Gerhard Roth und die Gugginger Künstler: Tolle Bilder, empathisch einfühlsame Texte

Rechtzeitig vor dem Geburtstag Gerhard Roths, des bedeutenden österreichischen Schriftstellers, der am 24. Juni 70 Jahre alt wurde, erschien im Mai im Residenz Verlag ein opulenter Text– , Bild– und Foto–Band: Gerhard Roths „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“.

So wichtig Gerhard Roths Texte für diesen Bildband auch sind, sie legen allesamt Wert darauf, die individuelle Besonderheit der Gugginger Künstler vordringlich und in uns Leser…n nachhallend zur Geltung kommen zu lassen. Was in meinem Falle zweifellos gelungen ist.

Also: Legen Sie alle Vorurteile und Vorbehalte, die Sie trotz Hans Prinzhorns Buch von 1922 und trotz Leo Navratils Veröffentlichungen vielleicht immer noch gegen die „Bildnerei“ und Gestaltungskraft von Schizophrenen und „Geisteskranken“ haben, wenigstens versuchsweise ab und lassen Sie sich ein auf die beeindruckenden, individuellen Bilderwelten der Gugginger Maler, Zeichner und Poeten. Hier nämlich werden sie zugänglich; in gewahrter, bewahrter Fremdheit und mitunter überraschender Nähe und Klarheit.

Eines der Buchkapitel (überschrieben mit „Im Haus der schlafenden Vernunft“) spielt schon im Titel auf die Bildunterschrift der bekannten Goya-Radierung an: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Träume und Ungeheuer.“ Mir selbst kam sogleich auch noch der folgende, ebenfalls generell gemeinte, mir seit langem ebenfalls wichtige Satz des Philosophen Schelling in den Sinn: „Der Verstand ist der geregelte Wahnsinn.“

Welchen Zugang zum Schöpferischen haben die Künstler unter jenen, die in besonderer Weise auch außerhalb der Träume der Nacht von den Regelungen des eigenen Verstandes, sei’s zeitweise, sei’s dauerhafter, entbunden sind? Solche und ähnliche die Künste und den Menschen betreffende Fragen haben mich in der letzten Woche interessiert, als ich in der selten kurzen Zeit entschieden großer Sommerhitze endlich zu einer genaueren und intensiveren Lektüre dieses Text- und Bildbandes gekommen bin. Da schon schrieb ich:

„Einen kleinen Tisch nehme ich mir, auf dessen obere Fläche das große tolle Buch auch aufgeschlagen gut passt, setze mich in den Schatten auf den Balkon und lese und schaue und lese mich fest.“ –

„Auffällig: die „Irren“ schreiben“ – ob handschriftlich, ob in Blockschrift – „ noch immer in einer Schönschrift, die auch ich in meiner Kindheit in Österreich ganz ähnlich gelernt habe.“ –

„Was denn noch schreiben über dieses im Buch selber schon Geschriebene hinaus? – Anregend ist es allemal. Und die einzelnen Bilder warten darauf, dass man über ihnen ins Sinnieren kommt und nun selber über sie schreibt und denkt, auf eigene Weise und ganz privat.“ –

„Gerhard Roth hatte jeweils Mut zu eigener Subjektivität im geduldigen Anschauen und Wahrnehmen; und fordert so wie von selbst unser Subjektives, Verwandtes Suchendes und auch Findendes, heraus.“ –

„Dieses Buch wird mich weiterbeschäftigen. Ende nicht absehbar.

„Um das Rätsel des Menschseins geht es auch hier: um das Rätsel des Menschseins, das (nur aus moderner Sicht?) unlösbare; in Kunstwerken aller Zeiten und Kunstrichtungen wäre es dann immer wieder in seiner Rätselhaftigkeit sichtbar gemacht und dargestellt worden; das Rätsel wäre so vielleicht zwar immer noch unlösbar, aber doch zugänglicher gemacht.“ –

„Durch diese Bilder und durch Gerhard Roths verfasste Einzelporträts fühle ich mich wieder offener für alte und neue Kunst und bin wohl auch wieder offener für andere Menschen geworden, lerne sie ggf. besser verstehen, schon von der neu gewonnenen Ausgangslage her.“ –

„Erst katalogartig lesend, mir erst nur die naheliegenden Fragen vorlegend: Was ist unter den Künstlern von Gugging zu verstehen? Wie heißen sie? Wie hat sich alles entwickelt?“ –

„Und auf alle diese Fragen im fortlaufenden Lesen ausführlich Antwort bekommend, ziehen mich die hier zusammengestellten Beiträge Gerhard Roths, seine Einzelporträts von Gugginger Malern und Poeten, mehr und mehr hinein
und wirken sich produktiv auf mich selber aus, mich nach meiner etwaigen Eigenproduktion fragend, mich darin ermutigend und bestärkend, mich auf meine ureigene Nuance verweisend.“

Gerhard Roth: „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien. 360 Seiten, € 39,90.




Düstere Szenen und klare Linie – Plakate, Fotos und Grafiken im Museum Folkwang

Karl Jacob Hirschs Plakat "Was will Spartakus?" (1919). Foto: Museum Folkwang

Kaum etwas scheint langweiliger zu betrachten, nichtssagender in der Wirkung als Wahlplakate. Eine bunte, zumeist familienkompatible Szenerie oder ein plumpes Symbol, garniert mit so flotten wie hohlen Sprüchen – fertig. Doch vielleicht ist dies nur Ausweis eines routinierten, ja ritualisierten Politikbetriebes, trotz aller Krisen und Probleme.

Dieser Eindruck von gesitteter Normalität verfestigt sich, blickt man nur ein wenig zurück. Vor 90 Jahren, also in den „wilden“ 20ern, war Wahlkampf nicht weniger als Glaubenskrieg, schufen die Plakatmaler drastische und krasse Szenarien, in denen die werbende Partei als Engel, der Gegner indes als Killer der Menschheit dargestellt werden. Diese grob expressionistische Bildsprache ist nun in Essens Folkwang-Museum (kopfschüttelnd) zu bestaunen, im Rahmen einer Ausstellung, die sich mit Plakaten, Fotos und Grafiken zumeist der 20er Jahre auseinandersetzt. „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ ist der fast neutral wirkende Titel der großen Schau.

Die Formen waren, mit Blick auf die illustrierte politische Propaganda, ziemlich wuchtig. Der bildmächtige Expressionismus hielt sich nicht mit Filigranem auf. Hinzu kommt eine klare Farbsymbolik bei zumeist düsterer Grundierung. Ein Plakat mit dem Titel „Der rote Hammer der Vereinigten Sozialdemokratie zerschlägt den faschistischen Drachen“, Max Schwimmer schuf es 1927, bedarf im Grunde keiner näheren Beschreibung. Die Gegner, also die Rechten, waren in der Wahl ihrer Mittel nicht weniger zimperlich: Bei ihnen stellt sich der Bolschewismus als Zwergenfratze dar, mit wirrem Haar und gezücktem Dolch. Nur gut, dass ein engelsgleiches Wesen das Volk vor diesem Schurken beschützt.

All dies war gewissermaßen Symbol eines brodelnden Vulkans namens Nachkriegsdeutschland oder Weimarer Republik, wo die politische Debatte regelmäßig in Straßenkämpfen endete. Doch ungeachtet dessen wurde getanzt, gelebt, gelacht – zumindest von denen, die es sich leisten konnten. Und so zeigt die Essener Schau eben auch das dekorative Plakat jener Zeit. Präsentiert mit Walter Schnackenbergs „Deutsches Theater – Vornehmstes Variété Münchens“ symbolträchtig den Hang zum Vergnügen. Ein Paar bestaunt aus der Loge heraus eine Tänzerin – geschwungene Linien, freundlicher Blick, das Leben scheint schön.

Andere Exponate verweisen auf den Aufstieg des Kinos. B. Namirs Plakat zu „Quick“, mit Lilian Harvey und Hans Albers, wirkt fast fotorealistisch. Später entwirft Jan Tschichold, im Sinne von Bauhaus und Neuer Sachlichkeit hellgrundierte Blätter mit grafischen Elementen und viel leerer Fläche. Hier offenbart sich die neue Form, die der Ausstellungstitel vorgibt.

Anneliese Kretschmer: Der Arbeiterdichter Karl Höller (1931).

Von expressiver Kraft zur klaren Linie: Die Essener Ausstellung zeigt auch in der Sparte Fotografie wirkmächtige Beispiele. Auffällig ist, dass die Porträtaufnahmen, als messerscharfe Studien einfacher Leute, überwiegen. Helmar Lerskis „Köpfe des Alltags“ (1928-1931) sind markantes Beispiel. Leere, abgewandte oder trotzig aufbegehrende Blicke, die Gesichter motivfüllend, einzelne Partien durch wunderbares Licht-Schatten-Spiel hervorgehoben: Lerski illustriert das Leiden (an) der Zeit. Oder nehmen wir nur das Bild der Dortmunder Fotografin Annelise Kretschmer, die 1931 den Arbeiterdichter Karl Höller ablichtete. Gesicht und Kleidung verschmutzt, alles wirkt düster wie mancher Holzschnitt von Kirchner. Daneben aber hatte Kretschmer auch den Blick fürs Glamouröse, wie das Bild „Modisches Porträt“ (etwa 1931 entstanden) zeigt. Die fotografierte Dame, vornehm gekleidet mit Kappe, Handschuhen, Gürtel und Rüschenbluse senkt fast schüchtern den Blick – eine Aufnahme der stillen Art.

Das Neue, Sachliche in der Fotografie ist hier vor allem Produkt der zunehmenden Industrialisierung. Die Meister der Kamera entdeckten Strukturen wie etwa Germaine Krull die Verstrebungen des Eiffelturms oder Lotte Goldstern-Fuchs die Kölner Eisenbahnbrücke. Anton Bruehl wiederum bannte eine Anordnung von Garnrollen aufs Fotopapier, gesehen aus der Froschperspektive und aus nächster Nähe. Dieser Blick und das elegante Spiel mit Schatten gibt den Gebrauchsgegenständen eine bedrohliche Größe, als handele es sich um Fabrikschornsteine. Hier also überlagert sich grafische Anordnung mit expressivem Gehalt.

Schließlich Zeichnungen und Druckgrafik: Die Schau blickt etwa auf die Landschaften Alexander Kanolds, die mit ihren geometrisch angehäuften Gebäuden eher bedrohlich denn einladend wirken. Düster-expressionistisches (Kirchner) steht in schärfstem Kontrast zum Konstruktivismus eines László Moholy-Nagy oder El Lissitzky. Es ist eine imposante Schau im Folkwang-Museum, die die Kunst einer aufregenden Zeit ins Blickfeld rückt.

Die Ausstellung „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ ist im Essener Museum Folkwang bis zum 5. August zu sehen.




„Bella Italia“ wird zwar behauptet, aber leider nicht gezeigt

Grandiose Erwartungen weckt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum mit seiner Ausstellung „Bella Italia“: Fotos und Gemälde aus den Jahren 1815 bis 1900 bekommt man in abgedunkelten Räumen zu sehen, aber die versprochenen „Bella Italia“-Gefühle kommen nicht auf.

Ostern auf dem Petersplatz um 1870 (Foto aus der Ausstellung)

Was sieht man? Offensichtlich hat der Sammler Dietmar Siegert seine sicherlich wichtige und wertvolle Kollektion alter Fotografien dem Museum für diese Ausstellung angedient, und dort hat man nun um die Bilder herum diese Ausstellung konzipiert. Entsprechend zufällig wirkt die Zusammenstellung, und wer dem Thema angemessene Gemälde in ausreichender Zahl erwartet hatte, der wird mit einigen kleinformatigen Italien-Motiven aus dem Bestand der Wuppertaler Ständigen Ausstellung (oder aus dem Depot) abgespeist.

Die Bilder sind geographisch gehängt, zeigen also Szenen aus dem alpinen Norden über Venedig und Florenz, Rom und Neapel bis Sizilien. Schrifttafeln an den Wänden zitieren zahlreiche deutsche Dichter und andere Italien-Reisenden mit ihren Berichten über das Land und behaupten eine Sehnsuchtslandschaft, die sich in den Fotos nicht wieder finden lässt – allenfalls in den Gemälden spiegelt sich der romantische Anspruch. Auch der Anspruch im Katalog, den Fokus auf „das Italienbild der Deutschen im 19. Jahrhundert“ gelegt zu haben, zeigt sich nur in den Zitaten, nicht in den Exponaten.

Lohnt sich ein Besuch? Eigentlich nur für Freunde und Fachleute der Fotografiegeschichte. Italienfreunde fahren besser selber in das Land.

Bella Italia. Fotografien und Gemälde 1815-1900. Von der Heydt-Museum Wuppertal. Bis 9. September. Eintritt 7 Euro.




Der Blick auf diese ganz anderen Wesen – Künstlerische Tierfotografie in Recklinghausen

Wie bitte? Tierfotografie? Daran versucht sich doch fast jeder Amateur mit wechselndem Geschick. Kann man denn auf diesem Gebiet künstlerische Qualität oder gar Dignität erlangen, die womöglich entschieden übers Dokumentarische hinaus weist?

Aber ja! Das Sujet gibt jedenfalls alle Höhen und Tiefen her. Es hat doch alle Kunstausübung vermutlich mit jenen Tierdarstellungen in Höhlenzeichnungen begonnen und sich seither – auch zwischen den berühmten Hasen von Dürer und Beuys – überreich entfaltet. Immer wieder hat sich der Mensch im animalischen Gegenüber selbst befragt.

Vogel in verfremdender Rückenansicht: Roni Horn (*1955), Untitled, No. 1, 1998, 62,5 x 62,5

Vogel in verfremdender Rückenansicht: Roni Horn (*1955), Untitled, No. 1, 1998, 62,5 x 62,5

Die Kunsthalle Recklinghausen zeigt jetzt eine Auswahl höchst ambitionierter Tierfotografien. Sie stammen überwiegend von Künstlerinnen und Künstlern, die zuvor mit Malerei, Bildhauerei oder Installation befasst waren. Wie man schon ahnen konnte: Viele Wege und Techniken führen zum Tierbild. Der alberne Ausstellungtitel „Für Hund und Katz ist auch noch Platz“ lockt allerdings deutlich unter dem Niveau der präsentierten Arbeiten.

Denn natürlich finden sich Tiere hier nicht als niedliche oder liebliche Wesen abgelichtet. Ein Generalbass der Ausstellung betrifft die Herrschaftsausübung des Menschen, der die Tierwelt unterjocht, die Geschöpfe mitunter monströs zurichtet und nach Belieben tötet.

Da sieht man Tiere als verstörte und verstörende Fremdlinge in der entseelten Zivilisation (Marc Cellier), als Versatzstücke in agrarindustriellen Landschaften (Heinrich Riebesehl), in Todesstarre mit weit aufgerissenen Augen (Oleg Kuliks schockhafte Affenbilder), als elendiglich verzüchtete Horrorexemplare (Mona Mönnigs Nacktkatze und andere Irrwesen) oder als Opfer verheerender Umweltschäden: Inge Rambow hat einen erblindeten Albinohirsch fotografiert, der zwischen chemisch verseuchten Deponie-Tümpeln der einstigen DDR (Buna-Werke bei Schkopau) zu Tode erkrankt ist. Sein leerer Blick und seine hilflose Verrenkung geraten zum Inbild leidender Kreatur.

Doch es gibt auch etliche Künstler, die sich nicht in Empathie ergehen, sondern in erster Linie auf Formensprache zielen. So setzt Johannes Brus fotochemische Prozesse in Gang, die seine Tierbilder nach und nach farblich verwandeln und schließlich vielleicht ganz verschwinden lassen. Walter Schels hat Hund, Gans, Eule und Schaf in langwierigen „Model“-Sitzungen so aufgenommen, als seien sie etwa pikierte, eitle oder herrschsüchtige Individuen. Nicht die übliche Art der Vermenschlichung ist dies, sondern eine, die durchaus frappiert.

Walter Schels (*1936), Schaf, 1984, 80 x 65 (Bild: Museum)

Walter Schels (*1936), Schaf, 1984, 80 x 65 (Bild: Museum)

Das Federkleid von hinten aufgenommener Wildvögel (Roni Horn) erscheint als samtige Struktur mit Tendenz zur Ungegenständlichkeit. Diese Fotos werden jeweils als Diptychen gezeigt, so dass man gezwungen ist, auf feinste Detailunterschiede zwischen beiden Hälften zu achten.

Vermeintliche abstrakte Strukturen können allerdings auch just fragwürdige Verhältnisse bloßlegen, wie Andreas Gefellers Luftbildsicht auf Massentierzucht bei näherem Hinsehen beweist. Das Ornament, das man da sieht, besteht aus Tausenden von Hühnern, die sich um Futtertröge scharen.

William Wegmann gruppiert seine Hunde für die Kamera so, dass sie – von oben betrachtet – gemeinsam die Zeichen des Alphabets, Ziffern oder Satzzeichen bilden. Beinahe so, als könnten die Tiere mit ihren Körpern schreiben. Dass sie ein menschliches Zeichensystem formen, ist einigermaßen absurd und lässt breiten Spielraum für Deutungsversuche.

Aus vier Hunden gebildeter Buchstabe: William Wegman (*1943), "Letter A", 1993, 32x29

Aus vier Hunden gebildeter Buchstabe: William Wegman (*1943), „Letter A“, 1993, 32×29

Die etwa 200 Exponate stammen aus dem prallen Fundus der DZ Bank (Frankfurt/Main), die quasi als Zentralinstitut der Volksbanken fungiert. Dort also hat man eine Sammlung mit inzwischen über 6500 fotografischen Arbeiten von rund 600 Künstlern angelegt.

In Zeiten, da so manche Privatsammlung durch öffentlich finanzierte Ausstellungen nobilitiert wird und somit im Wert steigt, legt Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich Wert auf die Feststellung, dass er und sein Stellvertreter Hans Jürgen Schwalm die unstrittige Hoheit bei Auswahl und Hängung hatten. Wir haben ja auch nichts anderes erwartet.

„Für Hund und Katz ist auch noch Platz“. Tierfotografien aus der DZ Bank Kunstsammlung. Bis 24. September in der Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25-27. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr.




Rätselvolle Dingwelt ohne Menschen – Bilder von Christian Hellmich in Wuppertal

Wie wäre das wohl, wenn die Dinge sich zeitweise selbständig machen oder wenn sie gänzlich ohne uns existieren würden? Eine uralte Alptraum-Frage, die immer wieder auch die bildende Kunst umtreibt.

Auf den Bildern des Christian Hellmich (Jahrgang 1977), der ursprünglich Comiczeichner hat werden wollen, kommen menschliche Gestalten prinzipiell nicht vor. „Ich will kein leidendes Fleisch malen“, meint er dazu lapidar. In der Wuppertaler Von der Heydt-Kunsthalle hat Hellmich nun seine allererste Einzelausstellung in einem Museum, bestückt mit 35 Groß- und Kleinformaten. Der Künstler, 1998 bis 2004 Essener Folkwang-Student, heute in Berlin lebend, nennt (beträchtlich beschädigte) Ruhrgebiets-„Idyllen“ und trostlos kastenförmige, gründlich missverstandene Adaptionen der Architektur-Moderne als einen anfänglichen Quell seiner Bildphantasien.

Christian Hellmich: Treppe III (2007), Öl auf Leinwand, 151x391cm, Privatsammlung London/Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Christian Hellmich: Treppe III (2007), Öl auf Leinwand, 151x391cm, Privatsammlung London/Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Von Menschenhand geschaffene Objekte also sollen uns in Bann ziehen, irgendwo im Niemandsland zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit angesiedelt. In dieser irritierenden Zwischenwelt kann man die Dinge womöglich neu und anders anschauen. Architektonische Formelemente überwiegen zunächst, doch sie haben keinerlei funktionalen Sinn, sie sind aus ihren Bezügen gerückt oder gar entrückt. Global taugliche Bildtitel wie „Mushroomrock“ oder „The world is mine“ helfen nicht im erklärenden Sinne weiter, sie verstärken das Flirren noch. Neuerdings bevölkern vollends mysteriöse Objekte die Bildräume, die sich auch von der Architektur weit entfernen, ihre Zwecke nicht preisgeben, jedoch mit Selbstgewissheit auftreten.

In „schmutzig“ ausgeführten Randzonen der Bilder finden sich häufig Schleif- und Schabespuren als Zeichen verflossener Zeit. Was wir hier sehen, sind allenfalls Relikte einstigen Bauens und Herstellens, die oft in verwaschenen Verfallsfarben vor sich hin dämmern – bis dann und wann ein greller, beinahe schon aggressiver Kontrast sie gleichsam aufschreckt. All diese Konstrukte haben offenkundig „schon bessere Tage gesehen“, wie man so sagt. Doch vielleicht gibt es ja ein unverhofftes Erwachen aus diesem Schlummern der Dinge. Und was dann? „Wenn ich’s mit Worten erklären könnte, müsste ich’s nicht malen“, so der Künstler. Eine altbewährte Weisheit des Metiers.

Mit den Jahren hat Hellmich ein umfangreiches Fotoarchiv aufgebaut, aus dessen Motivvorrat er schöpfen kann. Auch die reichlich gefüllten Bildspeicher der Kunstgeschichte oder Trivialitäten wie etwa Discounter-Prospekte liefern gelegentlich dingweltliche Anregungen. Damit ist es freilich längst nicht getan. Die Vorlagen durchlaufen beim Malen etliche Wandlungsprozesse, beispielsweise rein gestische Phasen oder geometrische Impulse. Auch spielt der inspirierende Zufall mit hinein. Einzelne Bestandteile oder Module werden zwar der vorfindbaren Realität entnommen, jedoch auf eine Weise collagiert, dass sie jede Alltagslogik abstreifen. Der Betrachter wird hier nicht zum Bescheidwisser. Alles bleibt schrundig offen.

Christian Hellmich: "The World is mine" (2011), Öl auf Leinwand, 64x50 cm, Courtesy Tanja Pol Galerie, München. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Christian Hellmich: "The World is mine" (2011), Öl auf Leinwand, 64x50 cm, Courtesy Tanja Pol Galerie, München. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Museumschef Gerhard Finckh erblickt in solchen Arbeiten Anhaltspunkte dafür, dass eben doch noch nicht alles gesagt und gemalt worden ist, dass es mithin neue Horizonte gibt. Und er kann sich gut vorstellen, dass Hellmichs Museumsdebüt den Beginn einer beachtlichen Laufbahn markiert. Wir werden sehen.

Christian Hellmich. 24. Juni (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 7. Oktober 2012 in der Von der Heydt-Kunsthalle, Wuppertal-Barmen, Geschwister-Scholl-Platz 4-6. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 3 Euro, Katalog 15 Euro. www.von-der-heydt-kunsthalle.de




Vandalismus unter der Gürtellinie

Ikonoklasmus, Bildersturm: eine der absurdesten Artikulationen unserer Zeit. Passive Kulturgüter, ob aus politischer oder persönlicher Aversion, mit Gewaltakten zu zerstören, ist in aufgeklärt-demokratischen Gesellschaften schlichtweg daneben. Was jedoch heutzutage besonders bemerkenswert erscheint: das avisierte Körperteil.

Hans-Peter Feldmann: "David"

Hans-Peter Feldmann: "David" © Lehmbruck Museum

Michelangelo, dessen Statue des „Auferstandenen Christus“ in der römischen Kirche Santa Maria sopra Minerva bis heute einen pietätsgerechten Lendenschurz zu tragen hat, war gestern. Aber immerhin, diese große Bildhauerei ist ja noch vollendet, wenn auch mit Fremdslip. Unterhalb der Gürtellinie trifft’s derzeit die zeitgenössischen männlichen Figuren brutal. Schlimm steht es jetzt um eine Plastik von Hans-Peter Feldmann im Kantpark in Duisburg. Sein „David“, eine neun Meter hohe, quietschrosa Replik des Michelangelo-Originals, wurde um ihr bestes Stück gebracht. Lehmbruck-Direktor Raimund Stecker konnte noch schmunzeln, als seinem Schutzbefohlenen neulich, gleich dem klerikalen Kollegen aus Rom, ein genitaler Sichtschutz verpasst wurde.

Nun ist da nichts mehr, und das Entmannen ist beileibe kein Einzelfall: Im Mai erwischte es eine metallene Figur von Antony Gormley und Vicky Parsons aus der 100-teiligen Serie „Horizon Fields“ im Vorarlberger Lechquellengebirge, Österreich. Kastration mit dem Winkelschleifer hier, Hammerschläge dort. Nein, wir leben gerade nicht in Zeiten gesetzmäßiger oder klerikaler Schamverordnungen. Am längst ad acta gelegten Nacktheitsverbot kann es nicht liegen, dass die Vandalen unter die Gürtellinie bolzen. Hier offenbart sich die erbärmliche Spießigkeit unserer bigotten Schenkelklopfergesellschaft.




Eine Herzmanovsky-Verführung

Kaum dass der vor kurzem im Residenz Verlag erschienene Bild- und Textband „Forscher im Zwischenreich / Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“ uns in den Blick gerät, schon nehmen wir ihn in die Hand und ahnen sofort, welch schönes, welch interessantes Buch wir da in Händen halten.

Die Bildreproduktionen sind einladend, eröffnen einen Blick in eine ganz eigene, durch mangelnde große Bekanntheit noch recht unverbrauchte Welt. Druckbild, Farbgebung, etc. alles einwandfrei, ja hervorragend.

Es mag dabei ein beträchtlicher Vorteil sein, dass FHO (= Fritz von Herzmanovsky-Orlando) zum Beispiel in Deutschland noch nicht allzu bekannt ist, aber auch in Österreich dürfte der beeindruckende Zeichner FHO weit weniger bekannt sein als der Schriftsteller. Zwar kamen auch in Deutschland FHOs sämtliche schriftstellerischen Werke erst in der originären Ausgabe des Residenz Verlages heraus, dann vor allem jedoch (allerdings mit mir unbekanntem Erfolg) in der dreibändigen Lizenzausgabe bei Zweitausendundeins. Aber richtig bekannt ist der Schriftsteller in Deutschland nicht geworden, sicher am wenigsten noch nördlich des Mains, also auch nicht im Ruhrgebiet.

Gewiss: In der Reihe des Heyne-Verlags „Das besondere Taschenbuch“ erschien einst in den 80er-Jahren Herzmanovskys wegen seiner Skurrilität wohl berühmtester Roman „Der Gaulschreck im Rosennetz“ mit den vom Autor selber stammenden Illustrationen. In einer Kultsendung wie der vom Hessischen Rundfunk (HR2) ausgestrahlten Ratesendung Peter Härtlings, „Literatur im Kreuzverhör“, kamen mindestens zweimal schon Texte FHOs vor, bei denen nach anonymer Textverlesung der Autor erraten oder gewusst, jedenfalls gefunden werden musste und durch Telephonanrufer auch erraten wurde. Auf den Literaturreisen von „Begegnung mit Böhmen“, eines Reiseunternehmens aus Regensburg, lässt sich u. a. der literaturkundige Reiseleiter Arthur Schnabl wirkungsvoll vorlesbare Texte von FHO wie z. B. den „Wassertrompeter“ wohlweislich auch nicht entgehen.

Aber nach wie vor gilt: So richtig im Bewusstsein durchgesickert und bleibend angekommen ist Fritz von Herzmanovsky-Orlando als Schriftsteller und als Eigenillustrator, gar als eigenartiger und beeindruckend eigenständiger Zeichner zumindest in Deutschland noch nicht.

Das neue Buch des Residenz Verlages kann dem nun durchaus verführerisch Abhilfe schaffen, so es denn wahrgenommen wird. Und das darf man ihm vorbehaltlos wünschen. In diesem wunderbar ausgestatteten Band kann man den großartigen Zeichner FHO entdecken und sich zugleich indirekt einen Zugang zu seinem Werk als Schriftsteller verschaffen; oder umgekehrt, wenn man von FHO schon etwas gelesen hat, kann man in seinen Zeichnungen eine andere, womöglich die originäre Seite von ihm in unverklemmter Offenheit präsentiert bekommen. Und wirklich: Von der chronologischen Abfolge her scheint das reife zeichnerische Werk (das jedoch zeitlebens bei FHO, also auch in seiner stärker schriftstellerisch geprägten Lebensphase) nie ganz aufhört, dem schriftstellerischen voran- bzw. vorauszugehen. Im Haupttext des Buches, im vielgliedrigen Essay von Arnulf Meifert, wird jedenfalls u. a. aufgezeigt, wie sehr auch noch das schriftstellerische Werk FHOs von dem zeichnerischen her gespeist wird, ja sich geradezu aus ihm heraus entwickelt, mental, thematisch, figural.

Fürwahr, eine Herzmanovsky-Verführung ist dieser Band, eine gelungene Verführung zu ihm als Zeichner und von da her alsbald wohl auch zu ihm als Schriftsteller. Meine Anspielung auf Rolf Vollmanns im Dezember des letzten Jahres im Albrecht Knaus Verlag erschienenen Doppelband „DER DÜRER VERFÜHRER oder die Kunst, sich zu vertiefen“ ist dabei ganz bewusst. Zudem: eine klare Überschneidung gibt es auch.

Auf der Seite 31 des FHO-Bandes finden wir eine Wiedergabe von Albrecht Dürers Radierung „Der Spaziergang“ – ein auch bei Vollmann eingehend betrachtetes Bild (vgl. dort die Seiten 33 – 35 des 1. Bandes) – konfrontiert mit FHOs Dürer-Adaption in Form einer Zeichnung.

Gerade der direkte Vergleich verrät sehr viel von der Herzmanovskyschen Eigenart, die weder vor Verknappung und Leichtigkeit noch vor satirisch grotesker Zuspitzung bzw. ironisch-humorvoller Scheinverniedlichung (hier des Todes) zurückschreckt. Wie überhaupt der Bezug auf schon vorhandene Kunstwerke, an denen er sich bewusst schulte und abarbeitete, indem er sich bewusst dagegen abhob, Fritz von Herzmanovsky-Orlando zu seinem Eigenen mitverholfen haben mag.

Arnulf Meifert tut zusätzlich das Seine zur Verdeutlichung von FHOs Eigenständigkeit, indem er ihn wiederholt gezielt und durchaus abweichend von eingeschliffenen Mustern mit Alfred Kubin, vor allem aber mit Paul Klee zusammensieht, mit dem FHO u. a. den Begriff „Zwischenreich“ teilt, wiewohl ganz anders akzentuiert.

Das fast unbekannte, recht liebevoll und höchst ansprechend präsentierte Bildmaterial alleine schon lohnt die Anschaffung dieses Bandes: Freizügig und dezent tabulos sind diese Bilder – und faszinierend merkwürdig, wenn man in ihnen immer wieder eine Verschränkung von weiblich-feenhafter Dominanz mit bis zur Karikatur submissen männlichen Ungestalten wahrnimmt, eine Verschränkung eines paradiesähnlich gemeinten Zustandes also – mag man diesen nun als eine bildgewordene Utopie oder als konzentrierte Privatmythologie auffassen – mit einer das Männliche immer wieder herabstufenden realsatirischen Konkretion.

Der große Essay von Arnulf Meifert vor allem, aber auch die kleineren Beiträge von Peter Assmann, Franziska Meifert und Siegfried de Rachwitz nebst einer den Band abschließenden Übersicht der Werke im Museumsbesitz, vermitteln uns auf wichtig erhellende, durchaus ideologiekritische Weise Zusammenhänge und Hintergründe. Politisch Schlimmes, sehr Schlimmes und in künstlerischer Form weniger Schlimmes, da künstlerisch Gebanntes, so lernen wir, entstammen ein und denselben geistigen bzw. gelegentlich abstrusen Strömungen nach 1900, an denen insbesondere auch FHOs Frau Carmen, ihn stark beeinflussend und zugleich seiner sexuellen Veranlagung maßgeblich entgegenkommend, regsten Anteil nahm.

Es fällt auf, dass Arnulf Meinert Fritz von Herzmanovsky-Orlandos phantasievoller Zeichenkunst vordringlich eine gewisse „Bannbildfunktion“ (S.62) zuzuerkennen bereit ist, ihn im Übrigen gelegentlich auch als Vorwegnehmer der Surrealisten feiert.

Als besondere Bereicherung des Bandes habe ich empfunden, dass Arnulf Meifert an den Beginn eines jeden der sieben Kapitel seines Hauptessays je eine ganze Drittelseite sehr gut ausgesuchter thematischer Aphorismen gestellt hat. Diese (von sehr verschiedenartigen Autoren stammend) sind fast durchweg kaum bekannt, wiewohl von meist hoher bis sehr hoher Qualität.

Arnulf Meifert / Manfred Kopriva (Herausgeber): „Forscher im Zwischenreich. Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“. Residenz Verlag. 256 Seiten, 36 €.




Jesus reloaded – „El Greco und die Moderne“ in Düsseldorf

 

El Greco, Christus, der Erlöser, National Gallery of Scotland

El Greco, Christus, der Erlöser, National Gallery of Scotland

Unendlich traurig schaut der junge Mann dem Betrachter in die Augen: Sein langes Haar trägt er brav in der Mitte gescheitelt, es liegt eine stille Demut in seinem Blick. Und eine Ahnung davon, dass er leiden muss. Der Museumsbesucher wendet sich ab, doch er entkommt ihm nicht, noch lange spürt er diesen seltsamen, dunklen Blick in seinem Rücken.

Auf Augenhöhe und von Mensch zu Mensch mit „Christus als Erlöser“: So etwas traute sich El Greco im 16. Jahrhundert – im Gegensatz zu anderen Malern seiner Epoche, die nicht so einfach Macht und Kirche auf ihre Weise zu interpretieren wagten. Zwar war auch der eigenwillige Grieche mit dem Geburtsnamen Domenikos Theotokópoulos eine Zeit lang Hofmaler bei Philipp II. Doch sein Malstil gefiel auf Dauer nicht: Zu grell die Farben, zu eigentümlich verzerrt die Proportionen der Figuren, zu psychologisch die Deutung der Heiligen. Gerade das, so die These der Ausstellung „El Greco und die Moderne“ im Museum Kunstpalast in Düsseldorf, machte ihn für Maler wie Cézanne, van Gogh oder Picasso, für Expressionisten wie Max Beckmann, Oskar Kokoschka, August Macke oder Franz Marc so interessant.

Neben 40 bedeutenden Arbeiten von El Greco bekommt man hier die Rezeptionsgeschichte seines Werks in Form von rund 60 Bildern der Epigonen gleich mitgeliefert – und gewinnt überraschende Einblicke. Diese Figurengruppe im Hintergrund von El Grecos „Die Öffnung des fünften Siegels“, erinnert die nicht an weltbekannte kubistische Damen? Richtig: Picassos „Demoiselles d’Avignon“ stehen ganz ähnlich in der Gegend herum – nur ein wenig eckiger. Und die Kreuzabnahme von Max Beckmann scheint tatsächlich in ihrer drastischen Grausamkeit an El Grecos „El Espolio“ (Entkleidung Christi) zu erinnern: Wie sich die Meute über den Erlöser hermacht, jagt einem in beiden Fällen die Gänsehaut über den Rücken.

Genau vor 100 Jahren war eine Auswahl von 10 Gemälden El Grecos aus der Privatsammlung Marczell von Nemes schon einmal in der Kunsthalle Düsseldorf zu sehen – so entdeckten 1912 die rheinischen Künstler die Werke des großen Spaniers. Einige Ergebnisse dieser inspirierenden Begegnung sind in der aktuellen Schau ebenfalls zu bewundern.

Die „Kunstgeschichte live“ hat einen weiteren interessanten Nebeneffekt: Man spürt, wie sehr die Maler der frühen Moderne in einer künstlerischen Tradition standen – obwohl sie doch scheinbar alles „neu“ erfunden haben. Und wie modern El Greco war. Der sich im Übrigen auch nicht mit langen Studien aufgehalten hat, wie beispielsweise eine Hand naturgetreu zu malen sei. Manchmal hilft da die flüchtige Wischtechnik, auch im Spanien des 16. Jahrhunderts. Ein Perspektivenwechsel, der irgendwie belebend wirkt – so unter uns alten Europäern.

Bis zum 12. August zu sehen im Museum Kunstpalast in Düsseldorf, Kulturzentrum Ehrenhof, Ehrenhof 4-5. www.smkp.de




Der Traum des Architekten

Liebe Revierlinge, etwas Berichterstattung aus dem Zonenrandgebiet der wahren Kulturhochburg muss auch mal sein. Von daher bitte ich um Verzeihung für den folgenden Bericht über das Geschehen in der finsteren westlichen Peripherie der Zivilisation.

Frauke Dannert in der Galerie Rupert Pfab, Düsseldorf

Ausgelassen feiern Dannerts Collagen die Freiheit von all den Sachzwängen, die ArchitektInnen an der Umsetzung bahnbrechender Einfälle hindern: Ohne Rücksicht auf kleinliche Gesetze von Material und Statik, entwickeln sich ihre Gestalten unbekümmert um Schwerkraft und Funktion gemäß einer Ästhetik, die zwischen Organischem und Anorganischem oszilliert. Zerschnitten und neu zusammengesetzt, stehen diese Ergebnisse von Analyse und Synthese scharf konturiert vor einem Hintergrund, der nur im Fall reiner Papierarbeiten frei bleibt.

Dannert, Collage auf Messing, ohne weitere Angaben, Foto CL

Appliziert Dannert die Foto-Fragmente nämlich auf Messingplatten, wird die klare Aufgabenverteilung von Figur und Grund zum Kippbild, der Blick des Subjekts aufs Objekt zum Blick in den Spiegel, und die Rezeption somit zur Interaktion: Das Betrachtete erscheint integriert in den Raum des Betrachters.

Doch gerade das Nebeneinander von flacher Form und dreidimensionalen Umfeld verdeutlicht die Eigenartigkeit der unbunten Gebilde, die Anklänge an Mineralisches, Pflanzliches und Artifizielles erkennen lassen, dabei aber ein nicht-definierbares Eigenleben bewahren.

Dannert, Collage auf Papier, ohne weitere Angaben, Foto CL

Während frühere Arbeiten architektonische Elemente noch relativ eindeutig zu – an botanische Organismen erinnernden, und bisweilen kaleidoskopischen – Spiegelsymmetrien zusammensetzten, leben die Collagen seit 2010 von einer mitunter äußerst prekären Balance. Die klar erkennbare materielle Beschaffenheit von Bauten kurz vor Ausbruch der Postmoderne suggeriert architektonische Zusammenhänge, wohingegen jedoch die Vielzahl von Perspektiven eine räumliche Lesart verhindert.

Dannert, Collage auf Messing, ohne weitere Angaben, Foto CL

Die irritierende Wirkung, die zum wiederholten visuellen Abschreiten der Chimären zwischen noch visionären und schon utopischen Gebäude motiviert, besteht in der Unsicherheit, ob es sich um rein ästhetische Erfindungen oder eben doch um potentiell realisierbare Objekte handelt. Schließlich versorgen uns zeitgenössische Prestigeprojekte mit einem umfangreichen Vorrat an Bildern fantastischer, und dennoch realisierter Gebäude.

Dannert, Collage auf Papier, ohne weitere Angaben, Foto CL

Wie weit Dannert aber letztlich von jedem Modell- oder Entwurfscharakter entfernt ist, verdeutlicht ihr Desinteresse an jeglicher Anwendbarkeit, mit der sie aus dem als optische Zumutung in die Architektur des 20. Jh. eingegangen Sichtbeton mal dramatische, mal verspielte Kristalle des 21. züchtet.

http://www.galerie-pfab.com/de/home




Belgische Kohle

Die 9. Manifesta auf den Spuren des Steinkohlebergbaus

Gemäß ihrer traditionell ortsspezifischen Ausrichtung bildet diesmal die vom Steinkohlebergbau geprägte Kultur der belgischen Region Limburg den Ausgangspunkt der zweijährigen Wanderausstellung, die sich im 1924 errichteten Hauptgebäude einer ehemaligen Mine vor pittoresk ruinöser Kulisse verteilt.

Waterschei Mine, Genk, BE. © Manifesta Foundation, Foto Kristof Vrancken

Waterschei Mine, Genk, BE. © Manifesta Foundation, Foto Kristof Vrancken

Dem Beitrag der Kohleindustrie bei der Erzeugung und Zerstörung von Kultur und Natur nähert sich die Ausstellung aus drei Perspektiven. Neben 36 zeitgenössischen Arbeiten aus bildender Kunst, Film und Performance zeichnet die kunsthistorische Sektion die Entwicklung des Kohlebergbaus als Gegenstand der Grafik und Malerei seit der Romantik nach, während die dritte Abteilung die soziokulturelle Entwicklung der Bergarbeiter-Region Limburg dokumentiert.

Der sich hierbei ergebende rhythmische Wechsel von Forschung und Anschauung entzerrt den potentiellen Informations-Overkill, zumal die vier Stockwerke des kathedralenartig dimensionierten Art Deco-Baus den mal kleingedruckten, mal monumentalen Exponaten ihre Hoheitsgebiete zugestehen.

Die Veranschaulichung abstrakter Prozesse von Produktion, Distribution und Zerstörung industrieller Produkte gelingt mittels einer Flotte buchstäblich zwischengelandeter Gebetsteppiche angeworbener Gastarbeiter ebenso wie mit freundlicher Unterstützung einer Ameisen-Kolonie.

Teppiche der ersten türkischen Bergarbeiter in den 50er & 60er Jahren. Foto CL

Teppiche der ersten türkischen Bergarbeiter in den 50er & 60er Jahren. Foto CL

Während Magdalena Jitrik die Aufbruchstimmung des revolutionären Russlands in einer multimedialen Installation beschreibt, beschränkt sich Claire Fontaines Kommentar zum Ende der Sowjetunion auf die Rekonstruktion der noch immer optimistisch farbenfrohen Neonschrift, die einst die Verwaltungsgebäude von Chernobyl zierte.

Beim Publikum führt die allgegenwärtige Ahnung der Einbindung in von unbekannter Seite gesteuerte Abläufe zur Identifikation mit Ante Timmermans, der inmitten eines Käfigs aus Tonnen geduldig wartenden Papiers mit quälender Gewissenhaftigkeit ein Blatt nach dem anderen stempelt, locht und abheftet, wobei er einen wachsenden Konfettihügel produziert. Angesichts der vom Fenster aus sichtbaren Halden ließe sich dies als Migration der Form bezeichnen, oder als postindustrielle Variante der Königstochter inmitten des Strohs, das sie zu Gold spinnen soll.

Ante Timmermans, Performance "Making a Molehill out of a Mountain (of Work). Foto CL

Ante Timmermans, Performance "Making a Molehill out of a Mountain (of Work). Foto CL

Die hier manifeste Aussichtslosigkeit entfremdeter Arbeit nimmt auch in Ni Haifengs hallenfüllender Mitmach-Aktion groteske Gestalt an, wo sich eine so majestätische wie lächerliche Kaskade wahllos aneinander genähter Fetzen auf ein Gebirge weiterer Textilreste senkt. Einzelnen, die das Ihre zum Gemeinwohl beizutragen wünschen, steht eine ganze Produktionsstraße funktionstüchtiger Nähmaschinen zur Verfügung.

Ni Haifeng, Installation "Para-Production". Foto CL

Ni Haifeng, Installation "Para-Production". Foto CL

Eine solch ästhetische Erfahrung unbewussten Handelns ermöglicht auch Nemanja Cvijanovićs Ermunterung zur Betätigung einer Spieluhr, woraufhin leise Die Internationale erklingt. Erst später und damit zu spät, wird das jeweilige Opfer – vielmehr Täter – feststellen, dass die arglose Einwilligung zum Gehorsam gegenüber einem undurchschaubaren System dazu führt, dass Verstärker im Außenbereich die Botschaft verlautbaren. Dass durchschnittlich drei Personen pro Minute auf diese Weise zu unwissenden Rädchen im Getriebe werden und die Völker auf der Terrasse zum Hören der Signale nötigen, wird vielleicht weniger zum letzten Gefecht inspirieren, als vielmehr dazu, über die räumlich und zeitlich entfernten Konsequenzen des eigenen Tuns früher nachzudenken, als es während der Industrialisierung mit all ihren Spätfolgen geschah.

Infos zur 9. Manifesta: http://manifesta9.org/en/home




Der herrliche Kosmos des Abkupferns

Kunsthalle Karlsruhe: “Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube”

Kaum ein Thema spaltet derzeit die Intelligenzija hierzulande nachhaltiger, als die Frage nach dem Wesen und Unwesen der Kopie und des Kopierens von Kulturerzeugnissen in Zeiten des Internets. Unversöhnlich scheinen sich diejenigen gegenüberzustehen, die einerseits Angst um den Ertrag aus ihrer Musik oder ihren Texte haben, andererseits diejenigen, die für weit reichende Freiheiten des Kopierens stehen. Angefeuert nicht zuletzt durch die Erfolge der Piratenpartei.

Man hört von Filmern, Literaten und Musikern, die sich in groß angelegten Kampagnen gegen Diebstähle an geistigem Gut richten, als ob der Untergang des globalen Dorfs kurz bevor stünde. Bildende Künstler sind in dieser verzerrenden Schein-Schlacht allerdings eher in der Unterzahl. Indes spiegelt sich gerade in der Geschichte von Malerei, Plastik, Grafik etc. geradezu beispielhaft, wie die Kopie unsere visuelle Kultur von Beginn an geprägt und bereichert hat.

Es ist das Verdienst einer hervorragend strukturierten und aufbereiteten Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, den aktuell etwas einseitigen Blick zu korrigieren. Eingängig und aufregend, historisch fundiert bietet die Schau Gelegenheit, den Horizont mit Blick auf das anregende Erbe künstlerischen Kopierens anhand von 120 Werken aus dem Spätmittelalter bis heute zu erweitern. “Déjà-vu. Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube” grenzt hierbei schöpferische Aneignungsverfahren vom vermeintlichen Verbrechertum der bösen “Raubkopierer” ab.

Johann Geminger: Ritter, Tod und Teufel (nach Dürer, um 1600), (c) Kunsthalle Karlsruhe

Johann Geminger: Ritter, Tod und Teufel (nach Dürer, um 1600), Öl/Holz, (c) Kunsthalle Karlsruhe

Die Ausstellung hebt an mit einer wunderbar sinnigen Fotoarbeit von Claudia Angelmaier. Das zwei Meter breite Tableau “Das große Rasenstück, 2004/2008″ zeigt Albrecht Dürers ikonenhaftes Aquarell auf ganz besondere Weise. Die 1972 geborene Künstlerin hat sich ein Dutzend Kunstbücher, in denen das legendäre Blatt abgedruckt ist, vorgeknöpft und diese zu einer kleinen Schausammlung in zwei Reihen zu sechs Buchdoppelseiten arrangiert und abgelichtet. Die Bücher überlappen einander derart, dass die Abbildungen, recht nahe beieinander liegend, zum Vergleich anregen. Mit dem Ergebnis deutlich sichtbarer Unterschiede nicht nur im Format, sondern vor allem hinsichtlich der Druckfarben. Das mahnt die Unmöglichkeit eines Ersatzes von Originalen mit Reproduktionen an und verweist gleichfalls auf den aktuellen Schwachsinnsstreit, den sich GEMA und YouTube liefern: Die kleinen Flash-Filmchen sind Surrogate fürs Kino beispielsweise – und nicht mehr. Ihre Qualität ist relativ und gibt den Eindruck des Originals kaum hinreichend wieder.

Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich, 1513, (c) Kunsthalle Karlsruhe

Das Original: Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich, 1513, (c) Kunsthalle Karlsruhe

 

A propos Dürer. Das Werk des fränkischen Superstars der deutschen Renaissance durchzieht beinahe die gesamte Ausstellung. Nicht ohne Grund, denn er markiert die neuzeitliche Auffassung eines Originalitätsbegriffs, der merkantile Faktoren und die Genese des Künstlersubjekts als Schöpfer impliziert und zum Vorschein bringt. Im Mittelalter sah das ganz anders aus. Kopien firmierten zu dieser Zeit als Garanten für stimmige Ikonografien. Außerdem tradierten Musterbücher gelungene Werke und gewährleisteten auf diese Weise ästhetische Orientierung. Die Kopie war demgemäß nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie diente eben nicht der monetären Bereicherung. Sie fungierte als Medium der Überlieferung von Qualität und Ehrerbietung gleichermaßen.

Das ändert sich in Dürers Zeit. Er selbst, dessen vor allem druckgrafisches Werk in der Ausstellung mit wunderbaren Beispielen von Medientransfers Auskunft über je unterschiedliche Formen der ästhetischen Wertschätzung gibt, lobte das Kopieren als Mittel zur Erkenntnis von Güte. Andererseits verwehrte er sich dem Ideenklau. 1511 beschimpfte er Kopisten als Diebe und Betrüger. Der Nürnberger Rat ging 1512 gegen das unerlaubte Verwenden seines Monogramms vor. In der zweiten Abteilung hängen zwei Ölgemälde eines bekannten Motivs: “Ritter, Tod und Teufel”, ein Kupferstich aus dem Jahr 1513. Übertragen hat es einerseits ein anonymer Meister, andererseits ein Johann Geminger. Beide Bilder entstanden um 1600 und sind letztlich Interpretationen. Geminger vergrößerte die Darstellung ins Tafelbildformat. Und es bereitet schlicht Freude, die drei Bilder auch hinsichtlich der verschiedenen Wirkungen von Grafik und Malerei miteinander zu vergleichen.

Dürers Papierarbeiten als Schnitzwerk, Glasmalerei oder schlicht in der druckgrafischen Reproduktion mehrerer Stecher im direkten Vergleich beobachten zu können, mag nach übertriebener Pädagogik klingen. Jedoch ist die Argumentation der Ausstellung und die historische Aufarbeitung des Begriffswandels zwingend und den Werken direkt anzusehen. Endlich einmal eine Schau, die nicht nur plausibel und deutlich ihre Inhalte in den Ausstellungsräumen organisiert und mit knappen wie pointierten Saaltexten das Verstehen der je verschiedenen Konnotationen von Kopie in den Zeitläuften erlaubt, sondern überdies noch eine, die einen umfassenden Beitrag zur bislang nur partiell geschriebenen Kunstgeschichte des Kopierens offeriert.

Diesen entbergenden und Augen öffnenden Kosmos an Werken durchhaucht der Geist der Etymologie, denn das lateinische “copia” meint “Fülle”, “Mittel”, “Wohlstand”, “Vermögen”, “Fähigkeit”, “Möglichkeit”, “Gelegenheit” oder “Vorrat” und nicht etwa “Verbrechen” oder “Diebstahl”. Nachvollziehbar wird jene Auffassung im Werkstattbild. Pieter Breugel d. J. kopierte mehrfach das Gemälde “Anbetung der Könige im Schnee”, das aus der Hand seines Vaters stammte. Drei seiner Repliken sind in Karlsruhe zu sehen. Mal fehlt der Schnee, dann sieht man beispielsweise die unbeholfene Umsetzung des Eislochs im Kanal. Das alles sind Einladungen zum vergleichenden Sehen. Und es wird erkennbar, dass bestimmte Motive einfach Hits zu ihrer jeweiligen Zeit waren und gerade in den sehr spezifizierten bürgerlichen Märkten der Niederlande ganz unbedarfterweise kommerziellen Erfolg garantierten.

Von Rubens, der das Kopieren streng überwachte und auch Reproduktionsstiche nur an ausgewählte Grafiker übertrug, weiß man, dass eine eigenhändige Kopie ein Drittel bis maximal 50 Prozent des Originalbildes erbrachte. Und nicht jeder, der eine wollte, bekam eine. Erst der Adel, dann der Rest. Selbst im Falle einer abgekupferten Komposition.

In der großen Zeit der Akademien, ging es darum, dem Original so nahe zu kommen, dass man als Schüler die Meisterschaft eines kanonisierten Juwels quasi durch die eigenen Hände nachvollziehen lernte. Amüsante Petitessen bietet die Ausstellung ferner auf. Beispielsweise einen Teil des “Prehnschen Kabinetts” von 1780 bis 1824, ein Holzkasten mit 24 Miniaturen. Diese Minimuseen zeigen zumeist keine direkten Kopien von originalen Meisterwerken, sondern entstanden oft nach Druckgrafiken. Außerdem interpretierten die beteiligten Maler stilistische Eindrücke auf dieses puppenstubenhafte Medium hin. Der gesamte Umfang beträgt 32 Kästen mit 800 Miniaturen, die Themen und Motive aus verschiedenen Jahrhunderten und Geografien wiedergeben: Eine einzigartige Kunstliebhaberei bringt sich zum Ausdruck.

In Bildern nach Frans Hals sieht man die Entwicklung der schmackhaften Pinselführung Lovis Corinths. Hier und auch bei Max Beckmann mutiert die Kopie zum Beschleuniger und Medium der künstlerischen Innovation. Bis dann im späten 20. Jahrhundert die Kopie als künstlerisches Prinzip zu einer oft verwendeten Ausdrucksform wurde. In den Jahren der Appropriation Art, die konzeptuell die Kopie zur Schleifung der Bastion namens Genie einsetzte, entwickelten Künstler die Entgrenzung des Bildes bei Entwertung materieller Faktoren wie Leinwand, Farbe oder Form. Elaine Sturtevant, die beispielhaft für diesen Modus der Aneignung gelten kann, sagte einmal über ihre Arbeit: “Es ist eine Kunst, welche die Verführung der Oberfläche wiederholt und im Prozess der Wiederholung auflöst, um dem wirklich Wichtigen Platz zu machen, dem Denken.” Sturtevants Interpretation von Andy Warhols “Flowers” (1969/70) ist demgemäß in Karlsruhe präsent. Und es ist erstaunlich, dass Mr. All is Pretty die Wiederverwendung seiner Originalsiebe durch die 1930 geborene Künstlerin gestattete. Ob das heute noch denkbar wäre?

Aber auch diese Weise der Erweiterung des künstlerischen Potenzials der Kopie stellt nicht das Ende dar. Erstaunlich ist die Vielfalt, die heutzutage möglich ist. Klaus Mosettigs Bleistiftzeichnungen des Action-Paintings “Lavender Mist” von Jackson Pollock sind mehr als nur akribische Nachahmungen. Sie verlagern den Blick auf Prozessualität und Zeit. Dass auf YouTube oder Flickr künstlerische Laien etwa Cindy Sherman imitieren, rückt nach der Faszination an der Geschichte der Kopie wieder den Alltag von heute in den Blick.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es für viele Bürger schließlich schwer nachzuvollziehen, was erlaubt und was verboten ist. Die Gesellschaft steht vielleicht vor einem Paradigmenwechsel. Bei der Einschätzung dessen, was als Kopie verstanden werden soll, bereichert die Karlsruher Schau den Diskurs erheblich. Sicher ist nicht das massenhafte, illegale Brennen von CDs, Software oder Hollywood-Streifen gemeint, ein Verfahren, auf das bestverdienende Unterhaltungskünstler wie Mario Adorf, Sven Regener oder Charlotte Roche das Spektrum der Kopie verengen wollen. Interessanterweise kaprizieren sich die halbwegs intelligenten Aneignungen von Laien auf recht komplexe Arbeiten. Siehe Cindy Sherman und ihre “Untitled Film Stills”. Das schärft auch den Blick auf tatsächliche intellektuelle Güte und entlarvt so manchen, der sich als “Künstler” gegen das Kopieren verwehrt, lediglich als Schacherer. Diesen Kandidaten kann man nur die Ausstellung ans Herz legen, damit sich vielleicht ein kontrollierterer Sprachgebrauch in Sachen Kopie durchsetzt.

Begleitet wird das Projekt, das in Kooperation mit der Hochschule für Gestaltung entstand, von einem exzellenten Katalog, der neben einer eingängigen Einführung von Ariane Mensger (S. 30-45) auch mit den derzeit rechtlichen Fragestellungen (Thomas Dreier: Original und Kopie im rechtlichen Bildregime, S. 146-155)) auseinander setzt. Außerdem kann sich der Interessent umfangreich in der Ausstellung “Hirschfaktor – Die Kunst des Zitierens” im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM, bis 10.2.2013) über die vielfältigen künstlerischen Verwendungsweisen von Zitat und Kopie informieren. Übrigens gibt es aufgrund der Zusammenarbeit beider Häuser bis zum 5.8. jeweils einen ermäßigten Eintritt bei Erwerb eines Kombitickets.

Kunsthalle Karlsruhe: “Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube”, bis 5. August 2012, Eintritt 8 Euro, 6 Euro erm., 2 Euro Schüler, 16 Euro Familien, Di-Fr 10 – 17 Uhr, Sa, So, feiertags 10 – 18 Uhr, www.kunsthalle-karlsruhe.de, Hans-Thoma-Straße 2-6, 76133 Karlsruhe




Wahl-Düsseldorfer Bildhauer Imi Knoebel ausgezeichnet

Der deutsche Maler und Bildhauer Imi Knoebel wird mit dem Kythera-Preis der gleichnamigen Kulturstiftung unter dem Vorsitz ihrer Gründerin Gabriele Henkel ausgezeichnet. „Es käme Verkennung gleich, in den Arbeiten Knoebels das formal Unbeschwerte, ein reines Spiel der Flächen, Figuren und Formen oder gar das Dekorative und ästhetisch Unverbindliche absolut zu setzen“, so die Jury. Sie hebt insbesondere seine für die Kathedrale von Reims entworfenen sechs Fenster hervor, die 2011 fertig gestellt wurden und sich in der Nord- und Südkapelle seitlich des 1974 geschaffenen Chagall-Fensters befinden. Mit Knoebel wird erstmals ein bildender Künstler ausgezeichnet, der in direktem Bezug mit dem Stiftungsort Düsseldorf steht.

Die in Düsseldorf ansässige Kythera-Kulturstiftung wurde 2001 gegründet und würdigt mit ihrem Preis Künstler, die einen Beitrag zur Vermittlung der romanischen Kultur in Deutschland und umgekehrt geleistet haben. Die Auszeichnung ist mit 25.000 Euro dotiert. Geehrt wurden bisher unter anderem der Architekt Renzo Piano, die Kunsthistorikerin Sylvia Ferino und zuletzt der Grafikdesigner, Verleger und Kunstsammler Franco Maria Ricci.

Imi Knoebel, der eigentlich Klaus Wolf Knoebel heißt, stammt aus Dessau. 1964 kam er an die Düsseldorfer Kunstakademie. Zunächst in der Gebrauchsgrafik-Klasse von Walter Breker, wechselte er 1965 zu Joseph Beuys, wo er und sein Künstlerfreund Rainer Giese im legendären Raum 19 u.a. auf Jörg Immendorff und Blinky Palermo trafen. Knobel wurde seit 1972 mehrfach zur „documenta“ nach Kassel sowie zu Ausstellungen und Werkschauen u.a. nach Leipzig, Amsterdam, Rom und Valencia, nach Sao Paulo, San Francisco und New York geladen. Er wird den Preis am Mittwoch, 23. Mai, in K21 in seiner Wahlheimat Düsseldorf entgegennehmen.

(Mit freundlicher Genehmigung von http://www.kunstmarkt.com)




Grenzgänge zwischen Kunst und Musik: Ruhrtriennale-Chef Heiner Goebbels arbeitet für eine Ausstellung in Darmstadt

John Cage, "Waterwalk", eine Performance von 1960. Foto: Courtesy John Cage Trust/Mathildenhöhe

John Cage, "Waterwalk", eine Performance von 1960. Foto: Courtesy John Cage Trust/Mathildenhöhe

So starr waren sie auch früher nicht, die Grenzen zwischen (bildender) Kunst und Musik, man denke nur an die Oper als „Gesamtkunstwerk“. Oder an synästhetische Fragen wie die nach dem „Klang“ von Farben (Olivier Messiaen) oder eben auch der „Farbe“ von Klängen, ein Thema, das die Musik seit den 19. Jahrhundert ausdrücklich beschäftigt.

Doch die Mathildenhöhe in Darmstadt will nun in einem Großprojekt das Thema völlig neu aufrollen. Anlass dazu ist der 100. Geburtstag von John Cage, dem wohl bekanntesten unter den avantgardistischen Infragestellern von Grenzen.

Mit dem Ausstellungsprojekt „A House Full Of Music“ will das Institut, angesiedelt in einer der schönsten Jugendstil-Stadtlandschaften Deutschlands, parallel zur documenta 13 in Kassel „erstmals die inneren Zusammenhänge zwischen den Gattungen Musik und Kunst“ thematisieren. Und der neue Chef der Ruhrtriennale, Heiner Goebbels, wird dazu eine neue Sound- und Video-Installation kreieren.

Der Anspruch der Ausstellung ist ehrgeizig: Ein ganzes Jahrhundert soll auf neue Art und Weise präsentiert werden. „A House Full Of Music“ – so die Aussteller – gehe grundsätzlich anders vor als einschlägige Musik- und Kunst-Ausstellungen der letzten Jahrzehnte: Die haben etwa die Klangkunst als neue Hybridgattung, gattungsübergreifende soziokulturelle Kontexte von Kunst und Musik oder einzelne Medien – wie etwa die Schallplatte – in den Fokus gerückt.

Die Mathildenhöhe dagegen setzt auf die epochenübergreifende Präsentation wirkmächtiger Strategien: speichern, collagieren, schweigen, zerstören, rechnen, würfeln, fühlen, denken, glauben, möblieren, wiederholen, spielen – zwölf Strategien, die sowohl die Musik als auch die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts bis heute prägen. In kontrastreichen Strategieräumen – so verspricht die Ausstellung – will sie die parallelen Vorgehensweisen von Musik und Kunst in Geschichte und Gegenwart erfahrbar machen. Damit wirft „A House Full Of Music“ einen neuen Blick auf die thematischen, formalen und durch Personen gestifteten Zusammenhänge der beiden künstlerischen Disziplinen.

Bis 9. September geht es also um Pioniere und Grenzgänger zwischen Musik und Kunst: John Cage, Erik Satie, Steve Reich, Marcel Duchamp, Joseph Beuys, Nam June Paik, Yves Klein oder Paul Klee; aber auch The Beatles, Miles Davis, Frank Zappa – insgesamt 110 bildende Künstler, Musiker und Komponisten. Mit 350 Werken in allen Medien und Techniken können die Besucher die Wechselbeziehungen zwischen den Künsten, die Netzwerke zwischen den Musikern und Künstlern sowie die Themen, die beide gleichermaßen beschäftigt haben, erschließen.

Zchng. (Instrument fuer d neue Musik) - eine Federzeichnung von Paul Klee. Foto: Zentrum Paul Klee, Bern

Zchng. (Instrument fuer d neue Musik) - eine Federzeichnung von Paul Klee. Foto: Zentrum Paul Klee, Bern

Der Komponist, Musiktheaterregisseur, Intendant der Ruhrtriennale 2012 bis 2014 und Träger des Ibsen-Preises Heiner Goebbels realisiert im Wasserreservoir der Mathildenhöhe eigens eine von John Cage und Gertrude Stein inspirierte Sound- und Videoinstallation „Genko-an 64287“. Und in den Bildhauerateliers des Museums Künstlerkolonie wird ein Cage-Kino installiert. Dort läuft im CinemaScope-Format der Künstlerfilm „Sound ??“ von 1966, der John Cage mit dem Jazz-Saxophonisten Rashaan Roland Kirk in einen kreativen Dialog setzt. Im benachbarten Weißraum ist Nam June Paiks filmisch-künstlerische Hommage „A Tribute to John Cage“ von 1973/76 zu erleben.

Zur Ausstellung erscheint neben einem weiteren Band aus der Reihe „Kunst zum Hören“ der Katalog „A House Full of Music. Strategien in Musik und Kunst“, herausgegeben von Ralf Beil und Peter Kraut im Verlag Hatje Cantz, mit Essays und Werktexten u. a. von Samuel Beckett bis Erwin Schulhoff und Karlheinz Stockhausen.

Der Katalog zur Ausstellung erscheint im Verlag Hatje Cantz

Der Katalog zur Ausstellung erscheint im Verlag Hatje Cantz

Der 416 Seiten starke Band mit 468 Abbildungen kostet 45 Euro an der Museumkasse. Ein umfangreiches Rahmenprogramm begleitet die Ausstellung; unter anderem gibt es am 16. Juni eine Aufführung von Erik Saties Vexations (840 Wiederholungen) über mehr als 24 Stunden am Flügel im Foyer des Ausstellungsgebäudes.

Die Darmstädter Ausstellung „A House Full of Music“ im Ausstellungsgebäude, im Wasserreservoir Mathildenhöhe und im Bildhauerateliers Museum Künstlerkolonie ist bis 9. September von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr geöffnet. Der Eintritt kosten 10, ermäßigt 8 Euro, eine Familienkarte ist für 20 Euro erhältlich.

Kontakt: www.mathildenhoehe.info

Tel.: (0 61 51) 13 33 50.




Deutsche Gotik in London oder: Was gilt der Prophet denn im Heimatland?

Vor vielen Jahren bin ich mal nach London gefahren und dort ins Nationalmuseum gegangen, weil ich unbedingt die gotischen Malereien aus Deutschland sehen wollte.

Nach der Auflösung der Klöster durch den Reichsdeputationshauptschluss zu Beginn des 19. Jahrhundets waren viele ländliche Pfarreien verarmt und hatten ihre wertvollen Schätze an Kunsthändler und Sammler verramschen müssen, zum Beispiel den berühmten Liesborner Altar oder auch die wunderschönen Bilder aus der Kirche meiner Kindheit, der Klosterkirche St. Christina in Herzebrock bei Gütersloh.

Diese Bilder hängen also nun in London, und ich war tief beeindruckt. Auch im New Yorker Metropolitan Museum of Art finden sich solche Werke, zum Beispiel eine Kreuzigungsszene vom „Meister des Berswordt-Altars“, die vom Altar der Neustädter Marienkirche in Bielefeld stammt.

Der Berswordt-Altar in der Marienkirche Dortmund.

Bei Berswordt horchen manche Dortmunder auf, findet sich doch in der Marienkirche jener Berswordt-Altar, der das Wappen der Stifterfamilie enthält und von dem der Name des anonymen Künstlers abgeleitet wurde. Es gibt in Dortmund auch die Berswordt-Halle, und so mancher Kultur-Interessierte weiß um den Hintergrund, aber an die Berühmtheit eines BVB-Spielers kommt das so herausragende Kunstwerk bei weitem nicht heran.

Ich bin zwar kein Dortmunder, aber manchmal habe ich den Eindruck, dass viele Bewohner dieser schönen Stadt gar nicht zu schätzen wissen, welch großartiges Erbe sie da in ihrer Mitte aufbewahren. Dazu gehört natürlich auch die romanische Madonna in der Marienkirche. Der Prophet gilt eben in der Heimat oft nicht das Allermeiste.




Der Tod trennt Künstlerduo Fischli & Weiss

In den Bergen  c Fischli&Weiss

Miniaturlandschaft aus Kissen: "In den Bergen". c Fischli&Weiss

Was passiert eigentlich in meiner Wohnung, wenn ich nicht da bin? Gibt es sie dann überhaupt noch? Existiert sie? Je fantasieloser ein Mensch ist, umso weniger werden ihn solche Fragen interessieren. Jener Mensch, Anhänger des Feststellbaren, des Zählbaren und des Verwertbaren, wird auf solche Fragen vielleicht mit einem verständnislosen Blick antworten und dann weitergehen. David Weiss hat sie gestellt, zusammen mit seinem Künstlerpartner Peter Fischli. Beide haben noch andere, bedeutungslosere Fragen gestellt. Rund tausend sind es in ihrer Installation „Fragen Projektion“, die 2003 in Venedig den Goldenen Löwen auf der Biennale erhielt.

„Gold“ also für Fragen, die jedem mal spontan durch den Kopf gehen, die harmlos wirken, aber sich in der Seele festbeißen wie böse Ungeheuer. Denn niemand weiß wirklich, was in einem Zimmer passiert, wenn die Tür zu und der Beobachter draußen ist. Die fundamentale Skepsis gegenüber einer wie auch immer gearteten fraglosen Welt-Erkenntnis; dieses Misstrauen gegen die fröhlichen Annahmen, die uns das Grauen über die Abgründigkeit des Daseins verdrängen helfen – die haben Peter Fischli und David Weiss auf beinahe beiläufige Weise gepflegt.

Wie Schlangen gleiten in der Biennale-Installation von 2003 die Fragen von Fischli & Weiss über eine schwarze Wand. c Fischli&Weiss

Wie Schlangen gleiten in der Biennale-Installation von 2003 die Fragen von Fischli & Weiss über eine schwarze Wand. c Fischli&Weiss

Und sie haben den Fragen zu jenem Gewicht verholfen, das ihnen akademische Philosophie, tiefschürfende Theologie, grübelnde Kunsthermeneutik nicht mehr zu geben vermochten. So leichthin das Fischli & Weiss–Buch „Findet mich das Glück“ als amüsantes Partygeschenk durchging: Wer das Schweizer Duo auf dieser Ebene verortet, der hat wohl ihre Bedeutung auch lediglich am Rang 26 auf der 2012er Kunst-Bedeutungs-Liste des „manager magazins“ festgemacht

Am 27. April ist David Weiss, der ältere der beiden Künstler, in seinem Zürcher Haus an einer Krebserkrankung gestorben, im Alter von nur 65 Jahren. Kennen gelernt hatten sich die beiden, wie es verschiedentlich zu lesen war, in der Punk- und Anarcho-Szene, in Zürichs damals bekannter Kontiki-Bar. Der Bildhauer David Weiss hat in seiner Heimatstadt Zürich den Vorbereitungskurs der Kunstgewerbeschule durchlaufen und anschließend in Basel studiert. Weiss war viel unterwegs, arbeitete mit dem Fotografie- und Performance-Künstler Urs Lüthi zusammen, mit dem er in Zürich studiert hatte.

Seit 1979 verband David Weiss und Peter Fischli, die sich selten interviewen ließen und ihre Biografien dem öffentlichen Zugriff entzogen, eine enge Zusammenarbeit. Sie begann mit einer spielerisch anmutenden Aktion, die wie ein kreativer Witz an einem bierseligen Abend wirkt: Sie modellierten Alltagsszenen aus Wurststücken und -scheiben, die sie für eine „Wurstserie“ von Fotografien posieren ließen.

"Modenschau" aus "Wurstserie" von Fischli&Weiss

"Modenschau" aus "Wurstserie" c Fischli & Weiss

 

Ähnlich schwankend zwischen naiv anmutendem Witz, kindlicher Kreativität, hintergründiger Ironie und schlagartig aufbrechender Abgründigkeit ist eine Figurenlandschaft mit dem Titel „Plötzlich diese Übersicht“ aus dem Jahr 1981: Etwa 250 ungebrannte Tonfiguren sind aufgebaut wie auf einer Modelleisenbahn-Platte. Wer sich in das Labyrinth der Figürchen und Mini-Szenerien begibt, mag sich wie ein „Übertourist“ vorkommen, wie ein über einer Welt schwebender Geist. Doch der Zwang, sich auf das Einzelne, auf das Detail zu konzentrieren, zerstört genau das, was der Titel der Arbeit behauptet: Die Übersicht geht verloren, man weiß nicht, wo man in dem Gewirr steht. Sich zu orientieren, fällt schwer.

Wer unwillkürlich beginnt, einen Zusammenhang zu konstruieren, dem wird mit Titeln wie „beliebte Gegensätze“ eine Systematik suggeriert, die sich im nächsten Moment wieder in Frage gestellt sieht. Auf der Suche nach der „Übersicht“ tappt der Betrachter nämlich ständig in die Falle des Augenblicks. Das zu vergessen hilft ihm der Witz einzelner Skulptürchen. Und das leise Grausen, das einen bei Szenen wie „Im Keller“ oder „Strangers in the Night“ beschleicht, löst sich bei der nächsten Detailstudie in reines, heiteres Schmunzeln auf.

Fischli und Weiss schaffen es in dieser Installation, die Fragwürdigkeit der Welt, der Begriffe und der Sinneseindrücke leise, doch nachhaltig ins Bewusstsein zu rücken. Sie nutzen dazu nicht die offensichtliche Provokation, nicht die grübelnde Verschlüsselung, nicht die pathetische Aufladung mit Symbolwert. Ihre Methode schafft Zusammenhang. Der wirkt nicht selten leichthinnig, spielerisch, unabsichtlich. Er nutzt zum Beispiel den geistigen Trieb des Betrachters, der entdecken, gliedern, systematisieren will. Nicht der schockierende Kontrast ist das Mittel des Künstlerduos, sondern eher ein verhaltenes, aber anhaltendes Bohren.

Ihren Durchbruch erlebten die beiden mit ihrem Film „Der Lauf der Dinge“ auf der documenta Kassel 1987. In diesem Jahr erhielten sie auch ihren ersten größeren Auftrag für die alle zehn Jahre stattfindende Ausstellung  „Skulptur Projekte Münster„. Fischli & Weiss schufen einen verkleinerten Dutzendware-Büroblock, Repräsentant einer banalen Alltagswelt, eine „Ikone mittelständiger Macht und Prachtentfaltung“, so die Künstler. Spätestens seit ihrer Teilnahme an der 46. Biennale Venedig 1995 waren sie in allen großen Kunstmuseen der Moderne unterwegs. Skulpturen, Filme, Installationen, Projektionen wurden gezeigt, zum Beispiel die Fotoserie „Airports“ mit ihrer kaum zu beschreibenden Mischung aus banal und unheimlich, vertraut und befremdlich. Oder ihre Polyurethan-Skulpturen: Sie geben Alltägliches wieder, aber die beiden Künstler nannten eine Sechserserie 1985 „metaphysisch“.

Vertreten von der Matthew Marks Gallery in New York, sind Fischli und Weiss mit ihren Werken in bedeutenden Museen präsent, vom Museum of Modern Art New York bis zur Tate Modern in London; natürlich auch im Kunstmuseum Zürich und anderen Schweizer Sammlungen. In Deutschland besitzen etwa die Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, das Museum im Hamburger Bahnhof in Berlin, das Ludwig Forum in Aachen und der Skulpturenpark Köln Werke des Duos.

Die Hamburger Deichtorhallen 2008 und die Sammlung Goetz in München 2010 zeigten die letzten großen deutschen Einzelausstellungen; 2011 waren im Art Institute of Chicago Fischli & Weiss‘ klassische Werke zusammengefasst. Erst am 29. April ging im Folkwang Museum Essen die Ausstellung „Der Mensch und seine Objekte“ zu Ende, bei der ebenfalls eine ihrer Arbeiten gezeigt wurde. Der Biennale-Beitrag von 1995, „Arbeiten im Dunkeln“, ist ab 12. Mai in Wolfsburg in der Ausstellung „Sammlung Kunstmuseum Wolfsburg. Ausgewählte Werke von Carl Andre bis Sergej Jensen“ zu sehen. Dass durch den Tod von David Weiss dieses einzigartige Zusammenwirken zu Ende ist, schmerzt. „Muss ich mir den Tod vorstellen wie eine Landschaft mit einem Haus, in das man hineingehen kann, und wo ein Bett steht, in dem man schlafen kann?“, lautete eine der Fragen der Biennale-Installation. David Weiss wird sie jetzt beantworten können … .




Die Gespenster, die Lessing rief

Das Stück Lessings Gespenster im Schauspiel Dortmund, inszeniert vom kainkollektiv. Foto: Birgit Hupfeld

Das Stück Lessings Gespenster im Schauspiel Dortmund, inszeniert vom kainkollektiv. Foto: Birgit Hupfeld

Lessings Nathan der Weise ist ein Klassiker, gefeiert als Versöhnungsdrama der Toleranz zwischen den Weltreligionen. Die Künstlergruppe „kainkollektiv“ sperrt sich allerdings gegen diese Lesart – und sucht in „Lessings Gespenster – Eine Heimsuchung nach Nathan der Weise“ die anarchistische Seite des Aufklärers. Die Stückentwicklung feierte jetzt ihre Uraufführung im Dortmunder Schauspiel als On Stage Produktion.

Die Zuschauer stehen in langer Schlange am Hintereingang des Schauspiels, laufen durch die Katakomben des Theaters, lesen ein Schild mit den Worten „Lessings Gespenster. Rumlaufen erforderlich“, um dann mitten auf der Bühne zu landen, ohne Stühle, nur mit Raum, der erobert werden will. Alles anders als gewohnt. Ein sinnstiftender Einstieg, wenn es darum geht, einen Klassiker deutscher Literatur gegen den Strich zu bürsten oder ihm zumindest Geheimnisse zu entlocken.

Die Bühne ist zweigeteilt durch eine riesige Holzwand. Auf der einen Seite sitzt eine junge Frau (Merle Wasmuth) im barocken Kostüm in einem Glaskasten, auf der anderen liegt schlafend der fast 60köpfige Dortmunder Sprechchor in Tüllröcken (Ausstattung Oliver Helf). Ein Bär mit Deutschlandbinde umarmt die Zuschauer, drei Musiker spielen Haydn. Ein Hauch von Spannung, auch von Melancholie liegt in der Luft. Das Tor zu einem Traum, einem Zauberschloss, einer seltsam schönen Reise.

Es gibt keine Handlung, keine Geschichte, sondern nur den Sturz in Gedanken und Emotionen. Das „kainkollektiv“, bestehend aus Mirjam Schmuck, Alexander Kerlin und Fabian Lettow, verweigert sich der Eindeutigkeit. Den Weg, den der Zuschauer an diesem Abend einschlägt, muss er selbst wählen. Der Flyer immerhin verrät: Lessings Frauenfiguren stehen im Zentrum, die jung, schön und am Ende doch immer Opfer sind. So wird Merle Wasmuth mal zu Emilia Galotti, mal zu Sara Sampson und immer wieder zu Recha, der Tochter von Nathan, die am Ende, wenn alle sich in den Armen liegen, alles verloren haben wird: ihren Liebhaber, ihren Vater, ihren Glauben. Die junge Frau, egal in welcher Gestalt, ist gefangen in der Rolle, die die Gesellschaft ihr auferlegt hat, erdrückt von Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann – das gilt für die Figuren, aber auch für die Schauspielerin, für den heutigen Menschen. Verzweiflung und die Sehnsucht nach Freiheit und Ausbruch sprechen aus ihren Worten. „Das ist nicht zu verkraften, dass da immer schon Etwas im Raum ist, wenn wir erscheinen.“

Diesen Konflikt von Bild und Ich setzt das kainkollektiv beeindruckend um: Immer wieder treffen die Schauspielerin und ihre riesige Videoprojektion aufeinander, ist sie plötzlich umringt von dem auf sie einredenden Sprechchor oder erschlagen von dem riesenhaften Bild ihres Erziehers Nathan. Die Künstlergruppe greift aber auch das Paradoxon von Lessing selbst auf: Gefeiert als Vater der Toleranz und Versöhnung, hat er gelebt als saufender, spielsüchtiger Sozialfall.

Das Publikum kann sich mit diebischer Freude auf das Gebräu von Zitaten (von Joseph Beuys über Walter Benjamin bis zu Richard Wagner) stürzen. Oder aber es lässt sich fallen in den Sog dieses Abends, in die rauschhaften Bilder, Klänge und Emotionen – der vor allem getragen wird durch die großartige, charismatisch und zwingend spielende Merle Wasmuth, die in jeder Minute Zentrum der Inszenierung ist. Ein Stück, das mal heiter, mal verzweifelt und traurig, die Zuschauer mit vielen Fragen entlässt.

Die nächsten Termine: 22. April (18 Uhr), 6. Mai (18 Uhr)

P.S.: Kurzer Nachtrag zu dieser Besprechung (die so auch in der Westfälischen Rundschau erschienen ist): Während ich die Offenheit des Stücks durchaus mochte, habe ich im Nachhinhein gehört, dass es bei der Premiere auch Zuschauer gab, die von der Bühne geflüchtet sind.




Boltanskis Abo-Falle

Selten konnte die Netzkunstwelt etwas derart Undurchdachtes registrieren: Der hochgelobte, vielgerühmte Christian Boltanski hat einen Webshop basteln lassen, über den er – darin vergleichbar mit einer Pornoseite – per Abonnement gegen eine Monatsgebühr von zehn Euro zehn einminütige Filme vertreibt – jeden Monat einen.

Der Künstler, Jahrgang 1944, überdies dreimaliger documenta-Teilnehmer und Kaiserring-Träger 2001, verpflichtet den Abonnenten von www.christian-boltanski.com ferner zu einem kompletten Jahresabschluss. Mehr gibt’s dort nicht. Im Unterschied zu den Profis der Abo-Zocker lockt der Meister des Inventarismus nicht mit Previews, Goodies oder sonstigen Angeboten. Nicht einmal ein Pressebutton oder Info-File ist verlinkt. Der Rezipient erwirbt den Zugang als sprichwörtliche Katze im Sack.

Nun lässt sich hinsichtlich des Popularitätsgrads und der allseits dem Werk attestierten Bedeutungsschwere wie -höhe des französischen Meisters argumentieren, dass es sich um hintersinnig-konzeptuelles Wirkeln handele, das zu diesem poveren Ergebnis geführt hat. Sicher, die Mechanismen, mit denen die ausschließlich französischsprachige Site funktioniert, sind ein wenig anders als bei den kommerziellen Kollegen.

Auf der spartanisch-schmucklos grauen Seite mit ihrer schwarzen Allerweltstypografie leiten nur wenige Links am unteren Rand den Besucher. Der erste führt zum Filmarchiv, daneben lassen sich bereits erworbene Dateien auf ihre Authentizität hin prüfen. Es gibt einen Zugang zum Account, den man anlegen muss. Natürlich noch die typische Enfilade des Vertragsabschließens bis zum Payment. Ein Impressum und ein Verweis auf die Werbeagentur, die wahrscheinlich das Projekt hat programmieren lassen, vollenden den Strauß der Möglichkeiten.

Man könnte meinen, der Künstler hebele auf diese marktaffine Weise, aber eben mit anderen gestalterischen wie inhaltlichen Mitteln, die Ökonomisierung nicht nur von Original und Kopie, sondern auch von Urheber- und Verwertungsrechten aus. Außerdem suche er – wie vor Jahren schon Musiker wie die Einstürzenden Neubauten oder Radiohead – nach freieren, galerie- bzw. labelunabhängigen und direkteren Distributionswegen und spiele mit der Utopie derselben.

Man liest bereits im Geiste die Elogen der Fans: „Christian Boltanskis neue Website affirmiert und verweigert sich gleichermaßen dem Gedanken des Social Web-Hypes und rangiert daher in einer Art Zwischenreich: Es spiegelt und konterkariert die Mechanismen der zunehmend aggressiver agierenden Kreativwirtschaft, aber auch der Piratenkultur, und legt mit einfachen Mitteln gleichermaßen die Sehnsucht nach Authentizität in einer zunehmend abstrakter werdenden sozialen Sphäre bloß. Blahblubb…“ Ende des imaginierten Zitats.

Aber nein, dieses Angebot muss auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Es ist schlichtweg schwach und spiegelt letztlich in keiner Weise so etwas wie den Hacker-Spirit, den man angesichts der Flughöhe des Projektleiters und -schöpfers hätte erwarten können. Dieses Angebot schreit es förmlich heraus: Im Internet sind selbst die Verheißungen großer, etablierter Künstler nicht viel mehr als eine werbewirksame Maßnahme zur Akquise von Bargeld, selbst wenn diese im intellektuellen Gewand daher kommt. Keine Partizipation, nur Rezeption: Ein weiteres Merkmal der Seite. Keine formale wie inhaltliche Spiegelung der eingesetzten Mittel.

Wenn ein Künstler so ein Thema anfasst, sollte er sich mit Spezialisten zusammensetzen, die nicht nur etwas von der Gestaltung des Scheins verstehen. Das Netz hält mehr bereit, verlangt daher auch nach anderen, intelligenteren künstlerischen Strategien, und eine einfache Bezahlschranke lässt sich genauso wenig als künstlerisches Mittel schön schreiben wie ein minimalistisches Layout. Die einzige Leistung dieser Site ist ihr Modus: die  absolute Assertion.




Baumängel am Duisburger Lehmbruck-Museum: Zack und vorerst dicht

„Raimund, Dir haben sie gerade das Museum dicht gemacht.“ Der Direktor des Duisburger Lehmbruck-Museums, Raimund Stecker, bekam am Tag seines Geburtstags, dem 8. März, von seiner Stellvertreterin Claudia Thümler einen Anruf mit diesem Wortlaut. Das klingt wie der Beginn eines Spielfilms, aber die Realität ist oft noch seltsamer. Stecker interpretierte die abrupte Stilllegung: „Wir sind vor vollendete Tatsachen gestellt worden.“ Denn quasi in einer Nacht- und Nebelaktion schloss die kommunale Bauordnung erst einmal die Pforten. Zum Wochenende. Das kam reichlich überraschend, zumal jetzt zwei Ausstellungseröffnungen auf dem Programm stehen. Der Vorgang der Schließung ohne Vorwarnung erscheint zunächst einmal wie eine Absurdität. Jetzt arbeiten nicht nur die Bauarbeiter am Glasdach, um so schnell alsbald mit einem Provisorium den Publikumsbetrieb wieder herzustellen. Auch die Museums-Crew sucht nach Mittel und Wegen, die geplanten Projekte bis zum 15. März zu realisieren.

 

Die Blitzsanierung der Decke im Lehmbruckmuseum, Duisburg

Die Blitzsanierung der Decke, Foto: Lehmbruckmuseum

Rin inne Kartoffeln, raus ausse Kartoffeln, oder doch nicht? Dass das Duisburger Lehmbruck Museum für eine denkmalschutzgerechte Sanierung vollständig schließen wird, ist eine Tatsache. Bis wann das dauert, kann allerdings zum heutigen Zeitpunkt niemand genau sagen. Dieses herausragende Museum für Skulpturen im Kantpark bedarf der Renovierung. Das scheint spätestens jetzt offiziell die normative Kraft des Faktischen zu sein. In der vergangenen Woche, so berichtet ein Sprecher der Stadt, habe es Kontrollen gegeben, an deren Ende die Bauordnung sich zu einer „verschärften Gefährdungsabschätzung“ hinsichtlich der Deckenplatten in der Glashalle genötigt sah. Kontrollen kündige die Verwaltung übrigens niemals groß an, und wenn aufgrund von festgestellten Mängeln die Sicherheit nicht mehr garantiert werden könne, werde auch schnell gehandelt. Zudem sei eine sichernde Maßnahme an einem Geländer nicht hinreichend ausgeführt worden. Hinzu tritt aber noch ein anderes Faktum, was die Duisburger Behörde zu besonderer Aufmerksamkeit geradezu nötigt. Die grausame Tragödie auf der Love Parade 2010 hat schließlich auch zu erhöhter Sensibilität beigetragen. Zumal Mitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung auf der Anklagebank sitzen.

Auch die Gutachter des städtischen Immobilien-Managements Duisburgs (IMD), die sich um eine Erfassung aller notwendigen Maßnahmen bemühen, stellten diesen Montag bedauerlicherweise erhebliche Mängel an dem denkmalgeschützten Bau fest. Um die Decke in der großen Glashalle wieder instand zu setzen, sind gemäß Medienberichten 400 000 bis 450 000 Euro vonnöten. Doch das sind nur erste Schätzungen von IMD-Geschäftsführer Uwe Rohde. Nun ist es kein Wunder, dass ein Gebäude aus den sechziger Jahren irgendwann einmal Pflege benötigt. Entsprechende Maßnahmen zu avisieren und zu finanzieren hat man bislang versäumt. Denn seit der Vollendung sei kein Handschlag getan worden. Seitens der Stadt rechtfertigt man die Situation mit der angespannten Haushaltslage.

Beim allem Verständnis für die städtischen Hintergründe sollte eines nicht in Vergessenheit geraten: Trotz der Tatsache, dass bereits unter dem Dirigat von Christoph Brockhaus eine umfangreiche Mängelliste angefertigt wurde, die Raimund Stecker weitergeführt hat, ist bislang gar nichts geschehen. Das muss sich ändern, denn das Haus hat eine dauerhafte Zukunft mehr als verdient. Hinter vorgehaltener Hand wird das Verhalten auch der Politik als eine Abfolge von „Vertröstungen“ gewertet. Man habe die Causa ausgesessen und eben lange nicht reagiert. Und nun drücken die Not, das schlechte Gewissen, und es soll unbedingt vermieden werden, dass es zu einem weiteren schockierenden Ereignis kommt. Das ist natürlich vollkommen richtig, doch reicht es zu sagen, dass Geld fehle? Es ist schon erstaunlich, dass es für ein Museum von dieser Güte keinen Masterplan in Sachen Sanierung gibt. Dabei sei der Tenor bei allen in der Stadt klar: „Das Haus muss sein“, meint Stecker. Doch wie es weitergehen soll, weiß nicht nur er nicht. Der Stadtsprecher und der Kunsthistoriker erläutern quasi unisono, dass die Richtungsentscheidungen auf politischer Seite gefällt werden. Bleibt also zu hoffen, dass nun der Stein für eine ordentliche und finanziell abgesicherte Instandhaltung dieser wunderbaren Architektur endlich ins Rollen kommt.

Nachtrag, 14.3.2012: Wie das Lehmbruckmuseum und die Stadt Duisburg soeben bekannt gegeben haben, können beide Ausstellungen wie geplant, aber unter Auflagen am morgigen Donnerstag, 19 Uhr, eröffnen. Weiters bestehe Planungssicherheit auch für die darauf folgenden Projekte.




Franziska Becker – die Bilderbuch-Emanze

Franziska Becker

Wenn eine Künstlerin, eine Zeichnerin, einen bedeutenden Preis für ihr Lebenswerk erhält, und wenn ein nicht unbeträchtlicher Teil dieses Lebenswerkes sich mit dem Verhalten und dem Verhältnis der Geschlechter beschäftigt – dann hat man ein Problem. Einerseits will man Kunst und Künstlerin nicht auf dieses Thema reduzieren. Andererseits geht es immerhin um die Frau, die seit 1977, also seít Erscheinen der „Emma“, in jeder Ausgabe des Frauenmagazins vertreten ist. Franziska Becker, die in diesem Jahr Deutschlands einzigen Satirepreis, den „Göttinger Elch“, verliehen bekommt, verbindet man einfach mit Emma. Ist sie auch eine Emanze? Darf man „Emanze“ sagen? Und darf man fragen, ob man das sagen darf?

Der Krampf im Kopf löst sich durch körperliche Anstrengung: Franziska Becker hat für das Interview in ihre Dachgeschosswohnung in der Kölner Südstadt eingeladen. Im Hausflur der vierten Etage wird man immerhin mit einem ersten Bild der Karikaturistin belohnt, aber oben ist man deshalb noch lange nicht. Als Becker vor einigen Jahren Besuch von einem amerikanischen Journalisten hatte, der sie für seine internationale Kunst-Kolumne interviewen wollte, konnte der es gar nicht fassen: Fünf Stockwerke ohne Fahrstuhl, das gebe es in den Staaten seit seiner Geburt nicht mehr.

Franziska Becker scheint die tägliche Treppenlauferei gut zu bekommen – sie wirkt bedeutend jünger als 62. Das liegt wohl vor allem an ihren großen, dunklen, perfekt fallenden Locken, die sie häufig kunstvoll mit ihrer Hand zerstrubbelt. Sie trägt Schwarz, etwas raffiniert Geschnittenes, das irgendeine Mischung aus Kleid, Overall und Hosenanzug ist. Halt – würde man bei einem männlichen Künstler auch sehr ins Kleidungsdetail gehen? Da ist er schon wieder, der Krampf.

Lieber erst einmal mit einer unkomplizierten Frage beginnen. Findet sie es nicht frustrierend, mit Anfang 60 einen Preis fürs Lebenswerk zu bekommen – so, als sei von ihr nichts mehr zu erwarten? „Es klingt zwar so, als würde man bald abnippeln“, sagt Franziska Becker, „aber ich habe ihn lieber jetzt, als wenn ich schon tatterig bin. Und ich arbeite ja auch schon 35 Jahre, da hat man das meiste vom Arbeitsleben hinter sich.“

"Born to be wild" - Franziska Becker

"Born to be wild" - Franziska Becker

Tatsächlich waren die Elch-Preisträger der vergangenen Jahre – Olli Dittrich, Josef Hader, Helge Schneider – noch jünger. Bei den Entscheidungen der Jury steht, so heißt es, „nicht der Zeitgeist Pate; nicht der Massengeschmack und nicht momentaner Erfolg“, sondern „Können, Charakter und Wirkung“. Ausgezeichnet werden sollen Künstler, die Spuren hinterlassen. Dies galt in der Vergangenheit offenbar vor allem für Männer: Franziska Becker ist erst die zweite Frau, die den seit 1997 vergebenen Preis bekommt. Die erste war Marie Marcks, ebenfalls Karikaturistin.

Dass Franziska Becker Spuren hinterlassen hat, zeigt sich bereits heute. Tausende Frauen hatten oder haben ihre Bücher in den Regalen stehen, und ihre Kinder holen sie gern hervor, um sich darüber kaputtzulachen, wie es so war, früher: als der „neue Mann“ geboren wurde, der über seine Identität als Vater gleich ein „total authentisches Video“ drehte. Als die Frauen vom Heilkristall-Workshop zum Bauchtanz-Marathon fuhren. Als Gläserrücken und Schamanismus schwer in Mode waren und sich die Frauen in Frauencafés gegenseitig beharkten. In solchen Arbeiten illustriert Becker treffend die Verhältnisse, die skurril genug waren. Am stärksten ist sie aber, wenn sie in typischer Becker-Manier die Verhältnisse umkehrt. Ein simpler Kunstgriff, der ohne viel Worte, dafür umso bildgewaltiger zeigt, wie die Welt auch ganz anders sein könnte. Dann starren aufgeregt weibliche Augenpaare durch Seh-Schlitze einer Peep-Show, in der sich ein schlecht rasierter Mann mit Hundehalsband, ein Finger lasziv in den Mund gesteckt, selbst befriedigt. Dann stopfen Gänse den Käfig-Menschen mit Trichtern Brei in den Schlund, und modebewusste Zobel tragen Mäntel aus Menschenhaut, mit vielen Händchen vom Jungmensch. Und dann bedecken auch islamische Männer ihre Reize – mit einem extralangen Bart, der bis zum Gemächt reicht.

Menschenfreund - Franziska Becker

Menschenfreund - Franziska Becker

„Ich möchte für meine Arbeit und nicht als Frau honoriert werden“, sagt Becker dazu, „es gibt halt sehr wenige Karikaturistinnen, und wenige, die so lange durchhalten.“ Franziska Becker hält durch, seit 35 Jahren, ohne sich, wie sie sagt, „verbiegen zu lassen“, ohne sich verkauft zu haben. Darauf, sagt sie, sei sie schon ein bisschen stolz.
Gelegenheiten hat es durchaus gegeben – etwa eine Anfrage, ob sie nicht von der Emma zur Brigitte wechseln wollte. Doch Emma und Brigitte – das waren in den späten 70ern und frühen 80ern nicht einfach zwei Magazine für unterschiedliche Zielgruppen, das waren unvereinbare Welten. Und Becker, gerade in der einen Welt heimisch geworden, dachte nicht daran, sie wieder zu verlassen: „Ich fühle mich bis heute bei der Emma zu Hause, ich habe ja auch ein politisches Anliegen“, sagt sie. Inzwischen haben sich alle geändert: Emma, Brigitte, Franziska Becker selbst. Könnte sie sich inzwischen vorstellen, für beide Magazine zu arbeiten? Moralische Bedenken hätte sie heute keine mehr, sagt sie, aber: „Ich weiß nicht, ob die Alice das so prickelnd fände.“

Traumbaum - Franziska Becker

Traumbaum - Franziska Becker

Alice Schwarzer: Franziska Becker lernte sie 1975 in Heidelberg kennen. Zwei Jahre später hörte sie, dass Schwarzer für ihr neues Magazin eine Karikaturistin suchte, und bewarb sich mit einer Kugelschreiber-Zeichnung – ausgerechnet einer Parodie auf die „Vorher – Nachher“-Serie aus der Brigitte. Als Becker auf die sieben Jahre ältere Schwarzer traf, war „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ gerade erschienen; Schwarzer kam aus Paris zurück, wo sie sich mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre angefreundet hatte. Den Respekt, den Franziska Becker als Kunststudentin damals vor der Journalistin und Feministin empfand, hat sie sich bis heute bewahrt.

Die Geschichte ihrer Politisierung hat Franziska Becker schonungslos in einer ihrer Zwölf-Bilder-Geschichten nachgezeichnet. „Meine 68er in Heidelberg“ erzählt von einem etwas orientierungslosen Mädchen, das sich nach einem Semester Ägyptologie in einer „kleinmütigen Anwandlung“ doch für eine Ausbildung am Hygiene-Institut entscheidet. „So, halten Sie meine Pipette, Fräulein Becker“, sagt in der Bild-Geschichte ein unappetitlich distanzloser Ausbilder zu dem jungen Mädchen. Doch bevor sie dagegen auf die Barrikaden gehen wird, muss sie erst noch lernen, dass genau das – der Kampf um Gleichberechtigung – ihr Lebensthema ist, und nicht etwa der gegen den Monokapitalismus und das Schweinesystem, den ihr Freund und seine Kommilitonen ausfechten, während sie ihre Freundinnen Flugblätter tippen lassen. Erst, als Franziska Becker mit anderen Frauen ihr Ding machte, fühlte sich alles richtig an. Eine Emanzipationsgeschichte in Bildern, eine Bilderbuch-Emanzipation.

Noch richtiger wurde es, als Franziska Becker, ihrem Job bei Emma sei Dank, der Kunstakademie den Rücken kehren konnte. „Ich war unglücklich dort. Es gab viel Konkurrenz unter Männern – Frauen wurden nicht recht ernst genommen. Es gab keine einzige Professorin oder Assistentin, und es war alles andere als der Hort geistigen Austausches, den ich mir erhofft hatte“, sagt sie. Immerhin erwarb Becker unter dem Jung-Professor Markus Lüpertz brauchbare Kenntnisse im Aktzeichnen und Anatomie. Bereut hat sie ihre Entscheidung nie. Von nun an kümmerte sie sich selbst um ihre künstlerische Entwicklung – und das ausgesprochen erfolgreich. Aus dem anfangs noch kindlichen, ungeübten Strich wurde eine eigene Handschrift, erkennbar durch große Liebe auch zum kleinsten Mode-Detail.

Urzeitcomic - Franziska Becker

Urzeitcomic - Franziska Becker

Kaum zu glauben, dass sie ihre Zeichnungen nie nach der Natur, sondern stets aus der Erinnerung macht: Franziska Becker saugt Bilder in sich auf, speichert sie – und vertraut ihren Blick auf die Welt dann dem Papier an. Aus dem Job wurde ein Beruf. Franziska-Becker-Figuren findet man inzwischen in „Psychologie heute“ oder „Stern“, in der „Titanic“ oder in Tageszeitungen. Sie illustriert Bücher und malt, gerne auf großer Leinwand und unter Verarbeitung überraschender Materialien: alte Landkarten, Federn, Wolle, Papierschiffchen. Die Galerie Jöllenbeck vertritt ihre Bilder. Sie veröffentlichte mehr als 20 Bücher, darunter die Klassiker „Mein feministischer Alltag“, „Männer“, „Weiber“ oder „Hin und Her“, letzteres gemeinsam mit ihrem langjährigen Lebensgefährten, dem Zeichner Manfred von Papen (papan). Die Ausstellung, die der Elch-Preisträgerin derzeit im Alten Rathaus Göttingen ausgerichtet wird, ist bereits ihre 21. Einzelschau. Franziska Beckers Kulleraugen-Figuren mit ihren Langnasen waren bereits im Von der Heydt Museum Wuppertal, im Caricatura Museum Frankfurt, im Wilhelm Busch Museum Hannover oder im Kölnischen Stadtmuseum zu sehen.

Treu geblieben ist Franziska Becker nicht nur der Emma und ihrem zeichnerischen Einsatz für gleiche Rechte, treu blieb sie auch einem unkonventionellen Lebensstil: Die Künstlerin wohnt mal in ihrer Kölner Südstadtwohnung, mal in ihrem abgeschiedenen Atelier im Bergischen Land – und vier Monate im Jahr in Philadelphia. Dorther kommt ihr Freund, ein ehemaliger Soziologie-Professor. Becker hat ihn vor 15 Jahren kennengelernt: Er hatte ihr „New York Tagebuch“ in die Finger bekommen und ihr daraufhin einen Brief geschrieben.

Party - Franziska Becker

Party - Franziska Becker

Die USA, überhaupt das Reisen, verschaffen Franziska Becker noch einmal neue Themen und Pläne. In diesem Jahr, das hat sie sich fest vorgenommen, will sie mit ausgewählten Arbeiten unterm Arm beim „New Yorker“ vorsprechen, dem berühmten, kunstsinnig- intellektuellen Stadtmagazin. Außerdem will sie ein Kinderbuch schreiben und illustrieren, will sie viel mehr große Bilder malen und dabei neue Techniken ausprobieren. Neue Themen kommen ihr mit Anfang 60 sowieso: In „Der Fall Mutti“ versucht Tochter Franziska erfolgreich, den Kränkungen und Unverschämtheiten einer altersdementen Frau Humor abzuringen – mit Erfolg. Für diese Bildgeschichte wurde Franziska Becker – wie für viele andere vermeintlich politisch unkorrekte auch – von einem Teil ihres zumeist weiblichen Publikums angefeindet. Doch davon hat sie sich, wie von so manch anderem auch, längst emanzipiert.

(Der Text erschien zuerst in der Februar-Ausgabe des Magazins K.WEST)




Oberhausen zeigt die Plakate von Keith Haring: Schlicht und einfach universell

Die meisten kennen Keith Haring vor allem als legendären Graffiti-Künstler. Doch irgendwann drängten seine Schöpfungen vom buchstäblichen Underground (ab 1979 bildliche „Kurznachrichten“ auf freien Werbeflächen in der U-Bahn von New York) in den oberirdischen öffentlichen Raum, sodann auch in Galerien, Museen und auf Plakatwände, ja sogar in die Produktwerbung. Jetzt ist unter dem Titel „Short Messages“ sein komplettes Poster- und Plakatschaffen (85 Entwürfe) im Schloss Oberhausen zu sehen. Die Leihgaben stammen aus dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.

Keith Haring: "National Coming Out Day" (Offsetlithographie, 1988 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: "National Coming Out Day" (Offsetlithographie, 1988 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Haring (1958-1990) ist nur 31 Jahre alt geworden, er starb an Aids. Doch in der kurzen Spanne zwischen 1982 und 1989 ist in eminent starken, bis heute nachwirkenden Ansätzen bereits ein veritables Lebenswerk von ganz eigener Güte entstanden. Man vermag sich kaum vorzustellen, was daraus noch hätte sprießen und blühen können.

Für hehre Anliegen wie etwa atomare Abrüstung oder Leseförderung zog Haring ebenso plakativ zu Felde wie für eigene Ausstellungen oder für Alkohol- und Zigarettenreklame (Absolut Vodka, Lucky Strike). In allen Fällen gab er sich ersichtlich gleichermaßen Mühe, zur optischen Essenz zu gelangen. Eine Neigung zu kommerziellen Darbietungen kam nicht von ungefähr: Von 1976 bis 1978 hatte er in Pittsburgh Werbegraphik studiert.

Keith Haring: "Absolut Vodka" (Schweden, 1988, Offsetlithographie) (Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: "Absolut Vodka" (Schweden, 1988, Offsetlithographie) (Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Schon früh sind die wesentlichen Zeichen und Chiffren beisammen, die immer und immer wiederkehren, so beispielsweise Hund, Roboter, Engelswesen, vor allem aber das „Strahlen-Baby“ (sozusagen ein zweites Ich des Künstlers) und überhaupt von Strahlkränzen umfasste Figuren, die in ihrem schlichten Sosein und simplen Aktionen aufleuchten, vor allem anfangs so selbstgewiss und optimistisch, dass es europäischen Betrachtern wohl ganz besonders auffallen muss. In der besagten Wodka-Reklame steigert sich denn auch eine Menge unter der Flaschen-Apotheose so selbstverständlich in Verzückung hinein, als könnte es gar nicht anders sein.

Einfachste Handlungsmuster (Fußtritt, Schlag) bezeichnen andererseits auch die Richtung etwaiger Attacken. In „Crack Down“ wird das verhasste Rauschgift schlichtweg zertreten. Weg damit! Es heißt, der kleine Keith hätte unter Anleitung seines Vaters schon mit 3 Jahren Comics kopiert. Man glaubt es ohne weiteres. Es waltet eine höchst prägnante Strichmännchen-Ästhetik, unter der die wenigen Textzeilen nahezu verschwinden. Die universelle Botschaft versteht sich auch und gerade so.

Keith Haring: "Montreux 1983. - 17ème Festival de Jazz" (Siebdruck / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: "Montreux 1983. - 17ème Festival de Jazz" (Siebdruck / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Aber Vorsicht: Wer sich in flotten Deutungsversuchen erginge, käme nicht so schnell an ein Ende. Hin und wieder windet Haring seinen überschaubaren Kosmos ins wuchernd Ornamentale, ja Labyrinthische, so dass man doch mühselig entwirren und entziffern muss. Auch arbeitet er bisweilen „gegen den Strich“, indem er etwa zum Jazzfestival von Montreux (1983) Breakdance-Figuren ihre dynamischen Spiralen vollführen lässt. Wer den gar hübschen Fachbegriff dafür vermissen sollte, erhält ihn hier gratis dazu: „Figura serpentinata“. Schlängelnd verdrehte, verzwirbelte Welt.

Das allererste Plakatmotiv kam zur großen Antiatom-Demo (12. Juni 1982 in New York) heraus, Keith Haring ließ 20000 Exemplare auf eigene Kosten und daher auf preiswertem Papier drucken. Aus gleichem Grund sind manche Exponate heute so empfindlich, dass man auch in Oberhausen nicht umhin kommt, das Licht zu dimmen.

Keith Haring: Poster for Nuclear Disarmament (1982 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: Poster for Nuclear Disarmament (1982 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Interessante Querverweise ergeben sich, weil Haring gern mit Künstlern wie Andy Warhol, Jean-Michel Basquiat oder Yoko Ono kooperiert hat. Sogar der Eigenbrötler Roy Lichtenstein (den Oberhausen im letzten Jahr präsentiert hat) ließ sich zu einer solchen Gruppenarbeit herbei. Wiederum fürs Jazzfestival in Montreux (1986) hat Warhol ein Notenbild angelegt, zwischen dessen Linien sich typische Haring-Figuren tummeln. Allerliebst.

Für seine Ausstellung im Stedelijk Museum zu Amsterdam plakatiert Haring 1986 seinen Namen und bezieht ihn bildwitzig auf den Hering. Hier strotzt sein Schaffen noch vor ungebändigter Kraft.

1987 dann die niederschmetternde Diagnose: Keith Haring leidet an Aids. Nun entwirft er vor allem Plakate zum Kampf gegen die Immunschwäche und zum schwulen Selbstbewusstsein – mit aller grellen Dringlichkeit. Den rosa Winkel, den die Nazis zur Brandmarkung der Homosexuellen benutzt hatten, dreht er kurzerhand um, so dass er als Pyramide historische Dignität gewinnt und gleichzeitig zukunftsfroh himmelwärts weist.

Eine Haring-Figur, die denkbar kurzlebige Seifenblasen in die Luft pustet (und auf diese eh schon vergänglich schillernden Gebilde auch noch einsticht), mag als zeitgemäßes Todesbild gelten. Ab 5. Februar wird diese Qualität im ungewohnten Kontext womöglich noch deutlicher. Dann werden an gleicher Stätte auch einige Todesdarstellungen aus der frühen Neuzeit gezeigt.

Keith Haring: „Short Messages“. Poster und Plakate 1982-1990. Vom 22. Januar (Eröffnung 19 Uhr) bis zum 6. Mai 2012. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 6,50 Euro (ermäßigt 3,50 Euro), Familie 12 Euro. Infos/Buchung Schulführungen 0208/41 249-28. Internet http://www.ludwiggalerie.de




Glaskunst in Leipzig: Fenster des Bottroper Bauhaus-Künstlers Josef Albers rekonstruiert

Leipzig/Bottrop. Er war zweifellos einer der einflussreichsten Bauhaus-Künstler, vor allem, weil er die Ideen dieser Weimarer und später Dessauer Bewegung in den USA verbreitete: Josef Albers, 1888 in Bottrop geboren, unterrichtete nach seiner Emigration 1933 spätere Größen wie John Cage, Robert Rauschenberg, Merce Cunningham oder Richard Serra. In Bottrop erinnert das Josef Albers Museum im Quadrat an den Künstler, der seiner Heimatstadt einen großen Teil seines Nachlasses schenkte. Derzeit ist – nur noch bis 15. Januar – dort die Ausstellung „Gotthard Graubner. Gespräch mit Josef Albers“ zu sehen.

Doch seit Dezember gibt es eines der großen Glaswerke Albers wieder sinnlich zu erleben. Dazu muss man nach Leipzig fahren. 1926 hatte Albers für den damals hochmodernen, expressionistischen Bau des Grassi-Museums Glasfenster entworfen, strenge geometrische Konstruktionen im „Thermometerstil“. Sie waren, so versichert das Grassi-Museum, die größte Flachglasarbeit eines Künstlers der Dessauer Bauhauszeit. Albers war damals bereits ein bekannter Glaskünstler. 1925 als erster Bauhaus-Absolvent zum „Meister“ berufen, hatte er bereits eine Reihe von Fenstern entworfen, daneben auch Möbel und Haushaltsgeräte.

Die Leipziger Fenster fielen dem Krieg zum Opfer und wurden später durch einfaches Fensterglas ersetzt. Doch 1996 entdeckte man im Firmenarchiv der Berliner Glasmalerei-Firma Puhl & Wagner, G. Heinersdorff – erhalten in der Berlinischen Galerie – die 1:1 Kartons und Fotografien der Entwürfe der Fenster wieder. Diese hatte die Entwürfe von Albers 1927 realisiert. Dank des Fundes war es möglich, die Komposition der Scheiben bis ins kleinste Detail nachzuvollziehen.

Die Albers-Fenster bei einbrechender Dunkelheit, vom Mittelhof aus gesehen, 2011
Die Albers-Fenster bei einbrechender Dunkelheit, vom Mittelhof aus gesehen, 2011

Vor allem gelang es auch, die ausgefeilte Technik von Albers präzise zu analysieren. So verwendete er mundgeblasenes Doppelüberfangglas. Es besteht aus einem klaren Trägerglas mit einem opaken weißen Überfang und einem grünlichgelben Farbüberfang. Der doppelte Überfang bewirkt unter anderem, dass bestimmte Partien von innen betrachtet dunkel, von außen gesehen hingegen hell erscheinen. Akzentuiert wird das Glas durch flächig aufgetragenes Schwarzlot und Silbergelb sowie horizontale und lineare Schliffe.

Unter den baugebundenen Projekten von Josef Albers kommt den 18 Fenstern im Haupttreppenhaus des Grassi-Museums eine zentrale Rolle zu, heißt es in der Mitteilung des Hauses. Ermöglicht wurde die Rekonstruktion durch das Engagement der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und der Sparkasse Leipzig. Die Ausführung der Fenster lag in der Hand des traditionsreichen Paderborner Glasmalereibetriebes Peters.

Die Mittelgruppe der Fenster in Verbindung mit der Treppenhausarchitektur, 2011, Foto: Uli Kühnle, Halle/Saale
Die Mittelgruppe der Fenster in Verbindung mit der Treppenhausarchitektur, 2011
Fotos: Uli Kühnle, Halle/Saale

Der Besuch im Grassi-Museum lohnt sich jedoch nicht nur wegen der rekonstruierten Albers-Fenster: Das Museum für Angewandte Kunst ist ebenso sehenswert wie die fabelhafte Musikinstrumenten-Sammlung. Und im Museum für Völkerkunde – ebenfalls im Grassi – lässt sich derzeit moderne Malerei aus Haiti bewundern.




„Goldene Pracht“: 300 Objekte mittelalterlicher Goldschmiedekunst ab Februar in Münster

Es geht nicht nur um Reiz und Glanz des Edelmetalls: Die Ausstellung „Goldene Pracht“ in Münster will als interdisziplinäres Kooperationsprojekt das theologische, historische und soziale Umfeld beleuchten, im dem kostbare Werke mittelalterlicher Schatzkunst entstanden sind. Gemeinsam mit dem Landesmuseum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) und dem Bistum Münster ist der Forschungsverbund „Religion und Politik“ an der Universität Münster an dem Projekt beteiligt.

Nach Aussage des Münsteraner Historikers Prof. Gerd Althoff würdigt die Ausstellung erstmals die Pracht westfälischer Goldschmiedekunst, die lange im Verborgenen schlummerte: „Im Vergleich mit den internationalen Spitzenwerken wird sich dem Publikum ihr hohes Niveau erschließen.“

Ab 26. Februar zeigt die Ausstellung auf 1500 Quadratmetern im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte und in der Domkammer rund 300 Exponate aus dem 10. bis 16. Jahrhundert. Von den 240 Leihgaben kommen 220 aus Deutschland, 180 davon aus westfälischen Kirchen, Klöstern, Archiven und Museen. Der Rest stammt aus Belgien, Großbritannien, Finnland, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz. Das LWL-Landesmuseum und die Domkammer steuern selbst 60 Exponate bei.

Herausragende Stücke aus dem Ausland sind zum Beispiel die Thronende Muttergottes von Walcourt/Belgien, die weltweit älteste Monstranz aus der belgischen Abtei Herkenrode oder der Sifridus-Kelch aus dem finnischen Borga, der im 30-jährigen Krieg (1618-1648) aus dem Osnabrücker Schatz verschwand. Die Goldschmiedekunst wird in der Ausstellung ergänzt durch Skulpturen, Tafelbilder, Buchmalerei und liturgische Gewänder. Neben schriftlichen Dokumenten veranschaulichen sie den künstlerischen Rang, die Symbolik und die vielschichtige Bedeutung der Goldschmiedewerke.

Kennzeichen der Ausstellung ist der Vergleich westfälischer Goldschmiedekunst mit internationalen Arbeiten. So lassen sich nicht nur internationale künstlerische Einflüsse auf die westfälische Kunst entdecken, sondern auch die hohe Qualität der Objekte, meint der Kurator des Bistums Münster, Holger Kempkens: „Der Beckumer Prudentia-Schrein, in heimischer Goldschmiedeproduktion entstanden, wird neben dem berühmten Marienschrein aus Tournai erstrahlen, der aus der berühmten Werkstatt des Nikolas von Verdun stammt, dem Erbauer des Dreikönigsschreins im Kölner Dom.“

Reliquien-Statuette des Heiligen Laurentius, aus Senden (um 1390). (LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster / Foto: Sabine Ahlbrand-Dornseif)

Reliquien-Statuette des Heiligen Laurentius, aus Senden (um 1390). (LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster / Foto: Sabine Ahlbrand-Dornseif)

Nach Ansicht von Prof. Gerd Althoff vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ schreibe die Ausstellung ein Stück westfälischer Geschichte neu. „Das Spätmittelalter stellt sich hier nicht als Zeitalter des Niedergangs dar, sondern als kulturelle Blütezeit: Ein selbstbewusstes Bürgertum stiftete aus tiefer Frömmigkeit hochwertige Kreuze, Kelche oder Schreine. Einige Klischees über die Provinzialität der Westfalen lassen sich im Licht der ‚Goldenen Pracht‘ über Bord werfen.“

Wichtigste Produktionsstätten in Westfalen waren zunächst die Bischofssitze Münster, Paderborn und Osnabrück sowie das Benediktinerkloster Corvey und das Frauenstift Essen, wie die Schau nach den Worten von Kurator Kempkens verdeutlichen wird. Ab dem 13. Jahrhundert entstanden die Werke zunehmend in den erblühenden Hansestädten Soest und Dortmund. Historiker Althoff: „Die Entstehung dieser goldenen Pracht stellt einen wesentlichen, bislang kaum erschlossenen Aspekt der Geschichte Westfalens dar und kann die historische Identität der Region genauso stärken wie die Erinnerung an den Sieg über die Römer und an den Westfälischen Frieden.“

Von der Kunstfertigkeit der Goldschmiede zeugen in der Ausstellung Schätze wie der Cappenberger Barbarossa-Kopf, das wohl erste Porträt des Mittelalters, das Borghorster Reliquienkreuz oder einzigartige Silberstatuetten wie die der Heiligen Agnes aus dem Münsterischen Domschatz. „Viele Stücke holen wir erstmals aus dem Verborgenen“, sagt Bistums-Kurator Kempkens. „So werden die Apostelfiguren vom Hochaltar des Münsterischen Doms nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder öffentlich zu sehen sein.“ Die Schau zeigt aber auch weltliche Kostbarkeiten wie das Osnabrücker Ratssilber.

Die Ausstellung „Goldene Pracht“ wird vom 26. Februar bis 28. Mai im LWL-Landesmuseum für Kunst und Kultur und in der Domkammer in Münster gezeigt. Ein „Goldener Pavillon“ mit der Nachbildung einer mittelalterlichen Goldschmiedewerkstatt verbindet beide Ausstellungsorte. Das Museum hat täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr geöffnet. Im Hirmer Verlag erscheint ein 480-seitiger Katalog, der in der Ausstellung 29 Euro kosten wird.

Info-Telefon: (02 51) 59 07-201. Internet: www.goldene-pracht.de




August Macke vor 125 Jahren geboren – Farbe, Licht und lebensfrohes Schaffen

Eines seiner Bilder – natürlich ein Druck – hängt immer noch über meinem Bett, es hat nun eine ganze Reihe innerfamiliärer Ereignisse und Umzüge miterlebt, strahlt unbeirrt seine heitere und spannungsfreie Atmosphäre aus und begleitet meine Tageslaune positiv. Es stammt aus dem riesigen Werk des August Macke, dessen Vorname heute gern mal von Lehrenden „fransösisch“ mit „Ogüste“ prononciert wird, weil eine frankophone Herkunft den meisten ja grundkünstlerisch vorkommt, zumindest für einen Vertreter des Expressionismus.

Macke-Kataloge aus den Verlagen Hatje Cantz (erschienen 2001, links) und Wienand (erschienen 1992 zur Ausstellung in Emden, Ulm und Bonn, rechts) (Foto: Bernd Berke)

Macke-Kataloge aus den Verlagen Hatje Cantz (erschienen 2001, links) und Wienand (erschienen 1992 zur Ausstellung in Emden, Ulm und Bonn, rechts) (Foto: Bernd Berke)

Aber August hieß wirklich August, wurde heute vor 125 Jahren im Sauerland geboren, in Meschede, zog mit den Eltern aber schon im Kindesalter zunächst nach Köln und später nach Bonn. Ja, er war auch mal in Paris, ja, er setzte sich auch mal gern dem Sonnenlicht des Südens (Tunesien) aus, aber er malte sein gewaltiges Werk überwiegend in Bonn. Allein rund 200 Mal stand seine Elisabeth im Zentrum seiner Bilder, die frohe Farben, kaum zu stillende Lebenslust und ganz sicher auch die ganz unverbraucht naive Freude am Luxus ausstrahlten.

August Macke, der gern und ungemein viel lernte, der sich ebenso gern und ebenso gern vieles selbst beibrachte, entfernte sich auch deshalb nach kurzer Zugehörigkeit von Kandinsky und dem „Blauen Reiter“, zu dem er durch Franz Marc, den lebenslangen Freund, gestoßen war. Allerdings hingen auch seine Bilder bei der ersten Ausstellung des „Blauen Reiter“ in Hagen bei Karl-Ernst Osthaus, dem August Macke große Bewunderung entgegen brachte. Alsbald aber wandte er sich wieder Bonn zu und seiner Lebensfreude zu, Kandinsky war ihm einfach zu theoretisch.

Nur mal gerade zehn Jahre blieben ihm, um ein ungeheuer umfangreiches Werk zu schaffen. Nur 27 Jahre durfte er alt werden, ehe ihm der Erste Weltkrieg schon 1914 das kreative Leben nahm. Allein diese Information in Schülerzeiten reichte mir, Patriotismus und Feldgesänge für immer als das Dümmste zu empfinden, was Menschen bewegen kann. Was bitte sehr, hätte er noch schaffen können, wenn dieser Krieg nicht gewesen wäre? Franz Marc wurde zwei Jahre darauf ebenfalls ein Opfer dieses Schlachtens, er starb bei Verdun.




Von der Schönheit zum Schrecken: Die Deutschen und ihr Wald

Walter Leistikow "Abendstimmung am Schlachtensee" (Öl auf Leinwand, um 1900). Copyright: Stiftung Stadtmuseum Berlin. Foto: Hans-Joachim Bartsch, Berlin

Walter Leistikow "Abendstimmung am Schlachtensee" (Öl auf Leinwand, um 1900). Copyright: Stiftung Stadtmuseum Berlin. Foto: Hans-Joachim Bartsch, Berlin

Der deutsche Wald ist mehr als die bloße Summe seiner Bäume. Mit 800.000 Beschäftigten und 108 Milliarden Euro Umsatz ist er ein riesiger Wirtschaftszweig und ein Wunderwerk der Ökologie. Vor allem aber ist er ein Ort der Mythen und Märchen, der Freizeitgestaltung und Kunstbetrachtung, der nationalen Selbstvergewisserung und Verblendung.

Seit Heinrich von Kleist die „Hermannsschlacht“ im Teutoburger Wald zur Geburtsstunde deutscher Größe und Widerstandskraft stilisierte, seit die feingeistigen Romantiker mit des „Knaben Wunderhorn“ sehnsuchtsvoll seufzten und unter grünen Bäumen Geborgenheit suchten, hat der deutsche Wald symbolische und spirituelle Kraft. Dass er auch politisch und ideologisch aufgeladen ist, wissen wir nicht erst seit dem vermeintlichen „Waldsterben“ der 1980er Jahre. Schließlich hatten bereits die Nazis den Wald zum „Kraftquell“ des deutschen Volkes und zur semitischen Sperrzone erklärt: „Juden sind in unseren deutschen Wäldern nicht erwünscht.“

Das steht auf einem antisemitischen Schild, das der Arbeiterfotograf Eugen Heilig 1936 in einem Waldstück bei Mittenwalde aufgenommen hat. Das ungeheuerliche Foto belegt, wie der deutsche Wald zur Projektionsfläche nationalen Wahnsinns und rassistischer Verblödung wurde. Es ist eines von 550 Exponaten, welche das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin zusammengetragen hat, um der Deutschen Lust und Last mit ihrem ebenso realen wie märchenhaft verklärten und ideologisch besetzteb Wald zu dokumentieren. „Unter Bäumen“ heißt die Ausstellung, die den deutschen Wald von allen Seiten künstlerisch, politisch und wissenschaftlich einkreisen will.

"Rast im Wald" (Fotografie, um 1930). Voller Ernst Gbr, Berlin

"Rast im Wald" (Fotografie, um 1930). Voller Ernst Gbr, Berlin

Es ist die erste Ausstellung, die Alexander Koch, der neue Chef des DHM, verantwortet. Der 45-Jährige hat vorher das Historische Museum der Pfalz in Speyer geleitet und sich einen Ruf als unkonventioneller Denker erworben, der keine Scheu hat vor populären Inszenierungen. „Wir wollen neue Kontexte schaffen“, meint Koch zum Antritt seines „Traumjobs“. Und: „Wir müssen vielgestaltiger werden“, hat er seinen Kuratoren mit auf den Weg gegeben.

Otto Geiger "Wandern mit 'Kraft durch Freude'" (Plakat der NS-Organisation "Kraft durch Freude", um 1935). Copyright: Deutsches Historisches Museum, Berlin. Foto: Arne Psille

Otto Geiger "Wandern mit 'Kraft durch Freude'" (Plakat der NS-Organisation "Kraft durch Freude", um 1935). Copyright: Deutsches Historisches Museum, Berlin. Foto: Arne Psille

Auf 1100 Quadratmetern Fläche werden deshalb mehr Fragen gestellt als vorschnelle Antworten gegeben. Das Spektrum der Exponate reicht von der romantischen Malerei eines Caspar David Friedrich bis zum „Spiegel“-Cover über besagtes „Waldsterben“, von den röhrenden Hirschen in deutschen Schlafzimmern bis zum deutschen Heimatfilm („Der Förster vom Silberwald“), von guten Jägern und bösen Wilderern bis zur großformatigen „Hermannsschlacht“ eines Anselm Kiefer. Es gibt Bäume aus Holz und aus Plastik, Filmvorführungen und Lesungen, Volkslieder und einen Raum, in dem der deutsche Wald zum kriminalistischen TV-„Tatort“ wird: Immer ist der Wald ein Ort der Schönheit und des Erschreckens, der Geheimnisse und der Vergänglichkeit. Denn: Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus!

Dass die Deutschen ein Bundeswaldgesetz haben, wundert kaum. In Paragraph 14, Absatz 1 heißt es: „Das Betreten des Waldes zum Zwecke der Erholung ist gestattet.“ Dann steht eigentlich nichts im Wege, damit jeder Besucher den aus viel Kunst und noch mehr Kitsch geformten Wald-Parcours für sich zu einem sowohl echten wie metaphysischen Natur-Erlebnis machen kann.

Deutsches Historisches Museum (DHM): „Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald.“ Unter den Linden 2, Berlin-Mitte, bis 4. März 2012, täglich von 10-18 Uhr. Eintritt 6 Euro (Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei). Katalog (320 S., ca. 250 Abb., 25 Euro). Weitere Infos unter Telefon 030/20 30 44 44 oder http://www.dhm.de/ausstellungen/unter-baeumen/

 

"Die Wilderer" (Chromolithographie, um 1880). Copyright: Staatliche Museen zu Berlin - Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia

"Die Wilderer" (Chromolithographie, um 1880). Copyright: Staatliche Museen zu Berlin - Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia




Die 10 Millionen-Euro-Versuchung für Hagen: „Christie’s“ will Hodlers „Der Auserwählte“

Nun erwarte ich gespannt, was sich Jörg Dehm und Kolleginnen und Kollegen in ihre Sinne kommen lassen, wie sie denn mit dem unmissverständlich bekundeten Interesse von „Christie’s“ an Ferdinand Hodlers „Der Auserwählte“ umgehen wollen. Taxierte 10 Millionen Euro ist dem Londoner Auktionshaus das Bildnis wert, Hagens christdemokratischer Oberbürgermeister Dehm gerät vollends in Wanken und stubst die Chefs der im Rat der Stadt vertretenen Fraktionen kräftig an, dass sie mit im Gleichtakt wanken. 10 Millionen Euro, das wäre mal ein Wort fürs finanzgestresste Hagen.

Schon fühle ich mich an meine düsteren Gedanken mit schwacher Vision für eine nennenswerte Zukunft lokaler Kultur erinnert. Einst wollte ein gewisser Karl-Ernst Osthaus mit dem „Hohenhof“ ein Gesamtkunstwerk erschaffen, und sorgte gemeinsam mit dem Architekten Henry van de Velde dafür, dass außen wie innen in einem engen Zusammenspiel der „Hohenhof“ nicht einfach ein Jugendstilgebäude wurde, sondern eine vollendete Hülle für bildende Kunst.

Jener Karl-Ernst Osthaus hinterließ seinem Hagen indes nicht nur den „Hohenhof“, den man ja eigentlich ins UNESCO-Weltkulturerbe einordnen möchte, er hinterließ ein kaum zu überschätzendes Museum mit einer durchaus weltweit großartigen Sammlung, er rief die Folkwang-Bewegung ins Leben und schuf damit die Grundlage dafür, dass ein Großteil seiner Bemühungen schon in den frühen 1920er Jahren von den Hagenern versilbert werden konnten – nach Essen, mit dem heute der Name Folkwang verbunden ist.

Karl-Ernst Osthaus hatte einen Traum: dass Kunst und menschliches Leben miteinander versöhnbar seien. Oberbürgermeister Dehm und die anderen Hagener Politiker seien daran erinnert: Ferdinand Hodlers flächiges Gemälde wurde von Karl-Ernst Osthaus und Henry van de Velde geradezu in den Empfangsraum des „Hohenhofes“ eingepasst, sozusagen umbaut. Das Bild ist Teil der Architektur und diese, wenn man so will, der Rahmen des Bildes. Denkt bitte nicht im Traum daran, dieses (wegen versicherungstechnischer Randerscheinungen ins Osthaus-Museum ausgelagerte) Ensemble dauerhaft zu zerstören, um Geld für die Stadt zu erwirtschaften!




Kunstvoll Geld verdienen

In Zeiten wie diesen kommen viele Anleger auf die Idee, ihr Geld zu Kunst zu machen. Kurzfristige Gewinne erzielt damit jedoch vor allem eine Gruppe – die der Berater. Einer Szene auf der Spur.

Die "Lesende" von Gerhard Richter, dem teuersten deutschen Künstler.

Kann man sich leisten: Die "Lesende" von Gerhard Richter als Postkarte. Bringt aber kein Geld.

November 2011. Ein abstraktes Bild von Gerhard Richter erzielt bei einer Auktion von Sotheby’s in New York 15 Millionen Euro, fast doppelt so viel wie erwartet. Ein Monat zuvor kam bei Christie’s eines seiner Kerzen-Gemälde unter den Hammer – für 12 Millionen Euro. Gerhard Richter ist 79, und er malt noch immer. Fast jedes Bild, das sein Atelier verlässt, wird seinen Galeristen aus den Händen gerissen. Wohl dem, der einen Richter hat – doch jetzt Richter kaufen?

Wie anders erging es damals Pablo Picasso. Erst zwei Jahrzehnte nach seinem Tod konnte sich die Kunstwelt mit seinem Spätwerk anfreunden. Doch auf dem Kunstmarkt ist Picasso keine sichere Bank: Mal erreichen seine Werke Rekord-Ergebnisse wie im vergangenen Jahr, als ein Käufer für das Ölgemälde „Nackte, Grüne Blätter und Büste“ 106 Millionen Dollar ausgab. Mal zählt er zu den Ladenhütern, wie bei einer Auktion in diesem November.

„Viele glauben, wenn ich einen Picasso habe, habe ich immer ein gutes Bild. Das ist aber nicht so. Es gibt gute und schlechte Picassos, auch nicht so gut verkäufliche. Wir beraten unsere Kunden, dass sie das richtige Bild zu einem realistischen Preis kaufen“, sagt Dr. Stefan Horsthemke. Auch zum derzeit teuersten deutschen Maler hat er eine Meinung: „Die Preise für Richter sind auf einem sehr hohen Niveau. Als Invest würden wir das nur empfehlen, wenn es einem wirklich gut gefällt.“

Es ist offenbar leicht, Geld zu Kunst zu machen, aber eine Kunst für sich, sein Vermögen mit Kunst zu mehren. Dr. Stefan Horsthemke ist kein Künstler. Doch die Kunst, mit Kunst zu verdienen, beherrscht er gut. Kein Wunder nach einem passgenauen Studium der Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Kulturmanagement und der Kunstgeschichte, inklusive Dissertation („Das Bild im Bild in der italienischen Malerei“). Erfahrungen mit dem Kunstmarkt sammelte der Kunsthistoriker bei der AXA Art – er versicherte die Werke, bei deren Ver- und Ankauf er nun hilft, bewertete und beriet zahlreiche Privatsammlungen. Nebenbei baute er seine eigene Sammlung zeitgenössischer Kunst auf. Nun hat Horsthemke gemeinsam mit dem Düsseldorfer Kunst-Berater Helge Achenbach und der ältesten deutschen Privatbank, der Berenberg-Bank, die „Berenberg Art Advice“ gegründet. Ein eigenständiges Unternehmen, das sich nicht nur dem Aufbau und der Verwaltung von Sammlungen sowie der Kunstberatung verschrieben hat, sondern das Kunden auch dabei unterstützt, ihr Geld in Öl auf Leinwand zu investieren – und Kapital aus der Kunst zu schlagen. Ein genialer Schachzug für alle Beteiligten. Das prall gefüllte Adressbuchvon Kunstberater Achenbach, der, wie er in einem Interview verriet, seit 15 Jahren nicht mehr akquirieren muss, wurde noch angereichert durch die Sammler-Kontakte Horsthemkes und die Abwicklungsmöglichkeiten über eine Privatbank.

Immobilienblasen können platzen, Aktienbörsen zusammenbrechen, Währungen wertlos werden. Ein Bild bleibt dagegen ein Bild. Auch wenn die Finanzwelt verrückt spielt – mit einem Kunstwerk hat man nicht nur ästhetischen oder dekorativen Mehrwert, sondern besitzt ein Stückchen Kunstgeschichte. Man holt sich die Aura des Originals ins Haus. Und so beantworten Reiche und Superreiche die Frage „Wohin mit dem Geld?“ zunehmend mit „Kunst“. Der internationale Kunstmarkt hat aktuell ein Volumen von 20 Milliarden Euro, in Boom-Jahren wie 2010 können es auch schon mal 43 Milliarden sein. „Das liegt auch daran, dass der Markt internationaler geworden ist, immer mehr Sammler kommen aus Asien, vor allem aus China“, sagt Horsthemke.

Horsthemke spricht mit ruhiger, sonorer Stimme. Seine goldenen Manschettenknöpfe blitzen auf, wenn er während des Gesprächs kurz E-Mails auf dem iPad checkt oder das Klingeln seines iPhones unterdrückt. Die beiden Geräte wirken seltsam aus der Zeit gefallen in dem dunkel-gediegenen Konferenzraum der Stadtvilla direkt am Rhein mit ihrem schmiedeeisernen Gitter und dem Kamera-Auge am Eingang. Seine sorgfältig gegelten grauen Haare und die markante schwarze Brille lassen den 46-Jährigen nicht nur jünger wirken, sondern für einen gebürtigen Westfalen auch ziemlich düsseldorferisch. Wenn Horsthemke unterschreibt, wird daraus eher eine Zeichnung denn eine Signatur. Das ist vermutlich angemessen, wenn man seinen Namen unter Millionen schwere Transaktionen setzen muss.

Leztens hatte er fast wieder so einen Fall. Ein Kunsthändler sprach Stefan Horsthemke an. Er wollte einen Picasso zurückkaufen, den Horsthemke ihm vor zwei Jahren im Auftrag eines Kunden abgekauft hatte. Auf 2,5 Millionen Euro hatte man sich damals geeinigt – ein sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, fand Horsthemke. Und er hatte recht: Mittlerweile könnte der Kunsthändler das Bild für bedeutend mehr Geld verkaufen. Er bot Horsthemke 3,8 Millionen für das Bild. Horsthemke sprach mit seinem Kunden, dem damaligen Käufer. Eine Rendite von über 50 Prozent in zwei Jahren – ein Traum, sollte man meinen, auch wenn man die hohen Transaktionskosten von 10, bei Auktionshäusern bis zu 35 Prozent berücksichtigt. Doch der Picasso-Besitzer wollte sich nicht trennen. „Seine Liebe zu dem Bild ist gewachsen“, sagt Horsthemke, „ursprünglich hatte der Mann mit Kunst wenig am Hut und wollte nur sein Geld sinnvoll anlegen.“ Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Anleger zum Sammler wird.

Ein betriebswirtschaftlich irrationales Verhalten – und doch ein für diesen Markt typisches. Der Kunstmarkt ist noch unberechenbarer als andere Märkte, was nicht nur am unkalkulierbaren Verhalten der Marktteilnehmer liegt. Anders als bei Aktien oder Immobilien lässt sich der Wert von Kunst nur begrenzt kalkulieren. Und da ist sie wieder, die Frage aller Fragen: Was ist gute, qualitätvolle Kunst? Was ist Kunst wert?

Fragt man Stefan Horsthemke danach, dann klingt alles ganz logisch und transparent. Horsthemke redet von „Art Evaluation Process“ und „Due-Diligence-Prüfung“, einem Verfahren, mit dem man vor einem Kauf verborgene Risiken aufspüren und die Qualität prüfen kann. „Im Falle der Kunst schauen wir, wo das Werk herkommt und wie häufig es bereits gehandelt wurde, wie stark es restauriert wurde, ob es gefälscht sein könnte, und welche Preise es auf dem Kunstmarkt erzielt hat.“ Neulich etwa habe ein Kunde ein bestimmtes Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner im Auge gehabt und um Beratung vor dem Kauf gebeten. Es zeigte sich, dass bei einer älteren Restaurierung Leinwand und Farbschicht des Bildes in Acrylharz getränkt wurden. Die schlechte Restaurierung ließ sich nicht mehr rückgängig machen. „Dadurch war das Bild wertlos geworden“, so Horsthemke, „es kommt für viele Käufer nun nicht mehr in Frage, auch wenn es motivisch interessant ist.“ Natürlich riet er vom Kauf ab.

Doch was, wenn Bilder weder gefälscht noch beschädigt sind? Wie kommt man rechtzeitig dahinter, dass Bilder aller Schaffensperioden von Gerhard Richter Summen erbringen, die der Künstler selbst „unverständlich, albern, unangenehm“ nennt?

Man kann es nur vermuten – also spekulieren. „In der Tate Modern in London läuft eine Richter-Ausstellung, die demnächst nach Berlin kommt, und er wird nächstes Jahr 80 Jahre alt – solche Faktoren spielen in die Bewertung hinein“, sagt Horsthemke, „für viele ist Richter ein zweiter Picasso.“ Aber niemand kann garantieren, das Richter an seinem 107. oder 122. Geburtstag von den Zeitgenossen noch ebenso geschätzt werden wird. Letztlich kann keine noch so gute Qualitätsprüfung die Wertentwicklung vorhersehen. Es ist der Markt, der den Rang eines Kunstwerkes bestimmt, und nicht das Werk selbst. Sobald es jemanden gibt, der bereit ist, Geld auszugeben, steigt der Wert. Ein einfacher Mechanismus.

Wenn man Stefan Horsthemke glauben darf, dann ist er glücklich darüber, dass der Millionen schwere Picasso-Rückkauf nicht zustande kam. „Eine Kunstinvestition“, sagt er, „ist für uns eine langfristige, konservative Anlage und kein kurzfristiges Spekulationsobjekt.“ Man sollte nur kaufen, was zu einem passt und einem gefällt, findet er, und es mindestens fünf, besser zehn Jahre halten – am liebsten noch länger. Kunstwerke, die Berenberg Art Advice als Geldanlage empfiehlt, haben alle eines gemein: Sie entstanden vor 1945. Ihre Schöpfer sind tot, ihr Stellenwert auf dem Kunstmarkt ist geklärt. „Wenn man die wichtigen, großen Künstler nimmt, die in Museen und Sammlungen vertreten sind, und auf gute Qualität achtet, kann man wenig falsch machen“, sagt Horsthemke. Große Wertverluste sind dann ebenso wenig zu erwarten wie große Steigerungen: Mal steht Renaissance-Künstlern eine Renaissance bevor, weil die Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ im Berliner Bode-Museum das Interesse neu entfacht. Mal sind es die Impressionisten, die wieder im Interesse steigen. Natürlich muss man für Kunst dieser Kategorie tiefer in die Tasche greifen. Die Kunden von Berenberg Art Advice können das. Ihre Kunden investieren mindestens 100.000 Euro jährlich in Kunst. Zwischen fünf und zehn Prozent des Verkaufspreises landen als Beratungsgebühr bei Berenberg Art Advice.

Immer mehr Kunden wollen jedoch etwas anderes. Sie sind auf der Suche nach junger, zeitgenössischer Kunst, nach dem ultimativen Geheim-Tipp, der sich top entwickeln wird. „Ich werde das sehr oft gefragt, auch von Künstlern selbst“, sagt Horsthemke und schaut sehr ernst durch seine schwarze Brille. „ Kunstspekulationen sind für uns ein No-Go-Thema. Damit macht man Kunst zur Ware und zerstört jungen Künstlern den Markt.“ Beispiele dafür gebe es genug, seit Christie’s und Sotheby’s vor 15 Jahren damit begonnen hätten, auch sehr junge zeitgenössische Kunst zu versteigern. Zu viele Künstler seien zu früh auf dem so genannten zweiten Markt, dem Auktionsmarkt, gehandelt worden, anstatt nach und nach über Galerien ihre Weg in Sammlungen zu finden.

Kunst als Ware – ist das nicht die Basis des Geschäftsprinzips von Berenberg Art Advice? Diesen Umstand möglichst auszublenden, ist noch so eine Eigenheit der Akteure auf dem Kunstmarkt. Auch Horsthemke spricht lieber davon, wie glücklich das Sammeln von Kunst macht, welche Lebensfreude es bringe und wie wichtig die richtige Vermittlung von Kunst sei.

Viele Künstler sind da längst einen Schritt weiter. Jeff Koons oder Damien Hirst spielen mit den Mechanismen und Funktionsweisen des Marktes, der Flirt – wenn nicht gar der Beischlaf – mit Markt und Kommerz ist zu ihrem Markenzeichen geworden. Damit stehen sie in der Tradition Andy Warhols, der bewusst die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz verwischte, und das weit über seinen Tod hinaus: Nie war er so teuer wie heute, was vor allem an den Absprachen der größten Warhol-Sammler untereinander liegt.

Wer sehr viel Geld in Kunst investieren will, dem raten Horsthemke und seine Kompagnons nicht zu Warhol, sondern eher dazu, sich an Ankäufen großer, teurer Werken zu beteiligen, die anschließend zum Beispiel an Museen ausgeliehen werden. Allerdings ist man auch dann vor bösen Überraschungen nicht gefeit. In Dortmund schrubbte unlängst eine Putzfrau Martin Kippenbergers Installation „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“ kaputt. Das Werk war die Leihgabe eines anonymen Sammlers und ist nun irreversibel beschädigt. Dass die Versicherungssumme 800.000 Euro beträgt – ein für die kunstferne Öffentlichkeit unglaublicher Betrag angesichts des mageren Materialwertes aus einigen Brettern und einer rostigen Wanne – dürfte den Leihgeber kaum trösten, zumal die Installation nach Ansicht Horsthemkes stark unterbewertet war.

 

Der Text erschien zuerst in der Dezember-Ausgabe des NRW-Kulturmagazins K.West.




Alfred Sisley: „Der wahre Impressionist“ in Wuppertal

Natürlich kennt man seinen Namen, der so englisch klingt, weil seine Eltern Briten waren. Aber immerhin wurde der Maler in Paris geboren, und zeitlebens hat er sich vergeblich bemüht, die französische Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Aflred Sisley: Le Havre.  (Repro: VDH-Museum)

Aflred Sisley: Le Havre. (Repro: VDH-Museum)

 

Die Kunstbürgerschaft hat er auf jeden Fall erreicht. In Wuppertal, wo zurzeit im Von der Heydt-Museum die erste Sisley-Einzelausstellung in Deutschland hängt, wird er als „der wahre Impressionist“ bezeichnet. Ja, Sisley ist sicher einer der wichtigsten Künstler des französischen Impressionismus, in einem Atemzug zu nennen mit Monet und Renoir, Degas und Pissaro.

884 Gemälde von Sisley sind bekannt, nahezu ausschließlich Landschaften, die er zu den verschiedenen Jahreszeiten in der Umgebung von Paris malte. Dazu gehört auch eine Serie „Überschwemmung in Pont-Marly“, die in den Jahren 1872 bis 1876 entstand.

Sisley wurde 1839 geboren und studierte zunächst Wirtschaftswissenschaften in London. Dort bewunderte er die Werke von Turner und Constable, und ab 1860 studierte er deshalb in Paris bei dem Schweizer Maler Charles Gleyre.

Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 verlor er den größten Teil seines beträchtlichen Vermögens, er lebte danach in bescheidenen Verhältnissen, Anerkennung fand sein Schaffen erst nach seinem Tod 1899. Sein malerisches Werk, das zeigt auch die Wuppertaler Ausstellung, ist jedoch aus künstlerischer Sicht alles andere als bescheiden zu nennen. Ein Ausflug nach Elberfeld lohnt sich also.

Alfred Sisley. Der wahre Impressionist. Bis 29. Januar 2012 im Von der Heydt-Museum, Turmhof 8 in 42103 Wuppertal. Di. und Mi. 11-18 Uhr, Do. und Fr. 11-20 Uhr, Sa. Und So. 10-18 Uhr. Eintritt 12 €.




Die Kunst, die Putzfrau und Kippenbergers Kichern

Lasset uns offen und ehrlich sein: Im Kunst-Diskurs der Republik spielt Dortmund keine tragende Rolle. Jetzt aber berichten die Medien landauf, landab über einen musealen Vorfall, der einem elend bekannt vorkommt. Ja, es scheint sich hierbei um eine der regelmäßig wiederkehrenden urban legends zu handeln, wie sie immer mal wieder – in leicht variierten Formen – durch die Presse geistern.

Machen wir’s kurz, aber nicht schmerzlos: Eine Putzfrau hat ein teures Kunstwerk (Versicherungswert etwa 800 000 Euro) reinigen wollen und dabei offenbar irreversibel beschädigt. Leider geschehen im Dortmunder „U“, wo auch das Ostwall-Museum untergekommen ist.

Diesmal hat es mit dem in Dortmund geborenen Martin Kippenberger (1953-1997) einen Künstler getroffen, der selbst virtuos und artistisch auf dem Grat wanderte, ja tänzelte, welcher Kunst von Nicht-Kunst scheidet – oder eben auch nicht…

Die 1987 entstandene, jetzt gleichsam blitzblank weggeputzte Dauerleihgabe trägt den womöglich ironisch funkelnden Titel „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“, zudem prangen sinnigerweise die Worte „Abstrus“, „Genugtuung“ und „Wiedergutmachung“ auf der Arbeit. Materiell sieht das Ganze so aus: Unter einem hohen Holzgestell steht ein Plastiktrog, dessen Kalkfleck nun verschwunden ist, was die Wahrnehmung natürlich wesentlich verändert. Eine Restauratorin hat bereits wissen lassen, das Werk sei nicht mehr im ursprünglichen Sinne wiederherstellbar. Auf die Reinigungsfirma bzw. deren Versicherung könnte einiges zukommen.

So weit, so glücklos.

Jetzt aber setzt wieder der altbekannte Mechanismus ein. Die überwiegend kunstferne Volksseele hegt nicht nur insgeheim Sympathien mit dem robusten Tun der Putzfrau. Wie, so fragt der immer noch existierende Gesamt-Spießer, soll man denn auch die neuere Kunst vom Unrat unterscheiden. Womit wir bereits bei ganz gefährlichen Positionen angelangt wären, die leicht Anschluss an extreme Umtriebe finden könnten. Beziehungsweise umgekehrt. Demagogen dürften hier einen bestens gedüngten Nährboden vorfinden.

Auch in der gewohnt launigen, heftigst augenzwinkernden Berichterstattung steht man in der Gefahr, niedere Instinkte und Vorurteile zu bedienen. „Ist das Kunst oder kann das weg?“ lautet in solchen Fällen einer der dümmlichen, aber noch harmloseren Standardsätze, die sogleich einrasten. Die stetige Unsicherheit, wie Kunst überhaupt noch zu fassen sei, ist das weit offene Tor, durch das diese Ressentiments Einlass finden.

Da kichert wohlfeil die Nation, da kräht der Stammtisch. Wie einst, als Joseph Beuys‘ Fettecke ein vergleichbares Schicksal zuteil wurde.

Nun gut. Kippenberger hätte über die Angelegenheit wahrscheinlich gefeixt. Die immerzu schwankenden Wertzuweisungen in Sachen Kunst waren gerade ihm bewusst. Just damit hat er ja gespielt wie sonst nur wenige.

Bei uns daheim: Fettecke "für aufs Brot". Und wehe, die macht jemand weg... (Foto: Bernd Berke)

Bei uns daheim: Fettecke "für aufs Brot". Und wehe, die macht jemand weg... (Foto: Bernd Berke)




Endlich im Museum: Blaubär, Arschloch und der Föhrer

Käpt’n Blaubär, dieser behäbig-gutmütige Lügenbär aus der „Sendung mit der Maus“?

Ist von ihm, Walter Moers.

Dann das Kleine Arschloch, diese respektlose Comic-Figur, ein Elfjähriger mit großer Nase und baumelndem Schniedelwutz?

Von ihm, Moers.

„Adolf, die kleine Nazi-Sau“, die scheiternde Witzfigur aus dem Clip „Der Bonker“?

Moers’ Idee.

Der Kontinent Zamonien, ein düster-sagenhafter Schauplatz einer ganzen Roman-Reihe – von Käpt’n Blaubärs Abenteuern für Erwachsene über Rumo bis zu einäugigen Buchlingen, die tief unter der Erde leben?

Eine grafische und wortgewaltige Schöpfung von: Moers.

Endlich darf Moers ins Museum

„7 ½ Leben“ hat Walter Moers schon hinter sich gebraucht – zumindest legt die gleichnamige Ausstellung in der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen das nahe.

Zum ersten Mal darf das Gesamtwerk des Zeichners, Grafikers, Autors ins Museum. Skizzen und Vorab-Collagen sind zu sehen, Storyboards und fertige Clips, Tuschezeichnungen, Objekte und Bücher.

Richtig: Bücher. An den Bänken sind Moers’ Romane befestigt. Wer viel Zeit mitbringt, kann so auch in der zamonischen Welt versinken, die Moers seit 1999 erschafft. Aus Text, besonderer Typografie und eingefügten Zeichnungen.

Bedrückend. Und heiter

Für seine Romane schafft Moers mit Tusche Szenen, die beides sind: bedrückend und heiter. Viele Figuren wirken lächerlich und verbreiten doch Angst und Schrecken. Das ist die Kunst seiner Fantasie: Alles kann jederzeit ins Gegenteil umschlagen – in die schrecklichsten Höllenqualen oder in ein rauschendes Fest.

Viele der Original-Zeichnungen sind auch in Oberhausen zu sehen. Und stellen den Betrachter vor eben dieses Rätsel: Sind das nun Endzeit-Visionen wie bei Pieter Bruegel? Angsteinflößende Kreaturen im Stil eines Gustave Doré? Oder spielt Moers nur wieder mit den Vorlagen?

Respektlosigkeit gegenüber da Vinci? Gerne doch!

Moers liebt die Persiflage. Ein paar Respektlosigkeiten gegenüber da Vinci, Rembrandt, Picasso, Munch und Miró? Sind immer drin. Moers imitiert die Werke, kopiert sich durch all die Stile der Kunstgeschichte und setzt immer sein Kleines Arschloch in die Mitte.

Auf die vermeintlich antike Vase, als goldverzierte Ikone, als Mona Lisa, als Schrei, als Warhol’sche Campbell-Dose – selbst als Snoopy-Ersatz auf der Hundehütte. Über dem letzten Bild schwebt die Denkblase: „Hier sollte eine heiter-besinnliche Schlusspointe stehen, aber mir fällt keine ein.“ Treffender und gemeiner kann man Charles M. Schulz’ Comics nicht entlarven.

Ein kotzender „Bürger von Calais“

Andererseits: Selbst bei Werken, die ihrerseits Tabus brachen, dreht Moers die Schraube noch etwas weiter. Bei Jeff Koons „Made in Heaven“ hockt das Kleine Arschloch in eindeutiger Pose vor der Frau, die sich auf dem Gras räkelt. Wenige Meter weiter würgt eine großnasige Steinfigur ihren Magen-Inhalt heraus, Moers‘ Version von Auguste Rodins „Bürger von Calais“.

Nicht umsonst warnt ein Schild: Dieser Teil der Ausstellung ist nur für Besucher ab 16 geeignet.

Harmlose Blaubär- und Hein-Blöd-Puppen

Harmlos dagegen geht es in einem anderen Gebäudeteil zu. Die Puppen von Käpt’n Blaubär und Hein Blöd sind ausgestellt. Ein Film zeigt, wie die Puppenspieler arbeiten, wie es hinter den Kulissen aussieht. So wird ganz nebenbei deutlich, wie Moers’ Ideen eben auch funktionieren: mit dem Kern erfolgreich sein, dann vermarkten – vom Musical bis zur Kuschelpuppe.

Es wäre allerdings unfair, Walter Moers auf den breiten Merchandising-Aspekt zu reduzieren. Zumal der personenscheue Künstler eher das neue Ufer sucht, als am alten Ausverkauf zu betreiben.

Was Moers in den 80ern schon konnte

Die „7 ½ Leben“ zeigen seine Entwicklung. Moers hatte zwar schon immer Talent im Zeichnen, im detaillieren Umsetzen und im textlichen Verdichten. Viele Ideen aus den späteren Romanen hatte Moers schon in den 80ern. Es brauchte allerdings Jahre, bis er den exakten Einsatz von Illustrationen und pseudo-wissenschaftlichen Grafiken dosieren konnte.

Harte Arbeit war das, davon zeugt das Tipp-Ex auf einigen Entwürfen, die in Oberhausen zu sehen sind. Am Ende jedoch kommt so etwas heraus wie das „Tratschwellen-Alphabet“. Das dem Betrachter einfach ein Lächeln abverlangen muss.
Mindestens.

Walter Moers‘ 7 1/2 Leben sind noch bis zum 15. Januar 2012 zu sehen. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46, geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Katalog 29 Euro.

 

(Eine ähnliche Version dieses Textes ist im Westfälischen Anzeiger erschienen).




Als Joseph Beuys nach Japan kam

29. Mai 1984: Joseph Beuys lächelt gequält und sieht ein bisschen verloren aus. Ein Suchender und Staunender, einer, der noch nicht recht weiß, was ihn dort, wo er gerade mit dem Flugzeug gelandet ist, erwartet. Von Kameras begleitet und beäugt, bahnt sich der erstmals von Düsseldorf nach Tokio gereiste Künstler seinen Weg durch die mit Koffern und Menschen verstopfte Ankunftshalle.

Beuys trägt, was ihm zur zweiten Haut geworden ist: den grauen Filzhut, die multifunktionale Weste, weißes Hemd, dunkle Hose, grobe Schuhe mit dicken Gummisohlen. Der Kunstprofessor, der schon mit Studenten Räume der Düsseldorfer Kunstakademie besetzt hielt und mit seinem Konzept ökologisch-ganzheitlicher Kunst für Aufsehen sorgte, ist freundlich, freut sich über die roten Rosen, die ihm seine Gastgeber überreichen. Ein harmloser, fast heimeliger Auftakt eines achttägigen Aufenthalts, der es in sich hat und in der kulturpolitischen Landschaft Spuren hinterlassen wird.

Beuys wird im Seibu Museum of Art in Tokio eine Ausstellung mit seinen Werken einrichten und eröffnen, er wird Pressekonferenzen geben und vor erregten und verstörten Studenten sein Konzept einer antikapitalistischen Kunst-Utopie vorstellen. Beuys wird eine Manufaktur besuchen und zusammen mit Videokünstler Nam June Paik eine legendäre Performance veranstalten.

Joseph Beuys: Coyote III, 1984, Videostill. Copyright: VG Bild-Kunst Bonn 2011

Joseph Beuys: Coyote III, 1984, Videostill. Copyright: VG Bild-Kunst Bonn 2011

Das dreißigstündige Filmmaterial, das Zeugnis von einer seltsamen Begegnung zwischen Ost und West ablegt und in Wort und Bild die meisten Schritte und Aktionen festhält, die Beuys vom 29. Mai bis zum 5. Juni 1984 in Japan unternahm, galt lange Zeit als verschollen. Vor einem Jahr tauchten die Film-Dokumente wieder auf und wurden in Japan gezeigt. Jetzt sind sie, in einer überwältigenden Ausstellung, erstmals in Deutschland zu sehen: „Joseph Beuys: 8 Tage in Japan und die Utopie EURASIA“ ist der Titel der Berliner Schau, die im Hamburger Bahnhof, dem „Museum für Gegenwart“, präsentiert wird.

Im Westflügel des Museums, dort, wo ohnehin eine große Beuys-Sammlung beheimatet ist, die einige aus Kunstklassiker mit Schiefertafeln, Filzmatten und Fettecken beherbergt, ist eine ganze Etage für die überraschende Wiederentdeckung und großzügige Präsentation der japanischen Film-Sequenzen frei geräumt worden. Im Zentrum: eine dunkle Video-Höhle. Auf einer riesigen Leinwand wird ein 3-stündiger Mitschnitt der „Coyote III“- Performance nebst anschließender Diskussion gezeigt. Während Nam June Paik auf einem Klavier klimpert, hechelt Beuys Hundelaute ins Mikrofon.

Joseph Beuys in Japan, 1984, Videostill (Copyright I&S BBDO)

Joseph Beuys in Japan, 1984, Videostill (Copyright I&S BBDO)

Um die Video-Höhle herum ist ein Kunst-Parcours mit zehn TV-Bildschirmen installiert. Dokumentiert werden, in unkommentierten und umfangreichen Filmsequenzen, sowohl Ankunft wie Abreise, Debatten und Diskussionen, Interviews und Museumsbesuche. Und immer wieder muss ein leicht genervter Beuys seinen fernöstlichen Gastgebern sein Kunstkonzept erklären. Man will verstehen, warum Beuys bereits 1963 die Partei EURASIA gegründet hat und vom Zusammenschluss östlicher und westlicher Kulturen träumt. Man will wissen, was es mit seinem ätzenden Anti-Kapitalismus auf sich hat und warum er Sätze sagt wie: „Ein Eisenwalzwerk muss zugleich eine Universität sein.“

Das Konzept des universellen Künstlers ist den Zuhörern noch fremd: „Jeder Mensch ist ein Künstler. Jeder Mensch ist ein Superstar. Jeder Mensch ist ein elitäres Wesen.“ Wenn Beuys seine kunstpolitischen Visionen in Japan ausbreitet, schaut er in viele fragende Gesichter, gebetsmühlenartig muss er dann seine Theorien darlegen. Japan mag für Beuys ein lang ersehntes Reiseziel und ein utopischer Kunsttraum gewesen sein. Dass ihn zwar japanische Kultur und Mentalität erregten und interessierten, ihm aber letztlich durchaus fremd blieben, auch davon erzählt diese Ausstellung, für deren Besuch man vor allem eines braucht: sehr viel Zeit.

Joseph Beuys: 8 Tage in Japan und die Utopie EURASIA,
Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart Berlin, Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin, bis 1. Jan. 2012,
geöffnet Di-Fr 10-18 Uhr, Sa 11-20 Uhr, So 11-18 Uhr, Mo geschlossen,
Eintritt 12 Euro, ermäßigt 6 Euro.

Weitere Infos unter http://www.hamburgerbahnhof.de




Raffaels Madonnen in Dresden vereint

Raffael: Madonna di Foligno, 1511/1512 (Copyright: Vatican Museums)

Raffael: Madonna di Foligno, 1511/1512 (Copyright: Vatican Museums)

Der deutsche Papst hat es möglich gemacht. Fast fünfhundert Jahre lang haben sich die von Raffael fast zeitgleich gemalten Altarbilder nicht mehr getroffen, jetzt kann man sie nebeneinander betrachten.

Zuletzt standen die „Madonna von Foligno“ und die „Sixtinische Madonna“ im Jahre 1512 zusammen im Atelier des italienischen Renaissance-Malers. Dann trennten sich die Wege der Bilder, die auf eindringliche Weise die himmlische Erscheinung der Maria mit dem Jesuskind thematisieren.

Auf verschlungenen Pfaden und verschiedenen Zwischenstationen kam die „Sixtinische Madonna“ 1754 nach Dresden, um die ohnehin prächtige Sammlung von August III., dem sächsischen Kurfürst und König von Polen, mit einem ebenso unzweifelhaften wie bedeutenden Raffael-Gemälde nochmals aufzuwerten und zu schmücken.

Die „Madonna von Foligno“ wurde, nachdem napoleonische Truppen sie beschlagnahmt und restaurierten hatten, im Jahr 1816 nach Italien zurückgebracht, um in der Vatikanischen Pinakothek ein gut behütetes und viel umschwärmtes Dasein als Ikone der Kirchenkunst zu führen. Zwei Jahrhunderte lang wurde das Bild nicht ausgeliehen, nie ging es auf Reisen. Dass aus Anlass des Deutschland-Besuches von Papst Benedict XVI., die „Madonna von Foligno“ den Vatikan verlassen und in der Gemäldegalerie der Alten Meister in Dresden ihr Schwesterbild treffen darf, ist eine Geste eines Kirchenführers an seine deutsche Heimat – und es ist eine Kunst-Sensation.

Die beiden kostbaren Raffael-Bilder sind nicht allein in Dresden. Zu ihnen gesellen sich knapp 20 weitere Werke, Gemälde, Zeichnungen, Kupferstiche, Bücher und Dokumente. Skizzen Raffaels zu seinen „Madonnen“, korrespondierende Werke von italienischen Malern wie Corregio und Garofalo sind zu sehen, aber auch Arbeiten deutscher Künstler, Albrecht Dürer und Lucas Cranach d. Ä., die „Stuppacher Madonna“ von Matthias Grünewald.

Raffael: Sixtinische Madonna, 1512 (Copyright: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister - Foto: Estel/Klut)

Raffael: Sixtinische Madonna, 1512 (Copyright: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister - Foto: Estel/Klut)

„Himmlischer Glanz“, so der Titel der Ausstellung, ist wahrlich keine opulente und ausufernde, aber dennoch bedeutende Kunstschau. In klaren Konturen und beispielhafter Deutlichkeit zeigt sie nicht nur klassische Beispiele der Madonnen-Darstellung aus der Zeit Raffaels. Sie belegt auch, wie Werke wichtiger Künstler – auch über die Alpen hinweg – miteinander kommunizierten, wie sie sich in Bildsprache und Themengestaltung, Malweise und Farbgebung aufeinander bezogen. Das ist spannend und lehrreich, kann aber den Blick des faszinierten Betrachters nicht vom magischen Zentrum der Bilderschau lenken: den beiden großformatigen, von zeitloser Schönheit, ästhetischer Erhabenheit und göttlicher Gnade kündenden Madonnen-Bildern.

Hier die „Sixtinische Madonna“, die wahrscheinlich von Papst Julius II. in Auftrag gegeben wurde und für die Klosterkirche San Sisto in Piacenza bestimmt war, quasi als Geschenk dafür, dass die oberitalienische Stadt dem Kirchenstaat beigetreten war: In der Mitte schreitet Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm in Richtung der irdischen Welt. Der kniende Papst Sixtus II. und die Heilige Barbara weisen ihr den Weg. Unten lümmeln sich zwei schelmische und sympathische Engelchen, die, aus dem Bild tausendfach herauskopiert, längst zu Pop-Ikonen der Alltagskultur geworden sind.

Und nur eine Armlänge in Dresden entfernt nun die „Madonna von Foligno“: Die Muttergottes, auf Wolken sitzend vor einer Sonnenscheibe, mit dem Kind auf dem Arm. Links Johannes der Täufer und Franziskus, rechts der Heilige Hieronymus und Auftraggeber Sigismondo dei Conti. Und alles strahlt, nach mehreren Restaurierungen, in Rot, Blau und Gold. Gegen die satten und knalligen Farben nimmt sich die matt und grünstichig erscheinende, seit vielen Jahren nicht mehr aufgefrischte „Sixtinische Madonna“ geradezu kleinlaut aus. Gleichwohl verheißt auch dieses Bild ein großes Versprechen, und jeder Betrachter spürt, hier zwei der bedeutendsten Meisterwerke der Renaissance ansichtig zu werden und Zeuge eines einmaligen historischen Moments zu sein: Denn wohl nie wieder werden die beiden Schwestern sich begegnen.

Infos:

+ „Himmlischer Glanz. Raffael, Dürer und Grünewald malen die Madonna“. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister, bis zum 8. Januar 2012
+ Öffnungszeiten: tägl. 10 – 18 Uhr, Mo geschlossen
+ Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 7,50 Euro.
+ Informationen und Anmeldungen von Führungen unter 0351/49142000 oder besucherservice@skd.museum
+ Katalog, herausgegeben von Henning und Arnold Nesselrath, Prestel Verlag, München, 128 S., 80 Farbabbildungen, 24,95 Euro.
+ Mehr über Raffael und die Renaissance: Giorgio Vasari: „Das Leben des Raffael“, neu übersetzt und kommentiert, Wagenbach Verlag, Berlin 2004, 204 S., 12,90 Euro.




Weiß – die Synthese aller Farben

Callum Innes, Installationsansicht Loock Galerie, Berlin, 10, Foto CL

Callum Innes, Installationsansicht Loock Galerie, Berlin, 10, Foto CL

Jawohl, Euer Ehren: Ich gestehe. Ich gehöre auch zu denen, die mit der Kamera im Anschlag durch Ausstellungen ziehen, und von denen man sich fragt, was sie mit all den erlegten Terabytes eigentlich anstellen. Naja, erstmal beschriften und in entsprechenden Ordnern versenken. Selbige tragen so unverfängliche Titel wie „Malerei“, „Skulptur“, „Installation“ und so. Guckt man aber rein, fällt – in meinem Fall – eine gewisse Einseitigkeit auf.

Es sieht nicht allzu farbenfroh aus da drinnen. Die Palette der Gemälde beispielsweise bewegt sich zwischen Zartgrau und Titanweiß, die der Objekte zwischen Vanille und Beige, und nur unter den Installationen finden sich dunklere Grautöne. Der Anblick dieses ziemlich blassen Sortiments, das ich inzwischen zusammen geknippst habe, veranlasst schon mal die Frage, warum mich inmitten des allgegenwärtigen Farbrausches ausgerechnet die gespenstisch blutleeren Leinwände und Objekte anziehen. Leide ich unter diesem psychischen Waschzwang, der so manche Personen mit mörderischer Gesinnung veranlasst, sich vorzugsweise in schneeweißer Garderobe zu präsentieren?

Anders gefragt: Was hat Weiß, was all die umwerfend schönen Farben nicht haben?

Rosella Bellusci "Uomo diafano D, B, C", 07, Foto CL

Rosella Bellusci „Uomo diafano D, B, C“, 07, Foto CL

Dabei sind mir die Vorzüge bunter Farben durchaus geläufig. Ich gehör sogar zu den fantasiearmen Langweilern, die im einst legendären Fragebogen der FAZ auf die Erkundigung nach der „Lieblingsfarbe“ einfallslos aber wahr „alle“ geantwortet hätten. (Bedauerlicherweise hat mich die FAZ nie gefragt.) Dennoch können sie „alle“ mir zuweilen sowas von gestohlen bleiben. Und dabei weiß (!) ich mich in bester Gesellschaft – nämlich in eurer.

Wir alle sind einem Farbgewitter ausgesetzt, gegen das wir uns eher selten durch bewusstes, weitaus häufiger durch unbewusstes Ausblenden wehren. Umso wohltuender erleben wir die Sicht in eine unbunte Weite. Ja, Weite, denn Sehen ist entspannend, wenn wir den Blick ausrollen können, ohne irgendwo anzustoßen. Dieses unscharfe Schweifenlassen funktioniert besonders gut, wenn es mangels Form- und Farbunterschieden nichts zu fokussieren gibt: Himmel, Wasser, Erde – eine gewisse Reizarmut zugunsten von Weitläufigkeit macht relativ unaufgeregte Elemente zur Badewanne für die Augen.

 

Esperanza Spierling "Fünf Würfel", 09, Foto CL

Esperanza Spierling „Fünf Würfel“, 09, Foto CL

Da sich in Ausstellungen aber eher selten die Gelegenheit ergibt, selbige an Horizonten oder Wolkendecken zu räkeln, suchen sich diese unsere „Eierbecher der Blicke“ andere Schlupflöcher aus dem visuellen Overkill. Dazu gehören Flächen und Körper, die die optische Entsprechung sog. Schalltoter Räume darstellen – Kammern, deren Wandverkleidungen keinerlei Ton reflektieren.

Diese Analogie jedoch trifft nur begrenzt zu, denn hat sich der vom Farbgeflimmer betäubte Gesichtssinn erst an die plötzliche Ruhe gewöhnt, gewinnt er an Schärfe und fängt an, die anfängliche Reizarmut „rein“ weißer Situationen in Nuancen zu zerlegen – ein Phänomen, das einst zum gern zitierten Irrtum der vermeintlichen Vielzahl von Wörtern für Schnee in den Sprachen der Eskimo geführt hat.

 

Markus Amm, Installationsansicht Galerie Guenther, Berlin, 10, Foto CL

Markus Amm, Installationsansicht Galerie Guenther, Berlin, 10, Foto CL

Weiß erzeugt eine unvergleichliche Sensibilität für seine nicht-weißen Bestandteile. So stellt es die zu seiner Erfassung notwendige Trennschärfe selbst her, indem der Blick ins vermeintlich einheitlich Helle alsbald die darin verborgenen Unterschiede offenbart.

Das lustvolle Auflösen anfänglich kompakter Homogenität in eine Vielzahl verschiedener Helligkeiten, Schärfen und Entfernungen ist wohl auch der Grund, weshalb wir bis heute hartnäckig an der inzwischen mehrfach widerlegten Illusion festhalten, die Heroen und Göttinnen der Antike habe man sich weiß gewandet und ungeschminkt vorzustellen. Trotz pädagogisch ambitionierter Ausstellungen solcher Statuen entsprechend des historisch belegten, papageienbunten Dresscodes der griechischen Klassik, bevorzugt die Mehrheit heutiger BetrachterInnen die unbemalte, und daher erst richtig „edle Einfalt, stille Größe“, wohl wissend, dass sie eine geschichtliche Fälschung ist.

 

Antonella Zazerra, Installationsansicht Art Cologne, 11, Foto CL

Antonella Zazerra, Installationsansicht Art Cologne, 11, Foto CL

Während andere monochrome Flächen zwar ebenfalls sensibilisieren, leisten sie dem investigativen Blick dennoch mehr Widerstand. Je mehr Licht eine Farbe absorbiert, desto eindringlicher müssen wir sie fixieren, wohingegen Licht reflektierende Flächen uns die Arbeit des scharfsichtigen Beleuchtens abnehmen. Das als Schneeblindheit bekannte Kippen des Lichten ins Überbelichtete inszenierte einst Terence Koh in einer Installation namens Captain Buddha, die nur durch eine Luke erreichbar war. Die beim Eintreten erlebte Blendung verdankte sich weniger einer einzelnen Lichtquelle als vielmehr dem erbarmungslosen Weiß der Situation – ein optischer Nebel, aus dem die Konturen symbolisch aufgeladener Gegenstände nur widerwillig herauf dämmerten. Dieses Auflösen der Formen in einem nicht fassbaren, gleißend hellen Raum ähnelt einer in buddhistischer Terminologie als Leerheit umschriebener psychischer Erfahrung, die Koh wie folgt erläutert: „schon immer wollte ich eine ausstellung über die ideen des buddhismus machen, sie werden heutzutage sehr gebraucht“.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, Foto CL

Wie dem auch sei, wurde die philosophische Kapazität des Weiß, über sich hinaus ins Nicht-Materielle zu verweisen, traditionell auch Gold zugesprochen. Anders als diese grundsätzlich mit dem Wert eines Edelmetalls assoziierte Farbe aber wahrt Weiß eine gedankliche Freiheit, welche die Betreiber der Mailänder Galerie Grossetti Arte Contemporanea veranlasste, der diesjährigen Art Cologne ein Kuckucksei namens White Meditation Room ins Nest zu legen. Und in dem war tatsächlich drin, was drauf stand. Das Aufgebot einer Vielzahl (mehr oder weniger) weißer Exponate erzeugte eine kontemplative Ruhe und fungierte somit als exotische Insel inmitten des Rummelplatzes der Messehalle.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Es ist seine Doppelnatur, die Weiß als Synthese aller Farben über diese hinausgehend ins Immaterielle erhebt. Denn es ist materielle Präsenz sowie deren Abwesenheit, eine barrierefreie Spielwiese umherwandernder Blicke, die gleich darauf zur Implosion örtlicher Begrenzungen und somit vollständigen Orientierungslosigkeit führen kann, eine Projektionsfläche zur dramatischen Inszenierung subtiler Abweichungen, die ebenso zur Auslöschung jeglicher Unterscheidung führt. Dieser Verweis des Gegenständlichen aufs Nicht-Gegenständliche nebst aller vorher beschriebenen Eigenschaften hat jedenfalls bewirkt, dass sich meine Festplatte unter dem Etikettenschwindel „Malerei“ und „Skulptur“ mit allerlei Varianten weißen Rauschens füllt, die innerhalb der Kakophonie von Messe- und Ausstellungshallen den Durchblick ins Jenseits von Hinguckern und Must-Sees erlauben.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

 





Geschichten vom Herrn Kaum (4)

IM SAAL DER VENUS MIT DEM HÜNDCHEN

Eine grazile Italienerin, die wie eine Russin sprach, vielleicht eine Russin war, jedenfalls eine russische Gruppe durch die Uffizien führte, inszenierte vor den Bildern, zumal der Venus von Urbino, sehr gesten-, pausen- und wortreich und doch dosiert, ein höchst wirkungsvolles Frage- und Antwortspiel … mit sich selber. –

Mit geschmeidiger,
mit insinuierend
schmeichelnd
schöner Stimme.

Höchst attraktiv
und anziehend. –

Wer hörte da nicht – wiewohl dieser fremden Sprache kaum mächtig … und doch sie jäh zutiefst verstehend – mit einem Male die Sprache Puschkins in Vollendung? –

Sie hörend
und sehend

wen denn?
die Sprache?
die Stimme?
die Frau?

Sie hörend
und sehend

ward Herr Kaum

– verliebt –

für einen noch so kleinen
Zeitpunkt bloß

zutiefst
zu einem Russen.




Zum Tod des Fotokünstlers Bernhard Blume: Erinnerung an eine Dortmunder Ausstellung von 2006

Der 1937 in Dortmund geborene Fotokünstler Bernhard Blume ist mit 73 Jahren in Köln gestorben. Aus diesem Anlass eine Erinnerung an eine Dortmunder Ausstellung:

Dortmund. Ja, was machen d i e denn da?! Wir sehen ein Paar im ehedem romantischen deutschen Wald. Der Mann kniet in anbetender Haltung vor einem Baum, später wird er gar himmelwärts fahren. Derweil hängt die Frau hilflos im Geäst, zappelt eingeklemmt zwischen zwei Stämmen oder saust unsanft hernieder.

Die fotografisch auf großen Schwarzweiß-Tafeln festgehaltene Groteske füllt jetzt den Lichthof des Dortmunder Ostwall-Museums. „Metaphysik ist Männersache“ heißt die Arbeit von Anna und Bernhard Blume. Das ist, wie eigentlich alles bei den Blumes, ironisch gemeint. Bernhard Blume erklärt: „Männer schwelgen schnell in abstrakten Theorien, Frauen bleiben selbst beim Philosophieren bodenständig.“ Er selbst ist freilich in Dortmund geboren und aufgewachsen, also kraft westfälischer Herkunft eben doch ein Mann, der nicht so leicht abhebt…

15 Fotoserien und zahlreiche Zeichnungen des renommierten Künstler-Ehepaares sind jetzt in Dortmund zu sehen. Beim Rundgang kommt man aus dem Grinsen kaum heraus. Denn es ist durchweg hellwache und witzige Kunst.

Noch in den 70er Jahren, in der Wohnung von Bernhard Blumes Mutter zu Dortmund-Kley, ist die Fotoreihe „Ödipale Komplikationen“ entstanden. Da tollt er mit ihr geradezu krähend haltlos auf einem alten Sofa herum, auch schäkern und tanzen die beiden. Die Szenenfolge flimmert zwischen spießiger Gemütlichkeit und orgiastischem Spaß. Zum Piepen jedenfalls! Und man darf Bernhard Blume glauben, wenn er feixend anmerkt: „Ich hatte übrigens nie einen Ödipus-Komplex, da war nichts mit Mami.“

Mit seiner Frau Anna hat er eine nicht minder verrückte „Mahlzeit!“ (Titel) eingenommen. Liturgische Anspielungen vermengen sich in dieser Bilderserie mit niederer Alltäglichkeit. Kartoffel-Quadrate im Mund verformen die Gesichter. Das Ganze endet im blitzartigen Erbrechen, von der Fotolinse gnädig unscharf erfasst. Bei der „Vasenekstase“ fliegt Bernhard Blume mit dem Gefäß schräg und fast surreal durchs Zimmer. Die Wirklichkeit ist tückisch, es fließen so manche Energieströme zwischen Mensch und Dingwelt. Dabei scheint es auch Anflüge ungeahnter Befreiung zu geben; ganz so, als könnte die lästige Schwerkraft auch mal nachlassen.

„de-konstruktiv“ heißt die ganze Schau. Tatsächlich werden hier, im frech-fröhlichen Sinne der Aktionskunst aus den 60er Jahren, starre Gegebenheiten, Gewohnheiten und (kleinbürgerliche) Rituale aufgebrochen, zum Tanzen gebracht – stets freundlich lächelnd, was allerdings auch enthüllend wirken kann: In einem Konvolut von Bleistift-Zeichnungen hat Anna Blume die konstruktivistisch« Moderne (Malewitsch, Mondrian etc.) verulkt. Deren Geometrien wirken, als Muster auf T-Shirts verewigt, nur noch wie billige Dekoration. Wie furchtbar ernst und wichtig sich die Urheber damals genommen haben, dokumentieren daneben ihre gesammelten Lehrsprüche.

Seit einiger Zeit arbeiten die Blumes mit digitaler Fotoausrüstung. Früher haben sie ihre herrlichen Farcen vor dem Ablichten penibel planen müssen, heute hilft die Nachbearbeitung am Computer. Bernhard Blume: „Von solchen Möglichkeiten haben wir immer schon geträumt.“

„de-konstruktiv. Bilder aus dem wirklichen Leben“. Dortmund, Museum am Ostwall. 19. Nov. bis 11. Feb. 2006. Geöff. Di/Mi/Fr 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 3 Euro, Katalog 24,80 Euro

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Infos
• Bernhard Blume wurde 1937 in Dortmund geboren, seine Frau Anna im selben Jahr im westfälischen Bork.
• Die beiden lernten sich in den 50er Jahren bei einem VHS-Zeichenkursus im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus kennen.
• Bernhard Blume arbeitete damals einige Jahre lang in Dortmund als Maler für Kinoplakate: „Das war Akkordarbeit“, sagt er.
• Die Blumes leben seit Jahrzehnten in Köln. Doch Bernhard Blume sehnt sich mitunter nach seiner Heimatstadt: „Ich hänge an Dortmund.“

Ausriss der WR-Kulturseite vom 18.11.2006 (Foto zum Zeitungsartikel: Ralf Rottmann)

Ausriss der WR-Kulturseite vom 18.11.2006 (Foto zum Zeitungsartikel: Ralf Rottmann)

(der Artikel – siehe auch Repro-Ausschnitt – stand am 18. November 2006 in der „Westfälischen Rundschau“, das Foto zum Zeitungsbericht stammt vom WR-Kollegen Ralf Rottmann)




Nun hat sie ausgeglüht

Diesen 31. August 2011 hat sie noch, dann muss sie aus unserem Alltag für immer verschwinden, weil es EU-Gewaltige in Brüssel so wollen, weil Umwelt mit ihr immer schon Schaden genommen haben muss, weil von mir natürlich stets gemutmaßte wirtschaftliche Interessen dahinter stecken: Die 60-Watt-Glühbirne ist alsbald nur mehr im Museum zu betrachten – natürlich außer Betrieb, denn der ist von mächtigen EU-Kommissaren strikt untersagt.

In der „Reina Sofia“ konnte mensch sie schon lange als museales Objekt betrachten. Öl auf Leinwand, in exponierter Situation von Pablo Picasso auf der „Guernica“ verewigt. Demnächst vielleicht ein finaler Auftritt im Ruhrmuseum auf Zeche Zollverein in Essen. Oder direkt neben Exponaten aus dem umfänglichen Schaffen eines Joseph Beuys.

Nun preisen alle die, die etwas zu sagen haben (oder auch nichts), neue, hochtechnische Leuchtmittel an wie E 10 fürs Automobil, künden, dass dieser Einschnitt ein Schritt hin zur unmittelbar bevorstehenden Sanierung des Weltklimas sei, aber von möglichen Problemen redet niemand.

Ich selbst könnte ja noch damit leben, dass meine Abendlektüre energiesparend kühl beleuchtet wird, nachdem die Birne anfänglich flackernd angesprungen ist. Wie aber ist es mit Sehgewohnheiten wie etwa auf „Betende Hände“ oder Expressionistisches, beispielsweise aus der Hand von Macke? Wird solches nicht gänzlich anders angeleuchtet und uns somit ganz anders präsentiert? Wie sieht ein Bild, das womöglich bei Kerzenschein oder Glühbirnenfunzellicht entstand, ganz neu beleuchtet aus?

Oder wie wird es zukünftig im Zentrum für internationale Lichtkunst zu Unna gehandhabt, geben die Kunstwerke mit Glühbirnenbeleuchtung nicht zukünftig, ernergiesparend strahlend ein völlig anderes Bild ab?

Fragen über Fragen, und ich bin mir sicher, dass die herstellende Industrie optimale Lösungen finden wird, um auch die letzten Nörgler zufrieden zu stellen. Und dennoch: Ade, du ineffiziente Glühbirne.




Erhabene Schönheit der Renaissance

Diese Schönheit und Anmut, dieser Stolz, dieses Selbstbewusstsein, diese Eleganz. Seit Wochen beherrschen die von zeitloser Erhabenheit erzählenden „Gesichter der Renaissance“ das Berliner Stadtbild. Überall hängen Plakate und Transparente.

Jetzt endlich ist die Zeit des neugierigen Wartens vorbei. Und das Ergebnis lässt den Betrachter vor Ehrfurcht in die Knie gehen: Das auf der Berliner Museumsinsel gelegene Bode-Museum öffnet die Pforten zu einer opulenten Bilderschau und zeigt mehr als 170 Hauptwerke der Renaissance, Gemälde, Zeichnungen, Medaillen und Büsten, die erstmals zusammen zu sehen sind. Zu den Leihgebern der fragilen und nur selten auf Reise geschickten Kunstwerke gehören die Florentiner Uffizien und der Pariser Louvre, die National Gallery in London und die Sammlung Czartoryski aus Krakau.

Leonardo da Vinci: "Dame mit dem Hermelin" (Portrait der Cecilia Gallerani), 1489/90, Copyright bpk/Scala

Leonardo da Vinci: "Dame mit dem Hermelin" (Portrait der Cecilia Gallerani), 1489/90, Copyright bpk/Scala

Ob Sandro Botticelli oder Filippo Lippi, Domenico Ghirlandaio oder Gentile Bellini, Antonio del Pollaiuolo oder Andrea d´Assisi: Kaum einer der großen italienischen Meister, die im 15. Jahrhundert die Kunst revolutionierten, sie aus den Zwängen der Kirche befreiten und das selbstbewusste Antlitz des Finanzadels künstlerisch veredelten, fehlt in der grandiosen Schau. Natürlich auch nicht Leonardo da Vinci. Seine „Dame mit Hermelin“ (1489/90) ist Höhe- und Schlusspunkt der Kunst-Exkursion, die zu einem ästhetischen Erlebnis wird. Dass das Bildnis der etwas spöttisch und missgelaunt über ihre Schulter in eine abstrakte Ferne schauenden Cecilia Gallerani überhaupt von Krakau nach Berlin reisen durfte, ist eine Sensation: leider eine von begrenzter Dauer. Denn schon Ende Oktober (vier Wochen vor Ende der Ausstellung) muss das Bild zur großen Leonardo-Schau nach London reisen. Und ins Metropolitan Museum of Art darf die schöne Dame schon gar nicht: Für die zweite Station der Ausstellung über die „Gesichter Renaissance“ in New York (19.12. 2011-18.3.2012) wird es ein neues Glanzstück geben müssen.

Sandro Botticelli "Profilbildnis einer jungen Frau" (Simonetta Vespucci?), um 1476, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Sandro Botticelli "Profilbildnis einer jungen Frau" (Simonetta Vespucci?), um 1476, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Trotzdem: Für Michael Eisenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, ist das, was in Berlin seinen Anfang nimmt und in New York weitergeführt wird, die „weltweit größte und bedeutendste Ausstellung zur Portrait-Kunst der italienischen Renaissance“. Da hat er Recht.

Den Ausgangspunkt bildet Florenz, weil dort das autonome Portrait erstmals in großer Zahl auftritt. Danach richtet sich der Blick auf die Höfe von Ferrara, Mantua, Bologna, Mailand, Neapel und des päpstlichen Rom. Schließlich geht es nach Venedig, wo sich die Portrait-Kunst erst mit Verspätung etablierte. Der durch ein schummriges Halbdunkel flanierende Betrachter macht überall wunderbare Entdeckungen, sieht inszenierte Machtfülle (Botticellis „Bildnis des Giuliano de´Medici“) und überirdische Schönheit (Pollaiuolos „Bildnis einer Dame“).

Andrea Mantegna: "Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisano", um 1459, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Andrea Mantegna: "Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisano", um 1459, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Der Kunstflaneur wird Zeuge, wie sich das Einzelportrait, das früher nur Herrschern und historischen Persönlichkeiten vorbehalten war, zur autonomen, vielgestaltigen Kunstform entwickelt. Doch wer Italiens künstlerischen Beitrag zur Erfindung von Individualität und Identität miterleben will, braucht Geduld. Aus konservatorischen und ästhetischen Gründen werden immer nur 300 Besucher auf einmal zugelassen. Da werden sich lange Schlangen bilden.

Filippo Lippi: "Bildnis eines Mannes und einer Dame", um 1440, Copyright The Metropolitan Museum of Art, New York

Filippo Lippi: "Bildnis eines Mannes und einer Dame", um 1440, Copyright The Metropolitan Museum of Art, New York

Die Wartezeit kann man sich dann mit einer aufs Mobiltelefon herunter geladenen kostenlosen Online-Applikation versüßen: Die „App“ hat unzählige Kunstwerke und Kommentare, Künstlerbiografien und Videos im Angebot. Ob der Kunstliebhaber allerdings auch Statements von Hair-Stylist Udo Walz oder Modemacher Wolfgang Joop hören und sehen will, sei dahin gestellt. Diesen zeitgeistigen Firlefanz hat die zeitlos schöne Ausstellung gar nicht nötig.

Infos:

+ „Gesichter der Renaissance – Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst“, bis 20. November 2011, Fr – Mi 10 -18 Uhr, Do 10 – 22 Uhr.
+ Bode-Museum, Museumsinsel Berlin, Am Kupfergraben 1, 10117 Berlin,
+ Rund 170 Meisterwerke der italienischen Renaissance (Gemälde, Zeichnungen, Medaillen, Büsten), zusammengetragen aus über 50 Museen.
+ Danach im New Yorker Metropolitan Museum of Art, 19.12. 2011-18.3.2012,
+ Service und Tickets unter www.smb.museum/gesichter,
+ Eintritt: 14 Euro, ermäßigt 7 Euro,
+ Katalog: In der Ausstellung 29 Euro, im Buchhandel 47,50 Euro




Wenn Leere und Fülle eins werden: Bochum zeigt Kunst aus dem Geist des Buddhismus

Die Ruhrtriennale begibt sich (nach Streifzügen durch Judentum und Islam) diesmal auf spirituelle Erkundungen im entgrenzten Kraftfeld des Buddhismus. Selbst in Wagners „Tristan“, Shakespeares „Macbeth“ und Kafkas „Schloss“ will man solche Impulse freilegen.

Zu den szenischen Künsten gesellt sich das Bildnerische: Das Kunstmuseum Bochum zeigt jetzt – als Triennale-Begleitprogramm – die Ausstellung „Buddhas Spur“. Sie ist streckenweise meditativ, aber nicht esoterisch geraten. Sie bietet beileibe keinen umfassenden Überblick zum Thema, sondern schmeckt hie und da nach beherzter Gelegenheits-Auswahl, lässt aber einige Streiflichter kreisen.

Museumsleiter Hans Günter Golinski und Triennale-Intendant Willy Decker haben bei der (relativ kurzen) Vorbereitung kooperiert. Sie versprechen sich eine fruchtbare Wechselwirkung der verschiedenen Kunstformen, womöglich gar spannende Grenzüberschreitungen. Decker, der auch ganz persönlich und lebensweltlich auf buddhistischen Spuren wandelt, ist ohnehin überzeugt, dass strikte Abgrenzungen zwischen den Künsten sich auflösen.

Vor rund elf Jahren hat Golinski in Bochum eine Schau über die Wirkung der Zen-Philosophie auf avancierte Westkunst zusammengestellt. Nun sind Arbeiten von elf Künstlern aus verschiedenen Ländern Asiens zu sehen. Der Blick kommt also aus der anderen Richtung: Allen westlichen Einflüssen zum Trotz, sind immer noch buddhistische Haltungen und Denkfiguren in die asiatische Kunst eingesenkt. Ja, schon die Art, wie man Kunst betrachtet, ist in Asien völlig anders geprägt. Wollte man es ganz gröblich unterscheiden, so könnte man sagen: Während wir dem Werk eher objektivierend gegenübertreten wollen, versenkt man sich dort in Kontemplation und erstrebt Einswerdung. Doch auch das ist nur eine längst brüchig gewordene Teilwahrheit.

Die Bochumer Auswahl ist doppelgesichtig, denn man sieht nicht nur aktuelle Kunst, sondern auch Beispiele für den religionsgeschichtlichen „Unterbau“, sprich: vor allem historische Buddha-Skulpturen und Bildnisse, viele aus ortsnahen Privatsammlungen, sowie staunenswerte Exerzitien der Kalligraphie. Manches davon wirkt oder wabert in der gegenwärtigen asiatischen Kunst nach. Museumsleiter Golinski ist allerdings mulmig zumute, wenn er daran denkt, dass Buddha-Figuren inzwischen viele Friseurläden und Nagelstudios „zieren“. Von derlei Trivialisierung will man sich selbstverständlich sternenweit abheben.

Fußabdruck des Buddha, Nordwestpakistan, 1. Jhdt. n. u. Z. (Copyright: Museum DKM/Stiftung DKM)

Fußabdruck des Buddha, Nordwestpakistan, 1. Jhdt. n. u. Z. (Copyright: Museum DKM/Stiftung DKM)

Am Beginn steht ein etwa aus dem 2. Jhdt. nach unserer Zeitrechnung stammender Fußabdruck, der Buddha zugeschrieben wird. Hier klingt schon ein Grundmotiv an, das sich auch im Titel wiederfindet: Spuren als denkbar flüchtiges Phänomen auf dem Grat zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, Werden und Vergänglichkeit. Daraus kann auch in der Kunst ein vermeintliches Paradoxon gerinnen: Sich der Welt zuwenden und sie doch überwinden.

Charwei Tsai: "Tofu Mantra" (schwarze Tusche auf frischem Tofu), Fotografie, 2005 (Copyright: the artist and Fondation Cartier)

Charwei Tsai: "Tofu Mantra" (schwarze Tusche auf frischem Tofu), Fotografie, 2005 (Copyright: the artist and Fondation Cartier)

Dementsprechend bewegen sich einige Künstler gleichsam an den Nahtstellen zwischen Leere und Fülle, Erscheinen und Verschwinden. Chen Shen (China) trägt unermüdlich Schicht um Schicht auf, bis seine Bilder sanft ins Nirgendwo zu entschweben scheinen. Charwei Tsai (Taiwan) projiziert kalligraphische Zeichen auf Pflanzen, Tiere oder Tofu („Tofu Mantra“) und erzeugt so flirrende Vexierbilder. Auf den Fotografien von Atta Kim (Korea), die auf berühmten, sonst touristisch übervölkerten Straßen entstehen, gehen nur noch Spuren der Betriebsamkeit in einem ungreifbaren Dunst auf. Es herrscht geisterhafte Stille an diesen fremdartig gewordenen Orten.

Die weiße Fläche wird generell nicht als bedrohliches Vakuum empfunden, sondern als offene Weite, in die alles einströmen kann. Willy Decker, der selbst asiatische Kunst sammelt und einige Exponate beigesteuert hat, ist gar überzeugt, dass in solcher uranfänglichen Leere der Quell aller Inspiration und Kreativität entspringt.

Der prominenteste Name der Bochumer Ausstellung ist Nam June Paik (Korea). Hier wird der meditative Grund seiner alles in Fuss versetzenden Fluxus-Kunst erahnbar. Eine wie traditionell hingetuschte Zeichnung ist entstanden, als Paik seine farbgetränkte Krawatte auf dem Bildträger hin und her gezogen hat. Sehr stille, konzentrierte Papierarbeiten sind von Paik zu sehen, aber auch ein Schrein mit nichtigem Fernsehfimmern, vor dem Buddha eine Angel auswirft. Überhaupt sind nicht alle Arbeiten ehern ernst zu nehmen: Kimsooja (Korea) lässt eine kreisrunde Jukebox als Mandala erscheinen. Kamin Lertchaiprasert (Thailand) hat aus Geldscheinen eine pappige Masse hergestellt und daraus wiederum im Lauf eines Jahres 365 figürliche Opfergaben gefertigt – eine der eindrücklichsten Schöpfungen dieser Ausstellung.

Nam June Paik: Ohne Titel (Tusche auf Papier, 1974) (Copyright: Nam June Paik Studios, Inc.)

Nam June Paik: Ohne Titel (Tusche auf Papier, 1974) (Copyright: Nam June Paik Studios, Inc.)

Long-Bin Chen (Taiwan) lässt zahllose Presseerzeugnisse aufflattern, als habe ein Sturm all das bedruckte Papier erfasst („Information Hurricane“) und wolle es hinwegfegen; offenkundig ein Einspruch gegen allgegenwärtigen Nachrichten-Overkill, ebenso seelen- wie körperlose Computerschriften und darin sich ergießendes Geschwätz des Tages. Wie tiegründig wirkt demgegenüber die kalligraphische Schriftkunst!

Gelegentlich stammt das Material asiatischer Kunst geradewegs aus religiösen Zusammenhängen: Montien Boonma (Thailand) hat buddhistische Almosenschalen zum nahezu magischen Dreieck gefügt, das erdenferne Ruhe ausstrahlt. Ein gigantisches Aschebild von Zhang Huan bezieht die stoffliche Grundlage aus buddhistischen Tempeln, in denen Weihrauch verbrannt wurde.

Doch es kann keine Rede davon sein, dass die Künstler den Buddhismus fraglos fortführten. In den besten Momenten zeigt sich die hier präsentierte asiatische Gegenwartskunst zwar zeitlos durchgeistigt, doch fast im selben Atemzuge ist sie mitten ins globale Jetzt gesprungen.

Zeitenthobene Zeitnähe scheint auch hierin zu walten: Derart früh hat sich asiatische Kunst vom Gegenstand gelöst, dass man schon im 13. Jahrhundert von Abstraktion sprechen kann. Kandinsky war ein wenig später dran…

„Buddhas Spur“. Zeitgenössische Kunst aus Asien. Kunstmuseum Bochum (Kortumstraße 147). Vom 28. August (14 Uhr Künstlergespräch, 15 Uhr Eröffnung, 17 Uhr Konzert) bis zum 13. November. Di-So 10-17 Uhr, Mi 10-20 Uhr. http://www.bochum.de/kunstmuseum

Blick auf Kamin Letchaipraserts Installation mit 365 Opfergaben (Foto: Bernd Berke)

Blick auf Kamin Letchaipraserts Installation mit 365 Opfergaben (Foto: Bernd Berke)




Kunst kommt von Können – aber nicht immer

Lange war es geschlossen, das Osthaus Museum in Hagen. Seit es 2009 mit dem angeschlossenen Schumacher-Neubau wieder eröffnet wurde, zieht es vor allem Architektur-Freunde an.

In diesem Sommer nun hat das Haus eine frühere Tradition wieder aufgegriffen: Die Ausstellung „Hagener Künstlerinnen und Künstler“. Alle zwei Jahre soll sie stattfinden. Für 2011 hatten sich 117 bildende Künstler beworben, 42 wurden durch eine Jury ausgewählt, und bei dieser Menge – im Verhältnis zur Größe der Stadt Hagen – kann man sich vorstellen, dass es deutliche Qualitätsunterschiede gibt.

Das Osthaus Museum in Hagen

Auf drei Ebenen verteilt finden sich Malerei, Collagen und Skulpturen, aber auch großformatige Fotografien und Computerkunst. Interessante Strukturen auf durchlöchertem Sperrholz oder Experimente mit Kunststofffolien hängen neben konventionell abstrakten Acrylbildern. Übergroße Spermien aus Pappmaché schmücken eine Querwand, und der stets präsente Uwe Nickel durfte mehrere seiner knallbunten, noch am Kubismus orientierten Wandgemälde beisteuern. Die sind, wie so oft in der Kunst, eher Geschmacksache.

Einige Künstlerinnen und Künstler widmen sich der Kombination von Fotos, die auf Leinwände gedruckt wurden, und ihrer nachträglichen Bearbeitung mit Öl- oder Acrylfarben. Das bringt verblüffende Effekte, erinnert jedoch stark an die verwischten Richter-Bilder, und der kann es wirklich besser. Natürlich ist ein solcher Vergleich etwas ungerecht, aber wer sich mit seiner Kunst in ein renommiertes Museum begibt, der muss auch damit rechnen.

Am Ende des Rundgangs kommt man auf der dritten Ebene in eine Sonderausstellung des früh verstorbenen Hagener Malers RappaPort – „Objekt und Farbe“ heißt diese Präsentation, zusammen gestellt vom „Freundeskreis RappaPort“. Figürliches vermisst man hier völlig, stattdessen beeindrucken aber seine seriellen Bilder. Das hat schon was.

Und dann blickt man durch eine Seitentür in einen Raum der ständigen Sammlung, da hängen die Bilder von Christian Rohlfs, und schlagartig wird einem der Unterschied klargemacht: Kunst kommt von Können, aber nicht immer.

Osthaus Museum Hagen, Hochstraße 73. Erwachsene 6 Euro. Bis 28. August 2011




Eine Reisende, die man nicht aufhalten kann: Vom Lichtkunstzentrum in Unna zur NRW-Kunststiftung

Ursula Sinnreich (Jahrgang 1957), der man gern den Dr. und den Prof. dem Namen voran stellt, geht nach Düsseldorf und übernimmt die Geschäftsführung der NRW-Kunststiftung, deren neuer Präsident, Dr. Fritz Behrens, sie für dieses Amt vorgeschlagen hatte. Sie verlässt das spärlich berühmte Unna, sie verlässt das wohlbekannte Lichtkunstzentrum, dessen Direktorin sie war, sie verlässt eine inhaltlich vorzügliche Aufgabe und widmet sich zukünftig dem landesweiten Geschäft. Verständlich, wenngleich bedauerlich, denn das „Zentrum für internationale Lichtkunst“ in der Kreisstadt östlich von Dortmund erlebte gerade einen Besucherandrang – und das im Jahr nach RUHR 2010, da in vergleichbaren Museen die Ströme sich wieder auf Normal-Niveau einpendeln.

Nun kann eine kleine Stadt nie mit den verlockenden Attraktionen konkurrieren, die eine Landeshauptstadt und eine landesweit operierende Institution bieten können. Viele Städte in NRW können sich völlig zu Recht „Kulturstadt“ nennen, doch neben Köln oder Düsseldorf verblasst ihr Stern alsbald zur Funzel, wenn ansehensträchtige Aufgaben in die Metropolen locken. Axel Sedlack, der jüngst pensionierte Autodidakt und rastlose Architekt einer kulturmittelstädtischen Sonderstellung Unnas, war noch die Ausnahme, er blieb ortsfest ebenso wie er für die Kulturpolitik standfest blieb. Kann sein, dass er der letzte seiner Art ist.

Sedlack betrachtet die Vorgänge von draußen, kann oder mag auch nicht mehr eingreifen. Ursula Sinnreich ist – wenn man so will – seine „Entdeckung“ für Unna gewesen. Sie wurde aus der Verantwortung für die östlichsten Beiträge zum Ruhrgebiets-Kulturhauptstadtjahr in die Leitung des Lichtkunstzentrums befördert. Und musste seit Beginn des Jahres 1 nach 2010 miterleben, wie der anhaltende Erfolg ihres einzigartigen Kellergewölbes breit zerredet wurde, wie jeder sich aufschwang, den anerkannten Leuchtturm einer ganzen Region in die Mahlwerke einer ideologisch geprägten Finanzdebatte zu parlieren.

Das hat die Frau Direktorin ganz sicher nicht gegen neue Herausforderungen resistenter gemacht.

Nun, neben dem Glück, das man ihr bei der neuen Arbeit wünschen soll, sei ein anderer, nachhaltiger Wunsch geäußert. Nämlich dass eine Nachfolge geregelt wird, die dem Lichtkunstzentrum gerecht wird, die seine Fortentwicklung und seine Bestandssicherung zum Ziel hat, die auch einmal Ideen im Kopf kreisen lässt, um sie frei nach draußen zu lassen und sie nicht bereits im Entstehen durch systemerzeugte Bedenken zerdrückt. Dieser Wunsch gilt der Lichtkunst-Leitung, dieser Wunsch gilt ebenso der behutsamen zukünftigen Leitung der Kulturarbeit im alten Unna, um sie möglichst verletzungsarm durch die Phase des finanziellen Dämmerlichts zu leiten.

(Bild: Screenshot der Internetseite des Lichtkunstzentrums)




Sie sind unter uns – Aussteiger des digitalen Zeitalters

Zum Erstaunen des mit dem üblichen Maschinenpark mobiler Endgeräte ausgestatteten Endverbrauchers geschieht es immer wieder: Inmitten einer telefongrafierenden Menge stemmt jemand eine voluminöse Sucherkamera vors Gesicht und setzt mit Betätigung des deutlich hörbaren Auslösers eine Reihe weiterer Schnapp- und Klickgeräusche aus der Frühzeit des Menschen in Gang – bis hin zum Summen des Motors, der den Rücktransport der Filmspule nach der letzten Aufnahme untermalt.

Analoge Telefonie (Ward "Charging-Bull", 10, Foto web)

Analoge Telefonie (Ward „Charging-Bull“, 10, Foto web)

Abhängig vom Lebensalter reicht die Reaktion der Umstehenden vom interessierten „Was machst du da?“ der im digitalen Zeitalter Aufgewachsenen bis zur nostalgischen Rührung ihrer Vorfahren, die mit derlei mechanischen Tonfolgen Erinnerungen verbinden: Der Geruch von Filmdöschen, Fixierbad, von Staub grillenden Diaprojektoren, die haptischen Feinheiten von Baryth-Papier, sowie die erlesene Schönheit reich geschmückter Umschläge von Fotoalben.

Analoge Bürokommunikation (Graham "Rheinmetall", 03, Foto web)

Analoge Bürokommunikation (Graham „Rheinmetall“, 03, Foto web)

Auf ihre liebenswerte Fortschrittsverweigerung angesprochen führen die analogen Felsen in der Pixelbrandung eine überschaubare Palette von Argumenten an: An erster Stelle die Sinnlichkeit des Materials und die der manuellen Arbeit im Labor, die Spannung der Zeitverzögerung durch das Einschicken von Farbfilmen nebst der Überraschung angesichts der Ergebnisse, sowie die disziplinierende Wirkung der Beschränkung auf eine gegebene Anzahl kostspieliger Aufnahmen.

Und diejenigen, die diese Eigenschaften für kein Alleinstellungsmerkmal analoger Fotografie halten (schließlich treten am Bildschirm ähnliche Probleme auf) zücken die apokalyptische Keule: Alles hat einmal ein Ende, nur digitale Medien haben zwei – degenerierende Dateien und zerbröselnde Speichermedien. Als vorbildliches Gegenbeispiel verweist man auf Nega- und Positive, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts verlustarm erhalten haben (sprich restauriert wurden), wohingegen ungezählte geistige Errungenschaften der letzten paar Jahrzehnte auf elektronischen Speichermedien – alle mit der Haltbarkeitsdauer von Milch – begraben liegen.

Beschwörungen der Nachhaltigkeit des Althergebrachten gegenüber dem programmierten Verfall jeweils zeitgenössischer Produktion kehren seit Beginn der Industrialisierung in Gestalt der Arts & Crafts-Bewegung über das Weimarer (!) Bauhaus1 bis zu postmodernen Design-Positionen rhythmisch wieder. Und eben diese Argumente für die Überlegenheit des Unterlegenen werden auch beim derzeit standhaften Beharren auf analoger Foto- und Filmtechnologie angeführt.

Dean "Filthy Weather", 1998, (Kreide auf Schultafel), Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Filthy Weather“, 1998, (Kreide auf Schultafel), Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Aus der Fraktion der digitalen Refuseniks greife ich eine Künstlerin heraus, deren Gesamtwerk – Ton- und Filminstallationen, Fotografie, Objekte, Texte, Zeichnung – sich durch die sprichwörtliche Einheit in der Vielfalt auszeichnet.

Hauptsächlich im Bereich des 16 mm-Films arbeitend, gehört Tacita Dean zu den eloquentesten Verfechterinnen analoger Bilder und Töne. Eine zusammenfassende Beschreibung ihrer Filme wäre an dieser Stelle so hilfreich wie ungerecht. Deren Wirkung verweigert sich nämlich der Nacherzählung, weil ein zentrales Merkmal im ruhigen Aufzeichnen subtiler Prozesse in Natur, Kreatur und Architektur besteht. Die sich der Betrachtenden übertragende Konzentration der langen Einstellungen verdankt sich einer Fokussierung auf Feinheiten – eine mikroskopische Wahrnehmungsschulung, die das Sehfeld wie ein Zoom aufzieht.

Dean "Bubble House", 1999, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Bubble House“, 1999, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

 

Der investigative Blick, der visuelle Subtexte bizarrer Landschaften und skurriler Artefakte offenlegt, richtet sich auch auf Personen, und zwar in einer Weise, die das metaphorische Potential alltäglicher Handlungen sichtbar macht, wodurch die umher schlendernden, kramenden und plaudernden ProtagonistInnen ihre eigenen Denkmäler werden. Frei von aller „Jetzt erzählen Sie mal“-Rhetorik folgt die Kamera den Koryphäen in ihrem angestammten Habitat, das sich bei der damit hervorgerufenen näheren Betrachtung als äußerst vielsagend erweist.

Apropos vielsagend: All das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, sondern vielmehr Tacita Deans Feldzug zur Rettung des 16 mm-Films schildern.

Nachdem sie seit Jahren den Niedergang der analogen Foto- und Filmindustrie in Wort und Film begleitet hatte, veröffentlichte Dean Anfang 2011 anlässlich der Schließung des letzten auf 16 mm-Film spezialisierten Labors in Großbritannien einen Artikel im Guardian. Dabei war die Popularität analoger Medien unter KünstlerInnen durchaus gestiegen. Auf der letzten Berlin-Biennale beispielsweise lag der Anteil analoger Filme doppelt so hoch wie der digitaler. Da aber eine solche Gegenreaktion keine Geschäftsgrundlage ist, und 16 mm-Filme vorwiegend zu dokumentarischen oder künstlerischen Zwecken Verwendung finden, nicht aber für Spielfilme, wurde die Produktion eingestellt.

Dean "Opening-Swell", 1998, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Opening-Swell“, 1998, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean erklärt ihre Vorliebe für das Format mit dem Hinweis, ihre Filme seien Malerei näher als Kino. Die Verwandtschaft von 16 mm-Film und bildender Kunst beruhe u.a. auf der Tatsache, dass Lichtempfindlichkeit des Auges wie der fotografischen Trägermedien gemeinsame Grundlage sei. Da digitale und analoge Verfahren einander nicht über- oder unterlegen sondern schlicht verschieden sein, plädierte sie für das Aufrechterhalten von Wahlmöglichkeiten.

Freiwillige Selbstkontrolle (Beckett, Filmstill, 1964, Foto web)

Freiwillige Selbstkontrolle (Beckett, Filmstill, 1964, Foto web)

Kopfschüttelnd merkt sie gern an, der Siegeszug digitaler Medien verdanke sich dem erstaunlich bereitwilligen Verzicht auf die nahezu perfekte – nämlich analoge – Wiedergabe der Realität zugunsten trägen Masse entstellender Pixel.

Und überhaupt sei „analog“ letztlich die Sammelbezeichnung für „alles, was mir lieb und teuer ist.“

Wie dem auch sei – der volle pädagogische Wert dieses Appells wird hauptsächlich Unbedarften wie mir zuteil, die spätestens an dieser Stelle zugeben müssen, Unterschieden analoger und digitaler Medien bislang zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Zumindest das werden wir ändern.

1(und nur das Weimarer – nicht etwa das der nachfolgenden Phasen)