Mehr Mond!

Es ist eine jener Themen-Ausstellungen, bei denen man sich fragt: Warum ist bloß noch niemand vorher auf diese Idee gekommen? Das Kölner Wallraf Richartz-Museum lässt jetzt viele Monde aufgehen, leuchten und schimmern. Kann man da etwa mondsüchtig werden?

Eigentlich sonnenklar: Das erdnahe Gestirn ist ungeheuer oft gemalt (und später mit wissenschaftlichen und künstlerischen Absichten fotografiert) worden, oft auch indirekt: halb verborgen hinter dramatisch gebauschten Wolken oder zittrig gespiegelt auf Wasserflächen.

Die Kunstgeschichte hatte diverse „Mondphasen“, man denkt dabei wohl zuerst an die fahlen Nachtszenen der Romantik, die nicht selten in Bereiche ragen, die man als gefühligen Kitsch wahrnimmt. Schon die malenden Zeitgenossen ergingen sich damals zuweilen in ironischer Distanzierung. Johann Peter Hasenclevers „Die Sentimentale“ (1846), die sehnsüchtig zum Mond aufblickt, gerät zum Spottbild auf übertriebene Schwärmerei.

Doch der Reigen dieser Schau setzt schon sehr viel früher ein, nämlich bei Stefan Lochner und Albrecht Dürer. Man lernt nicht nur das Phänomen der strahlenbekränzten „Mondsichel-Madonnen“ kennen, sondern erfährt auch am bildlichen Beispiel, dass Maria im frommen Mittelalter selbst als eine Art „Mond“ imaginiert wurde, der das göttliche Sonnenlicht gleichsam ideal reflektierte.

Rubens porträtierte sich um 1605 im Verein mit dem mondkundigen Galileo Galilei – höchst selbstbewusster Anspruch auf beiderseits zukunftsweisende Genialität. Die Kölner bieten in unüblich dichter Hängung einige große Namen auf, auch für die späteren Zeiten: Bilder etwa von Joseph Wright of Derby, Caspar David Friedrich, Edouard Manet („Mondschein über dem Hafen von Boulogne“), Felix Vallotton, Max Beckmann, Max Ernst, Edvard Munch. Jeder schuf da quasi seinen ganz eigenen, persönlichen Mond – erst recht in der Moderne. Sehen und Empfinden gingen immer wieder neue Verbindungen ein.

Im Wallraf Richartz Museum verknüpft man gern Kunstgeschichte mit Naturwissenschaft. Zur mehr oder weniger frei schwebenden Ästhetik kommt somit stets etwas Handfesteres. Im letzten Jahr war man den Impressionisten mit allerlei avancierten Forschungs-Methoden zuleibe gerückt. Jetzt zieht man auch astronomisches Wissen zu Rate, um die Gemälde zu deuten. Mit Hilfe „ewiger“ Himmelskalender, die Lauf und Stellung des Trabanten vorhersagen oder eben historisch nachzeichnen, lassen sich Mondbilder (einigermaßen realistische Darstellung vorausgesetzt) recht genau mit Jahres- und Tageszeiten datieren. Insgesamt gilt allerdings: Viele Künstler haben den Mond, um deutlichere Effekte zu erzielen, häufig deutlich zu groß an ihre Himmel gehängt.

Quer durch die Epochen sieht es die Kunst ja auch nur selten als ihre Aufgabe an, den Mond „sachgerecht“ und naturtreu zu zeigen. Vielmehr erweist er sich meist als symbolbeladen – manchmal als Zeichen des bedrohlich Bösen, zuweilen auch als Bote unsteten Wandels (zu- und abnehmende Sichel). Mit dem Aufkommen des Teleskops und hernach der Fotografie oder gar der Raumfahrt vollziehen sich jeweils künstlerische Ausweich- und Absetzbewegungen, sprich: Die Kunst räumt dann immer wieder realistische Positionen, weil sie auf diesem Gebiet ohnehin nicht mit den neuen Erfindungen konkurrieren kann. Auch deshalb geraten, ob nun in der Romantik oder im Impressionismus, „Unschärfen“ in die Bilder, die nicht immer leicht zu deuten sind. Beim Expressionisten Schmidt-Rottluff nimmt der Mond beispielsweise blaue Farbe an. Für die Surrealisten ist er sowieso in erster Linie ein bleicher Traumbringer.

Ein zweiter Hauptstrang der Ausstellung verfolgt die technischen Entwicklungen der Mondbeobachtung und Mondbeschreibung (Kartographie usw.), vor denen die Malerei also die Flucht ergriff – bis in flirrende Bezirke, wo sie ungeahnt neues Terrain eroberte und der Technik wiederum weit voraus zu sein schien. Das Spektrum der sachkundlichen Exponate reicht von Beobachtungs-Instrumenten über alte, oft schon erstaunlich exakte Mondkarten bis hin zu Fotos der Apollo-Missionen. Diese wiederum werden auch schon mal künstlerisch verfremdet, um sie wieder ins Bewusstsein zu heben.

Vollends verblüffend ist ein aufwändig gemaltes Diorama, das 1919 entstand und dem Betrachter breitwandig das grandiose Gefühl vermitteln sollte, just auf dem Monde zu stehen. Freilich waren diese Mondgebirge aufgrund falscher theoretischer Annahmen gar zu wild und steil gezackt – und es soll hier sogar ein Abbild der Zugspitze den Weg ins Weltall gefunden haben. Also spukte auch hier die Phantasie mit hinein. Ein Grenzfall zwischen Wissenschaft, Kunst – und Jahrmarkt? Auch auf phantastisches Kino (z. B. die Weltraum-Odyssee des Stanley Kubrick) deutet das Diorama wohl schon voraus.

Bemerkenswert auch ein ziemlich verrücktes „Mondprojekt“ des deutschen Künstlers Adolf Luther, der in den 1970er Jahren mit Blick aufs Millennium, also auf das Jahr 2000, ein gigantisches Fest plante, bei dem die Rückseite des Mondes künstlich erstrahlen sollte, illuminiert durch gigantische Parabolspiegel im All. Zur Finanzierung dieser Vision sollte das Logo eines US-Konzerns kostenpflichtig auf den Trabanten projiziert werden, dem Jahrtausend-Ereignis sollte man sodann in eigens entworfener Mode beiwohnen. Aus all dem ist nichts geworden. Soll man’s bedauern?

„Der Mond“. Wallraf-Richartz-Museum, Köln (Obenmarspforten / am Rathaus). Bis 16. August 2009. Geöffnet Di-Fr 10-18, Do 10-22, Sa/So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9,50 € (ermäßigt 6 €). Katalog 30 €. Internet: www.wallraf.museum

Thematische Ergänzung im laufenden „Jahr der Astronomie“: „Sternstunden – Wunder des Sonnensystems“. Gasometer Oberhausen, seit 2. April 2009 bis 10. Januar 2010. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 7 € (ermäßigt 5 €).

Bild: Edouard Manet „Mondschein über dem Hafen von Boulogne“ (Katalog)




Klee und Feininger: Stilles Leuchten

Es steht ja schon in der Bibel: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ Die ganze bildnerische Ideen- und Formenfülle liegt in jener Frühzeit bereit – und gleichzeitig liegen die Fertigkeiten noch brach.

Umso besser also, wenn begnadete Künstler irgendwann auf Kinder- und Kindheitsbilder zurückkommen, so auch Lyonel Feininger (1871-1956) und Paul Klee (1879-1940), die jetzt bei einer Doppelausstellung in Hamm ästhetische Dialoge auf höchstem Niveau führen.

Rund zehn Jahre haben sie parallel am berühmten Bauhaus in Weimar und hernach Dessau gewirkt – Feininger in erster Linie als technisch beschlagener Leiter der Druckwerkstätten, Klee vor allem als einfühlsam Lehrender. Nebenher schufen beide auch Spielzeug (Holzhäuser, Lokomotiven etc.) für den Nachwuchs.

In Bildern wie „Stadt mit Sonne“ (1921) hat sich der gebürtige US-Amerikaner Feininger, der damals schon reichlich Erfahrung mit Comic-Zeichnungen gesammelt hatte, ein kindlich anmutendes Raumschema anverwandelt, sprich: Die Dinge schweben neben- und übereinander, sie sind weder hierarchisch sortiert noch perspektivisch gestaffelt. Vor allem aber bringt Paul Klees oft so leichthändige, stille Freude an formalen Reduktionen Gegenstände zum innigen Erglühen – wie in unvordenklichen Kindertagen.

Ein Schwerpunkt der angenehm konzentrierten Ausstellung (insgesamt etwa 90 Exponate) sind Meeres- und Schiffsbilder. Feininger zog es häufig an die Ostsee , er begriff sich zeitweise gar als „Marinemaler“. Von duftiger, kühl umwehter Transparenz sind seine Segelschiff-Darstellungen. Der Künstler hat Anteile der einmal aufgetragenen Ölfarbe zuweilen wieder abgewaschen, so dass eine Art bleicher Schwerelosigkeit zurückbleibt. So vermag er es auch, Segelboote in Nebelschwaden als bloßen Hauch anzudeuten. Die Bildräume atmen oft ungeheure Weite. Es ist, als werde eine imaginäre Pforte in eine neue Dimension größter Ruhe aufgetan. Trotz kubistischer Aufsplitterung mancher Motive (speziell aus der Architektur) bleiben die kristallinen Gegenstände doch stets erkennbar.

Während Feininger ersichtlich auch etwas beflissen Akkurates hatte, kommt einem Paul Klees Vorgehensweise meist spielerischer vor, wie ein schöner, selbstvergessener Tanz von Kräften und Gegenkräften. Seine Bilder sind um einige Spuren anekdotischer, erzählerischer, sanft getragen von feinnervigem Humor – und letztlich vielleicht doch weniger „kontrolliert“ als Feiningers Schöpfungen.

Gewiss: Auch Klee ist mit Farbtheorien, mathematisch-musikalischen Rhythmuslehren und sonstigem Kunstwissen aus dem Baukasten der Historie genugsam gewappnet und gesättigt, doch verliert er sich „unterwegs“ im Schaffensprozess oft ins wundersam Beiläufige, bis hin zu dem Punkt, an dem es wohl gar keinen Vorbehalt oder Rückhalt mehr gibt.

Sie mögen einander geistig nah gewesen sein, doch der gegenseitige Einfluss war begrenzt. Feininger und Klee wussten je für sich, was sie wollten und konnten. Mit großer Wertschätzung nahmen sie die unvergleichliche Arbeit des jeweils Anderen wahr. Auch schenkten sie einander gelegentlich Bilder. Doch letztlich zog jeder seine ganz eigene Bahn.

„Lyonel Feininger – Paul Klee. Malerfreunde am Bauhaus“. Bis 24. Mai. Gustav-Lübcke-Museum. Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Geöffnet Di-Sa 11-18, So 10-18 Uhr. Katalog 19,90 €.




Künstlerpaare: Höhenflüge und Abstürze zu zweit

Manches Künstlerpaar ist zur filmreifen Legende geworden: Auguste Rodin und Camille Claudel etwa. Der Kraftmensch, beim Kennenlernen schon 42 – und die fragile 18-Jährige, die nicht nur folgsam von ihm lernte, sondern bildhauerisch zeitweise mindestens ebenbürtig war. Doch als er sie verließ, verfiel sie allmählich dem Wahnsinn.

Nicht immer verlaufen die Paar-Beziehungen unter Künstlern so dramatisch. Und nicht immer liegt der Einfluss so auf der Hand. Camille Claudel machte sich nicht nur Rodins Technik zu eigen, die Oberflächen der Skulpturen schrundig aufzurauen. Auch thematisch orientierte sie sich an ihm.

Worauf die Frauen
verzichtet haben

Gleich 13 aufschlussreiche, in vielen Facetten schillernde, atmosphärisch aufgeladene Paargeschichten der Kunst erkundet, erzählt und „bebildert” das Kölner Wallraf Richartz Museum ausgiebig. Der zum tieferen Verständnis unverzichtbare Katalog dokumentiert noch einige mehr. Es gibt ja so viele leidenschaftliche Kunst- und Paarwelten.

Ungefähr zwischen 1880 und 1970 ereignen sich die Begegnungen, die stets bildnerische Früchte tragen – oft wechselseitig. Mal profitiert eine Schülerin vom erfahrenen Lehrer, dann ist es umgekehrt: Lee Krasner bringt Jackson Pollock wenigstens vorübergehend vom Alkohol ab und hält ihm den Rücken frei. Marianne von Werefkin fördert den vier Jahre jüngeren Alexej Jawlensky und hält sich selbst zurück – bis der sie „zum Dank” mit der Haushälterin hintergeht. Bezeichnend das Werefkin-Gemälde „Tragische Stimmung”, das in erdigen Rotbraun-Tönen vibrierende Zornbild einer gescheiterten Liebschaft.

In derlei Fällen fragt sich nicht nur die Feministin, worauf die Frauen verzichtet haben und was sie andernfalls künstlerisch aus sich hätten machen können. Vielfach wurde den Herren die Frau an ihrer Seite schlichtweg „zu gut”. Paula Modersohn-Becker übertraf ihren einstigen Mentor und späteren Ehemann Otto Modersohn irgendwann an Strahlkraft. Der war zuerst fasziniert, sodann freilich befremdet. Sie entfernte sich ja von ihm!

Historisch sich wandelnde Rollenmuster spielen in solche Verhältnisse hinein. Und gemeinsame Projekte (revolutionäre oder ästhetische Aufbrüche) beflügeln Künstlerpaare, doch stets drohen auch Abstürze zu zweit.

Frida Kahlo und Diego Rivera marterten einander mit anderweitigen Affären. Köln kann einige Leitstücke der Paarkunst aufbieten, darunter Kahlos doppeltes Wunschbildnis mit Rivera. Beide Gesichter verschmelzen da innig miteinander. Ersehnte Harmonie, in der Wirklichkeit niemals ganz einzulösen.

Treue bis über
den Tod hinaus

Innige Zweisamkeit spürt man vor allem in den Arbeiten des Dadaisten-Paares Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp. Hier scheinen kaum erklärliche Phänomene wie der Gefühls- und Gedankenübertragung am Werke zu sein. Noch rund 20 Jahre nach Sophies Tod macht sich Hans (Jean) Arp daran, einen ihrer alten Entwürfe neu zu beleben. Welch eine (eben nicht nur künstlerische) Treue über den Tod hinaus. Wahrlich anrührend.

Mindestens ebenso spannend sind uneindeutige Mischverhältnisse in Beziehungen, zumal in Zeiten, wo die männliche Dominanz längst nicht mehr üblich ist. Beispiel: Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely haben ihre Positionen offenkundig fragil ausbalanciert. Ein gemeinsamer Brunnenentwurf lässt es ahnen. Es ist keine Symbiose, doch es sind in schönster Gleichwertigkeit glückhaft aufeinander eingeschwungene Formen. So soll es sein.

„Künstlerpaare”. Köln, Wallraf-Richartz-Museum (direkt am Rathaus). Bis 8. Februar 2009. Geöffnet Di-Fr 10-18, Do 10-22, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 10 €, Katalog 39 €

  • Neben den erwähnten Paaren werden in der Schau außerdem ausführlich behandelt: Gabriele Münter und Wassily Kandinsky, Sonia und Robert Delaunay, Natalia Gontscharowa und Michail Larionow, Hannah Höch und Raoul Hausmann, Georgia O’Keeffe und Alfred Stieglitz, Ray und Charles Eames.



Flut der Farbe

Köln/Leverkusen. Mindestens zwei Seelen wohnen in seiner Brust: Gerhard Richter (76) hat oft nach Foto-Vorlagen gemalt – sehnsüchtig, begierig auf Wirklichkeit, doch stets zweifelnd: Was heißt denn eigentlich „Realismus”? Deswegen hat Richter auch immer wieder die Gefilde der Abstraktion durchmessen. In die Flut der freien Farben lassen sich zwei Ausstellungen in Köln und Leverkusen gleiten.

Im Kölner Museum Ludwig sind 40 überwältigende, immens verdichtete Großformate zu sehen. Richter hat die Farbe mit Spachtel und Rakel aufgetragen, hat über und über geschichtet, verwischt, kraftvoll durchpflügt. Allerlei Spuren durchkreuzen einander: Schlieren, Gitter, Krusten. Der Blick des Betrachters findet kaum einen Halt. Man kann sich geradezu in diesen Gemälden verlieren – wie in etwas Unendlichem. Und weil man’s letztlich nicht wortwörtlich sagen kann, deshalb sind es Bilder.

Erst der Zufall,
dann die Kontrolle

Der Künstler selbst bekennt sich bei all dem zum fließenden Zufall, den er aber im Laufe des Malprozesses mehr und mehr kontrollieren und korrigieren muss – „bis es schön aussieht”, wie er leise und bescheiden anmerkt. Hört sich simpel an, ist aber denkbar schwierig. Denn gefällig dekorativ soll es nicht sein, auch nicht vordergründig spektakulär. Wie Richter die vielen Klippen umschifft, das gerät zum intensiven, bisweilen glühenden Ereignis.

Im Leverkusener Schloss Morsbroich hängen derweil weitaus kleinere Exponate an den Wänden, doch geht’s hier ebenso spannungsreich zu. Eine bislang noch nie öffentlich ausgebreitete Werkgruppe ist zu sehen: rund 500 übermalte Fotografien, überwiegend aus Privatbesitz.

Die Bilder sind in der Regel nur 10 mal 15 Zentimeter klein. Ursprünglich waren es ganz gewöhnliche Fotoabzüge aus dem Großlabor: Keine ambitionierte Fotokunst, sondern Schnappschuss-Szenen mit Familie und Freunden, Impressionen von Spaziergängen, gewöhnlicher Alltag. Auch hierbei waltete anfangs der Zufall. Gelegentlich war in Richters Atelier Ölfarbe auf solche umherliegenden Fotografien getropft. Der Künstler erkannte bald den ästhetischen Reiz. An den Grenzlinien der Gegenständlichkeit setzte er die Übermalung fortan bewusst ein. Erkennbare Formen ragen danach – wenn überhaupt – nur noch vage ins Bild. Die Farbe schwappt darüber hinweg, bildet Rinnsale, verästelt sich, schmiegt sich mal dem Figürlichen an oder setzt sich entschieden davon ab. Ein Spiel mit zahlreichen Varianten, doch gewiss nicht regellos.

Hat Richter durch Übermalung die fotografisch festgehaltene, stillgelegte „Wirklichkeit” vernichtet? Keineswegs. Man wird Zeuge einer verblüffenden Wandlung. Die Fotos werden durch malerische Behandlung aus den Archiven der Vergangenheit herausgehoben – mitten hinein in den gegenwärtigen Moment des Betrachtens. Sie erstrahlen plötzlich ganz im Hier und Jetzt.

Solchen Zauber bewirkt man natürlich nicht, indem man einfach Farbe auf Fotos schmiert. Man muss schon ungemein genau auf die Vorlagen reagieren. Mindestens die Hälfte seiner Versuche wirft der Maler weg – in zerrissener Form, damit niemand lukrativen Schindluder mit „Fehlfarben” treiben kann. Denn was durch Gerhard Richters Hände gegangen ist, kostet enorm viel Geld.

Abstrakte Bilder. Museum Ludwig, Köln, Heinrich-Böll-Platz (neben Dom/Hauptbahnhof). – Bis 1. Februar 2009. Di-So 10-18, jeden 1. Freitag im Monat 10-22 Uhr. Eintritt 9 Euro. Katalog 49,80 €.

Übermalte Fotografien. Schloss Morsbroich, Leverkusen, Gustav-Heinemann-Straße 80. – Bis 18. Jan. 2009. Mi-So 11-17, Di 11-21 Uhr. Katalog 39,80 €.

Bild: Katalog-Cover der Kölner Ausstellung (Verlag Hatje Cantz)




Wo die grinsenden Dämonen wohnen – die Welt des James Ensor in Wuppertal

Schaurig, schaurig: Der belgische Maler James Ensor (1860-1949) hat im menschlichen Antlitz vor allem das Bedrohliche, das Masken- und Fratzenhafte erblickt. Vielfach wanken klapprige Skelette durch seine bizarren Bilder. Auch der Maler selbst hat sich gern mit Totenkopf porträtiert.

Unter dem Titel „Schrecken ohne Ende” zeigt jetzt das Wuppertaler Museum, wie Ensors morbide und groteske Impulse bis in die jüngste Zeit weiter gewirkt haben.

Der stattliche Hagestolz Ensor blieb immer bei Mutter und Schwester. Er heiratete nie, obwohl ihn etliche Damen anhimmelten. Auch suchte er keine Abenteuer auf Reisen. Nur wenige Abstecher führten ihn aus seiner Geburtsstadt Ostende heraus.

Dort, an der grauen, rauen Nordsee hegte der große Einzelgänger schon früh das Gefühl, von der Kunstwelt verkannt zu sein. Doch auf Dauer sprach sich sein spezieller Ruhm eben doch herum – und nicht nur deutsche Expressionisten wie Nolde und Heckel verehrten ihn.

Anreger der Surrealisten

Vor allem den Surrealisten wies seine Kunst Wege in verborgene Seelenwinkel. Auch die zeitkritischen Künstler der 1920er Jahre (Otto Dix, George Grosz usw.) fanden durch Ensor einigen Boden bereitet. Der hatte gleichsam die bildnerischen Ätzmittel für die Darstellung bösartiger Menschengruppen und Massen präpariert. Somit ließen sich später auch die gesellschaftlichen Vorboten des Faschismus grell attackieren.

Bis heute können sich schräge Bildfindungen auf ihn berufen. Beispiel: Neueste Werke der Berliner Gruppe „Bonjour, Monsieur Ensor” verlängern das Werk des Belgiers ins geradezu Comichafte. Dabei wird deutlich, dass Ensor (der im Karneval von Ostende munter mitwirkte) keineswegs nur ein Finsterling war. Auch das fröhlich-bunte Spiel der Masken wusste er subtil einzufangen.

Die Wuppertaler Schau mit rund 220 Bildern (davon etwa die Hälfte von Ensor selbst) beginnt mit seinem künstlerischen Umfeld in Belgien, von dem er sich sehr bald entschieden abhebt – durch thematische Schärfe, aber auch durch eine besonders delikate Malweise. Als Kolorist erzielt er wahrhaft magische Wirkungen.

Masken-Angebot im Laden der Mutter

Von nichts kommt nichts: Im Geschenkeladen seiner Mutter gab es neben Masken auch Muscheln zu kaufen. Ensor hatte dort schon als Kind ausgeholfen und offenbar alle Schattierungen des Lichts in den Regalen studiert. Später hat er jedenfalls die Perlmutt-Töne der Muscheln ungemein feinsinnig zum Leuchten gebracht.

Seine impressionistischen Zeitgenossen waren ihm entschieden zu harmlos. Er wollte dem Bürgertum mehr ans Leder und ans Gemüt. Tatsächlich wirkt es überaus beklemmend, wie er die lastend melancholische Stimmung im bürgerlichen Salon schildert, die gleichsam zwischen den schweren Vorhängen hervorquillt. Depression und Hysterie, wie sie Sigmund Freud einst aufspürte und zu behandeln suchte, sind in solchen Interieurs daheim.

Wahnhafte, grinsend dämonische Seiten findet Ensor auch im Religiösen. Szenen aus der Bibel geraten ihm zur grimassierenden Karikatur – auch dies eine für seine Epoche unerhörte Sichtweise.

Bemerkenswert, wie realistisch Ensor seine Motive zunächst anging. Dann aber wartete er auf den Moment, in dem Figuren und Gegenstände ein Eigenleben entwickelten, in dem die Situation ins flackernd Irreale „umkippte”. An dieser Grenzlinie hat kaum einer so erregende Entdeckungen gemacht wie Ensor. Seine Vexierbilder zwischen Wahn und Wirklichkeit sind beileibe nicht an bestimmte Zeiten gebunden.

„Ensor – Schrecken ohne Ende“. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). 12. Oktober bis 8. Februar 2009. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr.Katalog 25 Euro.

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Der Ruhm kam spät

  • James Ensor wurde am 13. April 1860 in Ostende (Belgien) geboren. Dort starb er am 19. November 1949.
  • Kunststudium 1877-1880, abgebrochen.
  • 1881 erste Ausstellung.
  • Höhepunkt des internationalen Ruhms erst um das Jahr 1920.



Yoko Ono: Kunst ohne jeden Umweg

Bielefeld. Die meisten kennen Yoko Ono als Witwe des Ex-Beatles John Lennon. Dass sie selbst schon seit 1961 auf der Kunstszene agiert, gehört nicht zum Basiswissen. Doch nun richtet ihr Bielefelds Kunsthalle die größte Werkschau aus, die sie in Europa je gehabt hat.

Das heißt: „Werkschau” oder Retrospektive sind vielleicht keine passenden Begriffe, Yoko Ono lehnt sie jedenfalls ab. Nennen wir’s also eine Häufung der Ausdrucksformen – vom Film bis zur Zeichnung, vom Objekt bis zur bloßen Ideen-Notiz. Kunsthallen-Chef Thomas Kellein: „Sie ist eine Künstlerin, die keine Ruhe gibt. Sie will und kann nicht abschließend einsortiert werden.” Aber schauen wir mal, was sie so macht.

Leichenwagen und
Himmelsleitern

Bereits draußen vor der Kunsthalle legt die heute 75-Jährige ihre Spuren. Hier werden sich bald Onos „Himmelsleitern” recken, die einen Hang zum Höheren offenbaren. Stufe für Stufe. Schon jetzt gibt es dort „Wunschbäume”, an die man Zettel mit Hoffnungen heften kann. Und dann steht da noch ein veritabler Leichenwagen, mit dem sich Besucher durch die Stadt chauffieren lassen dürfen (15 Minuten für 5 Euro). Warum? Weil die Künstlerin es sich so vorgestellt hat.

Bei ihr regiert oft der blitzartige Einfall, der nach rascher Umsetzung, ja Entladung drängt. Da hat sie frühmorgens Sonnenstrahlen er-blickt – und kurzerhand entsteht eine Strahlenbündel-Skulptur, die diesen Moment einfangen soll. Da hat sie von Katzen mit glühenden Augen geträumt – und alsbald stehen da 54 derartige Tiere als Installation im Raum (siehe Bild). Diese Kunst will sofort und direkt „da” sein. Geradeaus, zuweilen ziemlich simpel.

Yoko Ono war freilich auch eine Pionierin der Konzeptkunst, die mehr von skizzenhaften Ideen als von genauer Ausführung lebt. So sieht man denn zahllose schriftliche „Anweisungen” an den Wänden. Etwa die, dass man im Konzerthaus geräuschlos Fahrrad fahren solle oder dass man so lange auf einem spartanischen Bett nächtigen möge, bis sich auf dem Laken ein „Gemälde” abzeichnet. Immerhin: Bett und Rad stehen als Objekte bereit; ganz so, als könne man jede Kopfgeburt flugs verwirklichen. Ansätze zur Bewusstseins-Erweiterung, zum Umdenken? Nicht immer. Manchmal franst diese Kunst an den Rändern in Wirrnis aus.

Dass wir alle zu hohen Prozentsätzen aus Wasser bestehen, ist bekannt. Bei Yoko Ono wird auch aus diesem Befund recht umstandslos die raumgreifende Installation „We’re all Water”. 118 mit Wasser gefüllte Gläser sind aufgereiht, jedes säuberlich mit einem bekannten Namen beschriftet. Die Skala reicht vom Dichter Rilke über John Lennon bis zu Adolf Hitler. Sollen wir denken, dass die schiere Wässrigkeit all diese Gestalten einander angleicht? Das wäre heikel.

Yoko Ono hat auch eine frauenbewegte Ader. Drei aufgeschüttete Erdhügel stehen für verschiedene Formen der Gewalt gegen Frauen oder besser: für deren offenbar immergleiche Folgen. Gegenstück ist der „Familienraum”. Ganz egal, ob Spiegel, Frauenschuhe, Haarbürste, Kleiderbügel, Esstisch oder Kästchen – aus allen Gegenständen quillt Kunstblut. Häusliche Gewalt, auf einen einfachen, plakativen Nenner gebracht.

Hie und da werden Besucher zum Mitmachen angestiftet. Auf anfangs leeren Leinwänden sollen sie Bilder ihrer Mütter anbringen. Einen zerteilten und in Boxen verpackten Silikon-Körper soll man berühren („Touch me”); am besten ganz weihevoll, nachdem man die Hand in Wasser getaucht hat. Daneben läuft ein 25-minütiges Video, in dem sich eine Fliege nach und nach auf alle Partien eines nackten Frauenleibes setzt. Auch die befreite Phantasie fliegt, wohin sie will.

Vor allem aber sollen wir alle stets ganz fest an Frieden denken. Yoko Ono glaubt, dass dies die Energien umpolt – bis eines Tages wirklich überall Frieden herrscht. Das klingt einfältig. Oder sollten wir’s vorsichtshalber doch mal probieren – vielleicht zum Sound von Lennons Gassenhauer „Give Peace a Chance”?

Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Str. 5). Bis 16. Nov. Di, Do, Fr, So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr. Eintritt 7 €

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ZUR PERSON:

  • Yoko Ono wird am 18. Februar 1933 in Tokio (Japan) geboren.
  • 1952 wandert sie dauerhaft in die USA aus.
  • 1956 erste Ehe mit einem Komponisten (bis 1962).
  • 1961 erste Galerie-Schau.
  • 1962 zweite Ehe mit einem US-Filmproduzenten.
  • 1966 lernt sie den Beatle John Lennon kennen.
  • 1969 Heirat mit Lennon auf Gibraltar. In den Flitterwochen das legendäre „Bed-In” (Ono und Lennon öffentlich im Bett) im Amsterdamer Hotel.
  • Viele Beatles-Fans machen bis heute Yoko Ono fürs Ende der Gruppe (1970) verantwortlich.
  • Ono und Lennon produzierten mit der Plastic Ono Band Songs wie „Give Peace a Chance”, „Cold Turkey” und „Mother”.
  • 1980 (8. Dezember): John Lennon in New York erschossen.



Junger Westen: Rückkehr der 50er Jahre

Recklinghausen. Man kann es sich denken: Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte allseits Nachholbedarf. Beileibe nicht nur in materieller, sondern auch in geistiger Hinsicht. Der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein. Vor dem Horizont dieser Zeitstimmung bildete sich 1948 im Ruhrgebiet eine folgenreiche Künstlergruppe: der „junge westen”.

Jetzt, runde 60 Jahre danach, kommt die Gruppe an ihrem Gründungsort Recklinghausen wieder zu Ehren. Noch heute gibt es zur Erinnerung den renommierten Kunstpreis „junger westen”. Führende Köpfe dieses Künstlerkreises waren der Hagener Emil Schumacher, Thomas Grochowiak, Gustav Deppe, Heinrich Siepmann und Hans Werdehausen. Namen, die (mit Ausnahme von Schumacher) heute nicht mehr ganz so geläufig sind.

Von regionalen
Industrie-Motiven
zur Abstraktion

Die Gruppe wurzelte im Expressionismus und richtete sich bewusst regional aus. Anfangs griffen die Künstler häufig Motive aus der Ruhrgebiets-Industrie auf, wie etwa Thomas Grochowiak mit „Der Fördermaschinist” (1950). Erkennbare Gestalt, doch kein platter Eins-zu-eins-Realismus, sondern aufs Wesentliche zielend.

Doch alsbald machte sich (zuweilen heiß und polemisch umstritten) der Zug zur Abstraktion bemerkbar. Er ging in verschiedene Richtungen, mal eher geometrisch (konstruktiv), mal mehr emotional (gestisch) gewendet. Viele Wege führen durch Fläche und Farbe. Jedenfalls hat sich seinerzeit die abstrakte Formensprache spätestens mit der documenta 1959 durchgesetzt. Überdies passt Abstraktion bestens zu den aktuellen Trends auf dem heutigen Kunstmarkt. Zufall oder glückliche Fügung?

Recklinghausens Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich ist überzeugt: „Die 50er Jahre kommen wieder!” Selbst manche Nierentische und Tulpenlampen seien grandiose Schöpfungen gewesen; erst recht die Kunst jener Zeit, die sich oft dem Alltag näherte – und zwar keineswegs subversiv, sondern gleichsam hilfsbereit: Man sieht es deutlich anhand einer Mappe mit Tapetenmuster-Entwürfen des „jungen westens” für eine Wuppertaler Firma. Phantasie-Girlanden im Stil der Zeit für die heimischen Wände. Das hatte ‚was! Später gab es gar „informelle” (also von spontanen Impulsen gesteuerte) Entwürfe für Spielplatzmobiliar wie etwa Kinderrutschen. Gut denkbar, dass die Umsetzung an Sicherheitsbedenken gescheitert ist.

Alltagsnähe in
der Tradition
des Bauhauses

Hinter all dem stand die Idee eines „Neuen Bauhauses”, das in großer Tradition Kunst und Leben versöhnen sollte. Zeitweise gab es Pläne, dieses „Bauhaus” an der Werkkunstschule in Dortmund anzusiedeln. Leider hat sich dieses Projekt zerschlagen. Wer weiß, was daraus hätte wachsen können.

Recklinghausen zeigt rund 80 ausgewählte Werke von 16 Künstlern, Kurator ist der stellvertretende Kunsthallen-Chef Hans-Jürgen Schwalm. Nicht nur der „junge westen” selbst ist vertreten, sondern auch Gäste, die damals an ihren Ausstellungen teilgenommen haben: HAP Grieshaber, Fritz Winter, Hubert Berke, Georg Meistermann, Hann Trier und der ungemein dynamische K. O. Götz, der (weit über die „Provinz” hinaus) in Paris Furore machte.

Lauter starke Positionen also, deren Originalität jetzt noch wirkt. Die meisten Bilder dürften selbst Skeptiker mit der Abstraktion versöhnen. Die ist hier nämlich kein Freibrief für Beliebigkeit, sondern bringt Formen verbindlich auf den Begriff. Zudem erlaubt die Schau Entdeckungen. Etwa diese: Vor seinen Farbräuschen hat Emil Schumacher Bilder wie „Der Herd” geschaffen; ein wahrhaft ausdrucksvolles Geräte-„Porträt” aus dem Küchenbezirk.

Fazit: Auf solch anregende Weise darf ein Hauch der 50er Jahre gern wieder wehen.

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INFOS:

  • Ein Mentor und „Geburtshelfer” der Gruppe „junger westen” war Franz Große Perdekamp, erster Direktor der Kunsthalle Recklinghausen.
  • Ort der ersten Ausstellung im Vorfeld der Gruppenbildung war 1947 die Lebensmittel-Etage des Kaufhauses Althoff (Recklinghausen).
  • Ausstellung bis 28. September, Kunsthalle Recklinghausen (Bunker am Hauptbahnhof). Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eine kleinere Auswahl zum „jungen westen” wird auch in Dortmund zu sehen sein – mit Werken von Gustav Deppe, Ernst Hermanns und Heinrich Siepmann: 3. September bis 24. Oktober im RWE Tower (Freistuhl 7). Mo-Fr 9-17 Uhr.



Als die Videokunst noch neu und radikal war

Krefeld. Das Problem betrifft beileibe nicht nur Krefeld: Videokunst, seit den frühen 70er Jahren von Museen angeschafft, vergammelt vielfach in den Depots. Die Arbeiten aus der Video-Steinzeit“ müssten eigentlich überall auf neue Formate (derzeit vor allem DVD) umkopiert werden. Man braucht mittlerweile rare historische Geräte, um überhaupt auf die alten Magnetbänder zugreifen zu können.

Selbst in den Krefelder Museen, die um 1970 bundesweit zu den ersten Kunstvideo-Käufern zählten, wurde dieser Eigenbesitz seit Jahrzehnten kaum noch beachtet. Erst kürzlich hat man sich wieder erinnert. So waren denn bis zu 30 (!) Reinigungs-Durchgänge erforderlich, bevor die Filme neu gespeichert werden konnten. Und was ist dabei zum Vorschein gekommen?

Viel experimenteller Zeitgeist aus den Jahren nach 1968. Vorwiegend grobkörniger, schwarzweißer Sehstoff, der oft mit hartnäckigen Wiederholungsmustern die Geduld auf die Probe stellt und klar macht, wie sehr sich die Bilder seither beschleunigt haben. Damals haben die dritten TV-Programme noch Sperriges riskiert, doch selbst sie schreckten bald zurück. Solche quotenfernen Freiheiten hat es auf diesen Kanälen seither nie wieder gegeben.

Den inzwischen berühmten Künstlernamen zum Trotz: Schier endlos die Hand Richard Serras zu sehen, die einen Kreidestrich nach dem anderen zieht – kein reines Zuckerschlecken. Den Bildhauer Ulrich Rückriem ausgiebig dabei zu beobachten, wie er Stein auf Stein auf Stein umkippt – auch kein Thriller.

Da ist man schon dankbar, wenn Joseph Beuys in einem Video Boxhandschuhe anlegt und unentwegt auf ein Fernsehgerät eindrischt. Oder wenn der Pionier Nam June Paik sein Bildmaterial mit damaligen technischen Finessen nach besten Kräften popkünstlerisch verfremdet.

Zuweilen handelt es sich um rührend unbeholfene Versuche mit dem seinerzeit neuen Medium, häufig um radikale Sinnverweigerung oder den heftigen Willen zum unverstellten Blick, zu ungeahnten Perspektiven. Man wollte offenkundig tabula rasa machen und ganz neu anfangen – wie beim allerersten Morgentau. Immerhin finden sich hier auch schon recht inspirierte Urahnen der späteren Videoclips.

Man bekommt nicht nur Videos zu sehen: Tafelbilder u. a. von Größen wie Gerhard Richter, Sigmar Polke und Andy Warhol bezeugen, wie sehr zu Beginn der 70er das flackernde Zeilenraster der Fernsehoptik die Wahrnehmung in der Malerei geprägt hat.

Wollte man alle Videos jeweils bis zum Ende anschauen, so könnte man mindestens einen ganzen Tag in dieser Schau zubringen. Wer weiß: Vielleicht schlägt das Betrachten irgendwann in Meditation um. Doch fraglos hat es seinen Reiz, den Geist der frühen Jahre gleichsam noch einmal inhalieren zu können.

Krefeld. Museum Haus Lange (Wilhelmshofallee 97). Bis 21. September. Di-So 11-17 Uhr. Tel. 02151/97 55 8-0. Katalog erscheint im August.

(Der Beitrag stand am 25. Juli 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




„Mao und die 100 Blumen“: Der Diktator mit dem ewigen Lächeln – Chinese Ren Rong zeigt seine Bilder in Hamm

Hamm. Sieht aus wie ein Palmzweig des Friedens, was da aus dem Mund des chinesischen Diktators Mao ragt.Dazu lächelt der Despot milde und zukunftsgewiss.

Um das Mindeste zu sagen: Solche Bilder des deutsch-chinesischen Künstlers Ren Rong können sehr mulmige Gefühle hervorrufen. Mao hatte schließlich einige Millionen Menschenleben auf dem Gewissen. Und nun diese aufgewärmte Propaganda?

„Mao und die 100 Blumen“ heißt die Ausstellung im Hammer Gustav-Lübcke-Museum. Der Titel folgt einer Kampagne des „Großen Vorsitzenden“ aus dem Jahr 1956, welche die vielfach blutige Kulturrevolution im Reich der Mitte ausgelöst hat.

Der 1960 geborene Ren Rong scheint dem Mythos Mao recht naiv aufzusitzen. Die Bildnisse des Machthabers erinnern von fern her an Andy Warhols herzlich unpolitische Prominenten-Porträts, aber natürlich auch an kommunistische Propaganda-Plakate, die in den späten 1960er Jahren bei nicht wenigen westlichen Studenten „Kult“ waren.

Und was fügt der Künstler hinzu? Er hinterlegt die Bilder beispielsweise mit traditionellen chinesischen Mustern. Er collagiert sie mit Familienfotos. Er verziert sie mit floralen Ornamenten oder mit seinem „Markenzeichen“: den so genannten „Pflanzenmenschen“, die sich auch als Metallskulpturen im Museum wiederfinden. Die über einige Bilder gezogene Wachsschicht verstärkt den Eindruck: Gar manches wirkt geglättet, hübsch, dekorativ. Kein Wunder, dass der Kunstmarkt darauf anspricht, erst recht im Vorfeld der Olympischen Spiele und weil China derzeit ohnedies „angesagt“ ist.

Mao zeigt bei Ren Rong in allen Situationen und Lebensphasen ein fröhliches Gesicht; ganz egal, ob herrscherlich allein oder zwischen gleichfalls frohen Kindern. Mit den pflanzlichen Beigaben versehen, erscheint sein Tun und Trachten einerseits auf fatale Weise als naturwüchsig. Doch man könnte in dem Verfahren auch eine klitzekleine, unbekümmerte Respektlosigkeit erblicken. Wirkt Mao da nicht hin und wieder ein wenig lächerlich? Zumal die Formen als Vertiefungen eingeritzt sind und somit Maos Oberfläche „beschädigen“. Aber das Letztere muss man sich schon etwas mühsam zurechtdeuten.

Nach seinen Ansichten zu Mao (und Adolf Hitler) sollte man Ren Rong lieber nicht befragen. Er gibt da reichlich krauses Zeug von sich – bei aller wohlmeinenden Würdigung der kulturellen Unterschiede. Es bewahrheitet sich hier abermals Goethe: Spruch: „Bilde Künstler, rede nicht.“

Seltsam genug, wenn Ren Rong seine Arbeitsweise auf deutsche Motive anwendet. Da sieht man beispielsweise den Bundestag und das Brandenburger Tor, in ähnliche Formen eingebettet wie zuvor Mao. Oder eine geisterhafte Flotte von Lufthansa-Flugzeugen – und im Vordergrund just Umrisse von weißen „Pflanzenmenschen“, gleichsam im Fluge erhascht. Vieldeutig ihre Gestik mit erhobenen Armen: Doch auch hier hat wohl hohle „Fortschritts“-Propaganda Pate gestanden. Sie wird hier ins halbwegs Witzige gewendet. Ideologie war gestern…

Ren Rong: „Mao und die 100 Blumen“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstr. 9. Bis 17. August. Di bis Sa 11 -18, So 10-18 Uhr. Katalog 19,90 Euro

(Der Beitrag stand am 19. Juli 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Richard Hamilton: Bilder jenseits von Ort und Zeit

Bielefeld. Richard Hamilton (86), einer der Urväter der Pop-Art, ist ein mitteilsamer älterer Herr. Zu jedem seiner Bilder fallen ihm allerhand liebevolle Details ein: Beispielsweise, wie seine Frau sich als Modell benommen hat (nämlich nicht immer fügsam).

Manchmal sind solche Anekdoten erhellend, oft aber auch nicht. Der Mann verrätselt seine Werke eben gern. Und dazu lächelt er weise.

Berühmt wurde der Brite 1956 mit einer Collage vom „trauten Heim“. Rund um ein ach so modernes Paar versammelte er in scheinbar wirrer, doch wohlberechneter Vielfalt vorgefundene Abbildungen von Konsumgegenständen. Schöne neue Wirtschaftswunderwelt. Irgendwo im Bild tauchte das Wort „Pop“ auf, das später einer ganzen Kunstrichtung den Namen gab. Wollte man ein wenig übertreiben, so könnte man sagen: Ohne Hamilton kein Andy Warhol und kein Roy Lichtenstein.

Vexierbilder aus Fotografie, Malerei und Computer-Schöpfung

Die Bielefelder Kunsthalle kommt nun auf den großen Anreger Hamilton zurück und nennt die Schau „Virtuelle Räume“. Die Werke der letzten 15 Jahre sind vielfach Vexierbilder, gemixt aus Fotografie, Malerei und Computer-Schöpfung.

Etwas ratlos steht Hamilton vor seinen Bildern: Selbst der Künstler vermag nicht mehr genau zu sagen, wo etwa eine fotografierte Fläche aufhört und wo die gemalte anfängt. Die Tarnung der Nahtstellen (unter anderem mit Spezialpulver) ist ihm also perfekt gelungen. Er hat nicht nur uns alle, sondern gleichsam auch sich selbst überlistet.

Hamilton trägt immer wieder neue Bedeutungs-Ebenen in ein Bildmotiv. Mit jeder Zutat oder Wegnahme wird die Darstellung anders „aufgeladen“. Eins von vielen Beispielen: Erst ist da nur ein Stuhl mit Tisch, dann kommt auf dem nächsten Bild der Reihe eine penibel konstruierte Raumgeometrie hinzu, schließlich sitzt eine nackte Frau auf dem Stuhl und telefoniert. Und weiter: Mal wird ihr Gesicht „herangezoomt“, dann sieht man sie in der Totale, immer aber schimmert ihre Haut wie Seide. Der Titel „Die Verkündigung“ weckt biblische Vorstellungen, setzt also einen Kontrast zur Banalität des Telefonats.

Erkenntnis durch fortwährende Verfremdung

Immer wieder neue Ansichten, andere Kombinationen. Vielschichtige Serien, fürwahr. Weitere Werke sind ähnlich gefügt, sie bergen stets überraschende „Sehfallen“ . Es ist bei Hamilton keine „Masche“, sondern ein Zugang zur Welt, der auf Erkenntnis durch fortwährende Verfremdung aus ist.

Hamilton, der im Zweiten Weltkrieg zeitweise als technischer Zeichner gearbeitet hat, war seither stets begierig auf neueste Ausrüstungen. Als einer der ersten Künstler überhaupt hat er mit anfangs noch schlappen Computern gearbeitet. Und bis heute hadert er damit, dass die Drucktechniken immer noch nicht vollkommen sind.

Wundersam, dass derart avancierte Verfahren zuweilen in Bilder münden, die Geist der Renaissance zu atmen scheinen. So hat Richard Hamilton Fotografien der Torbögen aus dem florentinischen Kloster San Marco innig verwoben mit zeichenhaften Kreuzweg-Kürzeln von Henri Matisse – und wiederum mit nackten Frauen, die ätherisch schön aus den Klostertüren schreiten. Drei Welten werden da zu einer Sphäre verschmolzen – jenseits von Ort und Zeit, daher fast schon überirdisch.

Richard Hamilton. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Str. – Bis 10. August. Di, Do, Fr, Sa, So 11-18, Mi 11-21 Uhr. Eintritt 7 Euro. Zwei kleine Kataloge zusammen 28 Euro.

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ZUR PERSON

Dies ist die Zukunft

  • Richard Hamilton wurde am 24. Februar 1922 in London geboren.
  • 1936 Job in der Werbeabteilung einer Elektrofirma
  • 1941-1945 Arbeit als technischer Zeichner
  • 1948-1951 Kunststudium
  • 1952 Lehrauftrag für Silberschmieden, Typographie und Industriedesign
  • 1956 Schau „This is Tomorrow“ (etwa: Dies ist die Zukunft) mit dem Bild, das später der Pop-Art den Namen gab.
  • 1979 und 1992 umfassende Werkschauen in der Londoner Täte Gallery.
  • 1997 Arnold-Bode-Preis der documenta
  • 2007 Max-Beckmann-Preis.

(Der Beitrag stand am 14. Juli 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Ansgar Nierhoff: Stahl als Mittel der Wahl

Idyllischer Ort für Kunst: Die „Alte Mühle” zu Schmallenberg zeigt Arbeiten eines der wichtigsten deutschen Bildhauer. Für den gebürtigen Mescheder Ansgar Nierhoff (66) ist es auch eine Rückkehr in heimatliche Gefilde.

Nierhoff ist beileibe nicht „irgendwer”. Er hat auch schon an der Kasseler documenta teilgenommen. Dort war’s vermutlich komfortabler. In Schmallenberg gestaltete sich bereits die Anlieferung seiner Skulpturen schwierig, es war Millimeterarbeit. Um dem Lkw samt Kran den engen Weg zu bahnen, musste sogar ein Zaun demontiert werden.

Nierhoff, der seit 1965 in Köln lebt, hat immer noch ein Domizil im Hochsauerland, wo er häufig ausgedehnte Waldgänge unternimmt. Ursprung der Schmallenberger Schau war der wanderbare Waldskulpturenweg, der von hier bis nach Bad Berleburg führt, dem (mit anderen Werken bestückten) zweiten Ort der Ausstellung. Den künstlerischen Brückenschlag leitete anno 2000 just Nierhoff ein – mit der Stahltor-Skulptur „Kein leichtes Spiel”.

Nach und nach will man in Schmallenberg alle Künstler des Waldskulpturenwegs vorstellen. Jetzt also Nierhoff. Auch hier ist Stahl das Mittel seiner Wahl. Schon kleinere Arbeiten wiegen so viel, dass die Statik der „Alten Mühle” einiges aushalten muss.

Nierhoff geht von Grundformen aus: Kreis, Kugel, Würfel, Rechteck, Zylinder. Durch präzis berechnete Schnitte gestaltet er sie immer wieder neu. Wenn etwa ein Würfel zerteilt und dann wieder zusammengefügt wird, ergeben sich Bruch- und Verbindungslinien, die dem Ganzen andere Energien einflößen. Ruhige, konzentrierte Kraft teilt sich da mit. Zuweilen legt sich Rost als Patina auf die Skulpturen. Ein doppelwertiges Zeichen des Verfalls, aber auch der Dauer.

Einige Stahlringe scheinen achtlos hingeworfen zu sein, doch der Eindruck trügt: Nierhoff verbringt viel Zeit damit, solche Arbeiten exakt auszurichten, Werk und Ort aufeinander abzustimmen. Wer will, kann in den ebenfalls ausgestellten Zeichnungen Vorstudien zu den Plastiken erblicken. Man kann sie aber auch als eigenständige Schöpfungen werten.

Zu welcher Leichtigkeit sich Stahl aufschwingen kann, erweist sich an Nierhoffs „Faltungen”. Als sei’s Papier, hat der Künstler die Metallflächen hie und da ein wenig geknickt. Alle Härte ist verschwunden.

Schmallenberg, „Alte Mühle” (Unter der Stadtmauer 4). Bis 17. August, Mi-So 15-18 Uhr, Eintritt frei. Tel.: 02972/48 106 – Weitere Werke draußen (Kapelle auf dem Werth, Friedenskapelle Fredeburg usw.).

Bad Berleburg, Museum der Stadt (Goetheplatz 3). 17. Juli bis 17. August. Di und Fr-So 15-18 Uhr, Eintritt frei.




Paarbilder: Das Glück und seine Grenzen

Hamm. Diese Ausstellung beginnt buchstäblich mit Adam und Eva. Warum denn auch nicht? Schließlich geht es um Paare in der Kunst.

Max Beckmanns Radierung von 1917 zeigt das biblische Ur-Paar nach der Vertreibung aus dem Paradies – in schutzloser, gar nicht lustvoller Nacktheit. Es waren Zeiten des Krieges. Auch Peter August Böckstiegels Gemälde „Abschied” (1915) zeugt davon. Der Maler war soeben zum Militär einberufen worden, seine Frau schmiegt sich zum bangen Abschied noch einmal an ihn – geradezu grünlich erbleicht.

„Liebe. Love – Paare” heißt die Schau im Hammer Gustav-Lübcke-Museum; ganz so, als hätte man drei starke Wortsignale zugleich aussenden wollen. Jedenfalls stehen große Namen im Katalog, beispielsweise Emil Nolde, Edvard Munch („Eifersucht”) und Andy Warhol (Siebdruck „The Kiss”, 1963).

Signale der
sexuellen
Verfügbarkeit

Die Streifzüge durch Paarwelten führen durch sehr verschiedene seelische „Klimazonen”. Hie Max Pechsteins ungezwungene, recht freizügig erträumte Südsee-Szenerie (1921), dort Rudolf Schlichters etwas schwüle Impressionen aus der lesbischen Subkultur Berlins („Tanzlokal”, 1920). Hie George Grosz‘ sarkastische Karikaturen fetter Geldsäcke im Bordell, dort die ausgemergelten Proletarier, die ihr allzu kurzes Glück vor dem Fabriktor auskosten wollen. Selbst die größte Liebe ist gesellschaftlich mitgeprägt. Just gegen solche Zustände begehren viele Künstler im Namen der Natur auf.

Alle Fährnisse und Untiefen der (ehelichen) Verbindungen finden ihren bildlichen Ausdruck. Bei Frank Kupka („Der Traum”, 1906/1909) schwebt das Paar in schier grenzenlosen Glücksgefühlen, bei Magnus Zeller („Liebespaar”, 1919) herrscht bereits gemeinsame Alltags-Erschöpfung vor. Im ernüchterten Stil der Neuen Sachlichkeit schuf Jan Oeltjen 1927 sein „Selbstbildnis mit Elsa”. Im grellroten Kleid drängt seine Gefährtin nach vorn, er bleibt mit irritiertem Gesichtsausdruck im Hintergrund. Sie war Bildhauerin, er Maler – und sie konkurrierten beruflich. Es soll eine schwierige Ehe gewesen sein. Wer dieses Bild ansieht, kann es schmerzlich ahnen.

Spätestens seit den 1960er Jahren wachsen grundsätzliche Zweifel an haltbaren „Beziehungen” – zuerst in den seismographischen Künsten. Beim Pop-Artisten Richard Lindner gerinnt das Paar-Universum zur grellen, sexuell aufgeladenen Signalwelt der Fetische – im Zeichen allseitiger Käuflichkeit und Verfügbarkeit in der Warenwelt. Andy Warhol zeigt den Moment vor dem Kino-Kuss als Bildstörung, Roy Lichtenstein das Comic-Klischee vom Liebesweh. Jedes Gefühl ist nur indirekt vorhanden, als medial vermittelter Abklatsch.

Letzte Ausläufer der Auswahl ragen, etwa mit (Foto)-Arbeiten von Anna und Bernhard Blume oder Rosemarie Trockel, bis in die Gegenwart. Es sind vor allem mehr oder weniger ironische Inszenierungen von Zweisamkeit. Doppelbödiges, hintersinniges Spiel der Täuschungen. Aber auch verzweifelte Versuche, zu den Ursprüngen zurückzufinden. Bis dahin herrscht einstweilen viel Verwirrung. Nur eins ist gewiss: Die Sehnsucht höret nimmer auf.

„Liebe. Love – Paare”. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9). Bis 1. Juni. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 6 €, Katalog 29,90 €.




Was die Kunst zum Klingen bringt – Arbeiten von Peter Vogel in Bergkamen

Bergkamen. Die meisten Objekte ragen schlank auf, sie wirken federleicht: Es sind filigrane Türmchen, allseits licht- und luftdurchlässig. Doch diese Skulpturen haben es in sich, denn sie stecken voller Technik.

Alles ist da fein miteinander vernetzt: Relais, Photozellen, Motoren, Schaltkreise, Widerstände, Transistoren, Magnete, Kondensatoren – und Lautsprecher, Wozu dieser ganze Aufwand? Damit Ausstellungs-Besucher am zweckfreien Spiel der Kunst ihre Freude haben – so auch jetzt in der Städtischen Galerie „sohle 1″ in Bergkamen.

Steht man nämlich vor diesen Arbeiten und wirft seinen Schatten darauf, so entwickeln sie für eine gewisse Zeit ihr Eigenleben. Das Mindeste ist, dass sie leuchten, blinken oder rotieren. Oft aber erzeugen sie auch Klänge. Jede dieser Maschinen „verhält sich“ anders, erscheint somit als Individuum. Schon seltsam, wenn der eigene Schatten solche Wirkungen hervorruft.

Der in Freiburg lebende Peter Vogel (Jahrgang 1937) befasst sich seit den 1970er Jahren mit solchen tönenden Apparaturen. Damals war Wechselwirkung zwischen Kunst und Betrachter besonders gefragt – wohl auch im Namen des Freiheitsdranges nach 1968. Auf schier alles selbst Einfluss nehmen zu können, das war eine Sehnsucht des fortschrittlichen Zeitgeistes. Allerdings: Wenn man’s bedenkt, so sind diese Kunst-Klänge vorherbestimmt. Man löst sie lediglich aus.

Bemerkenswert der Werdegang Vogels: Er ist Physiker und hat in der Hirnforschung gearbeitet, versteht also fachlich einiges von Wahrnehmungs-Mustern. Auch an frühesten Versuchen zur Computer-Graphik hatte er mit ausgeprägtem Pioniergeist Anteil. Irgendwann konnte er dann seine Leidenschaft für Kybernetik (Bewegungslehre) mit musischen Einflüssen des Elternhauses (Vater Maler, Mutter Bildhauerin) glücklich vereinen.

Im Bergkamener Obergeschoss erstreckt sich eine mehrteilige Klangwand, die man „spielen“ kann wie ein Instrument: Steht man hier, ertönt eine Trommel; geht man dorthin, setzen elektronische Bläser ein. Noch ein paar Schritte weiter gesellen sich Streicher und Keyboard hinzu. Bewegt man sich hin und her, so schwellen diese Laute wechselweise an und ab. Vogel macht sich solche Effekte zunutze, indem er gelegentlich Tänzer einsetzt, die mit ihrem rhythmischen Schattenwurf die Töne besonders virtuos hervorrufen.

Damit hätten wir also schon drei Kunstformen beieinander: Skulptur, Musik und Tanz. In solchen Grenzgebieten fühlt sich der Freiburger wohl, der schon verschiedentlich Musik-Festivals wie etwa die renommierten Donaueschinger Musiktage bereichert hat.

So ästhetisch das alles wirkt, so ausgeklügelt ist es. Der Eigenbau der Apparate verlangt hohe Präzision. Und die Beschallung richtet sie nach peniblen „Partituren“, deren Umsetzung mal an Minimal Music, mal fast an Techno-Sounds erinnert.

Schön ist’s, wenn technischer Verstand sich auf diese Art verwirklicht, indem den Spieltrieb anspricht. Fast schon eine Utopie: So harmlos, so menschenfreundlich kann Technik sein.

Peter Vogel – Licht, Klang, Bewegung. Interaktive Klangobjekte. Bergkamen, Städtische Galerie „sohle 1″ (Jahnstr. 31). Bis 25. Mai. Geöffnet Di-Fr 10-12 und 14-17, Sa 14-17, So 11-18 Uhr.

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INFOS

  • Peter Vogel wurde 1937 in Freiburg geboren, wo er auch heute lebt.
  • Nach dem Physikstudium entwickelte er medizinische Geräte.
  • Für einen Schweizer Pharma-Konzern arbeitete er von 1965 bis 1975 in der Gehirnforschung.
  • 1969 erste Experimente mit beweglichen Plastiken.
  • Seit 1975 ist Vogel freischaffender Künstler.
  • Schon länger her: Eine Werkschau zeigte 1997 das Skulpturenmuseum „Glaskasten“ in Marl.
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(Der Beitrag stand am 27. März 2008 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)




Manfred Deix: Explosion der Gemütlichkeit

Oberhausen. Drei Namen, drei Marken: Helnwein – Haderer – und Deix. Österreich hat wahrlich nicht nur einen Zeichner hervorgebracht, der menschliches Treiben mit bitterbösem Blick schildert. Und bei der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen haben sie diese „hundsgemeinen” Kerle ganz besonders ins Herz geschlossen.

Jetzt also Manfred Deix. Er zeigt samt und sonders Typen, vor denen es einen graust. Widerliche Fleischberge, ekelhafte Visagen, geifernde Gier, abgründige Lustbarkeiten. Durch und durch vulgär geht es da zu – ja, es ist ein einziges Vulgarien. Doch Deix behauptet, er übertreibe keineswegs. Augen auf! Solche Herrschaften könnten einem tatsächlich begegnen.

Schwarzeneggers
bizarre Jugend

Der Kurator der umfangreichen Schau, Prof. Peter Pachnicke, sieht bei Deix etwas schwellend „Barockes” am Werke, während dessen Freund und Konkurrent Haderer eher für graziles Rokoko stehe. So findet jeder Cartoonist seine kulturhistorische Nische. Man muss sich abheben; erst recht in einem übersichtlichen Land wie Österreich. Trotzdem werden sie meist in einem Atemzug genannt. Künstlerschicksal.

Man fragt sich, ob Deix auch in ferneren Ländern derartige Aha-Erlebnisse auslöst. Dort dürfte die Wahrnehmung weniger detailscharf sein. Denn thematisch und typologisch quillt vieles ganz tief aus den Innereien der Alpenrepublik. Gerade mal süddeutsche Gefilde können sich direkt mitgemeint fühlen, dann aber lässt es wohl schon nach. Braucht etwa jedes Land seinen eigenen Deix?

Polit-Darsteller Österreichs sind bevorzugte Ziele des Spotts. Allen voran Figuren wie Waldheim und Haider. Doch auch ihre Anhänger, die Rassismus hinter explosiv gefährlicher Gemütlichkeit verbergen, geben geradezu apokalyptische Bilder her. Deix hat sie bis zur Kenntlichkeit entstellt. Kein Soziologe schaut so scharf hin.

Satte 238 Arbeiten summieren sich in Oberhausen zur Werkschau. Fast durchweg sind es Kleinformate. Um den Rundgang optisch zu rhythmisieren, hat man jedoch einige Motive auf nie zuvor gesehene Übergröße aufgeplustert. Namenloser Schauder, wenn die Groteske den Betrachter auch noch in solchen Dimensionen überfällt.

„Special Guest: Arnold Schwarzenegger” hieß es auf den Einladungskarten zur Oberhausener Eröffnung. Manche haben nachgefragt, ob „Arnie” vorbeischauen werde. Nicht doch! Aber Deix hat sich dem Aufstieg seines steirischen Landsmanns zum Gouverneur von Kalifiornien äußerst hartnäckig gewidmet. Er phantasiert sich in eine bizarre Kindheit und Jugend des einstigen Hollywood-Muskelprotzes und „Terminators” hinein und zeigt den Mann später auch schon mal bigott und bitterlich weinend, weil er leider, leider wieder einen Hinrichtungsbefehl unterzeichnen muss.

Abgründig auch jene Bilderreihen, auf denen ungeschlachte Erzspießer sich in unheimlicher Weise an kleinen Kindern belustigen, ja aufgeilen. Pornöse Phantasien dringen da bis in die letzten Hirnwindungen von Hintertupfingen. Fleisches-Lust als Fleisches-Ekel. Erhebt da vielleicht doch ein Moralist seinen Zeigefinger? Nein, da leidet einer am Zustand der Zeit – und spaßt das Schlimmste zornig nieder.

„Deix in the City”. Ludwig Galerie Schloss Oberhausen. Bis 8. Juni. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro. Zwei Kataloge: 14,90 und 17,95 Euro.

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ZUR PERSON:

  • Manfred Deix wurde 1949 in St. Pölten (Niederösterreich) geboren.
  • Im zarten Alter von etwa acht Jahren, so sagt er selbst, habe er für andere Jungs auf deren dringliches Verlangen hin nackte Frauen gezeichnet. Zum Lohn gab’s ein paar Groschen – erste Einnahmen eines Künstlers.
  • 1960 (mit elf Jahren also) brachte Deix wöchentliche Comicstrips bei einer Kirchenzeitung (!) unter.
  • Ab 1968 Kunststudium an der Wiener Akademie.
  • 1972 Erste Beiträge für Magazine. Von nun an ging es steil bergauf.
  • 1980 erstes Cartoon-Buch, dem viele weitere folgten.



Röntgenblick auf den Impressionismus – Wie die Naturwissenschaft Spuren der Kunst aufnimmt

Köln. Meist verhält es sich so: Museum zeigt Kunst. Staunend (oder verärgert) steht man vor den Werken. Vielleicht liest man später ein paar Details nach. Das war’s dann. In Köln geht es jetzt anders zu, nämlich geradezu kriminalistisch.

Für die neue, immens spannende Schau des Wallraf-Richartz-Museums wurden Werke der Impressionisten buchstäblich unter die Lupe und unters Mikroskop genommen. Auch mit Infrarot- und Röntgenstrahlen rückte man den Bildern zu Leibe. Dabei haben sie etliche Geheimnisse preisgegeben. Sogar ein gefälschter „Monet” wurde entlarvt.

Der ungewöhnliche Zugang zur Kunst, der vor allem Material und Arbeitstechniken in den Blick fasst, erhellt überhaupt so manche Zusammenhänge, über die man sonst nie nachdenkt. So sind denn auch beileibe nicht nur die Gemälde zu sehen. Auch Grundlagen und Feinheiten der (natur)wissenschaftlichen Spurensuche werden ausführlich dokumentiert.

Was ein winziges
Stück Pappelknospe
auf dem Ölbild verrät

Beispiel: Die Impressionisten haben, so heißt es immer, die Freilichtmalerei gleichsam erfunden. Eine Voraussetzung dafür waren übrigens auch bessere Bahn-Verbindungen in die Provinz. Aber haben sie wirklich draußen in der Natur gearbeitet – oder nicht doch im Atelier? Mal so, mal so. Bloße Naturmotive besagen noch gar nichts.

Ungleich beweiskräftiger ist es hingegen, wenn man unterm Mikroskop sieht, dass etwa auf einem Bild von Gustave Caillebotte ein winziges Stückchen Pappelknospe in den Ölschlieren steckt. Das Bild zeigt eine Pappelallee. Passt also! Ähnlich liegt der Fall bei Armand Guillaumin, der das tosende „Meer bei Saint-Palais” festgehalten hat. Mikroskopisch kleine Sandkörner auf der Leinwand deuten auf Freiluftkunst bei Wind und Wetter hin. Ein Foto lässt ahnen, wie beschwerlich dies trotz allem noch war: Ein sichtlich übel gelaunter Paul Ce´zanne schleppt sich an seiner Staffelei und all den anderen Utensilien ab.

Weitere gängige These: Impressionisten haben meist spontan gemalt. Hie und da spricht schon ein ruhiger Pinselstrich gegen diese Annahme. Infrarotlicht enthüllt die Wahrheit genauer. Manche Künstler (anfangs sogar van Gogh) haben erst einmal Orientierungs-Gitter gezeichnet – und erst dann schwungvoll den Pinsel geführt.

Welche Art von Farben wurde damals eigentlich verwendet? Blöde Frage? Überhaupt nicht! Vorher mussten Künstler viele Pigmente mühsam mischen und aufbereiten. Pünktlich zur Zeit des Impressionismus kamen vermehrt industriell gefertigte Farben in ungeahnten Nuancen auf. Manche Farbtöne hatte man zuvor schwerlich erzielen können. Auch daher also das berühmte Strahlen und Leuchten auf impressionistischen Gemälden. Ein weiterer Aha-Effekt.

Auch die Erfindungen der Tube (in England) und kurz darauf des Schraubverschlusses (in Frankreich) brachten die Kunst im 19. Jahrhundert voran, machten ihre Ausübung jedenfalls bequemer. Auguste Renoir hat gar stracks behauptet, ohne Farbtuben hätte es gar keinen Impressionismus gegeben. Vordem gab’s Farbe z. B. in Schweinsblasen. Hatte man die aufgestochen, trocknete der Inhalt rasch aus. Mit der Tube ging alles viel leichter, speziell unterwegs. Nur malen musste man noch selbst . . .

Röntgenstrahlen bringen noch viel mehr an den Tag. Unter einem Paar-Bild von Auguste Renoir zeigt sich eine völlig andere, etwas unbeholfene Komposition mit zwei Frauenfiguren. Wahrscheinlich war’s die Leinwand eines weniger begabten Kollegen, der seine Bemühungen verworfen hatte. Renoir hat sie kurzerhand übermalt – und wohl Materialkosten gespart.

Und was ist mit Könnerschaft, Inspiration, Genie? Wird all das auf solch nüchterne Weise entzaubert? Keineswegs. Man hat den Künstlern doch nur ein wenig über die Schulter gesehen. Das Geheimnis der Schönheit bleibt weiterhin unergründlich.

„Impressionismus – Wie das Licht auf die Leinwand kam”. Wallraf-Richartz-Museum, Köln (Obenmarspforten, am Rathaus). Bis 22. Juni. Geöffnet Di/Mi/Fr 10-18, Do 10-22, Sa/So11-18 Uhr. Eintritt 9 Euro, Katalog 29 Euro.

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DIE SACHE MIT DEM GEFÄLSCHTEN MONET-BILD:

  • Bei den langwierigen Vorbereitungen zur Kölner Schau stellte sich das Bild „Seineufer bei Port-Villez” (1885 – Bild links) bereits im September 2003 als gefälscht heraus. Es stammt nicht von Claude Monet.
  • Erst jüngst machten die Museumsleute den Befund öffentlich. Jetzt dient die Fälschung (Kölner Eigenbesitz) als Anschauungsbeispiel.
  • Gefundene Indizien:
  • Der Fälscher hat jedes Wölkchen exakt vorgezeichnet – fast wie beim anfängerhaften „Malen nach Zahlen”. Ein Monet hätte das garantiert nicht nötig gehabt.
  • Die Namens-Signatur setzt gleich zweimal an. Der Fälscher hat also offenbar „nachgebessert”.
  • Spuren deuten klar darauf hin, dass das Bild mit schmutzigen Lappen umwickelt wurde, damit es optisch schneller alterte.



Okkulte Kunst: Vision und Wahn

Mit spiritistischen Séancen und Tischerücken fing es oft an. Bald folgte das manische Malen: Es entstanden dann Hunderte, ja Tausende von „medialen” Bildern – angeblich aus dem Jenseits diktiert oder von höheren Wesen „befohlen”. Das Museum Bochum zeigt jetzt solch okkulte Kunst, deren Urheber nicht selten in der Psychiatrie endeten.

Es ist keine Grusel-Schau. Aber es sind Grenzgänge zwischen Vision und Wahn, die einen nicht kalt lassen. Beklemmend ist vielfach die Zwanghaftigkeit, immer und immer wieder dieselben Formen und Figuren auf Leinwand oder Papier zu bannen. Mal sind es Ornamente, mal schier endlose Schriftzüge oder entseelt starrende Augen, die den Betrachter durchbohren. Solche Botschaften rühren an die Ängste jedes Menschen.

Manchmal nah an
der Avantgarde

Es waren oft einfache Bäuerinnen oder Handwerker, die für übersinnliche Einflüsterungen empfänglich waren, als „Medien” oder Hellseher bekannt wurden und irgendwann dem Bilderwahn verfielen. Gelegentlich war ein Schock (etwa der Tod naher Angehöriger) der Auslöser. Doch es gibt viele verschiedene Lebenswege in diese Außenbezirke der Kunst.

Das Bochumer Museum fasst auch „Geisterfotografie” in den Blick. Da tauchen unversehens schemenhafte, lichtumflorte Gestalten „aus dem Jenseits” neben den vermeintlich medial begabten (und gepeinigten) Menschen auf. Häufig wurden in solchen Fällen Manipulation beim Entwickeln der Filme nachgewiesen. Doch wer weiß schon felsenfest, ob es nicht doch Erscheinungen gibt, von denen sich unsere Schulweisheit bisher nichts träumen lässt?

Monströs sind mitunter die Dimensionen: Rund 500 000 Zeichnungen hat die 59-jährige Berlinerin Vanda Vieira Schmidt zu riesigen Säulen aufgeschichtet. Ihr erklärtes Ziel ist die endgültige Rettung des Weltfriedens. Es ist ein unheimliches Ankämpfen gegen diffuse Bedrohungen, die es ja gibt und die sie vielleicht nur stärker spürt als gewöhnliche Menschen.

Gehören derlei Bilder ins Museum? Aber ja! Unbedingt. Haben denn nicht auch die großen Surrealisten die Trance, den unbewussten „Automatismus” beim Malen und Schreiben gepriesen? Auch das war also (ob mit oder ohne Drogen) Inspiration, die auf irrationale Weise „eingegeben” wurde. Gar nicht zu reden vom Genie, das gemeinhin als „verrückt” gilt.

Von der anderen Seite her besehen: Einige der in Bochum gezeigten Werke sind verblüffend nah an den Avantgarden ihrer jeweiligen Zeit. Die Französin Marguerite Burnat-Provins (1872-1952) bewegt sich auf den Höhen anerkannter Symbolisten und Jugendstilmeister. Die Schwedin Hilma af Klint wagt den Sprung in die Abstraktion ungefähr zur gleichen Zeit wie der berühmte Wassily Kandinsky. Und die textreichen Schaukastenbilder des Amerikaners Paul Laffoley, die von Kontakten mit Außerirdischen und phantastischen Zeitreisen künden, ähneln ausgeklügelten Schöpfungen der Konzeptkunst.

Auch biographisch gibt es Berührungspunkte: Der Surrealist Antonin Artaud hat seinerzeit den selben Psychiater aufgesucht wie der Franzose Raphael Lonné. Dessen Bilder wiederum kaufte der Künstler Jean Dubuffet, der sich zu seinen wildwüchsigen Werken (Stichwort „Art brut” = „rohe Kunst”) von Bildfindungen so genannter „Geisteskranker” anregen ließ. Fließende Grenzen.

Doch beim wahnhaften Malen scheint über kurz oder lang jegliche Art der ästhetischen Überprüfung zu schwinden. Die Formen mäandern regellos dahin – oder sind im Gegenteil zwanghaft geordnet, in stets gleichen Wiederholungsmustern angelegt. Schein-Ordnungen, die sich gegen inneres Chaos stemmen. Diese Innenwelten wuchern zu kompletten Wahn-Systemen. Wenn man in diese Gefilde auch nur ein paar Schritte weit folgt, ist es schon schaurig genug.

„The Message. Kunst und Okkultismus”. Museum Bochum, Kortumstr. 147. Bis 13. April. Di-So 10-17 Uhr. Eintritt 3 €. Katalog 28 €.

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AM RANDE

Zur Bochumer Schau gehört auch ein 1967 gedrehter Film. Der Streifen handelt vom US-Liftboy Ted Serios (1918-2006), der in den 1960er Jahren angeblich seine Gedanken auf Polaroid-Sofortbilder bannen konnte. Unter Psychologen-Aufsicht kam das Polaroid-Modell 95 zum Einsatz – mit Blitz, Blende 3, Entfernung auf „unendlich”. Vors Objektiv wurde ein Zylinder gesetzt, um Gedanken zu „bündeln”. Mal tauchte auf den Fotos ein schemenhafter „Neandertaler” auf, mal ein verschwommener „Bus”. Am 15. Juni 1967 war Schluss mit dem (faulen?) Zauber. Danach gelangen Serios keinerlei „Gedankenfotos” mehr. Schon vorher brauchte er gelegentlich einige Flaschen Bier als Ansporn.




Was die Kultur dem Schaf verdankt

Vreden/Münsterland. Ausstellungen kann man über alles und jedes machen, wenn man nur die richtigen Belegstücke hat. Warum also nicht mal die Schafe als Figuren der Kulturgeschichte betrachten? Aber mäh!

Das volkskundlich orientierte Hamaland-Museum im münsterländischen Örtchen Vreden (bei Borken) liegt in einer Landschaft, in der früher vielfach Schafzucht betrieben wurde. Heute beschränkt sich das Gewerbe fast nur noch auf touristische Streichelangebote.

Mit der einschlägigen Redensart „Bring dein Schäfchen ins Trockene” hatte das Museum die Bevölkerung aufgefordert, Schafe in jeder Form zeitweise zu stiften. Die versammelten Niedlichkeiten (aus Stoff, Holz, Plastik usw.) füllen nun gleich mehrere Vitrinen. Und es lässt sich nicht leugnen, dass die Tierchen es dort trocken haben.

Von der Bibel bis zum Krimi

Überhaupt die Redewendungen: Der sprichwörtliche Wolf im Schafspelz (Bibelquelle Matthäus 7-15), das „schwarze Schaf” in der Familie und viele weitere werden aufgelistet. Das Schaf hat somit (auf dem Umweg über die menschliche Phantasie) auch die Sprachgeschichte mitgeprägt. Und wenn’s dann mal genug ist, soll Schäfchenzählen beim Einschlafen helfen.

Die kleine, thematisch fast schon überfrachtete Schau blättert so gut wie alles auf, woran man beim Stichwort „Schaf” denkt. Museumsleiterin Annette Menke lenkt z. B. den Blick zurück auf die Rokoko-Literatur, die sich oft in paradiesisch-galanten „Schäferspielen” erging. Auch Größen wie Wieland und Gellert haben diesem neckisch-erotischen Genre gefrönt. Von daher rührt das heute noch geläufige Wort „Schäferstündchen”. Auch ein Komponist wie Mozart hat sich von der Zeitmode anstecken lassen, so etwa mit seiner Schöpfung „Bastien und Bastienne”.

Neuere Bücher kommen in anderer Weise aufs Thema zurück: Mit „Glennkill” entstand der Schafskrimi. Katzen als Ermittler – das gab’s ja schon längst. Jetzt kombinieren auch kluge Schafe. Ausgeblendet hat man in Vreden das Kino und die köstliche TV-Kinderserie „Shaun das Schaf”, die gleichfalls alle Vorstellungen vom etwas dusseligen Tier Lügen straft. Ein Imagewandel: Das Schaf steht neuerdings deutlich besser da in der Landschaft.

Auch der Aberglaube spielt eine Rolle

Selbstverständlich spielen Schaf und Lamm (Agnus Dei – „Lamm Gottes”) eine besondere Rolle in der Bibel. Mal als Symbol für Jesus, mal als ständige Begleitung bestimmter Heiliger – oder auch als unschuldsvolles Opfertier. Gemälde beispielsweise von Grünewald gibt es in Vreden natürlich nur als Repro-Druck.

Daneben ist allerlei religiöser Devotionalienkitsch zu sehen. Da haben die Schafe keine tiefere symbolische Bedeutung mehr, sondern dienen als Staffage – am liebsten im Verein mit Kindern. Betont wird stets das Naive, Harmlos-Friedfertige und Wehrlos-Geduldige, das dieser Tierart angeblich zu eigen ist. Man kann sich so seine Gedanken machen: Bis wann ist es noch (ein Hauch von) Hochkultur, und ab wann kann man von „herabgesunkenem Kulturgut” sprechen?

Die weiteren Exponate künden denn auch vorwiegend von sachlichen „Niederungen” des Alltags. Etliche Produkte haben ja mit Schafen zu schaffen – von der Schafsmilch-Seife über Schafskäse, Lammfleisch und Lanolin (gewonnen aus Talg, verwendet als Grundstoff für Kosmetik) bis zur Wolle.

Man erfährt dabei am Rande auch unerquickliche Einzelheiten etwa über Persianerfelle, die aus Schafswolle erzeugt werden. Sie stammt von Tieren, die gezielt drei oder vier Tage nach der Geburt getötet werden. Zu diesem Zeitpunkt sollen die Locken besonders fein sein . . .

Zoologie und Zucht werden ebenfalls knapp gestreift. Und der volkstümliche Aberglaube tritt gar vielfältig hervor. Eine entgegenkommende Schafherde bringe Glück, hieß es früher. Achten Sie beim nächsten Ausflug mal drauf!

„Lammfromm oder bockbeinig – Das Schaf in der Kulturgeschichte”. Hamaland-Museum (Kreis Borken) in Vreden/Münsterland, Butenwall 4. Tel.: 02564/39 18-0. Bis 30 März. Di bis So 10-17 Uhr. http://www.hamaland-museum.de/

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AM RANDE:

  • Ein Thema der Schau: der Aberglaube ums Schaf.
  • In Braunschweig hieß es einst: Wer dreimal ein Lamm in seine Schuhe hineinschnuppern lässt, wird seine Erkältung los.
  • In Böhmen lautete der Rat, man müsse morgens in aller Frühe eine Schafherde durch ein Sieb betrachten, um zu genesen.
  • Litauen: „Verrufene” Kinder sollten drei Tropfen Blut aus dem linken Ohr eines Schafes trinken . . .



Emil Nolde oder: Die Natur ist von Geistern beseelt – Ausstellung in der Bielefelder Kunsthalle

Die Bielefelder Kunsthalle begibt sich auf seifig glattes Begriffs-Gelände. Sie spüren dort jetzt dem „Nordischen“ in der Kunst des berühmten Expressionisten Emil Nolde (1867-1956) nach.

Da wird man hellhörig, denn das Wort hat eine wechselhafte, nicht unproblematische Geschichte. Oft genug musste es herhalten, um das „Germanentum“ aufzuplustern.

Doch halt! Nicht gleich die ganz große Verdachtskeule schwingen. Bei Nolde bestand die Hinwendung zum „Nordischen“ zunächst einmal in der Weigerung, die damals übliche Kunst-Pilgerreise nach Rom zu unternehmen. Verpönt waren Nolde die lieblichen Landschaften und das allzu gefällige Licht.

Man sieht sogleich, welche Richtung Nolde stattdessen einschlug. Drei fulminante Bilder von heftig aufgewühlten Herbstmeeren hängen in Bielefeld nebeneinander – allesamt entstanden auf der heute dänischen Ostsee-Insel Alsen, wo Nolde seinerzeit ein Bretterbuden-Atelier direkt am Strand hatte und bei allen Winden und Wettern malte. Nur: Von sanften Brisen kann meist keine Rede sein.

Später wurde das (klimatisch noch rauere) nordfriesische Seebüll zum Lebensmittelpunkt. Von der dort ansässigen Nolde-Stiftung kommen jetzt auch die meisten Leihgaben, darunter noch nie öffentlich gezeigte Bilder. Da lohnt sich also wiederum die Wallfahrt nach Bielefeld.

„Nordisch“, das war seit den Tagen eines Caspar David Friedrich (in Noldes Epoche durch Munch und van Gogh verstärkt) der innige Blick auf die engere heimatliche Umgebung; auf einfache Menschen wie Bauern und Fischer, die widrigen Lebens-umständen trotzen. Entweder sind sie einsam den Elementen ausgesetzt, oder sie rücken ganz dicht und beinähe verschwörerisch zusammen. Die Palette ist insgesamt deutlich dunkler als in südlichen Gefilden. Doch just bei Nolde kommen häufig feurige, grellgelbe oder blutrote Luftgebilde zum Vorschein. Farben als Aufschreie in der Dämmerung. Und diese Töne werden immer freier, sie lösen sich vom Bildgegenstand.

Gewiss: Anfangs scheint auch schon mal impressionistisch flirrendes Licht in Noldes Gärten, es umspielt idyllische Hausansichten oder zwei Blondinen. Auch hat er mit „Leute im Dorfkrug“ (1912) Cézanne nahezu plagiiert. Doch seine Welt ist vorwiegend dramatisch. Die Naturschauspiele sind geradezu beseelt von riesenhaften Wolkenfingern oder tosenden Wogen.

Mit eher harmlosen Natur-Gesichtern hatte sich Nolde aus ungeliebten Brotberufen (Holzschnitzer in Möbelfabriken, Zeichenlehrer) befreien können: Ein „lächelndes Matterhorn“ und andere neckisch belebte Berggeister hatten ihm als Postkarten so viel Geld eingebracht, dass er fortan für sich arbeiten konnte. Später gab’s wieder härtere Zeiten. Seine Frau Ada, eigentlich Schauspielerin, verdingte sich zur Not schon mal als „Gänseliesel“ im Varieté.

In den 20er Jahren hatte er sich endgültig durchgesetzt. Es gab später gar eine Nazi-Fraktion, die sich den Nordmann als Haupt- und Staatskünstler wünschte. Doch Hitler sprach dagegen ein Machtwort. 1941 erhielt Nolde Malverbot und schuf heimlich nur noch lieh kleinformatige Aquarelle. Auch davon gibt es einige Proben in Bielefeld.

Eine spezielle, ins karikierend Groteske reichende Abteilung der Schau zeigt Noldes Spuk- und Spökenkieker-Phantasien. Gespenstische, zuweilen zittrig erregte Wesen geistern durch die nordischen Nächte. Man meint, sie diebisch kichern zu hören. Es ist, als habe Nolde die huschenden Geister nur aus den Augenwinkeln erhascht – und dann gebannt. Famos!

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DATEN UND FAKTEN

  • Lange her: Die letzte große Nolde-Ausstellung in Bielefeld hieß 1971 „Masken und Figuren“.
  • Eine legendäre Schau gab es 1912 in Hagen, wo sich damals das Folkwang Museum befand: Nolde stellte dort seinen Zyklus „Leben Christi“ aus – zum Verdruss klerikaler Kreise.
  • Daten zur jetzigen Schau: „Emil Nolde – Begegnung mit dem Nordischen“. 3. Februar bis 12. Mai. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Di, Do, Fr, So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, Katalog 19,80 €.
  • Parallel in Berlin: Im Nolde-Museum geht es ab heute bis 18. Mai um die Südseereise des Malers.
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(Der Artikel stand am 1.2.2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Witten erwägt Bilderverkäufe zur Baufinanzierung

Witten. Bahnt sich in Dortmunds Nachbargemeinde Witten ein Kulturskandal an? Es gibt offenbar Überlegungen bei der Stadt, einige Bilder aus dem Besitz des Märkischen Museums zu verkaufen, um Geld für den Neubau eines „Wissenszentrums“ zu beschaffen.

Derlei Verkäufe aus Beständen öffentlicher Museen sind verpönt. Sie gelten allenfalls als tragbar, wenn Sammelschwerpunkte behutsam begradigt werden sollen, keineswegs aber als Hilfsmittel zur Baufinanzierung. Vor Jahren gab es heftige Aufregung, als das Hagener Osthaus-Museum sich (aus ganz anderen Gründen) von einzelnen Werken trennte.

Jetzt also scheint’s Ärger in Witten zu geben. Eine neu begründete Kunstinitiative will bei den Plänen der Stadt ein gewichtiges Wörtchen mitreden. Rund 600 Unterschriften gegen die angeblich drohenden Bilderverkäufe (vorwiegend unterzeichneten Künstler, Professoren und Studenten) hat dieser Zusammenschluss fachkundiger Bürger bereits gesammelt.

Einer der Köpfe der Initiative ist Prof. Volker Lehnert, der in Witten wohnt und stellvertretender Leiter der Stuttgarter Kunstakademie ist. Er sagt: „Ein Bilderverkauf, um Beton zu finanzieren, wäre entweder heillos naiv oder perfide.“

Lehnert und seine Mitstreiter, darunter auch Wittens früherer Kulturdezernent Gert Buhren, furchten nicht nur einen Bilderverkauf. Das künftige Wissenszentrum soll Museum, Stadtbücherei und Stadtarchiv quasi unter einem Dach zusammenfassen. Dabei könnte, wenn es nach einer Machbarkeitsstudie geht, der Museumsanbau von 1988 komplett wegfallen, sprich: Die Ausstellungsfläche würde erheblich schrumpfen und sich nur noch auf den Altbau beschränken. Weitere Kritikpunkte der Initiative: Es gebe kein tragfähiges Museumskonzept, und es stehe nicht-einmal fest, ob der demnächst frei werdende Posten der Museumsleitung wieder ordentlich besetzt werde.

Das Wissenszentrum, sinnigerweise als Wittener Projekt für die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 angemeldet, dürfte die unter Sparzwängen stehende Stadt rund 5 bis 7 Millionen Euro kosten – Geld, das erst einmal aufgebracht werden muss, eben eventuell auch durch besagte Bilderverkäufe. Unter anderem ist von einem Werk Emil Noldes die Rede. Kein Pappenstiel also.

Die Stadt möchte nun die Wogen glätten. Stadtsprecher Jochen Kompernaß erschien gestern zur eilends einberufenen Pressekonferenz der Kunstinititaive und beteuerte, es sei noch gar nichts entschieden. Man befinde sich beim Projekt „Wissenszentrum“ mitten in den Vorüberlegungen, und es werde öffentliche Anhörungen geben. Auf die weitere Entwicklung darf man gespannt sein.




Die „Neuen Wilden“ von Familie Berg

Bochum. So umfangreich haben die Sammler ihre eigenen Schätze noch nie beisammen gesehen: Die Eheleute Christine und Hans Berg füllen mit Teilen ihrer beachtlichen Kunst-Kollektion jetzt alle Etagen des Bochumer Museums.

Die Bergs hatten früher in Herne ein Familien-Unternehmen, das Röhren für Pipelines fabrizierte. In diesem Betrieb stellten sie alsbald Kunst aus – was vor über 30 Jahren noch nicht gang und gäbe war. Als die Firma im Mannesmann-Konzern (bzw. „Europipe“) aufging, zogen sie sich allmählich aus den Tagesgeschäften zurück. Heute leben sie komfortabel in der Schweiz (Luzern) und Italien.

Nicht so sehr mit kunsthistorischer Beratung haben sie ihre Sammlung aufgebaut, sondern eher spontan, persönlichen Vorlieben folgend – und fast immer einvernehmlich. Spekulationen auf steigende Werte hätten dabei keine Rolle gespielt, versichert Hans Berg. Er nennt einen anderen Beweggrund: „Ich habe eine Gegenwelt zur Wirtschaft gesucht.“ Eine Sphäre jenseits der Sachzwänge also.

Und tatsächlich: Nach den ersten Erwerbungen fingen die Bergs bald Feuer und knüpften Kontakte zu Künstlern – vor allem zu jenen, die in den frühen 80er Jahren im Umkreis der so genannten „Neuen Wilden“ die Szene beherrschten. Man irrte irgendwo in zeitgeschichtlichen Untiefen zwischen dem bleiernen deutschen Terrorherbst und den Vorboten der deutschen Vereinigung umher. Die Atmosphäre: Etliche Nachtseiten mit dem einen oder anderen (Neon)-Licht-schein. Und viel Archaisches, das in die Gegenwart ragte.

Inzwischen ist es weitaus stiller um K. H. Hödicke, Helmut Middendorf oder den gebürtigen Dortmunder Norbert Tadeusz geworden, so dass die Bochumer Präsentation einer Wieder-Entdeckung gleichkommt. Besonders eine Raumfolge mit Großformaten beschert diesen Malern einen grandiosen Auftritt – mit so exquisiten Bildern wie etwa Hödickes „Schrott“ (1976), einem geisterhaften Trio verrosteter Automobile. Middendorf s Berliner „Großstadteingeborene“ (1980) sind geradezu vollgesogen mit dem Zeitgeist von damals. Tadeusz‘ wüste Fleischbeschauen (egal, ob beim Metzger oder als Frauenakt) rücken dem Betrachter immer noch verstörend zuleibe. Den Kontakt zu Tadeusz bekam das Sammlerehepaar übrigens nach dessen Werkschau im Dortmunder Ostwall-Museum.

Auch Einzelstücke der klassischen Moderne (Nolde, Macke) und der informellen Nachkriegskunst (Emil Schumacher, Bernard Schultze) finden sich in der Auswahl. Hans Berg: „Wir hätten gern noch viel mehr gezeigt.“ Doch Bochums Museumschef Hans Günter Golinski hat ihn davon überzeugt, dass die Ausstellungsräume nicht „überladen“ werden dürften. In der Tat: Auch so gibt es reichlich zu sehen. Und vielleicht ist das Ganze ja fürs Bochumer Museum eine Option auf die Zukunft? Wer weiß.

Man kann in dieser Schau farblichen oder energetischen „Grundklängen“ nachspüren, die sich mitunter quer durch die Sammlung ziehen. Nur ein Beispiel: Es ist, als werde das magische Leuchten auf Noldes Bildern von Gotthard Graubners subtilen Farbkissen beantwortet. Bestimmt kein bloßer Zufall, denn: Wo mit Leidenschaft gesammelt wird, ergeben sich solche Zusammenhänge.

Deutsche Malerei aus der Sammlung Berg. Museum Bochum, Kortumstraße. Bis 6. Januar 2008. Geöffnet Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 3 Euro, Katalog 20 Euro.

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  • Die Sammlung Berg umfasst rund 300 künstlerische Arbeiten. In der Ausstellung im Museum Bochum sind davon rund 130 zu sehen.
  • Auch persönliche Erinnerungen verbinden sich mit den Werken. Bei vielen Bildern haben die Sammler den Entstehungsprozess beobachten können.
  • In einem zerklüfteten „Saurier“-Bild von Bernard Schultze versteckten die Kinder gar einst Ostereier – nahezu unauffindbar. Das robuste Werk nahm dabei keinen Schaden.
  • Der Maler Bernd Finkeldei hat 1995 gleich die ganze Familie Berg nach fotorealistischer Manier großformatig verewigt.
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(Der Artikel stand am 13. Dezember 2007 in der „Westfälischen Rundschau“)




„Freiheit der Linie“: Wie Künstler die Gefühle steigern

Münster. Mit Farbe, Form und Linie muss sich jeder Künstler befassen. Das Landesmuseum in Münster greift eins dieser Grundelemente heraus: die Linie. Nicht einfach so, sondern mit konkreten und teilweise verblüffenden Bezügen.

Die These lautet ungefähr so: Im Jugendstil wurde die Linie zusehends freier behandelt. Sie löste sich immer mehr vom dargestellten Gegenstand und drückte schon durch ihren bloßen Verlauf gesteigerte Gefühle aus; zuweilen geschmäcklerisch und ornamental, aber oft auch empfindsam, geradezu seismographisch. Genau bei solchen Bewegungen konnten die Expressionisten anknüpfen, denen es just um (manchmal steil aufragende) Emotionen ging. Bei ihnen gewann die Linie Kraft und Spannung.

In der Linie liegt die Kraft

Die Münsteraner Schau versammelt nun überraschend deutliche Belege dafür, dass auch Künstler im Jugendstil wurzeln, von denen man das nicht (mehr) weiß: Das Schaffen von Wassily Kandinsky, Franz Marc, Paul Klee und Ernst Ludwig Kirchner wird zurückgeführt auf solche Ursprünge. Was hier aus ihren Frühzeiten gezeigt wird, steht tatsächlich noch im Bann des Jugendstils. Erst im Lauf der Jahre gingen sie eigene Wege.

Beispiel Kandinsky 1907 noch ein lineares Wellenspiel aus Kleidung und Haaren („Der Spiegel“), ganz im Geist des Jugendstils, bis 1911 dann der kühne Sprung ins gänzlich Freie. Die Linien halten das Bildgefüge nur noch vage zusammen, sie sind zum Ausdrucksmittel geworden.

Als Kristallisationsfigur des Übergangs hat Ausstellungs-Kurator Erich Franz einen Mann namens Hermann Obrrist (1862-1927) ausgemacht. Franz versichert: „Es ist keine Bildungslücke, Obrist nicht zu kennen“. Seit rund 40 Jahren sei dieser Jugendstil-Künstler in deutschen Museen praktisch nicht mehr präsent. Eine „Ausgrabung“ also. Der gebürtige Schweizer Obrist hat – im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kunstgewerbe – das freie Spiel der Linien bis zum Rand der Abstraktion getrieben. Dabei werden bereits expressive Qualitäten sichtbar. Ein um 1895 von Obrist entworfener Wandbehang zeigt laut Titel Alpenveilchen, wirkt aber eher wie eine flammende Linien-Schrift oder (so befand damals ein Kritiker) gar wie ein „Peitschenhieb“. Für die Münsteraner Schau wurde das Werk in rund 600 Stunden mühsamer Handarbeit nachgestickt, es erstrahlt nun fast wie in der Ursprungszeit. Das Original in München ist hingegen arg ramponiert.

Obrist, der vorwiegend in München lebte und arbeitete, hat mit derlei Formfindungen direkten Einfluss ausgeübt: Kandinsky war mit ihm befreundet, Kirchner hat um 1902 bei ihm das Zeichnen gelernt. Auch Marc und Klee nahmen seine Anregungen auf – und wandelten sie ab. Durch Entwürfe für Alltagsgegenstände, Brunnen und Denkmäler hat Obrist wohl auch den nachmals berühmten Architekten Peter Behrens und Henry van de Velde Anstöße gegeben.

Es herrscht ein Stilwille, der die sichtbare Wirklichkeit hinter sich lässt. Hochinteressant ist es zu sehen, dass Marcs Tierfiguren sich den Linienführungen des Jugendstils entwickeln, gleichsam daraus hervorwinden. Es ist wie eine Geburt, ein großes Werden.

Mit Vorläufern vor aus Frankreich beginnt der Reigen. Im Zeichen einer grassierenden Japan-Mode („Japonismus“) wurde die vordem im Historismus schwelgende Kunst entschlackt, vereinfacht, auf pflanzlich inspiriertes Formenvokabular reduziert. Eine Abfolge von Mädchenbildnissen (Edvard Munch, Ferdinand Hodler) beweist sinnfällig die neue Schlichtheit. In ihr verbargen sich ungeahnte, zuweilen erschütternd intensive Ausdruckswerte.

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INFOS

  • „Freiheit der Linie. Von Obrist und dem Jugendstil zu Marc, Klee und Kirchner.“
  • Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz)
  • Ausstellung bis zum 17. Februar 2008. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr. Eintritt 5 Euro, Familie 11 Euro. Katalog 27 Euro.



Kreis Unna: Millionen fürs Haus der Moderne gesucht

Unna/Holzwickede. Es ist offenbar ein großes Rad, an dem der Kreis Unna dreht: Um die hochkarätige Wiesbadener Kunstsammlung Brabant in ein künftiges „Haus der Moderne“ einzubringen, müssen zuvor 10 Millionen Euro Spenden gesammelt werden.

„Eine Vision mit großen Chancen“ nannte gestern die Kulturdezernentin des Kreises Unna, Gabriele Warminski-Leitheußer, das Projekt. In der Tat: Der Sammler Frank Brabant (69) hat seine eindeutige Zusage gegeben. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass seine Bilderschätze beim Kreis Unna in guten Händen sind. Alles Vertrauenssache. Unna erhält somit den Vorzug etwa vor dem Landesmuseum in Schwerin (Brabants Geburtsstadt) und diversen Häusern in Süddeutschland.

Der Sammler ist als Kaufmann tätig und erwirbt seit rund 45 Jahren Bilder. Das allererste Werk, einen Holzschnitt für damals 300 Mark, müsste er noch auf Raten finanzieren. Brabant übt zwar keinen zeitlichen Druck aus. Aber eins ist klar: Allein mit öffentlichem Geld ist das Vorhaben nicht zu stemmen. Die finanziellen Fakten: Der museumstaugliche Umbau des historischen Hauses Opherdicke (in Holzwickede) dürfte rund 5 Millionen Euro kosten. Beim Kreis Unna hofft man, 80 Prozent dieser Summe durch Zuschüsse des Landes NRW aufzubringen. In diesem Falle müsste der Kreis selbst also rund 1 Million Euro ausgeben.

Damit nicht genug. Wenn die Sammlung erst einmal im Haus Opherdicke untergebracht ist, fallen Betriebskosten von cirka 500 000 Euro pro Jahr an. Plan der Kulturdezernentin: Es soll eine Stiftung gegründet und mit 10 Millionen Euro Kapital ausgestattet werden. Aus den Erträgen könnte man die laufenden Kosten bestreiten. Hierfür wären, wie gesagt, namhafte Spenden nötig. Warminski-Leitheußer: „Wir werden jetzt ,Klinken putzen‘ gehen.“ Sprich: für gut‘ Wetter bei möglichen privaten Geldgebern sorgen.

Und wenn das alles klappt? Dann würde sich der Kreis Unna in einer ganz anderen Liga wiederfinden. Man könnte mit teilweise hochrangigen Gemälden und Graphik (z. B. von Beckmann, Chagall, Feininger, Kandinsky, Klee, Marc, Nolde, Picasso und Warhol) locken. Einige Kostproben der 450 Stücke umfassenden Kollektion waren 2006 auf Schloss Cappenberg zu sehen. 25 000 Besucher interessierten sich für den Querschnitt, dessen Qualität Verhandlungen mit dem
Sammler in Gang brachte.

Günstiger Umstand: NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat sich die Schau seinerzeit persönlich angesehen. Am Donnerstag dieser Woche gibt es in Düsseldorf Gespräche von Vertretern des Kreises Unna mit NRW-Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff. Dabei sollen Bedingungen für etwaige Landeszuschüsse zum Umbau des Hauses Opherdicke erörtert werden.

Thomas Hengstenberg, Fachbereichsleiter für Kultur und Medien beim Kreis Unna, hat bereits erste Studien zur Umsetzung erstellt. Das idyllisch gelegene, denkmalgeschützte Haus Opherdicke bietet reichlich Platz und eine recht gute Verkehrsanbindung. Bereits im Umkreis von nur 25 Kilometern leben etwa 2 Millionen Mensschen 5,6 Millionen wohnen im Radius von 50 Kilometern.

Die Sammlung, derzeit mehr schlecht als recht in Brabants Dachwohnung untergebracht (bis in den Sanitärbereich hinein), soll in Holzwickede durch Zukäufe ergänzt werden. Man will nicht das ganze Konvolut auf einmal zeigen, sondern thematische Wechselausstellungen arrangieren. Damit die Kollektion vernünftig erschlossen werden kann, sollen Kunsthistoriker der regionalen Hochschulen Zugang für Forschungen erhalten.

Übrigens: Die Eröffnung des „Hauses der Moderne“ würde der Kreis gerne 2010 feiern – im Jahr der Kulturhauptstadt.

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(Der Beitrag stand am 27. November 2007 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Thomas Virnich: Keine Angst vor dem Teufel

Schwerte. Erstaunlich windschief wirkt dieser „Doppeldom“. Auch scheint die phantasievoll nachempfundene Kölner Kathedrale zu zerfließen wie Kerzenwachs. Doch dem fragilen Skulpturen-Bauwerk ist auch freudige Beweglichkeit eigen; ganz so, als könnte es alle wechselnden Zeiten überstehen.

Die Arbeit ist jetzt in der Katholischen Akademie in Schwerte zu sehen und stammt vom documenta-erprobten Bildhauer Thomas Virnich (Jahrgang 1957). Die teilweise noch nie öffentlich gezeigten Plastiken fügen sich bestens in die Schwerter Ausstellungs-Reihe „Transzendenz im Augenschein“. Deren weltoffene Zielsetzung, abseits von verkrampften Kirchenkunst-Debatten: Nicht fromme Auftragswerke sollen hier zum Zuge kommen, sondern freie, autonome Schöpfungen, die allerdings im weitesten Sinne auch auf „Jenseitiges“ verweisen können.

Gern zeigt Virnich die ganze Erde im Modell, das Kleine findet dabei furchtlos Platz im großen Ganzen. So hat er einen allseits brüchigen Globus ersonnen und mit fröhlichen Narren bevölkert („Spiel-Welt“). Ein anderer Erdball hängt von der Decke herab und lässt verwirrend viele Teilansichten seines Atelier-Anwesens in Mönchengladbach, eines alten Schulgebäudes, erkennen („Meine Schule – ein Planet“). Eisenstücke vom Schrottplatz, durch ungeheure Kräfte verformt, geraten zu Sinnbildern für Mann und Frau. Ein Monumentalbau wie das Colosseum gibt Gelegenheit zum hintersinnigen Formenspiel zwischen Kern und Schale.

Manchmal ist Virnich ganz dicht dran an religiösen Themen. Der Petersdom ist bei ihm freilich von Pappe, er „klebt“ als stark verfremdeter Modellbausatz an der Wand. Ein kleines Bronze-„Teufelchen“ kommt derweil als harmloser Kobold daher. Auch hier also kein Grund zu Angst und Furcht. Doch gebrannte Keramik lässt nur noch die Negativ-Form des gekreuzigten Christus erkennen – als schmerzliche Leerstelle, als pure Abwesenheit. Welche Sehnsucht sich daran knüpft, ist Glaubenssache.

Katholische Akademie Schwerte, Bergerhofweg 24. Vom 18. November bis 13. Januar. Mo-Sa 10-18, So 10-13 Uhr.

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(Der Beitrag ist am 17. November 2007 in der „Westfälischen Rundschau“ erschienen)




Wilhelm Busch: Lustvolle Zerstörung der Idylle

Gleich hinterm Eingang blickt der Besucher in einen Zerrspiegel. So sieht man sich nicht gern. Doch im Schloss Oberhausen geht’s ja auch um einen Verzerrer der sichtbaren Wirklichkeit: Wilhelm Busch, Urahn vieler späterer Comic- und Cartoon-Künstler.

Der Schöpfer von „Max und Moritz”, „Hans Huckebein” und zahlloser weiterer Bildergeschichten hat klassisches Rüstzeug an Kunstakademien erworben. Wenn er will, kann er etwa im Stile der alten Holländer malen. Doch schon beim anfänglichen Maschinenbau-Studium karikiert er seine Dozenten. Schalkhafte Blätter aus Kollegheften zeugen davon.

Die Ausstellung „Herzenspein und Nasenschmerz” stellt Wilhelm Buschs Werke in Zusammenhänge mit Vorläufern und Nachfahren. Karikierende Tendenzen gab es z. B. schon bei Francisco Goya (Verzerrung durch Schmerz), beim Franzosen Grandville oder beim Engländer William Hogarth, der mit Vorliebe die Folgen von Alkohol und Hurerei drastisch darstellte – moralische Appelle wider den Verfall der Sitten.

Vorbilder waren also da. Kennzeichen: entlarvende Übertreibung typischer Wesensmerkmale, eine vordem ungeahnte Dynamik, gewollt schräge Perspektiven, Mut zum Hässlichen. Bald begnügte man sich nicht mehr mit Einzelbildern, sondern zeichnete Handlungsabläufe.

An solche Traditionen kann Wilhelm Busch anknüpfen. Fotografien oder auch Franz von Lenbachs gemaltes Busch-Porträt zeigen einen selbstgewissen Mann, der sich für den Markt zu inszenieren weiß. Allerdings ist er auch Pessimist und traut keinem bürgerlichen Frieden. Häufig die Szenen, in denen er eine (romantische oder biedermeierliche) Idylle gründlich zerstört.

Theater der Grausamkeit, Schauplatz niederer Instinkte: Wie allerlei Körperteile malträtiert werden, führt Busch mit detailfreudiger Lust am Schaden aus. Dabei spielt er das verfügbare Bildvokabular virtuos durch, erweitert es wohl auch, so etwa mit rasanten Wechseln zwischen Totale und Nahansicht, die bereits Bildstrategien des Kinos vorwegnehmen. Die Original-Zeichnungen lassen einen scharfen, harten Strich erkennen. Man spürt noch, wie Erregung und Aggression darin nachzittern.

Busch ist so populär, dass auch andere Künstler ihn zur Kenntnis nehmen müssen. Diese Einfluss-Linien will die Oberhausener Schau sichtbar machen. Einige Beispiele sollen Wilhelm Buschs Fernwirkung bis hin zum frühen US-Comic belegen. Die Serien entstehen anfangs vielfach mit Blick auf deutsche Einwanderer in den Staaten. Der deutschstämmige Rudolph Dirks erfindet die „Katzenjammer Kids” (publiziert ab 1897), Winsor McCay „Little Nemo in Slumberland” (ab 1905) und Lyonel Feininger die „Kin-der Kids” (1906). Seitenblicke gelten den Disney-Figuren Mickey Mouse und Donald Duck. Auch für sie, so die These, habe Busch das Terrain bereitet. In welcher genauen Hinsicht Busch sie alle inspiriert hat, das wäre reichlich Stoff für Doktorarbeiten. Bemerkenswert jedenfalls, dass August Macke Busch den „ersten Futuristen” nennt.

In Richtung Gegenwart franst die vom Hannoveraner Busch-Museum bestückte Ausstellung etwas aus. Politisierende Karikaturen, Comics und Cartoons von Tomi Ungerer bis F. K. Waechter, von Paul Flora bis Tullio Pericoli lassen just viele Verzweigungen ahnen. Aber man kann Wilhelm Busch nicht jede Vaterschaft andichten.

„Herzenspein und Nasenschmerz. Wilhelm Busch und die Folgen”. Schloss Oberhausen. Konrad-Adenauer-Allee 46. Bis 24. Feb. 2008. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 28 €.

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ZUM LEBENSLAUF:

  • Wilhelm Busch wurde am 15. 4. 1832 in Wiedensahl bei Hannover geboren.
  • 1847-51 Maschinenbau-Studium in Hannover.
  • Kunstakademien: 1851 Düsseldorf, 1852 Antwerpen, 1854 München.
  • Ab 1858 Mitarbeit an den „Fliegenden Blättern”.
  • 1865 erscheint „Max und Moritz”, 1867 „Hans Huckebein”, 1872 „Die fromme Helene”, 1879 „Fipps der Affe”, 1883 „Balduin Bählamm”.
  • Nach 1884 liefert Busch keine Bildergeschichten mehr, sondern verlegt sich ganz auf Malerei. Das aktive künstlerische Schaffen reicht bis etwa 1895.
  • Tod am 9. Januar 1908 in Mechtshausen/Harz.



Aus der Krise ins gleißende Licht – Wuppertaler Museum vergleicht Auguste Renoir mit Vorbildern und Zeitgenossen

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auguste Renoir? Kennt man doch. Hatte man mal als liebliches Kalenderblatt an der Wand. Duftige Farben, ätherisch zarte Frauen. Auch Wuppertals Museumsdirektor Gerhard Finckh hat sich ganz früher mal Renoir-Reproduktionen hingehängt. Eins dieser Motive kann er jetzt im Original zeigen – und etliches mehr.

Über 50 Bilder des berühmten Franzosen präsentiert das Von der Heydt-Museum. Hinzu kommen rund 50 weitere Werke von Anregern, Freunden und Zeitgenossen des Impressionisten. Fürwahr ein großer Auftritt und viel flutendes, flirrendes Licht!

Doch Finckh behauptet: Eigentlich kennen wir Renoir gar nicht richtig – oder jedenfalls nur einen kleinen, zumeist vor 1881 entstandenen Teil seines Werks. Bis dahin hat Renoir bereits grandiose Bilder geschaffen, doch der große Erfolg bleibt aus. Die führenden Salons lehnen Impressionisten weiterhin ab, Auftraggeber und Käufer halten sich  merklich zurück.

In jener Zeit gerät Renoir in eine schwere Schaffenskrise und pfuscht sich – wie einige Exponate in Wuppertal belegen – zeitweise recht mühselig und ungelenk durch diverse Stilwechsel hindurch. Derlei Anpassung an den Markt ist seine Sache eben nicht.

An der Grenze zur reinen Farbmusik

Erst in den 1890er Jahren findet er wieder in seine Spur zurück. Er verlegt sich auf Landschaften. Doch seine ureigene Stärke blüht erst wieder auf, als er menschliche Figuren mit ihrer Umgebung verschmelzen lässt – bis hin zur Grenze der Abstraktion und der reinen Farbmusik. Wahrscheinlich überschreitet er diese Grenzlinie bewusst nicht. Er sieht sich im Grunde nie als „Revolutionär“, sondern inzwischen gar als Graubart mit Hang zur ehrwürdigen Tradition.

In Wuppertal ist also vor allem das Spätwerk ab 1890 (immerhin noch fast 30 Jahre in Renoirs Leben) zu sehen. Der Künstler zieht sich ins südfranzösische Cagnes zurück, wohnt dort erst in der Post, dann auf einem bäuerlichen Anwesen. Er pflegt regen Austausch mit Kollegen. Henri Matisse, Pierre Bonnard und einige andere Größen besuchen ihn dort. Irgendwann werden auch Kunsthistoriker und Käufer vorstellig, um ihm zu huldigen.

Tragisch genug: Porträtaufträge verbessern nun die finanzielle Lage, doch da erkrankt Renoir an Gicht, die ihn schließlich an den Rollstuhl fesselt. Gar manches kann er nur unter Schmerzen malen. Zusehends künden kleinere Formate von schwindenden Kräften.

Olivenbäume und weibliche Ländereien

Dennoch gelingt ihm nun jenes geheimnisvoll neblige und silbrig schimmernde Licht, das er beim großen Vorbild Camille Corot so bewundert und an dessen Darstellung er sich vorher vergeblich versucht hat. Das Gleißen seiner Olivenbäume muss man gesehen haben, es ist nahezu überirdisch.

Dass Renoir hin und wieder nah an die Gefilde des Weichen und Süßlichen gerät, muss man angesichts solcher Meisterwerke schlicht und einfach verzeihen. Er ist kein Mann der scharfen, folgerichtigen Analyse, sondern ein Schaffender aus Passion.

Für Anregungen bleibt er auch im höheren Alter offen. Unter dem Einfluss von Cézanne vollendet Renoir ein für ihn sonst untypisches Apfel-Stillleben. Die höchst verschiedenen Figur-Auffassungen der Bildhauer Rodin und Maillol (beim einen eher schrundig zerklüftet, beim anderen schwellend und prall) hinterlassen gleichfalls Spuren.

Renoir behandelt seine Figuren fortan mit mehr Raumgefühl. Im Verlauf dieser Entwicklung geraten übrigens auch die Frauengestalten üppiger. Ihr Leiber schmiegen sich fließend in Landschaften ein oder erscheinen gleichsam selbst als „Ländereien“ oder gar Kontinente.

Sie Seitenblicke der Schau auf Vorläufer und Anreger (bis zu Delacroix) sind mithin oft aufschlussreich. Auch lassen einzelne Gemälde der ungefähr gleichaltrigen Mitstreiter (Manet, Monet, Pissarro, Bazille) ahnen, auf welcher ästhetischen Höhe sich Renoir jeweils befunden hat. Mal so, mal so.

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HINTERGRUND

Zunächst eine Lehre als Porzellanmaler

  • Auguste Renoir lebte von 1841 bis 1919.
  • 1854 Lehre als Porzellanmaler. Den Beruf ergreift er nicht, weil neue Verfahren diese Handarbeit überflüssig machen.
  • 1862/63 mit Studienfreunden zur Freiluftmalerei in Barbizon (Wald vonFontainebleau).
  • Um 1869 entstehen in Paris seine ersten impressionistischen Gemälde im eigentlichen Sinne.
  • Um 1881 Schaffenskrise.
  • 1888 bricht die rheumatische Krankheit aus. die seinen rechten Arm und später beide Beine lähmt.
  • Ausstellung: „Renoir und die Landschaft des Impressionismus“. Von der Heydt-Museum (Wuppertal, Turmhof 8). Vom 28. Oktober bis 27. Januar 2008. Di-So 11-18. Do 11-20 Uhr. Eintritt 8 €, Familie 15 €. Katalog 25 €, Tel.: 0202/563-6231.



Blinky Palermo: Rebellion mit Wasserwaage

Düsseldorf. Mit Blinky Palermo verhält es sich so: Manche seiner Arbeiten hat dieser Künstler aus Unzufriedenheit selbst vernichtet. Von vielen anderen hat sich später die Spur gleichsam im Nichts verloren.

Das erhaltene Gesamtwerk des 1977 mit nur 33 Jahren auf den Malediven gestorbenen Künstlers ist überschaubar. Nur rund 200 größere Bilder und Objekte sowie etwa 600 Zeichnungen nennt der Œuvre-Katalog. Wohl gerade deshalb gilt Palermo als Mythos. Knappes Werk und früher Tod – das sind nach den Marktgesetzen zwei Bedingungen, die solch einen Status begünstigen können.

Jetzt zeigt die Düsseldorfer Kunsthalle einen Überblick zum schmalen Schaffen – den allerersten in jener Stadt, in der Palermo einst Meisterschüler des noch ungleich berühmteren Joseph Beuys gewesen ist. Damals bekam der Mann, der bürgerlich Peter Heisterkamp hieß, von Künstler-Kumpanen den Spitznamen „Blinky Palermo” – wegen einer gewissen Ähnlichkeit mit dem berüchtigten US-Mafioso und Boxmanager.

Zu sehen sind Stoffbilder (Kaufhausware, auf Rahmen gezogen), Metallbilder (in bis zu 20 Schichten bemaltes Aluminium) und Installationen. Palermo ist nicht zuletzt ein „Künstler für Künstler”. Bis heute interessieren sich auch und gerade Leute vom Fach für seine Schöpfungen. Seine meist titel- und gegenstandslosen Versuchsanordnungen wirken auf den ersten Blick oft spröde; obwohl hie und da ein Blau kontemplative Weite verströmt oder ein Rot lebensgierig leuchtet.

Formale Spitzfindigkeiten liegen nahe: Warum hat er gerade diese Farben auf diese Weise angeordnet? Wieso verlaufen die „Nähte” dazwischen so und nicht anders? Palermo hatte außerordentlich präzise Vorstellungen von seinem Tun, vielfach arbeitete er buchstäblich mit der Wasserwaage. Auf Bildrückseiten notierte er häufig exakte Vorgaben zur Hängung.

Erstaunlich nun, wie aus dieser vermeintlich so ordentlich gefügten Welt der Quadrate, Rechtecke und Dreiecke dann doch Visionen eines befreiten Daseins aufsteigen. Einigermaßen paradox gesagt, setzt sich eine geradezu mustergültige Regellosigkeit durch. Es ist eine stille Revolte mit dem Lineal.

Anhand der Düsseldorfer Auswahl kann man gut verfolgen, wie sich die geometrischen Ur-Elemente immer freier im Bildraum bewegen. Irgendwann lösen sich diese Einzelformen vollends heraus und befinden sich auf einmal hoch oben an der Wand, als wäre da etwas explodiert. Sie sind als Objekte in den Raum vorgedrungen und haben ihn neu definiert. Ein anderes Koordinatensystem als Vorbote einer anderen Wirklichkeit?

All diese Arbeiten sind seit Mitte der 60er Jahre entstanden. Die damals so rebellische Stimmung wird indirekt spürbar, fern von plakativen Effekten. Worin wohl die Einflüsse von Beuys gelegen haben? Vielleicht vor allem in einer Aufforderung dieser Art: Sei so frei, dir selbst zu folgen!

Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4. Bis 20. Januar 2008. Di-Sa 12-19, So 11-18 Uhr. Eintritt 5,50 €, Katalog (erst Mitte November) 29,80 €.




Künstler ahnen die Katastrophe

Für die Ausstellung „1937 – Perfektion und Zerstörung” ist die Bielefelder Kunsthalle bis an die Grenzen des finanziell Machbaren gegangen. Wenn nicht mindestens 100 000 zahlende Besucher kommen, dürften (trotz erheblicher Sponsoren- und Stiftungsmittel) die künftigen Spielräume sehr eng werden.

Rund 420 Werke aus weit über 100 Museen der Welt bietet man auf, um das Umbruchsjahr 1937 im Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Politik zu erkunden.

Es war das Jahr, in dem die NS-Machthaber die infame Ausstellung „Entartete Kunst” zeigten, mit der sie die gesamte Avantgarde diffamieren wollten. Am 19. Juli 1937 begann die schändliche Schau mit beschlagnahmten Bildern in München. Dort und an weiteren Stationen zog sie bis 1941 rund 2 Millionen (!) Besucher an. Sicherlich waren viele Verblendete darunter. Doch manche kamen auch, um ein letztes Mal große Kunst zu sehen – vor den gänzlich finsteren Zeiten.

1937 war auch das Jahr, in dem die Bombardierung der spanischen Stadt Guernica (durch die deutsche „Legion Condor”) einiges vom Schrecken des späteren Weltkrieges ahnen ließ. Picassos Guernica-Bild ist berühmt geworden, in Bielefeld sieht man Vorstudien dazu, neben weiteren malerischen Protesten gegen das Massaker. Der Weltenbrand hatte begonnen.

Die ambitionierte, dicht gehängte Schau (in der Einzelwerke bisweilen fast untergehen) beginnt freilich mit Einzelbeispielen für – Nazi-Kunst. Trefflich beschreibt Museumschef Thomas Kellein ein monströses Aktbild im heroischen Stil: „Das sind eigentlich keine Frauen, sondern Soldaten mit Brüsten.” Sinnleeres Heldenpathos verströmt auch die Skulptur „Prometheus” von Arno Breker. So sah er also aus, der damals diktatorisch verfügte bildnerische Zeitgeist. Ebenso uninspiriert wie verkrampft.

Bilder aller ernst zu nehmenden deutschen Künstler jener Zeit künden hingegen von Bedrückung, wenn nicht von apokalyptischen Visionen. Carl Hofers „Mann in den Ruinen” (1937) nimmt gar schon die Trümmerzeit vorweg. Überhaupt haben Maler wie etwa Grosz, Radziwill, Barlach oder Oelze („Erwartung”) so ziemlich alles Unheil kommen sehen. Bestürzende Belege für die seismographischen Kräfte wahrhaftiger Kunst. In Bielefeld vermeidet man es, Exilkünstler gegen „innere Emigranten” (z. B. Nolde) auszuspielen. Sie alle haben gelitten.

Die Ausstellung wartet überdies mit Querschnitten des Jahres 1937 aus verschiedenen Ländern auf. Beispiel Italien: Im Gefolge des technikgläubigen Futurismus herrschte dort fliegerische Begeisterung, verquickt mit Kriegslüsternheit. Viele Maler buhlten um die Gunst des Diktators Mussolini, sie wurden tatsächlich kaum behelligt. Die Breite der Ausdrucksmöglichkeiten blieb somit größer als in Deutschland.

Ganz anders in der Sowjetunion. Glückliche Familie begrüßt Panzer mit rotem Stern. Groteskes Flugzeug firmiert als „Schrecken der Lüfte”. Maler priesen Stalin auf ungemein peinliche Weise. Vielen hat es nichts geholfen. Sie wurden später trotzdem von Stalins Schergen umgebracht.

In den USA, wo damals zwei Millionen arbeits- und obdachlose Tramps unterwegs waren, setzte sich seinerzeit eine betont sozialkritische Malerei und Fotografie durch. Sogar ein frühes Bild des nachmaligen Tropfenbild-Künstlers Jackson Pollock bezieht realistisch Stellung.

Weitere Themen der Schau: die Politisierung des Surrealismus (Max Ernst, Magritte), die Fotografie zwischen Dokumentation und Propaganda. Schließlich der Aufbruch der Konstruktivisten – auf schmalem Grat zwischen geometrischer „Unschuld” und fataler Realitätsferne.

INFO/HINTERGRUND:

Im Vorfeld der von den Nazis erzwungenen Schau „Entartete Kunst” (1937) gab es in den Reihen der NSDAP Uneinigkeit über den kulturellen Kurs.
Propagandaminister Goebbels traute den Expressionisten zu, eine „deutsche” Kunst im NS-Sinne zu liefern.
Hitler lehnte diese Auffassung jedoch barsch ab – und setzte sich durch. Expressionistische Kunst wurde mit anderen Strömungen der Moderne verfemt und aus deutschen Museen entfernt.

Die Ausstellung: „1937. Perfektion und Zerstörung”. Bis 13. Januar 2008. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Täglich 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, Katalog 32 €.




Paul Wunderlich: Magie als Markenzeichen

Selm/Cappenberg. Der Hamburger Künstler Paul Wunderlich (80) ist aus dem Fokus der großen Museen nahezu verschwunden. Umso erstaunlicher diese antizyklische Tat: Jetzt richtet ihm der Kreis Unna auf Schloss Cappenberg eine geradezu überbordende Retrospektive mit 350 Arbeiten aus.

Thomas Hengstenberg, Leiter des Fachbereichs Kultur beim Kreis, spricht gar von einer „Materialschlacht” oder (weniger martialisch) von „barocker Fülle”, die in Cappenberg angerichtet werde. Nicht nur Gemälde sind zu sehen, sondern auch Zeichnungen, Druckgraphik, Skulpturen, Schmuck und Möbel aus Wunderlichs Werkstatt. Ein pralles Sammelsurium. Der größte Leihgeber ist zugleich Kooperationspartner: das schleswig-holsteinische Landesmuseum Schloss Gottorf.

Paul Wunderlich gilt als „magischer Realist”. Will ungefähr heißen: Seine Figuren sind genauestens erkennbar, doch sie sind meist in phantastischen, (alp)traumnahen Situationen angesiedelt. In den letzten 20 Jahren, die hier vorüberziehen, hat sich am Stil nicht viel geändert. Auch bleibt das Spektrum der Ausdrucksformen relativ schmal. Man erlebt quasi „Markenzeichen”-Kunst, unverkennbar in sich gefestigt. Gänzlich neue Inspirationen lodern hier nicht. Gedämpfte Magie.

Formal klingt Surrealismus nach, farblich mischen sich Reminiszenzen an kunterbunte Pop-Art hinein. Wie weit liegt das alles zurück! Man fremdelt. Vor allem dann, wenn die Ausführung gar zu dekorativ und gefällig gerät. Selbst ein Bildnis dreier Schreckensherrscher (Hitler, Stalin, Mao) wirkt harmlos.

Übergänge zum (ehrbaren) Kunstgewerbe sind an manchen Stellen fließend. Gewiss: Einzelne Arbeiten durchbrechen die Begrenzungen. Rein handwerklich besehen, ist Wunderlich ohnehin eminent akribisch. Doch spannender wird’s, wenn er „bloß” genialisch skizziert und nicht penibel ausgestaltet.

Wiederholt hat sich Paul Wunderlich in traditionellen Beständen umgesehen. So malte er Paraphrasen (doch keineswegs Parodien) auf berühmte Bilder etwa von Cranach und Holbein oder aus der galanten Schule von Fontainebleau. Er überführt die Motive offenbar ziemlich reibungslos in seine eigene Welt. Wunderlichs Versionen wirken allemal „glatter” und somit steriler als die Vorbilder. Charakterfiguren gerinnen bei ihm rasch zu fast neutralen Emblemen.

Eros und Tod kristallisieren sich als althergebrachte, gar nicht so geheime Zentren dieser Bilder heraus. Wunderlichs Frauengestalten besitzen oft eine derart forcierte erotische Oberflächen-Aura, dass die männlichen Wesen nur noch gebannt starren.

Man könnte also angesichts dieser Kunst die eine oder andere Obsession ein wenig spazieren führen. Doch man dürfte kaum aufgewühlt sein. Erregung und Erschütterung fühlen sich anders an.

Paul Wunderlich – „Poesie und Präzision”. Schloss Cappenberg in Selm-Cappenberg. 2. September bis 2. Dezember. Di-So 10-17 Uhr. Eintritt frei, Katalog 24,90 €. Ganz neu im Schloss: ein kleiner Museums-Shop.




Balthus: Zwischen Unschuld und Verführung

Halb sitzt sie noch, halb liegt sie schon. Pose und Mimik des Mädchens sind gleichermaßen traumverhangen wie lasziv. Der Ausdruck flimmert zwischen Unschuld und Verführung.

Der Blick des Malers und somit das Augenmerk Betrachters richten sich auf den weiß aufblitzenden Schlüpfer unter ihrem hochgerutschten roten Rock. The´rèse, die dem Künstler Balthus 1938 hierfür Modell saß, war damals erst zehn oder elf Jahre alt . . .

Der Franzose Balthus ist berüchtigt wegen solcher begehrlichen Lolita-Bildnisse. Mit welcher malerischen Inbrunst er sich allein schon den entblößten Knien dieser Pubertierenden gewidmet hat, die nicht mehr kindlich spielen und niemals lächeln! So fing er die halb unbewusst erwachende Erotik sinnend in sich gekehrter Nymphen ein. Das erscheint heikel, ja mitunter skandalös. Und ist skandalös gut gemacht. Fast hilflos steht man vor derlei überragender Könnerschaft.

Noch nie hat es eine Balthus-Werkschau in Deutschland gegeben. Kein einziges seiner Werke gehört hierzulande einer öffentlichen Sammlung. Das Ludwig Museum wagt sich auf Pioniergelände. Exquisite Übersicht: 70 Gemälde und Zeichnungen aus den Jahren 1932 bis 1960 sind in Köln zu sehen.

Hie und da walten zwar surrealistisch inspirierte Raumverhältnisse. Doch zur Avantgarde seiner Zeit hat Balthus (1908-2001) Abstand gehalten. Seine Anregungen reichen von der italienischen Renaissance über französischen Klassiszismus bis hin zu Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter”, dessen haltlos im Raum schwankende Figuren ein Prägemuster für etliche Balthus-Szenen sein dürften. Häufig sind auch tradierte biblische bzw. mytholgische Szenen die Folie für diese verschwiegene Sonderwelt.

„Aufgehobene Zeit” lautet der Untertitel der Schau, einen „zeitlosen Realismus” hatte Balthus im Sinn. Tatsächlich scheint der Zeitfluss in den Bildern angehalten zu sein. Immer wieder, manchmal jahrelang habe sich Balthus an dieselben Gemälde begeben, heißt es. Es mangelte ihm wahrlich nicht an Selbstbewusstsein, er legte für sich die allerhöchsten Maßstäbe an. Just deshalb war er nie vollkommen zufrieden mit den Ergebnissen. Unaufhörlich am „einzig wahren” Bild zu arbeiten, das wiederum den flüchtigen Moment zum endlos gespannten Augenblick einfriert – dies war wohl das unerreichbare Ideal.

Phantasien über
weibliche Opfer

Unerlöst, oft auch etwas unheimlich wirken diese Bilder. Manchmal auch sehr unheimlich. Ein nacktes junges Mädchen liegt als „Das Opfer” (1939-1946) mit verdrehten Gliedmaßen auf ein Bett hingestreckt. Auf dem Boden ein Messer, aber nirgendwo Blutspuren – nur scheint ein bleicher Todeshauch das Zimmer zu durchwehen. Oder: Ein Mädchen mit gewaltsam (?) geöffneter Bluse droht hinterrücks aus dem „Fenster” (1933) zu stürzen, sie macht eine abwehrende Geste. Der zuweilen schmerzlüsterne Balthus soll sein Modell mit einem Messer erschreckt haben, um ihren entgeisterten Gesichtsausdruck zu sehen.

Vorskizzen verraten es: Mit mathematischer Präzision hat Balthus seine Bildräume berechnet, auch Lage und Stellung der Körper im Raum sind genau kalkuliert – und werden dann doch ins Rätselhafte gewendet.

All dies ist ungemein delikat ausgeführt. Geradezu altmeisterliche Feinmalerei ist hier zu bewundern, bis in kleinste Schattierungen hinein. Es sind prekäre Sujets, doch sie bleiben meist in unbestimmbarer Schwebe. Keine Pornographie, sondern Kunst – im Grenzbezirk.

„Balthus – Aufgehobene Zeit”. Museum Ludwig, Köln (direkt am Hauptbahnhof). Bis 4. November. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 35 Euro.

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Info:

  • Balthus lebte von 1908 bis 2001. Er hieß eigentlich Balthazar Klossowski.
  • Nach der Trennung von seinem Vater stand Balthus‘ Mutter, die aus Breslau (heute Wroclaw) stammte, zeitweise dem Dichter Rainer Maria Rilke sehr nahe.
  • Rilke förderte den begabten Jungen und dachte sich den Künstlernamen aus.
  • Schon die erste Ausstellung geriet 1934 zum Skandal.
  • Seit den späten 50er Jahren verlegte sich Balthus auf meditative Landschaften – eine nicht mehr „anstößige” Sehnsucht.



Buergelmaschine: Mona Lisa trifft Krümelmonster

Das Problem kennt man nicht nur aus Kassel: Wenn Kunst selbst nicht mehr deutlich „spricht” (weil sie in „Konzepten” erstickt), dann müssen die Interpreten umso weitschweifiger reden. Allen voran der documenta-Chef Roger M. Buergel. Sein mit allerlei intellektuellem Lametta geschmückter Jargon beim Beschreiben der Kunst wird jetzt auf einer Internet-Seite trefflich verulkt.

Dem Manne fällt noch zu jedem Kunstprojekt eine sprachliche Wendung ein, die manchmal auf wolkige Art – so gut wie gar nichts besagt. Das hat auch die Leute des Blattes „Exot” (Zeitschrift für komische Literatur) dermaßen entnervt, dass sie ihre Computer mit den 50 geschwollensten Original-Phrasen gefüttert haben, die immer wieder neu zu irrsinnigen Sätzen komibiniert werden können. Das Resultat? Wohlfeil, aber vielfach auch witzig.

Das Verfahren im Netz ist simpel: Man lädt ein beliebiges Bild hoch, versieht es mit dem wirklichen oder einem Wunschtitel – und fordert per Mausklick die Deutung an. Und schon rattert sie, die zufallsgesteuerte „Buergelmaschine”, die jegliches Kunstwerk gründlich plättet – wie nur je eine Bügelmaschine.

Mehrere Nutzer haben Leonardos berühmte „Mona Lisa” eingestellt. Wir erfahren dazu im typischen Buergel-Sound, dieses Gemälde sei „die Projektion eines Gesellschaftskörpers im Sinne einer Gemeinschaft der Gleichen.” Passt nie und immer. Im zweiten Anlauf heißt es über dasselbe Bild, Leonardo versuche, „die Strukturen der digitalen Informationsgesellschaft zu verstehen.” Dieser Maler war eben weitsichtig.

Ein biedermeierliches Idyll von Carl Spitzweg wird so „erklärt”: „Grundthese der klimaveränderungsgebeutelten Arbeit ,Der Bücherwurm‘ ist die lyrische oder sogar ekstatische Seite der Kunst.” Gut, dass es mal einer sagt. Auch das mit dem Klima.

C. D. Friedrichs romantischer „Wanderer über dem Nebelmeer” bleibt auch nicht ungeschoren: „Trotz der Partydekadenz des Kunstmarktes ermutigt Caspar David Friedrich (dazu), Betroffenheitskitsch zu aktivieren . . .”

Richtig abstrus wird es aber erst, wenn die User keine anerkannten Kunstschöpfungen, sondern populäres Bildwerk hochladen. Ein Porträt des Krümelmonsters etwa, das lauthals „Kekse!” verlangt. Dazu heißt es ganz beherzt: „Das Spannungsfeld von Konvention und Imagination der konsumistischen Arbeit ,Kekse!‘ ist das bloße Leben.” Man hat es doch immer schon geahnt, oder?

Ein Briefmarken-Doppelbildnis der alten Existenzialisten-Haudegen Käpt’n Blaubär und Hein Blöd haben wir bisher freilich nie zu würdigen gewusst – bis wir diese durchtriebene Auslegung gelesen haben: „Im Rahmen von Performances fordert Hein Blöd, die Formentypologie der Moderne zu vernichten (…) Das bestimmende Moment der Irritation der leisen und differenzierten Arbeit ,Käpt’n Blaubär‘ ist Jean-Paul Sartre.”

Maus, Ente und Elefant aus der „Sendung mit der Maus” erfüllen gleichfalls eine Mission: „Das Verhältnis von Unterwerfung und Freiheit auslotend”, will das Trio nämlich den „negativen Raum als Provokationsstrategie” zur Debatte stellen, und das auch noch in der „traumlosen Hölle des Realen”. Mauseken, wie haste dir verändert!

Natürlich können es manche nicht lassen und setzen Bildnisse unbekleideter Damen völlig ungeschützt dem deutenden Zugriff aus. Eines heißt vielsagend „Höhepunkt”. Die Deutung erhebt sich weit übers Fleischliche: „Triviale Erkenntnis der unterkomplexen Arbeit ,Höhepunkt‘ ist das Grundgefühl der Verlorenheit in Kassel.”




Die wackligen Bilder der Wirklichkeit – Rubenspreisträger Sigmar Polke stellt in Siegen aus

Von Bernd Berke

Siegen. Sigmar Polke, seit vielen Jahren auf den Kunstranglisten der Welt stets mit an der Spitze, stellt in Siegen aus – und hat eigens für diese Schau rund 30 neue Bilder geschaffen. Na, wenn das nichts ist!

Der 66-Jährige erhält an diesem Sonntag den 11. Rubenspreis der Stadt Siegen und fühlt sich offenbar zu tätigem Dank verpflichtet. Sonst hätte er wohl nicht in den letzten Wochen wie ein Berserker an den neuen Werken gearbeitet. Aber er ist wahrscheinlich ohnehin ein Workaholic.

Was man im Siegener Museum für Gegenwartskunst zu sehen bekommt, ist nicht leicht zu sagen. Denn just darum geht es ja bei Polke meist: um Irritationen der gewohnten Wahrnehmung, um vielfaltig überlagerte Sichtweisen. Nichts ist, wie es scheint – und nicht einmal das ist gewiss. Beispiel: Neckische Szenen mit dänischen FKK-Anhängern wirken, von Polke optisch aufbereitet, noch um einige Grade abstruser.

Mal aufgerastert, mal durchsichtig

Der Rundgang führt an etwa 80 Arbeiten (entstanden seit 1982) vorüber, die aktuellen Bilder für Siegen erhalten somit einen werkhistorischen Hintergrund. Man sieht dabei keine barschen Bruchlinien, sondern konsequente Fortführung im gleichen regen Geiste. Schicht um Schicht, prinzipiell endlos in alle Richtungen verlängerbar.

Ein Verfahren, das sich durch die gesamte Ausstellung zieht, beruht auf grobkörnigen Rasterpunkten, mit denen Polke mancherlei Motive aus der herrschenden Bilderflut gegriffen und verfremdet hat. Wer nah davor steht, sieht fast alles verschwimmen. Erst aus der Distanz schälen sich schemenhaft Figuren heraus – nie greifbar, immer flüchtig wie das Leben und Sehen selbst.

Scherz und Ironie können an jeder Ecke lauern. Vorschnelles Wissen nützt nichts. Wer Polkes Bilder deuten will, bleibt gehetzter Hase. Der Künstler wartet schon am Ende des Ackers – gleichsam als Igel, der immerzu schon eine Furche weiter ist.

Eine zweite Hauptlinie durchs Museum ergibt sich aus den transparenten Bildern. Polke hat hierzu etliche Techniken ersonnen, wie er denn überhaupt ein Tüftler vor dem Herrn ist. So zeigt er Serien, die vollends durchsichtig sind und von beiden Seiten her betrachtet werden können. Selbst größere Formate wirken da luftig. Wenn man schon einen biographischen Hinweis sucht: Sigmar Polke als junger Mann (ab 1959) in Düsseldorf eine Glasmaler-Lehre absolviert.

Neuerdings experimentiert Polke mit einer Sorte von Vexierspielen, die vage an die„Wackelbilder“ aus Kindertagen erinnern. Vor den Malgrund setzt er transparente, ganz leicht gewellte Flächen aus einer harzigen Substanz. Geht man vor den Bildern hin und her, wandeln sie sich unaufhörlich. Es sind flackernde Phantome.

Hintersinnige Tapetenmuster

Ein Mann wie Polke kann schier alles machen. Selbst wenn er Gardinen- oder Tapetenmuster aneinanderfügt, fließt kunstgeschichtlicher Hintersinn mit in die Ornamente hinein. In derlei Fällen geht es rasch um das Bild „an und für sich“; keineswegs vertrackt und verkopft, sondern sinnlich. Man darf in erlesenen Farben schwelgen.

Apropos Tradition: Seine Motive schöpft Polke oft aus dem „Pop“ verflossener Zeiten, etwa aus volkstümlichen Darstellungen des 19. Jahrhunderts. Häufig nimmt er Figuren aus Märchen oder Comics auf – oder er lässt gleich eine ganze magische Szenerie mit Zauberer und Fledermäusen irrlichtern.

Manche der brandneuen Bilder trugen bis gestern noch gar keine Titel. Der Meister denkt noch darüber nach, heißt es. Dabei wollen wir ihn bis Sonntag nicht stören.

Sigmar Polke – Ausstellung zum Rubenspreis. Museum für Gegenwartskunst. Siegen. Unteres Schloss 1. Ab Sonntag, 24. Juni (an diesem Tag Eröffnung 14 Uhr, geöffnet bis 20 Uhr), bis 16. September. Di bis So 11-18 Uhr, Do 11-20 Uhr. Eintritt 3,90 Euro. Katalog erst im August.

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ZUR PERSON

Auf der Szene seit den frühen 60er Jahren

  • Sigmar Polke wurde am 13. Februar 1941 in Oels (Schlesien) geboren. 1945 flüchtete die Familie nach Thüringen, 1953 siedelte sie aus der DDR nach West-BerIin über.
  • 1961 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf.
  • 1963 Erste Galerie-Ausstellung in Düsseldorf, unter anderem mit Gerhard Richter. Proklamation des so genannten „Kapitalistischen Realismus“.
  • 1972 erstmals Teilnahme an der documenta.
  • Ab 1977 bis 1991 Kunstprofessor in Hamburg.
  • 1978 Umzug nach Köln, wo Polke seither lebt und arbeitet.
  • 1997 Große Retrospektive in Bonn und Berlin.



Wenn rohe Kräfte der Natur die Kunst verbessern – Der Mohn, der Reis und die zerstörte Skulptur: Klima betrifft auch die documenta

Von Bernd Berke

Nicht nur das Kino hat mit dem Wetter zu schaffen, sondern auch die bildende Kunst. Und wie! Bei der documenta in Kassel können sie Lieder davon singen.

Die erst seit einer knappen Woche laufende Weltkunstschau ist bereits mehrfach von ungünstiger Witterung betroffen. Vor allem die großflächigen Blickfänge wollen und wollen nicht gedeihen. Das vor dem Fridericianum ausgesäte Mohnfeld der kroatischen Künstlerin Sanja Ivekovic mag die ersehnten roten Blüten nicht herzeigen. Ständiger Regen hat die meisten Keime ausgewaschen.

Ganz anders gelagert ist das Problem im Falle des Reisfeldes am Schloss Wilhelmshöhe, angelegt vom Thailänder Sakarin Krue-On. Das hierfür dringend nötige Wasser versickert fruchtlos im porösen Boden. Jetzt will man notgedrungen von Nass- auf Trockenreis umstellen.

Hier wie dort ist Geduld gefragt, bis die Pflänzchen der Kunst endlich sprießen. .Doch damit nicht genug der klimatischen Sorgen.“ Der Chinese Ai Wei Wei (derjenige, welcher‘ 1001 Landsleute als lebendes Kunstwerk nach Kassel holt) hat auch eine turmförmige Holzskulptur gebaut, die von einem Kasseler Unwetter zum Einsturz gebracht .wurde. Da rufen wir „O wei!‘ und „Potzblitz“!

Ist es etwa absichtliche „Dekonstruktion“? 

Mit all diesen betrüblichen Informationen versehen, legte man sich schon mal passende Deutungen zurecht. Waltete hier nicht pure Absicht? Der schlaue, mit allen Wassern der Theorie gewaschene documenta-Chef Roger M. Buergel hatte doch bestimmt mal wieder „Dekonstruktion“ (sprich: gezielte Zerlegung) von Kunst im Sinn. Überdies besseres Mittel als Pannen und Schäden, um jeden Tag in die Presse zu kommen.

Ertappt, lieber Herr Buergel! Sie haben im Vorfeld einfach zu oft die besondere Schönheit unvollendeter Werke gepriesen, die sich im Lauf der Zeit verändern. Jetzt wissen wir, wie Sie das anstellen.

So phantasierte man sich in Glossenstimmung hinein und wollte gerade zu schreiben beginnen. Doch just da kamen die neuesten Zitate aus Kassel, die den ironischen Zugriff hinter sich lassen.

Ai Wei Wei denkt nämlich gar nicht daran, seine Skulptur wieder aufzubauen. Er glossiert den Vorfall selbst: „Das ist besser als vorher. Jetzt wird die Kraft der Natur sichtbar.“ Und er fügt im Hinblick auf einen konkreten Kaufinteressenten hinzu: „Der Preis hat sich soeben verdoppelt.“

Auch documenta-Chef Buergel, der gestern barfuß durch Pfützen watete und die Einsturzstelle besah, findet, dies alles sei „nur konsequent. Die Trümmer lassen jetzt jede Menge Assoziationen zu.“ Ja, warum dann nicht gleich so? Warum überhaupt anfangs intakte Arbeiten hinstellen? Na, wie gesagt: Damit es Schlagzeilen gibt.




Verlustmeldungen aus dem Schloss Wilhelmshöhe – „documenta XII“: Aktuelle Arbeiten schrumpfen neben Rembrandt und Rubens

Von Bernd Berke

Kassel. Wie sollen Besucher die documenta bewältigen? Ausstellungs-Chef Roger M. Buergel hat auch hierfür einen Rat: Lieber 20 Minuten still und innig vor einem einzigen Werk verweilen anstatt „wie ein rasender Reporter“ das komplette Aufgebot sehen zu wollen und nachher im Hotel zusammenzubrechen.

Das rechte Maß der Vernunft dürfte irgendwo in der Mitte zwischen beiden Verhaltensweisen liegen. Wenn man den Parcours im Aue-Pavillon beginnt, hat man zumindest schon mal die ärgste ästhetische Zumutung hinter sich. Nicht wegen der gezeigten Werke, die hier nur bedingt gedeihen können, sondern wegen des scheußlichen (gottlob temporären) Neubaus. Dieses monströse Gewächshaus hat zweifelhaften Baracken-Charme und verschandelt das Umfeld der historischen Orangerie. Drinnen herrscht bei Sonnenwetter Treibhausklima.

Trost und Balsam gibt’s vor allem in einigen Bereichen des Fridericianums, beispielsweise im Bannkreis einer famosen Installation der Brasilianerin Iole de Freitas. Mit einem windungsreichen Gebilde aus Stahlrohren und Plexiglas bringt sie ihren Raum geradezu tänzerisch zum Schwingen und Schweben. Auf Wiedersehen, Schwerkraft. Hier ist ein Stück vom Reich der Freiheit.

Fünf große Stätten hat diese Weltkunstschau. Man sollte gut und gern zwei Tage dafür einplanen, zumal das erstmals einbezogene Schloss Wilhelmshöhe etwas außerhalb liegt. Das zwangsläufig etwas ungerechte, meinetwegen vorläufige Fazit nach all den Rundgängen fällt zumindest zwiespältig aus. Über gar zu lange Strecken überwuchern (meist edle) politische Absichten das künstlerische Kapital. Nur wirklich starke Werke bestehen gegen die gedanklichen Frachten, die der Kunst hier vielfach aufgebürdet werden.

Weite Teile der documenta muten ziemlich spröde an, angestrengt buchhalterisch, zuweilen sogar verbissen. (Selbst)ironische Wendungen bleiben ebenso rar wie saft- und kraftvolle Schöpfungen. Geradezu schmerzlich wird dies im Schloss Wilhelmshöhe spürbar, wo man punktuell alte und neue Kunst miteinander konfrontiert. Neben den Gemälden eines Rembrandt oder Rubens schrumpfen die meisten aktuellen Arbeiten zu bloßen Verlustmeldungen. Da merkt man, wie gründlich das Menschenbild seither beschädigt worden ist. Wie soll man es nur zeitgemäß zurückgewinnen? An dieser Frage mühen sich heute die Allerbesten ab – allen voran Gerhard Richter, dessen vielschichtiges Mädchenbildnis „Betty“ (schon von 1977) in Kassel zu den Ikonen zählt.

Zurück zum Agitprop. Gegenüber dem Fridericianum kreist ein Karussell des Künstlers Andreas Siekmann, das auf reichlich plakative Art gesellschaftliche Ausgrenzung anprangert. Polizisten tragen hier als Pappkameraden gleich die glasklare Aufschrift „Violenzia“ (Gewalt) auf ihren Schutzschildern vor sich her. Auf wenig vorteilhafte Art wird auch Bundespräsident Horst Köhler als Agent der Geldmächte dargestellt – in seiner früheren Funktion bei der Weltbank. Köhler wird just heute zur documenta-Eröffnung erwartet. Doch sein protokollarisch vorgezeichneter Weg macht ums Karussell einen weiten Bogen…




All die tiefen Wunden dieser Erde – Die documenta XII versucht die Abkehr von eurozentrischen Perspektiven

Von Bernd Berke

Kassel. Wer wollte bestreiten, dass „wir“ der so genannten Dritten Welt vieles Übles angetan haben – von kolonialistischen Zeiten bis zur heutigen neoliberalen Herrschaft der Geldströme. Bei der Kasseler documenta XII kann man in zahlreichen Details nachvollziehen, zu welch desolaten Verhältnissen dies führt. Da bleibt, um ein documenta-Schlagwort aufzugreifen, meist wirklich nur das notdürftig „bloße Leben“ übrig.

Was einer Weltkunstschau bestens ansteht, ja geradezu zwingend ist: Etliche Beiträge kommen aus Indien, China, Südamerika und afrikanischen Ländern. Mehr oder weniger verbrämte eurozentrische Sichtweisen herrschen in der sonstigen Westkunstszene genug.

Beim weitläufigen Streifzug durch die ersten drei documenta-Schauplätze (Fridericianum, documenta-Halle, Aue-Pavillon) beschäftigt einen manche ausufernde Dokumentation zum weltweiten Elend, zur Zerstörung ganzer Lebensräume, zu allen Wunden dieser Erde  doch auch zu sämtlichen Arten der Gegenwehr und der Dissidenz.

Anwachsende Archive des Widerstands

Auch im Rückgriff auf die letzten Jahrzehnte werden gleichsam alle Möglichkeiten des Nicht-Einverstandenseins eingesammelt, so dass sich angehäufte „Archive des Widerstands“ ergeben – bis hin zu unscheinbaren, fotografisch festgehaltenen Aktionen eines Jiri Kovada, der in den 70er Jahren seinen Widerwillen gegen kommunistische Prager Zustände mit kleinsten Gesten auf der Straße anmeldete. Insgesamt scheint’s, als solle auf diese Weise ein Aufbruchsgeist wie von 1968 erneut heraufbeschworen werden.

Aber ergibt sich hier auch eine bewegende Ästhetik des Widerstands? Zuweilen schon, etwa bei Romuald Hazoumé (Nigeria), der aus alten Benzinkanistern ein monumentales Flüchtlingsboot gebaut hat und es als ebenso unabweisbar machtvolles wie mehrdeutiges Zeichen der Migration in den Raum stellt.

Von vornherein ausgemachte Feinbilder

Doch in einigen Fällen erschöpft sich das Protest-Potenzial in agitatorisch anmutender Wandzeitungs-Ästhetik. Da „stimmen“ von vornherein die Feindbilder, über die man sich offenbar gar nicht mehr verständigen muss. Die meisten Künstler freilich mühen sich ab mit peniblen Materialsammlungen oder mit Fragen nach der künstlerischen Darstellbarkeit politischer Vorgänge überhaupt. Viel Grübelstoff.

Die Schau ist denn auch weit entfernt von einer etwaigen „neuen Übersichtlichkeit“. Man wird kaum eine Kunstrichtung nennen können, die nicht in irgendeiner Form fürsorglich eingemeindet wird, zuweilen gar in ein und demselben Werk – so etwa bei Luis Jacobs schier endlosen Formen-Mutationen oder beim gigantischen, wahrhaft verwirrenden Auftritt der Cosima von Bonin in der documenta-Halle. Weiße Linien sind um ihre vielteilige Installation gezogen, damit man erkennt, was noch dazu gehört und was nicht.

Ein Netzwerk aus Kleidungsstücken

Und wie steht es mit dem angestrebten Dialog der verschiedenen Werke? Nun, oft wird man ihn herbeireden müssen. Irgendeine Verbindungslinie findet sich immer, notfalls durch intellektuelle Spökenkiekerei.

Die vielleicht schönste Raumabfolge der documenta überwältigt den Besucher auf sanfte, doch nachdrückliche Weise im altehrwürdigen Fridericianum. Zunächst trifft man ganz unvermittelt auf eine stille Choreographie der Tanz-Künstlerin Trisha Brown. Eine Gruppe junger Balletteusen bewegt sich wie in Zeitlupe über ein Netzwerk aus Kleidungsstücken. Sie schlüpfen mühselig herein und heraus. Das Wechselspiel aus körperlicher Anspannung und befreienden Momenten ergreift wohl jeden, der den Saal betritt. Mit anderen Worten: Der Raum ist wundersam erfüllt.

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AM RANDE

Stadtreinigung entfernt Kunstwerk

  • Zwei Tage vor der Eröffnung ist das erste Werk der documenta schon zerstört. Eine Arbeit der aus Chile stammende Künstlerin Lotty Rosenfeld fiel gestern der Kasseler Stadtreinigung zum Opfer, bestätigten die Ausstellungsmacher einen Bericht des Hessischen Rundfunks.
  • Rosenfeld hatte weiße Kreuze auf Straßen in Kassel gemalt. Die nicht informierten Stadtreiniger rissen aufgeklebte Markierungen ab und entfernten die Kreuze.
  • Rosenfelds Arbeit entstand in Anlehnung an eine eigene Aktion 1979 im damals noch diktatorisch von Augusto Pinochet regierten Chile.

 

 




Die Ratlosigkeit einfach aushalten – Was documenta-Chef Roger M. Buergel über „seine“ Weltkunstschau sagt

Von Bernd Berke

Damit das mal klar ist: Wir alle haben von Kunst keine Ahnung. Nicht nur interessierte Laien, sondern auch das werte Fachpublikum will documenta-Chef Roger M. Buergel (44) mit dessen ästhetischer Ignoranz konfrontieren. Auch sich selbst nimmt der Mann nicht aus. Kurz vor der Eröffnungs-Pressekonferenz, so bekannte er gestern, habe er sich noch einmal ganz ernsthaft gefragt: „Was mache ich hier eigentlich?“

Tja, was? Wie alle seine Vorläufer, so möchte auch Buergel die Weltkunstschau gleichsam neu definieren, als wären wir noch einmal in Gründerzeiten. Alles auf Null! Auf fast sämtliche Stars des Kunstmarktes (rare Ausnahme: Gerhard Richter) hat er verzichtet. Hintergedanke: Große Namen sind Schall und Rauch, sie würden nur vom Wesentlichen ablenken.

Und das heißt für diesen Ausstellungsmacher: Ungeahnte Beziehungen stiften zwischen den verschiedensten Kunstformen, auf dass uns das eine oder andere Licht aufgehe – nicht zuletzt mit politischen Folgen im Sinne einer grundsätzlichen Neubewertung. Die rund 480 Werke, denen somit einige Erwartung aufgehalst wird,  sollen nicht vereinzelt für sich stehen, sondern ihre Wirkungen im Auge des Betrachters vermengen, ja potenzieren.

Künstler, die dem Betrieb den Rücken gekehrt haben

Vorab garniert hat Buergel sein bewusst unscharf gehaltenes Konzept mit wolkigen Begriffen wie „Migration der Formen“ oder „das bloße Leben“. Arg verkürzt gesagt: Hier geht’s um formale Verwandtschaften quer über Kontinente und Epochen hinweg, dort ums völlig ungeschützte, ausgelieferte Dasein in Zeiten der Globalisierung.

In derlei weitherziger Auslegung lässt sich so manche Kunstrichtung unterbringen, gern auch im Rückgriff auf die Tradition – beispielsweise ein persisches Miniaturbild aus dem 14 Jahrhundert, das wiederum mit chinesischen Überlieferungen spielt. Auffällig: Etliche Arbeiten stammen aus den rebellischen 1960er Jahren, bevorzugt von Künstlern, die irgendwann dem Betrieb den Rücken gekehrt haben, um vorwiegend politisch zu arbeiten. Da hört man ‚was trapsen.

Doch vorsichtshalber hat Buergel schon mal ein weiteres Lernziel formuliert: Falls sie nicht aus noch ein wissen, sollen die Besucher eben „das Unentscheidbare aushalten“. Wird gemacht. Aber mal ehrlich: Bildende Kunst hat man in Worten ohnehin noch nie vollends ausschöpfen können. Sonst wäre das ganze Bildermachen ja witzlos.

Die Gefährtin ist als Kuratorin mit dabei

Erstmals wird eine documenta von einem Paar geleitet. Buergel hat seine Lebensgefährtin Ruth Noack als Kuratorin mit an Bord geholt. Sie beide haben erzählt, dass sie sich bei der Vorbereitung gelegentlich heftig gestritten haben. Doch es überwiegen wahrscheinlich die wohltätigen Synergie-Effekte.

Buergel trat gestern übrigens im orangefarbenen Langärmel-Shirt vor die kulturelle Weltpresse, fast hätte man’s für die Farbe eines Sekten-Gurus halten können. Tatsächlich haben Beobachter in der Szene schon vielfach „Pfingststimmung“ ausmachen wollen, sprich: Von dieser documenta erhoffen sich angeblich viele eine Art Erleuchtung.

Ai Wei Wei holt 1001 Chinesen

Noch jede documenta hatte ihre spektakulären „Hauptbilder“. Das Spektrum reicht von Christos“ aufgeblasener „Riesenwurst“ bis zu Jonathan Borofskys himmelstürmendem Mann, von Joseph Beuys` „ 7000 Eichen“ bis zu Walter de Marias in die Tiefe gebohrtem „Erdkilometer“. Was wird es diesmal sein? Vielleicht Peter Friedls ausgestopfte Giraffe (in einem palästinensischen Zoo bei Gefechten verendet). Vielleicht auch die in ästhetischer Absicht gepflanzten Mohn- und Reisfelder. Mit dem roten Mohn hapert’s jedoch noch.

Als Favorit darf jedoch der Chinese Ai Wei Wei gelten, der 1001 Landsleute nach Kassel holt. Bisher ist nur eine kleine Vorhut eingetroffen, Ende Juni kommen die Massen. Sie alle sollen sich in der Stadt umtun und das ihnen so fremde deutsche Leben und Treiben beobachten. Klingt doch spannend.

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HINTERGRUND

Alle fünf Jahre wieder

  • Die Kasseler documenta gilt weltweit als größte und wichtigste Überblicks-Ausstellung zur aktuellen Gegenwartskunst. Seit 1972 kehrt sie im Fünfjahres-Turnus wieder.
  • Die erste documenta gab es 1955. Gründungsdirektor war Arnold Bode, der die Schau 1964 erneut verantwortete. Diesmal heißt der Leiter Roger M. Buergel (Bild).
  • Weitere Leiter mit jeweils ganz eigenen Vorstellungen: Werner Haftmann (1959), ein 24-köpfiger „Kunstrat“ (1968), Harald Szeemann (1972), Manfred Schneckenburger (1977 und 1987), Rudi Fuchs (1982), Jan Hoet (1992), Catherine David (1997) und Okwui Enwezor (2002).
  • Die documenta XII ist ab Samstag, 16. Juni, bis zum 23. September geöffnet, täglich von 10 bis 20 Uhr.
  • Zentrale Ausstellungsorte: Fridericianum, documenta-Halle, Pavillon in der Karlsaue, Neue Galerie.
  • Tageskarte 18 Euro, zwei Tage 27 Euro, Dauerkarte 90 Euro, Schulklasse 6 Euro pro Kopf. Besucherservice / Führungen: Hotline o1805 / 11 56 11.

Fotostrecke: Mehr Bilder von der documenta auf der WR-Homepage




Jenseits der bloßen Ästhetik – Bundeskongress der Kunstpädagogen in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Die letzten Treffen gab’s in München und Leipzig, nun ist Dortmund an der Reihe: An der Uni und im Harenberg City-Center tagt von morgen bis Sonntag der Bundeskongress der Kunstpädagogen.

Welche Themen stehen auf der Agenda der rund 300 Teilnehmer? Die WR fragte den Dortmunder Kunstwissenschaftler Prof. Klaus-Peter Busse, der beim Kongress federführend ist.

In der wahrlich vielzitierten Pisa-Studie, bei der deutsche Schüler bekanntlich im Schnitt nicht geglänzt haben, seien die ästhetischen Fächer (Musik, Kunst) gar nicht berücksichtigt worden, sagt Busse. Also wollen die Kunsterzieher jetzt selbst eine Standortbestimmung vornehmen. Ein wachsendes Problem, doch auch eine Chance ist offenbar die kulturelle Verschiedenheit in den Klassenzimmern. Busses Wunsch: „Man sollte Fremdheit aushalten und ins Produktive wenden.“

In manchen Kulturkreisen herrscht gar ein religiös motiviertes „Bilderverbot“. Das dürfte herkömmlichen Kunstunterricht nicht gerade begünstigen. Busse erklärt, dass künstlerisches Denken zunehmend auch ohne (fertige) Bilder gelehrt werde. So etwa bei der Stadtteilarbeit und in Jugendzentren. Da gehe es eher um genaue Wahrnehmung („Wo leben wir eigentlich?“) und fruchtbare Phantasien zur Umgestaltung städtischer Räume. Auch Formen der Aktionskunst spielen eine Rolle.

Das Kongress-Motto beschwört etwas wolkig „Das (Un)vorhersehbare in kunstpädagogischen Situationen“. Damit dürften auch Störungen im Unterricht gemeint sein. Busse: „Im Fach Kunst sind manche ,Störungen‘ sogar erwünscht, weil sie die Kreativität fördern können.“

An neueren Bildwelten kommen auch Kunstlehrer nicht vorbei. Akuten pädaogischen Handlungsbedarf sieht Busse in Sachen Computerspiele und Handy-Videos. Mit den darin häufig enthaltenen (Gewalt)-Botschaften würden Kinder und Jugendliche bislang oft allein gelassen. Ein Themenfeld, das weit über bloße Ästhetik hinaus reicht.




Alles ist schön – besonders das Geld / Ein Phänomen des Zeitgeistes: Heute vor 20 Jahren starb der Pop-Künstler Andy Warhol

Von Bernd Berke

Der Kerl war ziemlich unfassbar, und er gibt bis heute Rätsel auf. Eine verstörend maskenhafte Erscheinung war diese bleiche männliche Diva – mit starkem Hang zu Kommerz und Glamour, doch auch zum düsteren Inferno des Lebens. Heute vor 20 Jahren ist der legendäre Pop-Künstler Andy Warhol nach einer Gallen-Operation gestorben – unter letztlich ungeklärten Umständen.

Der vormalige, schon gegen Ende der 50er Jahre gut bezahlte Werbegrafiker hat nach 1960 gar vieles in die Kunst eingeschleust, was vorher nicht drin war. Vor allem: blanke Reklame-Ästhetik, grelle Konsum-Fetische. Und eine „coole“ Haltung, wie man sie vorher kaum gekannt hatte. Nicht nur die Kunst, auch die Gestalt des Künstlers hat sich mit ihm noch einmal schillernd gewandelt. Gelegentlich hat Warhol gar das Menschenbild überschritten und sich zum quasi maschinellen Phänomen stilisiert.

Glorienschein für die banale Welt der Waren

Bevor die Linke sich anschickte, den „Konsum-Terror“ zu geißeln, glorifizierte Warhol die banale Warenwelt mit Serienbildern von Campbell’s-Suppendosen, Cola-Flaschen und Dollarnoten, die unter seiner Hand zu Ikonen der Zeit wurden. Ehe liebreizend harmlose Hippies von befriedeten Blumenwelten träumten, vervielfältigte er 1963 ungeniert schockierende Pressefotos von Unfällen und Selbstmördern ins Riesenhafte. Und wo andere mal vorsichtig Haschisch probierten, kursierten in Warhols kaputten Kreisen ganz selbstverständlich die harten Drogen.

Andy Warhol hat sich und seine Kunst vermarktet wie niemand zuvor. Ja, er hat just Geschäfte als Kunstform gepriesen. Zitat: „Ein gutes Business ist die faszinierendste Kunst überhaupt.“ So könnte auch ein Börsen-Guru reden. Joseph Beuys behauptete, jeder Mensch könne ein Künstler sein. Warhol postulierte: „Alles ist schön.“

Anything goes – auch schon mit Videotechnik

Klingt ja wirklich tolerant, kann aber geradewegs auf Verächtlichkeit und auf fürchterliche Nivellierung hinauslaufen. Alles gilt dann gleichermaßen viel oder wenig. Warhol ist Vorläufer einer so genannten Postmoderne, die sich um ästhetische Wertigkeiten und Hierarchien nicht mehr bekümmert: Anything goes. An der Spitze des Zeitgeistes betrieb er seine Sache so multimedial, wie es seinerzeit nur irgend möglich war. Auch die Videotechnik hat er als einer der ersten Künstler genutzt. Hätte er das Internet schon gekannt, so hätte er es wohl entscheidend mitgeprägt.

In seiner New Yorker „Factory“ (Fabrik) jedenfalls, wo sich Durchgeknallte jeder Sorte unter seinem Leitstern ausleben durften, entstanden nicht nur Siebdruck-Bilder (Porträt-Motive von Monroe bis Mao) wie am Fließband. Hier tobte sich die von Warhol geförderte Rockformation „Velvet Underground“ (Lou Reed, John Cale, Nico & Co.) im Stroboskop-Gewitter aus. Warhol schuf das berühmte Bananen-Cover der finster charismatischen Gruppe.

Monströse Filme aus der „Factory“

Im Umfeld der „Factory“ entstanden monströse Filme wie etwa „Empire“ – ein achtstündiger, starrer Kamerablick auf das Empire State Building. Oder wüste Streifen mit schäbigem Porno-Touch wie „Flesh“, „Trash“, „The Chelsea Girls“ und „Blue Movie“. Es war Warhol keinesfalls wurscht, was diese chaotische Werkstatt ausstieß. Alles musste am Ende seinen Stempel tragen. Trotz allem Laissez-faire ließ er in diesem Punkt nicht mit sich spaßen. Er galt als „Kontrollfreak“.

Wie ein Vampir, der das Leben aussaugt, fotografierte Warhol alles und jeden mit seiner Polaroid-Sofortbildkamera (damals eine avancierte Apparatur), am liebsten freilich Prominenz wie etwa Brigitte Bardot oder Bianca Jagger, die er auch bei den berüchtigten Partys im New Yorker „Studio 54″ um sich scharte. Denn da witterte er stets schon den Duft des Geldes, das diese Bilder einbringen würden. Er verlangte (und bekam) alsbald um die 30 000 Dollar für jedes Porträt.

Apropos: Die Preise für seine Werke haben jüngst noch einmal enorm zugelegt. Ein Mao-Bildnis von 1972 erzielte kürzlich in New York den Rekordpreis von 17,4 Millionen Dollar. Solche Zahlen hätten Warhol sicherlich gefallen.

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ZUR PERSON

Eltern aus der Slowakei

  • Warhol wurde am 6. August 1928 als Andrej Warhola in Pittsburgh (USA) geboren.
  • Seine Eltern waren slowakische Einwanderer.
  • Mit 21 zog er nach New York, wurde Werbegrafiker und zeichnete für Magazine wie „Glamour“, „Vogue“ oder „Harper’s Bazaar“.
  • Seine erste Ausstellung als Künstler hatte er 1962 in einer Galerie in Los Angeles. Er zeigte Bilder von Campbell’s-Suppendosen.
  • 1963 gründete er die „Factory“ in New York.
  • 1968 schoss die radikale Frauenrechtlerin Valerie Solanas auf Warhol. Er wurde lebensgefährlich verletzt.
  • Später vermarktete er jene Bilder, die durch die Schüsse durchlöchert worden waren .. .

 




Die Zeit fließt still und langsam durch die Bilder – Zeichnungen und Graphiken von Malte Sartorius im Schloss Cappenberg

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. „In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.“ Das gute alte Goethe-Zitat trifft häufig zu. Für das künstlerische Werk von Malte Sartorius, das jetzt auf Schloss Cappenberg präsentiert wird, gilt es gleichfalls.

Früh hat Sartorius (Jahrgang 1933) erkannt, dass er als Maler scheitern würde, denn: „Ich denke nicht in der Farbe.“ Schon die schlierige Feuchtigkeit auf der Leinwand gefalle ihm an der Ölmalerei nicht, sagt er.

Also hat er er sich alsbald auf seine eigentlichen Begabungsfelder beschränkt: Zeichnung und Druckgraphik – zunächst noch mit fahlen Farben, dann in feinsten Graustufen. Darin hat es der emeritierte Professor (Kunsthochschule Braunschweig) längst zur handwerklichen Perfektion gebracht.

Seine Bilder sind geradezu auf fotorealistische Weise wirklichkeitsgetreu. Jeder Falten- und Schattenwurf, jedes Aufglimmen oder Gleißen des Lichtes sehen aus, als seien sie ganz unmittelbar da. Doch es ist Kunst, und also verbirgt sich etwas hinter der offensichtlichen Wirklichkeit.

Über 200 Arbeiten zeugen in Cappenberg von seinem präzisen Blick und von ungemein detailfreudiger Ausführung. Vor allem in Serien arbeitet dieser Künstler. Hat er einmal ein Thema für sich gefasst, so lässt er es so schnell nicht wieder los.

Oft stellt Sartorius nur ein paar Gefäße vor sich hin, breitet Textilien oder Früchte aus und zeichnet diese Stillleben dann geduldig bei wechselnden Tageszeiten. Immer wieder anders ergießt sich das Licht auf die gleichen Dinge. Es ist, als schleiche oder fließe die vergehende Zeit hindurch. Doch hier herrscht keine Verzweiflung über Vergänglichkeit, sondern milde, weise Betrachtung. Und manchmal scheinen die gezeichneten Dinge insgeheim miteinander zu flüstern.

Beim Erzählen über seinen Werdegang (schon mal wochenlang die Schule geschwänzt,, stattdessen durch Frankreich getrampt und dergleichen „Jugendsünden“) kann sich Sartorius auf Nebenwegen ausgeschmückter Einzelheiten verlieren. Durchläuft sein Schaffensprozess wohl ähnlich selbstvergessene Phasen?

Sartorius` Wahrnehmung richtet sich meist aufs Unscheinbare, bewegt sich an den Rändern des Geschehens, meidet jedes Lärmen und Getue. Selbst New Yorker Straßen finden bei ihm zu einer fast erhabenen Ruhe – all jene Mülltonnen, Feuerleitern oder Hydranten in der Stille von Sommernachmittagen. Wie auf Pinnwänden hat Sartorius Motiv an Motiv gefügt und dabei manche Bilder halb hinter anderen versteckt. Die Kunst des Weglassens.

Eine andere (Zeit)-Reise führte ihn 1989 in die entlegene chinesische Provinz Anhui, in der sich noch eine vormoderne Atmosphäre gehalten hatte. Auch hier waltet Stille. Und die angeschauten Dinge kommen einem so vor, wie es jener Filmtitel von Wim Wenders paradox besagt: „In weiter Ferne so nah.

Malte Sartorius: „Von der Suche nach Größe im Kleinen“. Selm, Sçhloss Cappenberg. Bis 20. Mai. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr. Eintritt frei, Katalog 20 Euro.

 




Im Wettstreit um die Wirklichkeit – Wuppertaler Museum folgt Malern und Fotografen durchs „Abenteuer Barbizon“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Anno 1849 wurde eine neue Eisenbahnlinie von Paris bis in den Wald von Fontainebleau getrieben. Was das mit Kunst zu tun hat? Eine ganze Menge. Denn fortan mussten Maler (und frühe Fotografen) nicht mehr die teuren, noch dazu engen und wackligen Postkutschen nehmen, um mit ihren sperrigen Utensilien in die Natur zu fahren.

In Scharen dampften sie nun mit dem Zug in die noch recht wilden Wälder rund um Paris. Hier im Grünen entstanden bald Künstlerkolonien, in denen man sich vorzugsweise der Freiluftmalerei widmete. Tatsächlich wäre der Impressionismus ohne diese neuen Verhältnisse nicht so entstanden, wie wir ihn kennen.

Wuppertals Von der Heydt-Museum betrachtet nun die Schöpfungen der unmittelbaren Vorläufer, die in der „Schule von Barbizon“ gipfelten. Rund 200 Leihgaben und 50 Exponate aus eigenem Besitz bietet man dafür auf. Museumsleiter Gerhard Finckh hat dem Haus eine neue Abfolge für den Rundgang und somit einen neuen „Rhythmus“ verordnet. Das zahlt sich auch bei „Abenteuer Barbizon“ aus. Trotz der zahllosen Landschaftsbilder wirkt die Schau abwechslungsreich und legt etliche Aspekte des Themas frei.

Fotografie fast gleichwertig vertreten

Werke von sieben Malern (bekannteste Namen: Jean-Baptiste Camille Corot,François Millet) und sieben Fotografen (Gustave Le Gray : u. a.) stehen im Mittelpunkt. Während die Lichtbildnerei sonst meist nur als Anhängsel gezeigt wird, ist sie hier fast gleichgewichtig vertreten. Nur muss man bei den empfindlichen alten Fotos (30 Lux Beleuchtungsstärke) genauer hinsehen als bei den Gemälden (200 Lux).

Fotografen und Maler haben seinerzeit offenbar einen recht friedlichen Wettstreit um die Wirklichkeit ausgetragen. In Barbizon schlossen sie Freundschaften und lernten voneinander. Manche Bildidee, deren Ausführung hernach in Öl prangte, dürfte auf den seinerzeit noch frischen „fotografischen Blick“ zurückzuführen sein. Etliche Maler bedienten sich bereits fotografischer Vorlagen, sie redeten nur nicht so gern darüber. Es hätte vielleicht an ihrem Genie-Status gekratzt.

Als die Realität im flirrenden Licht zerstob

Besonders aufschlussreich ist die Abteilung „Intime Landschaften“: Unter freiem Himmel gemalte Ansichten kommen nicht mehr mythologisch, anekdotisch oder sonstwie „aufgeladen“ daher. Statt dessen dominiert die puristische Nahsicht auf einzelne Phänomene, das Licht fällt natürlicher, stimmiger (und stimmungsvoller) als ehedem beim Nachvollzug im Atelier.

Den Übergang zur nächsten, heute ungleich berühmteren Stilrichtung kann man in Wuppertal bestens nachvollziehen: Denn bei den „Abenteurern“ von Barbizon konnten die Impressionisten anknüpfen. Ihnen zerstob die neu gewonnene Realität schließlich in flirrende Lichterscheinungen.

Barbizon hatte weitere Folgen: Angesichts massiver Waldrodungen für die Bahnstrecken formierten die Maler und Fotografen eine „grüne“ Bewegung. Sie gaben bedrohten Bäumen eigene Namen („Karl der Große“ usw.), um sie – gleichsam als beseelte Persönlichkeiten – zu retten.

Andererseits stimulierten gerade die Künstler den Ausflugstourismus mit ihren Bildern, die sie zuweilen im Taschenformat als Souvenirs anboten. Den Mechanismus glaubt man zu kennen: Jemand entdeckt und preist eine Naturschönheit – und leitet damit letztlich auch deren künftige Zerstörung ein.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). Bis 6. Mai. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 20 Euro.

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HINTERGRUND

Treffpunkt Gasthaus

  • Feuchtfröhlicher Treffpunkt der Künstler im Dörfchen Barbizon bei Paris war ein Gasthaus, die „Auberge Ganne“.
  • Barbizon wurde zum Muster vieler Künstlerkolonien, die im 19. Jahrhundert entstanden sind.
  • Die sieben wichtigsten Maler wurden „Pléiade“ (Siebengestirn) genannt.
  • Sie wurden in ganz Europa berühmt. Doch als die Impressionisten (Renoir, Manet, Monet usw.) aufkamen, gerieten die Vorläufer in Vergessenheit.
  • Das etwas zwiespältige Verhältnis der damaligen Maler zur 1839 erfundenen Fotografie formulierte der Spätklassizist Dominique Ingres: „Was für eine wunderbare Sache ist doch die Fotografie (…) aber man darf es nicht laut sagen.“

 




Die im Dunkeln sieht man nicht…: Bis zu 90 Prozent deutscher Museumsschätze schlummern in Depots – Beispiel Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Kaum zu fassen, was in den Kellern der Museen schlummert: Je nach Art des Hauses lagern etwa 40 bis 90 (!) Prozent der Besitztümer in den Depots. Beileibe kein Gerümpel, sondern vielfach Reichtum, der praktisch nie gezeigt wird.

Man kann es allerdings nur schätzen, denn vielfach sind die Bestände gar nicht aufgearbeitet. Die im Dunkeln sieht man nicht. Selbst Museumsdirektoren wissen oft nicht genau Bescheid – oder wollen nichts verraten. Eine komplette Erfassung wäre jedenfalls ein aufwendiges, kostspieliges Unterfangen.

Im Dortmunder Ostwall-Museum ist die Lage allerdings in diesem Punkt günstiger. Hier kennt man auch die „unsichtbaren“ Kunstwerke recht genau. Vor etwa zwei Jahren gab’s einen herben Wasserschaden im Stammhaus. Folge: Das Depot musste an drei Behelfs-Standorte ausgelagert weiden, in denen die sorgsam verpackten Kunstwerke in drangvoller Enge verwahrt werden. Die Adressen sind natürlich geheim, fotografieren ist dort strikt untersagt.

Die Dortmunder haben die Umzüge notgedrungen zur gründlichen Inventur genutzt. Rosemarie Pahlke, stellvertretende Museumsleiterin: „Aufräumen ist immer gut. Jetzt kennen wir uns aus.“ Dabei konnte man die Bilder nach Dringlichkeit ordnen: Welche müssen zuerst restauriert werden?

Wasserschaden zur Inventur genutzt

Rund 1200 Bilder und Skulpturen besitzt das Ostwall-Museum. Hinzu kommen fast 4000 graphische Blätter, die wegen ihrer Lichtempfindlichkeit meist drunten bleiben. Nur rund zehn Prozent der Bestände können ständig gezeigt werden.

Dortmund macht daraus eine Tugend: Seit zwei Jahren zeigt das Haus im Rotations-Verfahren immer wieder andere Werke, die aus dem Depot geholt werden. Titel der Reihe, die etwas Licht in die Finsternis bringt: „Sammlung in Bewegung“. Bis zum 4. März ist Teil III zu sehen, Museumsleiter Kurt Wettengl bereitet Teil IV vor und verspricht weiterhin Qualität: „Es lohnt sich immer noch.“

Gibt es auch Depot-Stücke, die er am liebsten abgeben würde? Wettengl verneint entschieden: „Alles hat seinen Wert!“ Selbst Kunstrichtungen, die heute weniger geschätzt werden, könnten später einmal Furore machen. Auch gelte es, das Museum mit seiner eigenen Sammlungsgeschichte als Ort des Gedächtnisses zu erhalten.

Ans Thema Depot knüpfen sich Nebenaspekte. Zu denken wäre an NS-Raubkunst, nach der immer intensiver gefahndet wird – oft auf Betreiben von Anwälten, die für die Erben tätig wrden. Was mag sich in dieser Hinsicht noch in deutschen Depots befinden? Museen in Hagen, Wuppertal und Duisburg sind mit derlei Rückgabe-Forderungen konfrontiert worden, Dortmund (noch) nicht.

Filzanzug und Lollis in der Werkstatt

Ein weites Feld ist just die Restaurierung. Selbst bei guten Bedingungen können im Depot auf Dauer Schäden entstehen. Das Ostwall-Museum hat wiederum Glück im Unglück. Erstmals gibt es hier eine feste Stelle für eine Restauratorin. Anke Klusmeier versieht den spannenden Dienst zwischen Chemie, Materialkunde, Handwerk und Kunstgeschichte. Derzeit überprüft sie einige monochrome Bilder mit Argusaugen auf winzige Schadspuren. Zuweilen trügt der Schein: Ein Bild von Anselm Kiefer zeigte arge Kratzer. Recherchen ergaben freilich, dass der Künstler sie willentlich erzeugt hat.

Spezielle Sorgen bereitet „Fluxus“-Kunst der 1960er Jahre, die sich aus Stoffen des Alltags nährte. So musste in Dortmund ein löchrig gewordener Filzanzug von Joseph Beuys „geflickt“ werden. Für ein Bild von Wolf Vostell, zu dem Dauerlutscher gehören, brauchte man Ersatz. Die Lollis waren schmierig ausgelaufen. Allerdings gibt es kaum noch Lutscher, die den „historischen“ Exemplaren entsprechen. Viele Süßwaren-Firmen mussten passen. Eine konnte schließlich helfen.

Eine Dauerlösung ist das verstreute Dortmunder Depot schon wegen der weiten Wege nicht. Eine Rückkehr in den Ostwall-Keller ist ausgeschlossen. So hoffen die Museumsleute auf den großen Wurf: Falls der frühere Brauereiturm „Dortmunder U“ eines Tages zum Museum umgebaut würde, wäre wohl auch die Depotfrage gelöst.

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INFO

In Siegen wird der Platz schon knapp

  • Weiteres Beispiel: das Museum für Gegenwartskunst in Siegen, das von Eva Schmidt geleitet wird. Hier enthält das Depot u. a. Teile einer wertvollen, stetig wachsenden Privatsammlung. Der Platz wird allmählich knapp.
  • Siegen hat ein reguläres Depot mit idealen Bedingungen: konstante Temperatur (18 bis 20 Grad), optimale Luftfeuchtigkeit von 58 Prozent.
  • Im Regelfall lagern hier beispielsweise auch Bilder des Hagener Malers Emil Schumacher, die allerdings derzeit (bis zum 20. Mai) im Hause ausgestellt sind.
  • Weitere Spitzenstücke im Depot sind einige Großformate von RupprechtGeiger. Sie verschwinden dort freilich nicht für Jahrzehnte, sondern werden immer mal wieder(als Leihgaben) irgendwo präsentiert. (bw/bke)