und alles, was gegen unsere zimperlichen Gewohnheiten geht.

Illustration zu Andersens Märchen "Die Prinzessin auf der Erbse". (© Fotolia)

Illustration zu Andersens Märchen „Die Prinzessin auf der Erbse“. (© Fotolia)

„Stell dich nicht so an!“ Dieser barsche Satz gehörte in der Aufbauzeit des 20. Jahrhunderts zur Kindererziehung. Das war kein Spaß, kann ich jüngeren Lesern versichern. Wir mussten den Teller mit dem muffigen Kochfisch leeressen, bei Tisch die Klappe halten, im Stockdunklen einschlafen („Die Tür bleibt zu!“), sonntags ohne Widerspruch wandern und gruseligen alten Tanten ein Küsschen geben.

Verfeinerte Lebensart

All das wollten wir unseren eigenen Kindern nicht antun. Meine Tochter durfte sich Pommes bestellen, mit Erwachsenen plappern, nachts ihre Gänselampe anlassen und stets mit unserer Aufmerksamkeit rechnen. Auch wurde sie nie eiskalt abgeduscht, obwohl das sicher gesund ist. Keiner von uns wollte die Härte der von traumatisierenden Erlebnissen geprägten Kriegsgeneration an die Gesellschaft der Zukunft weitergeben.

Wir waren sensibel, wir wollten es sein. Für eine bessere Gesellschaft. Leider haben wir Gewalt und üble Absichten nicht aus der Welt schaffen können. Verrückte Diktatoren und hasserfüllte Fanatiker tummeln sich auch in der Gegenwart. Und was tun wir? Wir feilen wir an der eigenen Lebensart und haben sie so stark verfeinert, dass wir uns gegenseitig damit erheblich auf die Nerven gehen. Wir sind die Memmen des Alltags. Jeder Hauch von Zigarettenrauch widert uns an. Raus mit euch, ihr Qualmer!

Essen als Herausforderung

Ein gemeinsames Essen wird zu einer Herausforderung. Man muss so viel bedenken. „Kannst du eigentlich Brokkoli vertragen“, fragt mich meine Freundin Uschi, eine kreative Köchin. Nein, Süße, kann ich nicht. Auch andere gesunde Sachen wie Zwiebeln, Nüsse, Kohl und Linsen, sogar Salat sind schlecht für meine Art der Darmbeschaffenheit, um es mal vorsichtig auszudrücken. Ich hätte gern Maispoularde mit Kartoffelpüree. Und Suppe ohne Schnittlauch. Und bloß kein Körnerbrot. Lieber Baguette. Und zum Nachtisch keine Beeren. Aber gerne eine Schokoladen-Mousse.

Gut, dass meine Freundin nicht zugleich eine jener Frauen eingeladen hat, die abends keine Kohlenhydrate wollen und Zucker für pures Gift halten. Den größten Küchenstress hat Uschi, selbst eine erklärte Freundin von Gulasch und Leberkäs, in ihrem vegetarisch-kalorienarm orientierten Damenkränzchen, zu dem ich zum Glück nicht auch noch gehöre. Allerdings ist eine Allergikerin dabei, die weder Eier und Milchprodukte noch Schalentiere und Zitrusfrüchte vertragen kann – von Nüssen ganz zu schweigen.

Um es klar zu sagen: Einige Unverträglichkeiten können lebensgefährlich sein. Wer davon betroffen ist, hat keine Wahl, als auf die bedrohliche Eigenart seines Immunsystems Rücksicht zu nehmen. Aber niemand weiß genau, wie viele Menschen tatsächlich unter ernsthaften Allergien leiden. Nach Auskunft der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft zeigen etwa 27 Prozent aller deutschen Männer und 39 Prozent der Frauen in unserer (zu) gründlich geputzten Zivilisation allergische Reaktionen. Die meisten davon reagieren verschnupft auf Pollenflug, einige bekommen Bauchweh von Mehl oder Milch. Andere klagen über die Tücke der Hausstaubmilbe und lassen den Teppichboden entfernen. Nur ein glatter Boden ist ein guter Boden. Der lässt sich leicht wischen. Aber nicht mit scharfen Substanzen, davon brennen uns die Augen. Am besten nur mit Wasser.

Selbst Wasser wird zum Problem

Apropos Wasser. Selbst das harmlose Element ist ein heikles Thema für uns Empfindsame. Während in Dürre-Regionen jedes Schlammloch genutzt wird, müssen wir, was da klar aus der Leitung fließt, erst mit Magneten und Heilsteinen „lebendig“ machen, um es trinken zu können. Manche glauben, jeder Schluck Sprudel könnte ihren Bauch aufblähen und die Gesundheit ruinieren. „Mit oder ohne Kohlensäure“ ist in Lokalen inzwischen eine gängige Frage, genau wie „mit oder ohne Koffein“. Ein Luxusproblem, wie mir scheint.

So, wie wir nicht mehr einfach zu uns nehmen, was auf den Tisch kommt, kontrollieren wir stets die gewöhnlichen Bedingungen unserer Umgebung. Allem wird misstrauisch nachgefühlt. Ist es hier drin zu kalt oder zu warm? Zieht es von der Tür her? Reden die Leute zu laut? Muss ich mich umsetzen? Aber nicht an den Tisch zwischen Fenster und Spiegel! Da geht nach Feng Shui die Energie verloren.

Kein Filter für die Umweltreize

Hilfe, wir sind so empfindlich, es ist nicht auszuhalten mit uns! Tatsächlich erforscht die amerikanische Psychologin Elaine Aron (72) schon seit den 1990er-Jahren ein anschwellendes Phänomen, das sie „high sensitivity“ nennt, Hochsensibilität (HS). Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung, sind nach Ansicht der Bestseller-Autorin („Sind Sie hochsensibel?“) von dieser Besonderheit betroffen. Das heißt, sie nehmen die Reize ihrer Umwelt intensiver wahr als der Rest der Menschheit. Geräusche, Gerüche, Farben, zufällige Berührungen können für hochsensible Naturen schier unerträglich sein. Ihnen fehlt gewissermaßen der innere Filter, mit dem robustere Naturen ihre Wahrnehmungen dämmen.

Wenn es eng wird bei der Vernissage, flieht der hochsensible Typ nach Hause. Wenn das Ferienhotel neben der Durchgangsstraße liegt, muss er sofort abreisen. Er kann das weniger Angenehme einfach nicht ausblenden – und will es auch nicht. Wie der Antiheld aus Wilhelm Genazinos Roman „Mittelmäßiges Heimweh“. Zitat: „Ich muss überlaute Menschen rechtzeitig erkennen und ihnen schnell aus dem Weg gehen. Seit Wochen schon will ich private Lärmerwartungsstudien anstellen, damit ich im Straßenverkehr nicht mehr so oft erschreckt werden kann.“ Angst und das Bedürfnis nach Kontrolle gehören auch im wirklichen Leben zusammen.

Wie die Prinzessin auf der Erbse

„So ein Quatsch“, hätte meine Mutter dazu gesagt. Wie viele Zeitgenossen hatte sie früh gelernt, die eigenen Befindlichkeiten zu ignorieren, um Nazi-Terror, Kriegsnächte, mörderische Fluchten und Hunger zu überleben. Bis zuletzt mangelte es ihr an Zartheit. Wir behüteten Nachgeborenen hingegen scheinen geradezu stolz auf unsere Empfindlichkeit zu sein. Ja, vielleicht wollen wir sogar gern die Hochsensiblen sein. Und fein wie die „Prinzessin auf der Erbse“ aus Hans-Christian Andersens kleinem Märchen. Sie erinnern sich?

Es war einmal ein Prinz, der wollte partout eine Prinzessin heiraten. Doch er traf auf seinen Reisen nur Betrügerinnen. Da ersann die alte Königin zu Hause einen unfehlbaren Test. Sie ließ die nächste Kandidatin, die ganz durchnässt am Stadttor erschienen war, in der Schlafkammer übernachten. Ganz unten auf die Bettstelle hatte sie eine Erbse gelegt und darauf zwanzig Matratzen sowie zwanzig Eiderdaunendecken gestapelt. Als die Unbekannte am nächsten Morgen klagte, dass sie überhaupt nicht schlafen konnte, weil sie auf etwas Hartem gelegen habe, da wussten alle, dass dies die richtige Braut war. Denn: „So empfindlich konnte niemand sein außer einer echten Prinzessin.“

Und? Wie zickig ist das denn? Wir sind keine Märchenprinzessinnen und sollten unsere Empfindlichkeiten auf ein angemessenes Maß reduzieren. Wie wäre es mit einer Currywurst draußen an der Ecke, wo es zieht und der Verkehr vorüberrauscht? Nur so als Übung. Na bitte: Geht doch!




Wenn die Eschen und Kastanien sterben…

Obacht, hier kommt ein Text, der im naiv-grünen Sinne von „Mein Freund, der Baum“ rezipiert werden könnte und den manche vielleicht belächeln oder herzig finden werden. Mir doch egal. Ich mache mir trotzdem Sorgen um „unsere“ Kastanien. Und um ein paar andere Bäume, zum Exempel Eschen. Ernsthaft jetzt.

Das waren noch Zeiten: Kastanienblüte in der Dortmunder Arndtstraße am 8. Mai 2009. (Foto: Bernd Berke)

Das waren noch Zeiten: Kastanienblüte in der Dortmunder Arndtstraße am 8. Mai 2009. (Foto: Bernd Berke)

Die bange Rede ist von heftigen Baumkrankheiten, gegen die offenbar einstweilen kein Kraut gewachsen ist. Die Ruhrnachrichten schrieben bereits im Juli über „Blutende Stellen am Hauptstamm, eingetrocknete Äste“ und starken Blattverlust. Es schmerzt schon beim bloßen Lesen. Es sei denn, man gehöre zu jenen impotenten Vollidioten, die immer schon lauthals tröten „Mein Auto fährt auch ohne Wald“.

Was im Juli drohte, ist im September wohl noch dringlicher geworden. Dieser Tage berichtete der WDR in TV und Hörfunk (Landesstudio Dortmund) vom rapide fortschreitenden Befall. Während die Ruhrnachrichten noch quasi-wissenschaftlich vom Bakterium der Spezies Pseudomonas syringae pv. aesculi geraunt hatten, gab sich WDR-Autorin Claudia Wietfeld jetzt geradezu poetisch morbid: „Falsches weißes Stengelbecherchen – so schön der Name – so tödlich die Krankheit“.

Wenn man solchen winzigen Wesenheiten denn böse Absichten unterstellen will: Heimtückische Bakterien sind also am Siechtum der Kastanien schuld. In den Eschen-Beständen wütet derweil ein (asiatischer) Pilz. Die Bäume verfaulen elendiglich. Nur gut, dass wir sie nicht schreien hören.

Haben die lokalen Medien den Sachverhalt nun aufgebauscht oder womöglich sogar noch unterschätzt?

Schon werden die Äxte und Motorsägen geschärft: Hunderte Bäume müssen allein in Dortmund gefällt werden. Auch in den Nachbarstädten Hagen und Witten geht’s sozusagen ans Eingemachte. Und wer weiß, wo sonst noch überall. Schon munkelt man, in zehn bis 15 Jahren könne die Kastanie im Revier ganz und gar ausgestorben sein.

Alles bloße Panikmache? Das in den 80er Jahren immerzu beschworene Waldsterben ist ja auch nicht so apokalyptisch eingetreten. Und heute sehnen altgediente Zyniker an jedem etwas kühleren Tag den wahren Klimawandel mitsamt tropischen Temperaturen herbei.

Doch nun mal von der naturnahen, meinethalben treudeutschen Gemütsanwandlung („Waldeslu-hu-hust“) aufs Gelände der schieren Ästhetik, also zur Kultur übers Pflanzwesen hinaus: Ich mag mir einige schattige Straßen nicht ohne die bislang so majestätischen Kastanien vorstellen. Ich mag mir auch nicht ausmalen, dass Kinder in den Herbsten der näheren Zukunft keine herabgefallenen Kastanien mehr sammeln können, wie es gerade jetzt wieder an der Zeit ist. Mir geht’s da übrigens nicht nur ums Basteln von Kastanienmännchen.

Wieso ist eigentlich noch kein Gegenmittel gefunden? Schläft die Forschung? Und ist mal wieder vor allem das Ruhrgebiet betroffen, während Holsteiner, Bayern und Schwaben weiterhin unter Kastanien lustwandeln? Das kann doch wohl nicht wahr sein.




Soziale Miniaturen (16): Peinlicher Moment

Ein Plastikbecher dieses Typs... (Foto: BB)

Ein Plastikbecher dieses Typs… (Foto: BB)

Dieser Tage im Empfangsbereich einer ärztlichen Praxis: Ein älterer Mann im typischen Beige möchte seine Urinprobe abgeben. Er hat nicht gemerkt, dass er den Becher diskret in eine Durchreiche hätte stellen sollen.

Doch so geräuschlos geht es nicht vonstatten. Jetzt tapert er mit dem hoch erhobenen, gegen das Licht gehaltenen Plastikbecher ratlos zum Rezeptionstisch und sagt zu den Arzthelferinnen – in einem Tonfall zwischen Verunsicherung und einem kümmerlichen Rest von mühsam verhohlenem Mannesstolz: „Ich weiß nicht, wie viel Sie jetzt brauchen. Das ist das, was ich gemacht habe.“ Fehlt noch, dass er den kühnen Bogenverlauf des Strahls beschrieben hätte. Was er vorbringt, klingt allerdings doch brüchig und kläglich, als wolle er belobigt werden wie ein Kleinkind. „Fein gemacht!“

Er hat offensichtlich keinen Begriff (mehr) davon, was überlicherweise frei heraus geäußert werden sollte. Das angrenzende Wartezimmer ist gerade nahezu leer. Besser so. Je nachdem, hätte ihn sonst vielleicht übler Spott ereilt.

Man könnte sein Verhalten debil nennen. Doch andererseits hat es auch etwas Unbefangenes, Unbekümmertes, von Grund auf Harmloses. O sancta simplicitas! Ist es nun kleinlich, das peinlich zu finden?

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Bisher in der losen Textreihe „Soziale Miniaturen“ erschienen:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14), Zuckfuß (15)




Gemischte Gefühle beim Abschied von sämtlichen Dingen: „Später Spagat“ – die letzten Gedichte von Robert Gernhardt

Von Bernd Berke

Robert Gernhardt ist kein purer Spaßvogel gewesen. Der kürzlich an Krebs verstorbene Dichter hat zuletzt immer öfter auch tieftraurige Töne anstimmen müssen. Wenn einer reihenweise Chemotherapien erduldet, steht jeglicher Humor auf existenzieller Probe.

Mit den erschütternden „K-Gedichten“ hatte Gernhardt bereits 2003 einige Bezirke der drei großen „K“-Fragen durchschritten: Krankheit, Krieg und Komik. Jetzt liegt seine letzte Lyrik unter dem Titel „Später Spagat“ vor. Manche Zeile scheint schon von verzweifelter Entkräftung zu zeugen, doch viele Verse sind zum Heulen gut.

Gewiss: Der Hang zur Komik und die Freude an Wein und Weib regen sich noch, doch es wächst und wächst die unmittelbare Angst vor dem Sterben. Aus diesem Spagat zwischen „Standbein‘ und „Spielbein“ (so heißen die beiden Hauptteile des neuen Bandes) ergeben sich immer wieder andere Mischverhältnisse. Mal überwiegt dunkle Furcht, dann wieder grimmig lachlustiger Trotz oder unbändige Unsinnslaune. Häufig durchdringen die Gemütszustände einander, bis hin zum Aufglühen der Gegensätze. In einigen Passagen scheint es so, als könne eine überaus gelungene sprachliche Form sogar den Schrecken des Todes mildern.

Freilich erinnert irgendwann alles ans nahende Ende, nach und nach wird’s ein Abschied von sämtlichen Dingen: Sowohl das Vergehen als auch das Aufblühen der Natur in seiner geliebten Toscana gerinnen hier zu Mahnzeichen der Vergänglichkeit. Der kundige Traditionalist Gernhardt greift derlei Gedankengut auch schon mal in passend barocken Fügungen nach Art eines Paul Gerhardt auf – wie er denn überhaupt den Formenvorrat zwischen Choral und Sonett bedient (zuweilen auch lustvoll zerfasern lässt), dass es gelegentlich noch mal richtig rauscht.

„Durch die Landschaft meiner Niederlagen…“

Mit Gott, an den er wohl nicht hat glauben können, hat der sterbenskranke Gernhardt gehadert. Zornesruf zum (leeren?) Firmament hinauf: „Der sich das erdachte, war furchtbar / Sein Denken ging einzig darauf, daß die Menschheit voll Furcht war…“

Womöglich aufkeimendes Selbstmitleid bekämpft Gernhardt mit bitteren Scherzen:

„Nach dem Befund: / `s liegt Darmkrebs vor‘ / leckt keiner sich die Finger. / Auch Lebermetastasen sind / nicht grad der Riesenbringer…“

Angesichts des Todes befällt selbst den schöpferischen Gernhardt das Gefühl, im Leben fast nichts vollbracht zu haben: „Durch die Landschaft meiner Nîederlagen / gehe ich in meinen alten Tagen.“ Und dann rechtet er streng mit sich selbst: Als Maler und Zeichner habe er nie die volle Wirklichkeit des Lichts und der Farben bannen können. Herrje, was sollen wir alle da einst sagen?

Im „Spielbein“-Teil erprobt Gernhardt noch einmal mit geradezu kindlicher Freude Formen wie den Schüttelreim, der bis in absurde Wortschöpfungen getrieben wird: „Was seh ich, Weib? Ein Tränlein quillt? / Das trocknet, eh das Quänlein trillt.“

Dann aber wieder der Schatten des Todes – und dieses genial einfache Gedacht für künftige Lesebücher:

„Ich bin viel krank. / Ich lieg viel wach. / Ich hab viel Furcht. / Ich denk viel nach. /

Tu nur viel klug! / Bringt nicht viel ein. / Warst einst viel groß. / Bist jetzt viel klein.

War einst viel Glück. / Ist jetzt viel Not. / Bist jetzt viel schwach. / Wirst bald viel tot.“

Robert Gernhardt: „Später Spagat“. Gedichte. S. Fischer Verlag. 121 Seiten, 14,90 €.




Von Bernd Berke

Haltern. Man sollte mit Superlativen stets vorsichtig sein, doch dieser hat etwas für sich: Mit einer archäologischen Sensation wartet jetzt das Westfälische Römermuseum in Haltern auf. Grandiose Funde aus Herculaneum, der verschütteten antiken Stadt im Golf von Neapel, sind jetzt erstmals außerhalb von Italien zu sehen. Etliche weitere Leihgaben kommen hinzu. Erst nach dem kleinen Haltern werden Bremen und Berlin die weiteren deutschen Stationen sein.

Herculaneum steht heute längst im Schatten der bekanntlich gleichfalls versunkenen Nachbarstadt Pompeji. Der Ort, über dem sich heute das moderne Ercolano erhebt (was weitere Ausgrabungen erschwert), endete beim Ausbruch des Vesuv am 24. August des Jahres 79 n. Chr. Mit 100 Stundenkilometern donnerten in jener furchtbaren Nacht 400 Grad heiße Lava und Gesteinsmassen zu Tal und begruben die Stadt mit ihren Bewohnern. Der Badeort unterm Vulkan galt seinerzeit als sommerlicher Treffpunkt der Reichen und Schönen des alten Rom.

Vulkanasche wirkte als „Konservierung“

So makaber es klingt: Die Archäologen haben von der Katastrophe profitiert. Denn mit der Zeit bildete sich aus der Lava eine rund 25 Meter dicke, sehr feste Schicht, die alle Überreste luftdicht konserviert hat. Und so bekommt man jetzt in Haltern staunenswert gut erhaltenen, prachtvollen Schmuck und mythologische Bronze-Figürchen ebenso zu sehen wie etwa Wandgemälde und Stücke aus einer Papyrusrollen-Bibliothek oder allerlei trunkene Götter), mit denen begüterte Römer ihre Villen in Herculaneum zierten. Ja, selbst eine hölzerne Wiege, in der einst ein Baby gestorben sein muss, steht als schmerzliches Mahnmal in der Ausstellung.

Anhand der Funde haben Wissenschaftler viele Schlüsse ziehen können: So war etwa die Hälfte der aufgefundenen, in Haltern als exakte Abgüsse gezeigten Skelette von Arthrose (Krankheit der Gelenke) befallen. Verschleißerscheinungen waren überhaupt weit verbreitet. Die Forscher streiten darüber, ob dies darauf hindeutet, dass es sich um ärmere Bewohner, also um (teils freigelassene) Sklaven handelt. Haben sich manche Reiche retten können, während die Sklaven allesamt starben? Man weiß es nicht.

Pompeji kam erst später an die Reihe: Mit der Entdeckung Herculaneums (1709 durch einen Bauern, der einen Brunnen anlegen wollte) begann recht eigentlich die Geschichte der neueren Archäologie. Von 1738 bis 1768 währte die erste Grabungs-Kampagne, die damals in ganz Europa beachtet wurde. Nicht nur Winckelmann und Goethe ließen sich von der Begeisterung anstecken. Der klassizistische, auf die Antike zurückgreifende Stil setzte sich durch. In Haltern werden solche Folgewirkungen dokumentiert – bis hin zu Meißner Porzellan mit Herculaneum-Motiven und Gemälden vom Ausbruch des Vesuv. Darstellungen zwischen Faszination und Angst.

Stadtpläne, Dia-Schaukästen und eine Computer-Animation führen den Besuchern ein Herculaneum vor Augen, wie es wohl in seiner Blütezeit gewesen sein mag. Das stattlichste Domizil, die „Villa dei Papiri“, war imposante 250 lang und 80 Meter breit. Und dann sieht man Münzgeld, das mit Lava zu bizarren Klumpen „verbacken“ ist. Ein stärkeres Sinnbild für die Vergänglichkeit irdischer Güter ließe sich schwerlich finden.

„Die letzten Stunden von Herculaneum“. Westfälisches Römermuseum, Haltern (Weseler Straße 100). 21. Mai bis 14. August. Di-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 5 €, Kinder/Jugendliche 2,50 €. Katalog 24,90 €. www.herculaneum-ausstellung.de




Der Krebs und der Krieg – Robert Gernhardts erschütternde „K-Gedichte“

Von Bernd Berke

Robert Gernhardts „K-Gedichte“ sind ein erschütterndes Buch. Vor allem dann, wenn man weiß, wie der Autor bisher geschrieben hat. Denn Gernhardt hatte bislang eigentlich noch jedem Thema tröstende Komik abgewonnen oder notfalls abgerungen. Nun aber geht es an die Reserven des Lebens.

Gewiss: Schon 1996 hatte Gernhardt, Kopf der „Neuen Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors, Moll-Töne anstimmen müssen. Seinerzeit war er ernstlich herzkrank und musste sich einem Eingriff unterziehen. Schon die daraus geronnenen „Herzgedichte“ führten Klage gegen körperliche Unbill.

Jetzt kommt es noch schmerzlicher. Gernhardt ist an Krebs erkrankt und durch die Vorhölle langwieriger Chemotherapien gegangen. Töricht wäre es zu sagen, man konnte sein Leiden in ganzer Tragweite mitempfinden. Wer solches nicht am eigenen Leibe erlitten hat, bleibt weit außen vor.

Doch Gernhardts „K-Gedichte“ nehmen einen ziemlich mit. Das „K“ steht in diesem Band für Krebs und Krieg, nur sehr bedingt für eine Komik der Hinfälligkeit. In Teil eins geht es um die Krankheit, in Teil zwei um den Krieg im Irak.

Kampf um den Körper, wuchernde Schlachten

Dabei verschränken sich mitunter die Bereiche: Der Kampf gegen den drohenden körperlichen Verfall gleicht einem furchtbaren Krieg, die Schlachten im Nahen Osten wiederum wuchern wie ein Geschwür, doch eben nicht naturwüchsig, sondern willentlich von Menschen herbeigeführt. Das Gedicht „5. Mal. Beginn der Chemo“ blendet beides ineinander:

„Krebskrieger fängt sein Tagwerk an: / Auf denn, Chemie! Heut heißt es: Ran!

Krebskriegerweiß, daß unterliegt, /wer Krebs nur kriegt und nicht bekriegt.

Krebskrieger muß aufs Ganze gehn. / Er stellt die Frage: Wer packt wen?

Packt Mann den Krebs? Packt Krebs den Mann? / Krebskrieger fängt sein Kriegswerk an.“

Da lauert schon Resignation, sie überwiegt aber noch nicht. An anderer Stelle heißt es allerdings:

„Dürrer werden, matter werden / Abschied nehmen von der Erden, / nach und nach – zuerst vom Kiez. / dann vom Heim, dann vom Hospiz, / dann, zum Sterben durchgewunken…“

Man könnte einwenden, der Reim mindere die Wirkung. Doch bei Gernhardt ist just das Gegenteil der Fall. Derlei Abgründe, nahezu heiter vorgetragen etwa im Tonfall eines Wilhelm Busch (letztlich aber immer in Gernhardts ureigener Melodie), klaffen umso tiefer. Zuweilen erinnern die Verse an barocke Vergänglichkeits-Lyrik.

Das Tröstliche herbeizitiert

Zur Abwehr des Schrecklichen beschwört Gernhardt einiges herauf – die Schönheit Italiens, die Freuden des Lebens; auch Hund und Katze, die keine leutseligen Genesungswünsche absondern, sondern trostreich da sind. Doch all das schmeckt schal, so lange der Krebs nicht „besiegt“ ist. So mündet der Zyklus in einen dringlichen Appell, zur Krebsvorsorge-Untersuchung zu gehen – Zeilen, die in jeder Arztpraxis hängen könnten.

Die Kriegs-Gedichte, gehalten in der altehrwürdigen Form des Sonetts, sind wohl eine nur allzu verständliche Anstrengung, sich nicht allein aufs persönliche Leiden zurückwerfen zu lassen. Mit Furor wird das Amerika von George W. Bush als kriegstreiberisch gebrandmarkt, worüber sich reden lässt. Problematisch wird es, wenn Gernhardt das Geschehen in die NS-Nachbarschaft rückt („Sternbanner hoch! Kampfhelme gut verschlossen! / USA marschiern mit heißem Jünglingstritt…). Das ist denn doch eine ziemlich verwegene Zuspitzung.

Robert Gernhardt: „Die K-Gedichte“. S. Fischer Verlag. 102 Seiten. 14 Euro.




Wenn die Zeit den Dichter krank macht – ein Gespräch mit Peter Rühmkorf auf der Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Peter Rühmkorf, 1929 in Dortmund geboren, zählt zu den versiertesten Sprach-Artisten der deutschen Literatur. Jetzt ist sein Werk „Tabu 1 – Tagebücher 1989-1991″ (Rowohlt, 624 Seiten, 54 DM) erschienen, scharfzüngige Zeitschau der „Wende“-Phase aus erschütterter linker Sicht – und bewegender Bescheid von den Leiden des Alterns. Ein Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse:

Sie Verraten in Ihrem Buch einige peinliche Dinge über Prominente. Zum Beispiel, daß der Dramatiker Rolf Hochhuth gelegentlich Selbstgespräche auf öffentlichen Toiletten führt. Ist das nicht Tratsch?

Peter Rühmkorf: Ich wollte kein Schlüsselloch-Buch schreiben. Trotzdem sind mir im Laufe der Jahre einige kleine Szenen über den Schirm gehuscht, die ich mitgenommen habe.

Am wenigsten haben Sie sich selbst geschont. Sie schildern detailliert ihre körperlichen Beschwerden.

Rühmkorf: Es kommt ja nicht nur auf den rohen Inhalt an. sondern darauf: W i e ist es gemalt? Wenn Rembrandt, der junge Dürer oder auch Horst Janssen sich selbst gezeichnet haben, wie unbarmherzig sind die mit sich umgegangen! Weil es einen berechtigt, scharf auf die übrige Welt zu blicken.

Warum die Zeit von 1989 bis 1991?

Rühmkorf: In meiner Biographie gab es bestimmte Brüche. Einen Bruch im Rücken, weil mir ’ne Bandscheibe rausflog. Dann starb mein altes Mütterchen. Und dann kam auch noch die deutsche Einheit.

Das Thema hat Sie offenbar sehr beschäftigt.

Rühmkorf: Zutiefst. Schon als die APO, die Außerparlamentarische Opposition der 60er Jahre, sich in Luftblasen auflöste, habe ich mich gefragt, wie mein Ego überhaupt noch zusammenhielt. Ähnlich war es hier.

Trügt der Eindruck, daß Sie den Prozeß der Vereinigung, den Sie als Vereinnahmung verstehen, noch schärfer kritisieren als Günter Grass?

Rühmkorf: Grass hat eine ganz andere Methode. Ich wollte zeigen: hier das Privatleben – dort der geschichtliche Horizont. Wo paßt es zusammen und wo klafft es unvereinbar? Und weil ich die Haltung zu meinem eigenen Lande bis in meinen Organismus hinein als kritisch erlebt habe, wollte ich diese Gemütslage festhalten. Ich reagierte damals auf den Zuwachs der Nation mit Verweigerungssymptomen, ich wurde krank.

Welche Rolle spielt der Rausch? Sie verzeichnen häufig ihren Alkoholkonsum oder auch Haschisch-Proben.

Rühmkorf: Ich bin ein Sucht-Charakter. Ich habe ein süchtiges Verhalten zum ganzen Leben. Ich bin auch arbeitssüchtig. Und ich habe ein Sucht-Verhältnis zum Fernsehen.

Es gibt wohl kein anderes Tagebuch, in dem Fernsehen so oft vorkommt.

Rühmkorf: Das stimmt. Ich habe hinterher fast einen Schrecken bekommen. Aber das Fernsehen hat etwas Verbindendes. Wenn ich immer nur über Leute spräche, die keiner kennt, wäre es uninteressant. Über den Schirm flimmern die bekannten Gestalten. Und: Die moderne Fernseh-Schnittechnik ist meiner literarischen Methode verwandt. Diese rasanten Abfolgen. Ähnlich ist es mit dem Tagebuch. In einem Moment sind wir in meinem Gärtchen, im nächsten auf der Bonner Bühne.

Sie sind mit Günter Grass befreundet, und Sie haben Arbeitskontakte mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki gepflegt. Wie haben Sie den Streit um Grass‘ Roman „Ein weites Feld“ erlebt?

Rühmkorf: Ich habe Ranicki daraufhin einen gemeinsamen Auftritt abgesagt. Ich habe ihm nicht seine Kritik im „Spiegel“ verübelt, sondern, daß er Grass im „Literarischen Quartett“ in die Nähe von Goebbels gerückt hat. Da ist für mich ein Punkt erreicht, wo alle Solidaritäten aufgekündigt werden.




Aids macht auch Künstler hilflos – Hagen: Bilder und Objekte zum Thema Immunschwäche

Von Bernd Berke

Hagen. In einer Ecke des Museums erhebt sich ein Hügel aus lauter Bonbons. Die Info-Tafel verkündet: Jene leckeren Kleinigkeiten wiegen zusammen so viel wie ein abgemagerter Aids-Kranker. Symbolisch dürfen die Besucher den Mann gleichsam weiter schrumpfen lassen, indem sie je ein Bonbon wegnehmen. Welch ein Kurzschluß zwischen Tod und Genuß!

Ist das nun eine eindringliche Mahnung oder schlicht eine Geschmacklosigkeit? Diese Frage kann man sich in der Hagener Ausstellung „Thema: Aids“ ständig stellen.

Hagen ist einzige deutsche Station der Schau, die aus Oslo kommt und praktisch nur Aids-Kunst aus den USA versammelt. Dort ist die Diskussion weiter fortgeschritten und hat ganz offenbar Künstler animiert, sich weniger um ästhetische Werte als um die korrekte Behandlung sozialer Fragen zu kümmern. Wie prekär und zuweilen peinlich derlei beflissene Trauerarbeit sein kann, hat kürzlich Fritz J. Raddatz in der „Zeit“ für die Literatur dargelegt. Manche seiner Bedenken können wohl auf bildnerisches Schaffen übertragen werden.

Symbol, laß nach!

Man schaue sich an. wie etwa Barton Benes das Thema unter sich begräbt: Erst zeigt er Fixernadeln als Molotow-Cocktails, dann setzt er eine Dornenkrone daneben. Symbol, laß nach! Fast untrügliches Zeichen für ästhetische Hilflosigkeit: Einige Künstler brauchen enorm viele Schriftzeichen und Worte, um ihr Anliegen zu verdeutlichen. Schier endlose Listen mit Namen von Aids-Toten sind ein weiteres Mittel, das sich längst abgenutzt hat. Da hilft es auch nichts, wenn die Kolumnen in goldenen Lettern präsentiert werden, als solle das Ableben durch Aids veredelt werden.

Hilflosigkeit liegt dem Thema natürlich nahe. Sie trägt denn auch humane Züge. Davon zeugen etwa die vielen Foto-Sequenzen über körperlichen Verfall. Nur muß man dies nicht unbedingt Kunst nennen, sondern engagierte Dokumentation. Andere nehmen das Thema unter Lupe und Mikroskop: womöglich infektiöses Ejakulat in verfremdender Großaufnahme, desgleichen Blut, Zellen, Viren.

Bundeszentrale als Förderer

Man ist dankbar für verzweifelt-sarkastische Schlenker. so etwa bei jenen zunächst verdeckten GIücksspiel-Karten, die hernach die Konterfeis von Aids-Toten vorweisen. Fast jede Karte ein Verlust, nur ein paar Joker haben gewonnen. Ein Blatt zeigt den Kopf von Keith Haring, der vor einigen Jahren an Aids starb. Sein titelloser Beitrag von 1988, eine Art Virus-Labyrinth als schwarzweißes Riesenformat, zählt zu den besseren Arbeiten.

Im Seitenkabinett sieht man Aids-Aufklärungsplakate aus aller Welt, im Vorraum ebenso gut gemeinte Beiträge der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die das Projekt fördert und als „positive Strategie“ preist. Kann Kunst strategisch wertvoll sein?

Thema: Aids“. Osthaus-Museum, Hagen. Ab sofort bis 9. Januar 1994. Tägl. außer Mo 11-18, Do 11-20, So 11-18 Uhr.




Nur den Staatsanwalt will niemand gerne spielen – Therapie-Projekt in Eickelborn: Drogensüchtige stellen ihre Lebensgeschichte auf der Theaterbühne dar

Von Bernd Berke

Lippstadt/Eickelborn. „Rolltreppe abwärts“, „Nullouvert“. Schon solche Stücktitel deuten an, daß Theater sich in die Niederungen begibt; nach ganz unten – dorthin, wo z. B. Drogen-Karrieren enden.

Jetzt hat die Gruppe mit dem Namen „Stoffwechsel“ bereits ihr drittes Stück einstudiert. Es heißt „Popshop“. Besonderheit: Die Schauspieler sind 14 Drogenpatienten der psychiatrischen Landesklinik in Lippstadt-Eickelborn. Sie gehen in diesen Tagen sogar erstmals auf eine kleine Tournee, spielen vor Schülern und Jugendlichen. Damit die nicht eines Tages auch an irgendein schlimmes Zeug geraten.

Der Titel „Popshop“ stammt aus dem Szene-Jargon und bedeutet so viel wie „Endstation“ oder „Nichts mehr zu sagen/machen“. Die jungen Leute haben das Stück (mit Hilfe ihrer Therapeuten Günter Seidenberg und Caroline Happe) selbst verfaßt und auch das Bühnenbild erstellt. Viele Stunden haben sie dafür geopfert.

Die meisten sind Männer zwischen 20 und 30, allesamt erst seit wenigen Monaten „clean“, also noch lange nicht über den Berg der Sucht hinweg. Das Theaterspielen wurde zum Teil der Therapie. Einer sagt’s für alle: „Wir hatten endlich in unserem Leben das Gefühl, selbst mal was Sinnvolles auf die Beine zu stellen.“ Klar, „etwas zäh und mühsam“ sei die Sache anfangs gewesen. Man hatte nicht nur mit dem Text zu kämpfen, sondern auch mit sich selbst. Und mancher konnte sich zunächst mit seiner Rolle nicht anfreunden. Welcher Drogensüchtige mag schon gern einen Staatsanwalt spielen?

Der Text handelt von jenem Uwe, der aus Berlin nach Dortmund zieht und wegen eines Beschaffungsdiebstahls in den Knast kommt. In Rückblenden werden Stationen seiner Drogenkarriere beleuchtet. Dabei kommen Justiz und Sozialarbeiter nicht gerade gut weg. Essenz des Stückes: Drogensüchtige sind weniger kriminell als krank und waren vor ihren Taten selbst Opfer. So weit das Pflichtprogramm im Sinne einer liberalen Sozialpädagogik.

Doch natürlich geht es um mehr. Zum einen lernen die Drogenpatienten auf der Bühne, sich offen und ehrlich vor Publikum zu ihrer Sucht zu bekennen. Zum anderen wirken sie als Darsteller auf das junge Publikum viel glaubhafter als Profi-Schauspieler. Sie haben selbst durchlitten, was sie da spielen. Sie machen einem nichts vor. Und sie stellen sich nach jeder Aufführung der Diskussion.

Kann sein, daß sie den einen oder anderen labilen Zuschauer vom Einstieg in harte Drogen abhalten. Dies allein würde das vom Land bezuschußte Projekt rechtfertigen. Die Produktion ist jedenfalls weit entfernt vom läppischen Laienspiel. Dazu ist sie zu nah an der Wirklichkeit.

Aufführungen: 13.-16. September in Werl, Soest, Lippstadt, Beleke (vermutlich ausverkauft). 20., 24. Sept. und 27. Sept.-l. Okt. in Lippstadt-Eickelborn. jeweils 19 Uhr.




Kongreß über Kunst und Psychiatrie erkundet die „Heilkräfte“ der Kultur

Von Bernd Berke

Münster. Die Vergangenheit ist nicht vorbei: Wenn vom 1. bis zum 5. Oktober rund 500 Experten in Münster ihren Kongreß „Kunst und Psychiatrie“ abhalten, wollen die deutsehen Teilnehmer immer noch Schäden aus der NS-Zeit beheben.

Nirgendwo sonst hätten sich seit jenen Jahren Vorurteile gegen psychisch Kranke so hartnäckig festgesetzt wie in Deutschland, ließen die Kongreß-Organisatoren gestern wissen. Da treffe es sich gut, daß man vom Nachbarn mehr Toleranz und Offenheit lernen könne. Denn die Niederlande seien weltweit führend im gezielten therapeutischen Einsatz der Künste. Während in unseren Kliniken bildende Kunst, Tanz oder Theaterspiel oft nur als „Beschäftigungstherapie“ verabreicht würden, gelte kulturelle Betätigung in den Niederlanden als unverzichtbarer Behandlungsfaktor.

Veranstalter des Wissenschaftler-Treffens ist denn auch der 1975 gegründete „Niederländisch-deutsche Verein für seelische und geistige Gesundheit“, dem namhafte Psychiater, aber auch Forscher anderer Fachrichtungen aus beiden Ländern angehören. Der Kongreß soll nicht abgeschottet tagen, sondern sich möglichst stadtweit bemerkbar machen. Mitorganisator Dr. Wolfgang Pittrich vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe: „Die Bevölkerung soll sozusagen ständig über Kunst und Psychiatrie stolpern“. Zu diesem Zweck wird vor allem auch die örtliche Kulturszene mobilisiert, die z.B. Theateraufführungen und Filmprogramme zum Kongreßthema vorbereitet. Neben Profis und freien Kulturschaffenden betritt auch eine Gruppe. ehemaliger Drogenabhängiger aus Hamm im kulturellen Rahmenprogramm die Bühne. Außerdem laufen zeitgleich mehrere Ausstellungen mit Bildern von psychisch Kranken. Bei Vorträgen, Workshops und Exkursionen (in psychiatrische Anstalten) wollen die Teilnehmer allerdings auch mal unter sich bleiben.

Das Themenspektrum ist denkbar breit. Da geht es u. a. um „Kunst und Krankheit“ am Beispiel solcher Genies wie Vincent van Gogh oder Friedrich Hölderlin. Andere Vortrage tragen Titel wie „Patienten schaffen Kunst am Bau“, „Selbsterfahrung durch Farben“ oder „Therapeutische Arbeit mit Mitteln des Tanztheaters“.

Die Referenten kommen aus den Niederlanden und der ganzen Bundesrepublik, auch Fachleute aus Dortmund, Witten und Siegen sind dabei. Besonderheit: Der Referent fürs Hölderlin-Thema heißt Helmut F. Späte und kommt aus Halle/DDR; er ist einer der wenigen Spezialisten in seinem Land. Auch dort herrscht ansonsten jede Menge Nachholbedarf, was moderne Psychiatrie-Konzepte angeht.

Die Schirmherrschaft über den Kongreß hat Bundesbildungsminister Möllemann übernommen. In einem bereits formulierten Grußwort erinnert er an die lange Tradition heilkräftiger „Kunsttherapie“, auch wenn sie früher noch nicht so hieß: „Ich denke hier nur an den Isenheimer Altar von Mathias Grünewald, der Anfang des 16. Jahrhunderts zur Heilung und Tröstung von Kranken in Auftrag gegeben wurde.“

(Nähere Auskünfte und Kongreß-Prospekt beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Abt. Gesundheitswesen, Warendorfer Straße 24, 44 Münster. Tel. 0251/591-3260 oder 591/3840).




Timothy Leary als Star eines Treffens im Hochsauerland – Kritik am westlichen Denksystem

Von Bernd Berke

Dortmund/Willingen. Timothy Leary, in den 60er Jahren durch sein Eintreten für die Droge LSD weltweit bekannt gewordener US-Professor, weilt derzeit im Sauerland! Anlaß ist ein Kongreß in Willingen bei Brilon, der sich damit befaßt, Geist, Seele und Leib durch Körperübungen in Einklang zu bringen.

Seit dem letzten Wochenende vertiefen sich Jm Hotel ..Sauerland-Stern“ etwa 170 Teilnehmer (Gebühr: rund 600 DM, ohne Hotelkosten) ins Thema. Einer von ihnen ist der Dortmunder Schauspieler Ruedi Gerber (25), bekannt durch sein Programm „Spiwit of Spwingtime“. Er hofft, in dem abgeschiedenen Hotel neue Anregungen für Darstellungformen jenseits des Stadttheaterbetriebs zu bekommen.

Timothy Leary regte ihn allerdings eher auf als an. Ruedi Gerber: „Er hat nur unverbindlich gequasselt“. Beeindruckt zeigt sich Gerber hingegen von der Eröffnungsfeier des Treffens, die etwas anders verlief als herkömmliche Festivitäten. Unter Leitung der 62jährigen amerikanischen Tänzerin Anna Halprin (früher beim San Franciscan Dancer’s Workshop) geriet die Veranstaltung zu einer Art Happening der Körper- und Selbsterfahrung. Hotelleitung und Gäste, die mit dem Kongreß nichts zu tun haben, sollen dem Vernehmen nach entgeistert gewesen sein, als die Teilnehmer des Treffens mit Ästen aus dem sauerländischen Forst im großen Hotelsaal anrückten.

All das hat einen ernsten Hintergrund. Die Teilnehmer sind durchaus seriöse Leute, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter von 25 Jahren an aufwärts. Alle gemeinsam vertreten die Auffassung, daß die westliche Vorstellung von Wissenschaft, die ausschließlich das Denken beansprucht, überholt ist. Daher beschäftigen sie sich in Willingen etwa mit Fragen des Körperausdrucks und vorwissenschaftlieher Heilkunst.

Ruedi Gerber: „Auch auf der Bühne geht es um menschliche Beziehungen, besonders beim improvisierten Spielen, das ich bevorzuge. Diese Beziehungen haben viel mit dem Körper zu tun“ . Gerber plant schon sein nächstes Projekt. Da er in Willingen einen engen Mitarbeiter des bekannten englischen Psychiaters Ronald D. Laing traf, will er Laing für eine szenische Umsetzung von dessen Gedichten (Titel: „Liebst Du mich?“) nach Dortmund holen.

Der Veranstalter des Willinger Treffens, (ein „Europäisches Forum für Humanwissenschaften“ mit Sitz in Stuttgart) kündigt ein weiteres Meeting an. 1983 sollen in München so illustre Leute wie die Regisseure Federico Fellini und Werner Schroeter sowie die Schriftstellerin Doris Lessing erscheinen.