Furchtlosigkeit, Demut und Liebe – Helga Schubert über den Alltag mit ihrem demenzkranken Mann

„Darum sorgt nicht für den andern Morgen“, heißt es bei Matthäus (Kapitel 6, Vers 34), „denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“

Diese Bibel-Zeilen stellt Helga Schuber ihrem neuen Buch voran: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt, das Schöne und das Schreckliche des Moments. Es ist ein Buch, das furchtlos und bewegend beschreibt, wie Liebe und Leid Hand in Hand gehen, wie qualvoll es ist, seinen schwer an Demenz erkrankten Ehemann zu pflegen, einen ehemals starken Kerl und klugen Kopf, der jetzt ans Bett gefesselt ist und sich einnässt, der seine Frau oft nicht wieder erkennt und seltsame Dinge vor sich hin brabbelt.

Helga Schubert ringt ihre Notizen dem Alltag ab und kann sie nur nachts in den Laptop eingeben, wenn ihr Mann ein paar Stunden schläft und das an seinem Krankenbett platzierte Babyphone, mit dem sie jeden seiner Atemzüge überwacht, einmal Ruhe gibt.

Jahrzehntelang wurde das Werk von Helga Schubert kaum wahrgenommen. In der DDR war die Psychotherapeutin und Schriftstellerin wegen ihrer kritischen Haltung zum „realen Sozialismus“ und ihrer religiösen Bekenntnisse eine Außenseiterin. Im wieder vereinigten neuen Deutschland hatte man kein Ohr für die leise und nachdenkliche Stimme einer Autorin, die nur noch selten in ihrer Wohnung im hyperventilierenden Berlin war, sich lieber in ihr altes Haus mit dem verwunschenen Garten in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern verkroch, der Natur Respekt zollte und dem Leben Demut zeigte.

Als sie 2020 für ihren Geschichten-Band „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war sie bereits 80. Aber noch 13 Jahre jünger als ihr Mann, der Psychologe, Maler und Schriftsteller Johannes Helm, der inzwischen schwer erkrankt ist und dem sie nun ihr neues Buch widmet. Denn die Liebe, die sie dem Mann, den sie im Buch nur „Derden“ nennt, nach unzähligen gemeinsamen Jahren immer noch entgegenbringt, ist durch nichts zu erschüttern. Nicht durch Katheter und Windeln, die ständig gewechselt werden müssen, und auch nicht dadurch, dass Helga Schubert kaum noch aus dem Haus kommt und fast jede Einladung zu Lesungen ausschlagen muss, weil sie niemanden findet, der sich ein paar Stunden oder gar für einen Tag um ihren Mann kümmern möchte. „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute. Ist es morgens oder abends, fragt er mich dann.“

Manchmal ist Helga Schubert zornig und traurig. Dass die Politik die immer drängender werdenden Probleme von Alter, Krankheit und Pflege verdrängt, macht sie fassungslos. Meistens aber ist sie erstaunlich gelassen, erträgt ihr Schicksal, als sei es ihr von Gott aufgegeben. Als eine Ärztin zu ihr sagt: „Hören Sie auf, ihm so hohe Dosen Kalium zu geben. Damit verlängern sie doch sein Leben!“, denkt sie: „Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen.“

Helga Schubert: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“, dtv, München 2023, 268 Seiten, 24 Euro.




Ein Beitrag, der jetzt gestrichen werden muss

Seit den monströsen Kriegsverbrechen von Buschta (oder Buchta oder Butscha – sucht euch die Schreibweise aus, es ist zweitrangig) „gehen“ Texte wie der folgende, eilig gestrichene eigentlich nicht mehr, es verbietet sich jede auch noch so eingehegte Launigkeit. Da wir aber andererseits keine (Selbst)-Zensur ausüben wollen, bleiben die Ende März verfassten Zeilen noch notdürftig erkennbar.

Überhaupt vergeht einem schon seit einiger Zeit ganz gründlich die Lust auf kulturell oder feuilletonistisch angehauchte Betrachtungen. Obwohl gerade die Künste, sofern sie den Namen verdienen, ein dauerhaftes Gegengewicht sein und bleiben könnten… Ars longa, vita brevis.

Ceterum censeo: Jetzt endlich selbst das russische Gas abdrehen – und sei es „nur“ als starkes Zeichen ohne entscheidende Wirkung!

Was waren das noch für selige Zeiten, als „wir“ lediglich eine Nation von 40, 60 oder 80 Millionen Fußballtrainern gewesen sind. Gewiss, Länder- und Vereinsmannschaften stellen wir auch heute noch linkshändig auf, notfalls für Frankreich, England und Spanien gleich mit. Aber nur noch nebenbei. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.

Inzwischen haben wir nämlich anderweitige Karrieren draufgesattelt. Zunächst bekanntlich als Top-Virologen, die sich ganz geläufig über komplizierteste Fachfragen ausgetauscht haben. Mit Corona und Konsorten kennt sich doch heute jeder Depp aus. Nun gut: Zuweilen ist da auch ein bisschen Besserwisserei im Spiel. Das bleibt halt nicht aus, wenn man viele Semester eines Fachstudiums und praktischer Forschung kurzerhand überspringt. Dann muss man eben beherzt behaupten.

Neuerdings haben sich viele, die das vorher nicht von sich selbst erwartet hätten, dem verschrieben, was hirnparalysierte Vorväter „Kriegskunst“ zu nennen beliebten. Zeitenwende eben. Oder richtiger: Zeitenbruch. Als Generalissimus von eigenen Gnaden widmet sich nun so mancher Mann überschlägigen ballistischen Berechnungen, intelligenter Nachschub-Logistik, effektiven Abwehrsystemen oder der schlagkräftigen Koordination verschiedenster Waffengattungen bis hin zu… Nein, wir wollen es nicht auch noch hier leichtfertig herbeireden. Frauen sind auf diesem Felde jedenfalls hoffnungslos in der Minderheit. ER wird es ihnen beizeiten zu erklären versuchen – wie einst das Abseits.

„Blamiert“ sich Russland militärisch – oder sollte man es nach wie vor „nicht unterschätzen“? Hockt Putin schon im Bunker? Dreht er uns den Gashahn zu? Gibt er sich mit dem Donbass zufrieden? Was machen die Chinesen? Derlei gravitätische Fragen werden Tag für Tag in mancherlei Medien erwogen. Im Gefolge solcher Gedankenspiele haben sich einige Leute außerdem flugs zu Flüchtlings-Kommissaren und Energie-Experten mit ungeahnt fossilen Präferenzen promoviert. Zwei bis drei Talkshows gucken – und schon kann man wieder mitpalavern. Wo liegt denn nur wieder die Generalstabskarte mit den vielen Pfeilsymbolen?

 




Psychische Krankheit und Kreativität: Westfälisches Projekt nimmt „Outsider“-Literatur in den Blick

Eher eine Verlegenheitslösung, um das Thema zu bebildern: Szene aus der zum Projekt gehörenden Inszenierung von „Outsider“-Texten durch das theater en face unter dem Titel „Im Strom“. (Foto: Xenia Multmeier/Franziska v. Schmeling)

Zusammenhänge zwischen Künsten und psychischen Erkrankungen, krasser gesagt zwischen Genie und Wahnsinn, sind ein weites Feld. Ist nicht eine gewisse „Verrückt-heit“ gar Antriebskraft jeglicher Kreativität, weil sie ungeahnt neue Perspektiven eröffnen kann? Anders gewendet: Können Künste heilsam oder lindernd wirken? Oder geht dabei schöpferische Energie verloren? Uralte Fragen, die gelegentlich neu gestellt werden müssen. Um all das und noch mehr kreist jetzt ein westfälisches Kulturprojekt, das sich mit etlichen Veranstaltungen bis zum Ende des nächsten Jahres erstreckt.

Logo des „Outsider“-Projekts. (LWL)

Oft gezeigt und teilweise hoch gehandelt wurden Bilder von psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen. Nun geht es beim vielteiligen Reigen mit dem etwas sperrigen Titel „outside | inside | outside“ um literarische Äußerungen, die sich weniger offensichtlich, sondern gleichsam diskreter und intimer zeigen. Gleichwohl gehen solche Schöpfungen beim Lesen oftmals „unter die Haut“.

Ein Akzent liegt vor allem auf westfälischen Autorinnen und Autoren, allen voran Annette von Droste-Hülshoff, die keineswegs den gefälligen literarischen Mittelweg beschritten hat. Zeitlich reicht der Rahmen bis zur aktuellen Poetry-Slam-Szene, die zumal im Paderborner Lektora-Verlag eine Heimstatt für gedruckte Texte gefunden hat.

Inklusion als Leitgedanke

Federführend beim gesamten Projekt ist die Literaturkommission des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) unter Leitung von Prof. Walter Gödden. Ein Leitgedanke ist die Inklusion, sprich: Was psychisch erkrankte Menschen schreiben, soll eben nicht als womöglich bizarres Außenseiter-Phänomen behandelt werden, sondern man will diese Literatur möglichst ans Licht und in die Gesellschaft holen – in aller Behutsamkeit, denn die Erfahrung zeigt, dass zwar manche Autorinnen und Autoren sich bereitwillig öffnen, andere sich jedoch behelligt fühlen, wenn eine größere, als zudringlich empfundene Öffentlichkeit ins Spiel kommt.

Die bisherigen Kooperations-Partnerschaften des Projekts konzentrieren sich vor allem am zentralen Standort des LWL, also in Münster. Dabei sind u. a. das Kunsthaus Kannen, die Akademie Franz Hitze Haus, die black box im kuba, das Cinema – und der historische Erbdrostenhof, Schauplatz der Auftakt-Veranstaltung, einem einleitenden Symposium am 25. und 26. März (siehe Programm-Link am Schluss dieses Beitrags).

Beispielhafte Reihe an der LWL-Klinik in Dortmund

Das Ganze versteht sich als „work in progress“, es können jederzeit noch neue Punkte hinzukommen. Neben einschlägigen Lesungen und Fachgesprächen soll es auch Theater- und Performance-Darbietungen sowie Filmvorführungen geben. Im Laufe der Zeit dürften die Veranstaltungen ganz Westfalen erfassen. Tatsächlich wäre zu hoffen, dass man sich noch etwas entschiedener über Münster hinaus bewegt. Immerhin sind schon jetzt u. a. das Netzwerk Literaturland Westfalen (koordiniert vom Westfälischen Literaturbüro in Unna), das Literaturbüro OWL (Detmold) oder auch das Kulturgut Haus Nottbeck (Oelde) mit an Bord. Im Projekt-Flyer werden weitere Kulturträger „herzlich zur Teilnahme eingeladen“. Vielleicht sind im Vorfeld ja noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden.

Bei der Online-Pressekonferenz zum baldigen Projekt-Start meldete sich auch der Psychiater Hans Joachim Thimm zu Wort, der an der LWL-Klinik in Dortmund-Aplerbeck arbeitet und seit Jahren Lesungen mit psychisch Kranken oder zum Themenkreis veranstaltet. Peter Wawerzinek („Rabenliebe“, „Schluckspecht“) war schon da, ebenso Joe Bausch (Gerichtsmediziner in Kölner „Tatort“ und zeitweise wirklicher Gefängnisarzt) oder der Fußballer Uli Borowka, der in dem Buch „Volle Pulle“ seine Alkoholabhängigkeit thematisierte. Erstaunlich der wachsende Zuspruch. Thimm: „Anfangs kamen manchmal nur zwölf oder dreizehn Zuhörerinnen und Zuhörer, inzwischen sind es bis zu 450.“ Man könnte darin einen Vorläufer zum westfälischen Projekt sehen. Eine Zusammenarbeit würde sich jedenfalls anbieten.

Überschneidungen mit der „Hochliteratur“

Überhaupt scheint Dortmund ein weiteres Zentrum des Geschehens zu sein. Das hier ansässige Fritz-Hüser-Institut gehört zu den Projektpartnern. Außerdem fallen im Zusammenhang Autorennamen aus der Stadt, nämlich der des in Hamm geborenen Tobi Katze („Morgen ist leider auch noch ein Tag: irgendwie hatte ich von meiner Depression mehr erwartet“) und der des prominenten Comedians Torsten Sträter, der sich auf seiner Homepage als Autor, Vorleser und Poetry Slammer bezeichnet und seine depressive Erkrankung in den 1990er Jahren öffentlich gemacht hat.

Umschlag der Textsammlung „Traumata“ (© Aisthesis Verlag)

Um den Themenhorizont zu erweitern: Just Walter Gödden von der erwähnten LWL-Literaturkommission hat die Sammlung „Traumata. Psychische Krisen in Texten von Annette von Droste-Hülshoff bis Jan Christoph Zymny“ (Aisthesis Verlag, 24 Euro) herausgegeben, in der rund 40 einschlägige Titel „quer durch die literarischen Gattungen“ vorgestellt werden.

Tatsächlich gibt es immer wieder aufschlussreiche Überschneidungen zwischen arrivierter, kanonischer Literatur und den Werken von „Outsidern“, zu denen hier auch Schreibversuche von Laien oder z. B. von Gefängnisinsassen gezählt werden. Man denke auf dem Gebiet der Hoch-, ja sozusagen Höchstliteratur nur an Genies wie den für Jahrzehnte „umnachteten“ (oder schlichtweg unverstandenen?) Friedrich Hölderlin oder an Robert Walser, der sich selbst in eine psychiatrische Klinik eingewiesen hat. Ein Quantum an geistig-seelischem Außenseitertum gehört wohl zu den meisten großen Oeuvres. Insofern handelt das Projekt nicht von einem randständigen Thema.

„outside | inside | outside – Literatur und Psychiatrie“. Projekt bis Herbst 2023, unterstützt von der Kulturstiftung des LWL und dem Land NRW.

Programm-Übersicht und Buchungsmöglichkeiten:

http://www.literatur-und-psychiatrie.lwl.org

 




Kein richtiger Rückblick, aber die besten Wünsche für 2022!

Kater Freddy wirft einen Blick zurück. (Symbolbild: Bernd Berke)

Zum Ende eines vielfach so ernsten Jahres darf es auch mal halbwegs albern sein. Keine Angst also, hier gibt es keinen der landesüblichen Jahresrückblicke mit obligatorischem C-Schwerpunkt und blinkender Ampel. Alles, was wir vorrätig haben, ist ein über die Schulter zurückblickender Kater namens Freddy. Na, immerhin!

Übrigens geht es Freddy zur Zeit nicht so gold. Er bekommt ein Antibiotikum, damit sich bei ihm nicht noch eine Lungenentzündung entwickelt. Erste Besserung hat sich schon eingestellt. Aber stopp! Jetzt reden wir schon wieder über Krankheit und Genesung.

Wie ist im Vorfeld spekuliert worden, ob wir ab 2020 noch einmal „Roaring Twenties“ oder dergleichen erleben würden; wilde, entfesselte Zeiten, eine Dekade wie damals in den 1920ern. Es ist bislang ein wenig anders gekommen.

Nun doch noch etwas gaaaaaaaanz weit Rückblickendes: Höchst spannend finde ich alles, was sich aus dem kürzlich erfolgten Start und dem künftig hoffentlich erfolgreichen Einsatz des Weltraumteleskops „James Webb“ ergeben könnte. Gleich 13 Milliarden Jahre soll die phantastische Apparatur zurückschauen – „fast“ bis zum Urknall. Ob wir dann wohl erfahren werden, was die Welt im Innersten zusammenhält?




Eine Stimme für die Leidenden: Seit 50 Jahren leisten die „Ärzte ohne Grenzen“ weltweit medizinische Hilfe

2010 erschütterte ein katastrophales Erdbeben Haiti. Geschätzt 100.000 Menschen starben, 200.000 waren verletzt, rund eine Million verloren ihre Wohnungen. Die Ärzte ohne Grenzen halfen wie hier im Krankenhaus Carrefour. Die Patientin im Bild hatte zwei gebrochene Beine. Auf dem Foto: Doktor Adesca aus Haiti, der Chirurg Paul McMaster und die deutsche Krankenschwester Anja Wolz. (Foto: Julie Remy/Médecins Sans Frontières/MSF)

Die Älteren erinnern sich noch an die Bilder: Große Augen schauen aus abgemagerten Gesichtern. Ausgemergelte Körper strecken dürre Ärmchen aus. Auf dem Arm verzweifelter Mütter kauern kleine Kinder, die Skeletten gleichen.

Es war 1969, als die Fotos aus Biafra die Welt aufrüttelten. Die Provinz in Nigeria hatte sich für unabhängig erklärt. Ein Krieg und eine Hungerblockade waren die Folge. Biafra ist seither ein Symbol für Hunger und Leid.

Damals beschlossen Ärztinnen und Ärzte, die mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Einsatz waren, nicht länger zu der humanitären Katastrophe zu schweigen. Zwei Jahre später, am 22. Dezember 1971, gründete eine Gruppe von 12 französischen Ärzten und Journalisten eine Organisation, die Menschen in Not helfen sollte und nannte sie „Médecins Sans Frontières“ – Ärzte ohne Grenzen. Aus der Initiative entstand eine Bewegung, die heute ein weltweites Netzwerk bildet. In diesem Verbund leisten rund 41.000 Menschen in mehr als 70 Ländern medizinische Nothilfe. 25 Mitgliedsverbände bilden fünf „operationale Zentren“, die Projektentscheidungen treffen, qualifiziertes Personal entsenden und die Finanzierung organisieren. Die 1993 gegründete deutsche Sektion gehört zum Zentrum Amsterdam.

„Wir wissen, dass Schweigen töten kann“

Die Gründungsversammlung der Médecins Sans Frontières in Paris 1971. Beteiligt waren Dr. Marcel Delcourt, Dr. Max Recamier, Dr. Gerard Pigeon, Dr. Bernard Kouchner, Raymond Borel, Dr. Jean Cabrol, Vladan Radoman, Dr. Jean-Michel Wild, Dr. Pascal Greletty-Bosviel, Dr. Jacques Beres, Gerard Illiouz, Phillippe Bernier, Dr. Xavier Emmanuelli. (Foto: D.R./MSF)

Die Organisation hat sich verpflichtet, unparteiisch und unabhängig zu helfen. „Die Hilfe orientiert sich allein an den Bedürfnissen der Notleidenden“, heißt es in ihren Leitsätzen. „Ärzte ohne Grenzen“ helfen Menschen ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, politischen und religiösen Überzeugungen sowie ihres Geschlechts. Damit stehen sie oft zwischen den Fronten. Doch neutral zu handeln heißt für die „Ärzte ohne Grenzen“ nicht, stillschweigend zu helfen. Zur humanitären und medizinischen Hilfe tritt die sogenannte Témoignage (französisch für ‚Zeugnis ablegen‘).

Sie gehört zu den Satzungsaufgaben: „Wir sehen uns selbst in der Pflicht, das Bewusstsein für Notlagen zu schärfen. Wenn wir also konkret miterleben, wie Menschen extrem leiden, wenn ihnen der Zugang zu lebensrettender medizinischer Versorgung verwehrt oder systematisch behindert wird oder wir Zeugen von Gewaltakten gegen Individuen oder Bevölkerungsgruppen, von Missstände oder Menschenrechtsverletzungen werden, machen wir dies, wenn möglich, öffentlich.“ So beschreiben die „Ärzte ohne Grenzen“ ihre Rolle als Anwalt und Sprachrohr derer, die keine Stimme bekommen. „Wir sind nicht sicher, dass Reden Leben rettet. Wir wissen aber, dass Schweigen töten kann“, heißt es in der Dankesrede für den Friedensnobelpreis, mit dem die Vereinigung 1999 ausgezeichnet wurde.

Herausforderungen für die humanitäre Hilfe

Ein historisches Bild aus dem Krieg mit der Sowjetunion aus Afghanistan. (Foto: MSF)

Einige Stationen aus der Geschichte: Beim Erdbeben in Nicaragua 1972 leisteten die „Ärzte ohne Grenzen“ schnelle medizinische Soforthilfe. In Honduras richteten sie nach einem Hurrikan das erste langfristig angelegte medizinische Hilfsprojekt ein. In großen Konflikten wie den Kriegen im Libanon und in Afghanistan halfen Ärzte oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens. So überquerten nach 1979 kleine Teams die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan. Mit Maultieren versuchten sie, abgelegene Bergregionen zu erreichen und der Zivilbevölkerung zu helfen. In Thailand unterstützten sie Anfang der achtziger Jahre Kambodschaner, die vor dem Pol-Pot-Regime geflüchtet waren. Hunger in Äthiopien, Bürgerkrieg in Liberia, Krieg in Bosnien, Genozid in Ruanda, der verheerende Tsunami 2004 und das Erdbeben in Haiti 2010, schließlich Aids-Programme in Asien und Afrika und die Covid19-Pandemie des Jahres 2020 waren riesige Herausforderungen für die humanitäre Hilfe.

Schwester Séraphine unterzieht sich dem ersten Schritt der Dekontamination nach ihrer Runde durch die Hochrisikozone des Hospitals in Mangina in der Demokratischen Republik Kongo während eines Ebola-Ausbruchs. (Foto: Carl Theunis/MSF)

Das Preisgeld des Friedensnobelpreises nutzten die „Ärzte ohne Grenzen“, um Menschen den Zugang zu medizinischer Behandlung zu erleichtern. Ihre „Medikamentenkampagne“ tritt dafür ein, Arzneien, Tests und Impfungen erreichbar, bezahlbar, für alle geeignet und an den Orten, an denen die Patienten leben, verfügbar zu machen. Seit mehr als 30 Jahren setzt sich die Organisation auch für die Behandlung von Menschen mit seltenen tropischen Krankheiten ein. „Hunderttausende wurden behandelt, die sonst nicht überlebt hätten“, heißt es in einem zum Jubiläum erschienenen geschichtlichen Überblick.

Außerdem suchen die Ärzte nach einer Antwort auf den tödlichen Ebola-Virus. Dazu gehören Methoden, einen Ausbruch zu begrenzen und die Übertragung zu vermeiden. Migrationsströme, Flüchtlingsrettung auf See, aber auch die Folgen von Naturkatastrophen, verursacht durch Klimawandel, Ressourcenknappheit und Naturzerstörung durch den Menschen sind neue Herausforderungen für die Organisation, die sich aus Spenden finanziert – 2020 waren das weltweit 1,9 Milliarden Euro von mehr als sieben Millionen Spendern – und die in Deutschland im letzten Jahr mehr als 770.000 Spender mit 204,5 Millionen Euro unterstützten.

Weitere Informationen im Internet unter www.aerzte-ohne-grenzen.de

Ein Überblick über die Geschichte mit vielen Fotos unter 50years.msf.org/home/de




„Heilen und Pflegen“: Neue DASA-Dauerschau zielt auf Wertschätzung fürs Gesundheitswesen ab

Mit 3D-Brille, Bildschirmen und hochsensitiven OP-Sticks: Ein DASA-Mitarbeiter führt eine virtuelle Operation am rund 120.000 Euro teuren Übungsgerät vor. (Foto: Bernd Berke)

Ich hab’s nicht durchgehalten. Habe keine Standfestigkeit bewiesen, als diese vermaledeite Bodenplatte heftig zu wackeln begann. Wer macht’s besser, einbeinig stehend und dann ganz plötzlich durchgerüttelt?

Wo ich gewesen bin? Auf einer der bei Ausstellungsmachern und beim Publikum so beliebten Mitmach-Stationen, konkret: in der DASA (Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung), die jetzt ihre völlig neu gestaltete Abteilung zum Thema „Heilen und Pflegen“ eröffnet hat – nach rund drei Jahren Planung und Umbau; gerade recht zu einem Zeitpunkt, wo man das Haus jetzt wieder ohne Zeitfenster-Termin und Test besuchen kann.

Kuratorin hospitierte eigens im Dortmunder Klinikum

An vielen Details merkt man, dass die technischen Möglichkeiten sich seit der vorherigen Themen-Aufbereitung (aus dem Jahr 2000) schon wieder gründlich gewandelt haben. Ko-Kuratorin Katrin Petersen (mit Sarah-Louise Rehahn) und ihr Team wollten keine halben Sachen machen. Frau Petersen, von Haus aus Kulturwissenschaftlerin, hat eigens eine Woche im Dortmunder Klinikum (Intensivstation, Notaufnahme) hospitiert und ist auch beim Rettungseinsatz mitgefahren. Gespräche mit vielen Praktikern sollten das Ausstellungs-Konzept realistisch unterfüttern. Dabei hat sich wohl die Zielsetzung konkretisiert, die Heil- und Pflegeberufe im günstigen Licht darzustellen. Die Ausstellung ist denn auch – wie es sozusagen im Kleingedruckten heißt – Bestandteil der „Konzertierten Aktion Pflege“ der Bundesregierung („Handlungsfeld VIII: Wertschätzung und Anerkennung“).

Kuratorin Katrin Petersen im angeregten Dialog mit dem Roboter „Pepper“, der hie und da als unterhaltsame Aushilfskraft in der Pflege eingesetzt wird. (Foto: DASA)

Das Gesundheitswesen steht bekanntlich auf der Tagesordnung, es ist im Laufe der Pandemie oft genug beredet worden, vom berühmt-berüchtigten, weil wohlfeilen „Balkonklatschen“ für Heil- und Pflegekräfte bis hin zu deren Arbeitsbedingungen und der (oft mangelnden) Wertschätzung. Letztere, so das erklärte Ziel der DASA-Schau, soll nachdrücklich befördert werden. Überdies will man reges Interesse am Berufsfeld wecken, dem in Deutschland insgesamt rund 5,7 Millionen Menschen angehören. Da ist dann aber auch so ziemlich alles dabei, mitsamt Verwaltungen, Krankenkassen und Pharma-Industrie, jedoch ohne die bloßen Wellness-Branchen. Lust auf Gesundheitsberufe? Nun ja: Auch hier bestimmt wesentlich das Sein (u. a. in Form fairer Entlohnung) das Bewusstsein.

Einmal selbst die Diagnose stellen

Nun aber auf die Strecke! Gleich eingangs begrüßt einen ein innerlich allseits verdrahteter, gläserner Mensch, Nachbau eines Dresdner Exemplars fürs Hygienemuseum von 1930. Wie das Original, so hebt auch diese Glasfigur ihre Hände in geradezu heilsverkündender Pose. Ursprünge in der Lebensreform-Bewegung der 1920er Jahre sind noch zu erahnen.

Der allseits transparent gestaltete Rundgang folgt sodann einem typischen Verlauf von Krankheit und Genesung: Es beginnt mit der Diagnose und führt über Rettung und Heilung hin zur nachfolgenden Therapie und zur Pflege. Inmitten all dieser Themenbereiche befindet sich eine Ruhezone, die nicht zuletzt daran erinnern soll, dass die Beschäftigten im wahrhaft „systemrelevanten“ Gesundheitswesen meist kaum Zeit für erholsame Pausen haben.

Nicht nur auf der anfangs erwähnten Schüttel-Station (ein Gerätetypus, mit dem auch schon zahllose verletzte Fußballer Teilübungen ihrer Reha absolviert haben) kann man seine Fähigkeiten erproben. Mehrfach gibt es solche Haltepunkte, an denen man selbst aktiv werden darf. In der ersten Abteilung gilt es (mit einer an der Berliner Charité entwickelten Simulation), ein virtuelles Kind z. B. auf eine Masern-Erkrankung zu untersuchen und sich einer schlüssigen Diagnose zu nähern. Zusätzlicher Clou: Fachbesucher-Gruppen können sich auf einem höheren Level zuschalten lassen, auf echtem Expertenniveau.

Was ist was? Diverse Krankheitserreger im Modell. (© DASA)

Vorbei geht’s an buchstäblich griffigen Modellen von Krankheits-Erregern (hier mal ohne Covid, aber mit etlichen anderen Bedrohungen), die auch wirklich zum Anfassen gedacht sind. Vielleicht werden Leute vom „Team Vorsicht“ damit noch bis zu den gaaaanz niedrigen Inzidenzen warten, die hoffentlich bald anliegen.

Hinein ins Rettungsfahrzeug

In der Nähe der Erreger-Modelle findet sich auch das vielleicht bizarrste Ausstellungsstück, der sogenannte „Blaue Heinrich“, ein transportabler, halbwegs diskreter Spucknapf für die Handtasche, seinerzeit gedacht für etwaigen Tuberkulose-Auswurf…

Im folgenden Rettungsbereich erwartet einen das größte Exponat, ein weitgehend originalgetreues Einsatzfahrzeug für den Notfall, das freilich keine Räder hat. Allerdings kann man sich in aller Ruhe das komplette Innenleben ansehen, ohne Angst und Stress, weil es ja eben kein Ernstfall ist. Der wiederum wird in einem dreidimensionalen „Wimmelbild“ mit Spielzeug nachgestellt. Knapp erwähnt werden dabei auch Attacken auf Unfallhelfer, aber da alles möglichst positiv sein soll, wird das unfassbare Phänomen nicht weiter verfolgt. Ebenso ausgespart bleiben etwa die Auswüchse diverser Sparwellen im Gesundheitswesen. Und auch der Tod, der nun einmal hinzu gehört, ist höchstens indirekt gegenwärtig. Hier wird er gleichsam überwunden und des Hauses verwiesen.

Hochmodernes Trainingsgerät für Operationen

Zurück auf den Parcours: Im OP-Bereich lassen sich Geschicklichkeitsübungen vollführen. Entweder versucht man mit einem Gestänge Fäden durch Ösen zu ziehen (gar nicht so leicht), oder man begibt sich gleich zu einem im wirklichen Medizinerleben verwendeten, virtuellen Trainingsgerät mit allem kostspieligen Komfort. Durch die Apparatur wird sogar die Haptik der menschlichen Organe übermittelt. Hier sollte man aber nicht selbst auf gut Glück loslegen, sondern auf eine Vorführung oder wenigstens Anleitung warten. Als Kontrast zur hypermodernen Technik sind in einer Vitrine historische Gerätschaften wie etwa chirurgische Handbohrer (um 1900) zu besichtigen. Ganz schön gruselig.

In den letzten Abteilungen geht’s ums Therapieren und Pflegen, wobei „Pepper“ seinen Auftritt hat, ein putziges Roboter-Kerlchen, das freilich das Pflegepersonal allenfalls mit kleinen Handreichungen zu entlasten, aber bislang keineswegs zu ersetzen vermag. Für (Quiz)-Spielchen mit Senioren oder Rekonvaleszenten steht Pepper allerdings bereit. Auf die Standard-Frage, ob er wirklich helfen könne, gibt er mit seiner niedlichen Stimme lieber gleich zu: „Wenn ich Kaffee bringe, geht die Hälfte daneben.“ Ein Schelm, der das programmiert hat.

DASA-Leute erproben Geräte in der Therapie- und Pflegeabteilung, ganz vorn der Fahrrad-Simulator mit Weltreise-Funktion. (Foto: Andreas Wahlbrink)

Weltreise mit dem Fahrrad

Neben Hi-Tech-Rollstühlen, Prothesen und ähnlichen Hilfsmitteln gibt es in diesem Bereich noch eine Station, an der man per Trainingsfahrrad in aller Welt unterwegs sein kann; ganz gleich, ob am Dortmunder Friedensplatz, in Brasilien oder Tasmanien – virtuell, versteht sich, aber ziemlich realistisch. Man strampelt tüchtig, sieht was von der weiten Welt und wird allmählich wieder fit.

Vertiefende Informationen zu all dem kann man sich an einigen Medienstationen verschaffen. Die Reihe der hierzu bereitgestellten Therapie-Liegestühle erinnert von fern her fast an eine Kur-Terrasse à la Thomas Manns „Zauberberg“. Sie ist aber deutlich nüchterner geraten als etwaige historische Vorbilder.

Dauerausstellung „Heilen und Pflegen“ auf knapp 800 Quadratmetern im Obergeschoss der DASA Arbeitswelt Ausstellung (angegliedert an die Bundesanstalt für Arbeitsschutz), Friedrich-Henkel-Weg 1-25, 44149 Dortmund.

Öffnungszeiten Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr. Tel. Besucherservice: 0231 / 9071-2645. Eintritt wegen dauerhafter Inzidenz unter 50 jetzt ohne Test möglich, noch bis 13. Juni mit Termin-Anmeldung, danach ohne Zeitfenster.

www.dasa-dortmund.de

 




Was Politiker sagen, wenn ihnen Corona keine Ruhe lässt

Speziell in solchen Nächten treibt es manche Leute um. (Foto: BB)

Sofern man sich durch die eine oder andere Nachrichtensendung, Doku oder Talkshow zu Corona-Themen gequält hat, wird man finden, dass in der Polit-Szene ein Modewort kursiert, das im Grunde sehr alt ist.

Nein, es hat nicht direkt mit fachlichen Fragen zu tun, erst recht nicht mit Feinheiten der Virologie. Noch der nüchternste Polit-Darsteller wird dieser Tage ein bestimmtes Wort benutzen, das anzeigen soll, wie ihm Corona bei Tag und bei Nacht keine Ruhe lässt. Nun ratet!

In Ordnung, ihr habt euch redlich bemüht. Das Wort lautet: umtreiben. Die Folgen von Corona treiben mich um. Die Situation der Gastronomie / der Kultur / der Senioren / der Pflegeberufe treibt mich um. Und so weiter, und so fort. Man sieht sie förmlich durch menschenleere Straßen wanken, schräg gegen Stürme gestemmt, den Mantelkragen hochgezogen, sie selbst gramgebeugt, umgetrieben noch und noch. Mitunter fragt sich jedoch, ob diejenigen wirklich umgetrieben oder eher umtriebig sind.

Das Wort wird zur bloßen Kennmarke

Nein, bewahre: Dies soll kein landläufiges Politiker-Bashing werden, dafür ist eine präpotente Kampagnen-Journaille zuständig, allen voran mal wieder das Blatt mit den vier großen Buchstaben. Wir wollen dem Gros der Parteipolitiker keineswegs die Empathie, die Mitleidensfähigkeit absprechen, aber wenn selbige immer und immer wieder mit demselben Ausdruck daherkommt, schimmert denn doch etwas Unechtes durch. Wenn man also vernimmt, wie Politiker sich seit einiger Zeit immerzu umgetrieben wähnen, sollte man hellhörig werden. Wer auch immer die Wendung zuerst benutzt hat, andere haben sie für tauglich befunden und alsbald nachgesprochen. Nun ist sie in fast aller Munde. Das Wort wird zur bloßen Kennmarke. „Lassen Sie mich durch, ich werde umgetrieben!“

Übrigens: Ich mag mich irren, aber mir scheint, dass Männer die Umtreibe-Formulierung viel öfter verwenden als Frauen. Deshalb unterbleibt auch an dieser Stelle das mit obligatorischer Sinnpause zu sprechende „Politiker*innen“. Sollte die ungleiche Häufigkeit etwa daran liegen, dass männliche Politiker glauben, ihre Empathie eigens betonen zu müssen, während sie bei den weiblichen immer noch als quasi naturgegeben gilt?




Corona-Lotto: Das ärgerliche Glücksspiel um einen Impftermin für die 87jährige Mutter

Wenn es doch erst so weit wäre… (Foto: Tim Reckmann / pixelio.de)

Unser Gastautor Thomas Schweres, TV-Reporter und Verfasser von Kriminalromanen, über vergebliche Bemühungen um die Buchung eines Corona-Impftermins:

Kurz vor Weihnachten wurde bekannt, dass es jetzt einen zugelassenen Impfstoff gibt und es bald losgeht. Am 27.12.2020 wurde die erste Person in NRW geimpft: eine 95jährige Bewohnerin eines Altenheims in Siegen. Dass  Impftermine für selbständig in eigenen Wohnungen lebende Menschen über 80 noch weit weg waren, konnte sich jeder ausrechnen. Zumal es für unsere Ruhrgebiets-Stadt mit knapp 600.000 Einwohnern zu Anfang gerade mal Impfdosen für 750 Personen geben soll. „Muss ich meine 87jährige Mutter erst ins Heim einweisen, damit sie zügig geimpft wird?“ habe ich dazu bei facebook bereits am 18.12.2020 geschrieben. Mit ihr selbst hatte ich noch nicht gesprochen.

„Hast Du schon was gehört, von der Stadt oder Krankenkasse, wann Dein Impftermin ist?“

Mutter Margret schüttelt den Kopf.

„Aber Du willst dich doch impfen lassen?“

„Ja, schon. Wäre schön, wenn ich meine Kinder und Enkel wieder sehen könnte, ohne mir Sorgen zu machen.“

„Aber?“

„Das wäre schon gut, wenn ich niemanden mehr anstecken könnte. Weil ich mich zum Beispiel unwissentlich selbst beim Friseur angesteckt habe.“

„Noch wichtiger wäre doch, dass Dir selbst nichts mehr passieren kann!“

„Ach, weißt Du, ich bin sowieso bald dran. Besser wäre es doch, die würden erst die jungen Leute impfen, die mitten im Leben stehen, ständig Kontakte haben. Ich gehe doch sowieso fast nicht mehr aus dem Haus.“

Mit „sowieso bald dran“ meinte sie nicht die Krankheit oder das Impfen, sondern die altersgemäß anstehende Heimholung ins Reich des Herrn. Meine Mutter ist ein sehr gottesfürchtiger Mensch . Das mit dem „bin bald dran“ sagt sie schon seit Jahren ständig, unabhängig von Corona. Ich antworte ihr dann, dass sie ihre Restlaufzeit schon überschritten hat und jetzt so alt wird wie Jopie Heesters, mindestens. Und dass ein Tod an oder mit Corona kein friedliches Ableben im Schlaf bedeutet. Sondern elendiges Verrecken durch Ersticken mit Schläuchen im Hals.

„Soll ich mich denn nun um deine Impfung kümmern?“

„Ja bitte, mach das.“

Bestimmt kommt bald ein Brief von irgendeiner Behörde

Anfang Januar habe ich noch gedacht, das sei ziemlich einfach: Bestimmt bekommt meine Mutter einen Brief von irgendeiner Behörde, in der ihr ein Impftermin mitgeteilt wird. Und ich brauche sie dann nur noch dorthin zu chauffieren.

Als wir in der zweiten Januarwoche immer noch nichts gehört hatten, wurde ich langsam nervös und habe versucht, das örtliche Gesundheitsamt anzurufen. Unter der Hotline für alle Fragen rund um Corona, bei der man auch Infektionen und Kontaktpersonen melden können sollte. Eigentlich. Kein Durchkommen. Am 16. Januar kam dann der Brief. Am 25. Januar gehe es  los, man solle sich telefonisch oder übers Internet registrieren lassen und Impftermine in einem Impfzentrum seiner Wahl vereinbaren. Wird wohl einige Versuche benötigen, aber kann ich ja mal für sie machen. Schließlich macht Margret  auch die Wäsche für mich.

Also sitze ich am 25. Januar morgens um 06:30 Uhr am Schreibtisch. Nebenbei läuft das Radio. Vor mir der Rechner, das Telefon in der Hand. Ich wähle die 0800-1611701 für’s Rheinland. Es ist ständig besetzt. Nach dem 16. Versuch höre ich um 07:30 Uhr in den Nachrichten von WDR2, dass die Leitungen erst ab 08:00 Uhr geschaltet sind. Na gut, bei Behörden oder behördenähnlichen Organisationen wie der Kassenärztlichen Vereinigung fliegt der frühe Vogel eben erst ab 08:00 Uhr los. Es ist ja nicht so, dass ich in der Zwischenzeit nichts anderes zu tun hätte.

Ab 08:00 Uhr feuere ich dafür aus allen Rohren. Das Telefon liegt auf dem Schreibtisch, der Lautsprecher ist auf laut geschaltet. So brauche ich beim Tippen auf der Tastatur des Rechners nur immer zwischendurch am Telefon die Taste für die Wahlwiederholung zu drücken. Und höre, falls eine Verbindung zustande kommt. Wenn ich, auf welchem Weg auch immer, schnell durchkomme, bekomme ich bestimmt einen frühen Termin für Mutter, nächste Woche oder so.

Einwahlversuche bis zum Abwinken

Beim Telefon ist alles wie vor acht. Im Netz komme ich gar nicht erst auf die Seite www.116117.de. Obwohl ich es  ununterbrochen probiere. Also fast. Ich gestehe, dass ich nach jeweils  ungefähr zehn Einwahlversuchen Unterbrechungen einlege. Wie gesagt, ich habe auch noch was anderes zu tun. Gehöre schließlich zum werktätigen Teil der Bevölkerung. Schlimmer noch, ich bin selbständig. Kann das also nicht während sowieso bezahlter Arbeitszeit erledigen. Wenn ich nicht arbeite, verdiene ich auch kein Geld. Zum, nun ja, „Glück“ ist jetzt, während Corona und Lockdown, nur wenig zu tun.

Wobei man schon den Eindruck hat, dass die KV Nordrhein es zumindest mit ihren Telefonleitungen abwechslungsreich gestalten will. Es ist nämlich nicht immer sofort besetzt. Manchmal kommt auch die Ansage: „Der gewünschte Gesprächspartner ist gerade nicht zu erreichen“. Oder, seltener: „Die gewählte Rufnummer ist nicht vollständig.“ Corona-Lotto: Vor jedem Versuch tippe ich mittlerweile im Kopf, welche Ansage jetzt dran ist. Oder ob ich überraschend durchkomme.

Irgendwann erscheint mir die Chance, telefonisch jemanden zu erreichen, geringer als ein Dreier im Lotto. Ich gebe die Telefonvariante ganz auf und konzentriere mich aufs Netz. Am späten Vormittag bin ich durch.

Mich guckt aus dem Bildschirm eine ältere Version des Fußballtrainers Rolf Rangnick an. Ein vertrauenserweckender älterer Herr mit noch weißerem Haarschopf.  Darunter der Text: „Herzlich Willkommen auf unserer Terminvergabe-Seite für Ihre Corona-Impfung! Leider sind derzeit alle Termine vergeben. Wir schalten in Kürze weitere Termine frei. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt wieder.“

Fortlaufend dreht sich der Ladekreis

Wann ist „in Kürze“? Jedenfalls nicht um 13:00 Uhr, nicht um 14:30 Uhr, nicht um 15 und nicht um 16 Uhr. An diesem Tag überhaupt nicht mehr.

Der nächste Morgen. Es ist Dienstag, der 26. Januar, Punkt 08:00 Uhr. Wieder blickt mich der Vater von Rolf Rangnick (Ja, ich weiß. Aber Rudi Assauer hat auch immer „Rolf“ gesagt) an. Auch um 08:15, um 08: 30, 08:45 und um 09:00 Uhr. (Jede Uhrzeit steht  übrigens für mehrere Versuche!)

Gegen 09:15 Uhr  komme ich endlich auf die Registrierung. Trage die Daten meiner Mutter ein: Name, Adresse und Geburtsdatum, vergebe ein Passwort und werde zur Terminvergabe weitergeleitet. Jetzt habe ich es wohl endlich geschafft! Unterm Strich habe ich in 27 Stunden  gerade mal sieben oder acht Stunden dafür benötigt. Nur eine kleine Mühe dafür, dass Mutter ständig meine Wäsche macht und stundenlang meine Hemden bügelt.

Die Seite für die Terminvergabe öffnet sich nicht. Ich sehe im Hintergrund schon matt einen Kalender, im Vordergrund einen Ladekreis, der sich fortlaufend dreht. Und dreht. Und dreht.

Mailadresse und Passwort stets neu eingeben

Ich gehe auf „aktualisieren“. Pustekuchen. Bei jedem neuen Versuch  muss ich auch erneut meine Mailadresse und das Passwort eingeben. Nach dem xten Versuch sehe ich endlich den Kalender klar. Oben steht: Wählen Sie einen Termin aus. Zu sehen sind die Monate Januar und Februar. Jeder Tag ist mit kleinen grauen Kreisen mit einem Querstrich versehen. Wie Parkverbotsschilder, aber eben in grau. Ein Blick in die Legende: Dieses Zeichen steht für „Tag ausgebucht“. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Da waren andere wohl schneller. Hätte ich mich mal durchgängig mit der Sache beschäftigt!  Aber man kann in dem Kalender weiterscrollen. Dann eben im März. Muss Mutter bis dahin vorsichtig sein. Eine Quarantäne hat sie ja schon überstanden. Nach dem Kontakt mit einer Tochter und einem Enkel, bevor die ihr positives Testergebnis erhielten.

Im März auch alles grau. Im April auch. Bis Dezember das gleiche Bild. Alle Termine ausgebucht. Ich überlege: Im September wird meine Mutter 88 Jahre alt. Sie kann zwar nicht mehr gut laufen, ist aber noch klar im Kopf. Und zäh. Die sollen sich mal keine Hoffnung machen, das Problem vor einer Impfung biologisch lösen zu können. Meine Mutter hält noch ewig durch. Falls sie sich nicht mit dem Virus infiziert.

An diesem Tag tut sich bei weitern Versuchen nichts mehr. Falls ich auf die Seite komme, gibt es keine Termine.

Ich bin sowas von sauer.

Immer noch keinen Termin ergattert

Der nächste Tag, Mittwoch, 27. Januar. Neues Spiel, neues Glück. Am späten Vormittag  ist endlich ein Termin frei. Schon am 05. März. Ich klicke sofort darauf. Ein Freitag. Da lässt Mutter sich eigentlich immer von mir oder einem der Enkel  zum Friseur chauffieren. Waschen und legen, manchmal auch schneiden. Wer weiß, ob Friseure bis dahin überhaupt wieder geöffnet haben. Selbst wenn… eine Impfung ist wichtiger.

Ich sehe wieder den sich drehenden Kreis. Gefühlte Ewigkeiten lang. Und dann: Keine Terminvergabe möglich. Im Radio haben sie gesagt, es stünde wohl kein Impfstoff mehr zur Verfügung. Und der von AstraZeneca sei nur für Menschen unter 65 Jahren geeignet. Vielleicht habe ich selbst dadurch eine Chance. Der Urologe hat gesagt, bei meiner Nieren-Insuffizienz wäre das schon wichtig, dass ich mich nicht anstecke… Haha.

Bis heute, 29.01.2021, habe ich ja nicht einmal einen Impftermin für meine Mutter ergattert.  Nach dem Einloggen erscheint immer nur: „Keine Terminvergabe möglich“. Vielleicht sage ich das auch mal dem Finanzamt oder der Krankenkasse, wenn sie wieder gnadenlos Steuern, Beiträge und Sozialabgaben einfordern, obwohl wir in der Pandemie kaum Umsatz machen.

Meine Mutter ist übrigens etwas enttäuscht von meiner Fehlleistung: „Du schaffst doch sonst immer alles in kürzester Zeit!“ Aber unser Verhältnis hat nicht grundsätzlich gelitten. Ich gehe jetzt erstmal rüber und bringe ihr meine Wäsche.




Am Ende des Weges zum Katholizismus: J.-K. Huysmans‘ „Lourdes – Mystik und Massen“ erstmals auf Deutsch

Joris-Karl Huysmans, vor allem bekannt geworden durch ein Buch, das oft als „das Brevier der Dekadenz“ bezeichnet wird – den 1884 erschienenen Roman À rebours (deutsch meistens: Gegen den Strich) –, wandte sich im Laufe seines Lebens zunehmend dem Katholizismus zu. Jetzt liegt erstmals in deutscher Übersetzung ein Werk vor, das am Ende dieses Weges steht: Lourdes. Mystik und Massen (Originaltitel: Les Foules de Lourdes, 1906).

Bereits nach dem Erscheinen von À rebours sah Huysmans‘ Schriftsteller-Kollege Barbey d’Aurévilly in einer Besprechung im Constitutionnel am 28. Juli 1884 voraus: „Nach einem solchen Buch bleibt dem Verfasser nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes.“ Huysmans entschied sich nicht für den Suizid; er starb 1907 im Alter von 59 Jahren an einem Tumor im Unterkiefer. Sein Buch über den Wallfahrtsort Lourdes, wo er sich in den Jahren 1903 und 1904 jeweils für mehrere Wochen aufhielt, war das letzte seiner Bücher, das zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde.

Schon der dekadente Adlige Des Esseintes in À rebours hatte sich eine Sammlung mit Werken frühchristlicher und mittelalterlicher Autoren zugelegt. Gegen Ende des Romans empfindet der Protagonist die Sinnleere dieser mit sich selbst beschäftigten Ästhetik und sehnt sich nach seiner Zeit im Jesuiten-Internat zurück. In den nachfolgenden Werken Là-bas (1891, dt.: Tief unten), En route (1895, dt.: Unterwegs), La Cathédrale (1898, dt.: Die Kathedrale) und – nachdem Huysmans 1900 selbst Laienbruder (Oblate) im Benediktinerorden geworden war – L’Oblat (1903, dt.: Der Oblate) lässt sich seine allmähliche Annäherung an den christlichen Glauben mitvollziehen.

Mittelalterliche Frömmigkeit

In einer Besprechung von Paul Verlaines religiösen Gedichten (Sagesse, 1880), die auf Deutsch in der Zeitschrift Sinn und Form erschienen ist (Heft 2/2017), hebt Huysmans auf die verlorene und bei Verlaine wiedergefundene Frömmigkeit des Mittelalters ab. Es ist eine „fast volkstümliche Ungeniertheit, diese zutiefst rührende Zerknirschung“, die er hier entdeckt. Verlaine habe „als einziger nach Jahrhunderten die Töne der Demut und Unbefangenheit, der klagenden und zaghaften Gebete, den Jubel des kleinen Kindes wiedergefunden, die seit der Rückkehr jenes stolzen, Renaissance genannten Heidentums vergessen waren.“ Eine Rückkehr zur vollkommenen Hingabe strebt er auch in seinem Buch über Lourdes an.

Drastische Beschreibung von Krankheiten

Jedoch ist Huysmans weniger ein religiöser Schwärmer als vielmehr ein scharfsinniger Beobachter und leidenschaftlicher Kritiker seiner Zeit. Den Eingangssatz zum ersten Kapitel seines 300-Seiten-Buchs, „Wenn es einen gibt, der niemals den Wunsch gehabt hat, Lourdes zu sehen, dann bin ich es“, darf man ihm abnehmen. Er, der seine literarische Geburtsstunde in der Gruppe der Naturalisten um Émile Zola erfuhr, bevor er mit À rebours auch Anhänger der symbolistischen Schule für sich einnahm, ist dem naturalistischen Stil der exakten Beschreibung treu geblieben. Das zeigt sich vielleicht am drastischsten in der detaillierten Beschreibung von Krankheiten, die er im Spital oder an der Heilquelle in der Grotte der Jungfrau Maria beobachtet. Bei den vom „Wundschleim der Kranken“ getrübten Wasserbecken, in denen die Wundergläubigen eintauchen oder gebadet werden, könnte man annehmen, dass sie mehr Krankheiten hervorrufen als heilen.

Kritiker der Geschäftemacherei

Ein großes Thema der Naturalisten um Zola, das aber ebenso im ästhetizistischen Roman À rebours aufscheint, ist die Kritik am modernen Kapitalismus. Huysmans geißelt die Geschäftemacherei, die sich in Lourdes entwickelt hat. Einige riesige Heil-Industrie hat sich dort entwickelt; nationale Wallfahrten wurden organisiert; in den kleinen Ort am Fuße der Pyrenäen reisten aus ganz Frankreich Zehntausende in speziellen Sanitätszügen, den Trains Blanches, begleitet von vielen freiwilligen Helfern. Zusätzlich kamen zahlreiche Reisegruppen aus dem Ausland. Die Stadt verwandelte sich in ein gigantisches Beherbergungslager; Souvenirläden und Devotionalienhandlungen eröffneten in großem Ausmaß. Huysmans zieht es hin zu den wenigen Rückzugsorten, in die – auf seinen späteren Reisen nicht mehr existierende – alte Kirche Saint-Pierre, „eine bezaubernde Dorfkirche“, wo er noch stille Einkehr erleben durfte, zu einer abseits der Pilgerströme gelegenen Kapelle auf der anderen Seite des Flusses Gave de Pau und zu dem kleinen und ärmlichen Kloster der Klarissen, wo die Oberin ihm ein langes Gespräch gewährt.

Basilika als „Blutsturz des schlechten Geschmacks“

Dagegen ist die 1889 fertiggestellte, erst 1901 eingeweihte und bis zu 1.500 Personen fassende Rosenkranz-Basilika im neobyzantinischen Stil für ihn ein „Blutsturz des schlechten Geschmacks“. Architektonisch sei sie gründlich misslungen und, mehr als das, geradezu ein Werk Satans: „Ohne Einflüsterungen aus einer bösartigen Jenseitswelt kann der Mensch allein Gott nicht in dieser Weise entehren.“ Auf dem Gebiet der Ästhetik erweist sich die Radikalität seines Urteils ganz besonders, und schon die älteren Werke Huysmans machen deutlich, wie wichtig für ihn Liturgie und Form waren. Was er dagegen in Lourdes ansehen musste, „ist ziemlich erbärmlich, es reizt dazu, die Stadt zu verlassen und sie niemals wieder zu betreten.“ Von unfassbarem Kitsch und nicht geeignet, das Heilige zu repräsentieren, ist eine Station auf dem Kreuzweg, und tatsächlich wurde sein 1906 erschienener Verriss von der Kirche ernst genommen und die von ihm besonders geschmähte Station des Kreuzwegs daraufhin umgestaltet.

Das andere Gesicht von Lourdes – die soziale Utopie

Nicht alles an Lourdes stößt ihn ab. Das Massenphänomen der Pilgerschaft und Heilsuchenden erzeugt auch ein tiefes Gefühl von Gemeinschaft – „all diese wachenden Menschen, so fern ihrer Heimat, sagen das Gleiche in den unterschiedlichen Sprachen und denken das Gleiche.“ Die Erfahrung von Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe beeindruckt ihn tief. In den vielen freiwilligen Helfern, Pflegerinnen und Pflegern, Krankenträgern und Ärzten, die die Schwerkranken und Gebrechlichen begleiten, sieht Huysmans ein Stück sozialer Utopie verwirklicht. „In dieser Stadt der Jungfrau lebt das Urchristentum wieder auf (…).“ Angesichts des Leids scheinen soziale Unterschiede keine Rolle zu spielen. Es ist die zeitweise Verschmelzung der Klassen. Die Frau von Welt verbindet und wäscht die Arbeiterin und die Bäuerin, der Herr in gehobener Stellung wird Tragesel für den Handwerker und den Landmann, fungiert als Badehelfer in ihrem Dienst.

„Die Wunderheilungen: Für und Wider“

Vielleicht wäre Huysmans‘ Buch über Lourdes nicht entstanden, hätte nicht sein früherer Lehrmeister, der acht Jahre ältere Émile Zola, 1894 einen Roman mit dem Titel Lourdes veröffentlicht. Zolas Protagonist ist ein junger Priester, der in Begleitung eines Pilgerzugs zur Erkenntnis gelangt, schwere Krankheiten würden die meisten Menschen ohne ihren Glauben gar nicht ertragen. Geschäftsleute und ein Teil des Klerus nutzten die Not der Gläubigen aus. Dem jungen Priester schwebt eine neue Religion vor, die nicht die Illusionen nährt, sondern vor allem materielle Gerechtigkeit herstellt.

Indem Zola die „Wunder“ auf Hysterie und Autosuggestion zurückführt, greift er auf die Suggestionstheorie des Pathologen und Neurologen Jean-Martin Charcot zurück. Huysmans wendet sich in dem Kapitel „Die Wunderheilungen: Für und Wider“ seines Lourdes-Buchs gegen Zola und Charcot und argumentiert, Wunderheilungen wirkten auch bei Personen, die im Zustand der Bewusstlosigkeit nach Lourdes gebracht worden seien oder bei Säuglingen, die sicherlich keiner Suggestionen anheimgefallen sein dürften. Es habe nachweislich in Lourdes auch Heilungen abseits der Massenveranstaltungen, der großen Messen, der Prozessionen gegeben. Huysmans geht davon aus, dass wesentlich mehr Wunder geschehen sind als beim Konstatierungsbüro in Lourdes gemeldet und „amtlich“ anerkannt wurden.

Ratio und Glaube schließen sich nicht aus

Huysmans zitiert einen „bewundernswerten Mönch“, der über seine Ordensbrüder zu ihm sagte: „Gott segnet sie nicht mehr, sobald sie vernünfteln!“ Das mag an den Kirchenlehrer Petrus Damiani (um 1006–1072) erinnern, für den das Denken seinen Ursprung im Teufel hat und vor Gott nichts gilt. Für den jedoch, der es gewohnt ist, Ratio und Glauben als gewisse Gegensätze aufzufassen, mag bei der Lektüre von Huysmans‘ Lourdes-Buch die Entdeckung verblüffen, wie wenig sich für ihn vernünftige Analysen und tiefe Frömmigkeit ausschließen. Das wird gerade im Kontrast zu manchen seiner Zeitgenossen deutlich. Bei Monsieur Teste beispielsweise, dem überragenden Intellektuellen, den Paul Valéry ungefähr zeitgleich erschaffen hat, ist es die Ehefrau Emilie, die feststellt, ihr Mann habe das Wesen ihrer inbrünstigen Seele perfekt erforscht und verstehe ihre Gläubigkeit treffend zu erläutern, doch fehle seiner Nachbildung das Eigentliche: die Hoffnung. Es gibt kein Körnchen Hoffnung im ganzen Wesen von Herrn Teste.

Maria als tatsächlich Handelnde

Bei Huysmans dagegen, wenn er auch seine Epoche verabscheute, war Hoffnung in großem Maße vorhanden, bis hin zu einer Wundergläubigkeit, die aufgeklärten Menschen naiv erscheinen mag. Im Sinne mittelalterlicher Frömmigkeit ist es für ihn eine Realität, dass die vom Konstatierungsbüro geprüften und anerkannten Wunderheilungen einen übernatürlichen Ursprung haben. Er betrachtet Maria als ein tatsächlich handelndes, in die Geschicke der Menschen eingreifendes Wesen. „Es ist übrigens vernünftig, in diesem Heilmittel (hier geht es um das Wasser der Quelle) nur eines derjenigen zu sehen, die von der Jungfrau nach ihrem Willen angewendet werden, denn oft wählt sie es auch nicht.“ Auch in seiner Beschreibung der geschichtlichen Vorläufer von Lourdes ist es Maria, die den Ort bestimmt, in dem sie sich niederlässt. „Die Jungfrau zog von den Alpen in die Pyrenäen, und dort erschien sie nicht auf einem Berggipfel, sondern am Fuß eines Berges in einer Grotte, als ob sie näher herbeikommen wollte in irdische Reichweite.

Ohne den festen Glauben an Heilung gäbe es keinen solchen Wallfahrtsort. Nicht als ein Standbild, sondern als eine Person, mit der man reden kann und die sie hört, betrachten auch die Pilger die Jungfrau Maria. Wenn Bitten allein nicht hilft, wollen sie mit ihr verhandeln; sie rechnen die eigene Hingabe gegen das von einer solch aufwendigen und kostspieligen Reise erwartete Wunder auf, verlangen „für ihren derartig großen Glauben, ihre Geduld und ihren Mut“ eine „Gegengabe“. Und der Autor schließt sich ihrem Hadern mit der Gottheit an: „Was tut sie denn, für die es doch so einfach wäre, all diese Menschen zu heilen?

Sinngebung des Schmerzes

Dann aber weist Huysmans‘ große Belesenheit überraschend auf ein Paradoxon hin, das sich für den frommen Christen aus dem Wunsch nach Heilung ergibt. Er erinnert an eine vor allem im 14. und 15. Jahrhundert epochentypische Richtung des Katholizismus, die sich „Dolorismus“ nennt. Ihre Anhänger sahen sich in der Nachfolge Christi als „Schmerzensmann“ und glaubten, durch eigenes Leiden Christi Werk, das Leiden für die Menschheit, fortsetzen zu können – gemäß Paulus‘ Brief an die Kolosser 1,24, in dem es (in der Übersetzung Martin Luthers) heißt: „Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erfülle durch mein Fleisch, was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde.“ Mit einer solchen mystischen Haltung wäre es, wie Huysmans bemerkt, inkonsequent, sich in Lourdes die Befreiung vom Leiden zu wünschen. Sie würde den Zweck der Wallfahrt ad absurdum führen – „denn letztlich müsste man vor der Grotte statt der Linderung seiner Leiden ihre Verschlimmerung erbitten, um sie als Sühneopfer für die Sünden der Welt anzubieten! Lourdes wäre so gesehen die Zentrale menschlicher Feigheit.“ Huysmans nimmt damit vorweg, was in Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft als „Algodizee“ auftaucht, in dem Fall eine apologetische Sinngebung des Schmerzes.

Huysmans‘ Lourdes-Buch ist das stilistische Meisterwerk eines außergewöhnlichen Autors, der ebenso aus seiner Zeit fiel, wie er vermutlich in keine Epoche gepasst hätte. Mit einem erhellenden, kenntnisreichen Nachwort des Übersetzers Hartmut Sommer liegt uns die erste deutsche Ausgabe in der schön gestalteten Reihe der Lilienfeldiana endlich vor.

Huysmans, Joris-Karl: Lourdes – Mystik und Massen. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hartmut Sommer, mit historischen S/W-Fotografien, Lilienfeld Verlag, Düsseldorf, 2020 (Reihe: Lilienfeldiana, Band 23), 320 Seiten, 22 Euro.




Karte oben, Karte unten: Corona und das Wetter

Daran werden wir uns einst erinnern – sofern wir uns dann erinnern können: beispielsweise an Kartendarstellungen der Pandemie, die schon durch ihre schiere Größe und Platzierung signalisiert haben, wie überaus wichtig man das Virus nehmen musste.

Gewichtung in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Oktober 2020: Das Wetter spielt die Nebenrolle.

Früher hat man sich dann und wann die Wetterkarte angesehen, sie war einigermaßen alltagswichtig. Irgendwann im Laufe dieses höchst seltsamen Jahres 2020 haben dann die Corona-Karten optisch und semantisch die Oberhand gewonnen. Schließlich haben die Größenverhältnisse so ausgesehen wie auf der beigegebenen Ablichtung der Süddeutschen Zeitung, Ausgabe vom 28. Oktober 2020.

Das Wetter steht am Fuß der Seite, die oben mit Corona aufgemacht wird. Wenn eines Tages das Wetter wieder sichtbarer dargestellt werden sollte, dann werden wir hoffentlich in dieser Hinsicht das Schlimmste überstanden haben – und es werden, z. B. mit Klimakatastrophen und Terrorismus, mehr als genug Probleme übrig bleiben.

Womit wir beinahe zwangsläufig zu einem meiner Lieblingszitate aus den Gefilden der Popmusik kommen, zu Bob Dylans unsterblicher Zeile „You don’t need a weatherman to know which way the wind blows“ aus dem Song „Subterranian Homesick Blues“.

In diesem Sinne uns allen einen glimpflichen Herbst und Winter. Möge uns danach ein neuer Frühling leuchten.

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P. S.: Ganz traurig ist es, dass jetzt auch Sean Connery nicht mehr unter den Lebenden weilt.




Wenn Masken modisch und witzig sein sollen

Ich geb’s ja zu: Ein paar von den Dingern hab‘ ich auch. Aber alles ganz harmlos. (Foto: BB)

Masken haben sich bekanntlich längst als modisches Accessoire erwiesen. Auch macht sich bemühter Humor auf den Stoffen breit.

Nach wochenlangen Wartezeiten nur zu Mondpreisen erhältlich, gab es anfangs zumeist Einmal-Masken mit jenem allbekannten bläulichen Schimmer. Sicherlich einigermaßen von Nutzen. Aber langweilig. Das genügt in der verwöhnten westlichen Welt mit ihren stylischen Attitüden nicht.

Und jetzt? Herrscht (ähnlich wie bei anderen Artikeln, die vorübergehend knapp waren) seit Monaten ein flutendes Überangebot. Kapitalistische Bedarfsbefriedigung halt. Alles in anbrandender Hülle und Fülle. Nichts, was es nicht gibt.

Wer zählt die Punkte-, Streifen-, Leo-, Argyle-, Karo-, Blumen- und Schottenmuster? Wer beschreibt die Imitate aus allen denkbaren Kunst- und Kunstgewerberichtungen? Sodann zieren Logos aller Bundesliga-Clubs, Silhouetten aller mögliche Städte und Agglomerationen, dazu Symbole und Flaggen jedweder Couleur die Mund-Nasen-Lappen. Auch Modelle mit allen Planeten, putzigen Ankerchen, niedlichen Haien, dem lateinischen Alphabet oder chinesischen Schriftzeichen stapeln sich in den Regalen.

Manche Zeichen werden uneindeutig

Apropos bunt: Bei Masken in Regenbogenfarben kann man sich nicht mehr ganz sicher sein, wes (Un)geistes Kinder die Träger*innen sind. Auch manche ver(w)irrten Corona-Leugner haben versucht, das Friedens- und Toleranzzeichen an sich zu raffen, ebenso wie sie einzelne Signaturen der Hippie-Ästhetik okkupieren wollen. Recht sicher kann man sich hingegen bei einer Masken-Aufschrift wie „Bürger Maulkorb“ sein, die noch dazu in Frakturschrift erscheint.

Ein eigenes Genre bilden Masken, auf denen mehr oder weniger karikierte Münder, Zungen und Zähne oder Ausschnitte von Tiergesichtern prangen; Smileys und Emojis noch gar nicht mitgerechnet, von Totenköpfen und Gerippen aller Art sowie Bildchen mit brünstig-sexueller Konnotation ganz zu schweigen. „Das ganze Programm“, wie unser „Dittsche“ sagen würde.

Kurzum: Mit schlicht unifarbenen Masken könnte man sich schon beinahe underdressed vorkommen. Oder einfach nur normal vernünftig. Schmucklos genügsam. Pragmatisch. Und dergleichen.

Mit gedrucktem Salatblatt vor dem Mund

Auf diesen Stoffstückchen dürfen sich offenbar alle Designenden (ist das nicht toll gegendert?) austoben, wobei etliche Ideen-Anleihen bei T-Shirts genommen werden können. Frauen mit diversen Bart-Umrissen auf der Maske? Geht. Männer mit gedrucktem Salatblatt vor Mund und Nase? Na, klar. Mit echten oder falschen Perlen besetzter Stoff? Sicher doch. Anything goes.

Natürlich florieren auch, womit wir vom Optischen zum Verbalen schreiten, landsmannschaftliche, dialektale und mundartliche Abarten – von Aufschriften wie „Moin“ oder (steile Steigerung) „Moin Moin“ über „Glückauf“ bis zu „Schnüssjardinche“, „Maultäschle“ und „Snutenpulli“. Womit wir schon im Vorfeld des Schenkelklopf-Bezirks notorischer Gute-Laune-Bären angelangt wären. (Übrigens: Fips Asmussen, dröhnender Kleinmeister des Kalauers, ist jetzt mit 82 Jahren gestorben).

„H(o)usten – wir haben ein Problem“

Betreten wird also zaghaft das weite, weite Feld des Corona-induzierten Humors der kläglich schnell erschöpften Sorte. Hier nun einige Fund-Beispiele für Maskenaufdrucke mit hohem Witzbold-Quotienten und arg begrenztem Kicherfaktor, bevorzugt als „lustig“ (Vorsicht vor diesem Wort!) beworben:
„Aushuastverhüterli“
„Kein Corona, nur eine hässliche Fresse“

„Keine Panik – Heuschnupfen“
„Keine Panik! Raucherhusten“
„Hatschi“
„H(o)usten – wir haben ein Problem“

„Achtung! Das ist kein Überfall. Ich will nur einkaufen.“
„Ich war sozial distanziert, bevor es cool war“
„Infiziert: Ja – Nein – Vielleicht“ (mit Kästchen zum Ankreuzen)

„Darf ich Ihnen das Tschüss anbieten?“

Eine weitere Unterabteilung klingt missgelaunt, genervt, ruppig oder aggressiv:
„F*CK CORONA“ (explicit version also available: FUCK CORONA)
„bla bla bla“
„Schleich dich, zefix!“
„Moin, ihr Spacken“
„Darf ich Ihnen das Tschüss anbieten?“
oder ganz simpel:
„Ich hasse Menschen“

Zum Ausgleich gibt’s noch die, die ein bisschen nett und tröstlich wirken wollen oder dieses herzige Ansinnen wenigstens vor sich hertragen:
„Ehrlich! Ich lächle!“
„You’ll never walk alone“
„Kiss me!“

Und manche lassen Spuren von Sinnhaftigkeit ahnen, etwa so:
„Wenn du das hier lesen kannst, dann bist du zu nah!“

Zum Schluss eine Fachfrage: Ist noch ein Hersteller übrig, der seine Masken noch nicht als „Mit Abstand am besten“ angepriesen hat?




Soziale Miniaturen (21): Vor dem Sprung

An der Straßenecke schaust du unwillkürlich nach oben: Da hängt einer im Fenster, vornüber gebeugt, die Beine weit voraus, überhaupt das Schwergewicht schon beinahe außerhalb des dahinter liegenden Zimmers.

Zuallererst könnte man es für eine unvernünftige Wette halten; eine Wette zwischen ihm dort oben und dem Mann, der hinter ihm im Raume steht. Doch schnell wird klar, dass es ernst ist, dass der Hintere ihn dringlich vom Sprung abhalten will, durch fortwährendes gutes Zureden. Vielleicht hat den Sprungbereiten eine Frau verlassen, vielleicht ist ihm jemand gestorben. Mag sein, dass er auch unter Drogen steht. In diesem Augenblick ist es zweitrangig.

Die Vorortstraße ist zu dieser nachmittäglichen Sonntagszeit nicht belebt, nur ganz vereinzelt stehen da ein paar Leute und schauen ebenfalls hoch, beklommen schweigend. Erst recht ist da niemand, der „Spring doch!“ oder dergleichen ruft. Muss man das eigens feststellen?

Es ist zwar ein Dachfenster, doch liegt es „nur“ im zweiten Obergeschoss. Es geht vielleicht fünf Meter hinab in einen Vorgarten. Der verzweifelte Mann, der erbärmliche, nahezu animalische Leidenslaute hervorwürgt, würde sich beim Sprung erheblich verletzen, aber wohl nicht zu Tode stürzen. Das mindert jedoch nicht das Desolate der Situation, es mischt ihr einen giftigen Schuss von Komik bei, welche die Verzweiflung umso greller hervortreten lässt. Für jedwede Lächerlichkeit hat dieser Mensch kein Empfinden mehr…

…und schon kommt ein Rettungswagen, den der Freund des Verzweifelten inzwischen gerufen hat. Nur einige Sekunden vor dem Eintreffen ist der Mann wimmernd ins Zimmer zurückgekrochen. Das Fenster ist nun geschlossen, die unmittelbare Gefahr ist offenbar vorüber. Was sich drinnen abspielt, geht uns weiter nichts an.

Fast wortlos, umsichtig, mit betonter, fast schon gespenstischer Routine wickeln die Sanitäter ab, was getan werden muss. Es möchte scheinen, als lebten wir immer noch in einer wohlversorgten Gesellschaft.

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Bisher in der losen Textreihe „Soziale Miniaturen” erschienen und durch die Volltext-Suchfunktion auffindbar:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14), Zuckfuß (15), Peinlicher Moment (16), Ich Vater. Hier. Jacke an! (17), Herrscher im Supermarkt (18), Schimpf und Schande in der Republik (19), Der Junge mit der Goldfolie (20)

 




Von Öffnungsorgien und „Visionen“

Die Maskensprüher hinterlassen ihre Spuren im Dortmunder Stadtgebiet… (Foto: Bernd Berke)

Mal ehrlich: Schon die „Öffnungsdiskussionsorgien“ (Merkel-Sprech) des Armin Laschet gehen einem gepflegt auf den Geist. Doch jetzt wird der leutselige CDU-Mann aus der Aachener Karnevalsgegend rasant von einem Linken übertrumpft, vom thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow.

Der will demnächst so gut wie alles wieder freigeben und allenfalls lokal noch ein paar coronige Dinge regeln. Andere Landeschefs zeigen sich überrascht vom Vorpreschen Ramelows, das offenkundig ohne Absprache mit Amtskolleg(inn)en erfolgt. Um im munteren Schweinskram-Modus zu bleiben: Wenn Laschets Gebaren ansatzweise eine Orgie wäre, so riefe Ramelow zum landesweiten Gangbang auf. Ist doch wahr, Leute!

Ein richtiger Mann muss voranstürmen

Offenbar denken die Herren (wie nur je) in Kategorien des Voranstürmens und Gewinnenmüssens. Nur dass es hier mal nicht direkt um gemächtige Längenmaße geht, sondern um Kürze, sprich: um die kürzeste Verweildauer in einschränkenden Corona-Maßnahmen. Dass es gute Gründe gibt, einzelne Bereiche wieder (mit aller Vorsicht!) zu öffnen, ist keine Frage. Aber die nahezu vollständige Freigabe, wie sie jetzt in Thüringen ansteht, bedient auch jene Kleingeister, die Corona eh nur für eine Erfindung halten. Wer freilich an eine Weltverschwörung glaubt, wird sich auch jetzt wieder etwas Wahnwitziges zurechtbasteln: Vielleicht handelt Ramelow ja auf verquere Weise im Auftrag von Bill Gates oder die 5G-Funkwellen sind ihm zu Kopf gestiegen.

Kein sonderlicher Segen

Auf Thüringen – siehe auch die unselige Ministerpräsidenten-Kür – liegt derzeit ohnehin kein sonderlicher Segen. Nur weil sie dort relativ niedrige Infektionsraten haben, glauben manche offenbar, dass man sich nun schier alles erlauben könne. Gefahr einer „zweiten Welle“? Ach was! Neueste Forschungen zur Corona-Verbreitung durch Aerosole in geschlossenen Räumen? Piepegal. Was sollen Schutzmasken und Abstände? Sie halten sich wohl für unverwundbar. Allerdings mahnt Jenas Oberbürgermeister Nitzsche, die allseitige Öffnung gleiche einem „Gang aufs Minenfeld“.

Von Heinsberg bis Olympia

P.S.: Eigentlich wollte ich auch noch etwas über Armin Laschets weitere Orgien schreiben, aber das gehört gar nicht hierher. Oder doch? Wovon ich rede? Nun, von der fröhlich öffnungsgeneigten Heinsberg-Studie des Bonner Virologen Hendrik Streeck, die dem NRW-„Landesvater“ zupass kam. Die höchst voreilige PR dazu besorgte bekanntlich eine Agentur namens Storymachine, betrieben u. a. von Ex-„Bild“-Chef Kai Diekmann und dem Eventmanager Michael Mronz. Letzterer hat Laschet auch für die „Vision“ Olympischer Spiele im Ruhrgebiet und auf der Rheinschiene bis hinunter nach Aachen (!) anno 2032 entflammt. Der Himmel oder besser noch die Vernunft bewahre uns vor solch ungemein kostspieligen, interessegeleiteten „Visionen“! In diesem Falle gilt wirklich Helmut Schmidts sonst häufig unangebrachtes, knurriges Diktum: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“.




War das etwa ein Revierderby? Nein, nein und nochmals nein!

Ja, es war gespenstisch: das „Revierderby“ vor leeren Zuschauerrängen, hier als Screenshot der Sky-Übertragung – just im geisterhaften Moment einer Bildüberblendung.

Normalerweise ist das Dortmunder Stadion das größte in Deutschland. Selbst bei weniger prickelnden Spielen ist es stets bis auf den letzten Platz gefüllt, erst recht bei einem Revierderby gegen Schalke. Heute war das piepegal. Wie so vieles andere.

Nicht über 81.000 Zuschauer kamen heute zum Pseudo-Revierderby gegen Schalke, sondern nur die Spieler, jeweils ein verkleinerter Betreuerstab, das Schiri-Team und ein paar handverlesene Medienvertreter. Ich habe lange überlegt, ob ich mir diese durchaus riskante, eventuell auch skandalöse Unwichtigkeit im TV antun soll. Nun denn, auf abstruse Weise war es ja doch etwas „Besonderes“. Da fühlt man sich als Journalist eben angesprochen. Hier also ein kurzer Bericht vom faden Selbstversuch.

Was bei Geisterspielen alles schmerzlich fehlt, trat bei der sonst so verbissen ausgefochtenen Begegnung BVB – Schalke diesmal besonders krass zutage. Es mangelt an jeglicher Leidenschaft, an gesteigerter „Emotion“, an Atmosphäre, erst recht an jeder Form von Fußballfieber. Wie sonst nie, wird jetzt klar, wie überaus wichtig die Rolle der Fans ist. Sie erst machen das Spiel zum Erlebnis. Das haben wir zwar schon vorher gewusst, doch nun gibt es daran noch weniger Zweifel. Auch als Fernsehzuschauer fehlt einem die „Rückkoppelung“ durch das Publikum im Stadion, dessen Geräuschkulisse wiederum oft gnädig das Geschwätz mancher Kommentatoren übertönt.

Der Fernsehton klang geradezu gespenstisch, wie aus einer Hall- und Echokammer. Es waren die seltsam verstärkten Zurufe von Spielern und Trainern. Man hatte bei Sky auch die absurde Wahl, einen Tonkanal mit situationsgerecht (?) eingespielten Fanrufen und Gesängen aus der „Konserve“ zu wählen; womit wir nicht nur auf einem Gipfel der Peinlichkeit, sondern geradewegs in den Gefilden der Idiotie angelangt wären.

Es war einiges anders, als man es bisher kannte. Desinfizierter Ball, Gesichtsmasken auf der Auswechselbank, die Spieler (und nicht Balljungen) holen sich die Kugel selbst. Die teilweise stark abgewandelten Corona-Spielregeln waren auch dem TV-Sprecher noch nicht klar. Zum Beispiel: Darf man insgesamt fünf Spieler zu drei Zeitpunkten auswechseln? Zählt dabei ein Wechsel in der Halbzeit mit? Ach, wie müßig! Aber es muss ja alles in geordneten Bahnen verlaufen. Apropos: Wahrscheinlich haben sie in allen möglichen Ländern ein Auge auf diesen Spieltag. Gut möglich, dass demnächst halb Europa mit Spielzeit-Resets nachzieht. Beim Gedanken kann einem bange werden.

Nach den vier Dortmunder Toren gab es nicht den üblichen Jubel in der Spielertraube, sondern jeweils verhaltene Freude auf Distanz. Es wirkte fast schon ein wenig nobel. Denn damit unterblieben auch die sonst mitunter üblichen, lächerlichen Macho-Gesten. Auch gab’s kein fortwährendes Gespucke auf den Rasen. Wenn sich die hochbezahlten Herrschaften das auf Dauer abgewöhnen könnten, wär‘s eh gut. Überhaupt darf man vielleicht von künftigen Zeiten träumen, wo weniger Getue um die Kickerei veranstaltet wird, und zwar verbal wie finanziell.

Sagen wir nur die blanke Wahrheit: Es war nicht nur ein leeres Stadion, es war insgesamt eine sinnentleerte Veranstaltung. Das 180. Revierderby war gar keins. Es war in jeder Hinsicht unecht. Und ja: Ich habe das Ende herbeigesehnt.

Unter anderen Umständen hätte man sich als Anhänger der Dortmunder über den 4:0-Erfolg königlich gefreut, doch so nimmt man es beinahe ungerührt zur Kenntnis. Ich weiß nicht einmal, ob ich mir in dieser verrückten Saison den BVB als Meister wünschen soll. Auf ewig würde es heißen, das sei ja die „Corona-Meisterschaft“ gewesen. Außerdem ist es nicht vorstellbar, dass ein etwaiger Titel in der Stadt massenhaft gefeiert werden könnte. Aber auch das ist irgendwie schnurz.




Auf dem Buchmarkt grassiert die Pest

Der Virus-Sprayer ist unterwegs – und diese Kreation ist an verschiedenen Stellen im Dortmunder Stadtgebiet zu finden. (Foto: Bernd Berke)

Ich geb‘s ja zu: Auch ich habe dieser Tage, als „alle Welt“ (jedenfalls die, die – obwohl des Lesens kundig – das Buch noch nicht hatte), nach Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ jieperte, aus ähnlicher Motivation gesucht. Ja, ich wollte Daniel Defoes historischen Bericht „Die Pest in London“ (Original „A Journal on the Plague Year“) in der bestmöglichen Ausgabe erwerben. Dabei stieß ich jedoch nebenher auf andere Phänomene.

Dutzendfach tauchten da im Verzeichnis Lieferbarer Bücher (VLB) Bände auf, die mit dem Vermerk „1. Auflage 2020″ versehen waren, die also, obgleich vielfach historischen Ursprungs, noch einmal ganz frisch auf den Markt geraten waren. Und wovon handelten die? Ganz richtig: von der Pest in allerlei Varianten. Da finden sich etwa Danilo Samojlovics „Die Pest zu Moskau im Jahre 1771″, Dr. Roman S. Czerykins „Die große Pest während des Türkenkrieges 1828-1829″, Theodor Roths „Die große Pest in London“, Carl Spindlers „Die Pest zu Marseille“ oder auch „Memoiren über die Pest zu Toulon – Ein Augenzeugenbericht“ (Jean d’Antrechaus / Übersetzer: Adolph Freiherr zu Knigge), allesamt übrigens als Books on Demand (BoD) herausgekommen.

Doch nicht nur weitgehend unbekannte und (ob nun zu Recht oder Unrecht) vergessene Autoren sind da zu finden, sondern auch die folgende Kombination dreier Großliteraten ist greifbar, ebenfalls von BoD als „1. Auflage 2020″ angeboten: Keine Geringeren als Jack London, Jens Peter Jacobsen und Edgar Allan Poe haben die in einem Band vereinten Texte „Die Scharlachpest / Die Pest in Bergamo und Die Maske des Roten Todes“ verfasst. Das Buch firmiert übrigens ausgesprochen launig und geradezu putzig als „Die kleine Pest-Bibliothek“.

Books on Demand, dies zur Erläuterung, sind nicht massenhaft vorrätig, sondern werden erst bei Anfrage und Bedarf eilends gedruckt, ein durchaus kosten- und Lagerplatz sparendes Verfahren. Inwiefern dabei noch Liebe zum Buch als Kulturgut im Spiel ist, sei dahingestellt.

Wenn ich einen bescheidenen Rat geben darf, so würde ich die Bücher zum Thema nicht als hektisch in den Handel geworfene, flüchtige Druckware (oder desgleichen E-Book), sondern in sorgsam und vernünftig edierten Ausgaben erwerben und etwa Titel der Weltliteratur wie Giovanni Boccaccios „Decamerone“ oder Alessandro Manzonis „Die Verlobten“ bevorzugen, die sich aus dem Thema Pest zwar herleiten, jedoch ungleich weitere Horizonte ausschreiten; was natürlich auch für Albert Camus gilt.




Nach und nach öffnen immer mehr NRW-Museen – unter strikten Sicherheits-Vorkehrungen (Update)

Ab 9. Mai wieder geöffnet: Kulturzentrum „Dortmunder U“ mit dem Museum Ostwall. (Foto: Bernd Berke)

Es ist so weit: Beginnend mit dem 5. Mai 2020, öffnen in Nordrhein-Westfalen und damit auch im Ruhrgebiet wieder einige Museen, nach und nach kommen weitere hinzu; hoffentlich nicht nur vorerst, sondern – unter strikter Einhaltung der Abstands- und Hygiene-Regeln – auf Dauer.

Hier nun ein paar Einzelheiten, den Mitteilungen der Institute bzw. der Städte folgend (Näheres auf den jeweiliges Homepages):

Das Museum Ostwall im „Dortmunder U“, das Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) sowie die weiteren städtischen Museen können am Samstag, 9. Mai, ihre Pforten wieder öffnen, bis dahin sind noch einige Sicherheits-Installationen anzubringen und sonstige Vorbereitungen zu treffen, die dem Gesundheitsschutz dienen. Einstweilen noch nicht geöffnet wird das räumlich beengte Kindermuseum Adlerturm. Im Museum Ostwall wird nach der Öffnung u. a. wieder die neue Sammlungs-Präsentation „Body & Soul – Denken, Fühlen, Zähneputzen“ zu sehen sein. Die aus dem Brooklyn Museum zu übernehmende Schau über die legendäre New Yorker Disco „Studio 54″ muss aufs nächste Jahr verschoben werden. Weder das Kuratorenteam noch die Exponate können derzeit nach Dortmund kommen.

Noch vor den städtischen Museen wird das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund wieder loslegen, und zwar am 7. Mai. Mit digitaler Vorab-Anmeldung fahren Besucher(innen) besser, wie es heißt.

Die Dortmunder DASA (Arbeitswelt-Ausstellung) kann ab 13. Mai wieder besucht werden – neue Öffnungszeiten: Mo-Fr 10-16, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr. Es gelten Einschränkungen, besonders in Mitmach-Bereichen.

Das Osthaus Museum in Hagen und das Emil Schumacher Museum in Hagen (ESMH) – zusammen das so genannte „Kunstquartier“ – öffnen erst wieder am 19. Mai. Grund für die Verzögerung sind offenbar Probleme mit der angemessenen Reinigung, die zugleich mit der hygienischen Verbesserung an den Schulen bewältigt werden muss.

Ab 7. Mai (Donnerstag) öffnet das Museum Folkwang in Essen wieder für die Besucherinnen und Besucher. Verstärkte Hygienemaßnahmen, eine Maximalbesucherzahl, geregelte Wegeführung und Boden­markierungen zur Einhaltung des Mindestabstands sollen das Infektionsrisiko auf ein Minimum begrenzen. Außerdem werden Listen zum freiwilligen Eintrag von Kontaktdaten ausliegen, um mögliche Infektionsketten rückverfolgen zu können. Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung während des Museumsbesuchs ist Pflicht. Die Museumsgastronomie bleibt geschlossen. Führungen und Veranstaltungen finden bis auf Weiteres nicht statt. Aktuell gibt es neben der Sammlungspräsentation („Neue Welten“) zwei Sonderausstellungen: „Aenne Biermann. Vertrautheit mit den Dingen“ (noch bis zum 1. Juni 2020) und „Mario Pfeifer. Black/White/Grey“ (noch bis zum 24. Mai 2020).

Außenansicht des Museums Folkwang in Essen (Eingangsbereich). (Foto: Giorgio Pastore)

Das Ruhrmuseum in Essen (auf dem Gelände des Welterbes Zeche Zollverein) ist ab Donnerstag (7. Mai) wieder geöffnet.

Bereits seit 5. Mai ist das Lehmbruck Museum in Duisburg wieder zu besichtigen. Nach rund 7-wöchiger Schließungsphase werden damit alle Ausstellungsbereiche und die aktuelle Sonderausstellung „Lynn Chadwick. Biester der Zeit“ für Einzelbesucher(innen) zu den gewohnten Öffnungszeiten wieder zugänglich sein. Die Chadwick-Schau wird bis zum 20. September verlängert.

In den vergangenen Wochen haben gut 71.000 Menschen die Retrospektive der Gemälde von Erwin Bechtold und die Sammlung des MKM Museum Küppersmühle in Duisburg virtuell erlebt. Jetzt werden die Kunstwerke wieder direkt zu sehen sein: Ab Mittwoch, 6. Mai, öffnet das MKM seine Türen. Die Bechtold-Ausstellung dauert bis zum 24. Mai. Die ständige Sammlung umfasst u. a. Werke von Joseph Beuys, K.O. Götz, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, Gerhard Richter, Emil Schumacher und Günther Uecker. Die derzeit üblichen Einschränkungen und Regeln beim Museumsbesuch gelten natürlich auch hier, insbesondere die Einhaltung eines Mindestabstands von 1,50 Meter.

Das Museum DKM in Duisburg wird ab 9. Mai geöffnet sein, jedoch nur am Samstagen und Sonntagen.

Auch die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen hat den Ausstellungsbetrieb ab 5. Mai wieder aufgenommen. Gezeigt wird zunächst die Zusammenstellung über Jacques Tilly, der u. a. als kreativer Karnevalswagen-Schöpfer in Düsseldorf bekannt wurde. Mit der neuen Schau „Rudolf Holtappel – Die Zukunft hat schon begonnen“ widmet man sich dann ab kommenden Sonntag (10. Mai) erstmals dem Lebenswerk des wohl wichtigsten Oberhausener Fotografen des 20. Jahrhunderts. Rund 250 Fotografien werden vom 10. Mai bis zum 6. September zu sehen sein.

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm ist seit 5. Mai wieder offen.

Das Märkische Museum in Witten kann ab 9. Mai besucht werden, zunächst jedoch nur samstags und sonntags.

Der Ausstellungsort Haus Opherdicke in Holzwickede (Kreis Unna) darf ab 12. Mai wieder besucht werden.

Die Emschertal-Museen in Herne sind seit 5. Mai wieder offen.

Die Kunsthalle Recklinghausen startet erst ab 6. Juni, das Ikonenmuseum in Recklinghausen ist hingegen schon jetzt (seit 5. Mai) wieder zu besichtigen.

Das Bergbaumuseum in Bochum kann seit 5. Mai wieder besucht werden, allerdings ist nur die Dauerausstellung zugänglich.

Das Kunstmuseum Bochum steigt am Donnerstag (7. Mai) wieder ein.

Ins Museum Gelsenkirchen wird man ab 12. Mai wieder eingelassen.

Die Museen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) sind seit dem 5. Mai wieder geöffnet. Museumsbesucher müssen sich – wie andernorts auch – auf Einschränkungen wie Mundschutzpflicht gefasst machen. Zur „Dosierung“ der Besucherzahlen gibt es Einlasskontrollen bzw. elektronische Zählsysteme. Bodenmarkierungen und Absperrbänder zeichnen Gehwege vor, markieren Mindestabstände und trennen Bereiche ab, in denen es eng werden könnte. Zudem wird es zunächst weder Führungen noch Gastronomie geben. Man richte sich darauf ein, dass der „Betrieb unter Corona“ noch Monate dauern könne, hieß es weiter.

LWL-Museum für Archäologie in Herne
Das LWL-Museum für Archäologie in Herne zeigt seine Dauerausstellung und hat wegen der bisherigen Schließung seine denkbar aktuell anmutende Sonderausstellung „Pest!“ bis zum 15. November verlängert.

LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund
In der Zeche Zollern ist die Sonderausstellung „Revierfolklore“ zu sehen, die Dauerausstellungen füllen die anderen Gebäude. Lediglich das Fördergerüst und das „Montanium“ bleiben geschlossen. Der Zugang zu den einzelnen Räumen wird reguliert.

LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster
Im LWL-Museum für Kunst und Kultur sind alle Ausstellungen geöffnet. Neu sind die Sonderausstellungen „Karel Dierickx“ und ab dem 10. Mai die Gemäldeschau über Norbert Tadeusz – diese wird am 9. Mai um 18 Uhr ohne Besucher per Live-Stream eröffnet. In der Tadeusz-Ausstellung dürfen sich pro Ausstellungsraum maximal vier Besucher(innen) gleichzeitig aufhalten, in den Sammlungsräumen maximal drei.

LWL-Museum für Naturkunde in Münster
Im LWL-Museum für Naturkunde kann man neben der Dauerausstellung die Sonderausstellung: „Beziehungskisten – Formen des Zusammenlebens in der Natur“ besichtigen. Das Planetarium bleibt bis auf Weiteres geschlossen.

Weitere LWL-Museen, die ab heute (5.5.) wieder zugänglich sind (Auswahl):

Industriemuseum Zeche Nachtigall in Witten
Industriemuseum Zeche Hannover in Bochum
Industriemuseum Schiffshebewerk Henrichenburg in Waltrop
Römermuseum in Haltern (Kreis Recklinghausen)
Freilichtmuseum in Hagen

…und „nebenan“:

In der Landeshauptstadt Düsseldorf sind seit 5. Mai die Kunsthäuser K20 und K21 sowie das Museum Kunstpalast und das NRW-Forum wieder geöffnet.

Diese Museen in Köln sind wieder zugänglich (Auswahl): Museum Ludwig, Wallraf-Richartz-Museum, Museum für Angewandte Kunst, Stadtmuseum. Das Römisch-Germanische Museum kann ab 8. Mai wieder besucht werden.

Die Bundeskunsthalle in Bonn und das Kunstmuseum Bonn öffnen ab 12. Mai.

Das Von der Heydt-Museum in Wuppertal wird ab 19. Mai wieder geöffnet sein – zu vorerst geänderten Zeiten.

Das Museum für Gegenwartskunst in Siegen ist seit 5. Mai wieder besuchbar.




Im Bergbau war von Arbeitsschutz lange nicht die Rede

Teilansicht vom weitläufigen Gelände des LWL-Industriemuseums in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Nicht nur zum Tag der Arbeit am 1. Mai sollte man sich daran erinnern, wie wesentliche Teile der Arbeitswelt im Revier ehedem ausgesehen haben.

Ein kurzer Film des LWL gibt dazu einen Anstoß. Der ehemalige Bergmann Hans Georg Zimoch (heute 83), der über 40 Jahre als Kumpel unter Tage malocht hat (anders kann man es kaum ausdrücken), erzählt darin vom knochenharten und gefährlichen Leben der Bergleute. Zimoch selbst hat neun Kollegen durch Bergunglücke verloren. Allein auf der 1955 geschlossenen Dortmunder Zeche Zollern sind im Laufe der Jahrzehnte 161 Bergleute ums Leben gekommen.

Insgesamt haben zigtausend Menschen im Steinkohlebergbau ihr Leben verloren. Und dabei hat man noch gar nicht die Langzeitfolgen bei jenen mitbedacht, die zwar mit dem Leben davongekommen sind, aber unter Silikose litten und leiden. Staublunge, so sagt auch Hans Georg Zimoch, wird man nie wieder los, diese Krankheit ist unheilbar.

Erzählt im LWL-Video vom schweren Arbeitsleben der Bergbau-Kumpel: Hans Georg Zimoch (83). (Foto: LWL)

Noch bis in die 1920er Jahre hinein wurde in den Bergwerken vollkommen ungeschützt gearbeitet. Auch gab es bis dahin weder Kranken- noch Unfallversicherung für die Bergleute.

Von Arbeitsschutz, der den Namen verdiente, konnte bis in die 1950er Jahre hinein so gut wie gar nicht die Rede sein. Die ersten Ansätze waren dann immerhin konkrete Warnhinweise und Plakate, alsbald kamen Sicherheitskleidung (Gummistiefel mit Stahlkappen, feste Handschuhe, Kunststoffhelme) und ortsfeste Beleuchtung unter Tage hinzu. Erst seit Anfang der 1960er Jahre trugen die Bergleute Stirnlampen. Nicht von ungefähr hieß es „Vor der Hacke is‘ duster.“ Manchmal zappenduster.

Und der Maifeiertag? Vor rund 130 Jahren legten rund 100.000 Männer und Frauen in Deutschland am 1. Mai die Arbeit nieder. Von Anfang an waren solche Streiks nicht nur mit Forderungen zur Verkürzung der Arbeitszeit und nach besserer Entlohnung verknüpft, sondern galten eben auch auch den desolaten Arbeitsbedingungen, zu denen der fehlende Arbeitsschutz zählte. 1919 wurde der 1. Mai ein einziges Mal als proletarischer Tag der Arbeit begangen, ehe ihn später das Nazi-Regime für seine Zwecke missbrauchte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die freiheitliche Tradition des Maifeiertages wieder auf.

Für Nicht-Revierkundige sei’s angefügt: Mit der Zeche Zollern hat es eine besondere Bewandtnis. Dem 1955 geschlossenen Bergwerk mit seinen imposanten Jugendstilbauten drohte der Abriss, der Ende 1969 – nach Protesten aus Bevölkerung und Fachwelt – verhindert wurde. Es war sozusagen der bundesweite Beginn des Denkmalschutzes auch für Industriebauten und zeugte von den Anfängen eines grundlegenden Bewusstseinswandels – nicht nur, aber speziell im Ruhrgebiet. 1979 wurde das Industriemuseum in der Zeche Zollern II/IV gegründet, seit 1999 fungiert es offiziell als Zentrale des LWL-Industriemuseums mit seinen acht Standorten. In der hoffentlich bald wieder besuchbaren Dauerausstellung des (derzeit noch wg. Corona geschlossenen) Museums erfährt man viel über die Sozial- und Kulturgeschichte des Bergbaus im Ruhrgebiet.




In diesen Zeiten muss man sich Gehör verschaffen: Gesammelte Aussagen zu „Corona und Kultur in Dortmund“

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann bei der heutigen Pressekonferenz. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Auch wenn die Aussagen noch nicht allzu konkret sein konnten: Es war schon einmal gut, dass diese Pressekonferenz überhaupt stattgefunden hat. Denn „die Kultur“ muss sich gerade in diesen Zeiten Gehör verschaffen. Unter dem Titel „Corona und die Kultur in Dortmund“ gab es heute im Rathaus der Stadt vor allem Statements auf der Chefebene der großen Kultureinrichtungen, aber auch aus der freien Szene. Ich habe den Termin via Live-Stream verfolgt.

Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann skizzierte eingangs die Lage und erkannte – bei allen Problemen – auch eine „positive Novität“: Im Gegensatz zu mancher früheren Debatte, in der Kultur als „erste Spardose“ gegolten habe, seien die kulturellen Einrichtungen diesmal von Anfang an in Überlegungen und Beratungen mit einbezogen worden.

Insgesamt aber müsse man von „gravierenden Erschütterungen“ sprechen, „wie wir sie bisher nicht kannten“. Das Thema habe etliche Perspektiven und Aspekte. Es gehe um die Situation der Institute, um die der ausübenden Künstlerinnen und Künstler und nicht zuletzt um das Publikum. Bleibe es durch die Krise hindurch loyal und stehe es treu zum Theater, zum Konzerthaus, zu den Museen und anderen Kulturstätten? Bislang, so Stüdemann, habe das Publikum eine erstaunliche Solidarität bewiesen, für die er herzlich danken wolle. Beispiel: Viele vorab bezahlte Tickets für abgesagte Vorstellungen würden nicht zurückgegeben.

Stüdemann mahnte dreierlei dringenden Bedarf an:

1.) Die inzwischen ausgelaufenen, weil hoch „überzeichneten“ Soforthilfe-Programme für Kulturschaffende müssten sehr bald verlängert werden. Als Beispiel nannte er Baden-Württemberg, wo es neuerdings eine Grundsicherung für Künstler(innen) von rund 1100 Euro im Monat gebe, die von anderen Bundesländern gut kopiert werden könne. Ein Appell ans Land NRW also.

2.) Die Einrichtungen der freien Szene bräuchten Infrastruktur-Programme, damit sie auch nach der Krise noch existieren könnten.

3.) Man müsse sehr zeitig „Exit-Strategien“ vorbereiten und einleiten, denn Betriebe wie Theater oder Konzerthaus könnten nicht einfach von heute auf morgen wieder die Bühnen bespielen, sondern bestenfalls nach einem Vorlauf von 6 bis 10 Wochen. In die entsprechenden Planungen sollten unbedingt die Fachleute aus den Kulturhäusern eingebunden werden.

Stefan Mühlhofer, Leiter der Kulturbetriebe Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Stefan Mühlhofer, Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe, sieht es als sicher an, dass man bei Wiederaufnahme des Spielbetriebs und anderer kultureller Angebote nicht einfach „den Schalter umlegen kann“. Es werde zunächst vieles anders sein als vor Corona. Man habe inzwischen einige Aktivitäten (Volkshochschule, Musikschule) auf digitale Verbreitung umgestellt, was auch recht gut funktioniere. Dennoch könne dies auf Dauer kein Ersatz für Präsenz-Veranstaltungen sein. Ein Originalbild im Museum sei eben etwas ganz anderes als eine Abbildung im Buch oder ein Video. Apropos: Wahrscheinlich bis Mitte dieser Woche solle ein Papier zur möglichen Öffnung der städtischen Museen vorliegen – mit einer Perspektive für Anfang oder Mitte Mai. Auch hier gilt freilich: Die Stadt allein kann nichts bewirken. Das Land NRW muss es zulassen. Übrigens: In Berlin dürfen die Museen schon wieder öffnen.

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund, berichtete, man habe sich in den letzten Wochen durch einen wahren Wust an Informationen, Erlässen und Verordnungen kämpfen müssen. Es sei aber gelungen, das alles zu strukturieren – vor allem im Sinne der Kulturschaffenden, denen häufig alle Verdienstmöglichkeiten weggebrochen seien. In der Kulturszene herrsche derweil keine Larmoyanz, im Gegenteil: Geradezu kraftvoll seien ständig neue Ideen entwickelt worden, um trotz Corona (digital) wahrgenommen zu werden.

Claudia Schenk, Sprecherin der freien Szene. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Claudia Schenk aus dem Leitungsgremium des „Depots“ trat als Sprecherin der freien Kulturszene an. Diverse Zentren der freien Szene wären ohne die bislang geleistete Landeshilfe vielleicht schon für immer geschlossen worden, befand sie. Streaming sei zwar gut, um im Gespräch zu bleiben, es generiere aber keine Einnahmen. Sie verwies auch auf Fälle wie etwa jene freiberuflichen Bühnentechniker, die auf einmal vor dem Nichts stünden. Man warte auf konkrete Handlungsanweisungen für einen Exit, also für die Wiederaufnahme des Betriebs unter veränderten Bedingungen. Frau Schenk stellte zudem mit Blick auf die nächsten Jahre die bange Frage, ob es im Kulturbereich wohl Streichungen und Kürzungen geben werde. Schließlich zähle Kultur leider immer noch zu den freiwilligen Leistungen der Kommunen und nicht zu den Pflichtaufgaben.

Sprach fürs Theater: Tobias Ehinger. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Tobias Ehinger, geschäftsführender Direktor des Theaters, erinnerte sich an die letzten Monate vor der Krise, als das Dortmunder Theater ein Hoch erlebt und neue Besucherrekorde angepeilt habe. Dann wurde man jäh ausgebremst. Sehr schnell habe man dann umgedacht, beispielweise habe die Theaterwerkstatt Mundschutzmasken hergestellt. In der Krise habe sich überhaupt gezeigt, wie wichtig der soziale Aspekt und die Verankerung in der Gesellschaft fürs Theater seien. Streaming könne kein wirkliches Bühnenerlebnis ersetzen, auch seien die digitalen Möglichkeiten schnell ausgereizt. Als eine beispielhafte Aktion nannte Ehinger den Musik-Truck, der vor Altenheimen vorfahre und – draußen vor den Türen – z. B. mit Gesangs-Darbietungen den Senioren ein wenig zwischenmenschliche Wärme vermittle. Ehinger ist überzeugt, dass man ab Anfang September wieder spielen werde – allerdings völlig anders, mit eigens zugeschnittenen Inszenierungen und vor deutlich weniger Zuschauern. Im Hinblick auf den 1. September sei ein Planungsvorlauf von etwa 10 Wochen nötig. Das würde bedeuten: Bereits Mitte Juni müsste man in die Vorbereitungen einsteigen. Insgesamt gelte es, die gesellschaftlichen Errungenschaften durch die Krise zu erhalten. Dabei sei Kultur unbedingt „systemrelevant“.

Konzerthaus-Chef Raphael von Hoensbroech. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses Dortmund, betonte den Gedanken der Systemrelevanz noch stärker. Kultur solle nicht nur am Tisch Platz nehmen, an dem die Relevanz verhandelt werde. Vielmehr sei sie – einem Ausspruch des Cellisten Yo-Yo Ma zufolge – sozusagen selbst dieser Tisch, also die Grundlage der Gesellschaft. Das Konzerthaus mit seinem sehr großen Saal sowie ausgeklügelter Be- und Entlüftung sei bei reduziertem Publikum kein riskanter Ort. Er halte ansonsten nicht viel von pauschalen Obergrenzen, es komme stets aufs Einzelereignis an. Voluminöse Auftritte mit großen Chören und Orchestern seien jedoch vorerst auszuschließen. Die Stadt Dortmund habe sich zu den Perspektiven des Konzerthauses beherzt und klar positioniert. Was jedoch aus Regierungskreisen in Berlin und vom Städtetag komme, sei wenig hilfreich.

Jörg Stüdemann blieb das vorläufige Fazit vorbehalten. Als studierter Germanist quasi von Haus aus kulturaffin und biographisch auch als Mitarbeiter eines Kulturzentrums (schon länger ist’s her: Zeche Carl in Essen) mit der Szene vertraut, kann die Interessenlage von Kulturschaffenden wohl recht gut nachempfinden und in vernünftige politische Bahnen lenken. Allerdings vermag er – obwohl zugleich Stadtkämmerer – natürlich nicht beliebig viele Kulturmittel aus dem städtischen Etat zur Verfügung zu stellen. Für die nächste Zeit mahnte Stüdemann ethische und „wertsetzende Handlungsweisen“ in der Kulturpolitik an, die sich einer bloßen Einspar-Mentalität widersetzen und keinesfalls „autoritativ oder autoritär“ vorgehen solle. Wie sich gezeigt habe, müssten nun vor allem zwei Anforderungen vorrangig erfüllt werden: „Wir müssen mehr in die Digitalisierung investieren, auch in Qualifizierung und technische Ausrüstung.“ Und: In jeder Hinsicht müsse jetzt über „Gestaltungs-Alternativen“ nachgedacht werden. Wohlan denn!

Viel guter Wille also, aber noch unklare Perspektiven. Die Kultur, so ahnt man, wird (ebenso wie andere Bereiche) „nach Corona“ nicht mehr dieselbe sein können wie zuvor.




Durcheinander bei Anne Will: Laschet und die Lockerung

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet in der Talkshow von Anne Will (Screenshot aus der ARD-Sendung)

Das war wohl nicht gerade der allerfeinste Zug des NRW-Ministerpräsidenten  Armin Laschet. Als er bei Anne Will (ARD) mit seinen Argumenten für eine abgewogene „Lockerung“ der Corona-Maßnahmen etwas in Bedrängnis geriet, tat er was?

Er schob einen Gutteil der Verantwortung auf die Kommunen. Sie (und nicht das Land) hätten rasch für ausreichend Desinfektionsmittel in den Schulen sorgen müssen, um deren reibungslose Öffnung zu ermöglichen. Auch hätten sie (also die Städte) in den letzten Jahren ihre Gesundheitsämter ausbluten lassen. Statt dessen hätte „seine“ Schulministerin Yvonne Gebauer Desinfektionsmittel beschafft und rundum angeboten, obwohl dies wirklich nicht ihre Aufgabe sei.

Laschet, dem der Ruf vorauseilt, vielleicht etwas zu locker für Lockerungen einzutreten (Kanzlerin Merkel hat wohl auch ihn gemeint, als sie sagte, manche gingen dabei „zu forsch“ vor), wird morgen gewiss die eine oder andere vergrätzte Antwort von Stadtspitzen  oder Landräten aus NRW und anderen Gegenden bekommen. Zuletzt hatten sich manche der hiesigen (Ober)-Bürgermeister just über Wirrnis bei der Landesregierung beschwert. So deutet einer auf den anderen. Bringt uns das weiter?

Ähnlich kontrovers und kakophon ging es auch in Anne Wills ARD-Talkshow zu, bei der stellenweise mal wieder arg viel durcheinander geredet wurde. Christian Lindner (FDP) unterstellte Annalena Baerbock (Grüne) dies und jenes, die wiederum hielt ihm vor, er plädiere für Lockerungen als puren „Selbstzweck“. Es waren hie wie da durchsichtige Zuweisungen. Der jüngst etwas in den politischen Windschatten geratene Lindner empörte sich über willkürlich erscheinende Entscheidungen wie jene, dass Auto- und Möbelhäuser in etlichen Bundesländern unterschiedlich behandelt würden. Er plädierte für gezieltes regionales Eingreifen, sobald sich irgendwo ein exponentielles Wachstum an Corona-Fällen zeigen sollte. Ansonsten seien Lockerungen „verantwortbar“.

Während Baerbock die sozialen und psychischen Probleme vor allem in Schulen, Kitas und Altenheimen verortete, redete Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD) vor allem aus ärztlicher und virologischer Sicht. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er bislang gar keine Lockerung zugelassen. Unterstützung bekam er von der aus München zugeschalteten Christina Berndt, Wissenschaftsredakteurin der Süddeutschen Zeitung und Biochemikerin. Laschet hingegen machte seinem Ärger über manche Virologen Luft, die einander nicht nur widersprächen, sondern auch hin und wieder ihre Beurteilungs-Kriterien änderten. Es erweckte den Eindruck, als könne man sich da auf nichts mehr verlassen. Auch Lindner hieb in diese Kerbe.

Und Anne Will? Mal schauen, wie oft sie das Corona-Thema noch abhandeln wird. Es will einem fast scheinen, als hätte sie sämtliche Virologen und sonstigen Experten schon zu Gast gehabt. Davon abgesehen, kann sie es einfach nicht lassen, in jeder Ausgabe politische Personalien hervorlocken zu wollen – auch nicht, wenn es noch so aussichtslos und läppisch ist. Überdies kann man über ihre nachdrücklich vertretene Auffassung, das Hygienekonzept der Fußball-Bundesliga sei geradezu beispielhaft, wirklich heftig diskutieren. Karl Lauterbach ereiferte sich denn auch darüber, dass laut Konzept bei Erkrankung eines Spielers dessen Mannschaft trotzdem weitermachen dürfe. Zudem wird man ernsthaft fragen dürfen, ob es zu vermitteln ist, dass die Liga für ein paar Spielrunden mindestens 25.000 Corona-Tests verbrauchen wird. Wie sich seit Wochen zeigt, gibt es halt wahrlich Wichtigeres als maßlos überbezahlten Profi-Fußball.

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P. S.: Abermals habe ich auch bei mir festgestellt, was für viele TV-Zuschauer gelten dürfte und eigentlich ein „alter Hut“ ist: Man achtet bei derlei Talks zwangsläufig nicht nur auf das Gesagte, sondern gar sehr auch auf Stimmlage, gestische Marotten und Details der Kleidung. Man muss sich jedenfalls schon sanft zwingen, derlei Äußerlichkeiten überhaupt nicht in Rechnung zu stellen, wenn Argumente abgewogen werden. So ist Fernsehen. Oft ziemlich irreführend.

P.P.S.: Auf was man sonst noch achtet, wenn man’s ein bisschen mit der Sprache hat: Es war eine Ausgabe mit drei Harren mit L (Laschet, Lauterbach, Lindner) und zwei Damen mit B (Baerbock, Berndt). Ob das etwas zu bedeuten hat?

P.P.P.S.: Wenn ich meinen heutigen Beobachtungen im Freien trauen darf, hat bei manchen Mitbürgern bereits allzu viel „Lockerung“ Einzug gehalten. Angst vor einer „zweiten Welle“ der Pandemie scheint vielfach keineswegs handlungsleitend zu sein. Verantwortungsloser Tiefpunkt war eine ca. 15 Leute umfassende, eng gedrängte Gruppen-Zusammenkunft mit dem Ziel, eine große Mauer zu besprühen. Da überlegt man dann schon, ob man nicht die Behörden alarmieren soll.

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Nachtrag – Es war so sicher wie das Amen in der Kirche:

WAZ-Titelschlagzeile vom 28. April




Kultur geht notgedrungen weiter ins Netz: Viele Programme online / Ständige Updates: Weitere Projekte (und Absagen)

Das waren noch andere Zeiten: Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Opernhauses – vor Beginn einer Vorstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal wieder ein paar Nachrichten aus dem derzeit stark eingeschränkten (Dortmunder) Kulturleben, kompakt zusammengestellt auf Basis von Pressemitteilungen der jeweiligen Einrichtungen.

Die Mitteilungen werden – im unteren Teil dieses Beitrags – von Tag zu Tag gelegentlich ergänzt und/oder aktualisiert, auch gibt es dort Neuigkeiten aus anderen Revierstädten, vor allem über weitere Absagen, aber auch zu Online-Aktivitäten.

Theater Dortmund: Keine Vorstellungen bis 28. Juni

Das Theater Dortmund bietet auf seinen sämtliche Bühnen (Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater) bis einschließlich 28. Juni 2020 keine Vorstellungen an. Wie es danach weitergehen wird, weiß noch niemand.

Die Regelung schließt die Konzerte der Dortmunder Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund ein. Der Betrieb im Theater läuft jedoch bis zur Sommerpause weiter. Neue mobile Vorstellungsformate sollen ab Mai 2020 bis zum Ende der Spielzeit 2019/20 aufgenommen werden.

Dazu Tobias Ehinger, der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund: „So sehr wir diesen Schritt bedauern, steht die Gesundheit unseres Publikums sowie unserer Kolleginnen und Kollegen im Mittelpunkt. Jedoch dürfen wir auch in der jetzigen Zeit, unser Leben nicht nur auf Funktionalität begrenzen. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die hohe Bedeutung von Kultur. Kultur ist nicht hübsches Beiwerk oder Luxus, sondern elementar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir fordern die Entscheidungsträger in Bund und Land auf, Maßnahmen und Konzepte zur schrittweisen Öffnung unserer Theater und Konzertsäle zu beschließen und die Gesellschaft nicht durch ein zu kurz gegriffenes Verständnis der Systemrelevanz zu trennen.“

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Unterdessen werden Spielpläne für die nächste Saison online per Video-Präsentation angekündigt:

Philharmoniker, Oper und Ballet

So wird sich – wie die Theater-Pressestelle mitteilt – in der Spielzeit 2020/21 bei den Konzerten der Dortmunder Philharmoniker alles um das Verhältnis zwischen Mann und Frau drehen.

Das Motto der Spielzeit lautet „Im Rausch der Gefühle“. Ergänzend heißt es, die berühmtesten Paare der Weltliteratur, wie Romeo und Julia, Othello und Desdemona, Orpheus und Eurydike sowie Tristan und Isolde, hätten die Komponisten zu großartigen Orchesterwerken inspiriert.

Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar sei, könne es ggf. noch zu „Anpassungen“ kommen.

Textversion des Spielplans unter: www.tdo.li/tdo2021

Generalmusikdirektor Gabriel Feltz erläutert den Spielplan 2020/21, hier ist der Link, der auch zur Präsentation des Opern-Spielplans (durch Opernchef Heribert Germeshausen) und des Balletts (durch Ballettchef Xin Peng Wang) führt: https://www.theaterdo.de/medien/videos/spielzeit-2021/

Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) Dortmund startet mit neun Neuproduktionen und neun Wiederaufnahmen in die neue Spielzeit 2020/21. Als Motto hat sich KJT-Direktor Andreas Gruhn mit seinem Team den „Freien Fall“ gesetzt. In einer Welt, in der politische Systeme ins Wanken geraten und die Natur zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät, scheint sich die Abwärtsspirale immer schneller zu drehen. Aus dem Unglück des Fallens können aber auch ungeahnte Möglichkeiten wachsen.

Auch beim KJT heißt es: „Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar ist, kann es ggf. zu Anpassungen kommen.“

Printversion des Spielplans unter www.tdo.li/tdo2021
Video mit Andreas Gruhn unter www.theaterdo.de/publikationen/videos

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Auch das Konzerthaus Dortmund präsentiert das Programm der nächsten Saison auf digitalem Weg:

In einem Video erläutert Intendant Raphael von Hoensbroech, welche hörenswerten Künstler und Konzerte ab September in der Spielzeit 2020/21 zu erwarten sind. Hoensbroech lädt daher zu einem virtuellen kleinen Ausflug ins Konzerthaus.

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Dortmunds neues Literaturstipendium um drei Monate verschoben:

Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“, Judith Kuckart, wird aufgrund der Corona-Krise erst ab August 2020 für sechs Monate nach Dortmund kommen. Ursprünglich hatte sie ihr Stipendium im Mai antreten wollen. Ihre für den 15. Mai geplante Auftaktlesung im Literaturhaus soll trotzdem stattfinden – allerdings ohne Live-Publikum: Das Literaturhaus am Neuen Graben zeigt die Lesung aus dem aktuellen Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ online am 15. Mai 2020 ab 19.30 Uhr (weitere Infos unter www.literaturhaus-dortmund.de).

Neues Konzertformat „Musik auf Rädern“

Am Dienstag, 5. Mai 2020, startet das Theater Dortmund das der Corona-Pandemie angepasste Konzertformat „Musik auf Rädern“. An verschiedenen Standorten in Dortmund werden die Oper Dortmund und die Dortmunder Philharmoniker jeweils um 16 Uhr kleine Live-Konzerte von ca. 20 Minuten Dauer geben. Die Abstandsregelungen werden dabei eingehalten. Mit dem Programm kommt das Theater Dortmund vor allem zu den Menschen, die aufgrund ihrer Identifizierung als „Risikogruppe“ besonders in ihrem Bewegungsfreiraum eingeschränkt sind. Der erste Auftritt findet mit der Sopranistin Irina Simmes vor dem Seniorenwohnsitz „Kreuzviertel“ 44139 Dortmund-Kreuzviertel, Kreuzstraße 68 / Ecke Lindemannstraße statt.

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Eröffnungsfest im Naturmuseum fällt aus

Die für den 7. Juni geplante große Wiedereröffnung des Naturmuseums nach Jahren des Umbaus fällt aus. Die neue Dauerausstellung soll voraussichtlich im September eröffnen.

„Robin Hood“-Schau bis 20. September

Das derzeit noch geschlossene Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße verlängert seine ursprünglich bis Mitte April geplante Familienausstellung „Robin Hood“ bis zum 20. September.

„Studio 54″ vorerst nicht in Dortmund

Das „Dortmunder U“ kann die ab 14. August geplante Ausstellung „Studio 54″ (Übernahme aus dem Brooklyn Museum) über den legendären New Yorker Nachtclub in diesem Jahr nicht mehr zeigen.

Diesmal kein Micro!Festival

Das Micro!Festival, das sonst immer am letzten Wochenende der Sommerferien stattfand, fällt in diesem Jahr komplett aus.

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Blicke in die anderen Städte des Ruhrgebiets:

2020 keine Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale wird 2020 nicht stattfinden. Der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH hat diesen Beschluss einstimmig gefasst. Das Festival hätte vom 14. August bis zum 20. September stattfinden sollen. Rund 700 Künstlerinnen und Künstler aus 40 Ländern wären an den 33 Produktionen und Projekten beteiligt gewesen. Sowohl die Intendantin Stefanie Carp als auch Ko-Intendant Christoph Marthaler haben Unverständnis über diese Entscheidung geäußert.

ExtraSchicht fällt ebenfalls aus

Auch die ExtraSchicht muss wegen Corona ausfallen. Die Nacht der Industriekultur hätte am 27. Juni zum 20. Mal die Metropole Ruhr bespielen sollen.
Die Ruhr Tourismus GmbH (RTG) hatte bis zum letzten Moment an Alternativkonzepten gearbeitet. Die Durchführung einer Veranstaltung Ende Juni mit über 250.000 Besuchern sei aber derzeit nicht verantwortbar, so die RTG. Eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt in diesem Jahr sei wegen des großen organisatorischen Aufwandes nicht möglich. Das Geld für bereits erworbene Tickets wird zurückerstattet. Mehr Infos unter www.extraschicht.de.

„Mord am Hellweg“ auf Herbst 2021 verschoben

Die zehnte Ausgabe des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ (Zentrale in Unna) wird um ein Jahr verschoben. Die für diesen Herbst geplante Jubiläumsausgabe wird auf die Zeit vom 18. September bis 13. November 2021 verlegt. Weitere Infos unter www.mordamhellweg.de

Moers Festival diesmal rein digital

Auch das renommierte Moers Festival (29. Mai bis 1. Juni) geht diesmal als digitales Festival über die Bühne. Die Konzerte werden als Livestream auf der Website, bei Facebook und bei Arte concert gezeigt. WDR 3 wird wie gewohnt übertragen.
Infos: www.moers-festival.de

Wittener Tage für Neue Kammermusik nur im Radio

Die Wittener Tage für Neue Kammermusik (24. bis 26. April 2020) haben sich ebenfalls umgestellt: In diesem Jahr kamen die Konzerte ausschließlich übers Radio. WDR 3 richtete das Festival als exklusives Hörfunk-Ereignis aus.
Infos unter www.wdr3.de und www.kulturforum-witten.de

Klangkunst in Marl als virtuelle Führung

Das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl zeigt seine Klangkunst-Ausstellung diesmal per Video: „sound + space“ von Johannes S. Sistermanns und Pierre-Laurent Cassère ist online zu sehen. Im Mittelpunkt der virtuellen Führung steht ein Gespräch des Museumsdirektors Georg Elben mit dem Klangkünstler Sistermanns. Das Video ist auf der städtischen Internetseite unter www.marl.de und demnächst mit weiteren Informationen auch unter www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de zu sehen.

Impulse Theater-Festival fällt aus

Das Theater-Festival „Impulse“, das vom 4. bis 14. Juni hätte stattfinden sollen, ist abgesagt worden – besonders schmerzlich, weil zum 30-jährigen Bestehen des Festivals einige besondere Programme geplant waren. Bestimmte Teile sollen als digitale Formate im ursprünglich geplanten Festival-Zeitraum online gezeigt werden. Details dazu demnächst unter: www.impulsefestival.de

Theater Oberhausen: „Die Pest“ als Miniserie im Netz

Das Oberhausener Theater zeigt eine Bühnenbearbeitung nach Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ als Miniserie in fünf Episoden. Gezeigt wird die Serie im Internet ab Samstag, 2. Mai, dann weiter wöchentlich, jeweils ab 19.30 Uhr. Weitere Infos: www.die-pest.de

3Sat zeigt Bochumer „Hamlet“ – jetzt via Mediathek

Im Rahmen seiner Reihe „Starke Stücke“ zeigt der TV-Sender 3Sat am Samstag, 2. Mai., um 20.15 Uhr eine Aufzeichnung von Johan Simons‘ Bochumer „Hamlet“-Inszenierung. Bis zum 30. Juli 2020 bleibt die Inszenierung in der Mediathek von 3Sat greifbar.

Auch hierhin würden Theaterfans im Revier gern wieder pilgern: Schauspielhaus Bochum. (Foto: Bernd Berke)




Corona sorgt für spezielles Kunsterlebnis beim Pressetermin: Bitte nur einzeln zu den Bildern gehen!

Die stellvertrende Museumsdirektorin und Kuratorin Dr. Tanja Pirsig-Marshall präsentiert in einem kurzen Video eine Vorschau auf die Münsteraner Tadeusz-Ausstellung. (Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=4wB3rXY2z6k)

Vor Wochenfrist war hier die Rede von einer Orchester-Pressekonferenz per Videoschalte, wie sie einem immer noch etwas ungewohnt vorkommt, aber derzeit wohl ein Maß der Dinge ist. Nun ist abermals von einem kulturellen Pressetermin in spezieller Form zu berichten. So ist das nun mal: Das „neuartige“ Virus zieht eben neuartige Presse-Gepflogenheiten nach sich.

Schauplatz wird das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster sein. Dort soll es vom 10. Mai bis zum 2. August eine Ausstellung über den in Dortmund geborenen Maler Norbert Tadeusz (1940-2011) geben. Und tatsächlich findet vorab kein Video-Termin als virtuelle Führung statt, sondern mal wieder einer, der körperliche Präsenz erfordert. Doch die Journalistinnen und Journalisten werden an jenem Vorbesichtigungs-Tag nicht (wie ehedem üblich) im Pulk durchs Museum gehen, sondern jede(r) für sich, also einzeln.

Auf diese etwas umständliche Weise wird sich der gesamte Termin mutmaßlich von 10 bis 16 Uhr hinziehen. Das Ganze heißt deshalb nicht Pressekonferenz, sondern „Pressetag“. Es ist anzunehmen, dass die jeweilige Aufenthaltsdauer begrenzt werden muss, damit die Nachrückenden zeitig an die Reihe kommen – je nachdem, wie viele sich mit welchen Wunschzeiten anmelden. Kurze Gespräche mit der LWL-Kulturdezernentin, dem Museumsdirektor oder der Ausstellungskuratorin sind übrigens ebenfalls möglich.

Das alles hört sich nach einem geradezu exklusiven Kunsterlebnis an, bei dem einen nichts von den Bildern ablenkt – auch nicht all die liebenswerten Kolleg(inn)en. Man darf sich also ganz allein vor den Kunstwerken aufhalten; beispielsweise ohne Fernsehteams, ohne wichtig wuselnde Kameraleute und Mikrofonträger, ohne Hörfunk-Mitarbeiter, die gerade mal schnell ihre „O-Töne“ einfangen müssen; ohne Fotografen, die eben noch ein paar Gruppenbilder mit der Museumsleitung anfertigen wollen („Bitte vor dieses Gemälde, bitte den Katalog in die Hand nehmen, bitte hierher gucken – und läääächeln!“). Und sogar ohne klügelnde Fragesteller, die sich ihren imponierenden Auftritt wohl schon Tage vorher zurechtgelegt haben.

So. Jetzt hab‘ ich’s mir glücklich mit allen verdorben. Wie bitte? Nein, ich habe noch nie jemanden bei Presseterminen genervt. Niemals nicht. Wo denkt Ihr denn hin?




Corona-Wortsammlung – weitgehend ohne Definitionen, aber fortlaufend aktualisiert

Wohl unter „M“ einzuordnen: in diesen Tagen ratsame bzw. pflichtgemäße Mund-Nasen-Bedeckungen. (Update: Achtung, Achtung! Solche Stoffexemplare sind mittlerweile durch medizinische Masken zu ersetzen). (Foto: BB)

Hier ein kleines Corona-„Lexikon“, darinnen etliche Worte, Wendungen, Zitate, Namen und Begriffe, von denen wir zu Beginn des Jahres 2020 nicht einmal zu träumen gewagt haben; aber auch bekannte Worte, die im Corona-Kontext anders und häufiger auftauchen, als bislang gewohnt. All das zumeist ohne Definitionen und Erläuterungen, quasi zum Nachsinnen, Ergänzen und Selbstausfüllen. Und natürlich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, aber von Zeit zu Zeit behutsam ergänzt. Vorschläge jederzeit willkommen.

Dazu ein paar empfehlende Hinweise: Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat sich einige Wochen lang in einer Serie mit den sprachlichen Folgen der Corona-Krise befasst, hier ist der Link.

Eine mit derzeit (März 2021) rund 1200 Einträgen sehr umfangreiche Liste von Corona-Neologismen hat das in Mannheim ansässige Leibniz-Institut für Deutsche Sprache online gestellt. Bitte hierher.

Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) hat ein umfangreiches Corona-Glossar veröffentlicht, dazu bitte hier entlang.

Ein Glossar zum phänomenalen NDR-Podcast mit Prof. Christian Drosten und Prof. Sandra Ciesek findet sich hier.

Einige weitere Erklärungen hat die Zeitschrift GEO gesammelt, und zwar hier.

In ihrer Ausgabe vom 4. Januar 2021 (!) ist die „Süddeutsche Zeitung“ in Person des Autors und Dramaturgen Thomas Oberender schließlich auch auf den Trichter gekommen und bringt unter der Zeile „Die Liste eines Jahres“ eine recht umfangreiche Wortsammlung. Daraus habe ich mir auch ein paar Ausdrücke genehmigt. Oberender darf sich wiederum hier bedienen.

Nun aber unsere Liste der Wörter, Wendungen und Namen:

1,5 Meter Abstand
2 Meter Abstand
2-G-Regel („geimpft oder genesen“)
2-G-plus („geimpft oder genesen und getestet)
3-G-Regel („geimpft, genesen, getestet“)
3-G-plus (nur mit PCR-Test, nicht mit Antigen-Text)
6-Monats-Abstand (bzw. 3, 4 oder 5 Monate – zwischen Zweitimpfung und „Boostern“)
7-Tage-Inzidenz
15-Minuten-Regel (Gesprächsdauer, die das Risiko begrenzt)
15 Schüler(innen) im Klassenraum
15-Kilometer-Radius (um den Wohnort)
20 Quadratmeter pro Kunde (in größeren Geschäften ab 26.11.2020)
21 Uhr (Ausgangssperre)
23 Uhr (Sperrstunde)
-70 Grad (erforderliche Kühlung des BioNTech-Impfstoffs)
800 Quadratmeter (Verkaufsfläche)
50.000 Arbeitsschritte (zur Produktion des BioNTech-Impfstoffs)
100.000 Einwohner (Maßzahl zur Inzidenz)

Absagen
absondern
Abstand
Abstrich
achthundert Quadratmeter (Verkaufsfläche)
Adenoviren
Aerosol
Aerosolbildung
AHA-Formel (Abstand – Hygiene – Alltagsmaske)
AHA-Regeln
AHA+L (…plus Lüften)
Akkolade (französ. Wangenkuss-Begrüßung, nunmehr verpönt)
Alkoholverbot
#allesdichtmachen (umstrittene Schauspieler-Aktion)
#allesschlichtmachen
„Alles wird gut!“
Allgemeinverfügung
Alltagsmaske
Alpha (neuer Name für britische Mutante)
Altenheime
Alterskohorte
Aluhut
„an Corona“ (verstorben – vgl.: „mit Corona“)
„andrà tutto bene“
Antikörper
Antikörpertest
App (zur Nachverfolgung)
Armbeuge (Hust- und Nies-Etikette)
AstraZeneca (Impfstoff-Hersteller)
asymptomatisch
„auf dünnstem Eis“ (Merkel)
„aufgrund der aktuellen Umstände“
„auf Sicht fahren“
aufsuchende Impfung
Ausgangssperre
Autokino (Renaissance)
AZD1222 (Impfstoff von AstraZeneca)
AZD7442 (Medikament von AstraZeneca)

B.1.1.7 (britische Mutation des Corona-Virus / Aplha)
B.1.1.28.1 – P.1 (brasilianische Mutation)
B.1.1.529 (neue südafrikanische Variante, November 2021)
B.1.351 (südafrikanische Mutation)
B.1.526 (New Yorker Mutation)
B.1.617 (indische Mutation / Delta)
BA.2 (BA.1, BA.3) Subtypen der Omikron-Variante
Balkongesang
Balkonklatscher
Bamlanivimab (Antikörper-Medikament)
„Bazooka“ (massive Geldmittel – laut Olaf Scholz)
Beatmung
Beatmungsgerät
bedarfsorientierte Notbetreuung (Kita)
Beherbergungsverbot
behüllte Viren
Bergamo
„Bergamo ist näher, als viele glauben.“ (Markus Söder, 13.12.2020)
Bernhard-Nocht-Institut
Besuchsverbot (Alten- und Pflegeheime)
Beta (neuer Name für südafrikanische Mutante / B.1.351)
Bfarm-Liste (Auflistung der Antigen-Tests)
Bildungsgerechtigkeit
„Bild“-Zeitung (Kampagne gegen Drosten etc.)
Biontech / BioNTech (Impfstoff-Hersteller)
Black-Swan-Phänomen
Blaupause, keine
„Bleiben Sie gesund“ (Grußformel)
Blitz-Lockdown (vor Weihnachten/Silvester 2020)
Blutgerinnsel
BNT 162b2 (Biontech-Impfstoff)
Böller-Verbot
Booster
Booster-Impfung
boostern
Bremsspur („Das Virus hat eine unglaublich lange Bremsspur“ – Jens Spahn)
Brinkmann, Melanie (Helmholtz-Zentrum, Braunschweig)
„Brücken-Lockdown“ (Armin Laschet am 5. April 2021)
Bundesliga (Geisterspiele etc.)
Bundesnotbremse
Buyx, Alexa (Vorsitzende Deutscher Ethikrat)

C452R (Teil der indischen Doppelmutante)
CAL.20C (kalifornische Mutante)
case fatality
Casirivimab (Antikörper-Medikament)
Celik, Cihan (Leiter der Covid-Station am Klinikum Darnstadt)
China
Chloroquin
Ciesek, Sandra (Virologin, Frankfurt/Main)
Click & collect (Bestellung und Abholung)
Click & meet (Shoppen mit Termin)
Comirnaty (Handelsname des Biontech-Impfstoffs)
Contact Tracing
COPD (Lungenkrankheiten)
Corona
Corona-Ampel
coronabedingt
Corona-Biedermeier
Corona-Bonds
Corona-Blues
Corona-Chaos
Corona-Deutschland
„Corona-Diktatur“
Corona-Ferien
coronafrei
coronahaft
Corona-Gipfel
Corona-Hilfsfonds
Corona-Hotspot
Corona-Kabinett
Corona-Krise
Corona-Koller
Corona-Müdigkeit
Corona-Mutation
Corona-Notabitur
Corona-Pandemie („Wort des Jahres“ 2020)
Corona-Panik
Corona-Party
Corona-Schockstarre
Corona-Skeptiker
Corona-Tagebuch
Corona-Ticker
Corona-Verdacht
Corona-Winke (Gruß aus der Distanz)
Corona-Zoff
Coronials („Generation Corona“)
coronig
coronös
„Corontäne“ (Quarantäne wg. Corona)
Corozän (Corona-Zeitalter)
Cove (Impfstoff von Moderna)
Covid-19
Covidioten (Hashtag / siehe Verschwörungstheoretiker)
CovPass (App)
CureVac (Impfstoff-Hersteller)

Datenschutz (bei der Corona-Warn-App)
„Dauerwelle“
Decke auf den Kopf („Mir fällt die…“)
Dekontamination
Delta (neuer Name für die indische Mutante)
Delta Plus (Variante der Variante: B.1.617.2.1)
Desinfektion, thermische
Desinfektionsmittel
Desinfektionsmittel spritzen (Trump)
„Deutschland macht sich locker“
Dezemberhilfe(n)
Digitaler Impfnachweis
Digitaler Unterricht
„Distanz in den Mai“ (statt „Tanz in…“)
Distanzschlange
Distanzunterricht
Divi-Intensivregister
„Doppelmutante“ (indische Mutation, laut Prof. Drosten irreführender Begriff)
„dorfscharf“ (lokale Grenzziehungen beim Lockdown)
dritte Welle (befürchtet im Frühjahr 2021)
Drittimpfung
Drive-in-Test
Drosten, Christian (Charité, Berlin)
Drosten vs. Kekulé
durchgeimpft
Durchseuchung

E484Q (Teil der indischen Doppelmutante)
Ebola
Eindämmung
eineinhalb Meter (Abstandsregel)
eingeschränkter Pandemiebetrieb
eingeschränkter Regelbetrieb
Einreisestopp
„Einsperr-Gesetz“ (Ausgangsbeschränkungen laut „Bild“-Zeitung)
Einweghandschuhe
E-Learning
Ellbogencheck (Corona-Gruß)
Ema (Europäische Arzneimittel-Agentur)
Epidemie
Epidemiologie
„Epidemische Lage (von nationaler Tragweite)“
„Epidemische Notlage nationaler Tragweite“
Epizentrum
Epsilon (Virus-Variante B.1.427 / B.1.429)
Erntehelfer
Erstgeimpfte
Eta (Virus-Variante B.1.525)
Etesevimab (Antikörper-Medikament)
Exit-Strategie
exponentiell (Wachstum)

Falk, Christine (Präsidentin Dt. Gesellschaft für Immunologie, Hannover)
Fallsterblichkeit
Fallzahlen
fatality
Fatigue
Fauci, Anthony (US-Virologe)
Fax (Kommunikations-Instrument mancher Gesundheitsämter)
„…feiert keine stille Weihnacht.“ („Das Virus feiert…“ / Olaf Scholz am 13.12.2020)
Ffp2
Ffp3
flatten the curve
Fledermaus
Fleischfabriken
Flickenteppich (Föderalismus)
Fluchtmutation
forsch / zu forsch (Lockerungen, laut Merkel)
free2pass (App für Tests und Einlasskontrolle)
Freiheit
Frisöre / Friseure
Fuß-Gruß

G 5 (Verschwörungstheorie um den Mobilfunkstandard)
Gästeliste (Pflicht im Lokal)
Gamma (neuer Name für brasilianische Mutante / P.1)
„Gang aufs Minenfeld“ (Erfurts OB über Lockerungen in Thüringen)
Gangelt
Gastronomie
Gates, Bill
Geisterspiele (Bundesliga etc.)
Genesene
Genesenenstatus
Geruchs- und Geschmacksverlust (als Corona-Symptom)
geschlossene Räume
geteilte Schulklassen
Google Meet (Videokonferenz-Plattform)
Grenzkontrollen
Grenzschließungen
Großeltern (nicht) besuchen
„Grüner Pass“ (Israel / bescheinigt Corona-Impfung)
Grundimmunität
Grundrechte
Grundsicherung
Gütersloh (kreisweiter Lockdown wg. Tönnies)

Händedruck (kein)
Händewaschen
Härtefall-Fonds
häusliche Gewalt
hammer and dance
Hamsterkäufe
hamstern
Heimbüro
„Heimsuchung“ (Angela Merkel am 25. Oktober 2020)
Heinsberg
Heizpilze (herbstliche Option für Gastro-Betriebe)
„Held / Heldin des Alltags“
Helmholtz-Gemeinschaft
Hepa-Filter
Herdenimmunität
Herold, Susanne (Uniklinik Gießen)
heterologe Impfung (zwei verschiedene Impfstoffe bei Erst- und Zweitimpfung)
Hildmann, Attila
Hintergrundimmunität
Hintergrundinfektion
Hirnvenenthrombosen
Hochrisikogruppe
Hochzeitsfeier
Home-Office
Home-Schooling
Hospitalisierungs-Inzidenz
Hospitalisierungsrate
Hotspot
Husten
Hust- und Nies-Etikette
Hybrid-Unterricht
„Hygiene-Demos“
Hygieneplan
Hygiene-Konzept
Hygiene-Regeln
Hygiene-Standards
Hyperglobalisierung

Ibuprofen
Imdevimab (Antikörper-Medikament)
Immunabwehr
Immun-Escape
Immunologe
Impfangebot
Impfbereitschaft
Impfbus
„Impfchaos“
Impfdosen
Impfdosis
Impfdrängler
Impfdurchbruch (Infektion trotz Impfung)
Impfgegner
Impfgipfel
Impfling
Impflücke
Impfneid
Impfpass
Impfpflicht
Impfquote
Impfreihenfolge
Impfskeptiker
Impfstau
Impfstoff
„Impfstoff-Nationalismus“
Impfstraße
Impfstrategie
Impftermin
Impfung
Impfversprechen
Impfverweigerer
Impfvordrängler
Impfwilligkeit
Impfzentrum
Impfzwang
„Impfzwang durch die Hintertür“
inaktivierte Vakzine
Infektionsampel
Infektionskette
Infektions-Notbremse
Infektionsschutzgesetz (IfSG)
„Infodemie“
Inkubationszeit
Insolvenz(en)
„Instrumentenkasten“ (verfügbare Corona-Maßnahmen)
Intensivbetten
Intensivkapazität
Intensivstation
Inzidenz
Inzidenz-Ampel
Inzidenzwert
„In (den) Zeiten von Corona“
Iota (Virus-Variante B.1526)
Ischgl
Isolation
Israel (weltweites Impf-Vorbild)
Italien

„Jens, jetzt keine Emotionen!“ (Angela Merkel zu Jens Spahn – beim Impfgipfel am 1.2.2021)
Johns-Hopkins-Universität
Johnson & Johnson (Impfstoff-Hersteller)

Kappa (Virus-Variante B.1.617.1)
Kappensitzung (Heinsberg etc.)
Kariagiannidis, Christian (Leiter Insensivbettenregister)
Kassenumhausung
Kaufprämie (für Autos)
Keimschleuder
Kekulé, Alexander S.
„…kennt keine Feiertage.“ („Das Virus kennt…“)
„…kennt keine Ferien.“ („Das Virus kennt…“)
„…kennt keine Grenzen.“ („Das Virus kennt…“)
Kita-Schließungen
„Kleeblatt-Prinzip“ (bei Verlegung von Intensiv-Patienten in andere Bundesländer)
Kliniken (im RKI-Jargon auch „Klinika“)
Knuffelcontact (Belgisch/Flämisch für den möglicherweise einzigen Kuschelkontakt)
„körpernahe Dienstleistungen“
Kontaktbeschränkung
kontaktlos
kontaktloses Bezahlen
Kontaktperson
Kontaktsperre
Kontaktsport(arten)
Kontakttagebuch
kontaminierte Oberfläche
Kreuzimpfung (z. B. Erstimpfung mit AstraZeneca, Zweitimpfung mit Biontech)
„Krise als Chance“
Krisengewinn(l)er
Krisenreaktionspläne
Kulturschaffende
Kurzarbeitergeld

laborbestätigt
Lambda (Virus-Variante C.37)
Laschet, Armin
Lauterbach, Karl (Gesundheitsminister ab Dez. 2021)
Leopoldina
Letalität
„(das) letzte Weihnachten mit den Großeltern…“ (Angela Merkel)
Lieferketten
Liquiditätshilfen
Lockdown
Lockdown Light
Lockerung
„Lockerungsdrängler“ (Röttgen)
Lockerungsperspektive
Lockerungsübung
Lolli-Test
Lombardei
Long-Covid (Langzeit-Nachwirkungen)
Luca (Warn-App)
Lüftung
Lungenentzündung

„macht sich locker“ („Deutschland macht…“)
Marderhunde (mögliche Virusquelle, laut Drosten)
Maske
Maskenintegrität
Maskengutschein
Maskenmuffel
Maskenpflicht
Maskenverweigerer
Maßnahmen
„mehr als 90 Prozent“ (Imfstoff-Wirksamkeit)
Meldeverzug
Merkel, Angela
MERS
Meyer-Hermann, Michael (Helmholtz / Braunschweig)
„mit Corona“ (verstorben)
mobile Impfteams
Moderna (US-Impfstoff-Hersteller)
Molnupiravir (Corona-Medikament)
Mortalitätsrate
mRNA-1273 (Impfstoff von Moderna)
mRNA-Impfstoff
„mütend“ (Corona-Gefühlslage, Mischung aus mürbe und wütend – oder müde und wütend)
Mund-Nasen-Schutz (MNS)
Mundschutz (Plural: Mundschutze)
Mutanten
Mutation

Nachverfolgung
„Nasenbohren“ (saloppe Umschreibung für manche Schnelltests)
Nena (Corona-Verharmloserin)
neuartig(es)
„Neue Normalität“
Neuinfektionen
New York
niederschwellige Basisschutz-Maßnahmen
Nies-Etikette
No-Covid-Strategie
Normalität
Notbetreuung
Notbremse (harte N. / flexible N.)
Notstand
Novavax (Impfstoff-Hersteller)
Novemberhilfe(n)
Null-Covid-Strategie

Obergrenze für Neuinfektionen
„Öffnungsdiskussionsorgien“ (Merkel)
Öffnungsschritte
„Öffnungsrausch“ (Markus Söder)
Olympische Spiele (in Tokyo praktisch ohne Live-Zuschauer)
Omikron / Omicron (neue südafrikanische Variante, November 2021)
Omikron-Wand (Steigerung der Omikron-Welle)
on hold („angehaltenes“ Leben)
Online-Aufführung
OP-Maske

P.1 (brasilianische Virus-Mutation)
Palmer, Boris (OB Tübingen)
Pandemie
Pandemie-Müdigkeit
Pangolin (Gürteltier als möglicher Zwischenwirt)
„Paranoia-Promis“ (Hildmann, Naidoo, Wendler, Jebsen etc.)
Party
Patentfreigabe
„Patient Null“ (ursprünglicher Überträger)
Paul-Ehrlich-Institut
Paxlovid (Corona-Medikament von Pfizer)
PCR-Test
PEG (Polyethylenglykol / Inhaltsstoff von Impfmitteln)
Penninger, Josef (speziell für unsere österreichischen Freunde)
persönliche Schutzausrüstung (PSA)
Pest (Referenz-Seuche)
Pflegeheime
Pflegekräfte
Pflegenotstand
physical distancing
„Piks“ (etwas infantile Bezeichnung für die Impfung)
Plateau
Pleitewelle
Pneumokokken
Pneumonie
„Pobacken zusammenkneifen“ (Appell von RKI-Chef Wieler am 12.11.2020)
Positivrate (z. B. pro 1000 Tests)
Postcorona (die Zeit „danach“)
Präsenzunterricht
Präsenzveranstaltung
Präventions-Paradox
Prepper
Preprint (vorveröffentlichte Wissenschafts-Studie)
Priesemann, Viola (Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen)
Prio (neuerdings gängige Abkürzung)
priorisieren
Prioritätsgruppe
Prof.
proteinbasierte Impfstoffe

Quarantäne
„Querdenker“ (Euphemismus für Verschwörungstheoretiker)

Rachenabstrich
Ramelow, Bodo (Vorreiter der Lockerung)
Regelbetrieb
Regeneron (US-Hersteller von Antikörper-Cocktails)
Reiserückkehrer
Reisewarnung
Remdesivir
Reproduktionsrate (gern 0,7 oder niedriger)
Respiration
Restart (Bundesliga)
Rettungsschirm
Rezeptoren
Rezession
R-Faktor
R-Wert
Risikogebiet
Risikogruppe
RKI
Robert-Koch-Institut
Rückholaktion
„Ruhetage“ (Gründonnerstag & Ostersamstag 2021 / verkündet 23.3.2021 – zurückgenommen 24.3.2021)

SARS
SARS-CoV-2
Schaade, Lars (RKI-Vizepräsident)
Schichtunterricht
Schlachthöfe (Coesfeld etc.)
Schlangenmanagement
Schlauchboot-Party (Berlin, Landwehrkanal)
Schleimhautschutz
Schmidt-Chanasit, Jonas (Bernhard-Nocht-Institut, Hamburg)
Schmierinfektion
„schmutzige Impfung“ (absichtliche Infektion mit erhoffter Genesung)
„Schnauze voll“ (Hessens Ministerpräs. Bouffier im Feb. 2021: „Die Leute haben die…“)
Schnelltest
Schnutenpulli
Schulschließungen
Schutzkittel
Schutzmaske
Schutzschirm
schwedischer Sonderweg
schwere Verläufe

Seife
Seitwärtsbewegung (Minister Spahn über kaum noch sinkende Infektionszahlen)
Selbstisolation
Sentinel-Testung (Stichproben statt Massentests)
Sequenzierung
Shutdown
Sieben-Tage-Inzidenz
Sieben-Tage-R
Sinovac (chinesischer Impfstoff)
Sinusvenen-Thrombosen
Skype
social distancing
Soloselb(st)ständige
soziale Distanz
Spahn, Jens (Gesundheitsminister, auch infiziert)
Söder, Markus
Soforthilfe
Soloselbstständige
Spanische Grippe
Sperrstunde
Spike-Protein
Speicheltest (Schnelltest)
Spuckschutz
Spucktest (Schnelltest)
Sputnik V (russischer Impfstoff)
Statistik
Stay-at-home
sterile Immunität
Stiko (Ständige Impfkommission)
Stoßlüftung
Streeck, Hendrik (Virologe, Bonn)
Stürmer, Martin (Virologe, Frankfurt)
Südkorea
Superspreader
Superspreading-Ereignis
systemrelevant

„Team Vorsicht“ (Formulierung von Markus Söder)
Tegnell, Anders (Schwedischer Epidemiologe)
Telearbeit
Telefonkonferenz (Telko)
Temperaturscanner
Test
Testkapazität
Testzentren (teilweise unter Betrugsverdacht)
Theaterschließungen
Theta (Virus-Variante P.3)
Thrombose (angebliche Impffolge)
Tönnies
Toilettenpapier
Totimpfstoff
Tracing-App
Tracking-App
„Treffen Sie niemanden!“ (Österreichs Kanzler Kurz am 14.11.2020)
Triage
Tröpfcheninfektion
„trotz Corona“
Trump, Donald (Erkrankter)
Twitter (Plattform auch für Corona-Dispute)
„Tyrannei der Ungeimpften“ (Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes)

Überbrückungsgeld
Übersterblichkeit
„Unheil“ (Angela Merkel am 14. Oktober 2020)
Untersterblichkeit

Vakzine
Variant of concern
Vaxzevria (neuer Name des AstraZeneca-Impfstoffs, seit 26.3.2021)
Verdoppelungsrate
verimpft („Sie haben 2000 Dosen verimpft“)
Vektorimpfstoff
Vektorwechsel
Verschwörungserzählung
Verschwörungsmythen
Verschwörungstheoretiker (Jebsen, Hildmann, Schiffmann, Soost, Naidu u.a.)
verzeihen
Verzeihung
Videokonferenz (Viko)
vierte Welle (befürchtet für und dann eingetreten im Herbst 2021)
Virologe(n)
Virologie
Virulenz
Virus, das
Virus, der
Virusvariantengebiet
viruzid
Volksmaske
vollständig geimpft
„Vom Verbot zum Gebot“
Vorerkrankungen
vulnerabel

„Wand“ (siehe Omikron-Wand)
Watzl, Carsten (Immunologe, Leibniz-Institut, Dortmund)
Wechsel-Unterricht
„wegen Corona“
Wellenbrecher
Wellenbrecher-Lockdown
Wendler, Der (noch so’n Corona-Leugner)
Westfleisch
WHO
Wieler, Lothar H. (RKI-Präsident)
Wildtyp
„Wir bleiben zu Hause“
Wodarg, Wolfgang
Wohnzimmerkonzert
Worst-Case-Szenario
Wuhan
„Wumms“ („Mit Wumms aus der Krise“ – Finanzminister Olaf Scholz)

Zarka, Salman (Corona-Regierungsberater in Israel, genannt „Corona-Zar“)
Zero Covid (niedrigstes Ziel)
Zero-Covid-Strategie
Zeta (Virus-Variante P.2)
Zoom (Plattform für Online-Konferenzen)
Zoonose
Zweihaushalte-Regel
„Zweimal ,Happy Birthday‘ singen“ (Zeitmaß fürs Händewaschen)
zwei Meter (Abstand)
zweite Welle
Zweitgeimpfte

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Danke für Anregungen und Ergänzungen, die mich u. a. via Facebook erreicht haben.

Bei Virologe, Immunologe etc. bitte jeweils die weiblichen Formen hinzudenken.




Virus der Ratlosigkeit: Diese und jene Frage über Corona hinweg

Natürlich kein Virus, sondern ein Nahrungsbild, das während einer Speisenzubereitung in der Küche entstanden ist. Und nein: Es ist auch wirklich kein Spiegelei. (Foto: Bernd Berke)

Für virologische Expertisen sind wir hier absolut nicht zuständig. (Ich höre schon Euer Loriotsches „Ach was…“). Auch steht uns selbstverständlich keine politische Entscheidung zu, es sei denn: als indirekte Teilhabe im Rahmen unserer demokratischen Rechte (manche unken auch schon: unserer verbliebenen Rechte). Es interessiert einen im Überlebensfalle freilich schon sehr, wie diese, unsere Gesellschaft „nach Corona“ aussehen könnte. Daher diese oder jene ratlose Frage.

1) Wird eine gewachsene Mehrheit künftig in verstärktem Maße immer gleich nach dem Staat rufen, der gefälligst alles regeln und möglichst auch bezahlen soll? Wie verträgt sich das mit dem Anspruch so vieler Gruppierungen, selbst möglichst immer weniger Steuern zu bezahlen? Der Staats soll’s haben und richten – aber woher und womit?

2) Wird sich dieser etwaige Impuls der Staatsfrömmigkeit von Land zu Land unterscheiden? Werden etwa die Bürger Frankreichs widerspenstiger sein als „wir“?

3) Sollten wir nicht heilfroh sein, dass es hier bei allem nötigen Reglement demokratisch zugeht und die Menschen nicht – wie in furchtbar vielen autokratischen Ländern der Welt – brutal in die Quarantäne geprügelt oder ins Jenseits geschossen werden?

4) Gibt es neben den vielen, vielen, die wirklich bedürftig sind und auf Unterstützung hoffen, auch solche, die vorher schon halb in der Krise waren und sich nun mit dem Anker von Staatshilfe retten wollen? Wird die Bedürftigkeit überprüft oder wird im Überschwang alles durchgewunken?

5) Und wie verhält es sich mit den Profiteuren, deren Geschäftsmodell haargenau zur gegenwärtigen Lage passt? Sollten sie nicht etwas abgeben?

6) Nebenfrage: Wie halten es eigentlich die sogenannten „Reichsbürger“ mit den diversen Rettungsschirmen und Hilfspaketen? Die Idioten nehmen doch sicherlich gern Knete vom Staat, den sie ansonsten nicht anerkennen, oder?

7) Wer glaubt wirklich, dass die Reichen, Begüterten, Betuchten und Wohlhabenden ihr Geld überwiegend in lebenswichtiges Produktivvermögen gesteckt haben, in Fabriken, Maschinen, Personal – und es nur in ganz bescheidenem Maße zur persönlichen Verwendung antasten?

8) Ist es nicht erstaunlich, dass nun etliche Leute bereit sind, vorübergehende Staatseingriffe in die Wirtschaft, wenn nicht gar Verstaatlichungen bestimmter Bereiche hinzunehmen, die solcherlei Ansinnen vor kurzer Zeit noch als Teufelswerk bezeichnet hätten?

9) Ist außer den lukrativ Beteiligten jemand dagegen, das in den letzten Jahren teilweise kaputtgesparte und neoliberal privatisierte Gesundheitswesen wieder weitgehend in öffentliche Regie zu übernehmen?

10) Werden dann die Angehörigen der Pflegeberufe (und einige andere Berufsgruppen) endlich angemessen bezahlt? Hat man denn nicht gesehen, dass das Virus auch die Klassenfrage neu aufgeworfen hat?

11) Wird dem Staat künftig generell mehr überantwortet oder aufgebürdet? Soll er uns im Gegenzug allweil gängeln dürfen?

12) Werden viele Menschen nach staatlicher Autorität geradezu lechzen, nach der harten Hand des Staates?

13) Wird zugleich der Asozialtypus des „Blockwarts“ (und des Denunzianten) wieder hervortreten und dumpf auftrumpfen, der es den Hedonisten mal so richtig zeigt?

14) Haben nun auch die Apokalyptiker Hochkonjunktur?

15) Löst der um sich selbst besorgte „Prepper“ den Hedonisten als Rollenmodell ab? Haben beide etwa insgeheim Gemeinsamkeiten? Was unterscheidet den Prepper vom gewöhnlichen Hamsterer?

16) Mag man die schicksalsergebene Wendung „In den Zeiten von Corona“ noch hören?

17) Wird, sofern Corona vorüber oder zumindest behandelbar ist, hierzulande alles rasend schnell nachdigitalisiert? Werden wir in dieser Hinsicht gar zu Litauen und Albanien aufschließen?

18) Wird die wild ins Kraut geschossene Globalisierung zum Teil zurückgedreht? Werden lebenswichtige Güter künftig wieder häufiger in Deutschland und Europa hergestellt – zu deutlich höheren Kosten als Preis der Versorgungssicherheit?

19) Wird es eine Wiederkehr der Nationalstaaten als Leitbild geben? Kann das zu ungeahnten Animositäten führen, die man längst überwunden glaubte?

20) Wird der angebliche Trend zu seriösen Medien von Dauer sein? Widerstehen die meisten Menschen nun der Versuchung zu unsinnigen Verschwörungstheorien? Lauern Populisten schon seit Wochen auf ihre Chance?

21) Soll man jetzt wirklich Masken tragen? Wie muss man sich beispielsweise Schulklassenfotos vorstellen, auf denen alle mit Masken versehen sind?

22) Um nach den hauptsächlichen Teilen einer Zeitung zu fragen: Werden wir hernach eine andere Politik, eine andere Wirtschaft, eine andere Kultur, einen anderen Sport und andere Gemeinden haben?

23) Wird sich das Verhältnis zu Migranten und Geflüchteten ändern? Werden die Religionen und Konfessionen anders miteinander umgehen?

24) Wird man den Klimawandel und die Folgen in einem anderen Licht sehen?

25) Wann wird es Impfstoffe und Medikamente geben?

26) Wann dürfen wir wieder dieses und jenes tun?

27) Ist es nicht jammerschade, dass wortmächtige Intellektuelle wie der heute (von der Neuen Zürcher Zeitung) vorübergehend irrtümlich totgesagte Hans Magnus Enzensberger sich nicht zum Themenkreis äußern?

P. S.: Immerhin hat sich im Monopol-Magazin und im Cicero Alexander Kluge zu Wort gemeldet.

 




Home Office: Notizen aus der Inneren Coronei

Das Virus, das Papier und ich. (Foto: Herholz)

Wirklich kaum zu beschreiben, was ich gerade fühle, denke, wie ich gerade lebe. Alles schwankt zwischen Idyll und Apokalypse, Frühlingserwachen und Totenstarre. Oder, um im schrägen Bild zu bleiben: Ich sitze auf dem Rasiersitz unterm Damoklesschwert. Von hier aus sieht vieles ziemlich verzerrt aus, selbst so ein klitzekleines Virus wirkt erdballgroß. Da hilft nur kräftiges Gegensteuern.

Also Terrasse kärchern, Fenster putzen, Türen abwaschen, Hilfskoch lernen und der Frau auch sonst zu Diensten sein, selbst eine schöne Wohnung würde sonst sehr schnell sehr eng werden. Man könnte natürlich an Flucht denken, aber dann denkt man zugleich an das unerträgliche Leid von Flüchtlingen und bleibt lieber daheim, wo’s noch Sauvignon Blanc gibt. Doch selbst unter Alkoholeinfluss schlägt der Aktionismus langsam um in Lethargie. Eine Art existenzieller Lähmung. Ich zum Beispiel schlafe viel, aber nicht gut. Selbst die Träume strengen an, oft bin ich froh, morgens endlich aufwachen zu dürfen.

Muße im Auge des Orkans?

Viele empfehlen mir jetzt zu lesen, mich weiterzubilden, zu bewegen. „Don’t worry, be happy“? Als ob dieses „Stay At Home“ eine Kur ohne jeden Schatten wäre, in der man ganz entspannt zur Ruhe käme, Muße fände, gar in einen Zustand der Kontemplation geriete. Ich aber bin durchaus nervös, manchmal sogar ängstlich, schließlich kommt das Virus täglich näher, ich gehöre zur Risikogruppe der über Sechzigjährigen und schon jetzt ist absehbar, dass es demnächst kaum Beatmungsgeräte für alle geben dürfte. Und dabei bin ich doch gesetzlich versichert und zahle seit über vierzig Jahren ein! Habe schon überlegt, ob ich alles daransetze, mich in den nächsten Tagen noch rechtzeitig zu infizieren, damit man mich auf der Intensivstation von St. Euthanasius fristgerecht aufnimmt, bevor Triage-Ärzte mich als unwertes Leben aussondern müssen; Stichwort: alter weißer Mann, Vorerkrankung: chronische Patriarchitis.

ALDI lieben Leute

Gestern habe ich aus diesem Grund freiwillig gleich drei Supermärkte aufgesucht. Uns mangelte es tatsächlich an Toilettenpapier – und Walnusskernen (für leckeren Flammkuchen, Henkersmahlzeit à l’Alsace). Einkaufen war bisher eigentlich durchaus okay. Bei REWE haben wir neulich alle miteinander laut gelacht, als ein freundlicher Hüne einer Verkäuferin zurief: „Toilettenpapier? Keines? Was ist bloß los mit den Leuten. Haben die alle zwei Jahre lang nicht geschissen?“ Gute Frage.

Gestern bei ALDI in Buer jedoch wurde schon stärker am Lack der Zivilisation gekratzt. Ein Verkäufer dort hatte mir am Montag gesteckt, dass am Mittwoch ab 10 Uhr Toilettenpapier nachgeliefert würde. (Uhrzeit aus naheliegenden Gründen geändert.) So war’s dann auch, ungefähr. Nachdem ich mich schon eine Viertelstunde bei ALDI herumgedrückt hatte, wurde um 10.25 Uhr die Palette mit dem guten Vierlagigen in den Gang vors leere Mehlregal geschoben.

Ich stand vorne in der Warteschlange. Dass da gleich Bückware käme, hatte sich herumgesprochen. Der Verkäufer forderte uns diabolisch grinsend auf, die Plastikverpackung der hochgestapelten Lieferung „kokett. supersoft & saugstark“ doch selbst aufzureißen. Gesagt, getan. Weil von hinten gedrängelt wurde und von der Seite Querulator-Omas und eine Kopftuchfrauen-Gruppe heranstürmten (Wo ist die infektionsverhütende Burka, wenn man sie braucht?), gab ich in Notwehr einige Packungen nach hinten und zur Seite durch, dann nahm ich mir selbst eine und entkam der schwer atmenden Menschentraube in Richtung Kasse. Geschafft! Denkste.

Kasse und Schlange

Plötzlich hörte ich hinter mir die Stimme eines älteren Herrn, der eine durchaus gut situierte Dame zu mehr Distanz aufforderte, weil die nicht auf die Markierung des Sicherheitsabstandes geachtet hatte. Doch die zündelte zurück: „Jaja, nu bleibense ma ruhig.“ Der Herr allerdings wies mit Recht darauf hin, dass es hier auch um seine Gesundheit ginge und der Sicherheitsabstand nun mal sinnvolle Vorschrift sei. Zugegeben, er klang etwas besserwisserisch, aber kein Grund dafür, dass die Dame erst loskeifte, sich dann in Rage brüllte und den gesamten Kassenbereich als Bühne nutzte, um sich als Mansplaining-Opfer zu inszenieren.

„Diese Striche da sind mir scheißegal. Ich habe vor zwei Tagen meinen Vater verloren, da habe ich ganz andere Sorgen als Ihren Scheißsicherheitsabstand.“ Ob dieser Logik waren wir alle etwas perplex. Über allen Kunden standen Comic-Denkblasen: Vater tot, herzliches Beileid, aber deshalb sollen als Kollateralschaden zur Not auch ein paar andere dran glauben? Als der Herr es wagte, noch etwas einzuwenden wie „Tut mir leid für Sie, aber das ist kein Grund hier so …“ konterte die Dame mit einem herzhaften „Dann bleiben Sie doch mit Ihrem Arsch zu Hause, wenn Ihnen das hier nicht gefällt.“
So viel zur Nächstenliebe in den Zeiten von Corona.

Was wird erst geschehen, wenn Produzenten und Transporteure wichtiger Nahrungsmitteln massenweise erkranken, wirklicher Mangel eintritt und härtere Verteilungskämpfe ausgefochten werden?

Hellsichtiges in dunklen Zeiten

Und wem könnte das nützen? „Follow the money“, dieses Motto zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität drängt sich doch regelrecht auf. In den besten Momenten meiner derzeitigen Unruhe sehe ich alles sehr, sehr klar:

Das Corona-Virus wurde in geheimen Laboratorien der CIA entwickelt, um amerikanische Heuschrecken zu stärken und deutsche Ökonomie zu schwächen. Details gefällig? Die Strippenzieher gehen von der begründeten Hoffnung aus, dass der Ex-BlackRocker Friedrich Merz spätestens 2021 Kanzler wird. (Zwar ist der jetzt selbst an Corona erkrankt, doch das ist bloß ein Ablenkungsmanöver, so wirkt er umso unverdächtiger. Außerdem gibt’s längst ein Antivirus für den Inner Circle des großen Geldes und seine Handlanger.)

Merz wird also Kanzler und kann dann ungehindert die profitable Privatisierung der Rentenversicherung vorantreiben und dafür sorgen, dass die DRV an den US-amerikanischen Hedgefonds BlackRock verscherbelt wird, der für eine Übergangszeit alle Einnahmen und Ausgaben der DRV zu übernehmen hat, bevor er mit dem Pensionsfonds zu spekulieren beginnt. Damit sich die Übernahme für BlackRock aber richtig lohnt, muss die DRV zuvor ihre Rücklagen sichern und Ausgaben senken. Verstehen Sie? Je weniger Rentner/innen das Corona-Virus 2020 überleben, desto besser für BlackRock, weil die Ausgabenseite der DRV grundbereinigt wird. Für alle aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung, die an diesem Deal beteiligt sind, wird gesorgt werden, versprochen. Noch Fragen? Na, sehen Sie.

Auf was man so alles kommt, wenn man mit dem Arsch zu Hause bleibt.




Nach all den Absagen: Helft den Kulturschaffenden – und den Leuten im freien Journalismus!

Leerer Zuschauerraum – hier im Bochumer Schauspielhaus. Aufnahme von November 2018, nach Schluss einer Vorstellung. (Symbolfoto: Bernd Berke)

Nachdem allerorten vermeldet wird, welche (Kultur)-Veranstaltungen nicht mehr ausgetragen werden; nachdem man sich dabei tendenziell immer kürzer fassen kann (Es findet ja praktisch nichts mehr statt) – nach all dem muss man in der Tat dringlich über die vielen Freischaffenden in der Kunst- und Kulturszene reden.

Nicht wenige von ihnen hängen von (teilweise ohnehin geringen) Honoraren bzw. Einzelgagen pro Auftritt ab und befinden sich sowieso häufig am unteren Rande des Ein- und Auskommens. Und da sprechen wir nicht nur von den zahlreichen Musikern, Comedians und Kabarettisten, wie sie speziell auch die Kulturlandschaft des Ruhrgebiets mitgestalten.

Wenn „wir“ (Steuerzahler) jetzt mal wieder Teile der Wirtschaft und womöglich auch erneut Banken retten sollen, so mag das in bestimmten Fällen und Branchen recht und billig sein. Nichts dagegen einzuwenden, sofern der Bedarf auch ernsthaft geprüft wird und keine Lobby-Interessen bedient werden.

Ein Unterstützungs-Fonds wird dringend gebraucht

Freilich sollte gerade dann auch ein ordentlich ausgestatteter und möglichst unbürokratisch gehandhabter Unterstützungs-Fonds für all jene aufgelegt werden, die die vielfältige Kultur stets alltäglich und allabendlich am Leben erhalten haben. Hier herrscht ja vielfach nicht nur Bedarf, sondern echte Bedürftigkeit.

Ein Dieter Nuhr, der sich neuerdings über Corona belustigt und weiterhin auftreten will, wird sicherlich mal ein paar Monate ohne zusätzliche Einnahmen klarkommen. Viele, viele andere haben allerdings nichts für solche misslichen Zeiten zurückgelegt. Was soll aus ihnen werden? Sollen sie jetzt allesamt in andere Berufe wechseln, so dass hernach – wenn sich die Lage hoffentlich schrittweise normalisiert – weite Teile der Szene brachliegen? Sollen sie sich mit Hartz IV durchschlagen? Erst haben wir ihnen gelauscht, sie hin und wieder auch bewundert, viel gelacht, uns oft prächtig unterhalten und überhaupt all das goutiert, was Kultur nun mal vermag – dann sollen sie ihre Schuldigkeit getan haben? Das kann ja wohl nicht angehen.

Nicht zu vergessen übrigens die zahlreichen freien Journalistinnen und Journalisten, die von heute auf morgen so gut wie nichts mehr zu schreiben oder sonstwie zu publizieren haben. Wo nichts stattfindet, kann nur anfangs ein- bis zweimal über den Schwund berichtet werden, doch das schleift sich ganz schnell ab. Und dann? Fehlen zumindest auf Wochen hinaus die Einnahmen. Und dann? Sollten wir auch ihnen helfen.

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P. S.: Dass der Appell auch den freien Journalismus umfasst, ist keineswegs pro domo gesprochen. Bei den Revierpassagen basiert sozusagen eh alles auf selbstausbeuterischem „Ehrenamt“. Also ist kein Eigeninteresse im Spiel.




Jetzt geht es um den ganzen Lebensstil

Wenig originelles Bild zu den „dunklen Wolken, die da heraufziehen“, aber ich hab‘ in eigenen Beständen auf die Schnelle nichts Besseres gefunden. (Foto: BB)

So. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr um einzelne bzw. kollektive Absagen geht – sei’s auf kulturellem oder sportlichem Felde. Was soll’s denn, ob die Bundesliga-Saison nun unterbrochen oder ganz abgebrochen wird?

Es geht inzwischen um unseren ganzen Lebensstil, ja überhaupt ums Ganze. Wenn Bundeskanzlerin Merkel rät, die sozialen Kontakte auf nötigste Mindestmaß zu begrenzen, ist denn doch – bei aller scheinbaren äußeren Gelassenheit – eine ziemliche Anspannung spürbar.

Wir dachten schon, ein neues (Bionade)-Biedermeier habe sich in gewissen urbanen Vierteln längst etabliert, dabei steht erst jetzt der allgemeine Rückzug in die Stuben an. Gartenlaube revisited?

Endlich, endlich schließt auch NRW die Schulen und Kitas

Du meine Güte! Wie relativ lang hat Deutschland, hat speziell Nordrhein-Westfalen gebraucht, um sich zu Schul- und Kita-Schließungen ab kommenden Montag durchzuringen – und das im Fall von NRW als Bundesland mit den weitaus meisten Corona-Infektionen. Hätte man in diesem Sinne nicht spätestens heute gehandelt, hätte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet wohl seine Ambitionen auf CDU-Vorsitz und nachfolgende Kanzlerkandidatur gleich aufgeben können. Vielen Beobachtern galt und gilt er als „Zauderer“. Gerade hierbei hätte sich das nicht bestätigen dürfen.

Eine solche Lage hat es seit Kriegsende nicht gegeben. Frankreichs Präsident Macron zieht den historischen Bogen noch weiter und spricht von der größten medizinischen Krise seit 100 Jahren. Gemeint ist die jetzt wieder oft herbeizitierte „Spanische Grippe“, die um 1918/19 weltweit unfassbare 50 Millionen Todesopfer gefordert hat und damit, was die bloßen Zahlen anbelangt, noch verheerender gewirkt hat als die Weltkriege.

Schwindet die frohe Weltzugewandtheit?

Gerade um die italienische Lebensart (Italianità) machen sich italophile Journalisten und andere, dem Süden herzlich zugeneigte Menschen neuerdings erhebliche Sorgen. „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Nein, man erkennt es nicht mehr wieder. Stirbt hier auch schrittweise die Lebensfreude, schwindet nach und nach die frohe Weltzugewandtheit? Geht nun ausgerechnet Italien den Weg in die innere Einkehr? Oder wird all die Freude wiederkehren?

Und überhaupt: der Westen. Was wird aus der üblichen Event-Kultur, was ist mit der landläufigen Erlebnisgier, mit dem gewöhnlichen Hedonismus? Gab’s da nicht mal jenes Buch mit dem Titel „Wir amüsieren uns zu Tode?“ Lang ist’s her. Treibt es uns nun noch mehr in die vereinzelnde Digitalisierung? Oder wirkt sich die Krise gar als gesellschaftlicher Kitt aus, als Anstoß zum Zusammenhalt? Man möchte es hoffen, doch da bleiben auch große Zweifel. Wo so viele Leute ohne Sinn und Verstand Toilettenpapier horten oder sogar aus Kliniken Desinfektionsmittel klauen (in der Phantasie male ich mir passende Strafen dafür aus), ist Solidarität offenbar kein weithin praktiziertes Allgemeingut.

Drastische Maßnahmen und Galgenhumor

Trotz der (verspäteten?) Schulschließungen geht’s bei uns noch vergleichsweise moderat zu. Die Schweiz verbietet Veranstaltungen mit über 100 (nicht: über 1000) Teilnehmern, in Belgien werden auch die Restaurants geschlossen, in Österreich bleiben Geschäfte jenseits des Lebensbedarfs dicht, die Restaurants schließen um 15 Uhr; Polen und Dänemark riegeln ihre Grenzen ab. Als deutscher Staatsbürger darf man ohnehin längst nicht mehr in alle Länder des Erdballs reisen. Viele weitere drastische Beispiele ließen sich nennen. Und wer weiß, wer am Ende wirksamer gehandelt hat.

Auch Galgenhumor macht sich breit, wie eigentlich immer, wenn’s ungemütlich (oder schlimmer) wird: Just heute twittern Tausende zum Hashtag-Thema #CoronaSchlager, will heißen: Man dichtet bekannte Schlagertexte der letzten Jahrzehnte aufs Virus und seine Folgen um. Wenn’s denn der Entspannung dient und nicht ganz und gar zynisch wird…

Die Professoren Drosten und Wieler haben das Sagen

Die beinahe täglich live übertragenen Presskonferenzen von der Corona-Front lassen allmählich den Eindruck aufkommen, die Professoren Christian Drosten (Charité) und Lothar Wieler (Robert-Koch-Institut) seien inzwischen die eigentlich Regierenden im Lande. Sie haben buchstäblich das Sagen. Jedenfalls können die politisch Verantwortlichen in dieser Situation schwerlich ohne solche Fachleute auskommen. Prof. Alexander Kekulé (Uniklinik Halle) wäre demnach mit seinen deutlich abweichenden Meinungen so etwas wie die Opposition. Schon recht früh hat er gefordert, was jetzt geschehen ist: „Coronaferien“ in den Schulen und Absage größerer Zusammenkünfte.

Um nur nicht missverstanden zu werden: So weit man es als Laie und Medienkonsument beurteilen kann, machen Drosten und Wieler (mit ihren Teams) einen großartigen Job, sie bleiben angenehm nüchtern und sachlich, wobei man dennoch die Dringlichkeit ihrer Anliegen nicht verkennen kann. Das gilt übrigens auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der selbst nicht die medizinische Expertise haben kann, es aber offensichtlich versteht, fähige Leute als Berater heranzuziehen.

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P. S. zum Fußball: Ohne Zuschauer im Stadion macht die Kickerei eh keinen Spaß mehr, Sky & Co. haben mit den „Geisterspielen“ sozusagen leblose Materie übertragen. Meinetwegen soll die Liga jetzt mit der Saison aufhören, die Bayern halt zum Meister erklären (das sage ich als Dortmunder) oder – besser noch – diese Spielzeit ganz ohne Titel beenden, die jetzigen Tabellenplätze nur für einen künftigen europäischen Wettbewerb zählen lassen etc. Auf- und Abstieg ließen sich auch regeln, indem z. B. die 1. Liga aufgestockt würde, also niemand ohne Spielentscheidung absteigen müsste. Das alles wird sich finden und ist ganz und gar nicht lebenswichtig.

Ganz abgesehen davon ist es vielleicht ein soziales Experiment: Wirkt sich das Fehlen des Vereinsfußballs gesellschaftlich aggressionshemmend oder aggressionssteigernd aus? Anders gewendet: Befördert oder kanalisiert der Fußball die Gewaltsamkeit?




Corona-Update: Alles dicht! – Dortmunder Kultur-Absagen und tägliche Ergänzungen aus dem Revier

Ein Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Konzerthauses, das 1500 Plätze hat und  selbstverständlich auch von Absagen betroffen ist. (Foto: Bernd Berke)

Hier am Anfang zunächst der Stand vom 11. März, ständige Aktualisierungen weiter hinten:

Ausnahmsweise werden hier zwei ausführliche Pressemitteilungen aus den Dortmunder Kulturbetrieben wörtlich und unkommentiert wiedergegeben – weil es hier vor allem auf die sachlichen Details ankommt und nicht auf diese oder jene Meinungen.

Im Anhang folgen weitere Informationen, auch aus anderen Revier-Städten. 

Zuerst eine ausführliche Übersicht zu städtischen Kulturveranstaltungen, die in den nächsten Wochen ausfallen werden, übermittelt von Stadt-Pressesprecherin Katrin Pinetzki.

Danach eine gleichfalls längere Aufstellung aus dem Dortmunder Mehrsparten-Theater, auch das Konzerthaus betreffend, übermittelt von Theater-Pressesprecher Alexander Kalouti.

Wir zitieren:

„Öffentliche Kulturveranstaltungen fallen bis Mitte April aus – Museen, Bibliotheken und U bleiben geöffnet – Unterrichtsbetrieb in VHS- und Musikschule läuft weiter

Die Kulturbetriebe der Stadt Dortmund, das Theater Dortmund und das Konzerthaus Dortmund sagen alle ihre öffentlichen Veranstaltungen bis Mitte April ab. Die Regelung gilt ab morgen (12. März) und ist unabhängig von der Zahl der erwarteten Besucherinnen und Besucher. Damit hofft die Stadt, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Es fallen aus:

  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund,
  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Theater Dortmund: Oper, Ballett, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Konzerte, Akademie für Theater und Digitalität,
  • Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen und Führungen in den Städtischen Museen: Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Westfälisches Schulmuseum, Kindermuseum Adlerturm, Hoesch-Museum, Brauerei-Museum, schauraum: comic + cartoon,
  • städtische Veranstaltungen im Dortmunder U (z.B. auf der UZWEI, in der Bibliothek „Weitwinkel“, Veranstaltungen in der Reihe „Kleiner Freitag“),
  • Veranstaltungen und Festivals im Dietrich-Keuning-Haus (der Kinder- und Jugendbereich hat geöffnet!),
  • Lesungen und andere Veranstaltungen in den Bibliotheken und im Studio B,
  • Konzerte und Veranstaltungen der Musikschule (der Unterricht findet statt!),
  • Vorträge und andere Veranstaltungen der VHS (die Kurse und Workshops finden statt!),
  • Vorträge, Lesungen und andere Veranstaltungen in Stadtarchiv und in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache,
  • Konzerte und andere Veranstaltungen im Institut für Vokalmusik,
  • Spaziergänge und Fahrradtouren zur Kunst im öffentlichen Raum,
  • Veranstaltungen des Kulturbüros (Ausstellungseröffnungen im Torhaus Rombergpark, Gitarrenkonzerte in der Rotunde).

(…)

Der Kartenverkauf für Konzerte und Aufführungen in Theater und Konzerthaus für Vorstellungen nach Ostern läuft weiter.

Alle Theater- und Konzerthauskunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden kontaktiert. Wenn möglich, werden ausfallende Vorstellungen nachgeholt. Die Kunden werden über mögliche neue Termine sowie die Rückgabe von Tickets benachrichtigt.“

Weitere Informationen gibt es auf den Webseiten von Konzerthaus und Theater und auf www.dortmund.de

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Blick aufs Dortmunder Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Wichtige Informationen zu den Vorstellungen des Theaters Dortmund und des Konzerthauses Dortmund:

„Alle Vorstellungen bis einschließlich 15. April 2020 finden nicht statt.

Aufgrund des Erlasses der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen finden im Konzerthaus Dortmund und im Theater Dortmund bis einschließlich 15. April 2020 keine öffentlichen Veranstaltungen statt. Konzerthaus-Intendant Dr. Raphael von Hoensbroech und der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund Tobias Ehinger unterstützen diese Vorgabe und bedauern zugleich, dass so viele erstklassige Konzerte und Vorstellungen abgesagt werden müssen.

Alle Kunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden informiert. In den kommenden 14 Tagen arbeiten wir intensiv daran, für die ausgefallenen Vorstellungen Ersatztermine zu finden. Die Ticketingstellen beider Häuser haben weiterhin geöffnet und der Kartenverkauf für Veranstaltungen nach Ostern läuft weiter. Das Restaurant Stravinski und die Klavier & Flügel Galerie Maiwald am Konzerthaus Dortmund bleiben ebenfalls bis auf weiteres geöffnet.

Das Konzerthaus Dortmund bietet für seine Eigenveranstaltungen folgende Regelungen: Für Ersatztermine behalten Tickets ihre Gültigkeit. Sollten Kunden an dem neuen Termin verhindert sein, wenden sie sich bitte telefonisch an das Konzerthaus-Ticketing unter T 0231 – 22 696 200. Sollte kein Ersatztermin gefunden werden, sendet das Konzerthaus an die Kunden einen Gutschein über die Höhe des gezahlten Kartenpreises, der für alle kommenden Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund einlösbar ist. Bei weiteren Fragen zur Rückerstattung steht das Ticketing ebenfalls gerne zur Verfügung. Für Partnerveranstaltungen können abweichende Regelungen gelten.

Das Theater Dortmund bietet folgende Regelungen: Bei Nichtwahrnehmung des Ersatztermins können die Karten vor dem jeweiligen Ersatztermin umgetauscht werden. Darüber hinaus bietet das Theater Dortmund folgende Kulanzregelungen für die Kartenrücknahme an: Kunden können die für diesen Zeitraum im Vorverkauf bereits erworbenen Karten bis Ende der Spielzeit 2019/20 im Kundencenter unter Vorlage der Originalkarten in spätere Alternativvorstellungen eintauschen oder in Wertgutscheine umwandeln. Bei Abonnentinnen und Abonnenten können die Karten in Abo-Gutscheine innerhalb der jeweiligen Sparte umgewandelt werden, die aus Kulanz auch für die nächste Spielzeit einlösbar sind. Karten, die bei externen Vorverkaufsstellen erworben wurden, können nur an diesen zurückgegeben werden. Für Rückfragen steht das Ticketing des Theater Dortmund unter der Telefonnummer 0231 – 50 27 222 gerne zur Verfügung.

Wir stehen weiterhin in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden und informieren auf unseren Websites über alle weiteren aktuellen Entwicklungen, die den Spielbetrieb unserer Häuser betreffen.“

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Ausgewählte Ergänzungen (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit)

12. März:

Die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA hat die für 28./29. März geplante „Maker Faire Ruhr“ abgesagt, ein Erfinder- und Mitmach-Festival, das im Vorjahr einige Tausend Besucher(innen) mobilisiert hat. Nachtrag am 16. März: Die DASA schließt jetzt bis auf Weiteres ganz.

Die in Dortmund ansässige Auslandsgesellschaft streicht bis zum 15. April alle öffentlichen Veranstaltungen.

Das Szenetheater „Fletch Bizzel“ folgt dem Beispiel der städtischen Kultureinrichtungen und sagt alle Veranstaltungen bis Mitte April ab.

Auch im Fritz-Henßler-Haus gibt es bis Mitte April keine öffentlichen Auftritte.

Im Dortmunder Literaturhaus ist ebenfalls bis 15. April Veranstaltungs-Pause.

Die Messe „Creativa“ in den Dortmunder Westfalenhallen ist gleichfalls abgesagt und auf Ende August verschoben worden.

13. März:

Theater Dortmund: Alle Sparten haben ihre Spielpläne für diese und die kommende Saison gründlich umgeschichtet.

Schauspielhaus Bochum: Keine Veranstaltungen mehr (auch nicht mit weniger als 100 Personen). Sämtliche Aufführungen fallen aus – vorerst bis 19. April. Ähnliches gilt fürs Theater an der Ruhr in Mülheim, fürs Theater Oberhausen und das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) streicht alle öffentlichen Veranstaltungen in seinen Einrichtungen und schließt ab morgen (14. März) seine insgesamt 18 Museen, darunter das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, das Westfälische Industriemuseum mit seiner Zentrale in Dortmund (Zeche Zollern) und das LWL-Museum für Archäologie in Herne.

Das Duisburger Lehmbruck-Museum bleibt ab Samstag (14. März) zunächst bis zum 19. April geschlossen.

Das Museum Folkwang in Essen und das Emil Schumacher Museum in Hagen setzen alle Veranstaltungen bis auf Weiteres aus.

Die Kunstmesse Art Cologne (geplant für April) ist abgesagt worden.

14. März:

Das „Dortmunder U“ und das Museum Ostwall (im „U“) haben alle Veranstaltungen gestrichen. (Inzwischen ist das Haus geschlossen).

Dortmund: Keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr

15. März:

In einer Sondersitzung hat der Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund gestern beschlossen, dass ab heute (Sonntag, 15. März) bis auf Weiteres keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen. Gaststätten und Restaurants dürfen vorerst geöffnet bleiben.

Museen, Bibliotheken und Sportstätten geschlossen

Der Krisenstab der Stadt Dortmund hat heute (Sonntag, 15. März) getagt und angeordnet, Kultur- und Freizeiteinrichtungen zu schließen. In diesem Sinne werden bis auf Weiteres die städtischen Museen, die VHS, die Bibliotheken und die Musikschule sowie die städtischen Hallenbäder, Sporthallen und Sportplätze geschlossen.

Siehe dazu auch: www.dortmund.de

16. März

Auch anderorts bleiben ab sofort die Museen geschlossen, so z. B. in Essen (Folkwang), Bochum (Kunstmuseum) und Wuppertal (Von der Heydt).

Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln fällt aus.

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Aber machen wir’s kurz:

Jetzt sind alle Museen geschlossen. Und alle Kinos auch. Und alle Bühnen.

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Weitere Nachträge/Aktualisierungen

24. März

Das Dortmunder Festival Klangvokal (geplant ab 17. Mai) musste ebenfalls abgesagt werden. Möglichkeiten für Nachholtermine (September 2020 bis Juni 2021) werden derzeit geprüft. Das zugehörige Fest der Chöre soll vom 13. Juni auf den 12. September verschoben werden. Einzelheiten: www.klangvokal-dortmund.de

25. März

Die Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis zum 13. Juni in Recklinghausen hätten stattfinden sollen, sind gleichfalls abgesagt. Teile des geplanten Programms sollen nach Möglichkeit im Herbst nachgeholt werden.

Das Klavierfestival Ruhr, ursprünglich ab 21. April geplant, soll nun erst am 18. Mai starten. Die vom 21. April bis 17. Mai geplanten 23 Konzerte sollen nach den Sommerferien und im Herbst nachgeholt werden.

Die Mülheimer Stücketage (geplant 16. Mai bis 6. Juni) sind abgesagt worden.

27. März

Neuester Stand beim Klavierfestival Ruhr: Sämtliche bis Ende Mai geplanten Konzerte werden auf die Zeit nach den Sommerferien bzw. in den Herbst 2020 verlegt. Der Spielbetriebwird voraussichtlich erst Anfang Juni (Woche nach Pfingsten) beginnen. Näheres unter www.klavierfestival.de/nachholtermine

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Nähere Infos auf den jeweiligen Homepages

 




Corona: Viele Absagen für Theater, Oper und Konzert in NRW – und auch jenseits der Landesgrenzen

Sagt bis 19. April alle Vorstellungen ab: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Werner Häußner)

Für die Kulturszene in NRW hat das Corona-Virus bereits Auswirkungen. Hier ein erster Rundblick:

Die Maßnahmen, die eine weitere Verbreitung von Sars-CoV-2 – so heißt das tückische Kleinteilchen – hemmen sollen, führten bereits gestern, 10. März, zur Einstellung des Spielbetriebs des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen bis voraussichtlich 19. April.

Soeben hat auch das Theater Hagen alle Vorstellungen im Großen Haus – nicht aber in den kleineren Spielstätten – abgesagt. In Dortmunder Konzerthaus sind der Auftritt von Bodo Wartke am heutigen 11. März auf den 23. Juni verschoben und alle öffentlichen Veranstaltungen bis 15. April abgesagt. Und nun hat auch das Beethovenfest Bonn alle Konzerte zwischen 13. und 22. März abgesagt,

Seit dem Erlass des Gesundheitsministeriums vom 10. März sollen die örtlichen Behörden Veranstaltungen mit mehr als 1.000 zu erwartenden Besucherinnen und Besuchern grundsätzlich absagen. Liegt die Zahl darunter, sei – wie bisher – eine individuelle Einschätzung der örtlichen Behörden erforderlich, ob und welche infektionshygienischen Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, heißt es auf der Homepage der Landesregierung.

Düsseldorf deckelt die Zahl der Besucher

Während bei der Theater und Philharmonie (TuP) Essen die Entscheidungsfindung noch im Gang ist, hat sich die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf entschieden, vorerst weiterzuspielen, den Verkauf von Karten aber so zu deckeln, dass die Zahl von 1.000 Menschen im Raum (Besucher und Mitwirkende) nicht überschritten wird. Auch die Wuppertaler Bühnen führen momentan den Spielbetrieb weiter. Die Historische Stadthalle begrenzt ihren Kartenverkauf ebenfalls, damit die 1000er-Marke nicht überschritten wird.

Nicht – oder noch nicht – betroffen scheinen die Museen: Das Essener Folkwang Museum sagt zwar seine Ausstellungseröffnung zu Mario Pfeifer, Black/White/Grey (am 12. März, 19 Uhr) ab, hat aber ansonsten wie üblich geöffnet. Auch die Beethoven-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn bleibt unberührt.

In Sachsen spielt man vorerst weiter

Ein Blick über die Grenzen: In Bayern sind alle Staatstheater geschlossen, die Theater in Bamberg, Würzburg und Regensburg haben bereits nachgezogen und ihre Vorstellungen bis Mitte April abgesagt. In Wien schließen Burgtheater, Staats- und Volksoper. Auch in den drei Berliner Opernhäuser gibt es bis 19. April keine Vorstellungen. Sachsen dagegen meldet derzeit keine Absagen: Semperoper, Staatsoperette Dresden, Theater Chemnitz spielen, und auch die Landesbühnen Sachsen kündigen die Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ in der Regie von Manuel Schmitt – erfolgreicher Regisseur von Bizets „Perlenfischern“ in Gelsenkirchen – weiterhin für den 14. März an.

Fatale Folgen haben die Schließungen und Absagen für freie Künstler, vor allem, wenn Verträge keine Ausfallhaftung vorsehen. Sechs Wochen ohne oder mit deutlich vermindertem Einkommen führen in solchen Fällen schnell in eine prekäre Lage. Es wird sich zeigen, ob die Institutionen bzw. die Geldgeber zu unbürokratischen und großzügigen Lösungen bereit sind. Der Präsident des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, hat bereits einen Notfonds gefordert – „sehr schnell und mit wenig Bürokratie“.




Gespenstische Premiere: Revierderby ohne Zuschauer

Massenhaft so dicht beieinander? Muss ja nicht sein. Höchstens in der Ikea-Stofftierabteilung, wo die Aufnahme entstanden ist. (Foto: BB)

Nachträgliche Anmerkung, nur der Form halber: Das Spiel ist inzwischen bekanntlich ganz abgesagt worden – ebenso wie der gesamte Bundesliga-Spieltag und wie vielleicht noch der Rest der Saison…

Seit C. (ihr wisst schon) ist kaum noch etwas, wie es vorher war, auch nicht auf sportlichem Sektor. Gerade ein „Revierderby“ zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 war bislang ohne Zuschauer, ohne mehr oder weniger fanatische Fans schier undenkbar. Am Samstag (15:30 Uhr) wird dieses gespenstische Ereignis Premiere haben.

(Erst) heute ist die Entscheidung gefallen. Sie ist natürlich hundertprozentig richtig. Die Gesundheit geht vor – und sei das Ansteckungsrisiko im Westfalenstadion* auch (vermeintlich) „überschaubar“. Wer will das schon mit Gewissheit sagen wollen?

Und was ist mit den Kneipentreffs?

Freilich haben Fans u. a. auf Twitter bereits darauf hingewiesen, dass sich das Publikum dann eben nicht unter freiem Himmel im Stadion, sondern zu gewissen Anteilen in Kneipen versammeln wird, also dicht gedrängt in geschlossenen Räumen, wo man sich womöglich noch leichter infizieren kann. Überdies dürften sich Umarmungsverbote im Falle eines Tores drinnen wie draußen schwerlich durchsetzen lassen. Auch den Mannschaften wird man etwaigen Torjubel nicht untersagen können.

Fest steht allerdings auch, dass sich Übertragungswege nach einem Kneipenbesuch immerhin etwas leichter rekonstruieren ließen, als nach einem Besuch im größten Stadion Deutschlands mit seinen über 81.000 Zuschauerplätzen und der größten Stehplatztribüne von ganz Europa, wo schon gar nicht auszumachen ist, wer genau wo gestanden hat.

Entlastung für Polizei und Verkehrswesen

Ob Parkplätze oder öffentlicher Nahverkehr – nichts wird so strapaziert werden, wie es bei früheren Derbys üblich war. Auch wird die Polizei vermutlich weitaus weniger zu tun haben als sonst, wenn BVB und S04 aufeinandertreffen. Obwohl: Man weiß ja nie, was sich Ultras und sonstige Anhänger beider Seiten so einfallen lassen. Nicht ausgeschlossen, dass sich manches Geschehen nur verlagert – vielleicht gar in den Umkreis des Stadions? Es wäre wahnwitzig.

Die Anordnung zum „Geisterspiel“ dürfte jedenfalls streng gehandhabt werden. Wie man hört, werden längst nicht alle interessierten, sondern nur ein paar handverlesene Sportjournalisten zugelassen. Eine Fernsehübertragung wird es höchstwahrscheinlich nur gegen Bezahlung geben, also beim Pay-TV-Kanal Sky. Es mag zwar sein, dass dies dem Sender ein paar Abonnenten zusätzlich beschert. Fraglich ist jedoch, ob Sky beim zu erwartenden Massenansturm auf die Server eine nahtlose und pannenfreie Übertragung gewährleisten kann. Bisherige Erfahrungen lassen daran zweifeln.

Der Meinungs-Schwenk des Oberbürgermeisters

Zweifeln kann man auch am Orientierungssinn des Dortmunder Oberbürgermeisters Ullrich Sierau (SPD). Noch vor wenigen Tagen, als in Essen bereits erste Veranstaltungen abgesagt wurden, hat er witzelnd angemerkt: „Wenn man in Essen keinen Spaß mehr haben kann, kann man nach Dortmund kommen.“ Heute klang er absolut anders, allerdings wieder nicht nach Maß und Ziel. Maßnahmen wie das Revierderby als „Geisterspiel“, so Sierau diesmal, seien eine Frage von „Leben und Tod“. Ja, er wurde noch drastischer: „Das hier ist kein Spaß (…) Es geht hier darum, dass ihr das nächste Spielüberhaupt noch erlebt.“

Selbstverständlich ist das Revierderby längst nicht das einzige Spiel, das dieser Tage ohne Publikum stattfindet oder gleich ganz abgesagt wird. Alle Spiele in Nordrhein-Westfalen sind von der Regelung betroffen, auch in den unteren Spielklassen. Andere Bundesländer werden wohl folgen, wenn die Verantwortlichen bei Trost sind. Übrigens hat die Deutsche Eishockeyliga ihre Saison komplett abgebrochen, ohne dass ein Meister ermittelt worden wäre.

Unbeweisbare Vor- und Nachteile

Der Vollständigkeit halber sei noch eine andere, vergleichsweise nichtige Frage angerissen, nämlich die, ob ein „Geisterspiel“ sich vor- oder nachteilig für bestimmte Mannschaften auswirkt. Gewiss: Beim Revierderby (und bei der Begegnung mit Bayern München am 4. April) tritt der BVB zwar in Dortmund, aber quasi nicht wie sonst als Heimmannschaft an, zumindest fehlt das eigene Publikum als Faktor. Dafür „profitiert“ man am morgigen Mittwoch beim Auswärtsspiel in der Champions League vielleicht davon, dass keine Fans von Paris St. Germain zugegen sein werden. Doch das ist im Grunde herzlich nebensächlich. Messen und beweisen kann man es eh nicht.

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* vulgo: Signal-Iduna-Park

Das allzeit lesenswerte Fußball-Magazin „Elf Freunde“ hat jetzt aus gegebenem Anlass die Geschichte der „Geisterspiele“ nachgezeichnet.




Was macht Corona mit der Kultur?

Sorglos hat man eigentlich noch nie auf den inzwischen so globalisierten Globus blicken können. Jetzt sind mal wieder ein paar neue Sorgen hinzugekommen. (Foto: BB)

Und hier bekommt Ihr wieder ein Bonus-Paket der Revierpassagen, nämlich: Heute gibt’s k e i n e n laienhaften Aufsatz über Corona. Jedenfalls nicht über virologische Fragen oder Quarantäne. Wie denn auch?

Obwohl man da unendlich viel erwägen und bekakeln könnte, aus nichtfachlicher Sicht wohl überwiegend Nutzloses. Aber das geschieht schon andernorts zur Genüge und weit über Gebühr. Man schaue sich nur die Kommentare an, wenn etwa „Zeit“ oder „Süddeutsche“ mit Live-Schaltungen zu allfälligen Pressekonferenzen des Bundesgesundheitsministers und des Robert-Koch-Instituts aufwarten. All die vielen selbsternannten Fachleute im Publikum, die Besserwisser, Hassverspritzer und Paniker aus den Untiefen des Netzes. Und das bei Angeboten dieser seriösen Medien… Das seriöseste aller hiesigen Medien, „Der Postillon“, hat diesen Trend natürlich auch erkannt: „Zahl der Corona-Experten in Deutschland sprunghaft angestiegen“. Wohl irgendwie wahr.

So. Und jetzt, da Ihr Euch vielleicht in Sicherheit wiegt, kommen hier halt doch noch ein paar CoV-19-Absätze. Wir sind schon mittendrin. Aber halb so schlimm. Wir hamstern keine Zeilen. Wir desinfizieren auch nicht eigens die Tastatur. Tippen mit sorgsam gewaschenen Händen (20 Sekunden plus!) ist freilich die leichteste Übung.

Konzerthusten mit neuer Virulenz

Vielleicht erwischt es ja nach dem Sport mit seinen zuschauerlosen „Geisterspielen“ (so auch das Revierderby BVB – Schalke am kommenden Samstag) sehr bald auch Teile des Kulturbetriebs. Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmenden, deren Absage nicht nur von Gesundheitsminister Spahn dringlich angeraten wird und in Frankreich bereits verfügt worden ist, haben wir schließlich auch in Philharmonien, Konzerthäusern und Opernhäusern, erst recht bei manchen Rock-Auftritten etc. Da sitzt oder steht man beim kulturellen Geschehen ziemlich dicht an dicht. Der Konzerthusten ist ja eh ein sprichwörtliches, heftiges und häufiges Phänomen im Bereich der E-Musik. Auch er hat allerdings schon einen bedrohlichen Bedeutungswandel hinter sich. Mit Hustinetten als Gegenmittel ist es nicht mehr getan.

…oder gar daheim zum Buch greifen

Von Veranstaltungen wie dem Literaturfestival Lit.Cologne, der Pariser oder der Leipziger Buchmesse (alle abgesagt) – letztere mit sonst Abertausenden von lesewilligen Hallenflaneuren – mal ganz abgesehen. Und noch mehr zu schweigen von den italienischen Zuständen, wo im ganzen Land Museen, Kinos und Theater geschlossen bleiben. Schon warnen besorgte Publizisten vor nachhaltigen Schäden an der „italienischen Lebensart“.

Just, als ich das schreibe, erreicht mich die Nachricht von der Absage der Museumsnacht im LWL-Museum für Archäologie in Herne am 27. März. Dort wird übrigens – ausgerechnet – noch bis zum 10. Mai die derzeit besonders aufschlussreiche natur- und kulturhistorische Ausstellung über die Pest gezeigt. Apropos: Wie man liest, erlebt zur Zeit auch Albert Camus‘ moderner Klassiker „Die Pest“ einen Auflagenschub sondergleichen.

Schon wird uns auf Feuilleton-Seiten wärmstens anempfohlen, öfter mal daheim zu bleiben und zwecks Kulturgenuss diverse Streamingdienste für Kino und Musik anzuwerfen. Oder gar: zum Buch zu greifen! Man denke nur…

„Inflation öffentlicher Zusammenrottungen“

Es sind keine günstigen Zeiten für kulturgeneigte Adabeis. Wenn ich nicht irre, war es die Neue Zürcher Zeitung, die vor ein paar Tagen geradezu erbittert gegen das ewig amüsierwütige Ausgehen zu Felde zog, und zwar mit einer solchen Formulierung: „Die hedonistische Eventkultur mit ihrer Inflation öffentlicher Zusammenrottungen zu unwesentlichen Zwecken“, hieß es da, solle endlich wieder durch „Vergnügungen in bescheidenerem, privaten Rahmen“ ersetzt oder wenigstens ergänzt werden. Sie raten freilich nicht direkt zum Brettspieleabend, sondern erst einmal zu Netflix-Filmen und Gruppen-Chats. Man will die Leute da abholen, wo sie sind. Mit möglichen Folgen einer zunehmend digitalisierten Kultur hat sich unterdessen auch die Süddeutsche Zeitung befasst. Wir sehen betroffen: Da ist einiges im Schwange.

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P. S.: Hat eigentlich schon mal wieder jemand nachgeschaut, was in den einst so umkämpften Notstandsgesetzen steht, die vor über 50 Jahren schon manchen „Achtundsechziger“ auf die Barrikaden getrieben haben? Kann uns da jetzt was blühen?

Nachtrag: Erstaunlich, dass laut Homepage heute (10. März) im Dortmunder Konzerthaus die Veranstaltung „Sinatra & Friends“ (Trio aus England) stattfinden soll. Sind da wirklich weniger als 1000 Plätze besetzt? Man wird ja mal fragen dürfen. Laut Landesgesundheitsminister Laumann gilt die 1000er-Grenze ohne Wenn und Aber. Bei Überschreitung müsste seit heute abgesagt werden.

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Absagen und Sonstiges

Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) stellt den gesamten Spielbetrieb „bis auf weiteres“ ein.

Das Frauenfilmfest Dortmund/Köln (Programmschwerpunkt diesmal in Köln) soll nach jetzigem Stand vom 24. bis 29. März stattfinden. Pro Filmvorstellung soll die Zahl der Zuschauerinnen auf 100 begrenzt werden. Es werden Anwesenheitslisten geführt und auch sonst diverse Sicherheitsmaßnahmen ergriffen.

 




Corona: Aufregung oder Apokalypse?

Wie soll man das Thema sonst bebildern, als mit dräuenden Wolken? (Foto: Bernd Berke)

Kann sich jemand erinnern, dass jemals derart rigorose Maßnahmen wegen einer Epidemie ergriffen worden sind?

Hat es das in den letzten 50 oder 60 Jahren schon einmal gegeben, dass ganze Städte und Regionen (in China, in Italien und wer weiß wo demnächst noch) so strikt vom Rest der Welt abgeriegelt wurden wie jetzt, dass beispielsweise alle grenzüberschreitenden Züge (vorerst zwischen Österreich und Italien) gestoppt oder Flüge (aus und nach China) verboten werden? Dass Schiffe über Wochen hinweg nicht verlassen werden dürfen? Dass Zigtausende, ja insgesamt Millionen in Quarantäne leben?

Mit der offenbar rapiden Ausbreitung der Corona-Viren haben die – vielleicht schon verspäteten? – Vorsichtsmaßnahmen (und die darob entstehende Panik) offenbar eine neue Eskalationsstufe erreicht. Sind Rinderwahn oder SARS dagegen nur „Vorübungen“ zur Apokalypse gewesen? Welchen Anteil hat die Realität, welchen haben die aufgeregten Medien? Man liest allerdings auch, dass nicht nur die Zahl der Todesopfer, sondern auch schon die Zahl der „Geheilten“ ansteige. Ein Lichtstreif.

Igelt sich bald jedes Land ein?

Oder kann all das noch viel drastischer werden? Doch wohl nicht so wie in jenen schrecklichen Zeiten der Pest, denen eine archäologische und kulturgeschichtliche Ausstellung in Herne (noch bis zum 10. Mai 2020) nachgeht? Als diese Schau eröffnet wurde, hat noch niemand gewusst, was da womöglich auf uns zukommt.

Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie das noch weitergehen mag. Igelt sich bald jedes Land, jede Gegend ein? Woher sollen dann die Nachschublieferungen kommen, seien es medizinische Güter oder Lebensmittel? Die Weltmärkte würden zusammenbrechen, es gäbe eine ökonomische Krise sondergleichen. Schon jetzt knicken die Börsenkurse ein.

Globalisierung und Rassismus

Daraus könnte ein großer, ja schließlich ein weltweiter Versuch werden, ob und wie weit die Globalisierung vorübergehend gebremst werden muss. Und wie selbstverständlich spielt Rassismus auch hier hinein: Schon soll es tätliche Angriffe auf Chinesen in Europa gegeben haben. Es müssen mal wieder Menschen herausgegriffen und als Schuldige „dingfest gemacht“ werden.

Apropos irrationale Umtrieb: In letzter Zeit haben sich – vor allem im ökopolitischen Umfeld – auch sektenartige oder zumindest quasi-religiöse Formationen gebildet. Ist es nur eine wahnwitzige, literarisch induzierte Phantasie, wenn man sich vorstellt, wie wegen der Seuche Menschen durch die Straßen ziehen, sich selbst als sündhaft geißelnd? Wie damals, zu Zeiten der Pest…

Autoritäre vs. demokratische Staaten

Auch treten jetzt autoritär regierte Länder (China, Iran) in einen unfreiwilligen Wettbewerb mit einstweilen demokratisch verfassten Staaten (Italien etc.): Wer wird eine solche Krise besser bewältigen? Wie demokratisch kann es überhaupt zugehen, wenn der Notstand herrscht? Und übrigens: Wie kommt es bloß, dass bisher praktisch in ganz Afrika und Südamerika noch kein Ausbruch der Seuche verzeichnet wird? Liegt es daran, dass man dort nicht so streng registriert und dass man dort überhaupt auch noch einige andere Sorgen hat?

Vom medizinischen (Un)wissen, von der fieberhaften Suche nach Ursachen und Wirkungen ganz zu schweigen. Wo liegen überhaupt die Ursprünge der Seuche, die nunmehr eine Pandemie genannt wird? Wo war der allererste Ansteckungsherd, wie sehen die möglichen tierischen Zwischenwirte aus? Wie lange dauert die Inkubation, wie ist der wahrscheinliche Verlauf, wann klingt die Krankheit wieder ab, wann darf ein Patient als kuriert und „erholt“ gelten? Hängt alles mit China zusammen – oder wird sich erweisen, dass es weitere Ausbruchszentren gibt?

Heldentum der Mediziner

Und weiter: Wie hoch liegt die mutmaßliche Todesrate? Betrifft es wirklich vor allem über 80 Jahre alte oder sonstwie vorher geschwächte Menschen? Zynische Frage: Wären sie vielleicht auch an einer „normalen“ Grippe gestorben, wie denn überhaupt die Grippewellen einer durchschnittlichen Saison rund 25.000 Menschenleben kosten können?

Fragen über Fragen. Und keine ist bisher abschließend geklärt.

Ein zeitgemäßes Heldentum zeigt sich freilich, wenn man den Begriff schon verwenden will: beim ärztlichen Personal, das gleichsam an vorderster Front und unter hohem persönlichen Risiko die mysteriöse Krankheit bekämpft. Darüber hinaus gebührt großer Respekt all jenen, die die Gegenmaßnahmen vernünftig organisieren; den Forschungsteams, die in aller Welt an möglichst wirksamen Gegenmitteln arbeiten. Und so manchen anderen, die wir vergessen haben.

Und nun lasset uns hoffen. Und handeln, so gut es eben geht.




Wok-Gemüse! Oder: Zeitdiebe lauern überall

Nicht überall treten Zeitdiebe so auf wie die grauen Herren in Michael Endes Roman „Momo“. Hierzulande sind es meist profitsüchtige Unternehmen und ihre Handlanger, die nur allzu gern die Zeit ihrer Kunden stehlen, um damit eigene Arbeitszeit einzusparen oder vermeintlich zu teures Personal abzubauen. Der Kunde ist König? Pah! Das war einmal. Kunden von heute sind vor allem eins: Nützliche Idioten, fest eingeplant, um gefälligst Dienstleistungen für jene Firmen zu erbringen, deren oberster Glaubenssatz lautet „Your time is our money!“

Dieb & Kunde. (Karikatur: Peter Thoms)

Wenn man vom Teufel spricht: Hermes ist kein Götterbote

DHL, UPS, DPD, HERMES …: Ich bin bekennender Onlinehandel-Verweigerer – nutzt aber nichts. Im schlimmsten Falle klingeln an einem einzigen Tag gleich mehrere Paketdienste und reißen mich aus Arbeitsflow oder Ruhepuls. Immer neue Kartons für die Nachbarn (auch auf der anderen Straßenseite) würden die uniformierten Boten gerne bei mir zwischenlagern. Gänzlich unbezahlt soll ich so die Lieferkette für Firmen mit Milliardenumsätzen vervollständigen.

Mittlerweile frage ich über die Gegensprechanlage, für wen denn die Sendung bestimmt sei und nehme nichts an, es sei denn, Freunde oder Kollegen schickten uns etwas Gutes. Besonders dreist: Die Paketfahrer bestehen bei der Annahme einer Sendung für Dritte auf einer Unterschrift – womit sie aus der Haftung raus wären und ich irgendwie drin.

Am Gängelband: Please hold the line!

Wer kennt das nicht? „Zurzeit ist leider kein Kundenberater frei, die Wartezeit beträgt voraussichtlich 17 Minuten.“ Spätere Anrufe werden ähnlich abgefertigt. Glücklich, wer an ein Unternehmen gerät, das einen Rückruf anbietet. Doch auch das kann dauern und man muss in der Nähe des Telefons bleiben, sozusagen im Stand-by-Modus, damit das Unternehmen selbst bei geringstem eigenen Personalaufwand wie geschmiert agieren kann. Ob der Kunde aus dem Takt kommt oder gestört wird? Zählt doch nicht.

Termin-Vereinbarungen: Pünktlichkeit ist eine Zier …

Besonders viel Zeit muss sich nehmen lassen, wer auf Handwerker oder Wasseruhr-/Strom-/Heizungs-Ableser wartet. Diese Freibeuter gehen schlicht davon aus, dass der Kunde sich einen halben oder ganzen Tag Urlaub nimmt, um dem frei flottierenden Arbeitsmanne ein schön großes Zeitfenster offenzulassen, durch das er dann zur Tür hereinkommt. Zeitangaben wie „Unser Mitarbeiter wird Sie in der Zeit von 10 – 16 Uhr zu erreichen versuchen“ sind keine Seltenheit. Wenn man besonderes Pech hat, kommt der Mitarbeiter sowieso nicht und die Zentrale des Unternehmens schlägt einen zweiten Termin vor, der diesmal aber kostenpflichtig sei, weil man ja beim ersten Termin nicht anzutreffen war? Wie bitte?

Rottweiler und kölscher Klüngel

Damit die Banken noch mehr Personal einsparen und Filialen schließen können, hatte die Rottweiler Sparkasse eine die Unternehmensressourcen langfristig schonende Idee: „Die Kreissparkasse Rottweil bietet zu verschiedenen Terminen kostenlose Schulungsnachmittage für neue Online-Banking-Teilnehmer an.“

Die Sparkasse KölnBonn ist da kundenorientierter und beglückt ihre Onliner in spe immerhin in der Eingeborenensprache: „Die Sparkasse (…)  macht das Online-Banking kölsch. In Zeiten, in denen durch Online-Banking Besuche in der Filiale vor Ort und das Schwätzchen op Kölsch mit den Angestellten immer seltener werden, bringt die Sparkasse damit ein Stück Kultur in ein neues Zeitalter. Umsatzabfrage heißt auf kölsch Ömsatzavfrog (…). Kölsch-Fans können seit dem 1. Dezember ihre Online-Bankgeschäfte in der Sprache machen, ‚die mer’n Düsseldorf zwar Rheinisch, doch em Rest der Welt Kölsch nennt‘ – wie schon BAP sang.“

Wenn dann der Kunde am Ende seinen PC, sein Telefon, seinen Strom und seine Zeit nutzt, um Buchungen anstelle der Sparkasse durchzuführen, dann geht ihm vielleicht doch noch auf: „Ich han zwei Arm för ze arbeide, zom Jlöck ävver och zwei Bein för dr Arbeit us dem Wääch ze jon.“

Arztpraxen: Die Dosis macht das Gift

Da merkt man doch gleich, dass die Halbgötter in Weiß immer noch eine Sonderstellung einnehmen. Wie sonst nur bei Gericht verschwendet man in deutschen Wartezimmern ganze Tage mit der Lektüre der Regenbogenpresse, mit angenehmen Gesprächspartnern im Austausch über Hämorrhoiden oder Zahnstein. Gern auch im Stehen, weil’s Wartezimmer schon voll ist. Man kam ja wegen des Rückens, da sollte man einmal gezielt in den Lendenbereich hineinspüren, bevor sich der Doc drei Minuten Zeit nimmt („Jaja, die Budgetierung …“), um eine Anstaltspackung Ibuprofen 800 zu verschreiben.

Patienten zur Verfügung

Meine Frau musste sich einer Fuß-OP unterziehen. Zuvor gab’s einen OP-Vorbereitungstag, einen Staffellauf für Masochisten, eine Art Aufnahme-Hindernisparcours. Eine Station bildete das Aufklärungsgespräch beim Narkose-Doc. Leider war der an dem Morgen aber auch als Notarzt eingeteilt. Die Patienten fanden sich also brav ab 9.30 Uhr ein, um auf die Sprechstunde zu warten, die dann aber erst ab 12.30 Uhr begann und nur eine knappe Stunde dauerte, weil der Betäubungsspezialist als Notarzt wieder ausrücken musste. Ich vermute, dass einige Patienten im Bergmannsheil GE-Buer (als Mitbewerber um eine OP) mittlerweile mumifiziert keinerlei Narkose mehr benötigen.

Unter allen Häubchen nur Geflügelformfleisch

Meine Frau hatte Glück. Ihr Gespräch fand um 13 Uhr statt. So viel Fortune muss aber auch bestraft werden. Das geschah dann am OP-Tag selbst, als sie sich um 7.30 Uhr einzufinden hatte, um erst gegen 11 Uhr Zimmer und Bett zugewiesen zu bekommen. Schön, dass sie während der Wartezeit in einer Sitzecke auf ungastlichem Flur (sie ist übrigens Privatpatientin!) an diesem Donnerstagmorgen doch noch Besuch bekam – von einer Diätassistentin. Für Freitagmittag wurde überlebens-optimistisch Wok-Gemüse bestellt.

Am Freitag kam tatsächlich auch ein Tablett mit einem Laufzettel, „Wok-Gemüse“ stand drauf. Hob man aber die Plastikhaube vom Teller, schwamm da ein aufgeweichtes Geflügelschnitzel in reichlich Tomatensauce, dazu Reis. Ich bin dann für meine Frau zu den Damen der Essensauslieferung geeilt. Dort beschied man mich, dass wir wohl zu spät oder vielleicht das Falsche bestellt hätten. Dieser Irrtum konnte ausgeräumt werden. Schnell wurde auf dem Transportwagen nach einem anderen Tablett mit Wok-Gemüse-Laufzettel gesucht und siehe da, es gab derer noch einige. Unser Pech: Unter allen Häubchen nichts als Geflügelformfleisch in Tomatenbad. „Da ist wohl einiges schiefgelaufen …“, hieß es schon kleinlauter. Immerhin, oft hört man bei solchen Gelegenheiten sonst nur den Satz: „Da sind Sie aber der Erste, der sich beschwert.“

Jedenfalls gab’s an dem Tag kein Mittagessen mehr für meine Frau. Ich bin dann ab in die Cafeteria, um in einer langen Schlange allmählich zur Essensausgabe vorzurücken. Und was gab es da Herrliches für Gäste und Angestellte? Unter anderem: Wok-Gemüse! Frisch aus der China-Schüssel! Vom Chef selbst geschwenkt.




„Pest!“ – Herner Museum für Archäologie beleuchtet die Geschichte der furchtbaren Seuche

Seltsames Phänomen: Ein solcher „Rattenkönig" (mit den Schwänzen verknotete Tiere) galt besonders in der frühen Neuzeit als böses Omen im Hinblick auf die Pest. (Foto: LWL/P. Jülich)

Rätselhaftes Phänomen als Ausstellungsstück, für zart besaitete Gemüter nur bedingt geeignet: Ein solcher „Rattenkönig“ (an den Schwänzen miteinander verknotete Tiere) galt besonders in der frühen Neuzeit als böses Omen im Hinblick auf die Pest. (Foto: LWL/Peter Jülich)

Die Pest ist weit mehr als „nur“ eine Krankheit. Diese Seuche, die im Laufe der Epochen Hunderttausende dahingerafft hat, ist überhaupt zu einem Mythos des Weltübels geworden, der auch etliche Redewendungen geprägt hat. Etwas hassen wie die Pest. Nur die Wahl zwischen Pest und Cholera haben. Und so weiter. Das LWL-Museum für Archäologie in Herne hat sich also an ein wahrhaft globales Schreckensthema gewagt. Die Ausstellung heißt einfach „Pest!“ Mit Ausrufezeichen.

Globales Thema? Aber ja. Während man früher in eurozentrischer Beschränkung gedacht hat, die fürchterlichen Pandemien im 6. Jahrhundert n. Chr., sodann – noch berüchtigter – im 14. Jahrhundert und schließlich im 19. Jahrhundert seien die Seuchen-Katastrophen schlechthin gewesen, muss man diese Sicht wohl revidieren. Die Pest dürfte seit jeher auf Erden viel weiter verbreitet gewesen sein. Mehr noch: Neuere Untersuchungen haben den Pesterreger schon in steinzeitlichen Funden nachgewiesen.

Die Pest ist eine Krankheit, die zunächst vor allem Nager befällt. Unter dem Mikroskop sieht ein Floh, der die Pest von Ratten Menschen übertragen kann, so aus. (Foto: LWL/S. Leenen)

Die Pest ist eine Krankheit, die zunächst vor allem Nager befällt. So sieht unter dem Mikroskop ein Rattenfloh aus, der durch seine Stiche die Pest auf Menschen übertragen kann. (Foto: LWL/Stefan Leenen)

Um solch spannende Erkenntnisse herum hat der Kurator Dr. Stefan Leenen die lehrreiche Ausstellung mit rund 300 archäologischen und kulturgeschichtlichen Belegstücken entwickelt; manche Exponate erzählen kleinere Geschichten, andere rufen wahre Epen wach.

Schnabelmasken nur die Ausnahme

In Herne räumt man mit einigen Legenden auf. So sind die immer wieder ikonisch abgebildeten Pest-Doktoren mit den langen Schnäbeln in Wirklichkeit die Ausnahme gewesen. Dennoch hat man ihnen eine imposante Masken-Installation gewidmet.

Der Rundgang beginnt mit dem kleinsten „Exponat“, dem nur unterm Mikroskop sichtbaren Erreger-Bakterium „Yersinia Pestis“. Das Exemplar ist natürlich tot, es kann keinen Schaden mehr anrichten. Es stammt übrigens aus Beständen der Münchner Bundeswehr-Hochschule. Ausschließlich dort darf in Deutschland an Pest-Bakterien geforscht werden.

Die in diesem Grab beigesetzten Toten starben nachweislich an der Pest (Archäologische und Anthropologische Staatssammlung München, 550 n. Chr. (Foto: LWL/P. Jülich)

In Herne gezeigt: Skelette zweier Pest-Opfer aus dem 6. Jahrhundert. (Archäologische und Anthropologische Staatssammlung München, 550 n. Chr.), dahinter ein Teil der großen Leuchtwand mit Totentanz-Motiven. (Foto: LWL/Peter Jülich)

In Europa wurde das Bakterium hauptsächlich durch Ratten verbreitet, die die Krankheit via Flohbefall übertragen haben. In anderen Weltgegenden waren es andere Nager wie etwa Murmeltiere. Solche (mikro)biologischen Zusammenhänge werden zu Anfang erläutert.

Skelette und Totentanz

Im Zentrum des Ganzen erhebt sich als Leuchtwand ein zehn mal vier Meter großes Schaubild, ein Totentanz nach traditionellem Vorbild, jedoch in moderner Gestaltung. Davor sieht man die ungemein gut erhaltenen Skelette zweier Pest-Opfer aus dem 6. Jahrhundert. Man kommt nicht umhin, so etwas zu zeigen. Insgesamt geht man das Thema allerdings möglichst nüchtern an – ohne unnötige Gruseleffekte. Bloß keine Horror-Show!

Dennoch gibt es Gründe zum Erschrecken. Beispielsweise über hysterische Schuldzuweisungen, über mit Folter erzwungene Geständnisse. Die so rätselhafte Pest wurde oftmals Fremden und nicht selten jüdischen Bürgern angelastet. Davon zeugt etwa ein 1348 aufgesetztes Dokument aus Frankfurt, in dem bereits die posthume Verteilung jüdischer Habe „geregelt“ wurde.

Furchtbar auch die Anfänge dessen, was man fast schon als biologische Kriegführung bezeichnen könnte: Im 17. Jahrhundert wollte der venezianische Geheimdienst mit Pestsekret bestrichenen Filzstoff an Türken verkaufen. Der hinterhältige Plan wurde aber durchkreuzt.

Religiöse Folgen der Seuche: Der heilige Rochus von Montpellier wurde im ausgehenden Mittelalter als Helfer wider die Pest verehrt (Foto: LWL/P. Jülich)

Eine von zahlreichen religiösen Folgen der Seuche: Der heilige Rochus von Montpellier wurde im ausgehenden Mittelalter als Helfer wider die Pest verehrt. (Foto: LWL/Peter Jülich)

Breiten Raum nehmen religiöse Folgen der Pest ein, die vielfach als Strafe Gottes galt. Einige Objekte beziehen sich auf spezielle Schutzheilige wie Sebastian und Rochus oder auf die Entstehung von Bitt-Prozessionen, deren Nachfolger sich teilweise bis heute gehalten haben, so u. a. in Münster und Castrop-Rauxel. Apropos Westfalen: Im Gefolge der Pest lagen hier – wie auch andernorts – Wirtschaft und der Handel darnieder, ganze Landstriche entvölkerten sich.

Heilpflanzen mit Gold gemixt

Weiterer Schwerpunkt sind Versuche, die Menschen mit den damaligen Mitteln der Medizin zu kurieren. Wie u. a. Rezeptbüchern zu entnehmen ist, experimentierte man mit allerlei Heilpflanzen. Arme Leute fanden sie kostenlos am Wegesrand, für Wohlhabende wurden Mittel mit teuren Gewürzen und Gold gemixt. Geholfen hat beides nicht. Auch Tabaksrauch, Aderlass und Einläufe blieben wirkungslos.

Glaube, Aberglaube und Wissenschaft waren noch nicht streng voneinander geschieden. Doch ein bizarres Exponat wie jener Schwarze Hahn, der als Sinnbild des Urbösen heilsam auf Pestbeulen gesetzt werden sollte wie auf ein Ei, dürfte schon damals eher ungläubige Verwunderung ausgelöst haben.

Schwerstes Schaustück ist übrigens ein kapitaler Anker. Er gehörte zum französischen Schiff „Grand Saint Antoine“, mit dem 1720 die Pest nach Marseille kam.

Die Pest, so ein Fazit der Schau, ist ein steter Begleiter der Menschheit. Auch heute noch bricht sie manchmal epidemisch aus, zuletzt 2017 auf Madagaskar. Nur gut, dass man der Seuche seit Entdeckung des Pesterregers anno 1894 (vor 125 Jahren) nicht mehr schutzlos ausgeliefert ist.

„Pest!“ LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Noch bis zum 10. Mai 2020. Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So 11-18 Uhr.

https://pest-ausstellung.lwl.org/de/

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Der Beitrag ist zuerst gedruckt erschienen, und zwar im „Westfalenspiegel“. Internet-Auftritt des Magazins, das in Münster herauskommt: https://www.westfalenspiegel.de/




„Der vergessliche Riese“: David Wagner schildert das Leben mit einem demenzkranken Vater

Dieses Buch hat viele berührende Momente, wobei man sich als Leser hin- und hergerissen fühlt zwischen Lachen, Schmunzeln und Nachdenklichkeit. In „Der vergessliche Riese“ erzählt der preisgekrönte Autor David Wagner – autobiografisch gefärbt – über (s)einen demenzkranken Vater.

Wer allein schon bei dem Thema meint, das Buch besser nicht anrühren zu wollen, weil er ohnehin nur ein Horrorszenario geboten bekomme, sollte bedenken, dass dem Verfasser ein durchaus schwieriger Spagat gelingt. Er beschreibt zwar äußerst anschaulich, wie die Krankheit die Persönlichkeit eines Menschen verändert, kommt aber ohne grauselige Szenen aus. Und auch das gesamte Umfeld betrachtet den Mann keineswegs nur als eine reine Belastung.

Vielmehr wirken manche Situationen eher skurril. Beispiel: Auf der mehrstündigen Fahrt zur Beisetzung einer verstorbenen Tante erwähnt der Vater zwar dauernd die nahe Verwandte, aber der Sohn muss ihn immer wieder darin erinnern, dass sie nicht mehr lebt. Nun findet die Beerdigung in Bayreuth statt, das weckt bei dem Senior, einem großen Klassikfan, noch ganz andere Assoziationen

„…im Alter aber werden sie alle blöd“

Wann das Gedächtnis funktioniert und wann nicht, das ruft oft Erstaunen hervor. Plötzlich kennt der Vater bei dem Besuch eines Schnellimbisses McNuggets, von seinen beiden verstorbenen Frauen weiß er hingegen nichts mehr. Spricht man ihn darauf an, kommen ihm die Ehen blitzartig wieder in den Sinn, aber zwei Sekunden später hat er sie schon wieder vergessen. Fast schon wie eine Dauerschleife folgt ein sarkastischer Spruch über seine Familie: „Die Dublanys sind sehr intelligent, im Alter aber werden sie alle blöd“. Nachgeschoben wird dann meist angesichts des Todes der zwei Ehefrauen: „Ich muss ja schwer auszuhalten sein“.

Zu seinem Sohn hatte er lange Jahre ein sehr abgekühltes Verhältnis. Dass der Leser erst nach und nach erfährt, worin die Ursachen lagen, lässt durchaus einen gewissen Spannungsbogen entstehen. Zum einen hatte das etwas mit der zweiten Frau zu tun, zum anderen mit seiner Selbstständigkeit als Unternehmer. Man kann es nur erahnen, auch seine umtriebige Geschäftstätigkeit ist aus den Erinnerungen verschwunden.

Große Gelassenheit – und Gewissensbisse

Mitunter wirkt der Sohn aber auch erschüttert darüber, was sein Vater unwiderruflich vergessen zu haben scheint. Manchmal sind es familiäre Ereignisse, insbesondere trifft es aber den Beruf. Dass sein Vater ihn nicht bei dem Vornamen nennt, sondern andauernd mit „Freund“ anspricht, nimmt er ganz gelassen hin, wobei die Anrede befremdlich und zugleich vertraut klingt.

David Wagner beschreibt eine Familie, die sehr liebevoll mit dem Demenzkranken umgeht. Die gesamte Atmosphäre zeichnet eine große Gelassenheit aus. Da wird dann auch dem Vater zum x-ten Mal erklärt, welche Wohnungen und Autos er hatte. Wenig nimmt der Leser allerdings von den Befindlichkeiten des Sohnes wahr, der einen doch herausfordernden Prozess durchlebt. Dass sein Vater längst nicht mehr „der Riese“ ist, wie er ihn als Kind gesehen hat, versteht sich selbstredend, aber nun hat er es mit einen vollkommen vergesslichen 73-jährigen Mann zu tun.

Während zu Beginn des Buches der Senior in seinem eigenen Haus leben kann (zwei Betreuerinnen kümmern sich abwechselnd um ihn), wird dann doch der Wechsel in ein Pflegeheim unausweichlich. Darüber nicht richtig reden zu können oder zu wollen, hinterlässt bei dem Sohn Gewissensbisse.

David Wagner: „Der vergessliche Riese“. Roman. Rowohlt Verlag, 272 Seiten, 22 Euro.




Der Mensch zwischen Tieren und Robotern: Windungsreiche Münsteraner Schau rund ums Gehirn

Geheimnisvoll und etwas gruselig: Blick in die „Galerie der Gehirne". (Foto: Bernd Berke)

Geheimnisvoll und etwas gruselig: Blick in die „Galerie der Gehirne“. (Foto: Bernd Berke)

Es gibt keinen Grund zur darwinistischen Überheblichkeit: Im Vergleich zu den Tieren hat der Mensch gar nicht so furchtbar viele exklusive Anlagen. Mit solchen Erkenntnissen lehrt die neue Münsteraner Ausstellung „Das Gehirn. Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl“ auch etwas Bescheidenheit oder gar Demut.

Gleich am Beginn steht das größte Exponat, ein veritables Londoner Taxi aus den 1970er Jahren, in das man auch einsteigen soll. Nanu? Was hat das mit dem Gehirn zu tun? Nun, hier erfährt man, dass angehende Taxifahrer, die sich den komplizierten Londoner Stadtplan einpauken, nachhaltig von der Mühsal profitieren. Anschließend sind die Hirnbereiche, die mit Orientierung zu tun haben, deutlich ausgeprägter als vorher. Eine frohe Botschaft, übrigens auch und gerade für ältere Probanden.

Trio der Ausstellungsmacherinnen (von links): Dr. Julia Massier, Nicola Holm und LisaKlepfer) mit dem größten Exponat, inem original Londoner Taxi. (Foto: LWL/Steinweg)

Die drei Ausstellungsmacherinnen (von links): Julia Massier, Nicola Holm und Lisa Klepfer mit dem größten Exponat, einem original Londoner Taxi. (Foto: LWL/Steinweg)

Imposante Fülle der Exponate

Im LWL-Museum für Naturkunde werden 1200 Quadratmeter Ausstellungsfläche mit 770 Objekten rund ums Thema Gehirn „bespielt“. Damit ist es deutschlandweit die bei weitem größte Ausstellung zu dieser Materie. An über 60 Medienstationen können Besucher(innen) weiterführende Informationen sammeln oder ihre kognitiven Fähigkeiten erproben, sich jedenfalls zum Nachdenken und Nachfühlen anregen lassen. Zwei bis drei Stunden Zeit sollte man möglichst mitbringen, um die Fülle halbwegs auszuschöpfen. Aber gemach! Die Schau dauert beruhigende 16 Monate.

Ausgestopfte Tiere, die man gemeinhin in Naturkundemuseen erwartet, sind hier auch reichlich zu finden, doch sind sie nicht das Eigentliche, sondern dienen eher als sinnfällige Dekoration. Der themengerecht windungsreiche, ansprechend gestaltete Rundgang führt in etliche Bereiche, die man mit dem Gehirn assoziiert.

Da geht es zunächst um anatomische Voraussetzungen und Entwicklungen, sodann um natürliche und künstliche Intelligenz, Wahrnehmung, Gefühle, Ich-Bewusstsein, Schlaf und Traum, psychische Erkankungen, Drogen und schließlich um Verhaltenssteuerung (Stichwort „Gehirnwäsche“) des für allerlei Einflüsse empfänglichen, ja anfälligen Organs. Überhaupt erweist sich die Schau keineswegs als rein naturkundlicher Streifzug, sondern als Unterfangen, das weit in psychosoziale Sphären reicht.

MM7 Selector mit der groben Mechanik

Das eingangs erwähnte Taxi ist dabei nicht das einzige auffällige Exponat. Da wäre zum Beispiel KIM, ein Roboter mit 3D-Kamera und ausgeklügelter Sensorik (Kostenpunkt rund 40.000 Euro), der leise auf Rollen durch die Räume gleitet, zielsicher zu bestimmten Exponaten hinführen und sie einigermaßen eloquent erklären kann. Er wirkt in gewissen Momenten freilich noch etwas störrisch. Aber keine Angst: Er fährt einen nicht um, sondern bremst stets rechtzeitig! Das hat ein ähnliches Exemplar auch schon in der Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA bewiesen.

KIM steht übrigens für „Künstliche Intelligenz im Museum“. Einer seiner frühen Vorläufer, der Maschinenmensch MM7 Selector, ist gleichfalls zu bestaunen. Das ziemlich ungeschlacht aussehende Monstrum wurde bereits 1961 vom Visionär Claus Christian Scholz-Nauendorff entwickelt, ist aber kein echter Roboter im heutigen Sinn. Es wollte sozusagen erst einer werden und musste sich noch mit grober Mechanik begnügen.

Früher Vorläufer heutiger Roboter: der „MM7 Selector", eine kybernetische Maschine von 1961/62. (Foto: © Technisches Museum Wien)

Früher Vorläufer heutiger Roboter: der „MM7 Selector“, eine kybernetische Maschine von 1961. (Foto: © Technisches Museum Wien)

Daran knüpfen sich Fragen nach dem heutigen Stand der Robotertechnik. Man ist drauf und dran, ihnen beizubringen, angemessen auf menschliche Mimik und somit auf Emotionen einzugehen – vielleicht zeichnet sich da eine (Neben)-Lösung im Pflegebereich ab? Gleichzeitig weckt derlei Fortschritt natürlich auch Ängste: Werden wir Menschen eines (nicht so fernen?) Tages in die hinteren Reihen rücken und von Robotern nicht nur entlastet, sondern regiert werden?

Zwei Schnittproben von Einsteins Hirn

Zurück zur Natur: Gibt es äußere Merkmale für besonders kluge Gehirne? Schon vorab wurden zwei Exponate besonders beworben, nämlich in einer Art Schrein präsentierte, haudünne Schnitte durchs Gehirn des Genies Albert Einstein, die aus einem Museum in Philadelphia (USA) eingeflogen wurden. Freilich hat keiner der vielen, vielen Hirnforscher, die solche Schnitte untersuchen durften, bisher spezielle physische Merkmale der überragenden Intelligenz Einsteins nachweisen können – wie denn überhaupt dieses Fachgebiet immer noch und immer wieder Rätsel bereithält. Auch das kann man eher beruhigend finden.

Nebenbei bemerkt: Zur Pressekonferenz lag auf jedem Stuhl u. a. ein Stück Seife in Form eines Gehirns. Die morbide kleine Morgengabe war mit einem Zettel versehen, auf dem „Gehirnwäsche“ stand. Beim Museumsträger, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), hat man offenbar schwarzen Humor.

Etwas gruselig kann einem auch in der geheimnisvoll abgedunkelten „Galerie der Gehirne“ zumute werden. Hier sind gleich 71 echte, in Gläsern konservierte Hirne verschiedener Lebewesen zu sehen, die frappierende anatomische Vielfalt reicht von Frosch und Fledermaus bis zum Elefanten. Die allermeisten Beispiele stammen aus der umfangreichen „Edinger-Tiergehirnsammlung“. Sie werden ergänzt durchs Gehirn und das filigran verzweigte Nervensystem eines Berberaffen, präpariert vom nicht ganz unumstrittenen Plastinator Gunther von Hagens.

Die Wahrnehmung eines Elefanten

An einer anderen Station kann man sich – ein wenig – hineinversetzen in die Wahrnehmung diverser Tiere, die ja ganz andere Farbspektren und Tonfrequenzen aufnehmen können. Auf einer Vibrationsplatte stehend, kann man etwa das Sensorium eines Elefanten nachempfinden, der höchst sensibel auf geringste Erderschütterungen reagiert. Grotesk wirken jene Menschen- und Tiermodelle, deren tastempfindlichste Körperstellen entsprechend optisch vergrößert wurden. Deshalb hat die scherzhaft so genannte „Homunculine“ riesige Finger. Und das Kaninchen… Aber sehen Sie selbst!

Visualisierte Tastempfindlichkeit: „Homunculine", Kaninchen und Maulwurf. (Foto: Bernd Berke)

Visualisierte Tastempfindlichkeit: „Homunculine“, Kaninchen und Maulwurf. (Foto: Bernd Berke)

Sogar ein kleines, unscheinbares Bild von Pablo Picasso ist zu sehen, daneben vom Computer programmierte „Kunst“ – und die Hervorbringung eines Schimpansen, der angeblich nach und nach sogar einen „Stil“ entwickelt haben soll. Das bodenlose Fass, was nun Kunst und wer ein Künstler sei, will das Museum mit diesem Arrangement eigentlich nicht aufmachen. Zu erwarten steht jedoch, dass die einen oder anderen Betrachter dies trotzdem tun.

Auch Tiere berauschen sich

Man kann längst nicht alles erwähnen, so vielfältig und reichhaltig ist diese Ausstellung. Schon beim zügigen Rundgang lassen sich einige erstaunliche Einsichten gewinnen. So etwa die, dass nicht nur Menschen (allerdings erst mit etwa 18 Monaten), sondern auch manche Tierarten ein rudimentäres Ich-Bewusstsein entwickeln und sich selbst von anderen Exemplaren ihrer Spezies zu unterscheiden wissen. Ihnen ist offenbar auch vor dem Spiegel klar, dass sie sich selbst sehen. Und dabei reden wir nicht nur z. B. über Affen, Delfine und Hunde, denen man das wohl zugetraut hat, sondern beispielsweise auch über Schweine.

Dass Tiere ängstlich oder aggressiv sein können, weiß man. Die Ausstellung begibt sich darüber hinaus auf die aussichtsreiche Spur der Vermutung, dass sie auch ein (etwas anders gelagertes) Gefühlsleben haben. Noch in einer weiteren Hinsicht verhalten sich Tiere wie Menschen, sie berauschen sich nämlich ganz gezielt mit allerlei „Drogen“. So bevorzugen manche Arten Rauschpilze oder Mohn, andere wiederum pfeifen sich das Sekret von Tausenfüßlern ‚rein, um es mal salopp zu sagen. Da gerät ihr Gehirn gleichsam ins Schwirren, Schwanken und Tanzen.

„Das Gehirn. Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl.“ LWL-Museum für Naturkunde, Münster, Sentruper Straße 285 (neben dem Allwetterzoo). Vom 29. Juni 2018 bis zum 27. Oktober 2019. Geöffnet Di bis So 9-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro (Erwachsene), 4 Euro (Kinder), 14 Euro (Familien).

Weitere Infos: www.das-gehirn.lwl.org




Abwarten statt Arztbesuch: Autorenduo empfiehlt mehr Gelassenheit bei körperlichen Beschwerden

Da möchte der Patient so schnell wie möglich einen Arzt aufsuchen, doch er muss eine Wartezeit von mehreren Wochen in Kauf nehmen. Vorher ist kein Termin mehr frei. Frust macht sich breit, vielleicht auch Angst um die Gesundheit. Doch nach Lektüre des Buches „Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker“ kommt man als Leser wohl unweigerlich zu dem Schluss, dass es vielleicht sogar besser ist, auf einen Arztbesuch ganz zu verzichten.

Drei mögliche Szenarien: 1. Die Beschwerden verschwinden schneller als gedacht. Dann wäre der Termin reine Zeitverschwendung. 2. Es erfolgt eine medizinische Behandlung, aber der Gesundheitszustand verbessert sich nicht. 3. Die Therapie, die der Arzt empfiehlt, schadet dem Patienten mehr als sie nützt, denn beispielsweise verträgt sich das verschriebene Medikament nicht mit einer anderen Arznei.

Auf der Basis umfangreicher Recherchen

Wer nun meint, solche Szenarien seien doch eher die Ausnahme als die Regel, den belehren die Medizinjournalisten Dr. med. Ragnhild Schweitzer und Jan Schweitzer eines Besseren, wobei das Autorenduo keineswegs mit erhobenem Zeigefinger daherkommt. Ihr Anliegen besteht schlichtweg darin, die Auswüchse des Gesundheitssystems zu hinterfragen, wobei sie ganz klar hervorheben, dass es „Leiden gibt, die unbedingt in die Hände eines Arztes gehören, der sie mit schulmedizinischen Methoden behandelt“.

Aber beide Ehepartner haben selbst in Krankenhäusern gearbeitet, beide haben umfangreiche Recherchen zu Untersuchungsmethoden, Krankheitsbildern sowie Behandlungserfolgen (und Misserfolgen) betrieben, um für eine „gewisse Gelassenheit und Zurückhaltung“ bei vielerlei Symptomen zu plädieren. Eine große Verantwortung sehen sie auf Seiten der Ärzte, die bei Kniebeschwerden nicht gleich eine Spiegelung veranlassen, bei Rückenbeschwerden auf sofortiges Röntgen verzichten und auch bei einem Leistenbruch nicht zwingend operieren sollten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Oft mehr Schaden als Nutzen

Denn: Die Gefahr, dass das Knie beschädigt wird, ist unter Umständen nicht weniger groß als die Röntgenstrahlenbelastung, der der Patient trotz aller heutigen Sicherheiten ausgesetzt ist. Und auch beim Leistenbruch kommt man gegebenenfalls auch um eine OP herum, die dem Körper enorme Strapazen abverlangt. Mehr Vorsicht sollte auch im Umgang mit Antibiotika herrschen, so die Autoren. Bei Erkältungskrankheiten, die durch Viren ausgelöst werden, helfen sie nämlich nicht wirklich.

Nun könnte man meinen, dass akute Beschwerden und ernsthafte Erkrankungen vermeidbar sind, wenn sich der Patient frühzeitig Check-ups und Früherkennungen unterzieht. Aber auch da sind die Aussagen der Autoren ernüchternd: Der Patient kann von den Möglichkeiten Gebrauch machen, er muss es aber nicht, lautet die Quintessenz. Umfangreiche Auswertungen von Statistiken haben gezeigt, dass sich die Sterblichkeitsrate derer, die regelmäßig zur Kontrolle gehen, nicht von der jener Menschen unterscheidet, die auf solche Untersuchungen verzichten. Der einzige Unterschied: Die Check-ups fördern meist bestimmte Auffälligkeiten zu Tage, z.B. erhöhte Cholesterinwerte, die dann auch behandelt werden. Ob aber ein Zusammenhang mit der späteren Todesursache besteht, lässt sich statistisch kaum nachweisen.

Wenn die Untersuchung Probleme erst erzeugt

Ausführlich, detailliert und auch sehr persönlich geschrieben, setzen sich die Autoren mit dem Thema der Früherkennung von Krebs auseinander. Dabei wird ihr Verständnis für den Wunsch der Menschen deutlich, über eine Tod bringende Gefahr in ihrem Körper alles wissen zu wollen. Doch die Zahlen, die in dem Buch beispielsweise zum Mammographie-Screening genannt werden, lassen durchaus Zweifel aufkommen, ob die Reihenuntersuchung zum Aufspüren von Brustkrebs wirklich als Erfolg zu werten ist.

Nicht anders sieht es beim Prostatakrebs aus, der mit der PSA-Wert-Bestimmung frühzeitig erkannt werden soll. Auch hier äußern die Journalisten Bedenken, ob diese Methode wirklich den Männern hilft. Richtig kritisch wird es bei Früherkennungsuntersuchungen allerdings, wenn eine Überdiagnose eintritt. Es wird zwar ein Krebs festgestellt, er hätte aber wohl nie Probleme gemacht, wenn man nicht nach ihm gesucht hätte. Dazu liefern die Verfasser ein besonders krasses Beispiel aus Südkorea: Frauen und Männer haben sich, weil es empfohlen wurde und preislich günstig war, in großen Scharen auf Schilddrüsenkrebs untersuchen lassen.

Erklärungen ohne medizinisches Kauderwelsch

Es kam, wie es kommen musste: Bei vielen Patienten wurde ein Tumor entdeckt, die Schilddrüse wurde ganz oder teilweise entfernt. Doch die Probleme fingen jetzt erst an: Die Menschen mussten nun ständig ihren Hormonhaushalt kontrollieren lassen und bei vielen waren durch die OP die Stimmbänder dauerhaft beschädigt.

Eingehend befassen sich die Journalisten mit den „Individuellen Gesundheitsleistungen“, kurz IGeL, und geben dem Leser Hilfen an die Hand, Nützliches von Überflüssigem zu unterscheiden. Überhaupt ist das Buch an vielen Stellen ein (flott geschriebener) Ratgeber. Die Leserinnen und Leser werden nicht mit medizinischem Kauderwelsch konfrontiert, sondern die Autoren erklären allgemeinverständlich, dass beispielsweise die Funktionsweisen des menschlichen Organismus nicht – wie es manche Ärzte versuchen – mit einem Auto vergleichbar sind. Der Körper reagiert oft anders als man denkt. Übrigens: Zur Ehrenrettung der Ärzte sei gesagt, dass nachweislich ein mit Bedacht geführtes Gespräch schon die Hälfte des Behandlungserfolgs ausmacht.

Dr. med. Ragnhild Schweitzer, Jan Schweitzer: „Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker – Warum Abwarten oft die beste Medizin ist“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 272 Seiten, 14,99 Euro.




Rutger Booß und seine ungebremste Seniorenbeschimpfung

Mit Dr. Rutger Booß, Gründer und damals auch noch amtierender Chef des Dortmunder Grafit-Verlags (führend im Regionalkrimi-Fach), hatte ich für einige Jahre ein kleines Ritual. Kurz vor Abreise von der Frankfurter Buchmesse habe ich jeweils noch auf einen Kaffee beim Grafit-Stand vorbeigeschaut. Es gehörte irgendwie dazu. Dortmunder müssen zusammenhalten, auch auf kulturellem Gebiet. Jetzt steht Rutger Booß, inzwischen 72, auf seine etwas älteren Tage unversehens auf Platz 9 der „Spiegel“-Bestsellerliste (Rubrik Taschenbücher / Sachbuch), und zwar mit einer als Rundumschlag angelegten Seniorenbeschimpfung. Diese Ausgangslage verlockt zum Lesen.

„Immer diese Senioren! 111 Gründe, warum sie uns in den Wahnsinn treiben“ heißt das naturgemäß (selbst)ironisch eingefärbte, aber nicht etwa durchweg unernst gemeinte Werk. Ich gebe freimütig zu: Diese allfälligen 50-, 99-, 100- oder halt 111-Gründe Bücher gehen mir allmählich auf den Geist. Meistes folgen sie einer Masche. Der Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf preist das Buch denn auch als „Stapeltitel“ an und hat massiv die Buchhandlungen damit geflutet.

Immer in Beige, immer drängeln

Schon klar: Die Senioren werden immer mehr und haben schon jetzt enormen Einfluss auf die Politik. Also muss man sie mal verbal verdreschen. Tatsächlich lässt Rutger Booß kein gutes Haar an seinen Generationsgenoss(inn)en. Hier müssen sich die bedauernswerten Durchschnitts-Senioren alles, aber auch alles zurechnen lassen, was irgendwo alte Menschen verzapfen – seien es nun „Eliten“ und Promis jeder Sorte, Einzelne aus der Menge oder die breite Mehrheit, die dümmlich bis kriminell agiert haben. Nun aber `ran an die Beispiele, Feixen hie und da garantiert:

Der Rentner, der gemeinhin in Beige herumtapert, sich rüpelhaft an der Supermarktkasse vordrängelt und dort umständlichst das Kleingeld abzählt oder zittrig Auto fährt, wird ausgiebig verspottet. Bejahrte Menschen hassen Kinderlärm, werfen aber selbst den Laubsauger an, wann immer sie wollen. Sie hocken ständig beim Arzt und klagen über ihre Wehwehchen, fallen auf dämliche Werbung und Nepper, Schlepper, Bauernfänger herein.

Alte Männer: geil, geizig und gierig

Ältere Polit-Darsteller von hohen Fürchterlichkeits-Graden (z. B. Berlusconi, Robert Mugabe, Erika Steinbach, Gauland, Trump) oder betagtere Sportfunktionäre (Blatter, Beckenbauer, Ecclestone) werden wortreich verdammt. Sie haben es ja allesamt verdient. Doch ich konnte bei der Lektüre nicht umhin, beim Thema Senioren gelegentlich (sozialpolitisch korrekt) auch an Altersarmut, Pflegebedürftige und Demenz zu denken. Solche kleinlichen Bedenken muss man entschlossen beiseite schieben, will man ein solches Buch schreiben. Dabei ist Rutger Booß doch eigentlich eher links gestrickt.

Autor Rutger Booß (Foto: Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf)

Autor Rutger Booß (Foto: Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf)

Doch im Buch mag er’s paukenschlagend pauschal. Senioren machen demnach eigentlich nur dummes Zeug. Sie kommen nicht mit dem Internet klar, verhindern durch ihre schiere Beharrungs-Masse Innovationen bei ARD und ZDF, verdingen sich als quasi untote Gestalten (Gunter Gabriel, Rainer Langhans etc.) im „Dschungelcamp“. Alte Männer sind in der Regel geil, geizig und gierig. Ergraute Schriftsteller wie Roth, Updike, Begley und Martin Walser stier(t)en geifernd jungen Mädchen nach.

„Landplagen“, wohin man auch schaut

Seniorenscharen, die überall die Wege versperren, bevölkern Kreuzfahrtschiffe auf Flüssen und Meeren. Und wenn sie erst auf ihre E-Bikes steigen, ist alles zu spät. Alte Herrschaften verfassen peinliche Memoiren, schreien ihren Unmut im Theater auf offener Szene heraus, besitzen offenbar immens viele Waffen, sind Mitglieder in lachhaft vorgestrigen Schützen- und Gesangsvereinen, sind Geisterfahrer, Rechthaber, Unfallflüchtige und Stalkerinnen. Sie alle sind – so ein Lieblingswort in diesem Buch – eine „Landplage“.

„Das alles und noch viel meheeeer“ wird auf mitunter fast penetrante Weise breitgetreten und ausgewalzt. Hat man einmal den eingefahrenen Duktus intus, reichen hernach vielfach die bloßen Kapitel-Überschriften zur Orientierung. Vieles ist ja richtig, doch gar manches ist auch wohlfeil.

Bei den bunten Seiten bedient

Quellen für die üblen Nachreden sind vorwiegend die vermischten Meldungen aus Tageszeitungen bzw. Online-Auftritten, hinzu kommen Wikipedia und Internet-Posts. Nicht jede Herleitung dürfte formal und inhaltlich einer kritischen Überprüfung standhalten. Egal. Man will sich ja in seiner polemischen Absicht nicht bremsen lassen. Auf den bunten Seiten ist ja alles schon so herrlich zugespitzt. Man muss sich nur umsichtig bedienen, die Stellensammlung ordnen und gut verrühren. Ich behaupte mal frech, dass der ebenso sympathische wie kluge Rutger Booß ein Buch deutlich unterhalb seines eigenen Niveaus geschrieben hat.

Apropos Zeitungen: Das muss ich jetzt auch noch loswerden. Booß, der im beschaulichen Herdecke lebt (wo schon Jürgen Klopp sein Domizil hatte), also in unmittelbarer Nachbarschaft von Dortmund, zitiert sehr häufig ausgerechnet die heimische WR = Westfälische Rundschau. Ich finde das ärgerlich, denn die seit Anfang 2013 redaktionslose Zeitung wird nur noch mit fremden Inhalten (WAZ, Ruhrnachrichten) am zombiehaften Leben erhalten und ist als „WR“ eigentlich gar nicht mehr so recht zitierfähig. Das Blatt ist keine Quelle mehr, sondern nur noch Abfüllstation.

Bleibt eine Frage: Wer ist eigentlich mit dem wohlig kollektiven „Wir“ („Warum sie u n s in den Wahnsinn treiben“) gemeint? Alle unter 80, 70, 65, 60? Alle Menschen, die guten Willens sind? Alle Junggebliebenen und solche, die es werden wollen? Da haben wir jetzt was zum Grübeln.

Rutger Booß: „Immer diese Senioren! 111 Gründe, warum sie uns in den Wahnsinn treiben“. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf. Taschenbuch, 272 Seiten. 9,99 €.




Wir Angsthasen und Zimperliesen: Die neue Empfindlichkeit

Sicher liegt es an dieser ordinären Currywurst in scharfer Soße, die ich gestern hemmungslos aus einer Pappschale gepickt und, jawohl, genossen habe. Ethisch nicht zu vertretende Schlachtprodukte, weiß der inzwischen omnipräsente Veganer, blockieren das Gutsein und fördern fiese Überlegungen.

Freunde, das mag sein. Jemand wie ich, der Fleisch, Fisch und tierische Segnungen wie Milch, Eier, Honig ohne Zögern zu sich nimmt, der frisst auch eure Bedenken. Mit Mayo. Es tut mir leid. Aber wann sind wir eigentlich alle so extrem empfindlich geworden? Je besser es uns geht, desto weniger können wir vertragen. Das gilt nicht nur fürs Essen, sondern auch für stickige Luft, Lärm und alles, was gegen unsere zimperlichen Gewohnheiten geht.

Illustration zu Andersens Märchen "Die Prinzessin auf der Erbse". (© Fotolia)

Illustration zu Andersens Märchen „Die Prinzessin auf der Erbse“. (© Fotolia)

„Stell dich nicht so an!“ Dieser barsche Satz gehörte in der Aufbauzeit des 20. Jahrhunderts zur Kindererziehung. Das war kein Spaß, kann ich jüngeren Lesern versichern. Wir mussten den Teller mit dem muffigen Kochfisch leeressen, bei Tisch die Klappe halten, im Stockdunklen einschlafen („Die Tür bleibt zu!“), sonntags ohne Widerspruch wandern und gruseligen alten Tanten ein Küsschen geben.

Verfeinerte Lebensart

All das wollten wir unseren eigenen Kindern nicht antun. Meine Tochter durfte sich Pommes bestellen, mit Erwachsenen plappern, nachts ihre Gänselampe anlassen und stets mit unserer Aufmerksamkeit rechnen. Auch wurde sie nie eiskalt abgeduscht, obwohl das sicher gesund ist. Keiner von uns wollte die Härte der von traumatisierenden Erlebnissen geprägten Kriegsgeneration an die Gesellschaft der Zukunft weitergeben.

Wir waren sensibel, wir wollten es sein. Für eine bessere Gesellschaft. Leider haben wir Gewalt und üble Absichten nicht aus der Welt schaffen können. Verrückte Diktatoren und hasserfüllte Fanatiker tummeln sich auch in der Gegenwart. Und was tun wir? Wir feilen wir an der eigenen Lebensart und haben sie so stark verfeinert, dass wir uns gegenseitig damit erheblich auf die Nerven gehen. Wir sind die Memmen des Alltags. Jeder Hauch von Zigarettenrauch widert uns an. Raus mit euch, ihr Qualmer!

Essen als Herausforderung

Ein gemeinsames Essen wird zu einer Herausforderung. Man muss so viel bedenken. „Kannst du eigentlich Brokkoli vertragen“, fragt mich meine Freundin Uschi, eine kreative Köchin. Nein, Süße, kann ich nicht. Auch andere gesunde Sachen wie Zwiebeln, Nüsse, Kohl und Linsen, sogar Salat sind schlecht für meine Art der Darmbeschaffenheit, um es mal vorsichtig auszudrücken. Ich hätte gern Maispoularde mit Kartoffelpüree. Und Suppe ohne Schnittlauch. Und bloß kein Körnerbrot. Lieber Baguette. Und zum Nachtisch keine Beeren. Aber gerne eine Schokoladen-Mousse.

Gut, dass meine Freundin nicht zugleich eine jener Frauen eingeladen hat, die abends keine Kohlenhydrate wollen und Zucker für pures Gift halten. Den größten Küchenstress hat Uschi, selbst eine erklärte Freundin von Gulasch und Leberkäs, in ihrem vegetarisch-kalorienarm orientierten Damenkränzchen, zu dem ich zum Glück nicht auch noch gehöre. Allerdings ist eine Allergikerin dabei, die weder Eier und Milchprodukte noch Schalentiere und Zitrusfrüchte vertragen kann – von Nüssen ganz zu schweigen.

Um es klar zu sagen: Einige Unverträglichkeiten können lebensgefährlich sein. Wer davon betroffen ist, hat keine Wahl, als auf die bedrohliche Eigenart seines Immunsystems Rücksicht zu nehmen. Aber niemand weiß genau, wie viele Menschen tatsächlich unter ernsthaften Allergien leiden. Nach Auskunft der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft zeigen etwa 27 Prozent aller deutschen Männer und 39 Prozent der Frauen in unserer (zu) gründlich geputzten Zivilisation allergische Reaktionen. Die meisten davon reagieren verschnupft auf Pollenflug, einige bekommen Bauchweh von Mehl oder Milch. Andere klagen über die Tücke der Hausstaubmilbe und lassen den Teppichboden entfernen. Nur ein glatter Boden ist ein guter Boden. Der lässt sich leicht wischen. Aber nicht mit scharfen Substanzen, davon brennen uns die Augen. Am besten nur mit Wasser.

Selbst Wasser wird zum Problem

Apropos Wasser. Selbst das harmlose Element ist ein heikles Thema für uns Empfindsame. Während in Dürre-Regionen jedes Schlammloch genutzt wird, müssen wir, was da klar aus der Leitung fließt, erst mit Magneten und Heilsteinen „lebendig“ machen, um es trinken zu können. Manche glauben, jeder Schluck Sprudel könnte ihren Bauch aufblähen und die Gesundheit ruinieren. „Mit oder ohne Kohlensäure“ ist in Lokalen inzwischen eine gängige Frage, genau wie „mit oder ohne Koffein“. Ein Luxusproblem, wie mir scheint.

So, wie wir nicht mehr einfach zu uns nehmen, was auf den Tisch kommt, kontrollieren wir stets die gewöhnlichen Bedingungen unserer Umgebung. Allem wird misstrauisch nachgefühlt. Ist es hier drin zu kalt oder zu warm? Zieht es von der Tür her? Reden die Leute zu laut? Muss ich mich umsetzen? Aber nicht an den Tisch zwischen Fenster und Spiegel! Da geht nach Feng Shui die Energie verloren.

Kein Filter für die Umweltreize

Hilfe, wir sind so empfindlich, es ist nicht auszuhalten mit uns! Tatsächlich erforscht die amerikanische Psychologin Elaine Aron (72) schon seit den 1990er-Jahren ein anschwellendes Phänomen, das sie „high sensitivity“ nennt, Hochsensibilität (HS). Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung, sind nach Ansicht der Bestseller-Autorin („Sind Sie hochsensibel?“) von dieser Besonderheit betroffen. Das heißt, sie nehmen die Reize ihrer Umwelt intensiver wahr als der Rest der Menschheit. Geräusche, Gerüche, Farben, zufällige Berührungen können für hochsensible Naturen schier unerträglich sein. Ihnen fehlt gewissermaßen der innere Filter, mit dem robustere Naturen ihre Wahrnehmungen dämmen.

Wenn es eng wird bei der Vernissage, flieht der hochsensible Typ nach Hause. Wenn das Ferienhotel neben der Durchgangsstraße liegt, muss er sofort abreisen. Er kann das weniger Angenehme einfach nicht ausblenden – und will es auch nicht. Wie der Antiheld aus Wilhelm Genazinos Roman „Mittelmäßiges Heimweh“. Zitat: „Ich muss überlaute Menschen rechtzeitig erkennen und ihnen schnell aus dem Weg gehen. Seit Wochen schon will ich private Lärmerwartungsstudien anstellen, damit ich im Straßenverkehr nicht mehr so oft erschreckt werden kann.“ Angst und das Bedürfnis nach Kontrolle gehören auch im wirklichen Leben zusammen.

Wie die Prinzessin auf der Erbse

„So ein Quatsch“, hätte meine Mutter dazu gesagt. Wie viele Zeitgenossen hatte sie früh gelernt, die eigenen Befindlichkeiten zu ignorieren, um Nazi-Terror, Kriegsnächte, mörderische Fluchten und Hunger zu überleben. Bis zuletzt mangelte es ihr an Zartheit. Wir behüteten Nachgeborenen hingegen scheinen geradezu stolz auf unsere Empfindlichkeit zu sein. Ja, vielleicht wollen wir sogar gern die Hochsensiblen sein. Und fein wie die „Prinzessin auf der Erbse“ aus Hans-Christian Andersens kleinem Märchen. Sie erinnern sich?

Es war einmal ein Prinz, der wollte partout eine Prinzessin heiraten. Doch er traf auf seinen Reisen nur Betrügerinnen. Da ersann die alte Königin zu Hause einen unfehlbaren Test. Sie ließ die nächste Kandidatin, die ganz durchnässt am Stadttor erschienen war, in der Schlafkammer übernachten. Ganz unten auf die Bettstelle hatte sie eine Erbse gelegt und darauf zwanzig Matratzen sowie zwanzig Eiderdaunendecken gestapelt. Als die Unbekannte am nächsten Morgen klagte, dass sie überhaupt nicht schlafen konnte, weil sie auf etwas Hartem gelegen habe, da wussten alle, dass dies die richtige Braut war. Denn: „So empfindlich konnte niemand sein außer einer echten Prinzessin.“

Und? Wie zickig ist das denn? Wir sind keine Märchenprinzessinnen und sollten unsere Empfindlichkeiten auf ein angemessenes Maß reduzieren. Wie wäre es mit einer Currywurst draußen an der Ecke, wo es zieht und der Verkehr vorüberrauscht? Nur so als Übung. Na bitte: Geht doch!




Wenn die Eschen und Kastanien sterben…

Obacht, hier kommt ein Text, der im naiv-grünen Sinne von „Mein Freund, der Baum“ rezipiert werden könnte und den manche vielleicht belächeln oder herzig finden werden. Mir doch egal. Ich mache mir trotzdem Sorgen um „unsere“ Kastanien. Und um ein paar andere Bäume, zum Exempel Eschen. Ernsthaft jetzt.

Das waren noch Zeiten: Kastanienblüte in der Dortmunder Arndtstraße am 8. Mai 2009. (Foto: Bernd Berke)

Das waren noch Zeiten: Kastanienblüte in der Dortmunder Arndtstraße am 8. Mai 2009. (Foto: Bernd Berke)

Die bange Rede ist von heftigen Baumkrankheiten, gegen die offenbar einstweilen kein Kraut gewachsen ist. Die Ruhrnachrichten schrieben bereits im Juli über „Blutende Stellen am Hauptstamm, eingetrocknete Äste“ und starken Blattverlust. Es schmerzt schon beim bloßen Lesen. Es sei denn, man gehöre zu jenen impotenten Vollidioten, die immer schon lauthals tröten „Mein Auto fährt auch ohne Wald“.

Was im Juli drohte, ist im September wohl noch dringlicher geworden. Dieser Tage berichtete der WDR in TV und Hörfunk (Landesstudio Dortmund) vom rapide fortschreitenden Befall. Während die Ruhrnachrichten noch quasi-wissenschaftlich vom Bakterium der Spezies Pseudomonas syringae pv. aesculi geraunt hatten, gab sich WDR-Autorin Claudia Wietfeld jetzt geradezu poetisch morbid: „Falsches weißes Stengelbecherchen – so schön der Name – so tödlich die Krankheit“.

Wenn man solchen winzigen Wesenheiten denn böse Absichten unterstellen will: Heimtückische Bakterien sind also am Siechtum der Kastanien schuld. In den Eschen-Beständen wütet derweil ein (asiatischer) Pilz. Die Bäume verfaulen elendiglich. Nur gut, dass wir sie nicht schreien hören.

Haben die lokalen Medien den Sachverhalt nun aufgebauscht oder womöglich sogar noch unterschätzt?

Schon werden die Äxte und Motorsägen geschärft: Hunderte Bäume müssen allein in Dortmund gefällt werden. Auch in den Nachbarstädten Hagen und Witten geht’s sozusagen ans Eingemachte. Und wer weiß, wo sonst noch überall. Schon munkelt man, in zehn bis 15 Jahren könne die Kastanie im Revier ganz und gar ausgestorben sein.

Alles bloße Panikmache? Das in den 80er Jahren immerzu beschworene Waldsterben ist ja auch nicht so apokalyptisch eingetreten. Und heute sehnen altgediente Zyniker an jedem etwas kühleren Tag den wahren Klimawandel mitsamt tropischen Temperaturen herbei.

Doch nun mal von der naturnahen, meinethalben treudeutschen Gemütsanwandlung („Waldeslu-hu-hust“) aufs Gelände der schieren Ästhetik, also zur Kultur übers Pflanzwesen hinaus: Ich mag mir einige schattige Straßen nicht ohne die bislang so majestätischen Kastanien vorstellen. Ich mag mir auch nicht ausmalen, dass Kinder in den Herbsten der näheren Zukunft keine herabgefallenen Kastanien mehr sammeln können, wie es gerade jetzt wieder an der Zeit ist. Mir geht’s da übrigens nicht nur ums Basteln von Kastanienmännchen.

Wieso ist eigentlich noch kein Gegenmittel gefunden? Schläft die Forschung? Und ist mal wieder vor allem das Ruhrgebiet betroffen, während Holsteiner, Bayern und Schwaben weiterhin unter Kastanien lustwandeln? Das kann doch wohl nicht wahr sein.




Soziale Miniaturen (16): Peinlicher Moment

Ein Plastikbecher dieses Typs... (Foto: BB)

Ein Plastikbecher dieses Typs… (Foto: BB)

Dieser Tage im Empfangsbereich einer ärztlichen Praxis: Ein älterer Mann im typischen Beige möchte seine Urinprobe abgeben. Er hat nicht gemerkt, dass er den Becher diskret in eine Durchreiche hätte stellen sollen.

Doch so geräuschlos geht es nicht vonstatten. Jetzt tapert er mit dem hoch erhobenen, gegen das Licht gehaltenen Plastikbecher ratlos zum Rezeptionstisch und sagt zu den Arzthelferinnen – in einem Tonfall zwischen Verunsicherung und einem kümmerlichen Rest von mühsam verhohlenem Mannesstolz: „Ich weiß nicht, wie viel Sie jetzt brauchen. Das ist das, was ich gemacht habe.“ Fehlt noch, dass er den kühnen Bogenverlauf des Strahls beschrieben hätte. Was er vorbringt, klingt allerdings doch brüchig und kläglich, als wolle er belobigt werden wie ein Kleinkind. „Fein gemacht!“

Er hat offensichtlich keinen Begriff (mehr) davon, was überlicherweise frei heraus geäußert werden sollte. Das angrenzende Wartezimmer ist gerade nahezu leer. Besser so. Je nachdem, hätte ihn sonst vielleicht übler Spott ereilt.

Man könnte sein Verhalten debil nennen. Doch andererseits hat es auch etwas Unbefangenes, Unbekümmertes, von Grund auf Harmloses. O sancta simplicitas! Ist es nun kleinlich, das peinlich zu finden?

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Bisher in der losen Textreihe „Soziale Miniaturen“ erschienen:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14), Zuckfuß (15)