Über allem schwebt ein Licht: Zwei Ausstellungen über Christian Rohlfs – Münster sticht Hagen deutlich aus

Von Bernd Berke

Münster/Hagen. Viele, viele Jahre hat der Künstler Christian Rohlfs in Hagen gelebt, 1938 ist er hier gestorben. Man sollte denken, dass ihm, der längst zum Ehrenbürger der Stadt ernannte wurde, an diesem Ort eine Retrospektive ausgerichtet wird, weil sich sein Geburtstag (22. Dezember 1849) zum 150. Mal jährt.

Doch die Hagener lassen es im Hohenhof beim relativ knappen Einblick in den reichen Eigenbesitz bewenden. Derweil präsentiert das Landesmuseum in Münster die weitaus umfangreichere Schau – übrigens auch mit einigen Leihgaben aus Hagen. Absprachen wurden ansonsten offenbar kaum getroffen, denn gestern luden beide Häuser zur Vorbesichtigung ihrer Rohlfs-Ausstellungen ein – auf die Minute zeîtgleich.

Bearbeitung mit der Drahtbürste

Hagens „Heimvorteil“ ist leider dahin: Bevor man sich also der Kunst wegen in zwei Teile zerreißt, sollte man die prachtvolle Münsteraner Auswahl (Koproduktion mit der Kunsthalle Emden) vorziehen. Unter dem poetischen Titel „Das Licht in den Dingen“ sind hier rund 170 Arbeiten zu besichtigen, mehrheitlich Tempera-Bilder aus dem ungeheuer leuchtenden Spätwerk.Der Künstler bevorzugte mit zunehmendem Alter diese wasserlösliche Farbsorte, weil sie es ihm erlaubte, seine Bilder lichter und transparenter zu gestalten. Er wusch manche Bildpartien regelrecht aus und rückte ihnen gar mit einer Drahtbürste zuleibe, um jenes ganz besonders helle „Schweben“ der Farben zu erzielen. So gerieten vor allem die überaus zahlreichen Blumenmotive zu schwerelosen Erscheinungen.

Christian Rohlfs gilt gewissen Kunstlexika immer noch als Parteigänger des Expressionismus, doch mit derlei Einordnung erfasst man sein allzeit experimentierfreudiges Wesen nimmer. Er war ja auch schon in seinen 50ern. als die Künstlergruppe „Die Brücke“ gegründet wurde, und damit eher eine Vaterfigur für die Expressionisten. Der Mann mit dem Faible für Freiluftmalerei hatte bereits naturalistische und impressionistische Werkphasen abgeschlossen. Schon 1901 war er, auf Bitten des Mäzens Karl-Ernst Osthaus, von Weimar nach Hagen umgesiedelt. Später zog es ihn oft nach Ascona, und er verbrachte meist nur noch die Wintermonate in Westfalen.

Vielleicht war es ein psychologischer Impuls für das Spätwerk, dass der fast 70-Jährige (übrigens im damaligen Hagener Folkwang-Museum) 1919 die um vieles jüngere Helene Vogt heiratete. Neue Liebe, neue Schaffenskraft.

Eigentlich alle Werke, die nun in Münster zu sehen sind, zeugen von tief empfundener Liebe zum Dasein, zu den kristallinen Momenten des Wachsens und Werdens in der Natur. Hier darf der Betrachter meist in sanften Harmonien schwelgen und zum bildnerischen Augenblicke sagen: „Verweile doch, du bist so schön…“

Doch nicht alle Bilder wirken ätherisch. Rohlfs konnte durchaus „zupacken“ und bedrohliche Szenarien („Mondschein mit schwarzer Wolke“, 1934) aufragen lassen.

Etwas letztlich Ungreifbares waltet über all den Blumensträußen, Gebirgs- und Seenlandschaften. Farbklänge und sprühender Lichteinfall setzen pure Energieströme frei, die weit über das jeweilige Motiv hinausweisen. Auf solche Art scheinen gar ganze Kirchen auf einem Lichtpolster gen Himmel zu streben.

Die Rituale der Ausdruckstänzerin

Formidabel auch der „Tatjana“-Zyklus, jetzt in seltener Vollständigkeit versammelt. Er zeigt, mit einer feinsinnigen Neigung zur asiatisch inspirierten Stilisierung, die Bewegungs-Rituale einer Ausdruckstänzerin, mit der sich Rohlfs angefreundet hatte.

Bescheiden und konzeptionslos wirkt demgegenüber der Hagener Griff in die eigenen Bestände (auch hier lockt freilich ein lyrischer Titel: „Musik der Farben“).

Vereinzelte Temperabilder sind in Hagen gleichfalls zu sehen. Allerdings lernt man eine ganz andere Seite des Christian Rohlfs kennen, der offenkundig auch einen Sinn fürs Karikaturistische hatte. So entwarf er – willkommen im üblen Club – per Holzschnitt gar ein „Stinkbock-Diplom“. Wem er’s wohl zugeeignet hat?

Landesmuseum Münster (Domplatz 10). Bis 13. Februar, Di-So 10-18 Uhr, Eintritt 10 DM, Katalog 48 DM.

Hohenhof Hagen (Stirnband 10). Bis 30. Januar 2000. Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 5 DM. Kein Katalog.

 




Der Touristen-Schock als farbliche Erregung – Schloss Cappenberg: Mehmet Güler malt Bilder zur Begegnung der Kulturen

Von Bernd Berke

Selm-Cappenberg. Seit Mitte der 70er Jahre wohnt der Künstler Mehmet Güler (55) in Deutschland, doch das hiesige Leben hat in seinen Bildern keine Spuren hinterlassen. Statt dessen richtet er den Blick immer wieder in seine türkische Heimat. Dort vollzieht sich, was Güler zutiefst beschäftigt: der kulturelle Wandel, den Touristen aus Mittel- und Westeuropa herbeiführen.

Entscheidender Moment des Schocks in der umfassenden Güler-Retrospektive auf Schloss Cappenberg: Wie zu Salzsäulen erstarrt, stehen links die dunkel verhüllten Silhouetten einiger anatolischer Frauen. Durch die Bildmitte verläuft eine zittrig-erregte Trennlinie in Grün, der Symbolfarbe des Islam. Rechts räkeln sich, freizügig und nackt, Touristinnen am sonnenhellen Strand. Welch ein heftiger Kontrast beim Aufeinanderprallen der Lebensformen.

„Patent“ auf ein besonders flutendes Blau

Bezeichnend die häufig wiederkehrenden Bildtitel: „Umzingelt“ fühlen sich die Einheimischen auf etlichen Bildern, und es herrscht vielfach „Aufregung“. Doch ebenso oft erscheint die Reibung der Kulturen in milderem Licht. Dann lauten die Titel beispielsweise „Erste Begegnung“, „Beobachtung“, „Gespräch“, „Dialog“ oder – ganz gelassen – „Mit der Zeit“. Zweischneidig auch der Titel der gesamten Schau mit Bildern seit 1969: Demnach ist die Touristenschwemme eine „Friedliche Besetzung“, aus der Versöhnliches oder Produktives entspringen mag.

Mehmet Güler ist freilich weit davon entfernt, derlei Befunde platt realistisch abzubilden. Die Ereignisse bleiben bloßer Anstoß zur künstlerischen ‚I’at. Es geht um die widerstreitenden Gefühle zwischen ängstlicher Abwehr und Verheißung ungeahnter Freiheiten, die vom Kulturschock ausgelöst werden. In Gülers Bildern gerinnen diese Emotionen zu schieren Farb-Ereignissen. Figuren sind nur noch schemenhaft zu erkennen.

Dominieren im früheren Werk noch die erdigen Nuancen, so wogen später zunehmend starke Töne mit- und gegeneinander. Sie lassen auch etwas vom buchstäblich „Bewegenden“ jeder menschlichen Begegnung ahnen.

Der Maler hat seine Palette so verfeinert, dass manche gar vom speziellen „Güler-BIau“ sprechen. Wie er diese flutende Farbe herstellt, in der die Augen geradezu baden können, bleibt aber sein „Betriebsgeheimnis“. Jedenfalls sieht man im Cappenberger Schloss reihenweise Kostproben in allen nur erdenklichen Schattierungen. „Freude am Blau“ heißen diese Arbeiten zumeist. Auch hier ist die touristische Situation nur Ausgangspunkt des bildnerischen Vorgangs: All das Blau des Himmels und des Meeres leuchtet gleichsam aus sehnsuchtsvoller Ferne mit hinein in diese traumnahe Welt der Kunst.

Schloss Cappenberg, bis 13. Februar 2000. Eintritt frei, Katalog 45 DM.




Verklärter Blick ins Jenseits – Werkschau über den Schweizer Ferdinand Hodler in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wahrheit geht vor Schönheit. So lautete ein Leitspruch des Malers Ferdinand Hodler (1853-1918), doch er hielt sich nicht immer daran. Tatsächlich wirken manche seiner Bilder etwas derb, ja ungeschlacht. Doch mindestens eben so sehr liebte er die andächtigen Motive, den verklärten Blick in ätherische Unendlichkeit. Wuppertals Von der Heydt-Museum zeigt in seiner Werkschau mit rund 140 Arbeiten beide Seiten des Schweizers.

Hodler stammte aus ärmsten Verhältnissen. Vor Beginn seiner Künstlerlaufbahn posierte er für Fotografien im geliehenen Anzug und im kurzzeitig gemieteten Atelier. Beides konnte er sich noch nicht dauerhaft leisten, doch er probte schon mal die großen Gesten eines Arrivierten.

Schon in jungen Jahren Waise geworden, musste er später oft genug erleben, wie der Tod ihm geliebte Frauen, Geschwister oder Kinder wegnahm. Vielleicht hat ihm seine tiefe Frömmigkeit, die sich in etlichen Motiven („Die Andacht“, „Anbetung“) Bahn bricht, darüber hinweg geholfen.

Eine zarte Elegie überstrahlt die großen Gesten

Doch zutiefst empfundene Freude am Hier und Jetzt wird man bei ihm vergebens suchen. In die fünf „Lebensmüden“ (nach 1893) konnte er sich offenbar einfühlen. Überhaupt zielt der Sinn des Malers aufs Jenseitige. Die Landschaftsbilder mit ihren endlos weiten Horizonten lassen es schon ahnen. Gelegentlich deutet Hodler auch die Erdkrümmung an, was wohl bedeutet: Die ganze Welt, das ganze Sein sind hier gemeint. Schwebende Wolken werden oft in regelrechten Flug-Formationen so angeordnet, als stammten sie aus einer besonderen Serien-Herstellung. Natur als künstliches Arrangement. Hodler selbst hat sich als „Symbolist“ begriffen.

Die Trauer um eine verstorbene Schwester hat Hodler im „Bildnis Louise-Delphine Duchosal“ (Schwester eines Freundes) mit eingefangen. Das Mädchen blickt so traumverloren, als schaue es aus dem diesseitigen Dasein hinaus. In der Hand hält sie eine kleine weiße, fast verwelkte Blume. Eine zarte Elegie, die manche allzu großen Gesten („Der Redner“), bei denen übrigens auch NS-Künstler ihre Anleihen machten, still überstrahlt.

Holzfäller-Motiv für Geldscheine

Intim, ohne jedes Auftrumpfen auch dies: Seine französische Geliebte Valentine hat er 1914 auf dem Sterbebett gemalt. Ihr zu Füßen schweben drei Rosenblüten. Ansonsten verblasst das Bild vorwiegend in Kalkweiß, es ist von den Farben des Lebens entleert.

Unter dem Einfluß des Jugendstils hat Hodler seine Kompositionen vielfach ornamental angelegt oder choreographiert wie einen Tanz: Vier emphatisch schreitende Frauen sollen „Die Empfindung“ (1901/02) versinnbildlichen. Man fühlt sich an einen Reigen gefühlsseliger Eurythmie erinnert. Zierde und Geziertheit gehen ineinander über.

Je erfolgreicher Hodler wurde, desto monumentaler seine Motive. Dies wiederum zog offizielle Repräsentations-Aufträge für Wandgemälde nach sich (Beispiel: „Der Auserwählte“ im Hagener Hohenhof).

Hodler entwarf auch Vorlagen für Schweizer Geldscheine: Sein machtvoll mit der Axt ausholender Holzfäller und ein die Sense schwingender Landmann waren allerdings zum Arger des Künstlers auf den Banknoten kaum wiederzuerkennen.

24. Okt. 1999 bis 3. Januar 2000. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 42 DM.




Die Melancholie des Hofnarren – Meisterwerke aus dem Prado in der Bonner Bundeskunsthalle zu sehen

Von Bernd Berke

Bonn. Als Diego Velázquez um 1640 den Kriegsgott Mars malte, sah er keinen machtvollen Herrn über Tod und Leben vor sich, sondern einen erschöpften Fußsoldaten, der all der Kämpfe müde zu sein scheint. Das Bild setzt einen von vielen Glanzpunkten jener Ausstellung, mit der jetzt das berühmte „Prado“-Museum aus Madrid einen Teil seiner Sammlungen in der Bonner Bundeskunsthalle vorstellt.

Hervorgegangen sind die überreichen Prado-Bestände aus den königlichen Sammlungen Spaniens. Die Bonner Schau konzentriert sich auf die Zeit Philipps IV. Unter dessen Regentschaft machte Velázquez nicht nur als Höfling und vor allem Hofmaler Karriere, sondern durfte (gleichsam als Kurator) die Kunstsammlung des Monarchen gezielt ergänzen. Sein erlesener Geschmack prägt also bis heute die Schatzkammern in Madrid.

Die dortigen Depots sind mittlerweile dermaßen gefüllt, dass der Prado erweitert und die Sammlung umgeschichtet wird. Diesem Umstand verdanken wir die Bonner Auswahl. Erst ein einziges Mal waren größere Teile der Sammlung außer Landes gegangen, und zwar zwangsweise: 1939, während des Spanischen Bürgerkriegs, wurden Kunstwerke zum Schütze nach Genf ausgelagert.

Velázquez, Rubens, Lorrain, Poussin…

Man protzt in Bonn nicht mit Masse, es sind 68 Werke zu sehen. Aber welche! Allein sechs Ölgemälde von Velázquez, dazu etliches von Peter Paul Rubens, Claude Lorrain, Nicolas Poussin und Francisco de Zurbarán. Hinzu kommen einige Künstler, die sich mit wechselndem Geschick an Velázquez orientierten.

Ein Meisterstück, das durch unmittelbare Konfrontation Mitleid weckt, ist Velazquez‘ Bildnis „Der Hofnarr Sebastián de Morra“. Der kleinwüchsige Mann diente damals zur Belustigung bei Hofe. Doch der Maler löst ihn aus diesem Zusammenhang und zeigt seine tiefe Melancholie. Man blickt ins Gesicht des Opfers der derben Spässe. Ein geradezu unwiderstehlicher Appell, die Würde zu wahren.

Überwältigend sodann die fleischlichen Dramen von Rubens, der stets den dynamischsten Augenblick der Mythen erfasst. Seine nackte Glücksgöttin „Fortuna“ (um 1636) taumelt auf einer zerbrechlichen Glaskugel. Puren Horror hinterlässt der rasende Gott „Saturn“ (1636), der eines seiner Kinder frißt, er reißt ihm mit bloßen Zähnen einen Fetzen aus der Brust. Irrsinniger Grund: Es ward ihm prophezeit, dass der Nachwuchs ihn vom Thron stürzen werde. Erschütternder lässt sich blutige Machtgier nicht darstellen. In den uralten Mythen steckt eben mancherlei.

Der lachende und der weinende Philosoph

Eine besondere Qualität der Ausstellung liegt darin, dass viele Bilder erstmals seit langem wieder in ihrem ursprünglichen Zusammenhang gezeigt werden, was im Prado selbst zuletzt nicht möglich war. Wie sehr sich das auswirkt, sieht man etwa anhand der beiden Denker, die Rubens imaginiert hat: „Demokrit, der lachende Philosoph“, der offenbar ein gutes Tröpfchen nicht verabscheut, und „Heraklit, der weinende Philosoph“, hängen nun als Sinnbilder grundverschiedener Gemütszustände beisammen.

Von ganz anderer, unendlich beruhigter Art sind die idealen Landschaften des Claude Lorrain. Zu grandioser, erhabener Weite öffnet sich der blassrot schimmernde Horizont, vor dem „Tobias und der Erzengel“ (1639) sich nahezu verlieren.

Nicht alle 68 Werke sind gleich stark, wie denn auch! Beispiel: Während Velázquez die Vorliebe seiner Zeit fürs Bizarre mit dem geschilderten Hofnarren ins Gegenteil kehrte, hat Juan Carreno de Miranda ein dickes kleines Mädchen als „Die nackte Mißgestalt“ (1680) nur noch als Objekt zur Schau gestellt.

Museo del Prado zu Gast in der Bundeskunsthalle Bonn (Museumsmeile, Friedrich-Ebert-AIlee 4). Bis 23. Januar 2000. Di/Mi 10-21, Do-So 10-19, Fr nur für Gruppen ab 9 Uhr. Eintritt 10 DM (ermäßigt 5 DM). Katalog 49 DM.




Siepmann-Retrospektive: Freiheit im Gerüst

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Heinrich Siepmann war immer ein ungemein stetiger und fleißiger Künstler. Allein 1220 Ölgemälde umfasst das Werkverzeichnis, das jetzt zur Retrospektive in Recklinghausen vorgelegt wird.

Kürzlich litt der 94jährige an einer Lungenentzündung – und was tat er? Er zeichnete im Krankenbett einige ganz wunderbare Pastelle. Gewiss trug das Schaffen zur Genesung bei: Am Sonntag will Siepmann zur Eröffnung seiner Werkschau in die Kunsthalle kommen.

In der so folgenreichen Künstlergruppe „junger westen“, die sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg formierte, tat sich Siepmann u. a. mit dem vor wenigen Tagen verstorbenen Hagener Maler Emil Schumacher und mit Gustav Deppe zusammen, der am 1. September dieses Jahres starb. Nun ist Siepmann, neben Thomas Grochowiak, einer der letzten lebenden Zeitzeugen des damaligen Aufbruchs.

Fenster-Bilder als frühe Vorläufer

Ganz anders als Emil Schumacher, von dem zur Erinnerung drei Bilder der Schau vorangestellt sind, hat sich Siepmann niemals dem Abenteuer der freien Gestik verschrieben. Vielleicht ist es just eine psychologische Grundfrage, welchen Weg man in der Gegenstandsferne wählt: Siepmann jedenfalls bedurfte stets der geometrischen „Gerüste“, die seine Arbeiten in Form halten.

Frühe Vorläufer waren jene „Fenster-Bilder“, also Ausblicke durch Rahmungen, die die Architektonik des Bildgevierts bestimmten. Daraus wurden alsbald abstrakte Linien und Balken, die Siepmann mit dem Lineal zog, dann aber doch malerisch ausfüllte. Nicht leblose Farbflächen erstrecken sich hier, sondern solche, denen man die Machart, die Spuren der Arbeit ansieht. Keine seelenlose Fabrikation, sondern Werk der Hände.

Außerdem unterlegt der Künstler seinen Bildern nicht etwa rechteckige Standard-Gerüste, sondern bringt die Ursprungs-Berechnung – immer wieder neu, immer wieder anders –  behutsam aus der Balance. Ganz leicht aus der Lot- oder Waagerechten gekippte Linien dynamisieren das Bild, erzeugen ästhetische Spannungszustände zwischen (meist vorherrschender) Planung und einer Ahnung von Chaos. Denn Ordnung allein wäre nur das halbe Leben.

Siepmanns bemerkenswert reichhaltige Farbpalette vergegenwärtigt man sich am besten anhand der feinstens nuancierten Weiß-Abstufungen. Doch auch das Rot taucht in mancherlei Schattierungen und Mischformen auf. Auf diese Weise gewinnen die Werke an Räumlichkeit und Tiefe.

Das Spiel darf heiter sein

Rund 70 Gemälde und 40 Collagen (vorzugsweise mit Wellpappe, Tapetenresten und Büttenpapier) von 1947 bis heute sind zu sehen. In seinen neuesten Arbeiten, etwa bei den eingangs erwähnten Pastellen vom Krankenlager, lockert sich die vormals manchmal doch etwas strenge Konstruktion.

Es scheint so, als habe Siepmann in seinen Neunzigern (am 30. November wird er 95) noch einmal eine ungeahnte Freiheit des heiteren Spiels entdeckt. Dies sehend, freut man sich mit. Denn man kann sich hinzu denken, dass niemals aller Tage Abend sein muss. Besser noch: Ein Stück davon kann man sich bewahren. Das Museum gibt nämlich die Pastelle zum Freundschaftspreis von je 400 DM ab.

Heinrich Siepmann. Retrospektive. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof / Tel. 02361/501931). 10. Oktober bis 28. November, Di bis So 10-18 Uhr. Katalog (komplettes Werkverzeichnis) 148 DM.




Die neuen Zeichen am Himmel – Überblick zum Spätwerk von Joan Miró in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Sonnenfinsternis hätten wir nun also recht glücklich hinter uns gebracht. Doch halt! Schon gibt es neue Himmelszeichen. Sogar ein völlig verfinstertes Zentralgestirn, aus dem dunkle Tropfen herabfallen, gibt es nun im Museum am Ostwall zu sehen. Es gehört – man glaubt es kaum – zu einer „schwarzen Serie“ von jenem Joan Miró, dessen Werke uns doch stets so froh und bunt erschienen sind. In Dortmund aber will man uns eben den „anderen Miró“ zeigen.

Die rund 60 Gemälde, 23 Skulpturen und 40 Grafiken, die in Dortmund präsentiert werden, stammen aus den Jahren 1966 bis 1981. Es geht also um das Spätwerk des 1893 in Barcelona geborenen und 1983 in Palma de Mallorca gestorbenen Künstlers. In dieser Dichte und Breite war das Altersschaffen in Deutschland bislang nicht zu sehen.

Lust auf „Mord an der Malerei“

Miró vollzog einen teilweise entschiedenen Bruch mit jenen liebenswerten Bildern, die zahllose Kalenderblätter oder auch T-Shirts zieren und die man sich (mal ehrlich!) schon ein wenig leidgesehen hat. Wecken sie auch vielfach freudige Gefühle, so hätte man’s doch gern auch mal etwas heftiger, sperriger. Das kann man haben. Jetzt in Dortmund.

Schon in den 30er Jahren war Miró, der die Ländereien des Kubismus und des Surrealismus durchschritten hatte, die Arbeit an der Staffelei zur Qual geworden. Am liebsten hätte er „die Malerei ermorden“ wollen. Ein Grund für die Wut war wohl auch die ärmliche Enge seiner Wohnung in Paris. Ein großes Atelier mußte her, dann konnte man vielleicht endlich aufatmen und von vorn beginnen…

Miró fand sein ersehntes Refugium 1954 auf Mallorca, damals noch eine ruhige, von Touristenmassen verschonte Insel ohne scheußlichen „Ballermann“. Statt dessen gab’s dort noch 77 Kürbissorten.

Erotik als Quelle des Schöpferischen

1956 ließ sich der Katalane auf Mallorca ein geräumiges Atelier nach seinen Wünschen errichten. So groß war es geraten, daß den Künstler anfangs eine Angst vor gähnender Leere befallen haben muss. Er hortete nun allerlei Fundstücke – rostige Nägel, leere Dosen, interessant geformte Steine. Hinzu kommen einfache Bildträger wie Sackleinen oder billiges Holz. Eine Kunst, die nicht stolz triumphiert, sondern so wirkt, als wolle sie wieder am Nullpunkt anfangen.

Manche der vorgefundenen Objekte wurden hernach Bestandteile von Bronze-Skulpturen. Ein Hammer, an passender Stelle eingefügt in eine Figur („Personnage“, 1971), kann auf diese Art auch schon mal obszön wirken.

Überhaupt finden sich in der Dortmunder Schau etliche Beispiele für die erotische und somit schöpferische Anverwandlung der Welt. Sexualität ist ein reich sprudelnder Quell dieser schwebenden, kreisenden, gärenden, pulsierenden, sich gleichsam unaufhörlich selbst gebärenden Symbolsprache Mirós, die der Musik so eng verwandt ist, wie es Malerei nur sein kann.

Ein zweiter Born sind eben jene kosmisch inspirierten Zeichen, von denen anfangs die Rede war. Diese sozusagen planetarische Traumwelt wird bevölkert und durchhuscht von vielerlei irrlichternden Gestalten. Da die meisten Bilder keinen Titel tragen, sind der Phantasie kaum Grenzen gesetzt. Kichernde Kobolde treiben da ihr Wesen, aber auch bedrohliche Phantome.

Den Moment des Schocks einfrieren

Von „Schocks“, die seine Produktion anregten, hat Joan Miró einmal gesprochen. Solche Anstöße konnten von allem ausgehen; von einem rasenden Auto oder einem Staubkorn. Bisweilen, so zeigt die (von Tayfun Belgin aus den Beständen der Miró-Stiftung auf Mallorca nach Belieben getroffene) Dortmunder Auswahl, bleiben diese Schocks im Spätwerk geradezu brutal präsent. Ganz so, als habe der Künstler den Schreck des allerersten Augenblicks bewahrt und eingefroren.

Selbst in der eher lieblich angelegten Serie „Allegro vivace“ gibt es ein Bild mit dem Titel „Der Raub“. Eine andere Arbeit heißt „Rette sich, wer kann“, und eine bebend „Eifersüchtige“ scheint vor lauter Leid explodieren zu wollen.

Wohlig umsonnte Altersmilde zeigt sich hier kaum, sondern Furcht und Schrecken treten oft fratzenhaft hervor. Oder auch der schiere Zorn, woher auch immer rührend. Wenn es dann einmal heiterer zugeht, kann man sich doppelt darüber freuen. Weil es der Finsternis abgerungen ist.

14. August bis 14. November. Museum am Ostwall, Dortmund. Eintritt 13 DM, Katalog 45 DM.




Ein Kraftkerl mit empfindlicher Seele – Überblick zum Werk des Malers Lovis Corinth in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Durch eine grüne Tür stürzt „Der geblendete Simson“ auf den Betrachter zu. Seine Hände liegen verkrampft in eisernen Ketten, bis auf einen Schurz ist er elend nackt. Um die Augenpartie klebt ein verschmierter Verband, aus dem Blut rinnt. Eine geschundene Gestalt, die uns die ganze Wucht ihres Schmerzes entgegenschleudert.

Da behaupte noch ein Kunstlexikon, Lovis Corinth (1858-1925) sei Impressionist gewesen; nur deshalb, weil er häufig flirrendes Licht in seinen Bildern flackern ließ oder weil er manchmal unter freiem Himmel gemalt hat. Nein, dieser ausdrucksmächtige Berserker ist, wenn denn schon Stil-Schubladen geöffnet werden müssen, mindestens ebenso sehr Expressionist gewesen. Das belegen die 61 Gemälde und 70 Papier-Arbeiten, die jetzt in Wuppertal zum Werküberblick vereint sind.

Blühende Gärten als Feier des Lebens

Der auch körperlich imposante Kraftkerl war allerdings ein hochsensibler Mensch. Immer wieder hat Corinth seine seelischen Zustände in Selbstporträts fixiert. Anhand dieser gemalten Zwischenbilanzen kann man ihm einige Höhen und Tiefen nachfühlen. Auf dem letzten Selbstbildnis aus dem Todesjahr 1925 ist das Antlitz des Künstlers fast durchsichtig schmal geworden, sein Blick ist gebrochen und nach innen gerichtet. Selbst die Farben (verwaschenes Grau, bleiches Rot) haben alle Kraft eingebüßt.

Völlig anders die Bilder vom Beginn des Jahrhunderts, als der im ostpreußischen Tapiau geborene Corinth nicht nur künstlerisch im Saft stand! 1902 malte er sich selbst mit einer halbnackten, noch etwas scheu dreinschauenden Schönen. Es war Charlotte Berend, erste Elevin in Corinths 1901 gegründeter Berliner Malschule für Damen. Bald darauf wurde sie seine Ehefrau. Als sie, wie man damals wohl sagte, in „gesegnete Umstände“ kam, malte Corinth zur Lebensfeier blühende Gärten und später eine vollkommen zufrieden in sich selbst ruhende „Donna Gravida“, was just „schwangere Frau“ bedeutet.

Vorbilder Frans Hals, Manet und Cezanne

Üppig schwellende „Rubens-Leiber“ hat Corinth mit spürbarer Lust verewigt. Die ungeheure Fleischlichkeit der vierköpfigen „Frauengruppe (Freundinnen)“ von 1904 kündet von Sinnenfreude, die „Salome“ (1900) freilich von gefährlichen Begierden. Höchst delikat in der Farbbehandlung zeigt Corinth die „Dame mit Weinglas“ (1908), eines jener Bilder, die an sein großes Vorbild Frans Hals heranreichen, den er neben Cezanne und Manet am meisten verehrte, während er Monet für „schwächlich“ hielt.

Corinth befand, man dürfe die französischen Impressionisten nicht nachäffen, sondern müsse eine entschieden deutsche Kunst schaffen. Was immer dies sei, hier klingt Corinths Zungenschlag für heutige Ohren ein wenig befremdlich.

Manchmal nah an der Karikatur

Ob nun deutsch oder nicht, seine Bilder überzeugen, ja überwältigen oft – nicht zuletzt durch eine zupackende Charakterisierungs-Kunst, die gelegentlich das Karikierende streift. Angesichts der „Logenbrüder“ (1898/99), dieser trinkfreudigen Versammlung von Freimaurern, wird man schmunzeln – etwa über jenen Versicherungsmakler mit Hang zum Höheren, der verklärt gen Himmel blickt. Auch wirkt auf Corinths Porträt der damals tonangebende Kunstkritiker Julius Meier-Graefe, der dem Künstler anfangs nicht so gewogen war, ziemlich diabolisch. Und das Bildnis der betagten „Mutter Rosenhagen“ zeigt überdeutlich die Spuren des Alters. Nicht sehr galant. Wer’s idyllisch mag, wird gleichfalls fündig: Corinths Walchensee-Landschaften verströmen ein Behagen vor der Natur, das auch den Betrachter mit Ruhe erfüllt.

Lovis Corinth. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). 1. August bis 19. September. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 35 DM.




Hinter der Abstraktion lauert schon das Nichts – Gefühle direkt aufs Bild bringen: Werke von Jackson Pollock in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Reichlich rabiat muß er gewesen sein, der amerikanische Maler Jackson Pollock (1912-1956). Eine vom Künstler-Kollegen Willem de Kooning verbreitete Anekdote besagt, Pollock habe auf einer Party mit bloßer Faust ein Fenster eingeschlagen, um für Frischluft zu sorgen. So geht’s natürlich auch…

Bei einer schicken Vernissage pinkelte Pollock auch schon mal beherzt in den Kamin der Gastgeber. Rund elf Monate, nachdem der Filmstar James Dean tödlich mit dem Auto verunglückt war, starb auch Pollock – nur 44jährig – 1956 am Lenkrad. Er war sturzbetrunken. Ein Hollywood-Film mit Ed Harris, der im nächsten Jahr herauskommt, wird sein wildes Leben nachzeichnen. Man wundert sich nur, daß dies so spät geschieht.

Hollywood verfilmt sein wildes Leben

Solche voyeuristischen Blicke auf Dinge des Lebens und Sterbens mögen interessant sein. Doch in der Pollock-Schau der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW gilt es, nicht Grob-, sondern Feinheiten zu würdigen.

Für alle Zeiten berühmt wurde Pollock, als er ab 1947 die wohl spontanste Form der Kunst ausübte: Er ließ die Farbe vom Pinsel oder direkt aus der Tube auf die Bilder tropfen (sogenanntes „dripping“, aus dem sich Pollocks späterer Spitzname „Jack the dripper“ ergab). Im engen Atelier lagen die Bilder auf dem Boden, Pollock ging herum und ließ seinen Regungen Lauf. Im gelenkten Zufall konnten Gemütszustände ganz unmittelbar durch Körperbewegungen auf die Leinwand gebannt werden. Von diesem „action painting“ sieht man in Düsseldorf einige prachtvolle Proben.

Weitaus wichtigste Quelle der konzentrierten Auswahl (rund 50 Werke) war das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), wo 1998 mit 150 Bildern eine große Pollock-Retrospektive zu sehen war, die an London weitergereicht wurde.

Im Kreisen der Formen der Schmerz des Kreißens

„Birth“ (Geburt) heißt ein um 1938 entstandenes Bild. Es illustriert den Vorgang des Werdens nicht, sondern drückt ihn schmerzlich aus. Im Kreisen der Formen meint man das Kreißen zu spüren. „The Flame“ (Die Flamme, ca. 1940) flackert nicht als Abbild, sondern scheint den Bildträger direkt zu versengen.

Auch die Kunst eines Pollock kam nicht voraussetzungslos zur Welt. Manche Einflüsse, etwa aus der indianischen Kunst, von Picasso oder den Surrealisten (die eine „automatische“, das Unbewußte freisetzende Bildschöpfung anstrebten), werden von Fall zu Fall deutlich.

Auch kleine Formate (Zeichnungen, Druckgraphik) entfernen sich zunehmend von erkennbarer Gegenständlichkeit. Es ist, als habe Pollock hier die seiner Ausdruckskraft gemäßen Formenvorräte gesichtet und das bildnerische Arsenal angefüllt, um es hernach zur ungeheuren Eruption zu bringen.

Galaxien einer grenzenlosen Freiheit

Bilder wie „Free Form“ (Freie Form, 1946) oder „Shimmering Substance“ (Schimmernde Substanz, 1946) sind Orgien scheinbar regelloser Linienmuster und Farbballungen. Mit grandioser Geste manifestiert sich solch neu gefundene, schier grenzenlose Freiheit in Monumentalbildern wie „Nummer 1 A“ (1948), „Nummer 31″ und „Nummer 32″ (beide 1950). Jede dieser Arbeiten entwirft radikal einen eigenen Bildkosmos. In solchen Galaxien können die Augen des Betrachters halt- und endlos schweifen.

Es war ein Gipfel, auf den Pollock die abstrakte Malerei getrieben hatte. Doch zugleich war es ein Nullpunkt, hinter dem das Nichts lauerte. Von Depressionen geplagt, verfiel er fortan in eine düstere, längst nicht mehr selbstgewisse Schwarz-Malerei. Kunst vor dem gähnenden Abgrund…

Man kann es sich schön zurechtlegen: Pollock war wie ein Komet, der leuchtend aufstieg und rasch niederging. Stoff für Legenden. Die Wahrheit sieht vermutlich anders aus, doch wer will sie kennen?

Jackson Pollock. Bis 3. Oktober in der Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, Grabbeplatz. Eintritt 12 DM. Katalog 24 DM.




„art open“ in Essen: Mumpitz des Jahres oder mutiges Durcheinander?

Von Bernd Berke

Essen. Plakate in der Stadt? Fehlanzeige. Irgendein Hinweis am Messegelände? Nichts. So klammheimlich wollen die Veranstalter der als Weltkunstschau angepriesenen „art open“ bis zum 8. August über eine Million Besucher nach Essen locken?

Plakatflächen seien ausgebucht, hieß es gestern zur Pressekonferenz. Vielleicht hätte man sich ja frühzeitig darum kümmern müssen. Zu sehen gab’s nur wenige der angeblich 900 Kunstwerke von der Steinzeit bis heute, die man in fünf Messehallen zeigen will. Zwei Tage vor Eröffnung herrschte vielfach gähnende Leere, in etliche Bereiche wurden die Journalisten wohlweislich gar nicht geführt. Ein Katalog war auch noch nicht fertig.

Selbst ein Mikrofon, mit dem man die versammelten Berichterstatter akustisch hätte erreichen können, war nicht vorhanden. Derweil übertönte eine Voodoo-Kultgruppe aus Benin jedes unverstärkt gesprochene Wort. Das sei ein Ritus, den man nicht einfach abbrechen könne, hieß es.

Voodoo als Schwerpunkt

Voodoo ist ein, wenn nicht d e r Schwerpunkt dieser obskuren Schau. Voodoo-Figürchen durfte man also bestaunen, es folgten diverse russische Ikonen, sodann vorwiegend zweit- bis drittklassige Bilder zwischen Barock und 19./20. Jahrhundert, offenbar größtenteils aus kleineren osteuropäischen Museen geliehen, die über ein paar Devisen-Scherflein froh sein dürften.

Je ein Bild von Rubens („Gottvater, von den Evangelisten verehrt“) und El Greco („San Juan“) sollten „später“ noch eintreffen. Ist dies nun der Mumpitz des Jahres, oder kann die Regellosigkeit und billige Beliebigkeit gar befreiend wirken? Lassen wir die Antwort gnädig offen.

Von 30 auf unter 10 Mio. DM ist der Etat abgespeckt worden. Auf Veranstaltungen im Freigelände hat man völlig verzichtet, wobei man sich von der Messe Essen eh stiefmütterlich behandelt fühlt.

Verzehr soll das Finanzrisiko mindern

Dieter Walter Liedtke, Mentor des Ganzen, der unser aller Bewußtsein mit der Ausstellung und seiner simplen Kunst-Erklärungsformel erweitern will, tapste etwas ratlos durch das, was er da (nicht) angerichtet hat. Angeblich steht Liedtke für finanzielle Risiken gerade. Mit über 1 Million Besuchern (ob diese Zahl wohl je erreicht wird?) soll sich die Sache selbst tragen; bei freiem Zugang (Konzert-Eintritte kosten aber kräftig) rund um die Uhr. Gewinn bringen soll ein Verzehr von etwa 30 DM pro Kopf. Dann zahlt man für Bier oder Saft also 10 DM? Nein, gerade mal 3 DM. Höchst rätselhaft.

Der weltbekannte Ausstellungsmacher Harald Szeemann (documenta, Biennale in Venedig), nicht mehr mit der „art open“ befaßt, war gestern gleichwohl zugegen. Vieles, so Szeemann, mißfalle ihm an der Schau. Doch Liedtke selbst, der ein mutiges Durcheinander angestiftet habe, sei das eigentliche Kunstwerk; seine „Spinner-Potenz“ gehöre in ein „Museum der Obsessionen“. Da sagt’s mal einer.




Warnung vor dem Ungeist – Gerhard Schneiders Olper Sammlung mit Bildern verfemter Künstler der NS-Zeit

Von Bernd Berke

Olpe. Gerhard Schneider hat eine höchst ehrenwerte Passion: Seit rund 15 Jahren sammelt er Bilder, deren Urheber zur NS-Zeit als „entartet“ verfemt und seither vielfach vergessen wurden.

„Ich will diese Künstler nicht zu großen Heroen stilisieren, aber man muß ihnen ein würdiges Andenken bewahren“, sagt der ehemalige Lehrer, der heute in Olpe-Rhode lebt. Jetzt zeigt er abermals eine Auswahl seiner Kollektion beim Olper Kunstverein Südsauerland. Seit 1992, als man dort den ersten Querschnitt aus Schneiders Depot präsentierte, ist die Sammlung schon wieder um ein Mehrfaches angewachsen.

Leitlinie ist die „expressive Gegenständlichkeit“, doch die rund 80 Werke könnten verschiedener kaum sein. Das weite Themenspektrum reicht von lieblichen Landschaften und arglosen Porträts bis hin zu Mahnungen vor wachsendem Ungeist und zur erschütternden Darstellung von KZ-Greueln.

Gar manches, aber nicht alles lohnt unter rein künstlerischen Gesichtspunkten eine Wiederentdeckung. Wichtiger sind zuweilen die Schicksale der Bilder und der Künstler: Auf der Rückseite einer Arbeit prangt noch ein Erlaß Hitlers, der die Beschlagnahme anordnete…

Die meisten blieben „namenlos“

Die meisten Künstler sind „namenlos“, doch ein paar prominentere sind vertreten: George Grosz schuf 1933 das bittere Bild „Der Held“. Es zeigt einen Kriegsinvaliden mit Krücke. Otto Pankoks Porträt einer Zigeunerin („Hoto II“) wurde 1937 von den Nazis in der Schandausstellung „Entartete Kunst“ dem Hohn .preisgegeben.

Hans Grundig zeichnete 1938 eine Rotte jaulender Hunde, die gleichsam die ganze Weltklage gen Himmel senden. Der Dortmunder Hans Tombrock ließ einen Dämon über einer düsteren Menschenmasse erscheinen.

Gerhard Schneider befaßte sich anfangs mit alten Stichen à la Merian. Eines Tages sah er Valentin Nagels „Frau mit Schleife im Haar“. Sie faszinierte ihn so, daß er seine Sammeltätigkeit völlig anders ausrichtete – auf die Verfemten; ganz gleich, ob sie im Exil oder in der „inneren Emigration“ tätig waren.

Längst gilt Schneider bundesweit als Fachmann. So erscheint in Kürze im Wienand-Verlag ein fast 500 Seiten starker Bildband über seine Sammlung.

Kunstverein Südsauerland. Großer Saal im Kreishaus Olpe, Westfälische Str. / Vom 4. Juli bis 8. August, So bis Fr 15.30 bis 18.30 Uhr.




Wenn Rubens dem Voodoo-Kult begegnet – Wirre Pläne zu einer „Weltkunstschau“ in den Essener Messehallen

Von Bernd Berke

Essen. Vollmundiger kann man eine Schau nicht ankündigen: Die „spektakulärsten Ausstellungsräume der Welt“ würden sich ab 10. Juli in fünf Essener Messehallen für eine „kulturelle Revolution“ auftun, und zwar 24 Stunden am Tag bei freiem Eintritt.

„Erstmals“, so tönen die Veranstalter weiter, werde man bei diesem „Event“ die Entwicklung der Kunst wirklich verstehen können. Das klingt so merkwürdig wie so manches am Projekt „art open“.

Die wahrhaft simple Formel, die uns zum Verständnis aller Künste führen, ja sogar „jede Idee erklären“ soll, lautet so: „Leben (Bekanntes) + Bewußtseinserweiterung (Innovation) = Kunst“.

Aha! So einfach ist das also. Ersonnen wurde die Wunderformel vom gebürtigen Essener Dieter Walter Liedtke (54), der auf Mallorca ein kleines Museum mit Selbstgemaltem betreibt, bisher aber vor allem durch die Erfindung eines „luftgepolsterten Turnschuhs“ auffiel, was nicht unbedingt als Qualifikation für die Weltspitze der Kunst taugt.

Ungenannte „Originalwerke“

Liedtke („Alles ist Kunst“) will sich in Essen bei seiner „Weltkunstausstellung“ nicht lumpen lassen. Hier ist nur Platz für eine kleine Auswahl aus dem bisherigen Wust marktschreierischer Pressemitteilungen: angebliche „Originalkunstwerke“ von Rubens, Picasso, Dalí, Beuys und vielen anderen (wobei bisher kein einziges Werk benannt wird); eine Schau über die Steinzeit; dazu die (natürlich) „europaweit erste“ Ausstellung zum Voodoo-Kult. Rubens und Voodoo – welch eine aparte Kombination!

Doch damit längst nicht genug im Gemischtwarenladen: Talkshows („Werden wir alle zu Genies?“), Filme, Konzerte von Klassik bis Techno, die bisher nicht so arg vermißte „Weltpremiere“ des Ex-Scorpion Hermann Rarebell mit seinem „Monte Carlo Pop Orchester“ und viel anderes Zeug füllen die Programmpläne.

Erleuchtung wie in einer Sekte

Dafür bürgt als Regisseur ein gewisser Vladimir Egorov, „am 25. Juni 1953 im Ural geboren“ und Absolvent der Moskauer Zirkusschule. Der gut Mann wird so zitiert, als habe er bei einer Sekte den Weg der Erleuchtung beschritten: „Als ich von der ,art open‘ hörte, fand ich meinen Lebensinhalt in Liedtkes Kunstformel wieder.“

Wahrhaft erstaunlich: Ruhrgebiets-Kunsttalente sollen ebenso präsentiert werden wie nicht weniger als 2000 (!) internationale Künstler, die vorführen sollen, warum diese Erde liebenswert ist. Namen? Fehlanzeige. Schließlich sollen die Besucher (man rechnet ganz locker mit einer Million bis zum 8. August – aber haben Sie schon mal ein einziges „art open“-Plakat gesehen?) ihren röhrenden Hirsch gegen wahre Kunst tauschen oder im Wettstreit auf allen möglichen Gebieten selbst kreativ werden, z. B. indem sie aus abgeschnittenen Haaren Bilder und Skulpturen zaubern. Gipfel: Eine Massenhochzeit „in vier Religionen“ soll die „spirituelle“ Bedeutung der Heirat beweisen. Ganz klar: Auch die Ehe ist ein Kunstwerk.

24 Stunden am Tag – alles kostenlos?

Überdies gehen die Veranstalter mit hochkarätiger Schirmherrschaft hausieren. Spaniens Königin Sofia soll ebenso eingewilligt haben wie Michail Gorbatschow und Norbert Blüm. Der hat sich darauf eingelassen, weil er sich mit Sofia und „Gorbi“ in bester Gesellschaft wähnte. Auch der Name Harald Szeemanns, des hochrenommierten documenta- und Biennale-Machers, ziert noch die „art open“-Werbung. Doch Szeemann soll seine Zusage als Ausstellungsleiter des Bereichs Bildende Kunst bereits zurückgezogen haben. Falls es so ist, war er wohl gut beraten.

Die Messe Essen, die die Inhalte der Schau lieber nicht kommentieren mag, teilt unterdessen mit, daß laut Ordnungsamt eine 24stündige Öffnungszeit auf keinen Fall in Frage komme. Gleichwohl wird noch damit geworben. Man stelle sich vor: Versicherungssummen, Wachdienst rund um die Uhr, Anmietung der Messehallen samt Freigelände – das kostet enorm. Und dies alles bei freiem Eintritt? Man wird sehen. Und man darf zweifeln.




Erlöst vom Streit der Welt – Essener Villa Hügel gibt Einblicke in Koreas Schatzkammern

Von Bernd Berke

Essen. Mit Schätzen aus Japan und China haben hierzulande bereits viele Ausstellungen geprunkt. Korea blieb stets im „toten Winkel“ unserer Wahrnehmung. Rare Ausnahme war 1985 eine Schau in Hildesheim und Köln. Doch die wird nun durch „Korea – Die alten Königreiche“ in der Essener Villa Hügel an Umfang und Bedeutung übertroffen.

Sicher: Kulturgeschichtliche Ausstellungen solcher Art überwältigen oft mit 500 oder mehr Exponaten. Essen gibt mit 200 Prachtstücken einen vergleichsweise konzentrierten Einblick. Doch darunter befinden sich etliche „Nationalschätze“ der Halbinsel, die noch nie außer Landes gegeben wurden. Prof. Berthold Beitz und Prof. Paul Vogt von der hochkarätigen Kulturstiftung Ruhr haben wohl nicht nur Renommée, sondern auch Überredungsgabe in die Waagschale geworfen. Sie konnten zudem auf die Erfolgsgeschichte der Villa Hügel verweisen, wo z. B. 1995 rund 250000 Menschen Kleinode aus China bewundert haben.

Das feine Lächeln des Nachdenklichen

Eingangs der Korea-Schau wird man in erhabener Stille empfangen: Der sitzende Buddha (10. Jhdt.), sichtlich weit hinaus über allen Zwist der Welt, strahlt die ganze Seelenruhe des Erlösungsweges aus. Vollkommen entspannt wirkt auch ein „Nachdenklich sitzender Miruk (Maitreya)“ (frühes 7. Jhdt.) aus vergoldeter Bronze. Sein feines Lächeln stimmt den Betrachter mild.

Bis vor wenigen Jahrzehnten hat man vielfach geglaubt, die koreanische Kunst sei eher ein Seitenzweig der chinesischen. Doch neuere Funde und Forschungen belegen die eigenständige Schöpferkraft im „Land der Morgenfrische“. Kultur kommt auch in Korea von „Kult“, sie speist sich aus religiösen Sphären. Drei Wurzeln hat die Kunst, und aus allen sprießt bis heute vielfältige Inspiration: aus dem Schamanismus, dem Buddhismus und dem Konfuzianismus.

Aus der frühen Schamanenzeit, die alle Dinge als beseelt begriff, sieht man vor allem Gerätschaften zur Beschwörung guter und böser Geister, z. B. verzierte Ritual-Rasseln und einen Steindolch (4. Jhdt. v. Chr.). Keramik-Vögel oder ein Horn in Pferdeform dienten als Behältnisse für den Opfertrank, der wohl in Trance versetzte. Auch Menschenopfer waren üblich. Zuweilen folgten Hunderte einem Herrscher in die Gruft.

Masken-Umzüge gegen das Unrecht

Prachtvoll vergoldete Kronen, Hauben, Ohrgehänge oder gar güldene Schuhsohlen sollten als funkelnde Grabbeigaben die Gunst höherer Mächte auch im Jenseits bewirken. Weltlicher verwendete man jene grotesken Holzmasken (12./13. und 19. Jhdt.), die bei gleichsam satirischen Umzügen gegen jederlei politisches und familiäres Unrecht getragen wurden. Auch Korea hatte seinen „Karneval“. Daß der Geist des Schamanismus noch sehr lange wach blieb, besagt ein buntes Gewand, das eine erst 1993 verstorbene Schamanin trug.

Eleganter und filigraner wirken jene Schöpfungen, die aus dem Buddhismus erwuchsen, der in den damaligen, bis weit ins heutige China sich erstreckenden drei Reichen (anno 668 vereinigt) nacheinander zwischen 372 und 528 n. Chr. zur Staatsreligion wurde. Die Reliquien, Buddhas sterbliche Überreste, wurden in reich dekorierten Pagoden und Schreinen aufbewahrt.

Sittenstreng und gesetzestreu

Ein monumentales Gemälde („Ritual für die hungrigen Geister“, 1759) schildert den Weg der Ahnen aus dem Jammer des bisherigen Lebens ins höhere Dasein. Steinplatten mit Tierkreiszeichen (Hase, Schwein) zeugen ebenso von überlegener Materialbeherrschung wie Keramik, etwa ein zierlicher Pinselständer in Drachenform.

Die moralische Entschiedenheit des (Neo)-Konfuzianismus bewirkt eine oft berückend schlichte formale Klarheit in der Kunst. Das Augenmerk richtet sich hier auf den ausgeprägten Ahnenkult und auf eine edle Gilde von Literaten, die als Beamte öffentlich wirkten, sich hernach aber zunehmend in die Askese zurückzogen. Hauchzarte Tuschzeichnungen vergegenwärtigen ein Treffen der Zunft, ein Literatenzimmer aus Bambus lässt uns einen Schritt weit in diese sittsame Welt eintreten.

 

Ein höfisches Zeremonialgewand (19. Jhdt.) läßt auf selbstbewußte Machtentfaltung schließen, ein königliches Edikt (776) wurde eigens in einer kostbaren Dose verwahrt. Es muß eine Zeit gewesen sein, in der Gesetze über alle Zweifel erhaben waren.

„Korea – Die alten Königreiche“. Villa Hügel, Essen. 5. Juni bis 17. Oktober. Täglich 10-19, Di 10-21 Uhr. Eintritt 12 DM, Katalog 50 DM.




Über die Schädelstätte zur großen Philosophin gehen – Markus Lüpertz‘ kraftvolle Studien der Vergänglichkeit in der Essener Zeche Zollverein

Von Bernd Berke

Mit der Vergänglichkeit allen Lebens kann man verschieden umgehen: Manche schicken sich drein und werden vielleicht fromm, andere überlassen sich dem Trübsinn, wieder andere machen auf Erden das beste daraus und schlürfen jede kostbare Minute. ZumStamme dieser sinnlichen Leute gehört wohl auch der Künstler Markus Lüpertz.

Der 58jährige, der sich als Erbe der „Malerfürsten“ geriert, präsentiert in der kulturell umtriebigen Essener Zeche Zollverein rund zwei Dutzend zumeist neuere Ölbilder unter dem Leitbegriff „Vanitas“, was just Vergänglichkeit bedeutet. Es sind vorwiegend Stilleben, die das Bewußtsein vom Tode wachhalten, die ihm in ihrer kraftvollen Machart aber auch entschieden widerstehen. Gerade wenn man sich die Endlichkeit stets vor Augen hält, ist man vielleicht eher bereit, den Tag zu ergreifen – und das Schöne zu pflücken; zumal, wenn man auf die 60 zugeht und dem nahenden Alter kraftstrotzend trotzen will.

Die Ausstellung ist eine wahre Schädelstätte. Mal liegt der allgegenwärtige Totenkopf gleichsam grinsend auf dem Tische, mal hat er frech auf dem Hintern einer ausgelassen sich bewegenden Figur („Totentanz“, 1997) Platz genommen, als wolle er sich auch in frohen Lebenslagen nicht abweisen lassen. Geradezu liebevoll schmiegt sich der hohle Schädel an ein wabbeliges Organ („Tod küßt Lunge“), er leistet einem Kürbisgesicht zu „Halloween“ (1987) gespenstische Gesellschaft, zeigt sich mit Ratten oder Fischen – und manchmal vollführt er seine Grimassen solo, ohne alle Beigaben. Zuweilen wird Gevatter Tod in Gitterstrukturen eingesperrt: Bleib drinnen!

Barocke Stilleben sind die Vorbilder, doch deren Inventar wird bei Lüpertz schon mal wild verwirbelt. Hier stürzt eine Kerze, dort brennt ein raketenförmiger Fisch. Das ist oft wirklich kraftgenialisch „hingefetzt“, wirkt wie nur halbwegs fertig, sich selbst und dem Betrachter überlassen.

Bemerkenswert eine Bilderserie, in der Lüpertz realistische Landschafts-Ansichten zwischen abstrakte Strukturen einblendet, als seien es Fenster-Ausblicke. Nur ein simpler Effekt der Gegenüberstellung oder ein subtiles Spiel, in dem die Darstellungsweisen einander wechselseitig befragen und deutlicher hervortreiben?

In der Nachbarhalle finden sich vier Lüpertz-Skulpturen, die auf dem ungeheuer weiten Areal so recht zur Geltung und zu eigenem „Atem“ kommen. Drei bunt bemalte, ineinander verschlungene, ja nahezu neurotisch in sich verkapselte Bronze-Figurationen stehen unter dem Motto „Männer ohne Frauen“ (1995). Man meint, die seelischen Windungen der Einsamkeit zu sehen, als hätten sie organische Form angenommen. Turmhoch über das unbeweibte Trio erhebt sich, triumphal aufragend, „Die Philosophin“, deren massiver Leib freilich eher an eine Kugelstoßerin gemahnt. Vielleicht betreibt dieser bronzene Gast aus matriarchalischen Zeiten ja das Denken als Hochleistungssport.

Markus Lüpertz: „Vanitas“. Bis 22. August. Essen, Zeche Zollverein. Hallen 5 und 6 (Gelsenkirchener Str. 181). Mi 15-18, Do/Fr 15-20, Sa/So 11-18 Uhr.




Der Augenblick, in dem die Ordnung schwindet – Arbeiten des Heidelbergers Michael Bacht am Dortmunder Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Unordnung beflügelt mitunter die Kreativität: Als Michael Bacht (51) ein Atelier in einer früheren Tabakfabrik bezog, war diese nicht leergeräumt. Es lagen haufenweise Zigarrenschachteln herum. Bacht warf sie nicht weg. Für einen Künstler kann jeder Zufallsfund tauglich sein.

Und siehe da: Später gingen „Buchobjekte“ daraus hervor. Das sind dünne, aufgeschichtete Kartons, in denen man theoretisch blättern könnte wie in Romanen. Doch sie sind eingefaßt in Gestelle aus Stahl und Stein. Die „Bücher“ sind starre Skulpturen geworden.

Der Heidelberger, der im Dortmunder Ostwall-Museum einen Querschnitt durch sein vielgliedriges Schaffen der 80er und 90er Jahre zeigt, liebt jene anfänglichen Zufalle, deren weiteren Verlauf er ein wenig (aber nicht zu sehr) steuern kann. Wenn etwa Karton sich mit Farbpigmenten vollsaugt, entstehen zwar einander eng verwandte Bilder-Serien nach einem gewissen Plan, doch es bleibt Raum für kleine Überraschungen, Abweichungen, kurz: fürs Unvorhergesehene.

„Strikte Anordnung“ heißt eine Arbeit im Lichthof. Sie wirkt wie eine Ansammlung trost- und fensterloser Reihenhäuser, in deren Mittelspalten sich Asche ausbreitet – Zeichen der Vergänglichkeit. Dahinter hängen vier Fotografien, die das allmähliche Anwachsen eines roten Laserstrahls zum wirren Knäuel festhalten. Da haben wir sie wieder: die Momente, in denen Ordnung und Übersichtlichkeit schwinden.

Meditation mit Pflastersteinen

Gar zu viel Ordnung ist diesem Künstler eben suspekt. In einer ironischen „Hommage“ an Piet Mondrian, der bekanntlich phasenweise wie mit dem Lineal malte, hat Bacht dessen Hauptfarben (rot, gelb, blau) verwendet, jedoch in einer Art Dornenhecke so verzweigt, daß sich die Töne vermischen. Der Wildwuchs wird freilich formal „gehalten“ von einem schwarzen Kreuz, das wie ein Gerüst im Geäst steckt. Schieres Chaos wäre halt auch keine Kunst…

In den bewegten 60er Jahren begann Bach sein Studium. Erinnerungen daran sind Thema dieser Installation: Einige Pflastersteine (!) hängen, nunmehr ganz still und mit Papier-Zwischenlagen gedämpft, in einer stählernen Konstruktion. Eine etwas wehmütige Meditation über den einst so handfesten Protest?

Der Künstler hat sich eingehend mit Zen-Meditation befaßt. Selbst geschichtlich angeregte Werke geraten eher kontemplativ: Ein Feld aus verstreuter Asche, davor einige Spitzhacken, die freilich von aufgesetzten Kugeln in Ruhestellung gehalten werden. Der Künstler deutet an, dies beziehe sich auf die Nachkriegszeit, als aus Schutt und Asche der Wiederaufbau erfolgte – oft allzu rasant und gedankenlos. Bachts Entwurf eines Mahnmals zum Gedenken an die Opfer des 2. Weltkrieges, gedacht für einen bunkerartigen Raum, besteht aus hell angestrahlten Spiegel-Kreuzen, deren Formen sich geisterhaft an den Wänden abzeichnen.

Doch manchmal, wie zur Entspannung, überläßt sich Bacht den raschen Einfällen des Augenblicks. Schauen wir in eine Vitrine: Was bedeutet dieses an einen Kleiderbügel geklemmte Spielzeug-Kamel? Eine Anspielung auf jenen berüchtigt teuren Kamelhaarmantel, in dem Kanzler Gerhard Schröder posierte. Oh, allzu flotter Scherz!

Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 20. Juni. Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 4 DM.




Der Drang zur Leinwand – Ex-Beatle Paul McCartney stellt in Siegen weltweit erstmals seine Gemälde vor

Von Bernd Berke

Siegen. Gezeichnet hat Paul McCartney schon in den guten alten Beatles-Zeiten. Als diese Ära längst vorbei war und Paul auf die 40 zuging, sagte er sich: „Jetzt musst du noch mal was Neues anfangen“. Also begann er zu malen. Das tut er nun seit etwa 16 Jahren – „vor allem zu meinem eigenen Vergnügen“, wie er gestern in Siegen verriet. Dort, in der vermeintlichen Provinz, zeigt er weltweit erstmals seine Bilder.

Davon wird man im Siegerland noch sehr lange reden. Der Kollege Wolfgang Thomas aus der Siegener WR-Lokalredaktion, seit rund 30 Jahren im Geschäft, kann sich nicht erinnern, je auch nur annähernd einen solchen (Medien)-Rummel um ein örtliches Ereignis erlebt zu haben.

Entspannung an der Staffelei

Musikalische Fragen waren bei der gestrigen Pressekonferenz zur Schau „Paul McCartney Paintings“ strikt unerwünscht, doch der Ex-Beatle ließ immerhin wissen, daß es zwischen „sounds and colours“, Tönen und Farben also, manche Entsprechungen gebe. Er bekannte, beim Malen vom „spirit of freedom“ (Geist der Freiheit) inspiriert zu werden – und den habe nun mal der einstige Mit-Beatle John Lennon beispielhaft verkörpert. Allerdings: „Wenn ich male, höre ich nie Musik.“

Jedenfalls könne er sich an der Staffelei besser entspannen als beim Komponieren, denn: „Vom Malen muß ich nicht leben“. Auf die Frage, ob die Präsentation seiner Öl- und Acryl-Gemälde seinen musikalischen Weltruf mindern könne, meinte Sir Paul: „Ich habe immer etwas riskiert; schon damals mit den Beatles.“

Sei’s drum. Entspannung hin, Vergnügen her – als Maler will Paul McCartney allemal ernstgenommen werden. Und damit kommen wir zur Gretchen-Frage, um die man sich auch als eingefleischter Beatles- oder McCartney-Fan nicht herumdrücken sollte: Wie gut sind seine Bilder?

Auf einem sanften Trip

Nun ja. Paul McCartney, der vom Künstler Willem de Kooning in seinem Maldrang bestärkt wurde, ist eben nicht von dessen Schrot und Korn. Gelegentliche Abstecher in Quellformen der Groteske („Shock Head“) und ins Surreale („White Dream“) können kaum verhehlen, daß hier keine ordnende (oder auch kunstvoll zerstörende) Kraft waltet, sondern ein wohliges Sich-Treibenlassen im Reich der Farben. Etliche Bilder haben etwas Unentschlossenes, geradezu Verwaschenes. Farbskala und Machart taugen oft eher für Plattencovcr oder Underground-Comics als für eine Kunsthalle. Die Formen wirken vielfach zerstoben, aber nicht wirklich explosiv. Kunst auf einem sanften Trip.

Paul McCartney liebt es, hier und da Farbschlieren nach Lust und Laune dick aufzutragen, dann wieder kratzt er Spuren in die Leinwände. Manchmal sieht man auch noch die Fingerabdrücke. All das deutet auf tätig-frohe Selbstverwirklichung nach dem Leitsatz: Einfach mal loslegen und sehen, was daraus wird. Und so ist denn gewiß nicht alles souverän gewollt an diesen Bildern, sondern sieht aus wie nebenher unterlaufen: Passiert ist passiert. Mal so, mal so.

Anregung durch keltische Fundstücke

Bevor Paul seine Bildidee wahrmacht (Kritiker auf den Kopf stellen und ringsum einrahmen), muß man rasch sagen, daß unter den 75 Exponaten auch recht achtbare Werke sind. Die von keltischen Funden angeregten Arbeiten zählen dazu, aber auch konzentriertere Stücke wie „Boxer Lips“ und „Chinaman“.

Überhaupt spürt man Wonne, Inbrunst und Passion, mit denen Paul McCartney der Leinwand zu Leibe rückt. Auch wenn ihm nicht alle künstlerischen Mittel zu Gebote stehen: Über bloße Freizeitmalerei ist er deutlich hinaus. Und die Siegener dürfen sowieso mächtig stolz sein auf den Coup, diese Sachen hergeholt zu haben.

„Paul McCartney Paintings“. Siegen, Kunstforum Lyz (St.-Johann-Str. 18). DerWeg dorthin ist bestens ausgeschildert. 1.Mai bis 25. Juli, Di-So 10-20 Uhr. Eintritt 12 DM, Katalog 39,50 DM, Plakat 12 DM.




Ein freundlicher Riese – Christos gigantischer „Mauerbau“ aus 13000 farbigen Ölfässern im Gasometer Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Dieser Christo schafft es einfach immer wieder: Anfangs, wenn man nur von den Projekten des Verhüllungskünstlers und seiner Gefährtin Jeanne-Claude hört, schüttelt man vielleicht noch den Kopf. Doch das ist bloßer Phantasiemangel. Man muß stets nur eine Weile abwarten. Und jetzt muß man’s nicht mehr: Das Ereignis ist da!

Sobald Christos Ideen verwirklicht sind, ist man überwältigt. So war’s 1995 beim verhüllten Reichstag, so ist es nun im Oberhausener Gasometer, wo Christo 13 000 bunte Ölfässer zur Riesenmauer („The Wall“) geschichtet hat. Christo und seine Gefährtin Jeanne-Claude kehren die üblichen Verhältnisse um: Die bloße Vorstellung klingt prosaisch, die reale Umsetzung erweist sich hingegen als poetisch…

Kein besserer Ort ließe sich für diese Installation finden als just der Gasometer. Sieht man die gigantisch aufgetürmte Ölfässer-Wand vor sich, so wird einem auch die ungeheure Ausdehnung des Industriedenkmals erst so recht bewußt. „The Wall“ füllt die gesamten 68 Meter Durchmesser des Gasometers aus und ragt 26 Meter auf; haushoch zwar, aber in den Dimensionen des 110 Meter hohen Gasometers fast bescheiden. Steht man ganz nah davor, so kann einem freilich ein wenig bange werden. Doch keine Angst: Das Wunderwerk wird von einer massiven Stütz-Konstruktion ehern gehalten.

Niemals an eine Verhüllung gedacht

Obwohl für den Faßanstrich handelsübliche Industriefarben verwendet wurden, ist die Leucht-Wirkung phänomenal, vor allem im Kontrast zum Grau-in-Grau der stählernen Industrie-Kathedrale. Koloriert wurden die Fässer, die später wieder in den Wirtschafts-Kreislauf zurückwandern, nach einem ausgeklügelten System: Rund 45 Prozent der Behälter gleißen hellgelb, 30 Prozent schimmern rötlich, der Rest weist blaue, graue, grasgrüne und weißliche Tönungen auf. Viele, viele bunte Kreise? Nein: Mehr Farbe, als das Auge trinken kann.

Projektleiter Wolfgang Volz, der den dreimonatigen Aufbau des „freundlichen Riesen“ für Christo überwachte, ist mit täglich 15 bis 20 Kräften ausgekommen – eine feine Organisationsleistung. Volz gestern zur WR: „Pannen hat es überhaupt nicht gegeben. Im Gegenteil: Es ging schon fast zu glatt.“

Christo und Jeanne-Claude sonnen sich derweil im Scheinwerferlicht etlicher Fernsehteams und im Blitzlicht zahlloser Pressefotografen. Auf die Frage, ob sie je an eine Verhüllung der Fässer gedacht hätten, reagieren sie allergisch. Ihre letzte Verhüllungs-Idee stamme von 1975. Jeanne-Claude: „Wir sind keine Verhüllungskünstler.“ Christo nickt. Weitere Frage: Ob wir bei „The Wall“ auch an die Berliner Mauer denken sollten? Jeanne-Claude schelmisch: „Es gibt auch eine chinesische Mauer…“

Nun denn. Jetzt nichts wie hin nach Oberhausen: Nachzählen, ob es wirklich genau 13 000 Fässer sind.

Christo & Jeanne-Claude: „The Wall“ (und Doku-Ausstellung zu früheren Christo-Projekten). Gasometer Oberhausen (A 42, Abfahrt OB-Zentrum). Bis 3. Oktober, täglich 10-20 Uhr. Eintritt 10 DM, Familienkarte 20 DM. (Infos: 0208/80 37 45).




Ein Halt in der Bilderflut – Selbstbefragungs-Schau „Museum der Museen“ in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Museumschef Michael Fehr erkennt die Zeichen der Zeit: Gegen heftige Medien-Konkurrenz muß sich jede Kunstsammlung behaupten. Sie muß sich als Halt in der Bilderflut erweisen; als Ort, an dem man Bilder noch wirklich wahrnimmt und nicht nur flüchtig hinschaut.

Die neue Schau im Hagener Osthaus-Museum befaßt sich hintersinnig mit dem Wesen der Institution. Archiv, Sammelpunkt, Laboratorium, Wunderkammer, Stätte der Utopie – all das und etliches mehr kann ein Museum sein. Seit jeher haben Künstler diese Funktionen kundig und kritisch überprüft. So auch hier. Das „Museum der Museen“ (Titel) ist auf viele Räume verteilt und gesellt sich so zu den hauseigenen Beständen. Das stiftet zunächst etwas Verwirrung, aber auch viele subtile Querbezüge.

Michael Badura hat ein imaginäres „Museum der Klumpen“ fotografisch dokumentiert – Anspielung auf Sammlerfleiß, der auf „komplette“ Kollektionen aus ist und nie ans Ziel kommt. Just als Sammler gehen Martin Schack (Dortmund) und sein Augsburger Kunstpartner Schreiner zu Werke: Sie nehmen alle möglichen Fundstücke aus Telefonzellen mit, kleben sie auf, katalogisieren sie – von der zertretenen Zigarettenkippe bis zur achtlos zerknüllten Notiz. Hübsche Geschichten ließen sich dazu ausdenken. Schnell hatten die Künstler ein „Museum“ des Liegenlassens beisammen. Bei Fundsache No. 1000 soll Schluß sein.

Sammeln und Fetischismus

Ungleich ernster: Von verlorenen Gegenständen gelangen wir zu vermißten Menschen. Aus Verlust-Meldungen des DRK-Suchdienstes haben die Leute vom Berliner „Bilderdienst“ eine Diaschau erstellt: Gesichter wie aus einer Welt, in der es nur noch Verschollene gibt. Wolfgang Stiller (Berlin) hat ein Zimmer gebaut, in dem sich bizarr wuchernde Gebilde aus streng riechendem Latex häufen. Schöpfen und Sammeln hat wohl auch mit Fetischismus zu tun.

Der New Yorker „Salon de Fleurus“ führt uns in ein fiktives Land, aus dem ein Zeichner allerlei Ansichten zu Kunst, Natur und Technik mitgebracht habe. Als vollends virtuell erweist sich Hans-Peter Porzners Münchner „Museum für Moderne Kunst“, das nicht nur mit trügerischen Einladungskarten für sich wirbt. Es sind schon Leute von weither an die Isar gereist, um die erfundene Sammlung zu sehen. Sie haben (echten) Ärger gemacht.

Aus dem „Museum of Jurassic Technology“ (Los Angeles) kommt der üppigste Beitrag: eine Wunderkammer, gespeist aus dem barocken Geiste eines Universal-Gelehrten, des in Geisa (Thüringen) geborenen Jesuiten Athanasius Kircher (1602-1680). Der hat u. a. die Laterna Magica ersonnen. Magisch erscheint denn auch die Ansammlung kurioser Arrangements, Apparaturen und 3D-Animationen, die hier zu bestaunen sind. Das Wundersame, heraufbeschworen mit modernsten Mitteln – auch dies könnte eine Aufgabe fürs Museum der Zukunft sein.

Osthaus-Museum, Hagen, Hochstraße 73. Vom 24. April bis 20. Juni. Di-So 11-18 Uhr.




Mitten ins Herz der Angst – Die ganz besondere Welt der Louise Bourgeois in der Kunsthalle Bielefeld

Von Bernd Berke

Bielefeld. Wann erlebt man das schon: eine geradezu vibrierende Ausstellung, deren Aura einen sogleich erfaßt und betrifft? Wann? Jetzt in Bielefeld. Die Kunsthalle präsentiert eine famose Schau mit Werken der mittlerweile 87jährigen Louise Bourgeois.

Die in Paris geborene Amerikanerin war um 1949 Miterfinderin des Environments: Sanft und nachdrücklich eroberten ihre Kunst den umgebenden Raum. Wahrhaftig „entdeckt“ wurden sie erst in den späten 60ern, als bewegte Frauen sie dem Umkreis des Feminismus zurechnen wollten. So schnurgerade verhält es sich allerdings nicht. Louise Bourgeois hat sich vielfach dankbar über ihre Erfahrungen als Ehefrau und Mutter geäußert…

Gleichwohl attackierte sie die Kunstszene als Männerdomäne. Pioniere und Patriarchen wie André Breton, Max Ernst und Marcel Duchamp mißfielen ihr grundsätzlich. So mag etwa die kannibalische „Destruction of the Father“ (Zerstörung des Vaters, 1974) auch Resultat eines aggressiven, befreienden Aktes gewesen sein.

Doch solche Werke erschöpfen sich nicht in Zorn, sie besagen unendlich viel mehr. Zwölf Installationen und Skulpturen der letzten Jahre bilden den Kern der Bielefelder Auswahl. Hinzu kommen neue Zeichnungen, die das Themenspektrum – nicht minder intensiv – ins intimere Format überführen.

Geburt einer neuen Mythologie

Drei Figuren aus rissigem Textil liegen auf drei Rollwagen – offenbar Mutter, Kind und ein kläglicher Torso. Das Trio hat keine Arme. Ein Inbild der Hilflosigkeit, ja der Sterblichkeit. Rosarote Farbe betont zugleich das Fleischliche und Geschlechtliche dieser verformten Wesen. Schaut man eine Weile hin, so ist es, als dringe einem selbst ein Dorn in die Haut.

Ein großer Käfig mit Tür ragt in der Raummitte empor, drinnen steht ein Stuhl, außen kleben Gobelin-Fetzen. Auf all dem hat sich, wie aus einer fremden Schreckwelt herabgestürzt, eine überdimensionale Spinne breitgemacht. Auch das ist kein Spiel mehr, sondern ein Szenario aus dem Herzen der Angst. Und doch ist ein Schuß höherer Heiterkeit dabei.

Oder dies: Zwei schwarze Figuren, fast untrennbar miteinander vernäht, üben freudlos den Geschlechtsakt aus. Eines der vier Stoffbeine steckt in einer Metall-Prothese. Trostlosigkeit der Liebe im Alter, Unentrinnbarkeit des Partners? Vielleicht. Jedoch auch Innigkeit und Halt. Die Bedeutungen überblenden sich vielfach, als walte hier eine ganz besondere Alchemie.

Mit Worten ist solche Magie kaum zu fassen. Man muß vor oder in diesen Arbeiten stehen und gehen, z. B. in zwei roten Räumen, die verborgene Ängste und Lüste einer Kindheit heraufbeschwören. Unnachahmlich.

Auf dem Grat zwischen fremdartiger Schönheit und Ekel steht jene ganz vage rötlich schimmernde Marmorskulptur mit Hundepfoten und gleich sechs weiblichen Brüsten Geburt einer neuen, unerhört anderen Mythologie…

Bis 2. Mai in der Kunsthalle Bielefeld. Di, Do, Fr, So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18, Sa 10-18 Uhr; Mo geschlossen. Katalog 45 DM.




Die Erinnerung an das Unrecht ist eine unendliche Aufgabe – Sigrid Sigurdssons Kunstprojekt „Deutschland – ein Denkmal – ein Forschungsauftrag“ in Hagen

Von Bernd Berke

Hagen. Wie können Künstler dem Unfaßbaren Gestalt geben, wie können sie die NS-Zeit und zumal den Holocaust in Erinnerung rufen?

Manche wagen die große Gebärde, wie etwa der Amerikaner Peter Eisenman mit seinem umstrittenen Entwurf für das Berliner Holocaust-Mahnmal. Einen völlig anderen Zugang zum schwierigsten aller Themen sucht Sigrid Sigurdsson. Ihre Ausstellung „Deutschland – ein Denkmal – ein Forschungsauftrag“ ist im Hagener Osthaus-Museum zu sehen.

Die aus Norwegen stammende Künstlerin, deren Vater an den Folgen einer KZ-Haft starb, befaßt sich seit drei Jahrzehnten mit den furchtbaren Fakten der NS-Zeit, besonders mit dem System der Lager. Betritt man die Hagener Ausstellungsräume, so spürt man sofort den Ernst und die Würde der Auseinandersetzung.

Freilich ist die spröde, zurückhaltende Form der Darbietung auch sperrig. Zwei bis drei Stunden wird man aufbringen müssen, um Schneisen zu finden, um sich all den Dingen an den Schnittstellen zwischen Kunst und historischer Forschung zu nähern.

Viele, viele Wahlzettel mit Kreuzen für Hitler

Eingangs sieht man, karg aufgereiht, Dutzende von Titelseiten des „Hamburger Fremdenblatts“ aus den Weltkriegsjahren 1939-1945. Das nüchterne Arrangement läßt an eine ewige Wiederkehr des Immergleichen denken. Höllisehe Gleichförmigkeit. Ähnliches gilt für die Schaukästen mit vielen, vielen Original-Wahlzetteln, auf denen Deutsche 1933 ihr Bleistift-Kreuz für Hitler gemacht hatten.

Der zweite Raum vermittelt eine Aura zwischen Gedenkstätte und Archiv. Tatsächlich kann man hier (anhand von Landkarten, Akten, Forschungsberichten und Büchern) Informationen zum NS-Lagersystem sammeln. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland: Die Karte der Schreckensorte (vom KZ bis zum Arbeitslager) ist mit schwarzen Markierungen übersät – bis in alle Winkel der Regionen hinein. Diese Informationen sind auch im Internet zugänglich (www.keom.de) und können per e-mail (elektronische Post) kommentiert oder um Ergänzungsvorschläge bereichert werden. Die Kunst-Installation wird somit zur Keimzelle eines umfassenden „Forschungsauftrags“, an dessen Verwirklichung sich nach Sigrid Sigurdssons Vorstellung möglichst viele Menschen beteiligen sollen.

Keine Meinung vorgeben, nichts zensieren

Auf Arbeitstischen liegen gebündelte Papiere, es sind vor allem Lebensläufe aus jener Zeit. In Hagen ist schon einiges hinzugekommen. Denn jeder, ob Täter, Opfer, Zeitzeuge oder Nachfahre, kann hier biographische Fragmente oder Konvolute hinterlassen. Eine Zensur findet nicht statt. Überhaupt will sich die Künstlerin „keine Meinung anmaßen“. Jede Belehrung, auch jeden Zwang zum Erinnern möchte sie vermeiden. So lagern sich gleichsam immer mer mehr Sedimente der Erinnerung in ihrer Arbeit ab. Oder soll man sagen: sie wuchern?

Denn auch Beliebiges oder Schlimmeres könnte sich einfinden. Doch selbst wenn alle Zulieferungen der Sache dienlich wären und eine feste Bleibe fänden: Wer wollte noch sichten und ordnen, wenn die Sache eines Tages ins Uferlose gewachsen ist?

Man könnte Sigurdssons Installation der Konzept-Kunst zurechnen. Es zählt also in erster Linie die Idee, die einen Prozeß in Gang setzen soll, der hier im prinzipiell unendlichen „Forschungsauftrag“ besteht. Wichtiger Impuls: Erinnerung ist eine Aufgabe für alle Zeiten, die niemals aufhören darf. Während Eisenmans Holocaust-Mahnmal seine Ausmaße monumental vorweisen würde, wirkt Sigurdssons Arbeit bescheiden, obwohl auch sie gedanklich ins große Ganze ausgreift.

Umfassendes, wenn auch begrenztes Anwachsen prägt eine weitere Abteilung. Hier hat Sigrid Sigurdsson (unter dem Titel „Die Architektur der Erinnerung“) Hunderte ihrer Zeichnungen zu Themen-Folianten gebündelt. Hundert mal hundert (also 10000) Blätter sollen es einst werden, fertiggestellt sind 25 Hunderter-Mappen, aus dreien sind jene rätselvollen Bilder der Gewaltsamkeit entnommen, die an den Wänden hängen.

Ging es bis hierhin um Fakten, so nun um die oft alptraumhaften Emotionen. Denn natürlich hinterläßt eine solch einläßliche Beschäftigung mit der NS-Zeit tiefste Spuren in der Seele.

„Deutschland – ein Denkmal – ein Forschungsauftrag“. Osthaus-Museum, Hagen“ (Hochstraße). Bis 4. April. Di-So 11-18, do 11-20Uhr.




Die Farbe Rot ist den Russen heilig – Belegstücke von der Ikone bis zum Stalin-Bildnis in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wenn die vulgärpsychologische Vermutung stimmt, daß Rot Aggressionen hervorruft – dann aber Vorsicht: Wuppertals Von der Heydt-Museum bestreitet jetzt eine ganze Ausstellung mit der wohl wirksamsten Farbe. Untersucht wird das „Rot in der russischen Kunst“.

Die Belegstücke stammen sämtlich aus dem Russischen Museum zu St. Petersburg, das zumindest aus westlicher Sicht ein Schattendasein neben der weltberühmten Eremitage führt. Doch den Russen selbst liegt das traditionsreiche Haus mit den 400 000 (!) Kunstwerken sehr am Herzen.

Aus einem solch riesigen Fundus 63 Bilder auszuwählen, in denen das Rot vorherrscht, dürfte nicht schwerfallen, zumal man den zeitlichen Rahmen (13. bis 20. Jahrhundert) großzügig steckt.

Außerdem hat gerade in Rußland das Rot von jeher besonders viel besagt. Das Wort „krasnyj“ bezeichnet nicht nur diese Farbe, sein weiteres Bedeutungsfeld umfaßt auch Begriffe wie „gut“, „wichtig“ und „schön“. Wenn man weiß, daß früher mehrere tausend Purpurschnecken herhalten mußten, um ein paar Gramm roter Farbe zu erzeugen, wird man gewiß das Attribut „kostbar“ hinzufügen.

Der Vorrang gilt nicht nur in der russischen Hochkunst bis hin zur Moderne (präsentiert werden Arbeiten von Chagall, Kandinsky, Tatlin und vor allem Malewitsch), er leitet sich aus der frommen Ikonenmalerei und der Gebrauchskunst her, ist also tief verankert. An derlei Gefühle konnten auch die Sowjetkommunisten mit roten Fahnen und Emblemen appellieren.

Manchmal reicht schon ein Tupfer

Aus allen erwähnten Bereichen finden sich in der kompakten Schau exemplarische Stücke. Rot erweist sich dabei meist als Farbton des entschiedenen „Hervortretens“. Werden ein Haus oder eine Figur so markiert, dann scheinen sie aus dem Bild gesondert herauszukommen – mal würdevoll (Fürstinnenporträt, 1772), mal erotisch (F. A. Maljawin „Tanzende Frau“, 1910) oder auch blutig (W. S. Smirnow „Neros Tod“, 1888). In Kasimir Malewitschs „Rotes Quadrat“ (1915) spricht dann die Farbe mit sich selbst.

Doch nicht auf allen Bildern drängt sich das Rot dermaßen auf, manchmal ist es nur ein diskreter Tupfer („Auf der Schaukel“, 1888), der aber auffällt. Auch blasses Rot besitzt noch ungeahnte Kräfte.

Manche freilich mochten sich nicht auf unterschwellige Wirkung verlassen, sie trugen furchtbar dick auf. Nikolaj Christoforowitsch Rutkowski hatte „Stalin am Sarg von… Kirow“ (1934) zu malen. Kirow war bei einem Attentat ums Leben gekommen, vermutlich war Stalin der Drahtzieher. Hier aber läßt er sich als Trauernder darstellen. Die Heuchelei ist ganz in Rot getaucht. Sie borgt sich die Würdeformel von den Ikonen. Verlogener geht’s kaum.

Bis 14. März im Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 38 DM.




Fundstücke von den Wegesrändern der Welt – Die visuellen „Reise-Notizen“ des Ulrich Gehret in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Dieses Künstlerleben schmeckt nach Freiheit und Abenteuer: Ulrich Gehret (54) war Schwammtaucher in Griechenland, er bereiste intensiv halb Südamerika, unternahm eine strapaziöse Motocross-Tour vom Pazifik zum Atlantik, durchstreifte entlegene Gebiete Indonesiens und Australiens. Hauptsache: Weit weg sein von den allseits geregelten Konsumwelten Mitteleuropas!

Gehret konstruierte gar ein Spezial-Surfbrett, um sich vor der argentinischen Küste als Wellenreiter den Walen nähern zu können. Er hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, die Haut der Riesentiere eigenhändig zu streicheln. Es gelang ihm. Seither weiß er, anders als wir alle, wie das ist.

Aus derlei schweifendem Erfahrungshunger und Späher-Geist müßte doch eine äußerst sinnliche Kunst entstehen, denkt man sogleich. Die Probe auf rund 120 Exempel kann man jetzt im Dortmunder Ostwall-Museum machen.

Schlangenhaut und Schuppenpanzer

Die in Kooperation mit der Bochumer „galerie m“ präsentierte Werkschau vereint „visuelle Notizen“, die Gehret auf Reisen gesammelt hat. Allerhand Fundstücke von den Wegesrändern dieser Welt prägen seine Bildcollagen. Hier glitzert eine Schlangenhaut, dort wölbt sich gar der Panzer eines Gürteltieres. Auch sieht man Metallteile, Pflanzenstücke, Fischgräten oder diverse Papiere, so auch (ferngerückte Erinnerung ans frühere Dasein) eine vergilbte Kopie des 1969 erworbenen Führerscheins. Das alles ließe sich beliebig zusammenkleistern, doch unter Gehrets Händen fügen sich die Funde zu außerordentlich formsicher gestalteten Kunstwerken, die die Sinne unmittelbar ansprechen.

Die Qualität der Materialien ruft widerstreitende Emotionen hervor: schwere Eisenrahmen, weiche Paraffin-Schichten, übermalte Papierfetzen. Zumal der Tastsinn wird gereizt. Unwillkürlich möchte man die Materialbilder berühren, ihre schrundig aufgeschichteten Oberflächen spüren. Ein Impuls, dem man nicht nachgeben sollte, denn etliche Arbeiten tragen ohnehin Verwandlungs-Spuren der Zeit, sie scheinen würdevoll zu verwesen.

Mysterium des täglichen Erlebens

Die Schubladen der Kunstgeschichte müssen geschlossen bleiben. Wenn überhaupt, so ergeben sich mitunter Anklänge ans Informel, aber was besagt das schon? Auch mit markanten, womöglich die Phantasie befeuernden Bildertiteln kommt einem dieser Künstler, der sich um den Markt nicht scheren mag, kaum zur Hilfe. Man sieht sich aufs eigene Erleben verwiesen.

Obwohl aus mehreren Jahrzehnten stammend, bilden all diese Arbeiten doch einen Kosmos. Das Spektrum grauer und bräunlicher Erdfarben wird in alle Richtungen durchmessen, die rissige und brüchige, machmal wächserne, dann wieder kreidige Bilderhaut gemahnt an Formationen der Gesteinsgeschichte, sie ist gleichsam mit Fossilien-Abdrücken durchsetzt.

So wirkt diese Kunst denn auch seltsam urtümlich, zeitenthoben und beinahe anonym. Dabei ist sie doch unmittelbar aus Dingen des täglichen (Reise)-Lebens entstanden. So erhebt die Kunst das Tageserlebnis zum unerschöpflichen Mysterium.

Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 24. Januar 1999. Di-So 10-17. Mi 10-20 Uhr. Eintritt 6 DM, kein Katalog.

 




Ganz fremd ist die Natur – Max Beckmanns selten gezeigte Landschaftsbilder in der Bielefelder Kunsthalle

Von Bernd Berke

Bielefeld. Selbst der Frühling oder Gestade unter südlicher Sonne leuchten hier nicht. Sie dämmern in aschig verfinsterten, vergrübelten Mischfarben vor sich hin. Manchmal ist’s noch schlimmer: Dann mutiert das vormals Liebliche in der Landschaft gleich zum unheilschwangeren Drama. Was ist bloß mit der Natur geschehen, die Max Beckmann (1884-1950) gemalt hat?

Landschaften? Jawohl. Beckmann wurde oftmals als Schöpfer kraftvoller Menschen-Bildnisse gewürdigt, besonders seine Selbst-Darstellungen gehören zum Kernbestand der Kunst dieses Jahrhunderts. Doch von den Ausstellungsmachern wurde fast gänzlich übersehen, daß nahezu ein Drittel des Gesamtwerks im weiteren Sinne unter den Begriff „Landschaft“ fällt. Mit einer aus Hamburg kommenden, rund 70 Gemälde umfassenden Schau wird nun auch in der Bielefelder Kunsthalle Versäumtes nachgeholt. Etliche Stücke dieser bedeutsamen Auswahl stammen aus Privatsammlungen und wurden so gut wie nie öffentlich gezeigt.

Vergitterter Blick, gewittrige Farben

Was also ist der Natur zugefügt worden? Der Ausstellungstitel deutet’s an: „Landschaft als Fremde“. Künstler des 20. Jahrhunderts können sich in Feld, Wald und Flur längst nicht mehr so heimisch und aufgehoben fühlen wie ihre Vorväter. Begab sich etwa ein Caspar David Friedrich noch kontemplativ gestimmt ins Freie, so malt Beckmann das Mißtrauen stets mit. Die Folgen rabiater Industrialisierung und zweier Weltkriege lassen keinerlei Weihestimmung mehr aufkommen. In den Zeiten solcher Katastrophen wären Idyllen ohne Bruchstellen nur noch Lüge.

Beckmann schafft, schon in seinen frühen impressionistischen Anfängen, in fast herrischer Weise Distanz zur Natur, er hält sie sich gleichsam mit Bollwerken vom Leibe. Es herrscht das Bildgesetz, nicht das Naturgesetz: Immer wieder vergittert und verbarrikadiert Beckmann (beispielsweise in den Meeres-Bildern) den Ausblick ins Weite, verengt dee Perspektive, faßt einzelne Dinge mit harten Pinselstrichen in dunkle Ränder ein.

Bedrohliche Nachtstücke aus Baden-Baden und Genua

Führen Wegstrecken durchs Gelände, so scheinen sie steil abwärts ins Nirgendwo zustürzen („Der Wendelsweg“, 1928 / „Waldweg im Schwarzwald“, 1937). Fensterausblicke wie jener auf eine „Winterlandschaft“ (1930) betonen den Abstand zum Gesehenen, ja den ganz grundsätzlich versperrten Zugang: Die aus den Fugen geratenen Holzrahmen zwingen der Gegend einen geradezu zerstörerischen Bildrhythmus auf.

Freude am Dasein glüht ganz selten auf und wenn, dann eher als trotzige Behauptung. Ansonsten nur Entfremdung. Selbst ein durchgrünter Kurort wie Baden-Baden wirkt hier unbehaglich. Unter Beckmanns Händen ist ein ebenso düster-bedrohliches Nachtstück daraus geworden wie „Der Hafen von Genua“ (1927), der in Schwärze schier ertrinkt.

Ein „Blick aus der Schiffsluke“ (1934) zeigt, nahezu abstrakt, nur grau in grau tobende Gischt. Herrscht schon sonst eine gewittrige Farbstimmung vor, so verdichtet die „Große Gewitterlandschaft“ (1932) diesen Grundton auf unerhörte Weise. Und die „Möwen im Sturm“ (Kriegsjahr 1942!) hocken wie groteske Geier da, wie letzte Überlebende auf Ausschau nach Fraß.

Auch die Technik bringt keinen Trost

Beckmann, von den Nazis als „entartet“ verfemt, hatte Deutschland damals längst verlassen. Von NS-Besatzern in den Niederlanden und Frankreich immer wieder eingeholt, flüchtete er schließlich in die USA, wo er sogar die unendliche Weite Colorados in enge Bildgitter preßte. Der hochfahrende Mann, der allenfalls Picasso neben sich gelten ließ, wollte sich wohl niemals imponieren lassen, sondern selbst imponieren.

Angesichts innerer Naturferne ist es nur konsequent, daß Beckmanns Stadtlandschaften in den Überblick einbezogen werden. „Der eiserne Steg“ (1922) zerschneidet Frankfurt und den Main mehr, als daß er den Fluß überbrückt. Anders als die Futuristen, begrüßt Beckmann die Technik nicht mit Euphorie. Erblickt man seine „ Schiffswerft“ (1946), so meint man gar den Stahl kreischen zu hören. Aufschrei einer naturlosen Welt.

Max Beckmann – „Landschaft als Fremde“. Kunsthalle Bielefeld. 29 November bis 14. Februar 1999. Di./Do./So. 11-18, Mi. 11-21. Fr./Sa. 11-20 Uhr. Mo. geschlossen. Eintritt 10 DM. Katalog 49 DM.




Christo baut Mauer aus 13000 Ölfässern – Verhüllungskünstler sorgt 1999 für Attraktion im Gasometer

Von Bernd Berke

Oberhausen. Das wird ein Ding: Der berühmte Verhüllungskünstler Christo und seine Gefährtin Jeanne-Claude wollen 1999 im Oberhausener Gasometer eine Mauer aus 13.000 Ölfässern errichten lassen. Als beide gestern die Grundzüge des Projekts präsentierten, war auch NRW-Kulturministerin Ilse Brusis schon im voraus begeistert. „Weltkünstler“ und „wunderbar“ waren die zentralen Stichworte ihrer kurzen Ansprache.

Prof. Karl Ganser, Geschäftsführer der Internationalen Bauausstellung „IBA Emscher Park“, die im nächsten Jahr u. a. mit dem Christo-Spektakel in die Zielgerade geht, ist gleichfalls schon jetzt vom Gelingen mit enormer Werbewirkung fürs Revier überzeugt: „Christo ist ein Ereignis per se“, befand er.

Das Grandiose ist schon ausgemachte Sache

Wenn also das Grandiose an dem Vorhaben bereits ausgemachte Sache ist, kann man sich getrost den profanen Details zuwenden, soweit sie bekannt sind: 13.000 Ölfässer werden im 117 Meter hohen Gasometer (wo zuletzt die Fernseh-Schau „Der Traum vom Sehen“ Furore machte) so aufgetürmt, daß sie eine 26 Meter hohe, 68 Meter breite und 7,23 Meter tiefe, undurchdringliche Wand im Inneren des Industriebaus bilden und diesen gleichsam in zwei Hälften spalten. Der Titel der gigantischen Arbeit lautet denn auch „The Wall“ (Die Mauer).

Mit dem Aufbau sollen rund 25 Helfer schon Anfang Januar beginnen, denn am 30. April 1999 soll das Werk in voller Schönheit aufragen. Dies sagte Projektkoordinator Wolfgang Volz, der bereits Christos legendäre Reichtagsverhüllung in Berlin organisiert hat. Bauvorschriften würden auch in Oberhausen peinlich genau beachtet, damit „The Wall“ nicht etwa wankt oder stürzt.

Bei den Ölfässern werde es sich keineswegs um verrostete, sondern um nagelneue Exemplare handeln, verriet Jeanne-Claude, ohnehin ungleich beredsamer als Christo. Grund für den Neueinkauf: Die frischen bunten Lackierungen sollen eine Art Mosaik ergeben. Und nach der Aktion, so wurde ökologischen Bedenkenträgern versichert, gehen die Metallfässer in den normalen Wirtschafts-Kreislauf samt Recycling ein. Beruhigend.

„Den Menschen Freude und Schönheit bringen“

Wiederum war es Jeanne-Claude, die all dies mit einem hübschen Motto drapierte: ,Joy and beauty“ wolle man den Menschen mit dieser Arbeit bringen, Freude und Schönheit also. Wem wird es dabei nicht warm ums Herz? Und dann hörte man noch, daß Christo und Jeanne-Claude einen Teil ihrer Herzen just in Nordrhein-Westfalen verloren haben. Denn in Köln hatten sie anno 1961 ihre erste gemeinsame Einzelausstellung, weswegen sie jetzt besonders gern wieder in diesem Lande…

Freude bringen – ja. Freude schenken – diesmal nicht. Anders als bei den meisten bisherigen Christo-Aktionen, an denen man sich gratis sattsehen konnte, ist das Revier-Ereignis kostenpflichtig. Der Eintritt in den Gasometer wird 10 DM betragen. Erst nach diesem Obolus darf man staunend vor dem machtvollen Raum-Zeichen, dem Ruhrgebiets-Weltwunder stehen – oder mit gläsernem Aufzug vertikal daran vorübergleiten. Außerdem gibt s eine Doku-Schau zu artverwandten Christo-Projekten.

Die Veranstalter in Oberhausen wappnen sich für einen großen Ansturm. Man will die Öffnungszeiten flexibel halten, sprich: Ausweitungen sind jederzeit möglich.




Lustvoll kneten und naschen – New Yorks freche junge Kunstszene zu Gast im Kölner Museum Ludwig

Von Bernd Berke

Köln. 17 000 Bilder in sechs Jahren hat der Amerikaner Stephen Keene gemalt. Der Fließband-Künstler ist reif fürs Buch der Rekorde. Wenn wir mal nur von Ziffern sprechen, so war – damit verglichen – der hochproduktive Picasso ein bedächtiger Mann. Keene bietet jedenfalls nur eine von vielen schrägen Attraktionen der Kunstschau „l Love New York“ im Museum Ludwig.

Dem 41jährigen Rasanz-Künstler aus der zumeist haßgeliebten US-Metropole kann man in Köln live bei der Arbeit zuschauen. Fertige Sperrholz-Bilder werden, kaum daß sie trocken sind, gleich ans Publikum verkauft: zu Spottpreisen von 3 bis 5 DM, je nach Größe; solange der Vorrat reicht.

Die witzige Attacke auf Wertmaßstäbe des Kunstmarktes deutet schon auf einen Kern der Ausstellung hin: Maßstäbe werden in der jungen New Yorker Szene (hier: 28 Künstler) kaum noch angepeilt. Bar jeder Ideologie und meist ganz entspannt im Hier und Jetzt, sprengt man Medien- und Gattungsgrenzen, wirbelt man Stile und Niveaus, Ernst und Entertainment kunterbunt durcheinander.

Museumsdirektor Jochen Potter nennt diese Kreuzungen – ganz flott – „Crossover“. Tatsache ist: Etliche Exponate haben Jahrmarkts- oder sogar Rummelplatz-Charakter. Man fühlt sich animiert, nimmt aber vielfach nur flüchtige Eindrücke mit. Eine Kunstschau für die Videoclip-Generation.

Hinein geht’s über eine flackernde Disco-Treppe

Die so gar nicht weihevollen Hallen betritt man über eine Disco-Treppe mit Flackerlichtern in den Stufen. Durch diese Arbeit von Piotr Uklanski auf „Hully-Gully“ eingestimmt, darf man ums nächste Eck auf Stühlen Platz nehmen, sich Kopfhörer überstülpen und lustbetont in rosaroter Modelliermasse kneten. „Body Study Center“ (Zentrum für Körperstudien) nennt Charles Long seine Installation.

Dermaßen auf leibhaftigen Zugang zur Kunst konditioniert, wundert man sich kaum noch, wenn man sich in Jack Piersons nachgebautem Striptease-Lokal unversehens auf der Bühne wiederfindet. Bekleidet, versteht sich wohl. Man staunt auch nur noch begrenzt, wenn man in Mark Dions marktschreierisch angekündigtem Schaustellerzelt („Zoologisches Wunder!“) ein absurd konstruiertes Tiergerippe aus Kuhrumpf und Bärenkopf besichtigte. Wer neugierig hineingeht, hat sich selbst als Voyeur entlarvt, der sich am Bizarren ergötzen will.

Also schämt man sich ein wenig. Doch schon steht man – wie zum Trost – vor einem Hügel golden eingewickelter Bonbons („Placebo II“ von Felix Gonzalez-Torres). Man soll davon naschen, auf daß das Kunstwerk allmählich schrumpfe und Schwund-Melancholie freisetze. Wenige Meter weiter erlebt man das Gegenteil von Schwund: Ein machtvoller Dinosaurier (Thom Merricks Schöpfung) versperrt, fast bis zum Platzen mit Luft vollgepumpt, einen Durchgang. Putzig.

Irgendwann ist man aber doch dankbar, daß die Ausstellung auch stille Momente be- schert. Die gebürtige Japanerin Mariko Mori entwirft die wandfüllende Vision eines Zauberwaldes mit Feen und asiatischen Schriftzeichen. Jessica Stockholder erzeugt sanfte Energiefelder zwischen textilen Dingen des Alltags. Der aus Jamaika stammende Nari Ward verstreut Dutzende geschnürter Bündel, die Brandspuren tragen und karge Habseligkeiten enthalten. Stillleben in Zeiten der Apokalypse.

Auch die Popmusik-Stars David Bowie und Laurie Anderson zählen hier zu den „Stillen im Lande“. Ihre Zeichnungen sind bei gemeinsamen Telefonaten entstanden. Beide sagen, es sei „Telepathie“ im Spiele gewesen. Nun ja. Jedenfalls haben sie schön reduzierte Rebus-Rätselbilder gekritzelt.

Museum Ludwig, Köln. Bis 31. Januar 1999. Di 10-20, Mi bis Fr 10-18, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 12 DM. Katalog 38 DM.




Das Leben ist wie ein bleicher Traum – Hamm zeigt Heinrich Vogelers Frühwerk im Umkreis des Jugendstils

Von Bernd Berke

Hamm. „Schöner wohnen – edler leben“. Dieser Slogan könnte für die neue Ausstellung im Gustav-Lübcke-Museum werben. Der umfassende Überblick zum Frühwerk des Heinrich Vogeler (1872-1942), konfrontiert mit Schöpfungen anderer Künstler aus dem Jugendstil-Umkreis, wirkt wie die Feier eines stilvollen, aber auch bis zur Erstarrung stilisierten Lebens.

Vogeler, begütert aufgewachsener Bremer Kaufmannssohn, bewies – als Maler, als Architekt, mit Alltags-Entwürfen – einen Hang zum Komfort. Der hochbegabte Autodidakt betätigte sich als umtriebiger Universalkünstler. Vom Mobiliar bis zum Besteck, von der Buchillustration bis zum Schmuckstück erstreckte sich sein weites Feld.

Der Zeitgeist zur letzten Jahrhundertwende wollte es so: Man verabschiedete sich vom Historismus und griff (statt auf die Geschichte) lieber auf natürliche Formen zurück. Zumal aus dem reichen Repertoire der Pflanzenwelt erwuchsen die typischen Ornamente des Jugendstils. Einem solchen Bildvokabular konnten sich weder Vogeler noch Peter Behrens oder Henry van de Velde ganz entziehen. Die beiden Letzteren fanden freilich, wie die Ausstellung zeigt, alsbald zu funktionaleren Formen.

Auf drei Etagen verteilen sich die rund 300 Exponate in Hamm: Im Erdgeschoß findet man Malerei, im ersten Geschoß „Design“ und ganz oben Belegstücke zum architektonischen Schaffen.

Traumzeit regiert in der malerischen Abteilung: Hier sieht man sich satt an blumig umrankten, oft ätherisch oder gar etwas mondsüchtig dreinschauenden, zarten jungen Frauen. Diese bleichen, beinahe transparenten Wesen blicken in die Welt, als könnte ihre unnennbare Sehnsucht sie im nächsten Moment himmelwärts davontragen.

Märchenhaftes Mischwesen aus Fee und Fisch

Prägnantes Beispiel ist „Melusine“ (um 1910), dreiteiliges, an einen Altar gemahnendes Prunkbild: Ein Mädchen – halb Fisch, halb Fee – thront traumverloren inmitten einer märchenhaften Naturkulisse. Kitschverdächtig monumental, füllt das symmetrisch aufgebaute Gemälde „Sommerabend“ (1905) eine Wand. Hier gefriert weltenthobenes Dasein zwischen Flora und musikalischer Ergötzung zur vollends idyllischen Szenerie.

Mit seinen zwei Ehen hatte Vogeler wenig Glück. Frauen aus Fleisch und Blut konnten schwerlich dem hehren Ideal genügen, das in solchen Bildern aufscheint. Gelegentlich streifte Vogeler weiblichen Modellen gleich ein „Reformkleid“ über, auf daß sie seine Weltsicht rein verkörperten. Eine Männerphantasie, wenn auch eine sanftmütige.

Die schönsten Blüten trieb seine Kunst der Buchillustration. Der mit dem Dichter Rilke befreundete Vogeler schuf vor allem für die Insel-Bücherei wundervolle Zierden und Girlanden rund um die Literatur. Über erstaunlich zweckmäßige, weit weniger verspielte Möbel und Alltagsgegenstände arbeitet sich der Besucher zum architektonischen Rüstzeug Vogelers vor. Regionaler Bezug: Für den Hammer HNO-Arzt Emil Löhnberg, einen Anhänger der Gartenstadt-Bewegung, entwarf Vogeler ein schmuckes Fachwerk-Sommerhaus im sauerländischen Willingen, dessen Grundzüge heute noch als Flügel eines Hotels erhalten sind.

Angesichts der Hammer Schau ist es kaum zu glauben, daß Vogeler in den 30er Jahren nach Moskau zog, wo er zu einem Vorläufer des unsäglichen „Sozialistischen Realismus“ wurde. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Gustav-Lübcke-Museum, Hamm (Bahnhofstraße 9). 25. Oktober bis zum 10. Januar 1999, tägl. 10-18, mittwochs 10-20 Uhr. Eintritt 10 DM. Katalog 49 DM.




Alle Dinge neu erfinden – Hagener Osthaus-Museum präsentiert Allan Wexler und Milly Steger

Von Bernd Berke

Hagen. Im KarI-Ernst-Osthaus-Museum ist jetzt ziemlich viel im Eimer. Nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne. Denn dem US-Künstler Allan Wexler hat es nun einmal dieser vermeintlich simple Alltagsgegenstand angetan. Er spielt nahezu alle Gedankenbilder durch, die vom Wasserbehälter angeregt werden können.

Es ist, als wollte Wexler (geboren 1949) die Dinge der Welt von Grund auf noch einmal neu überdenken und behutsam umbauen. Da fängt man am besten mit den einfachsten Objekten an. Wexlers schier unerschöpfliche, mit Sanftmut umgesetzte Vorstellungskraft läßt also den Eimer viele, viele Zustände durchlaufen, gleichsam auf Probe. Ganz so, als folge er mit ironischem Sinn dem berühmten Brecht-Satz „Er hat Vorschläge gemacht…“

Es gibt hier Eimer mit und ohne Ausgußtülle, es gibt welche aus Holz, aus Gips, manchmal von herkömmlicher Statur, dann wieder umgeformt: zum Trichter, zur Tröte, zur Wanne. Überhaupt sind es die meisten dieser Eimer leid, gewöhnliche Exemplare zu sein. Diesen kann man zu viert tragen wie eine Sänfte, jener mutiert zum überdimensionalen Meßbecher, ein dritter verbirgt sich im Rucksack, ein vierter unter dem Hut. Und so weiter.

Wexler, von Haus aus Architekt, durchstreift die verwaisten Felder zwischen angewandter und freier Kunst. Seine Modelle könnte man nachbauen, beispielsweise jenes theoretisch riesenhafte Aquädukt, das die gesammelten Wassermassen in einen einzigen – nun ja – Eimer leiten soll.

Liebenswert umständlich

Überhaupt wirken viele Gedanken und Formfindungen Wexlers liebenswert umständlich bis abwegig. Der schnurgerade Weg wäre eben nicht der Königsweg der Phantasie. Und die Schrullen von heute sind oft die Ideen von morgen. Auch Schirme und allerlei Flaschen kommen bei Wexler zum Einsatz, um das offenbar kostbare Nass aufzufangen, zu sammeln und zu bewahren. Sein „Gemeinschaftsbrunnen“ sieht ganz so aus, als sollte er nicht nur ein Grundbedürfnis befriedigen, sondern auch ungeahnte Gemeinschaft zwischen den Menschen stiften; wie denn überhaupt derlei herzliches Bemühen um Wassergewinnung auch politisch-soziale Hintergedanken wecken kann.

In der ersten Etage wechselt Wexler die Gegenstände, im Prinzip aber nicht die überaus experimentierfreudige Produktionsweise. Nun widmet er sich mit nicht nachlassender Detailfreude den Stühlen und Tischen. Auch ihre formalen (Un)-Möglichkeiten werden durchgespielt. Wie ißt man auf einem ganz und gar schrägen Tisch? Man legt passende Keile unter die Teller, dann stehen wenigstens die gerade. So tummelt sich Wexler in den Winkeln der Welt und erfindet sie neu.

Die Frau mit der Kraft eines Büffels

Einen denkbar starken Kontrast zu solchen Versuchen setzt die zweite neue Osthaus-Ausstellung. Sie umfaßt rund 50 plastische Arbeiten von Milly Steger (1881-1948), die lange Zeit in Hagen gelebt und dieser Stadt anno 1911 auch einen handfesten Kunststreit beschert hat, als sie vier überdimensionale nackte Frauenfiguren aufs Theater setzte.

„Die Grenzen des Frauseins aufheben“ heißt, ein wenig pathetisch, diese Schau. Gemeint ist, daß man weiblichen Wesen zu Beginn Beginn des Jahrhunderts weder das räumliche Denken noch die physische Kraft zutraute, um Skulpturen zu schaffen. Milly Steger aber setzte sich in der Männerdomäne derart durch, daß Else Lasker-Schüler sie lyrisch als „Büffelin an Wurfkraft“ pries. Die Skulpturen-Auswahl vermittelt ein uneinheitliches Bild. Mal kommt Milly Steger Zeitgenossen wie Barlach oder Lehmbruck an Ausdruckskraft nah, dann wieder verschwimmen die Züge ihrer Figuren ins gar zu Gefällige.

Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen (Hochstraße 73 / 02331 / 207 31 38). Ausstellungen Allan Wexler (Katalog 32 DM) und Milly Steger (Katalog 30 DM), jeweils ab heute bis zum 1. November. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr.




Der schwerelose Tanz der Phantome – Peatc Voßmann in neuen Räumen des Dortmunder Kunstvereins

Von Bernd Berke

Dortmund. Kaum zu glauben, aber wahr: Der Dortmunder Kunstverein präsentiert erstmals einen Dortmunder Künstler. Und Peatc (sprich „Pätz“) Voßmann, Jahrgang 1949, hat sogleich das Vergnügen mit den neuen Räumen des Vereins.

Die Adressen klingen stets blaublütig: Bisher an der Prinz-Friedrich-Karl-Straße ansässig, residiert der Kunstverein nun in der Kaiserstraße, allerdings wohl nur bis zum nächsten Frühjahr. Dann will man – ungleich zentraler – dauerhaft am Königswall Quartier beziehen, im „Löwenhof“.

Schade, daß mail die jetzigen Räume nicht dorthin mitnehmen kann. Peatc Voßmann jedenfalls fand sie geradezu ideal für seine Boden-Installationen, beispielsweise für „Der schwarze Block“ (1993), der sich aus genau 444 kleinen Teilen zusammenfügt. Die meisten sind schwarz angemalte, kaum mehr als solche erkennbare Zigarettenschachteln.

Die stumme Parade der verfremdeten Päckchen wird in Zeitabständen gesteuerten Zufalls von einer Neonröhre beleuchtet, das Flackern spiegelt sich in Cellophan-Hüllen. In gemessener Entfernung thronen fünf Figuren und besehen sich das Schauspiel. Die Arbeit scheint auf der Grenzlinie zweier Gesten zu balancieren: einsammeln und verstreuen, ordnen und sich über die entstandene Ordnung ein wenig mokieren.

Peatc Voßmann, sympathisch genug, nimmt seine Objekte und Bilder selbst nicht gar so bierernst. Nach einer Schlachthof-Besichtigung im Münsterland entstand das vierteilige Bild „Im Jahr des Schweins“. Man sieht die Tiere in diversen Schattenrissen, beinahe lustig umstellt von bedrohlichen Gerätschaften. Dazwischen kleben kleine Tapetenstücke biederster Machart. Ob Gewalt etwas mit Biederkeit zu tun haben könne? Das wäre vielleicht eine Frage.

Völlig losgelöst und schwerelos wirken jene schemenhaften Figuren aus Voßmanns neuer Serie „Flyers & Dancers“. In unbestimmbaren, mit Sprühkleber eigentümlich verwischten Farbräumen scheinen diese Phantome wirklich zu fliegen und zu tanzen. Ein Gefühl der Freiheit, aber auch der Unsicherheit stellt sich ein. Es könnte ja sein, daß dem Flug der Sturz ins Ort- und Bodenlose folgt. Oder aber anders herum: daß diese Wesen zuerst zu fallen drohen und sich dann in die Lüfte erheben.

„Erlebnisraum Kunst“ heißt die Reihe, in der Voßmann vorgestellt wird. Und man erlebt hier auch etwas. Nichts Spektakuläres. Aber man bekommt diese freundlichen kleinen Stupser zu produktiver Gedankenzerstreuung. Auf daß man sich dann wieder sammle.

Kunstverein Dortmund, Kaiserstraße 129/131 (Ecke Franziskanerstr.). Tel. 0231/57 87 36). 28. August bis 25. Oktober, Di-Fr 15-18, So 11-16 Uhr.




Das Paradies am Abgrund – „Reservate der Sehnsucht“ in der früheren Dortmunder Union-Brauerei

Von Bernd Berke

Dortmund. Die mit Bildschirmen übersäte Wiese gehört nicht etwa zu einem Stadtpark, sondern wurde in einem Turmgeschoß auf dem früheren Gelände der Dortmunder Union-Brauerei eigens angelegt. Die Grünfläche ist Teil der umfangreichen Ausstellung „Reservate der Sehnsucht“.

Die Schau soll der seit Jahren aufgelassenen Industriebrache, deren Zukunft völlig ungewiß ist, vorübergehend neues Leben einhauchen. 35 Künstler aus 12 Ländern präsentieren auf 4000 Quadratmetern vor allem videotechnische Installationen und Fotografie.

Der besondere Reiz ergibt sich aus Kontrasten zwischen dem verrottenden Brauerei-Gebäude und den künstlerischen Antworten auf diese Umgebung. Neben der Jawlensky-Ausstellung am Ostwall bietet Dortmund damit ein zweites Großereignis der Bildenden Kunst.

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„Erschütternd und zugleich faszinierend“ fand Ko-Kuratorin Iris Dressler den Anblick, der sich im November 1997 im ehemaligen Gebäude der Dortmunder Union-Brauerei bot. „Überall“, so die Frau vom örtlichen Kunstveranstalter „hARTware projekte“, „häufte sich damals der Schutt.“ Hier sollte eine Ausstellung gezeigt werden? Jetzt, nach rekordverdächtig kurzer Vorbereitung, ist sie fertig. Und der Gang durch vier Etagen des gigantischen Industrieturms gerät zum Abenteuer.

Die mit einem Etat von 900 000 DM erstaunlich günstig erstellte Schau (Hauptförderer: Land NRW, Kultur Ruhr GmbH), bestückt auch mit Arbeiten namhafter documenta- und Biennale-Teilnehmer wie Flatz und John Armleder, gibt sich schon im Ansatz illusionslos. Fraglose Voraussetzung ist das vielbeschworene „Ende der Utopien“. Im Unbehagen der Bewußtseins-Trümmer möchte sich der Mensch allerdings irgendwie einrichten: Also sucht er letzte „Reservate der Sehnsucht“ – so heißt denn auch die Unternehmung.

Das Logo – eine kleine Palme neben dem „Dortmunder U“ (Union-Symbol) – beschwört den alten Traum nicht ohne Ironie: „Unter dem Pflaster ist der Strand“. Noch weiß niemand, was künftig mit der Industrie-Brache geschehen soll. Jetzt haucht (leider nur zeitweise) die Kunst dem Gelände neues Leben ein. Es ist freilich vielfach elektronisch erzeugt. Viele der 35 Künstler aus 12 Ländern drücken sich mit Video- oder Computertechnik aus. Das wiederum paßt zum Dortmunder Traum vom avancierten Medien-Standort.

Das „U“ erzeugt eine majestätische Blickachse

Vier riesige Geschosse mit insgesamt rund 4000 Quadratmetern werden „bespielt“, aufwärts geht’s per Fahrstuhl oder über schmale Treppen. Doch halt! Gleich ganz unten darf man ein wenig im Paradies schwelgen. Die beiden Künstlerinnen vom „ipfo“ (Institut für Paradiesforschung, Dortmund / Münster) lassen via CD-Rom geläufige Vorstellungen vom idealen Urzustand zu Computer-Bildern gerinnen.

In der nächsten Raumflucht machen historische und aktuelle Fotos klar, daß das „Dortmunder U“ eine der wenigen majestätischen Blickachsen der Innenstadt erzeugt. Ein machtvolles Wahrzeichen, bereits Inszenierung für sich.

Das nächsthöhere Stockwerk ist flächendeckend begrünt worden. Auf der schon etwas modrig duftenden Wiese (oh, Vergänglichkeit!) wird es jeweils sonntags um 16 Uhr – frei nach dem Gemälde von Edouard Manet – ein „Frühstück im Grünen“ geben.

Natur ist nur noch als ferne Ahnung vorhanden

Doch die Picknick-ldylle wird mehrfach durchbrochen: Da sind die trostlos gekachelten Wände und rostige Reste der einstigen Braustätte, vor allem aber Video-Installationen, in denen Natur bestenfalls virtuell, als ferne Ahnung vorhanden ist; oder nur noch als Restgrün wie auf jenen horriblen Fotos, die unwirtliche Folgen des Alpentourismus (Walter Niedermayr) bzw. künstliche Kulissen bundesdeutscher Freizeitparks zeigen.

Es gibt Stationen in dieser Schau, an denen man nachhaltig mit eigenen und kollektiven Ängsten konfrontiert wird. Einmal sieht man sich durch eine Art Labyrinth geschleust, an dessen Ende man schaurige, mit Kissen gefüllte Wannen vorfindet. Durch Bodengitter wirft man schaudernd Blicke in tiefe Abgründe des Baues.

Durch eine Installation des Künstlers Flatz muß man sich durchkämpfen. Er hat Dutzende von Sandsäcken so dicht an dicht gehängt, daß man nicht ohne Hiebe vorbeikommt. In einem weiteren Raum ist man allseits umgeben von endlos abgespulten Aufnahmen eines kleinen nervösen Vogels, der aus dem Käfig heraus will. Ein Inbild der Unfreiheit. Wer sich hier eine Stunde aufhielte, der wüßte wohl, was Psychoterror ist.

Schließlich Jan Peter E. R. Sonntags Sound-Kreation im Turmgeschoß: Sie klingt, als werde gleich das ganze Gebäude ins Firmament abheben. Vielleicht finden wir sie ja dort: die neue Utopie.

„Reservate der Sehnsucht“. Früheres Gelände der Union-Brauerei, Dortmund (Zugang Ritterstraße). 21. August (Eröffnung 19 Uhr) bis 4. Oktober. Di-So 11-20 Uhr. Eintritt 10 DM (ermäßigt 5 DM). Kataloge 25 und 15 DM, zusammen 30 DM.




Der Kick in der Kunst – Ausstellung rund um den Fußball im Mönchengladbacher Schloß Rheydt

Von Bernd Berke

Mönchengladbach. Worum dreht sich (manchmal) das ganze Universum? Der Künstler Heinz-Josef Mess hat da so seine Vermutung – und äußert sie im Bilde: Mitten im endlosen galaktischen Nebel thront ein Zentralgestirn, das uns irgendwie bekannt vorkommt. Es ist ein Fußball. Wie sehr Kultur mit Kult und Kult wiederum mit Kicken zu tun hat, untersucht jetzt eine Ausstellung im ehrwürdigen Mönchengladbacher Schloß Rheydt.

Der Ball ist rund, das Spiel dauert 90 Minuten, das Runde muß ins Eckige, „Grau is‘ alle Theorie, entscheidend ist auf m Platz“ – derlei zeitlose Fußball-Weisheiten lassen auch Künstler nicht ruhen. Die pfiffige Gladbacher Schau versammelt staunenswerte Stücke. Wer hätte etwa gewußt, daß der berühmte Pop-Künstler Andy Warhol nicht nur eine Marilyn Monroe, sondern auch den Kölner Torwart Toni Schumacher als Glamour-Star porträtiert hat?

Wie eine Reliquie: Originalabguß von Netzers Schuh

Warhols Antipode Joseph Beuys hatte exakt den gleichen Club im Sinn, als er 1978 ein mit Geißbock-Maskottchen verziertes Schlüsselbund kurzerhand per Signatur zum Kunstwerk erklärte.

Besonderen Drall bekommt die Ausstellung durch Traum-Kombinationen zwischen Kunst und Kultgegenständen der Fans: Wimpel, Trikots, Pokale und dergleichen. Letztere werden wie Reliquien mit grünem Samt drapiert, beispielsweise ein Originalabguß von Günter Netzers Schuh oder ein Abdruck vom Fuße des Berti Vogts, der sich die Ausstellung demnächst anschauen wird.

Ironische Antwort auf den Kult um Vereinsfarben: Stefan Banz hat einer nackten Frau den schwarz-gelben Dress von Borussia Dortmund direkt auf die Haut gemalt, ein unbekleideter Mann trägt derweil das Schalker Königsblau. Auch sein „bestes Stück“ ward beim Kolorieren nicht vergessen…

Der Künstler Dag Seemann zeigt den Fußball als Religionsersatz dieser Zeit: Die von ihm kreierte Abfolge (altgriechische Amphora, Abendmahls-Kelch und WM-Trophäe) spricht für sich.

Die Aggressivität des Sports ist gleichfalls künstlerisches Thema. Thomas Virnich etwa hat ein kleines Spielzeug-Fußballfeld aus Blech gründlich zerfetzt und dann mit dem Lötkolben bearbeitet. Die versengten Stellen künden nicht vom hehren „Fair geht vor“, sondern gleichsam von einer „Taktik des verbrannten Rasens“. Der Werktitel zielt in die gleiche Richtung: Beim Match ist es „Drunter und drüber“ (1995) gegangen.

Abstrakter, aber ebenso faszinierend ist die Spuren-Suche von Susken Rosenthal. Sie hat sämtliche Spielzüge einer Länderspiel-Partie zwischen Argentinien und Deutschland auf ein verdunkeltes Spielfeld graviert. Resultat: ein Gewitter aus energetischen Linien mit bedrohlichen Ballungen. Dem Spiel-Verlauf wird hier ein Eigenwert zuteil, der sich von den Spielern selbst gelöst und sich zeichenhaft weit über sie erhoben hat.

Daß „das Spiel an sich“ machtvoller sein könnte als das arme kleine Individuum, teilt als Angstvision auch Dieter Asmus mit: Sein „Torwart“ (1970) wird von einem gigantischen roten Ball schier überrollt.

Weitaus kühler gibt sich Gregor Russ, der die Markierungslinien des Spielfelds auf 72 Bildern variiert: Anstoßkreis, Elfmeterpunkt und Fünfmeterraum mutieren dabei zu geometrischen, nach Regeln optischer Schönheit frei kombinierbaren Elementen.

„Heimspiel. Fußball: Kult und Kunst“. Mönchengladbach, Städt. Museum Schloß Rheydt, Schloßstr. 508. Bis 4. Okt. („Verlängerung möglich / kein Elfmeterschießen“). Tägl. außer Mo 11-19 Uhr. Katalog 29 DM.




Glühende Landschaften der Seele – Dortmunder Ostwall-Museum wartet mit betörender Jawlensky-Ausstellung auf

Von Bernd Berke

Dortmund. Psychologen haben allerhand Farb-Therapien entwickelt, mit denen sie ihren Klienten heilsame Gefühle einflößen wollen. Doch die üppigsten Feste der Farbe werden nun mal in der Kunst gefeiert – und eins der schönsten begeht man nun im Dortmunder Ostwall-Museum: 150 Ölgemälde des Alexej von Jawlensky (1864-1941) und rund 30 Werke von Zeitgenossen werden aufgeboten, um die Sinne zu betören.

Museum-Kustos Tayfun Belgin stapelte gestern reichlich tief: Einen „kleinen Beitrag“ zur Jawlensky-Debatte wolle man leisten. Er selbst und die Sponsoren werden wohl wissen, daß sie der Stadt und dem Umland ein Ereignis ersten Ranges beschert haben.

Leidiges Thema seit dem Essener Reinfall mit gefälschten Jawlensky-Aquarellen: Bis zum stichhaltigen Beweis des Gegenteils hält Tayfun Belgin alle in Dortmund gezeigten Bilder für echt, man habe die Herkunftswege geklärt. Generelles Problem allerdings: Jawlensky sei „ein miserabler Buchhalter“ seiner eigenen Produktion gewesen.

Nun aber stracks zum Genuß! Grandios schon der Auftakt im Lichthof des Museums, das übrigens die zweitgrößte Jawlensky-Kollektion Europas aufweist. Hier geht es erst einmal realistisch zu. Man bestaunt opulente Porträts („Maria“, „Hélène im spanischen Kostüm“) aus Jawlenskys Frühwerk. Vergleichsbilder etwa von Ilja Repin und Anders Zorn runden den ersten Eindruck ab: Auch ein Jawlensky hat sich – natürlich – im Horizont seiner Zeit bewegt und sein Schaffen konventionell begonnen.

Meisterliche Behandlung von Farbwerten ist freilich schon erkennbar. Das Haar der „Blondine“ (1894) erstrahlt nahezu überirdisch. Farbe als geistige Erscheinung. Das Streben nach farblicher Harmonie bestimmt Jawlenskys Werk um die Jahrhundertwende. Im „Stilleben mit Samowar“ (1901) erklingen die Tonwerte wie zarte Musik, später wird die Skala kräftiger: Da ergießt sich glühendes Fühlen in ebenso glühende Farben. Außerordentlich die Perspektive im Bild „Schwarzer Tisch“ (1901). Am obersten Rand setzen Blumen und ein Teller sparsame Farbakzente, der Tisch scheint – seines festen Halts beraubt – auf den Betrachter zuzurutschen.

Im Schmerz richtet sich der Blick ganz nach innen

Jawlensky suchte nach einem Stil, mit dem er nicht so sehr die sichtbare Stofflichkeit erfassen, sondern vielmehr in die Innenwelt der Gefühle vordringen konnte. Zeitweise orientierte er sich an Van Gogh (deutlich in Jawlenskys „Stillleben mit Zitrone und Hyazinthe“, 1901) oder an den flirrenden Farbpunkten der Pointillisten. In Dortmund belegt eine Landschaft von Paul Signac diesen Einfluß.

Häufig wiederkehrendes Motiv auf Jawlenskys Landschaften (u. a. aus Murnau) sind jene Wegbiegungen, deren Verläufe wohl immer auch den Lebens-Weg bedeuten: Wege des Innehaltens, Wege der Sehnsucht. Auf dem Bild „Einsamkeit“ ist zwar keine menschliche Figur zu sehen, doch ein Telegrafenmast ragt 1 ganz allein vor einem von fernher leuchtenden Gebirge auf. Schwankende Häuser und Hügel lassen das Erschauern vor Natur und Dingwelt spürbar werden. Es sind Landschaften der Seele.

Die Dortmunder Schau sättigt nicht nur die Lust am Schauen, sie schickt sich überdies an, Fachfragen aufzuwerten. Beispielsweise: War Jawlensky Expressionist? Der direkte Vergleich der Jawlensky-Arbeit „Stilleben mit bunter Decke“ (1910) mit „Die roten Teppiche“ (1906) von Henri Matisse weist jedenfalls in eine andere Richtung.

Die obere Etage ist zum großen Teil den vielfach variierten Kopf-Bildern vorbehalten. Es gibt ganze Serien maskenhafter Häupter mit bannenden Blicken, aber auch kühl und konstruktiv „gebaute“ Köpfe, die gleichwohl träumerischen Ausdruck annehmen können.

Am Ende stehen Einkehr und schmerzliche Abwendung von der Welt: Der bereits schwer erkrankte Jawlensky nannte diese auf Grundlinien reduzierten Antlitze „Meditationen“. Sah man vorher oft beschwörend weit aufgerissene Augen, so sind diese nun stets geschlossen. Im Leid richtet sich der Blick nach innen.

Alexej von Jawlensky – Reisen, Freunde, Wandlungen. Museum am Ostwall, Dortmund. 16. August bis 15. November. Eintritt 13 DM, Katalog 49,80 DM.

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Zweifel an Jawlensky-Bild gesät

Dortmund. (bke) Vor einem halben Jahr hatte das Essener Folkwang-Museum eine Jawlensky-Ausstellung gezeigt, die etliche Fälschungen enthielt. Gestern weckte ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Zweifel an einem Bild, das ab 16.August in der Jawlensky-Schau des Dortmunder Ostwall-Museums zu sehen sein soll.

Es geht um die Arbeit „Heilandsgesicht: Die heilige Stunde – Letztes Schauen“, die aus einer Wiesbadener Privatsammlung nach Dortmund kommt. Hierbei handele es sich, so jedenfalls die FAZ, „um eine offensichtliche, bis hinein in die eigentlich zufällige Ausfransung von Pinselstrichen detailversessene Kopie des allerdings vom Kopisten nicht genau verstandenen“ Jawlensky-Bildes „Heilandsgesicht: Letztes Schauen“.

Ostwall-Kustos Tayfun Belgin, zuständig für die Dortmunder Schau, sagte gestern auf WR-Anfrage, er halte das Bild aus guten Gründen für echt. Jawlensky habe oft Kopien eigener Motive angefertigt und „leider manchmal auch schlechte Bilder“ produziert. Der FAZ-Beitrag erschöpfe sich in Behauptungen und bleibe Beweise schuldig.

(Meldung erschienen 11.8.1998)

 




Piacssos Lust am Wandel – Museum Bochum zeigt 140 Lithographien des Spaniers

Von Bernd Berke

Bochum. Bezwingende Kraft des Genies: Vor Jahr und Tag hat Bochums Museumsdirektor Dr. Hans Günter Golinski an einem Seminar teilgenommen, in dem ein bißchen am Weltruhm des Pablo Picasso gekratzt werden sollte. Mögliches Motto: „Der überschätzte Spanier“. Doch gegen das kaum überschaubare Jahrhundertwerk kam man mit rebellischem Sinn und Krittelei nicht so recht an. Und jetzt ist Golinski heilfroh, daß er eine Picasso-Schau in seinem Hause zeigen kann.

Die Museumsräume mußten eigens auf unter 50 Lux abgedunkelt werden, so empfindlich sind die 140 Blätter aus den Jahren 1925 bis 1960. Beim Aufbau trug Golinski ständig das Lichtmeßgerät bei sich. Die druckgraphischen Schätze gehören schließlich der Westdeutschen Landesbank und den Westfälischen Sparkassen, die die insgesamt 750 Arbeiten umfassende Kollektion des holländischen Druckereibesitzers Huizinga erworben haben und sie ab 2001 dauerhaft in Münster präsentieren wollen.

Ein Hauch vom südfranzösischen Lebensgefühl

Der Bochumer Museumsdirektor gewinnt dem Lichtmangel einen besonderen Reiz ab: Ein wenig „wie hinter halb geschlossenen Fensterläden in Südfrankreich“ könne sich der Besucher hier fühlen. Nun ja. Etwas anders ist’s dort unten freilich schon.

Doch die zumeist dort entstandenen Kunstwerke entschädigen fürs entgangene reale Flair des sonnigen Südens. Picasso erweist sich hier abermals als grandioser Einsammler von Anregungen aller Art, die er seinem schier grenzenlosen Bildkosmos einverleibt. Auf bestimmte Formensprachen wollte er sich nicht festlegen. Gott, so sinnierte er einmal, habe Giraffen und Elefanten geschaffen, ohne auf einen einheitlichen „Stil“ zu achten.

Das Verfahren der Lithographie (Flachdruck vom Stein) kam seinem flackernden Drang zur spontanen Schaffensweise entgegen. Hinzu kam die Zeitstimmung: Nach der Begegnung mit dem Drucker Fernand Mourlot kam sich Picasso ab 1945 immer öfter auf die Lithographie zurück.

Der Krieg war vorbei, man atmete tief durch und wollte nun jede Freiheit genießen. Etliche Arbeiten haben den Charme des skizzenhaften Anbeginns aller künstlerischen Schöpfung, nur wenige sind „klassisch“ streng ausgearbeitet. Und doch darf kein Strich hinzugefügt oder entfernt werden, das vermeintlich „Unfertige“ ist auf seine Weise vollendet. Fortwährend befindet sich das Werk in experimenteller Bewegung: Man sieht in Bochum oft verschiedene Zustände ein- und desselben Motivs, Stimmungen wechseln gelegentlich mit der Tageszeit. Alles fließt, alles ist im Wandel.

Thema und Variationen: Eine ganze Wand ist mit (Friedens)-Tauben gefüllt, ganze Raumfluchten mit Frauengesichtern, oft wie Sonnen oder Blumen wirkend, wie es schönen Frauen zukommt (zumal den Lebensgefährtinnen Jacqueline Roque und Françoise Gilot). Auch findet man subtile Szenen zwischen Maler und Modell – gleichermaßen künstlerische wie erotische Selbstvergewisserungen, meist unterschwellig spannungsgeladen, selten erlöst und erfüllt.

Vielfältige Mischungen aus Angst und Lust treten da zutage. Der Faun (auch so ein Lieblingsmotiv) spielt die Flöte nicht nur lockend, sondern so, als wolle er sich zugleich Mut machen und böse Geister verjagen. Übrigens sind in Bochum keine sonderlich drastischen sexuellen Darstellungen zu sehen, die es von Picasso zuhauf gibt. Selbst Frauenakte wirken in dieser Zusammenstellung eher vergeistigt.

Verblüffende Reduzierungen aufs Wesentliche kann man auch anhand der Stierkampfbilder studieren. Aus wenigen Strichmustern ergeben sich aufregende Vogelperspektiven auf jene Arenen, in denen sich das Drama zwischen Leben und Tod abspielt.

Pablo Picasso, Lithographien. Museum Bochum, Kortumstraße 147 (Tel. 0234 / 910-2237). Bis 30. August. Di/Do/Fr/Sa 11-17, Mi 11-20, So 11-18 Uhr. Begleitbuch 39 DM.




Chiffren der Leiblichkeit – Rosemarie Trockels Paare

Von Bernd Berke

Düren. „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei“, heißt es schon in der Bibel. Daß der junge Mann alsbald sein Elternhaus verlassen und „einem Weibe anhangen“ werde, ist gleichfalls in der Heiligen Schrift überliefert. Mit Freuden und Leiden der Paarwelt haben sich seitdem Heerscharen von Künstlern befaßt.

Letztgültige Auskunft ist auf diesem Gebiet natürlich nie zu erhoffen. Drum ist’s ja ein ewiges Thema. Mit ihrer Ausstellung „Paare“ reiht sich denn auch die 1952 in Schwerte geborene documenta-Teilnehmerin Rosemarie Trockel (die in Düren just den mit 25 000 DM dotierten Preis der Günther-Peill-Stiftung erhält), in die Phalanx der Fragenden ein. Doch sie fragt so nachdrücklich wie nur wenige.

Der Mensch als kuschelndes, kosendes Wesen

Die ausgestellten Fotografien und Zeichnungen sowie ein Videofilm zeigen immer wieder Paare, Paare, Paare; meist in der landläufigen Version weiblich – männlich, im Einzelfalle gleichgeschlechtlich. Auf den Fotos sind sie durchweg nackt und in mancherlei Positionen der Nähe und Umschlingung zu sehen. Der Mensch als kuschelndes, kosendes Wesen. Auf Gedeih und Verderb.

So illusionslos genau und an entscheidenden Punkten doch diskret ist der Blick, daß er jeden Voyeurismus weit hinter sich läßt. Genitalien bleiben verborgen. Es geht hier ja auch weniger um erotisches Verlangen, erst recht nicht um sexuelle Turnübungen, sondern vielmehr um das Aufspüren und Festhalten kostbarer Momente menschlicher Intimität überhaupt. Die drückt sich eben mit Haut und Haaren, Gesten und Gliedmaßen aus – und sie wirkt in der Summe wie eine Geheimschrift der Leiblichkeit. Es sind Chiffren einer Sprache, die uns zutiefst berührt.

Selig, zärtlich – und schon preisgegeben

Kostbare Momente allein? Das nun auch wieder nicht. Die geradezu schmerzhaft deutlich von einer konkreten Umgebung freigestellten, ins umgebende Weiß „ausgesetzten“ Leiber dürften, all ihrer innigen Zweisamkeit zum Trotz, auch gemeinsam vereinzelt oder gar gefährdet sein. Dabei hat doch Rosemarie Trockel, in deren Bildern sich Furcht und Hoffnung genau die Waage halten, nur frischverliebte Paare für ihre Studien ausgesucht. So selig, so zärtlich – und schon so preisgegeben.

In den Zeichnungen führt Rosemarie Trockel das Thema weiter. Seltsame Mutationen, Durchdringungen und Symbiosen sind zu besichtigen. Mann und Frau sind beispielsweise durch ein gemeinsames Ohr miteinander verbunden, oder sein Bartwuchs geht unmittelbar in ihren Haarschopf über. Beide wirken nicht liebend verdoppelt, sondern jeweils wie versehrt. Andere Männerfiguren tragen die Bildnisse ihrer Partnerinnen als unabweisbare Brandzeichen des Schicksals auf den Körpern – übermächtige Bindungskraft, die eine Art Resignation nach sich zieht.

Und die Alternative? Mindestens ebenso schmerzlich: „I am alone“ (Ich bin allein / einsam) lautet der Aufdruck auf dem T-Shirt eines Mannes mit leerem Blick. Kein selbstbewußter Single, fürwahr. Eine durch ein stilisiertes Schlüsselloch gesehene Frau hat derweil ihren Pulli vorn hochgekrempelt: „I love my…“ steht darauf – und gleich unter dem Schriftzug wogen ihre Brüste. Traurige, absurde Niederungen der Selbstanpreisung auf dem Liebesmarkt…

Rosemarie Trockel: „Paare“. Leopold-Hoesch-Museum. Düren, Hoeschplatz. Bis 30. Juli, Mi-So 10-13 und 14-17 Uhr, Di 10-13 und 14-21 Uhr.




Normal für alle Ewigkeit – Die Holzskulpturen des Stephan Balkenhol in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wie unhöflich! Gleich die erste Skulptur dreht einem beim Betreten des Museums den Rücken zu. Man muß erst um den „Großen klassischen Mann“ herumgehen, um sein hölzernes Gesicht zu sehen. Doch er blickt keineswegs zurück, sondern schaut in unbestimmte Fernen – und legt dabei den linken Arm so geziert hinter den Kopf, als habe er die Geste bei einer antiken Plastik abgeschaut, sie aber nicht so ganz ernst nehmen können.

Ansonsten sieht die Figur ganz und gar durchschnittlich aus. Braune Hose, weißes Hemd, keine besonderen Kennzeichen. Sozusagen ein „Stino“, also ein Stinknormaler. Nun schweift der Blick zur gleichfalls frappierend gewöhnlichen „Großen Frau mit grüner Hose“, die – entschieden weggerückt vom männlichen Pendant – auf ihrer eigenen Holz-Insel wartet. Auch sie starrt ins Leere und kreuzt die Arme vor der Brust, in altägyptischer Manier. Ein banaler Augenblick, festgehalten wie für die Ewigkeit. Bildnis einer bewegungslosen Zeit und somit vielleicht gar die ideale Kunst zur Ära Helmut Kohl?

Schon endlos lange und für immer scheinen diese Figuren so dazustehen. Sie schauen in doppeltem Sinne „unverwandt“, will heißen: ohne Unterlaß und beziehungslos. Es sind keine Individuen, sondern anonyme, unaufgeregte, ja unangreifbar wirkende Gestalten. Eine Überhöhung alltäglicher Momente? Schmerzlich verfestigte Gesten der Verlegenheit und Entfremdung gar? Von beidem wohl ein wenig. Und gewiß eine vage, aber nachhaltige Irritation. Ohne Pathos, ohne Belehrung.

Splitter und Späne sind noch sichtbar

Stephan Balkenhol, dessen neuere Arbeiten jetzt in Wuppertal zu sehen sind, kann sich mit derlei Skulpturen vor Anfragen kaum retten. Oft produziert er die Nacht durch, gleichsam „just in time“, also zeitlich punktgenau nach Bestellung. Sieht man die Wuppertaler Auswahl, kann man die Interessenten gut verstehen.

Im zweiten Raum vollzieht sich ein stilles Ereignis. Wiederum jeweils aus einem ganzen Holzklotz hervorgetrieben, sind hier „Zehn tanzende Paare“ (1996) kaum bestimmbaren Alters in ihren gemessenen Bewegungen eingefroren. Die Herren allesamt in schwarzen Hosen und weißen Hemden, die Damen in züchtigen Kleidchen eines Standard-Zuschnitts. Von daher erzkonventionell und auch keinem bestimmten Jahrzehnt zuzuordnen. Doch überhaupt nicht geschönt. Denn die bemalten Holzfiguren sind an der Oberfläche roh und rissig, hie und da krümmen sich noch Splitter und Späne.

Es ist auch Kunst zum Schmunzeln

Balkenhols Serie „Architekturskizzen“ nimmt auf groteske Weise architektonisch Maß an der menschlichen Gestalt. Die Vorzeichnungen wirken karikierend, die an den Wänden aufgereihten dreidimensionalen Ausführungen auf kleinen Holzpodesten vor allem in der Summe bizarr: ein immer wiederkehrendes kleines Mannsbild, paßgenau eingefügt in ein gebautes Viereck; oder von einer Säulenordnung eingezwängt wie in einen Schraubstock.

Ein anderer Herr wird von einer Hausform mit Satteldach flunderflach und rücklings auf den Fußboden gedrückt – nur Kopf, Hände und Füße schauen noch her aus, als zappelten sie hilflos. Das Haus ist sein fremdartiger Körper, sein Körper ein Haus. „Architekturmodell Mann“ heißt (mit leicht ironischem Unterton) diese Arbeit, die auch unsere Naturferne betreffen mag. Sollte sie dergleichen tiefschürfende Hintergründe haben, so ist s doch zunächst mal eine Schmunzel-Kunst.

Subtil und zugleich witzig geht Balkenhol auch sonst mit Figürlichkeit um: Man belächelt vier hölzerne Männerakte im Mini-Format, die große Wandtafeln mit gezeichneten Frauenakten zu bewundern scheinen. Und man freut sich über schwebende Holzreliefs von Männerkörpern oder drei pickende Hühner auf einem schraubenförmigen Sockel. All das sieht aus, als sei es auf etwas lachhafte Art fehl am Platze. Und doch möchte man mehr und mehr davon sehen.

Stephan Balkenhol. Kunsthalle Wuppertal-Barmen, Geschwister-Scholl-Platz. Bis zum 28. Juni. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr. Katalog 28 DM.




Gemälde wie heftige Eruptionen – Künstlergruppe „Cobra“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Als sie die deutsche Kriegs-Okkupation überstanden hatten, dürsteten sie nach Freiheit. Sie wollten sich von keinem mehr etwas vorschreiben lassen, nicht einmal von ihresgleichen. Zum Zeichen ihrer giftigen Abwehrbereitschaft gründeten sie 1948 die Künstlergruppe „Cobra“.

Es waren überwiegend Künstler aus Dänemark, Belgien und den Niederlanden, die den Namen der Gruppe aus den Anfangsbuchstaben ihrer Hauptstädte formten: Co(penhagen), Br(üssel), A(msterdam).

Schon 1951 löste sich die Formation auf. Ohnehin ging jeder seinen eigenen Weg. Ein wunderbarer Wildwuchs. Absolute Freiheit war eben wichtiger als etwaige Geborgenheit. Jetzt zeigt das Dortmunder Ostwall-Museum 143 Werke von 23 Cobra-Mitstreitern. Auch Vorfreuden und Nachwehen der Gruppenbildung gehören dazu.

„Tier, Nacht, Schrei, Mensch“

Einen Schlüsseltext zum vagen Gruppengeist schrieb der Niederländer Constant: Kunst sei im Grunde kein Gebilde aus Farben und Linien, sondern sei „Tier, Nacht, Schrei, Mensch“ – oder all das zusammen. Auf der Suche nach dem Ursprung allen Ausdrucks stieß man aufs Unbewußte, auf Träume, Rausch und Märchen. Man ließ sich von Zeichnungen Geisteskranker ebenso inspirieren wie von Kinder-Kritzeleien. Und siehe da: Der ersehnte Schlaf der Vernunft gebar nicht nur Ungeheuer, sondern vielfach ästhetische Lösungen, die heute noch überzeugen.

Etliche Bilder der Dortmunder Retrospektive gleichen gewaltigen Eruptionen. Schritt für Schritt läßt sich dies anhand einer Bilder-Reihung von Karel Appel verfolgen: erst die Geometrie, dann die zunehmende Auflösung. Asger Jorns „Verbrecher“ scheint aus dem Urschlamm der Gewalt aufzusteigen, die Bildfläche sieht aus, als sei sie besudelt von Blut und Dreck. Ein einziges Entsetzen. Da bleibt nur die Flucht, der Sturz ins Formlose.

„Zwei Sonnen“ (Titel) läßt Carl-Henning Pedersen neben einer gelbroten Figur aufgehen, die in ein Meer zu kippen scheint. Inbild einer alles hinwegflutenden Katastrophe wie am „Jüngsten Tage“. Der famose Lucebert richtet den visionären Blick auf tierhafte Gestalten, die das Innerste der Betrachterseele gleichsam anspringen. Fauchende Schrecksekunden der Freiheit.

Gruppe Cobra. Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 12. Juli. Di-So 1017, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 6 DM. Katalog 55 DM.

 




Krachlederne Verwirrung – Rauminszenierungen des Belgiers Guillaume Bijl in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Der Raum ist rundum mit roter Tapete ausgeschlagen, darauf prangen hier und da goldene Schriftzüge in altehrwürdiger Fraktur. Über der ganzen Szenerie liegt dezent gedämpftes Licht. Welch eine feierliche Einstimmung. Hier wird man bestimmt edle Dinge zu sehen bekommen. Und dann? Dann erkennt man an den Wänden acht alte und abgewetzte Lederhosen hinter Glas. Nanu?

Es will fast so scheinen, als trieben die Ruhrfestspiele mit ihrer Kunstausstellung diesmal argen Schabernack. Denn tritt man näher an die Schaustücke heran, so sieht man auch noch Messing-Schildchen, mit denen besagte Lederhosen bekannten Menschen zugeordnet werden: Eine soll angeblich der Verhaltensforscher Konrad Lorenz getragen haben, eine zweite habe der Dichter Stefan Zweig angezogen, weitere hätten dem Bergfex Luis Trenker oder dem CSU-Altvorderen Franz Josef Strauß gehört. Letzteres könnte beinahe wahr sein. Doch wer’s glaubt…

Seh-Erwartung wird gezielt unterlaufen

Wenn Seh-Erwartungen dermaßen gezielt unterlaufen werden, muß wohl Hintersinn im Spiele sein. Der weithin renommierte belgische Künstler Guillaume Bijl (Jahrgang 1946), vor Jahren auch schon mal im Dortmunder Ostwall-Museum präsentiert, hat für das vielteilige Arrangement mit den bajuwarischen Beinkleidern samt einschlägigen Dokumenten gesorgt. Die Arbeit beansprucht das gesamte Erdgeschoß der Recklinghäuser Kunsthalle. Betrachter sollen eben meinen, sie seien in ein wirkliches, offenbar erzkonservatives Museum mit volkskundlichen Exponaten geraten.

Mit geschickt eingefädeltem Sinnentrug geht’s in der ersten Etage raumgreifend weiter. Hinter einer Kordel-Absperrung und ringsum verlegten roten Teppichen liegt ein riesiger Stein ehrfurchtgebietend auf dem Sockel. Guillaume Bijl will uns glauben machen (und zugleich daran zweifeln lassen), dies sei ein Meteorit, der anno 1932 auf die Erde gestürzt ist. Info-Tafeln an den Wänden erläutern die „Hintergründe“ und verstärken den Eindruck der astronomischen Sensation noch. Potzblitz!

Im zweiten Stock sieht man schließlich drei plastische Szenen aus der Prähistorie des Menschen: „Steinzeitler“ beim Feuermachen, bei der Bärenjagd und bei der Höhlenmalerei, also gleichsam in der Geburtsstunde der Kunst. Hier verhält sich die Sache schon ein wenig anders, denn derlei nachgestellte Szenen aus der Vorzeit können ja auch im Fachmuseum nur vage Annäherungen an eine vermutete Wirklichkeit bedeuten.

Keine bloße Parodie auf Museen

Drei irritierende Ausflüge also in die Kultur-, Erd- und Menschheits-Geschichte. Guillaume Bijls Raum-Inszenierungen schillern zwischen chamäleonhafter Anverwandlung und Verfremdung. Es sind, wenn darin auch subtiler Humor aufleuchtet, beileibe keine bloßen Parodien auf tatsächliche Museen, sondern komplexe Zeichen-Systeme, die einen auf geradezu philosophische Fragen stoßen können: Wie verändern sich die Objekte, wenn sie im Museum gezeigt werden? Mit welchem Mitteln trügt der Schein? Was ist überhaupt echt und wahr, was ist falsch? Ist nicht jede bildhafte Darstellung geschichtlicher Tatsachen sowieso schon Erfindung, Kopfgeburt, Gedankenkonstruktion?

Spaß beim Sehen, Stoff zum Nachdenken. Was will man mehr?

Kunstausstellung der Ruhrfestspiele: Guillaume Bijl. 3. Mai bis 5. Juli. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Di-Fr 10-18Uhr, Sa/So 11-17Uhr. Katalog 35 DM.




Schritt für Schritt zur Kunst – Dortmunder Galerie Utermann im neuen Domizil

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Dortmunder Galerie Utermann zählt zu den feinen Adressen der Branche. Zumal mit ausgesuchten Expressionisten bewegt man sich im Edel-Segment des Marktes, in dem Preise oft nur „auf Anfrage“ genannt werden. Jetzt verfügt man über ein neues Domizil der Sonderklasse.

Das 1956 errichtete, behutsam und stilsicher umgerüstete Haus Silberstraße 22 bietet im ersten Geschoß einen fünf Meter hohen Ausstellungsraum, der den Kunstwerken auf rund 250 Quadratmetern Luft und „Atem“ verschafft. Zu den von der Ruhrkohle AG langfristig gemieteten Räumen gehört ein riesiger Tresor, der als Depot dient. Clou der Liegenschaft ist ein umfriedeter Garten, der Skulpturen zu besonderer Geltung kommen läßt. Selbst alteingesessene Dortmunder dürften dieses grüne Idyll mitten in der City bislang übersehen haben.

Als Wilfried Utermann und seine Frau vor etwa eineinhalb Jahren an dem Gebäude entlang flanierten, stand sogleich fest: „Dies wäre der ideale Standort für unsere Galerie“. Weil sich die Verhandlungen verzögerten, schaltete sich Oberbürgermeister Günter Samtlebe persönlich zugunsten Utermanns ein.

Samtlebe ist denn auch am Mittwoch, 29. April (18 Uhr), ein Eröffnungsgast der ersten Ausstellung am neuen Platze. Werke zweier Größen der Nachkriegskunst treten in einen subtilen Dialog ein: Ölbilder von Fritz Winter (1905-1976) und Bronzeskulpturen von Karl Hartung (1908-1967). Winters schwebeleicht wirkende Bildräume und Hartungs körperhafte Plastiken markieren zwei Königswege der Formensprache in den 50er Jahren.

Bei der Wandgestaltung ließ sich Utermann von Fotos aus New Yorker Galerien der 30er Jahre anregen. Dem weißen Anstrich zog er eine dezente Leinen-Bespannung vor, denn: „Wir wollten keine Wartesaal-Atmosphäre haben.“ Auch der Treppe zum Ausstellungsraum mißt er Bedeutung zu. Anders als in der bisherigen Ladengalerie an der Betenstraße, wo man sofort „mittendrin“ stand, könne man sich hier – Schritt für Schritt – innerlich auf die Kunst einstimmen.

Galerie Utermann, Dortmund, Silberstraße 22. Tel.: 0231 / 90 63 300). Ausstellung Winter / Hartung: 30. April bis 18. Juli. Di-Fr 10-18, Sa 10-14 Uhr.




Betrübt vom Lauf der Welt – Lübcke-Museum in Hamm zeigt Karl Hofers Bilder aus der Sammlung Deyhle

Von Bernd Berke

Hamm. In der Mitte des Bildes steht der Künstler, ganz auf sich allein gestellt, die Hände zum Selbstschutz erhoben, aber eigentlich hilflos. Denn ringsum drohen maskenhafte Fratzen. „Selbstbildnis mit Dämonen“ hat Karl Hofer (18781955) diese Arbeit genannt. Und wahrlich: Er hat zeitlebens dämonische Erfahrungen machen müssen.

Die vielfältige Hofer-Werkauswahl, die jetzt in Hamm zu sehen ist, stammt aus der Sammlung des jüngst in Finanzprobleme geschlitterten Musical-Magnaten Rolf Deyhle, dem freilich das Land Baden-Württemberg just mit einer sicher hilfreichen Kreditbürgschaft zu Diensten war.

Zurück zum weniger lukrativen Leben des Künstlers Karl Hofer: Unglücklich verlief schon seine Kindheit. Kaum war er auf der Welt, starb sein Vater. Die Mutter verarmte und mußte als Haushaltshilfe ihr Dasein fristen. Bald konnte sie sich um den Sohn nicht mehr kümmern, und er kam ins Waisenhaus.

Auch nach dem Krieg ein Außenseiter

Zwar konnte er als junger Mann mit Hilfe von Mäzenen Kunst studieren, ja, er etablierte sich bis Ende der 20er Jahre als Meister der „Neuen Sachlichkeit“ und honoriger Akademie-Professor. Doch dann griffen die Nazis nach der Macht. Die Bilder Hofers, der schon 1931 vor dem heraufziehenden Unwesen gewarnt hatte, wurden als „entartet“ verfemt. 1936 malte er einen Hungernden, der verzweifelt an einem mageren Knochen nagt. Ein krasses Armuts-Zeugnis – und somit im „Dritten Reich“ mehr als mißliebig.

Nach dem Krieg, als nahezu alle Kunstwelt der Abstraktion frönte, geriet Hofer erneut in eine heftig befehdete Außenseiterposition, denn vom realistischen Abbild des Menschen und der Dinge hat er sich nie verabschiedet.

Kein Wunder, daß man vorwiegend freudlose Bilder zu sehen bekommt. Auch wenn Hofer Liebespaare oder Gruppen darstellt, wirken die Menschen seltsam vereinzelt. Nie schauen sie einander an, die Blicke irren betrübt ins Leere.

Von 1907 bis 1954 reicht die Auswahl der 66 Werke. Schon das früheste Ölbild, ein nackter „David mit der Schleuder“, kündet von Entfremdung: David steht nicht wirklich in der Landschaft, sondern davor wie ausgestanzt, von der Natur abgestemmt. Später sind die Figuren oft von knittrigen Höhlen-Formationen umgeben, aber nicht wohlig umhüllt, sondern ins schmerzliche Alleinsein gestellt.

Bildnis zweier sanftmütiger Schwestern

Für Hofers Verhältnisse ungewohnt idyllisch und delikat gemalt sind manche Landschaftbilder aus dem Tessin, doch eines läßt aufmerken: Da hat Hofer einen Bauzaun vors schöne Panorama plazierte. Die heile Welt ist abgeriegelt. Fast schon eine Vorform ökologischen Unbehagens.

In vielerlei Stilrichtungen hat sich Hofer umgetan. Die Bildnisse badender Mädchen lassen Einflüsse von Paul Cezanne ahnen, die Stilleben der 20er Jahre sind gewiß nicht ohne Kenntnis des Kubismus entstanden. Behutsame Auflösung plastischer Körper in Farbflächen war freilich schon das Höchste an Abstraktion.

Die oft resignierende, gelegentlich auch depressive Grundstimmung verdichtet sich – mit gutem Grund – in den Bildern aus der Trümmerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein brennender Hampelmann schreit vor Schmerzen. Kein Kinderspiel. Ein gebrochener Mensch geht durch eine zerstörte Stadt, ein anderer kriecht vollends am Boden.

Doch es gibt auch ergreifende Momente der Zärtlichkeit in dieser Ausstellung: Zwei Schwestern, sanftmütig sinnend, so zart wie von Botticelli hingehaucht. Gleichfalls in ihre Innenwelt versunken ist die junge Frau, die sich „Nach dem Bad“ (Titel, 1934) abtrocknet – ganz so, als suche sie nach einem tröstlichen Gefühl.

Karl Hofer. Gustav Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel.: 02381 / 17 57 01. Bis 28. Juni. Di-So 10-18, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 7 DM. Katalog 25 DM.




Des Menschen Fleisch in Lust und Leid – Der streitbare Wiener Bildhauer und Maler Alfred Hrdlicka wird heute 70 Jahre alt

Von Bernd Berke

Provokation ist das Lebenselixier des Wiener Malers und Bildhauers Alfred Hrdlicka, der heute 70 Jahre alt wird. Hrdlicka würde gewiß glauben, er hätte etwas falsch gemacht oder seinen Elan verloren, wenn sich eines Tages niemand mehr über ihn und seine Werke aufregt.

Manchmal schoß der Berserker weit übers Ziel hinaus. 1994 etwa, als er den Sänger Wolf Biermann wegen dessen Kritik an der PDS einen „Arschkriecher“ nannte und ihm gar „die Nürnberger Rassegesetze an den Hals“ wünschte. Eine schreckliche verbale Entgleisung, die er wohl auch selbst bedauert hat. Aber er ist nicht der Mann, der klein beigibt und sich öffentlich entschuldigt. Als angenehmen oder gar pflegeleichten Menschen wird man ihn nicht bezeichnen können, sondern nur als unbequemen, unbeugsamen.

Kommunismus als Richtschnur

In der Kunst ist Hrdlicka einem ins Extreme getriebenen Realismus auf fast schon sture Weise treu geblieben. Das mißfiel den Verfechtern dezenter Abstraktion. Hrdlickas Darstellungen geiler oder geschundener Körper (die uralten Themen: Eros und Tod) sind von einer kraftgenialisch und manchmal brutal anmutenden Überdeutlichkeit. Vergrößert und vergröbert erscheinen Genitalien, aber auch zerfetzte Gliedmaßen. Es sind schmerzliche Darstellungen der Lust und des Leidens, auch des Mitleidens. Das Bild des Menschen wird auf fleischliche Gegenwart fokussiert, ob als intakte Figur oder als verrenkter Torso. Faszination durch Gewalt und der Abscheu vor ihr werden zuweilen eins.

Hrdlicka wurde am 27. Februar 1928 als Sohn eines kommunistischen Gewerkschafters in Wien geboren. Auch er selbst orientiert sich am Kommunismus, war aber klug genug, 1956 nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands aus der Partei auszutreten.

Entschieden antifaschistisch

Als Künstler stellt er sich ganz entschieden in die sozialkritische Tradition der Linken. Immer wieder hat er entsprechende Aufträge bekommen: 1981 schuf er für Wuppertal eine tonnenschwere Skulptur des Friedrich Engels, 1985/86 für Hamburg ein mehrteiliges Gegen-Monument zum dortigen NS-Kriegerdenkmal aus dem Jahre 1936, und 1988 erhielt Wien sein „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“. All diese Projekte zogen jahrelangen Streit um Gestaltung und Finanzen nach sich. Doch durch derlei Kleinigkeiten hat sich Hrdlicka noch nie beirren lassen.

Von Beherrschung der Technik und des Materials zeugen nicht nur seine Plastiken, sondern auch Radierzyklen wie „Tausendundeine Nacht“, „Roll over Mondrian“, „Wie ein Totentanz“ oder zeichnerische Werkgruppen wie zu Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“.

Hrdlicka fühlt sich vom Kunstbetrieb gelegentlich vernachlässigt, doch es hat in den letzten Jahren bedeutende Retrospektiven gegeben. 1994 war er im Dortmunder Harenberg-Center höchst präsent, 1997 richteten ihm Franfkurt und Wien eine große Werkschau aus.

 




Als das „Milljöh“ noch frisch und lebendig war – Zeichnungen von Heinrich Zille im Kölner Kollwitz-Museum

Von Bernd Berke

Köln. Über Heinrich Zille rümpfen viele Kunstkenner die feinen Nasen.Gar zu lieblich erscheinen aus heutiger viele seiner „Milljöh“-Studien.

So kommt es.‘ daß weite Teile seines populären Werkes nicht in Museen vorgezeigt werden, sondern in Privatsammlungen vor sich hin schlummern. Das Kölner Kollwitz-Museum macht nun eine Ausnahme und holt rund 180 Zille-Zeichnungen aus solchem Schattendasein.

Zilles Gesamtwerk war für Jahrzehnte schmerzlich halbiert, die Bestände fast zu gleichen Teilen auf den Osten und Westen Deutschlands verstreut. Seit der Vereinigung ist der umfassende Zugang problemlos möglich. Davon profitiert auch die im Hannoveraner Wilhelm-Busch-Museum getroffene Auswahl, die Köln in konzentrierter Form erreicht und die einmal wieder den Zeichner würdigt. Zuletzt waren weitaus häufiger Zilles Fotografien gezeigt worden.

Besonderes Augenmerk gilt hier nicht den detailliert ausgeführten Arbeiten, sondern den meist vor Ort entstandenen, flüchtigen Skizzen, also der noch ganz lebensfrischen Phase im Werkprozeß.

Zudem sind vorwiegend Arbeiten der Jahrhundertwende zu sehen. Später, nach dem Ersten Weltkrieg, produzierte Zille praktisch nur noch en masse für Illustrierte – in eingefahrenen Bahnen, mit ausformulierten bildnerischen Floskeln und einem recht starren Typen-Arsenal.

Deftiges Treiben in Kneipen und Schaubuden

Den Skizzen aber sieht man noch an, dass der künstlerische Autodidakt Zille einen wachen Sinn für bildkräftige Situationen und knorrige Charaktere hatte. Es macht den Reiz dieser Ideenfindungen aus, daß sie eben noch nicht so pittoresk und pausbäckig wirken wie so viele „fertige“ Bilder.

Zille interessierte sich vor allem fürs deftige Treiben in proletarischen Kneipen („Budiken“), billigen Varietés und lärmerfüllten Schaubuden. In den Vierteln der armen Leute erschrak er über unvorstellbar beengte und schmutzige Lebensverhältnisse. Mit seiner Lithographie-Serie „Des Lebens satt“ (um 1899) wies er auf eine erschütternde Folge der desolaten Zustände hin: Manche Menschen sehen keinen Sinn mehr und wollen nur noch „ins Wasser gehen“. Ein kleines Mädchen versucht verzweifelt, die Mutter vom Sprung von der Spree-Brücke abzuhalten. Ein Aufschrei. Solchen Bildern merkt man das ratlose Mitleiden an.

„Fleischkrieg in der Markthalle“ (um 1908) zeigt den Ansturm der Mittellosen auf die Metzgerstände. Ein spektakuläres, nahezu filmreifes Bild. Gelegentlich verwendet Zille auch Extremformate bis hin zu einer Vorwegnahme der Breitwand. Das Elend in „Cinemascope“…

Angesichts der Kölner Bilder ahnt man es schon hie und da, im späteren Werk wird es überhand nehmen: Zilles Bilder sind gelegentlich so überschaubar „erzählerisch“ angelegt, daß man sie der wackeren Gebrauchskunst zurechnen muß. Da bleibt kaum ein Rätsel mehr übrig und somit auch kein Zauber, sondern manchmal nur noch folkloristische Ver-kitschung.

Die so bitter notwendige, nüchterne Feststellung der Tatsachen scheint schließlich eine Art selbstzufriedener Resignation sich zu ziehen: Seht her, so sieht sie aus, unsere niedliche Not! Veränderbar erscheinen die geschilderten Verhältnisse jedenfalls nicht mehr.

Heinrich Zille. Bis 5. April im Kollwitz-Museum, Köln, Neumarkt 18-24 (Neumarkt-Passage). Tel. 0221/227-2363. Öffnungszeiten: Di-So 10-17 Uhr, Do 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Katalog 48 DM.

 




Bunter war die Mode nie – Dortmunder Ausstellung „Künstler ziehen an“: Avantgarde-Kleidung 1910-1939

Von Bernd Berke

Dortmund. Der Hemdkragen aus blitzendem Aluminium, die Weste papageienhaft bunt, der Anzug mit allerlei farbenfrohen Mustern und lustigen Stoff-Ansteckern. Wäre es nach den Avantgarde-Künstlern gegangen, würden besonders die „Herren der Schöpfung“ nicht so gezwungen grau in grau herumlaufen, wie sie’s meistens tun. Die Dortmunder Ausstellung „Künstler ziehen an“ zeigt Schöpfungen am Schnittpunkt zwischen Alltagsmode und Hochkultur, entstanden zwischen 1910 und 1939.

Metropolen unter sich: Ursprünglich sollte die Schau in der Welt-Modehauptstadt Paris gezeigt werden. Der Plan scheiterte auf höchster politischer Ebene (beim Treffen Kohl / Chirac) an Etat-Fragen. Dann war das New Yorker Metropolitan Museum im Gespräch, konnte aber erst fürs Jahr 2001 zusagen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Ausstellungswesen…

In Dortmund griff man jedenfalls sofort beherzt zu – und erhielt jetzt gar eine auf rund 300 Exponate erweiterte Fassung. Zeitgenössische Originalkleider und später nachgeschneiderte Stücke findet man ebenso wie Stoffproben und zeichnerische Entwürfe. Übrigens: In der Museumsvitrine wird etwa aus der schlichten Hose ganz von selbst ein Kunst-Stück, das man ernsten Sinnes wie eine Skulptur umschreitet.

Ein Extra-Hut für rasante Geschwindigkeit

 

Der durchweg anregende Rundgang durchs Museum am Ostwall beginnt mit den modischen Kapriolen der italienischen Futuristen, die der Kunst rasante Bewegung einpflanzen wollten. Und so entwarf Aldo De Sanctis schicke Kopfbedeckungen nicht nur für Regen- und Sonnenwetter (letztere mit Luftlöcher-Klimazone), sondern auch einen wohl für Autofahrer gedachten schnittigen „Hut der Geschwindigkeit“.

Die metallischen Hemden, deren tapfere Träger auf Dauer vor Schmerzen gejault haben dürften, zeugen gleichfalls von eherner Technik-Begeisterung und einer Art Rüstungs-Bereitschaft. Zur gleichen Zeit zwang Giacomo Balla Grau raus, indem er um 1930 clownsbunte Herrenanzüge aus filzartig aufgerauhter Wolle schneidern ließ, in denen er schon mal selbst einherstolzierte.

Auch dafür, daß sich die Futuristen blindlings mit Mussolinis Faschismus eingelassen haben, findet sich in Dortmund ein Belegstück: Der Anzug, dessen Kolorierung sich aus den italienischen Nationalfarben rot, weiß und grün herleitet, firmiert – scheinbar ganz arglos – als Modell „fascista“. Nichts ist unpolitisch, auch die Mode nicht.

Befreiung und Rückkehr der Zwänge

Diese Erkenntnis gilt auch für die textilen Anstrengungen der russischen Avantgarde, die einen zweiten Schwerpunkt der Ausstellung bildet (ein dritter ist dem Bauhaus-Umkreis gewidmet). In der russischen Abteilung sieht man z. B. geometrisch bestimmte Kleidungs-Entwürfe von Kasimir Malewitsch und Ljubow Popowa oder Stoffmuster nach Ideen von Alexander Rodtschenko.

Während die italienischen Künstler meist Einzelstücke herstellten, drängte es die russischen nach der Oktoberrevolution auch auf diesem Felde in die industrielle Fertigung. Ihre Visionen einer Bildwerdung des „Neuen Menschen“ sollten möglichst massenhaft produziert werden. Hinter diesem Antrieb lauert freilich die Gefahr des Kollektivismus.

In eine ähnliche Richtung driften die reformerischen Entwürfe des Mannes mit dem Künstlernamen Thayaht: Er dachte sich im Geist der Utopie die „tuta“ aus, ein schlichtes weißes Kleidungsstück, das just für die ganze Menschheit vorgesehen war.

Zweischneidige Sache also: Wenn Künstler Mode erfinden, so sind sie vielleicht anfangs auf Befreiung von Zwängen und Einschnürungen aus. Doch manchmal kommen die Zwänge hinterrücks wieder.

„Künstler ziehen an“. 8. Februar bis 19. April (Di-So 10-18, Mi 10-20 Uhr). Ausstellung des Museums für Kunst und Kulturgeschichte im Museum am Ostwall (Ostwall 7 / Infos: 0231/50 26 717). Eintritt 12 DM, Katalog 49 DM.