„Dalí vs. Picasso“ – Fernando Arrabáls genialer Malerstreit bei den Ruhrfestspielen

Ja, so kennt man sie: Picasso trägt Shorts, Dali einen Nadelstreifenanzug, Beide halten sich für genial. Auf der Bühne haben sie sich in zwei abgeranzte rote Sessel gelümmelt, reden miteinander, ohne sich wirklich verstehen zu wollen und erinnern ein ganz klein wenig an Becketts Landstreicher, die auf Godot warten. Aber worauf warten Dali und Picasso?

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Samuel Finzi (Mitte) als Picasso (Bild: Ruhrfestspiele)

Nun, natürlich warten sie nicht in stiller Gottergebenheit. Sie lauern auf Gelegenheiten, ihre Karrieren voranzutreiben. Man schreibt das Jahr 1937, vor wenigen Tagen haben die Deutschen Guernica bombardiert, Picasso winkt ein Großauftrag für den spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung. Eine Million Peseten in Gold für ein großes Gemälde! Guernica wäre sicherlich das Thema – dummerweise hat Picasso aber nur ein Großformat zum Lobpreis der Elektrizität im Angebot, in dessen Mittelpunkt eine Glühbirne von der Decke hängt. Aber mit ein paar Änderungen könnte man vielleicht…

Derweil ringt Dalí um das Verständnis des Altvorderen (tatsächlich trennten sie 23 Jahre) für seine Kunst: Das Gemälde „Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen – Vorahnung des Bürgerkriegs“ aus dem Jahr 1936 sei doch ohne jeden Zweifel das Bild zum Thema. Doch Picasso spottet nur – über gekochte Bohnen als politisches Signal ebenso wie über Dalis Behauptung, er habe mit Wolkenformationen, die die iberische Halbinsel darstellen, einen nationalen Bezug geschaffen. Hier der faunische Sinnesmann und Sozialist, dort der zögerliche, neurotische Salvador Dali, der überdies im Ruf steht, auch die Nähe der Franco-Faschisten gesucht zu haben: Ein tragische Künstlerkonstellation, aber auch eine merkwürdige Amour fou.

Das Stück, das Frank Hoffmann zunächst auf Französisch für das Luxemburger Nationaltheater inszenierte und das nun bei den Ruhrfestspielen seine (weitgehend) deutschsprachige Premiere hatte, stammt aus der Feder des spanischen Schriftstellers Fernando Arrabál. Als deutscher Zuschauer (vielleicht auch als Luxemburger) muss man ein bisschen im Gedächtnis kramen, wie das war mit den beiden spanischen Genies. Doch Arrabáls Thesen sind durchaus von einer gewissen Aktualität: Picasso hat sich demnach opportunistisch verhalten, Dalí hingegen mit seiner „Vorahnung“ ein sehr ernst zu nehmendes Kunstwerk geschaffen, das lediglich zu dechiffrieren den Zeitgenossen nicht leicht fiel.

In ihrer weiteren Entwicklung ist Arrabáls Geschichte fiktional. Sie lässt eine wunderbare Künstlerfreundschaft erblühen, auf deren Höhepunkt Dali Picasso bittet, ihn zu kastrieren – wegen seiner doch eher weiblichen Selbstwahrnehmung. Picasso hat damit zunächst Probleme, schreitet dann jedoch mutig zur Tat, und nach ein bisschen Bühnendonner gelangt die Geschichte über die flott durchschrittenen dramatischen Stationen „Alptraum“ und „Irrenanstalt“ zu einer etwas ungelenk nachgereichten Rationalisierung des Bühnengeschehens. Tja.

Frank Hoffmann inszeniert „Dalí vs. Picasso“ sinnhaft als Kammerspiel, zu dessen stärksten Szenen fraglos die Dispute der Titelhelden zählen. Samuel Finzi, dieses große komödiantisch-tragische Talent, den man mit seiner weißen Picasso-Halbglatze zunächst kaum wiedererkennt, dreht auf und sorgt für heftige Heiterkeit, wenn er etwa den stets affektiert wirkenden Dalí nachäfft; Dalí seinerseits wird von einer Frau gespielt (Marie-Lou Sellem), die Dalís Augenfunkeln zwar sehr schön nachmachen kann, gleichwohl aber durchgängig zu feminin wirkt, als dass man ihr den exzentrischen Maler abnähme – trotz Menjoubärtchen. Ihre/seine Muse Gala wiederum spielt mit Luc Feit ein Mann, Jacqueline Macaulay gibt Picassos Dora, und wie zielführend dieser nervöse Mix aus Geschlechtern und Geschlechterrollen ist, steht dahin. Am unterhaltsamsten und nachdrücklichsten ist auch diese Regiearbeit von Ruhrfestspiele-Intendant Frank Hoffmann dann, wenn er die Schauspieler in konzentrierten Spielsituationen ihr Können zeigen lässt und auf überflüssigen Bühnenzauber verzichtet.

In einer Stunde 20 Minuten (ohne Pause) ist alles vorüber. Viel Applaus für eine sympathische Darstellerriege ebenso wie für die Inszenierung.




Es gibt ein Leben nach Opel – das Bochumer Detroit-Projekt

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Das Motto der Ausstellung weist, auf den Asphalt gesprüht, den Weg – jedenfalls manchmal. Foto: rp

Der Bus steht. Auf der anderen Spur geht es auch nicht schneller. Unter normalen Verhältnissen wäre die Strecke vom Exzenterhaus nahe dem Schauspielhaus zum Bergbaumuseum in zehn, fünfzehn Minuten zu schaffen, im freitagnachmittäglichem Berufsverkehr jedoch nicht. Doch Bochum hat viele hübsche Fassaden. Das wäre einem sonst vielleicht nie aufgefallen.

Eingeladen zur Rundfahrt im Bochumer Stadtgebiet haben das Schauspielhaus und „Urbane Künste Ruhr“. Zusammen haben sie in diesem Jahr das „Detroit-Projekt“ aus der Taufe gehoben, das an etlichen Stellen der Stadt Kunst präsentiert. Und alles hat irgendwie mit Opel zu tun, der Traditions-Automarke, die bald schon in Bochum keine Autos mehr bauen wird. Das Kunstprojekt ist nach der Stadt benannt, wo Opels Mutterkonzern General Motors sitzt, außerdem steht der Name für den dramatischen Niedergang, den die Schließungen der Autofabriken dort für die US-Stadt bedeuteten. So schlimm soll es in Bochum natürlich nicht kommen, auch wenn das Schlagwort von der „postindustriellen Gesellschaft“ gern und häufig Verwendung findet. Nein, die Unterzeile des Projekts wie auch eine ihrer Internetanschriften pochen auf den eigenen Weg: „This Is Not Detroit“, beziehungsweise www.thisisnotdetroit.de.

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„HOW LOVE COULD BE“ steht in flammendem Rot auf dem Förderturm des Bergbaumuseums. Eine Lichtkunst-Intervention des Briten Tim Etchells. Foto: Schauspielhaus Bochum

Allerdings sollen die künstlerischen Arbeiten durchaus das Postindustrielle reflektieren. Künstlerinnen und Künstler kommen aus Ländern, in denen es noch General Motors-Standorte gibt, aus Großbritannien, Polen, Spanien, den USA und natürlich weiterhin auch Deutschland.

Bevor der Bus sich in den Dauerstau begab, hatten sich seine Insassen im Exzenterhaus, das wie eine gigantische Nockenwelle aussieht, die Videoinstallation „The Pigeon Project“ des Polen Michal Januszaniec angesehen. „Das Tauben-Projekt“, so die Übersetzung, zeigt uns deutsche, polnische, deutsch-türkische „Taubenväter“ und läßt sie ausgiebig zu Wort kommen, erzählt vom Abwicklungsstreß bei Opel, läßt uns einer Schauspielerin zusehen, die mühsam einen vor Selbstbewußtsein strotzenden Text einstudiert, und verweist mit solchen Elementen unaufdringlich, aber schlüssig auf eine Zukunft, der soziale wie kollektive Gewißheiten zunehmend fehlen werden.

Aber ist das wirklich die Zukunft? Wird es wirklich so trostlos, wie Januszaniec behutsam andeutet? Jedenfalls ist die Arbeit im 13. Stockwerk des asymmetrischen Hochhauses zu besichtigen, was zum einen zwar 8 Euro Eintritt kostet, zum anderen aber einen grandiosen Blick über die Stadt bietet, die von hier oben aus überhaupt nicht hinfällig wirkt, sondern grün und vital und sehr ordentlich. Andererseits ist zu hören, daß sich die Vermarktung des Hauses schwierig gestalte – weshalb die 13. Etage für das Kunstprojekt noch zu haben war. Alles hat seine zwei Seiten.

Das Bergbaumuseum, endlich hat es der Bus geschafft, ziert eine Leuchtschrift. „How Love Could Be“ steht in roten (LED-befeuerten) Buchstaben oben am mächtigen Förderturm. Die Zeile, die der Brite Tim Etchells dort platziert hat, stammt aus dem ersten Song, der bei der legendären Detroiter Schallplattenfirma Motown 1961 herauskam: „Bad Girl“ von den Miracles. Denkanstoß: Bochum, Detroit, Liebe, Menschen… Die Museumsleute haben einen Rekorder mitgebracht und spielen den Song vor. Auf den Bänken vor dem Bergbaumuseum gucken die Leute irritiert.

Außerhalb der Bochumer City geht es zügiger voran. Im Viertel hinter der Jahrhunderthalle wurde eine ehemalige Schlecker-Filiale zum Kunstraum. Hier zelebrieren Chris Kondek, Christiane Kühl und Klaus Weddig mit grimmigem Humor das Scheitern einer Idee. Es ist ein Kunstwerk mit (erfundener) Geschichte: Das Hochglanz-Magazin „Reconquer“ beauftragte im Frühjahr 2014 eine renommierte Werbeagentur, die „sieben gelungenen Überlebensformen der geldlosen Gesellschaft (Tauschen, Klauen, Betteln, Besetzen, Jagen, Verzicht und Saufen)“ für eine fetzige Geschichte ins Bild zu setzen. Der Vesuch scheiterte völlig, das „Making of“ jedoch hinterließ Videos und Fotos, die nun hier, in der einstigen Schlecker-Filiale, gezeigt werden. Eine originelle und hintersinnige Idee, ganz ohne Frage; noch bemerkenswerter jedoch ist das Vorkommen von Humor, was in der zeitgenössischen Kunst ja sonst eher selten ist. Gleichzeitig aber wird im quasi ernsten Kern des Projekts auch viel Hilflosigkeit erkennbar angesichts des großen Rades, das diese Künstlergemeinschaft, das Elend der („postindustriellen“) Welt streng im Blick, gerne drehen würde. Wie kann man einer Gesellschaft noch helfen, in der wegen Streß immer weniger Schnaps getrunken wird?

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Hier ist einem nicht recht geheuer:“Der Keller“ des Polen Robert Kusmirowski. Foto: Schauspielhaus Bochum

Weiter geht die Tour zu juvenilen künstlerischen Interventionen im Stadtgebiet, zur Thyssen-Industriebrache, auf der eine Ein-Mann-Sauna steht, zum Prinzregent-Theater, wo im Keller (von Robert Kusmirowski) ein Toter liegt… Und immer wieder vorbei an großformatigen Bochum-Fotos, die an markanten Punkten im Stadtgebiet hängen. Sie stellen eine Auswahl aus dem Material dar, das beim Projekt „Mein Bochum – unsere Zukunft“ zusammenkam. 29 Motive hat Hans-Günter Golinski vom Bochumer Kunstmuseum daraus ausgewählt.

Befindet Bochum sich also jetzt im Detroit-Fieber, vibriert die Stadt im Rhythmus des Motown-Sounds, pilgern Heerscharen von Kunstliebhabern zu den Ausstellungsstätten? Eher wohl nicht. Die Standorte liegen weit auseinander, über die Erreichbarkeit scheinen sich die Veranstalter wenig Gedanken gemacht zu haben, sieht man einmal vom kostenlos angebotenen zweistündigen Fußmarsch „durch ausgewählte Arbeiten des Projekts“ ab. Touren mit dem Reisebus sind, wie erlebt, Glückssache, eine ÖPNV-Tour (welches Ticket?) findet sich in den Unterlagen nicht. Geführte Fahrradtouren sind wegen hoher Sicherheitsauflagen angeblich kaum genehmigungsfähig.

Eine Ausstellung für Kunst-Flaneure ist das „Detroit-Projekt“ aber auch nicht, weil die Öffnungszeiten einiger Standorte recht eingeschränkt sind und man dort, wo sie sich befinden, einfach nicht flaniert. Die Kunstwerke wiederum, sieht man einmal von der Leuchtschrift am Förderturm des Bergbaumuseums ab, sind so unauffällig,  daß sie es kaum schaffen werden, aus sich heraus Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Doch freuen wir uns auf die Spanier, die eingeladen wurden! Ab dem 23. Mai führen Tänzerinnen und Tänzer von Trayectos „choreographische Vermessungen“ in der Stadt durch, gibt es „Saludos de Zaragoza“ (Grüße aus Zaragossa) von der Gruppe Asalto im Bochumer Hauptbahnhof, fördert basurama „kollektive Freizeit und Pflege“ auf einem ehemaligen Fabrikgelände. „Esto no es un solar“ schließlich kündigt die Ankunft des Küchenmobils an, was immer das bedeuten mag. Jedenfalls klingt es recht vital. Am 29. Juni feiert das Detroit-Projekt sein Zukunftsfest, offizielles Ende ist am 5. Juli.

www.schauspielhausbochum.de

www.urbanekuensteruhr.de

www.thisisnotdetroit.de, Info-Hotline 0234 / 3333 5555




Eine Inszenierung vernichtet sich selbst – „Purpurstaub“ bei den Ruhrfestspielen

Wer heutzutage ins Theater geht, braucht eine steife Oberlippe (wie die Briten sagen). Augen zu und durch und keine Schwäche zeigen! Auch wenn die Aufführung grauenvoll ist, wenn man sich für dumm verkauft fühlt und wenn man nicht ein Fitzelchen von dem bekommt, was man sich nach Kenntnis des Stücks (naiv, wie man ja immer wieder antritt) erhofft hatte. Und man erinnert sich an Horst Köhlers Forderung nach irgendwie „vorlagengerechter“ Inszenierung, die zwar von großer Ahnungslosigkeit getragen war, ihren Urheber aber sympathisch machte.

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Noch sind sie alle fröhlich. Szene aus „Purpurstaub“ in der Stuttgarter Inszenierung. Foto: JU Ostkreuz

Die Rede ist von „Purpurstaub“, der abgründigen Komödie von Sean O’Casey, die ihren Honig aus dem schwierigen Verhältnis zwischen Engländern und Iren saugt, zwischen neureichen, kulturlosen Dummköpfen und Eingeborenen, die es ihnen gründlichst zeigen (und ihnen überdies, wir bitten die politisch unkorrekte Formulierung zu entschuldigen, aber genau das ist gemeint: die Weiber ausspannen).

Aus dem Stoff ließe sich viel machen. Regisseur Sebastian Hartmann macht daraus – in einer Koproduktion des Schauspiels Stuttgart mit den Ruhrfestspielen – eine Versammlung von sechs burlesken Gestalten, die mit wechselnden Rollenzuschreibungen eine Geschichte vermitteln sollen, die man aber kaum erkennt, wenn man sie nicht kennte.

Es müssen ja so viele originelle Inszenierungs-Ideen untergebracht werden! Da wird das wohlige Zusammensein im frisch erworbenen „Tudor-Schlößchen“ zur endlos währenden, theatervernebelten Versammlung rund um eine Wasserpfeife, reduziert sich die Exposition auf einen endlos langen, maskenhaft fröhlichen irischen Volkstanz vor zugezogenem Vorhang, verkommen einstmals geschliffene Dialoge zu plumpem Bauerntheater zum Zwecke des Handlungsfortschritts.

Und die besten Witze sind natürlich die, die man selber macht. So schwäbeln einige Darsteller bis zum Überdruß, was wohl ihre Fremdheit im fremden (Ir-)land betont und was sich schlaue, weltgewandte Dramaturgen bestimmt in Boomtown Berlin abgeguckt haben, wo die bösen Zuzügler, die die Einheimischen qua Gentrifizierung aus ihren Wohnung vertreiben, angeblich vor allem aus Schwaben stammen. Der Schwabe ist dort – Schwaben raus! – fast schon ein Schimpfwort. Und das im Schauspiel der Schwabenmetropole Stuttgart, lustig, lustig.

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Szene aus „Purpurstaub“ in der Stuttgarter Inszenierung. Foto: JU Ostkreuz

All das, wie gesagt, wäre man letztlich ja bereit zu erleiden, wenn künstlerischer Mehrwert sich an irgendeiner Stelle des Geschehens zeigte. Hier allerdings ist Demontage von Anfang an das Grundprinzip. In der vierstündigen (!) Veranstaltung, verkünden Plakate wie auch die Damen an den Kassen, sei eine Pause nicht vorgesehen. Man solle den Theatersaal nach Belieben verlassen und aufsuchen, wenn einem später wieder danach sei. Super-Idee! Die Erosion der Handlung (wg. Dauerregen geht schließlich alles wortwörtlich den Bach runter) spiegelt sich in einer auf Erosion angelegten Inszenierung!

Das Publikum hat auch fleißig mitgespielt. Um die zwei Drittel verließen im Lauf der Zeit den Saal, das Parkett war zum Ende hin sehr luftig besetzt. Aber was soll das? Bringt das irgendwen zum Nachdenken? Und was für ein respektloser Umgang mit den Schauspielern ist dies, die trotz aller Zumutungen dieser Produktion doch gerne und vor großem Publikum gezeigt hätten, was sie drauf haben. (Und wir hätten es auch sehen wollen!)

Kritik geht aber auch an die Adresse der Ruhrfestspiele. Von ihnen hätte man erwarten können, daß sie einen warnen. Dies war nicht, wie im Programmheft verkündet, „Purpurstaub von Sean O’Casey““, dies war besten- resp. schlimmstenfalls ein Machwerk nach einigen Motiven der Vorlage. „In beißenden Dialogen schildert der Text den vergeblichen Versuch, das eigene Leben mit diffusen Wünschen zu versöhnen“, können wir im blauen Heftchen lesen, doch gesehen haben wir Klamauk. Die wenigen klugen Sätze, die es aus der Vorlage bis auf die Bühne schafften, starben hier einen schnellen, unbemerkten Tod. Dem Kollegen von der WAZ, der in dieser Produktion schlichtweg eine Katastrophe erblickte, ist uneingeschränkt zuzustimmen.

Die nächste Produktion im Großen Haus ist Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“, ebenfalls Schauspiel Stuttgart, aber inszeniert immerhin vom jugendlichen Altmeister Jan Bosse. Der hat auch Becketts „Endspiel“ inszeniert, das vor wenigen Tagen als Veranstaltung der Ruhrfestspiele im Theater Marl mit Ulrich Matthes und Wolfram Koch zu sehen war. Ganz großes Theater! Und deshalb hoffen wir, dass der Bergman auch schön wird.

www.ruhrfestspiele.de




Der Irrsinn, die Stadt und der Krieg: Zur Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“

Um das Jahr 1900 war das westfälische Hagen – ganz anders als heute – eine prosperierende, aufstrebende Stadt. Mochten auch Nachbarorte wie Dortmund (Freie Reichsstadt im Mittelalter, Hansestadt) eine weitaus längere Geschichte haben, so entwickelte sich doch jetzt auch in Hagen ein bürgerliches Selbstbewusstsein.

Hier wirkte damals der umtriebige Mäzen Karl Ernst Osthaus (1874-1921) mit seinem später so genannten „Hagener Impuls“, der 1902 zum seinerzeit weltweit ersten Museum der Gegenwartskunst führte. Die Blüte zeigte sich auch im Stadtbild: Damals entstanden in Hagen ein neues Rathaus (1903) und ein neuer, repräsentativer Bahnhof (1910), beide in historisierenden Stilformen, dazu das schmucke Stadttheater (1911). Auch eine machtvolle Stadthalle war beinahe fertiggestellt, als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann. Damit endete auch Hagens Aufstieg jäh – mit ungemein weit reichenden Folgen, deren Ausläufer teilweise noch heute nachwirken.

"Wir müssen siegen!" (Bildpostkarte, um 1915 - Stadtarchiv Hagen)

„Wir müssen siegen!“ (Bildpostkarte, um 1915 – Stadtarchiv Hagen)

In diesem vielfach tragischen Spannungsfeld bewegt sich nun die Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“ im Osthaus Museum, die vorwiegend die Perspektive der „Heimatfront“ einnimmt. 100 Jahre nach der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts sind an der Bilanz auch das Stadtmuseum und das Stadtarchiv beteiligt. Mit dermaßen vereinten Kräften hat man es geschafft, dass rund 90 Prozent der Exponate in dieser kulturhistorischen Schau aus eigenen Hagener Beständen stammen.

Rund 120 Kunstwerke sowie zahllose Archivalien und Abschauungsobjekte lassen in den besten Sequenzen der Ausstellung einen (lokal und regional zentrierten) Dialog zwischen Kunst und Alltagszeugnissen entstehen.

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Wo Stücke wie etwa Mobilmachungsbefehle und Sterberegister, alte Schreibmaschinen, Ladenkassen, Soldatenhelme oder (kriegerisches) Spielzeug für sich genommen nicht beredt genug sein sollten, tritt die Kunst in ihr Recht. Bilder der Expressionisten (Schmidt-Rottluff, Kirchner, Heckel) oder von George Grosz, Otto Dix und Max Beckmann – um nur wenige zu nennen – geben so manche Ahnung von den Schrecken des Krieges, der Not, des Hungers und des Irrsinns, den der Weltenbrand mit sich brachte. Bewegend auch die Blätter eines Walther Bötticher, der 1916 im Weltkrieg gefallen ist. Und überhaupt einige Unscheinbarkeiten am Wegesrand des Rundgangs.

Christian Rohlfs: "Tod als Sargträger" (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Christian Rohlfs: „Tod als Sargträger“ (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Neben Bildern mit verzweifelter Gebärde oder deutlich kritischem Sinn finden sich auch Beispiele für einen seelenlos oberflächlich registrierenden Zugriff oder gar nationalistisch und martialisch dröhnende Schöpfungen, wie beispielsweise das 1915 am Hagener Rathaus aufgestellte Standbild „Der Eiserne Schmied“ des „völkisch“ gesinnten Dortmunder Bildhauers Friedrich Bagdons.

Natürlich sieht man hier nicht das Original, sondern eine Dokumentation zur Entstehung. Der Schmied selbst ist – annähernd so groß wie die echte Statue – nur als „Pappkamerad“ gegenwärtig. Karl Ernst Osthaus wollte damals übrigens das Schlimmste verhindern und ermunterte Ernst Ludwig Kirchner zu einem Gegenentwurf, welcher jedoch keine Chance bei den kriegsbegeisterten Stadträten hatte…

Ein aufschlussreiches Kapitel ist der Rüstungsproduktion in gewidmet. Hier tat sich besonders die Accumulatoren Fabrik AG (AFA, Vorläuferin von Varta) hervor, die u. a. damals neuartige Spezialbatterien für U-Boote fertigte.

Nicht wenige historische Fotografien zeigen die entsetzlich angefachte Kriegslust der Bevölkerung – bis hin zu Kindern beim Kriegsspiel. Am Ende der Ausstellung wird in einer Art Epilog deutlich, wie nach dem verlorenen Krieg schon die Drachensaat für den nächsten aufgegangen ist. Was aus Hagen noch hätte werden können ohne Kriege, diese Frage könnte einen in tiefe Depressionen stürzen. Doch das gilt ja für alle betroffenen Städte und Länder.

Einige Exponate vermitteln hingegen bloßes Kolorit und reichen in ihrer Harmlosigkeit nicht so recht an das Thema heran. Nicht sehr schlüssig, wenn nicht gar überflüssig erscheint es, in einem Saal Kriegsrelikte beiderseits eines angedeuteten „Schützengrabens“ anzuordnen.

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener  Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Wenn man so will, ist das größte „Ausstellungsstück“ der Altbau des Osthaus Museums (also das frühere Folkwang-Museum von 1902), in den die Schau schließlich überleitet. Sigrid Sigurdssons stetig anwachsendes und mäanderndes Archivwerk „Architektur der Erinnerung“ gibt auch einige Dokumente aus dem Umkreis des Jahres 1914 her. Und das Junge Museum steuert noch Fotos, Materialien und Installationen aus pazifistischem Geiste bei. Möge es fruchten.

„Weltenbrand – Hagen 1914“. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 20. Mai bis 10. August 2014 (Eröffnung So., 18. Mai, 15 Uhr). Geöffnet Di, Mi, Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9 Euro, diverse Ermäßigungen. Tel.: 02331/207-2740. Internet: www.osthausmuseum.de

P.S.: Wenn man schon einmal in Hagen ist, sollte man einen Abstecher ins benachbarte Wuppertal machen, wo noch bis zum 27. Juli im Von der Heydt-Museum die Ausstellung „Menschenschlachthaus“ deutsche und französische Kunst zum Ersten Weltkrieg versammelt. Siehe auch hier: http://www.revierpassagen.de/24161/24161/20140404_1647




Zwischen Wahn und Wirklichkeit – Pirandellos „Heinrich IV“ bei den Ruhrfestspielen

Ein Pferd macht den Anfang. Gelassen knabbert es in der Kulisse am Heu, bis es schließlich weggeführt wird. Es ist ein sinnfälliger Verweis. Mit einem Pferd, genauer gesagt mit dem Sturz vom Rücken eines solchen, begann die Tragödie, deren weiterer Verlauf das Thema dieses Abends ist. Intendant Frank Hoffmann inszeniert Luigi Pirandellos Stück „Heinrich IV“ als zweite große Premiere der diesjährigen Ruhrfestspiele im Festspielhaus.

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Rudolf Kowalski als „Heinrich IV“ in Recklinghausen. Foto: Ruhrfestspiele/Birgit Hupfeld

Heinrich IV ist in diesem Stück nur der Rollenname eines selber namenlos bleibenden Adeligen, der bei einem Maskenumzug als Kaiser auftrat, vom Pferde fiel und seitdem verwirrt ist. Rudolf Kowalski, den man aus dem Fernsehen möglicherweise als Düsseldorfer Serien-Kommissar Stolberg kennt, gibt ihn mit Verve und bemerkenswertem Pathos. Übeltäter bei dem Maskenumzug war übrigens Rivale Belcredi (Ulrich Kuhlmann), der „Heinrich IV“ vom Pferde stieß, weil beide die schöne Bertha liebten.

Wenn das Stück einsetzt, erfahren wir vom eigentlich lobenswerten Vorstoß des Neffen Marchese Carlo di Nolli (Marc Baum), dem armen Heinrich mit einer Art Schocktherapie sein Gedächtnis zurückzubringen. Er schafft Berthas (Anne Moll) bildhübsche Tochter Frida (Sinja Dieks) herbei, die ganz nach ihrer Mutter kommt und ihr verblüffend ähnelt.

Doch dann offenbart Heinrich seinen fassungslosen „geheimen Räten“ (Josiane Peiffer, Roger Seimetz, Nickel Bösenberg), dass seine Verwirrung nur gespielt ist, und auf dem Höhepunkt der dramatischen Selbstbekenntnisse erschießt er den alten Widersacher Belcredi (bei Pirandello verletzt er ihn mit dem Degen schwer). Das ganze endet mehr oder weniger diffus, weil Heinrich seine Rolle nach dem Mord nicht mehr verlassen kann und zudem seine Räte zu Komplizen gemacht hat. Im politischen Raum, so könnte eine These des Stücks formuliert werden, verschwinden die klaren Grenzen zwischen Erkenntnis und Gedächtnisverlust, durchdringen sich die Zustände wechselseitig und gebären Monströses. Und unversehens wird der scheinbar leichte Stoff zu einem schweren, komplexen Handlungsgefüge.

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Rudolf Kowalski, Anne Moll. Foto: Ruhrfestspiele/Birgit Hupfeld

Was nun macht Ruhrfestspiele-Intendant Frank Hoffmann aus Pirandellos flirrendem Spiel? Bei ihm dauert es lange, bis der Titelheld erstmalig die Bühne betritt. Äußerst sorgfältig breitet die Inszenierung vordem aus, wie sich die Entourage formiert, um die Seele des Verwirrten in seiner Villa zu erreichen, wo und wie die alten Rivalitäten lauern. Doch bleibt die Frage unbeantwortet, warum gerade jetzt sich diese Intervention formiert, vor allem jedoch, warum „Heinrich IV“, wie er irgendwann gegen Ende des pausenlosen Hundertminüters seinen Räten gesteht, die Rolle des Verwirrten seit Jahren schon nur noch spielte.

Man gewinnt den Eindruck, dass Regisseur Hoffmann sich in Bezug auf die dramatischen Wendungen in der Handlung allzu sehr auf das Geschick seines Hauptdarstellers Rudolf Kowalski verlassen hat. Doch dessen intensives naturalistisches Spiel arbeitet die Handlungsstationen ab, ohne sie dramatisch zu verknüpfen. Hier hätte man sich mehr Inszenierung gewünscht, mehr als nur tiefe Bühnenhintergründe (Ben Willikens), die aufwendig kollabieren, wenn die Dramatik der Situation akzentuiert werden muss.

Im Umgang mit seiner krankhaft eifersüchtigen Frau, so ist im Programmheft zu lesen, fand Luigi Pirandello einen Zugang zu den unterschiedlichen Valeurs von Realität, wie sie in vielen seiner Stücke auftauchen. Und natürlich reflektiert er als politischer Schriftsteller auch die Verhältnisse im Italien des Risorgimento, der Umbruchzeit des 19. und 20. Jahrhunderts, die je nach Sichtweise bis zum Faschismus oder gar bis in die Jetztzeit reicht. Details wie die zackigen Uniformen und die todschicken Hosenanzüge (Ausstattung: Jasna Bosnjak) deuten die Mussolini-Zeit an. Jedoch verzichtet die Inszenierung darauf, hier eindeutige Bezüge des Wahnhaften zu konstruieren. Das ist sicherlich vernünftig, zumal „Heinrich IV“ bereits 1922 herauskam, als die Herrschaft des italienischen Faschismus erst begann.

Für manche Unzulänglichkeit dieser Inszenierung entschädigt der große, tragische Epilog. Rudolf Kowalski zeigt hier eine Schauspiel- und Vortragskunst, die selten geworden ist auf deutschsprachigen Bühnen. Und am Schluss kommt nochmal das Pferd.

Großer Beifall, vor allem für das engagiert aufspielende Ensemble.

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Keine weiteren Termine.

www.ruhrfestspiele.de

 




Zwischen Repertoire und Experiment – Theater Dortmund stellt Spielplan 2014/2015 vor

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Die Theater-Reihe „Das goldene Zeitalter“ – hier ein Bild aus der letzten Produktion – wird fortgesetzt: „100 neue Wege dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“ kommt im Januar 2015 heraus. Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund

Spielzeit 2014/2015 – das Theater Dortmund mit den Abteilungen Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater hat seine Pläne vorgestellt. Ein einheitliches Bild ist nicht auszumachen, zu unterschiedlich sind die Fachabteilungen und die Menschen, die sie prägen. Hier eine erste kleine Übersicht, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit.

Den französischen Friseur Arthur hat es auf eine Insel fern ab von aller Zivilisation verschlagen. Hier, die Welt ist ja voller verrückter Zufälle, lernt er die hübsche Häuptlingstochter Atala kennen, und alles könnte richtig schön werden. Leider aber kündigt Häuptling Biberhahn, Herrscher über die Nachbarinsel Papatutu, kurz darauf seinen Staatsbesuch bei Atalas Vater Abendwind an, und das verlangt nach einem Festmahl. Die Tragik nun liegt darin, daß man in dieser Gegend der Welt dem Kannibalismus zugetan ist, und daß der französische Friseur nach einhelliger Meinung ein wunderbares Schmorgericht abgeben dürfte. Was ihm naturgemäß gar nicht schmeckt, um im Bild zu bleiben. Und wie er aus der Nummer wieder herauskommt, erfährt man ab dem 24. Januar im Dortmunder Schauspielhaus. Dann hat dort nämlich das Stück „Häuptling Abendwind und Die Kassierer: Eine Punk-Operette“ Premiere.

Der Stücktitel verlangt nach Erklärungen. Zunächst „Die Kassierer“: Sie gelten, sagt Schauspielchef Kay Voges, seit 30 Jahren als die kultigste Punk-Band aus dem Ruhrgebiet. In Sonderheit sei die Revier-Lebensweisheit „Das schlimmste ist, wenn das Bier alles ist“ ihr Leib- und Lebensmotto. Den Spruch kann man ja etwas umrubeln auf „Das schlimmste ist, wenn das Fleisch alle ist“, womit man dann sozusagen schon beim Grundmotiv des hier zur Aufführung gelangenden Kannibalen-Stoffes wäre, welcher ursprünglich ein Opernlibretto war, geschrieben von Philippe Gille und Léon Battu zur Musik Jacques Offenbachs. „Vent du soir ou l’horrible festin“ hieß das Werk auf französisch, und Johann Nestroy machte daraus eine Burleske mit dem (annähernd exakt übersetzten) Titel „Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl“. Diese Burleske nun, der Anlauf hat etwas gedauert, wird von Den Kassierern mit Offenbachs Klängen zur Punk-Operette verwurstet. Es wird absehbar schräg und laut und lustig, zumal Die Kassierer auch auf Musikfeldern wie Country oder Jazz zu Hause sind.

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Die Oper „Carmen“ wird auch in der neuen Spielzeit gegeben. Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund

Das Projekt habe sich auch deshalb geradezu angeboten, weil Punk und Operette sich doch recht ähnlich seien, merkt Kay Voges treuherzig an. Doch, doch! Der hohe Mitsingfaktor sei durchaus vergleichbar. Jedenfalls ist diese Punk-Operette des Schauspielhauses in der Spielzeit 2014/2015 und in der Abteilung Originalität unangefochtener Spitzenreiter. Regie führt übrigens Andreas Beck, den man aus dem Ensemble und bislang vor allem „vor der Kamera“ kennt. Daneben, wir bleiben beim Schauspiel, wird ein bunte, anspruchsvolle Themenmischung geboten.

Schauspiel

Kay Voges selbst inszeniert für den Spielzeitauftakt am 12. September einen „Hamlet“, bei dem ihn Video-Artist Daniel Hengst („Tannhäuser“) und Musikchef Paul Wallfisch unterstützen werden. Jetzt, so Voges, fühle er sich alt genug für diesen Shakespeare-Stoff. Und man wüßte jetzt schon gerne, wie er wohl den Hamlet-Monolog anlegen wird. Oder ob er ihn einfach weglässt?

Der notorische Wenzel Storch, der durch seinen Film „Die Reise ins Glück“ einer größeren Zahl von Menschen bekannt wurde, führt Regie bei einer „Pilgerreise in die wunderbare Welt der katholischen Aufklärungs- und Anstandsliteratur“. „Komm in meinen Wigwam“ heißt die Produktion mit Premiere am 17. Oktober. Jörg Buttgereit ist wieder da und verkündet mit breitem gesellschaftlichen Bezug, daß „Nosferatu lebt!“. „Ein Mystery-Crime-Science-Fiction-Hospital-Theater-Web-Adventure in sieben Teilen“ steht auf dem Programm, das sich Alexander Kerlin, Anne-Kathrin Schulz und Kay Voges ausgedacht haben und das so eine Art Krankenhausserie ist. „The Madhouse of Ypsilantis“ heißt es. Fans des „Goldenen Zeitalters“, von denen es etliche gibt, dürfen sich auf eine weitere Folge freuen. Der neue Theaterabend mit unvorhersagbarem Verlauf hat im Februar 2015 das Motto „100 neue Wege dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“. Das kann einen schon nachdenklich machen.

In der nicht-experimentellen Abteilung, auch das soll nicht unerwähnt bleiben, ist ebenfalls Leben: Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ (Premiere 18. Oktober) gelangt zur Aufführung, ebenso eine Adaption von Ingmar Bermans „Szenen einer Ehe“ (Premiere 28. November). Für die „Elektra“ am 7. Februar 2015 werden Sophokles, Euripides und Hugo von Hoffmannsthal als Autoren genannt, doch zuvörderst plant Regisseur Paolo Magelli eine Beschäftigung mit Deutschland und Dortmund in den Zeiten nach den Weltkriegen. Paul Wallfisch steuert seine musikalischen Interpretationen von Richard Strauß’ „Elektra“ bei.

Schließlich ein Hinweis auf „Identity“. Mit diesem „Jugendclub-Projekt der Theaterpartisanen 16+“ will das (Erwachsenen-) Schauspiel auch Schulklassen besuchen und wildert damit scheinbar im Revier von Voges’ Kollegen Andreas Gruhn, dessen Kinder- und Jugendtheater (KJT) ja eigentlich zuständig für diese Altersklasse ist. Überhaupt fällt auf, daß das Schauspielhaus – beispielsweise auch mit dem „UNRUHR Festival“ im Juni 2015 – jugendliches Publikum umwirbt. Doch das ist vermutlich mit dem KJT abgesprochen.

Kinder- und Jugendtheater

Für die Theaterleute von der Sckellstraße bleibt genug zu tun, und auch sie überschreiten Grenzen. So wendet sich Lutz Hübners Klassiker „Frau Müller muß weg“ (Premiere 13.2.2015) eher an Eltern und Erzieher als an Kinder. „Sneewitte“ von Sophie Kassies und Jens Joneleit (Premiere 19. März 2015, Regie Antje Siebers) entsteht in Zusammenarbeit mit der Jungen Oper Dortmund und will Kinder ab sieben Jahren in musikalisches Neuland führen. „Industriegebietskinder“ – ein Arbeitstitel angeblich, den sie ruhig so lassen sollten – vergleicht als Projekt dreier Theater die Lebenssituationen an drei mehr oder weniger entindustrialisierten Orten. In Dortmund hat sich das KJT in den (neuerdings noblen) Stadtteil Hörde aufgemacht, das Berliner Theater Strahl blickt auf den ehemaligen DDR-Unterhaltungselektronik-Standort Oberschönweide, das Neue Theater Halle auf die streckenweise verwaiste Neustadt. Am Anfang des Projekts steht ein Camp in Berlin, geplant sind weiterhin Recherche-, Entwicklungs- und Produktionsphasen, und am 8. Mai 2015 soll das Ding zum ersten Mal über die Bühne gehen.

Ach ja: Das Weihnachtsmärchen heißt in diesem Jahr „Peters Reise zum Mond“. Andreas Gruhn hat Bassewitz’ langjähriges Erfolgsstück „Peterchens Mondfahrt“ gründlich überarbeitet und aktualisiert und zu einem „Weltraummärchen“ für Kinder ab sechs Jahren gemacht. Erster Mondstart von Peter und Anna ist am 13. November.

Oper

Sechs Premieren kündigt Opernchef Jens-Daniel Herzog an, was formal auch zutreffend sein dürfte. Aber Richard Strauss’ „Rosenkavalier“, Mozarts „Don Giovanni“ oder Verdis „Ein Maskenball“ halten sich landauf, landab, so hartnäckig in den Repertoires, daß es geradezu unglaubwürdig wirkt, ihren Wiedereinrichtungen das Etikett „neu“ aufzukleben. Das sagt natürlich nichts über die Qualität der Dortmunder Produktionen aus, um die es so schlecht nicht bestellt sein kann. „Ein Maskenball“ zum Beispiel entsteht in Kooperation mit dem Royal Opera House Covent Garden in London.

„Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber steht am 19. Oktober erstmals auf dem Programm des Opernhauses, das szenische Oratorium „Saul“ von Händel ist am 25. April 2015 die letzte Premiere der neuen Spielzeit. So weit, so gut.

Ein strahlendes Highlight hat die Oper aber doch im Programm: Die Vaudeville-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ von Paul Abraham, den die Theater seit einigen Jahren wiederentdecken. Der Plot klingt so herrlich doof, daß er fast in einem Satz erzählt werden kann: Fußball-Nationalmannschaft findet kein Quartier und wird notgedrungen im Mädchenpensionat untergebracht. Zum Finale treffen sich alle im Stadion.

Man darf gespannt sein, wie Regisseur Thomas Enzinger „Roxy und ihr Wunderteam“ umsetzen wird. Auch wenn der Stoff es nahezulegen scheint, muß die Inszenierung nicht zwangsläufig ein burlesker Schenkelklopfer werden. Die Verfilmung aus dem Jahr 1937, entstanden im damals noch nicht von den Nationalsozialisten regierten Österreich, wohin der jüdische Komponist Paul Abraham geflohen war, macht aus dem Stoff einen eleganten Tanzfilm, der an Fred Astaire, Ginger Rogers oder Gene Kelly denken läßt. 15 Termine zwischen dem 29. November 2014 und dem 15. März 2015 hat das Opernhaus schon angesetzt. Im fußballverrückten Dortmund hat man guten Grund, auf ausverkaufte Häuser zu hoffen (wenn nicht zeitgleich ein Pokalspiel läuft).

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Streifen statt Farben: Der aktuelle Ballett-Dreiteiler heißt „Drei Farben: Tanz“ (Bild). In der nächsten Spielzeit ist „Drei Streifen: Tanz“ zu sehen… Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund

Ballett

Xin Peng Wang hat Motive aus Thomas Manns Roman „Zauberberg“ zu einem Ballett verarbeitet, dessen musikalische Leitung bei Motonori Kobayashi liegt (Premiere 8. November 2014). Zweite Premiere der kommenden Spielzeit ist wieder einmal ein Dreiteiler, der diesmal „Drei Streifen: Tanz“ heißt. Das Drittel mit dem Titel „Closer“ choreographiert Benjamin Millepied zur Musik von Philip Glass, jenes mit dem Titel „The Piano“ – eine Uraufführung – Jiri Bubenicek. Und die Uraufführung von Dennis Volpi hat noch gar keinen Titel. „Schwanensee“ wird wieder zu sehen sein, ebenso „Der Traum der roten Kammer“ in der Hongkonger Fassung von 2013. Außerdem gibt es etliche „kleinere“ Ballett-Aktionen: „Internationale Ballettgala XX & XXI“, Sommerakademie, NRW Juniorballett und so fort.

Konzerte

Bleibt, von der Musik zu künden, der konzertanten zumal. Die üppigen Spielpläne liegen detailliert vor, man findet sie im soeben erschienenen Spielzeitprogramm und auf dem Internetauftritt des Theaters Dortmund. Der Eindruck hier: Viel solide Arbeit im klassischen Repertoire, wenig Starkino. Zwei prominente Namen fallen ins Auge, zum einen der der Sopranistin Edita Gruberova, die den mit 25.000 Euro dotierten Preis der Kulturstiftung Dortmund erhält und ihn sich am 5. Dezember im Konzerthaus abholen wird, zum andern der Sebastian Kochs, fernsehbekannter Schauspieler („Speer“), der, finanziert mit etwas Sponsorengeld, beim 5. Philharmonischen Konzert am 13. und 14. Januar in Beethovens Bühnenmusik zu Goethes „Egmont“ den Sprecher gibt.

Bei den Philharmonikern ist man übrigens auf die Idee gekommen, die Wörter, die die Titel der Reihen und Veranstaltungen bezeichnen, silbenweise zu zerhacken und dann mit so genannten Underlines zu verbinden. Deshalb heißt die philharmonische Reihe in diesem Jahr „helden_innen_leben“ und die Veranstaltung mit Herrn Koch im Januar „spiel_zeiten“. (Davor, nur als Fußnote, gibt es „gefühls_welten“, danach „helden_mut“.) Darf man in Blogs ungestraft das Wort Schwachsinn verwenden?

Fünf Konzerte der philharmonischen Reihe werden von Generalmusikdirektor Gabriel Feltz dirigiert, fünf von Gästen, unter denen sich in dieser Spielzeit doch tatsächlich auch eine Frau befindet: Das 9. Konzert (12. und 13. Mai 2015) leitet die Amerikanerin Karen Kamensek, Generalmusikdirektorin in Hannover. Es gibt Kissenkonzerte und Kammerkonzerte und Babykonzerte (immer ganz schnell ausverkauft!) und „Konzerte für junge Leute“, deren Titel neugierig machen: „Groove Symphony“, „Superhelden der Filmmusik“, „Romeo und Julia in New York“. Und ganz am Schluß dieses Aufsatzes das schöne Gefühl, von der darstellenden Kunst geradezu umzingelt zu sein. Zumal seit kurzem auch das Programmbuch des Konzerthauses raus ist (grauenvoller Titel: „Stell dich der Klassik.“, mit dem Punkt). Es wiegt über ein Pfund und damit sogar noch etwas mehr als das von Oper und Theater.

http://www.theaterdo.de/startseite/

www.konzerthaus-dortmund.de




Die uralten Mythen wirken noch weiter: Kunst aus Island bei den Ruhrfestspielen

Das Motto der Ruhrfestspiele lautet diesmal so: „Inselreiche. Land in Sicht – Entdeckungen“. Imaginäre Reisen in allerlei Randzonen sind zu erwarten. In dieser geistigen Geographie kann man Island recht gut unterbringen. Und also führt die Kunstausstellung der Ruhrfestspiele auf diese riesenhafte, vielfach auch bizarr anmutende Insel.

Zwar sind alle gängigen Kunstrichtungen irgendwann auch in Island angelangt, nicht zuletzt die Ausfaltungen der Abstraktion. Doch die Schau mit dem Titel „Saga“ betont in der Recklinghäuser Kunsthalle das narrative Moment, was ja auch allemal mehr Publikum anzieht als dürre Konstrukte. Immerhin ist das Erzählerische, ist also die Literatur Islands auffälligster Beitrag zur Weltkultur. Das wurde auch 2012 erst recht offenbar, als die Insel Gastland der Frankfurter Buchmesse war. Warum also nicht auch der Bildnerei das Erzählerische ablauschen?

Jóhannes S. Kjarval: "Fantasie" (1949, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Jóhannes S. Kjarval: „Fantasie“ (1949, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Eine mehr als heimliche, zuweilen gar ausgesprochen unheimliche Triebkraft des Erzählens sind in allen Künsten Islands die erdgeschichtlichen Dramen, die sich auf dieser Insel abgespielt haben und immer noch abspielen. Folglich steht am Anfang auch das Panorama eines grandiosen Naturschauplatzes – des Thingvellir genannten Tales, das sich an der immer weiter klaffenden Erdspalte zwischen nordamerikanischer und eurasischer Kontinentalplatte befindet. 1863 hat es der Frankfurter Maler Heinrich Hasselhorst eher nüchtern realistisch dargestellt. Für Naturmystik war er offenkundig nicht empfänglich.

Andere Künstler zeigten sich indes von der Magie des mythischen Ortes angetan: Der Isländer Jóhannes S. Kjarval bringt 1932 und 1940 die in vielerlei Schattierungen erstarrte Lava geradewegs zum Tanzen. Vollends lebendig wird auf seinem Bild „Fantasie“ (1949) eine übersinnliche Welt der Elfen und Trolle, die aus dem Gestein hervorzutreten scheinen. In den 1990er Jahren hat Magdalena Jetelová dasselbe Gelände per Laserstrahl gleichsam sezierend vermessen, wobei aber – technisch avancierten Mitteln zum Trotz – gleichfalls ein Naturzauber zu walten scheint.

Just diese Doppelgesichtigkeit kennzeichnet auch die meisten zeitgenössischen Künstler Islands: Sie verschließen sich keineswegs den technischen Möglichkeiten, knüpfen aber immer wieder an die alten Sagas und Mythen wie „Edda“ und „Völuspá“ an. Das Spektrum reicht bis zur multitalentierten Popmusikerin Björk, deren Computer-Anwendungen (Apps) um erdhistorische Urvorgänge und ewige Metamorphosen kreisen. Auch davon gibt es in Recklinghausen Proben.

Olafur Eliasson: "Cars in Rivers" (Fotografien, 2009) (©Listasafn Island/National Gallery of Iceland)

Olafur Eliasson: „Cars in Rivers“ (Fotografien, 2009) (©Listasafn Island/National Gallery of Iceland)

Von insularer Isolation kann bei all dem keine Rede sein: Praktisch alle isländischen Künstler von Rang haben in anderen Ländern (vorzugsweise Holland, Frankreich, Italien, Deutschland und USA) Strömungen der Weltkunst aufgenommen. Ein glücklicher Sonderfall in der Gegenrichtung ist das einflussreiche Wirken des Schweizer Fluxus- und Konzept-Künstlers Dieter Roth (alias Diter Rot), der einige Jahre auf Island gelebt und dort mannigfache Anstöße gegeben hat. Letztlich geht auch der heutige Welterfolg eines Olafur Eliasson auf solche wechselseitigen Formen des Austauschs zurück.

Erró: "American Interior No.1" (1968, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Erró: „American Interior No.1“ (1968, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Im weiteren Rundgang zeigt die Ausstellung eine Vielfalt künstlerischer Positionen. Ein paar Beispiele: Der in Paris lebende Isländer Erró setzt seine eklektischen Bildwelten etwa aus Comics, japanischen Holzschnitten, plakativer Propaganda und profanen Objekten der Warenwelt zusammen. Helgi Thorgils Fridjónsson zeigt den nackten Menschen bei nördlich klarem Lichtblau im Einklang mit der Natur.

Helgi Thorgils Fridjónsson: "Fische des Meeres" (1995, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Helgi Thorgils Fridjónsson: „Fische des Meeres“ (1995, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Hulda Hákon formt Reliefs und Skulpturen, die die in Island besonders virulente Wirtschaftskrise gewitzt auf den Begriff bringen. Besagter Olafur Eliasson hat 35 (je für sich genommen unscheinbare) Bilder von in Flüssen gestrandeten Bussen und Geländefahrzeugen (ein im unwegsamen Island allfälliger Anblick) so zusammengestellt, dass wir hier gleichfalls ein Sinnbild der Krise haben.

Olöf Nordal fotografiert irritierende Arrangements aus Wachsfiguren und deren noch lebenden Nachfahren. Der vielfach begabte Sigurdur Gudmundsson bringt sich selbst – gänzlich unprätentiös – auf Fotografien in rätselvolle Zusammenhänge, hinter denen sich mögliche Geschichten verbergen. Seine Bilder sind auf ihre Weise eindrücklich, aber nicht so machtvoll jene der weltberühmten Cindy Sherman, die sich im Kostüm von Coco Chanel in einer isländischen Lava-Landschaft am Vulkan Eyjafallajökull inszeniert. 2010 war sie auf der Insel, als dieser Vulkan ausbrach. Bedrohliche Natur ist auf Island stets gegenwärtig. Sie erzeugt eine gänzlich andere Art der Schönheit, als dies in lieblichen Breiten der Fall ist.

Cindy Sherman. "Untitled #512" - Fotografie (© Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York)

Cindy Sherman. „Untitled #512“ – Fotografie (© Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York)

Die Kuratoren Norbert Weber und Halldór Björn Runólfsson (Direktor der Nationalgalerie in Reykjavik) bürgen für beste Kontakte zur isländischen Szene, so dass der Überblick von der nötigen Substanz zehrt. Sie sprechen beseelt von Dramen, Kulissen – und von dem „Film im Kopf“, der hier in Gang gesetzt werde. Tatsächlich sehen wir hier keine sperrige, sondern überwiegend beredsame oder gar erzählfreudige Kunst, die gleichwohl manche Geheimnisse zu wahren weiß.

„Saga. Wenn Bilder erzählen – Kunst aus Island“. Kunstausstellung der Ruhrfestspiele in der Kunsthalle Recklinghausen. 4. Mai bis 6. Juli 2014. Geöffnet Di-So + feiertags 11-18 Uhr. Eintritt 3 Euro, ermäßigt 1,50 Euro. Katalog 20 Euro. Infos: Tel. 02361/50-1935 und www.kunst-re.de




Die Nabelschau des Karl Lagerfeld im Essener Museum Folkwang

Gerade konnte man die Erfolgsmeldung lesen: Der 50000. Besucher in der Karl-Lagerfeld-Ausstellung im Essener Museum Folkwang wurde gezählt, und das Museum freut sich besonders, dass so viele junge Zuschauer kommen. Im doppelten Sinne kann man sagen: Lagerfeld zieht die Menschen an.

Dabei macht das Thema Anziehen nur einen kleinen Teil der Schau aus. Mit Fotografie fängt es an – großformatig und bunt, und nicht immer hat KL selbst auf den Auslöser gedrückt. Wie es sich für seine Egonummer gehört, sieht man den Meister nicht selten selbst im Bild.

Buchkunst ist das zweite Thema, und da hat Lagerfeld aus den letzten fünf Jahrzehnten so einiges vorzuweisen. Gerade in der Inszenierung literarischer Vorlagen wie Goethes Faust oder Shakespeares Romeo und Julia, umgedeutet als Mode-Erzählung, zeigt sich die Kreativität des deutsch-französischen Selbstdarstellers.

Natürlich muss Mode den dritten Teil der Ausstellung ausmachen, und dazu gehören nicht nur seine Modelle und Fotos für die großen Schauen von Chanel und Fendi in Paris und anderswo, sondern auch die dazu gehörenden Kleider im Original.

Das Museum Folkwang ist ja schon um seiner selbst willen einen Besuch wert. Ob allerdings einem eher zweitrangigen „Künstler“ wie Lagerfeld eine derart umfangreiche Nabelschau gewidmet werden sollte, bezweifle ich persönlich. Manche weibliche Besucherin mag das ja anders sehen.

Fast peinlich wird es am Ende des Rundgangs, wenn KL zusammen mit dem Museum einen Raum inszeniert, in dem die Bücher ausgestellt werden, die er gerade liest, früher einmal gelesen oder in seiner privaten Bibliothek stehen hat.

Fehlt nur noch ein kleiner Altar mit Kerzen und Heiligenbildchen.

Karl Lagerfeld – Parallele Gegensätze. Museum Folkwang Essen, bis 11. Mai, Di-So 10-18 Uhr, Fr 10-22 Uhr. Navi-Adresse: Bismarckstraße 60.
Weitere Infos: http://www.museum-folkwang.de/de/ausstellungen/aktuell/karl-lagerfeld.html




„Stecke Erdloch“: Becketts „Glückliche Tage“ am Schauspielhaus Düsseldorf

In Düsseldorf ist die Wüste blau: Ein sattes Yves Klein-Blau, das den Erdhügel bedeckt, in dem Winnie steckt. Unter der kräftigen Farbe lugt allerdings ein metallisches Eisengestänge hervor, das wie ein überdimensionaler Reifrock wirkt, der Winnie einschnürt. Das passt zu ihrer aussichtslosen Lage, denn im Laufe von Becketts „Glückliche Tage“ wird sie immer weiter in ihrem Erdloch versinken.

Eine Kamera zeichnet Winnies Tage auf, durch die Projektion auf eine überdimensionale Leinwand können wir wie Voyeure jede Veränderung in ihrer Mimik verfolgen. Doch vielleicht ist Winnie über den gefilmten „Selfie“ ja gar nicht mal so unglücklich: Immerhin sieht und hört ihr in der Inszenierung des französischen Regisseurs Stéphane Braunschweig wenigstens jemand zu. Was man von Ehemann Willie nicht behaupten kann, der nahebei in einem Erdloch lebt und seit der Uraufführung der Beckettschen Endzeitparabel 1961 in New York als Musterexemplar eines Maulfaulen gilt.

So hat Winnie zur Unterhaltung nur die Gegenstände in ihrer Handtasche: Zahnbürste, Revolver, Taschenspiegel, Sonnenschirm. Und sie hat ihre eigene Eloquenz: Ich spreche, also bin ich (noch). Solange die Illusion besteht, dass ihr Gerede einen Adressaten hat, und sei es der wortkarge Willie, gibt es noch Hoffnung. Dann ist dieser Tag ein „glücklicher Tag“. Dann sind die engen Grenzen ihrer kümmerlichen Existenz zu ertragen, dann hat ihr einsames Dasein einen Sinn.

Durch Winnies Kampf gegen die Auslöschung wird man unweigerlich in die Gedankenwelt Becketts hineingezogen und die Traurigkeit des Nichts weht einen an – auch wenn die Alltagserfahrung 2014 eher von Reizüberflutung denn von extremer Reduktion geprägt ist. Warum kauft der Winnie eigentlich keiner ein Smartphone? Dann könnte sie ein paar Leute kontakten und die Langeweile wäre verflogen. Doch wie man Beckett kennt, hätte das bestimmt in der Wüste keinen Empfang.

So zeigt Claudia Hübbecker die Winnie als englische Lady von altem Stil. Die Spitzenbluse sitzt, das Hütchen ist à la mode, die Reste der klassischen Bildung helfen über monotone Stunden hinweg. Hübbecker spielt Winnies brüchige Seelenlage meisterhaft, weil äußerst nuancenreich. Ein Zittern des Mundwinkels verrät zurückgedrängte Verzweiflung, ein Straffen des Oberkörpers eisernen Durchhaltewillen nach dem Motto „keep calm and carry on.“ Mit blauem Augenaufschlag flirtet Winnie mit Kamera und Publikum, in der geschwätzigen Tonlage ihres ungebremsten Mitteilungsbedürfnisses ist sie gleichermaßen authentisch und witzig. Auch wenn Willie was zu sagen hätte: Wer wollte es hören? Das liegt nicht an Rainer Galke: Er macht seine Sache gut, indem er seinen Körper gekonnt unbeholfen durch die Drahtgestänge schiebt, grunzt und schweigt.

Es liegt an Beckett: Er wusste einfach noch nichts von Facebook oder Twitter: @Winnie, stecke blaues #Erdloch, krass langweilig. Was geht bei euch?

Infos und Karten: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Gasometer Oberhausen – grandiose Lichtinstallation verformt die Riesendose

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer Oberhausen Foto: Wolfgang Volz

Die Installation „320 Grad Licht“ der Künstlergruppe Urbanscreen sorgt im Gasometer für atemberaubende Formen. Foto: Wolfgang Volz/ GasometerOberhausen.

Zuletzt hing Christos Luftsack im Rund des Gasometers und akzentuierte grandios das atemberaubende Nichts. Jetzt ist hier nur noch Licht – eine Licht-Installation, genauer gesagt, die „320 Grad Licht“ heißt und den einzigartigen Raum auf kluge Weise nutzt. Da Licht aber nur bei Dunkelheit sichtbar wird, ist es im Gasometer insgesamt gesehen eher dunkel – bis Ende des Jahres, denn dann endet die Ausstellung mit dem Titel „Der schöne Schein“.

Doch weißes Licht, das die Wände verzaubert, auf ihnen herabrieselt, Wellen schlägt, Tiefendimensionen auf dem glattrunden Blech erscheinen lässt und noch eine Menge mehr vermag, ist nicht alles. Genau genommen ist die Installation ja nur eine Arbeit von rund 150, die derzeit zu sehen sind. Kurator Peter Pachnicke hat nämlich in den unteren beiden Etagen des Gasometers Reproduktionen von „ausgewählten Meisterwerken der Kunstgeschichte“ aufhängen lassen, und die gaben der Schau ihren Titel. Wiewohl es, wie könnte es anders sein, eine sinnfällige thematische Verkettung mit der Lichtkunst im Obergeschoß gibt. Dort nämlich könne man „die Schönheit des Gasometers“ erfahren, samt Schönheit der Lichtarbeit. Irgendwie hängt ja immer alles mit allem zusammen.

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer Oberhausen Foto: Thomas Wolf

Die Installation „320 Grad Licht“ arbeitet mit minilamilstischen Grundformen – Quadraten, Quadern, Linien – und ist ständig in Bewegung. Foto: Volz/Gasometer

Man wandert durch die von der Decke hängenden Bilder und wundert sich. Das Profil einer zarten, blonden Botticelli-Schönheit zum Beispiel füllt jetzt um die vier Quadratmeter und lässt an Werke der Pop-Art aus den 60er Jahren denken, zu deren wesentlichen Stilmitteln ja das „Blow Up“ gehörte, also das starke Vergrößern des vermeintlich Alltäglichen. Doch mag dieser Eindruck in Oberhausen zufällig sein, nicht alle Bilder wurden derartig stark vergrößert wie manche Renaissance-Portraits. Überhaupt scheint es keine festen Regeln für die Bestimmung des Vergrößerungsmaßstabs gegeben zu haben.

Lichtinstallation "320° Licht" von Urbanscreen im Gasometer OberhausenFoto: Wolfgang Volz

Blick zur Decke des Gasometers in über 100 Metern Höhe. Foto: Volz/Gasometer

Peter Pachnicke erzählt, er habe zeigen wollen, was Künstler im Lauf der Jahrhunderte an Schönheit empfanden. Er habe gleichsam „in sich selbst gegoogelt“ und geschaut, welche Bilder und Skulpturen ihm einfielen. 150 bis 200 Stück seien es gewesen, ein mehrheitsfähiger Kanon im europäischen Raum, Ausdruck eines kollektiven Bildgedächtnisses.

Nun hängen die meisten davon – ergänzt durch vorzügliche Gipsabdrücke vornehmlich antiker Plastik – im Halbdunkel des Gasometerrunds: Von Hieronymus Bosch das (etwas apokalyptische) Paradies, von Caspar David Friedrich ein Mondaufgang, von Edouard Manet die nackte Olympia, von Katshika Hokusai die Tsunami-Welle, und so weiter, und so weiter, mal mehr mal weniger größer als das Original. Ein „Best of Schönheit“, vierfarbig ausgedruckt und auf stabile Bildträger gezogen.

Doch ist dies ein ernstzunehmendes Konzept? Und trägt es, ist es attraktiv für das Publikum? Oder prägten vor allem ökonomische Überlegungen den Charakter der vergleichsweise preiswerten Sommerschau für das Jahr 2014, deren „Projektpartner“ übrigens ein bekannter Druckerhersteller ist?

Sommer

Eins von über 150 ausgedruckten Meisterwerken im Gasometer ist Arcimboldos kunstvolles Gemüsearrangement „Sommer“. Foto: Gasometer

Dieser „Schöne Schein“ hat ein Geschmäckle. Und das unvergleichliche Industriebauwerk hätte sicherlich eine bessere Bespielung verdient als die Ausstellung von Computerausdrucken. Der Besuch im Gasometer lohnt sich natürlich trotzdem, erstens sowieso und zweitens wegen der Lichtkunst der Bremer Künstlergruppe Urbanscreen. 21 Projektoren sind für ihre Realisation nötig, sie läuft in einer 20-Minuten-Endlosschleife („Loop“) und wird untermalt durch eine eigens geschaffene, dem einmaligen (Nach-) Hall der Riesenblechdose angepasste „minimalistische“ Musik. Und sie ist auch „schön“. Wenngleich Schönheit zu finden schon lange nicht mehr der Kunst vornehmstes Ziel ist.

Bis 30. Dezember 2014. Di-So 10-18 Uhr, in den NRW-Ferien auch mo. geöffnet. Eintritt 9 Euro. www.gasometer.de




Ai Weiwei und die Kunst des Konflikts

Er hätte in New York bleiben können, frei, unbehelligt. Immerhin lebte der chinesische Künstler und Architekt Ai Weiwei von 1981 bis 1993 seinen amerikanischen Traum. Aber wer kannte ihn schon? Erst als aufrührerischer Heimkehrer entwickelte Ai ein von der westlichen Welt bewundertes Werk voller Zorn und Schönheit. Der Konflikt mit dem kommunistisch-kapitalistisch agierenden Regime inspiriert ihn zu immer wieder neuen Installationen, die er jetzt in einer grandiosen Schau im Berliner Gropius-Bau zeigt: „Evidence“ – Beweis.

Dass er selbst nicht zur Eröffnung kommen durfte, passt Ai Weiwei durchaus ins Konzept. Das Verbot sei, ließ er vorab verlauten, „ein Kunstwerk an sich“ und spiegele die menschliche Verfassung wider.

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Die chinesischen Behörden verweigern ihm die Ausreise, seit er 2010 mit einer im Internet angekündigten Protestparty auf den willkürlichen Abriss seines Ateliers in Shanghai reagierte. Während Ai in Hausarrest saß, ließ er rund 1000 Gästen ein symbolhaltiges Mahl servieren: Flusskrebse, chinesisch „he xie“. Genauso klingt – etwas kompliziert für westliche Rezipienten – das chinesische Wort für Harmonie, welches wiederum vom Regime gebraucht wird, sobald es um Gleichschaltung geht. Für Ai Weiwei sind die Flusskrebse nun seine subversiven Krabbeltiere. Er ließ sie 2011 in kostbarem Porzellan nachbilden, grau und rot, zerbrechlich, aber nicht verderblich. In unübersehbarer Zahl liegen sie auf dem Boden des Ausstellungssaals – unheimlich und reizvoll.

So macht sich Ai Weiwei die Dinge und Ereignisse zu eigen. Die Idee der Verwandlung ist sein Trick und zugleich seine Erlösung. Die Überwachungskameras, die vor seinem Haus in Peking installiert wurden, ließ er in Marmor nachbilden. Versteinert sind sie nun, hübsch, harmlos und doch Zeugnisse einer allgegenwärtigen Schikane. Ai hat sie verzaubert – genau wie die Handschellen, die zum Jade-Schmuck wurden, und sechs schäbige Plastikbügel, die jetzt als Kristallobjekte edel in einer Vitrine schimmern. Gezähmte Erinnerungen an die 81 Tage, die Ai im Frühjahr 2011 in einem Geheimgefängnis verbrachte.

Ohne Angabe von Gründen hatte man ihn auf dem Flughafen verhaftet und in eine Zelle gesperrt, wo das Licht nie ausging und die Möbel mit Schaumstoff umwickelt waren. Ein Nachbau soll dem Publikum (nur sechs Personen dürfen zugleich eintreten) die Gefühle des Gefangenen nahebringen, Ai lässt nichts aus. In einem suggestiven Musikvideo marschiert er zwischen Bewachern auf und ab – und inszeniert seine Fantasien. Ein Kind rasiert ihm die struppigen Haare vom Schädel, auch der lange Bart fällt. Der bullige Künstler wird zu einer kahlköpfigen, geschminkten Diva, die aus dem Gefängnisgang einen Laufsteg macht. Wieder hat die Metamorphose funktioniert.

Ein gefährliches Spiel, was Ai da treibt. Nicht immer geht es so gut aus wie Ende 2011, als Tausende von Spendern seine angeblichen Steuerschulden bezahlten. 2009, als er nach dem verheerenden Erdbeben von Sichuan auf Baumängel in den zusammengestürzten Gebäuden hinweisen wollte, erlitt er nach einer Polizistenattacke eine Hirnblutung, die in Deutschland operiert wurde. Zu einer Ausstellung im Münchner Haus der Kunst durfte er damals noch leibhaftig erscheinen. Heute ist er virtuell gegenwärtig – und ein andächtiges Publikum huldigt ihm im Gropius-Bau, dem ehemals kaiserlichen Kunstgewerbemuseum, um 1880 von Martin Gropius (dem Großonkel des Bauhaus-Gründers) als Pseudo-Renaissance-Palast errichtet.

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: "Stools" (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: „Stools“ (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Ai weiß, wie man auch solche Räume füllt. Über 6000 alte Hocker aus nordchinesischen Dörfern stehen dichtgedrängt im prächtigen Lichthof. Sie tragen die Spuren vieler Leben und erzählen mit ihren Kratzern, Brüchen und Farbresten von Chinas Vergangenheit, deren Überreste systematisch dem Wirtschaftsboom geopfert werden.

Nicht nur in Peking verschwinden historische Stadtviertel, um neuen Wohn- und Geschäftsburgen Platz zu machen. Schon 2007, nachdem er antike Häuserteile und Möbel auf der Documenta installiert hatte, ließ Ai 30 Türen zerstörter Häuser in Marmor nachbilden. Sein „Monumental Junkyard“, der monumentale Schrottplatz, ist ein Denkmal für das Verlorene – genau wie zwölf vergoldete Bronzen chinesischer Tierkreisfiguren, die sich einst in den Gärten des kaiserlichen Sommerpalastes befanden, wo sie 1860 von europäischen Soldaten geraubt wurden.

Jede Zeit gebiert ihr eigenes Unrecht. Und sie sorgt für Verdrängung. Die jungen Chinesen im Fortschrittsrausch interessieren sich kaum für die traditionelle Kultur ihres Landes. Sie wollen Audi fahren. Ai Weiwei hat dafür in diesem Jahr ein starkes Zeichen geschaffen: Er überzog acht etwa 2000 Jahre alte Vasen aus der Han-Dynastie mit metallisch glänzendem Autolack. Sieht perfekt aus, dieser Akt der Zerstörung. Ai Weiwei, der abwesend Anwesende, hat sich wieder einmal klar ausgedrückt.

„Ai Weiwei – Evidence“: bis 7. Juli im Martin-Gropius-Bau, Berlin, Niederkirchnerstr. 7. Mi.-Mo. 10 bis 19 Uhr, ab 20. Mai bis 20 Uhr, Di. geschlossen. Katalog im Prestel-Verlag: 25 Euro (Buchhandelsausgabe: 39,95 Euro). www.gropiusbau.de




Die Katastrophen sah sie kommen – „Kassandra“ in Dortmund

Die Rückwand eine Spiegelfläche, einige Scheinwerfer – mehr Bühnenbild braucht es nicht, um Kassandras Denken sinnfällig zu machen: Reflexion und Erhellung (vielleicht auch Erleuchtung) kennzeichnen es, ein Verstandesmensch ist sie, eine Analytikerin, ein Intellektuelle. Und eine Leidende unter eigener Erkenntnis.

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Bettina Lieder als Kassandra (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Im Studio des Dortmunder Theaters gibt die jugendliche Bettina Lieder Kassandra Gesicht und Stimme. In einem kräftezehrenden 80-Minuten-Monolog erzählt sie ihre – Kassandras – Lebensgeschichte, und sie wirft sich so bedingungslos in die Rolle, daß ein Schwächeanfall nach etwa einer Stunde den Fortgang der Aufführung für kurze Zeit fraglich macht. Doch nach wenigen Minuten ist Bettina Lieder wieder vorne. Und sie ist wieder Kassandra, die zornige Frau, die die Gabe der Weissagung haben soll und die darunter körperlich leidet.

Tochter von König Priamos und seiner Frau Hekabe ist sie, doch die hohe Herkunft erspart ihr nicht das entwürdigende Deflorationsritual, das sie ganz selbstverständlich erkennt als Teil der politisch gewollten Frauendiskriminierung. Sie will Abstand halten zu den Widrigkeiten dieser Welt, strebt das Amt der Priesterin an und wird in der Folgezeit eine mehr oder weniger involvierte Beobachterin der Verhältnisse, insbesondere der Kriegstreiberei gegen die Griechen.

Den Trojanischen Krieg sieht sie ebenso kommen wie sie späterhin auch früh die List der Griechen erkennt, die den Trojanern ein viel zu großes Holzpferd zur Opfergabe machen. Und sie weiß auch, dass das Trojanische Pferd Symbol für ein besonders grausames Gemetzel und den Untergang Trojas sein wird. So viel Inhalt im Kurzdurchlauf. Der Text, den Bettina Lieder vorträgt, berichtet natürlich ungleich mehr. Und man kann ihm recht gut folgen, wenngleich auch er mit vielen Namen und langen Sätzen gewisse Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Publikums stellt.

Der Text nun stammt in seiner angewandten Form von Dirk Baumann und Lena Biresch und entstand „nach Christa Wolf“. Christa Wolf starb 2011 und kann sicherlich die bedeutendste Schriftstellerin der DDR genannt werden, hoch geschätzt und viel gelesen auf beiden Seiten der deutschen Grenze. Ihre „Erzählung“ (Untertitel) „Kassandra“ kam in Westdeutschland 1983 heraus, ein mit nicht einmal 160 Seiten recht schmales, also wichtiges Buch, in dem die Schriftstellerin eine antike Heldin frauenbewegt, soziologisch und mit kühlem Intellekt erforscht.

Wenn Christa Wolfs Kassandra im Rückblick ihr Leben erzählte, so vermeinte man bei der Lektüre immer auch die Schriftstellerin selbst zu vernehmen, seelisch und methodisch mit ihrer Heldin nahezu verschmolzen. Auch vom Alter her war der Rückblick eine plausible Form des Erzählens. Somit ist der Vortrag des Textes durch eine junge Frau zunächst einmal irritierend. Was Bettina Lieders Kassandra im Dortmunder Schauspiel zornig, traurig, aufgewühlt erzählt, kann sie ja noch gar nicht erlebt haben.

Doch andererseits ist alles schon angelegt, es gehört zur Menschheitstragik, daß man vieles kommen sehen könnte, wenn man es denn wollte. Und nicht den letztlich wohlfeilen Zorn der Götter zur Ursache allen Übels erklärte. So gesehen ist eine jugendliche Kassandra eine stimmige Besetzung, denn es war ja ihr Los, vorher schon Bescheid zu wissen. Und nicht gehört zu werden. Und so zum Sonderling zu werden.

Auf unerwartete Weise lädt die Einrichtung des Stoffes von Dirk Baumann und Lena Biresch (auch Regie) dazu ein, über göttliche Fügung, Tragödie, Erkenntnis oder auch Verantwortung nachzudenken, wie es das Bühnenbild (Ausstattung: Mareike Richter, Licht: Rolf Giese) beizeiten schon nahelegte. Und die Sympathie des Abends gehörte selbstverständlich der kämpferischen Darstellerin.

Die nächsten Termine: 9., 25. April, 23. Mai. www.theaterdo.de




„Menschenschlachthaus“: Wie die Kunst den Ersten Weltkrieg nicht fassen konnte

Gert Heinrich Wollheim: "Der Verwundete" (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Gert Heinrich Wollheim: „Der Verwundete“ (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Als auch die Künstler in den Ersten Weltkrieg geraten, ist ihre anfängliche Kampfes-Euphorie sehr bald vorüber. Die Bilder vom Kriege, zwischen 1914 und 1918 entstanden, enthalten hin und wieder patriotische Appelle, doch kaum noch triumphale Gesten.

Ja, die Kunst macht sich geradezu klein vor der schrecklich übermächtigen Wirklichkeit, wie man jetzt in einer bemerkenswerten Wuppertaler Ausstellung sehen kann. So manche Skizze ist im Schützengraben oder an der Frontlinie entstanden. Dorthin konnte man keine Staffeleien und Leinwände mitnehmen. Doch auch die im Atelier gemalten Ölbilder haben meist bescheidene Ausmaße.

„Menschenschlachthaus“ heißt die Ausstellung mit drastischer Deutlichkeit, der Untertitel lautet „Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst“. Das Partnermuseum (Musée des Beaux-Arts) in Reims, das rund die Hälfte der rund 350 Exponate beigesteuert hat und die Schau ab 14. September übernehmen wird, will einen dezenteren Titel wählen, denn jenseits des Rheins wird der Erste Weltkrieg bis heute anders gesehen. Dort verknüpfen sich – über das Leidensgedächtnis hinaus – ungleich mehr nationale Gefühle damit, auch solche der Genugtuung und des Stolzes.

Reims hat wegen der im Ersten Weltkrieg zerstörten und später wieder aufgebauten Kathedrale (Krönungsort französischer Könige) eine herausragende Bedeutung für Frankreichs Selbstbild. So kommt es, dass im September vermutlich Frankreichs Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel die Ausstellung in Reims eröffnen werden.

Gustave Fraipont: "Brand der Kathedrale von Reims". Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Gustave Fraipont: „Brand der Kathedrale von Reims“. Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Die Ausstellung konzentriert sich ganz auf die beiden Nachbarländer und blendet alles weitere Kriegsgeschehen aus. Sie berührt freilich auch so einen weiten Themenkreis, setzt sie doch schon bei unguten Vorahnungen, kriegsträchtigen Stimmungen und beim Zustand der Kunst vor 1914 ein und verfolgt die Linie bis zu Tendenzen der 1920er Jahre, als in Deutschland die Neue Sachlichkeit aufkam und französische Künstler sich im weiten Feld zwischen Neoklassizismus und Kubismus bewegten. Der Kernbestand aber widmet sich der eigentlichen Kriegszeit, ob nun an oder hinter der Front.

Jüngst hat eine andere, thematisch verwandte große Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle („Die Avantgarden im Kampf“) die These verfechten und illustrieren wollen, der Erste Weltkrieg habe die Künste beflügelt. Gerhard Finckh, Direktor des Wuppertaler Von der Heydt-Museums, mag diesem Ansatz nicht folgen. Im Gegenteil. Alle damals wesentliche Richtungen hätten sich unabhängig vom Krieg gebildet und seien bereits vorher zur Blüte gelangt. Zudem hätten die allermeisten Künstler dann den Krieg bildnerisch gar nicht zu fassen bekommen.

Pierre Bonnard: "Zerstörtes Dorf an der Somme" (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Pierre Bonnard: „Zerstörtes Dorf an der Somme“ (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Darf man da von einem Versagen sprechen? Wie will man denn auch mit den überlieferten Mitteln der Zeichnung, der Tafelmalerei oder Skulptur die wirklichen Gräuel „angemessen“ darstellen? So wird die bildende Kunst in keiner Hinsicht „fertig“ mit dem Krieg.

In Wuppertal ruft man demzufolge Fotografie, Film und Literatur (mit längeren Textpassagen in der Ausstellung) zur Hilfe, um dem Thema gleichsam mehrdimensional beizukommen. So entfaltet die Schau, die ohnehin zwischen Kunstgeschichte und politischer Geschichte oszillieren muss, eine anfangs geradezu irritierende Vielfalt der Perspektiven.

Selbst ein Max Beckmann hat zunächst den Krieg begrüsst, der seiner Kunst „zu fressen“ gebe, also starke Themen liefere. Sogar ein Otto Dix wirkt auf einem Selbstporträt noch gewaltbereit, wenngleich Brüche und Verstörungen zu spüren sind. Ähnliche Phänomene der Begeisterung gibt es auch auf französischer Seite.

Max Beckmann: "Selbstbildnis als Krankenpfleger" (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Max Beckmann: „Selbstbildnis als Krankenpfleger“ (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Im Folgenden findet man etliche Schattierungen der Kunst im Kriege. Wenn Maurice Denis ein preußisches Schwein darstellt, das ein unschuldiges Kind brutal niedertrampelt, so ist dies natürlich Propaganda. Man sieht hie und da patriotische Posen und Heroisierungen, Stilisierungen, Überhöhungen oder auch naive Betrachtungsweisen.

Dabei kommt es der Ausstellung zugute, dass in ihrer Fülle nicht nur berühmte Künstler vertreten sind, sondern auch einige Unbekannte, zuweilen ersichtlich weniger Talentierte. So wird deutlicher, wie und warum die herkömmliche Malerei vielfach am Thema scheitert und scheitern muss.

Doch einige wenige Künstler lassen die rohe Wahrheit der Materialschlachten und der massenhaft zerfetzten Körper aufblitzen. So zeigt Otto Dix’ (hier komplett präsentierte) Mappe „Der Krieg“ in bizarrer Zuspitzung denn doch einiges vom innersten Zerstörungswesen des Krieges. Das Totentanz-Konvolut, zu dem 50 Radierungen gehören, ist freilich erst 1924 entstanden. Auch Conrad Felixmüllers „Soldat im Irrenhaus“ (1919) ist ein solcher Aufschrei, bis ins Mark erschütternd.

Neben dem grotesken Zugriff, für den beispielsweise auch George Grosz steht, scheint äußerste lakonische Zurückhaltung eine weitere Möglichkeit zu sein, sich der schlimmen Wahrheit zu stellen. Anders herum gesagt: Wo immer sich die künstlerischen Mittel zu sehr aufdrängen (oder eben auch nicht genügen), geht die Anstrengung fehl. Traditionelle Regeln gelten hier ohnehin nicht mehr. Allseits zerfallende Strukturen müssen auch im Bild ihre Entsprechung finden. Sonst ist es von vornherein Verharmlosung.

Félix Vallotton: "Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine - BDIC)

Félix Vallotton: „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine – BDIC)

Eines der großartigsten Bilder der Ausstellung offenbart wohl auch einen Zwiespalt. Félix Vallottons „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne“ (1917) ist mit seinen Tausenden von Grabkreuzen ein grandioses Monument stiller Trauer, doch könnte man auch argwöhnen, dies sei eine nahezu abstrakte Ansammlung von Ornamenten. Es ist ein schwankender Gang auf dem Grat – wie alle Kunst vom Kriege.

„Menschenschlachthaus. Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst.“ Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Vom 8. April bis 27. Juli 2014. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Karfreitag und Ostersonntag 11-18 Uhr, Ostermontag und Maifeiertag geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 25 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm. Informations-Hotline: 0202/563-26 26. www.von-der-heydt-museum.de




Tod an der Front: Kunsthalle Bielefeld erinnert an Weltkriegsopfer Hermann Stenner

Hermann Stenner: Skizze zu einem Selbstbildnis, 1912. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Hermann Stenner: Skizze zu einem Selbstbildnis, 1912. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Er wurde gerade einmal 23 Jahre alt: Der gebürtige Bielefelder Hermann Stenner starb im Dezember 1914 an der Ostfront. Ein Opfer des Ersten Weltkriegs wie andere Künstler auch, etwa August Macke oder Franz Marc. Die Bielefelder Kunsthalle zeichnet nun in einer großen Ausstellung zum ersten Mal die nur fünfjährige Schaffenszeit Stenners nach. „Er wäre einer der besten Maler Deutschlands geworden“, schrieb sein Studienfreund Willi Baumeister noch 1950 rückblickend an die Familie.

Über 250 Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Grafiken stellen Stenners Arbeiten in den Kontext seiner Zeitgenossen. 47 Künstler, von Max Ackermann bis Josef Alfons Wirth, der ebenfalls 1916 dem Krieg zu Opfer fiel, umfasst die Ausstellungsliste. Darunter sind prominente Namen wie Max Liebermann, Emil Nolde, Christian Rohlfs oder Oskar Schlemmer, aber auch Stenners Schicksalsgefährten August Macke, Franz Nölken oder Hermann Stemmler.

Die rund 400 Exponate der Ausstellung mit dem Titel „Das Glück in der Kunst. Expressionismus und Abstraktion um 1914“ stammen aus der Sammlung des Bielefelders Hermann-Josef Bunte. Sie wird erstmals in großem Umfang öffentlich gezeigt. Der bis zur Emeritierung an der Universität der Bundeswehr Hamburg lehrende Rechtswissenschaftler hat seit 1974 mit dem Schwerpunkt auf dem Œuvre Stenners gesammelt. Buntes Sammlung ist inzwischen die größte im Privatbesitz zum Werk des früh verstorbenen Bielefelder Künstlers, der mehr als 1.700 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen geschaffen hat.

Hermann Stenner: Kaffeegarten am Ammersee, 1911. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Hermann Stenner: Kaffeegarten am Ammersee, 1911. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Die Ausstellung „Das Glück in der Kunst. Expressionismus und Abstraktion um 1914“ ist in der Bielefelder Kunsthalle bis 3. August zu sehen. Ein umfangreicher Katalog enthält Texte von Herausgeberin Jutta Hülsewig-Johnen, Alexander Klee, Uwe M. Schneede und anderen Autoren. Die gebundene Ausgabe mit etwa 300 Seiten, angekündigt für April, erscheint im Kerber Verlag und kostet im Buchhandel 39,95 Euro.

Die Kunsthalle Bielefeld ist Dienstag bis Freitag und Sonntag von 11 bis 18 Uhr, Mittwoch von 11 bis 21 Uhr und Samstag von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet 8, für Ermäßigungsberechtigte 4 Euro. Zur Ausstellung gibt es ein umfangreiches Rahmenprogramm, unter anderem einen Ausstellungsrundgang mit Hermann-Josef Bunte am 16. April, ein Kurzseminar über Hermann Stenner am 2. Mai, ein Konzert („BilderKlang“) am 5. Mai und eine Lesung aus Hermann Stenners Briefen am 11. Juni.

Info: www.kunsthalle-bielefeld.de




Ausstellungen im Kreis Unna: Schwierige Verhandlungen über das Schloss Cappenberg

Über zwei wichtige Ausstellungsstätten verfügt der Kreis Unna am Ostrand des Ruhrgebiets: Schloss Cappenberg in Selm und Haus Opherdicke in Holzwickede. Doch vor allem in Cappenberg dräuen nun Schwierigkeiten, die eine Kulturpolitik der kleinen Schritte erfordern.

Das Schloss gehört Sebastian Graf von Canitz. 1985, also vor fast 30 Jahren, hat sein Vater mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ausgehandelt, dass größere Teile des Gebäudes als Ausstellungsfläche genutzt werden dürfen – gegen entsprechende Miete, versteht sich. An diese Verträge hat sich der Kreis Unna angeschlossen und seither viele sehenswerte Kunstschauen auf dem Schloss präsentiert. Die Miete teilt man sich mit dem LWL, der im Schloss historische Zeugnisse über den Freiherrn vom Stein zeigt.

Bei Ausstieg drohen hohe Kosten

So weit, so gut. Bald aber könnte es ungemütlich werden. Denn Ende 2015 läuft der Vertrag aus. Problem: Das Papier sieht vor, dass LWL und Kreis Unna umfangreiche, womöglich millionenschwere Restaurierungen am Gebäude bezahlen müssen, falls sie aus dem Kontrakt aussteigen. Da hat man damals wohl reichlich sorglos verhandelt. Es waren andere Zeiten…

Schloss Cappenberg in Selm, Teilansicht. (Foto von 2009: Bernd Berke)

Schloss Cappenberg in Selm, Teilansicht. (Foto von 2009: Bernd Berke)

Dr. Thomas Wilk, Kulturdezernent (und Kämmerer) des Kreises Unna, findet, dass der Kreis allein schon deshalb an einer Fortsetzung der Ausstellungstätigkeit interessiert sein sollte. Eine Vertragskündigung könnte die öffentliche Hand erst einmal teurer zu stehen kommen als weitere Mietzahlungen (derzeit 90000 Euro pro Jahr, allein für den Kreis). Mal ganz davon abgesehen, dass es gilt, eine kulturelle Attraktion zu erhalten, die Besucher aus ganz NRW anzieht. Doch eine Fortsetzung des Vertrags „um jeden Preis“ werde es nicht geben, so Wilk kurz vor einer Sitzung des Kreiskulturausschusses, dem er seine Sicht der Dinge nichtöffentlich darlegen wollte.

Konfliktstoff vor der Renovierung

Wie auch immer. Das Schloss muss auf jeden Fall gründlich renoviert werden. Zur Zeit wird ein von allen beteiligten Seiten paritätisch bezahltes Gutachten erstellt, das die Schäden auflistet (bis hin zu undichten Fenstern und marodem Parkett). Anschließend müssten der Graf, der LWL und der Kreis Unna sich einigen, welcher Seite welche Kosten zuzurechnen sind. Da wird mancher Konfliktstoff zu entschärfen sein.

Dezernent Wilk stellt klar, dass der Kreis Unna keinesfalls Investitionen in die Gebäude-Substanz tragen kann. Dies und der (vorgeschriebene) barrierefreie Umbau seien Sache der gräflichen Familie. Um ausstellungsspezifische Kosten wird der Kreis allerdings schwerlich herumkommen. Man will den Gesamtaufwand reduzieren, indem man weniger Fläche anmietet als die bisherigen 1067 Quadratmeter (davon rund 600 qm Ausstellungsfläche).

Eins steht – selbst bei geschickt oder glimpflich absolvierten Verhandlungen – schon heute fest: Ausstellungen auf Schloss Cappenberg werden künftig wohl kleinere Dimensionen und einen anderen Zuschnitt haben als bisher.

Die Befindlichkeit des Kunstsammlers

Weitere Kulturbaustelle des Kreises ist immer noch die teilweise hochkarätige Kunstsammlung des Wiesbadeners Frank Brabant. Schon seit einigen Jahren bemüht man sich, über ein Stiftungsmodell umfangreiche Bestände nach Holzwickede zu holen. Mehrere Ausstellungen mit Brabant-Leihgaben im Haus Opherdicke haben ahnen lassen, dass dies ein lohnendes Unterfangen ist. Die nächste Schau folgt ab April.

Kunstsammler Frank Brabant (2. v. li.) im August 2012 bei einer Ausstellungs-Vorbesichtigung im Haus Opherdicke. (Foto: Bernd Berke)

Kunstsammler Frank Brabant (2. v. li.) im August 2012 bei einer Ausstellungs-Vorbesichtigung im Haus Opherdicke. (Foto: Bernd Berke)

Entsprechende Stiftungsverträge sind eigentlich schon seit Jahren ausformuliert und praktisch unterschriftsreif. Dennoch sind die Gespräche seit langem ins Stocken geraten. Kulturdezernent Thomas Wilk sieht dafür vor allem emotionale Gründe. Beim Besuch in Wiesbaden habe er gemerkt, welch ein leidenschaftlicher Sammler Frank Brabant ist. Es tue ihm offenbar in der Seele weh, sich dauerhaft von Stücken zu trennen, die seine gesamte Wohnung über und über anfüllen.

Auf diese Befindlichkeit soll nun noch mehr Rücksicht genommen werden. Wilk plädiert dafür, dass man jede zeitliche Festlegung und erst recht jeden Zeitdruck aus den Gesprächen „herausnehmen“ müsse. Der jetzt 75-jährige Sammler könne ganz sicher sein, dass zu seinen Lebzeiten der gesamte Kunstbesitz bei ihm verbleibe. Erst nach seinem Tod würde das Stiftungsmodell in Kraft treten und einen wesentlichen Teil der Schätze in Holzwickede beieinander halten.

Nach Lage der Dinge werden die Westfalen freilich teilen müssen. Kürzlich hat Brabant dem Landesmuseum an seinem langjährigen Wohnort Wiesbaden einen wertvollen Jawlensky („Helene im spanischen Kostüm“, 1901/02) geschenkt. Wenn das kein Signal ist! Auch Brabants Geburtsort Schwerin soll einmal etliche Bilder erhalten. Keine geringfügige Konkurrenz.




Wie Werte entstehen und schwinden – „Kunst und Kapital“ im Lehmbruck-Museum

Afrikanischer Schrottsammler in Griechenland - Filmstill aus Stefanos Tsivopoulos: "History Zero" (2013), Film in drei Episoden (© Künstler, Kalfayan Galeries und Prometeogallery di Ida Pisani)

Afrikanischer Schrottsammler in Griechenland – Filmstill aus Stefanos Tsivopoulos: „History Zero“ (2013), Film in drei Episoden (© Künstler, Kalfayan Galeries und Prometeogallery di Ida Pisani)

Künstler haben manchmal so ihre Schliche, um die gängigen Praktiken des Kunstmarkts zu unterlaufen.

Mal wird nur ein wenig origineller Stempel als Signatur verwendet, so dass der Wert des zugehörigen Werkes auf einmal zweifelhaft ist. Mitunter wird gleich gezielt dafür gesorgt, dass keinerlei oder wenigstens kein einmaliges oder bleibendes Objekt vorhanden ist, an das sich zählbare Wertschöpfung knüpfen könnte.

Um solche (teilweise vertrackten) Strategien dreht sich im Duisburger Lehmbruck-Museum die Ausstellung des Akzente-Festivals. „Hans im Glück – Kunst und Kapital“ handelt davon, wie wir den Dingen Wert beimessen – auch über den Kunstmarkt hinaus, auf dem derlei Wertzuschreibungen oft vollends irrational sind.

In Grimms Märchen „Hans im Glück“ geht es bekanntlich darum, dass ein junger Mann anfänglich Gold eintauscht und nach und nach immer geringere Werte erzielt, was aber nicht beklagenswert erscheint, sondern als Befreiung von einer Last. Eine schöne, herzige Utopie der Loslösung vom schnöden Mammon. Und so hält auch die Duisburger Ausstellung hie und da Ausschau nach Tauschwerten jenseits des Geldes. Am sinnfälligsten gelingt dies Hans-Peter Feldmann, der auf runden Tabletts kleine Weizenfelder angelegt hat, die gleichsam vor den Augen der Besucher staunenswert wachsen und eine ungeheure Energie ohne sonderliches Kapital ahnen lassen.

Es herrscht aber nicht rundum Verweigerung. Selbst die Fluxus-Künstler der 60er und 70er Jahre (in der Ausstellung vertreten: Robert Filliou, Daniel Spoerri, Ben Vautier, Dieter Roth) wollten von ihrem Tun leben und haben Auflagenkunst (Multiples) hergestellt, die sich dann doch leidlich verkaufen ließ. Allerdings widersprachen sie damit bereits dem Unikat-Gedanken. Überhaupt wehrten sie sich mit oft ausgeklügelt hintersinnigen Arrangements gegen den Fetischcharakter der (Kunst)-Ware. Ohne gewisse Widersprüche ist auf diesem Spannungsfeld schwerlich zu operieren.

Apropos Widersprüche, die aber auch zu Übereinstimmungen gerinnen können: Daniel Spoerri blendete „ärmliche“ Kunstmaterialien und schieren Luxus ineins, als er einen Filzanzug à la Beuys zusammen mit einem Designeranzug à la Cardin in Goldfolie präsentierte. Um die Wirrnis der Werte zu steigern, tauschte er die Vornamen aus und nannte die Herren Pierre Beuys und Joseph Cardin. Wobei zu sagen wäre, dass Beuys’ Schöpfungen einen finanziellen Vergleich mit Cardin durchaus bestehen würden. Aus dem Ärmlichen erwuchs Reichtum…

Handel und Wandel, ganz konkret und zugleich spielerisch: Die Deutsch-Japanerin Takako Saito hat einen ganzen Shop im Museum aufgebaut, den „You and me shop“, in dem man sich zur Kunst ernannte Objekte zusammenstellen und erwerben kann. Auch ein Dutzend Duisburger Künstler darf auf Saitos Wunsch hierbei mitwirken, ohne dass Galeristen von den Verkäufen (allesamt unter 50 Euro) profitieren.

Slowenische Künstlergruppe IRWIN: "Golden Smile" (Fotografie, 2003) (© Courtesy of Galerija Gregor Podnar, Foto: Tomas Gregorič)

Slowenische Künstlergruppe IRWIN: „Golden Smile“ (Fotografie, 2003) (© Courtesy of Galerija Gregor Podnar, Foto: Tomas Gregorič)

Das slowenische Künstlerkollektiv IRWIN, das jede individuelle Schöpfung und Signatur ablehnt, enthüllt mit einigem Witz die oft irrsinnige Preisfindung für Kunstwerke. In der dreiteiligen Arbeit „Namepickers“ wird eine Kreation der berühmten (und somit besonders teuren) Marina Abramovic durch Kopie und Ent-Persönlichung sukzessive im Wert geschmälert. Ohne Überhöhung und ohne Aura, so zeigt sich, schwindet gleichsam das Kapital der Kunst. Und gar vieles ist ohnehin nur lächerliches Blendwerk, wie das IRWIN-Lächelbild mit gebleckten goldenen Zähnen vor Augen führt.

Renommierte Gegenwartskünstler sind an der gleichwohl übersichtlichen Duisburger Schau beteiligt. Felix Droese, Katharina Fritsch, Per Kirkeby und Wolf Vostell stillen ein etwaiges Bedürfnis nach Namedropping. Der griechische Biennale-Teilnehmer Stefanos Tsivopoulos ruft in einer beziehungsreichen Videoinstallation die Krise in seinem Heimatland auf. Die gleichfalls Biennale-erprobten Rumänen Alexandra Pirici und Manuel Pelmus wählen das Mittel der Performance, um der Kunst die materielle Basis zu nehmen und sie flüchtig zu machen wie vergängliches Theater. Da gibt’s nichts zu kaufen.

Salvador Dalí: "Kopf Dante" (1964), Bronze, grünlich patiniert, vergoldete Silberlöffel auf Marmorsockel (Lehmbruck Museum, Duisburg - © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Britta Lauer)

Salvador Dalí: „Kopf Dante“ (1964), Bronze, grünlich patiniert, vergoldete Silberlöffel auf Marmorsockel (Lehmbruck Museum, Duisburg – © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Britta Lauer)

Sehr weit haben sie sich somit von älteren Positionen der Moderne entfernt. Salvador Dalís Dante-Kopf, geschmückt mit vergoldeten Löffeln als Lorbeer, ist – verhaltener Ironie zum Trotz – ein eitles Sockel-Kunstwerk par excellence. Und auch Andy Warhols Waschmittel-Box („Brillo“) verdoppelte einst ja nur den götzenhaften Warencharakter; eine damals in jedem Wortsinne blendende Idee, die man freilich nicht endlos variieren sollte. Durchaus bemerkenswert, dass eine Arbeit von Man Ray heute zeitgemäßer wirkt als Warhols Warenzeichen.

Übrigens passen nicht alle Exponate so recht zum Thema der Ausstellung. Manches (zumal die schon öfter gezeigten Stücke aus Eigenbesitz) wird eher notdürftig in den Kontext gezwängt. Man muss schon sehr umständlich erklären, warum Skulpturen von Otto Pankok oder Wilhelm Lehmbruck („Bettlerpaar“) in diesen Zirkel gehören sollen.

„Hans im Glück – Kunst und Kapital“. Lehmbruck Museum, Duisburg (Friedrich-Wilhelm-Straße 40). Ab Samstag, 8. März (Eröffnung 16 Uhr) bis 22. Juni. Geöffnet So 11-18, Mo/Di nach Absprache, Mi 12-18, Do 12-21, Fr/Sa 12-18 Uhr.
Weitere Infos: www.lehmbruckmuseum.de




„Menschheitsdämmerung“ – die Bochumer Symphoniker erinnern vielfältig an 1914

Georg Heym gilt als Begründer der expressionistischen Lyrik.

Georg Heym gilt als Begründer der frühen expressionistischen Lyrik. 1911 verfasste er die wichtigen Gedichtsammlungen „Die Stadt“ und „Der Krieg“.

1914 – Das Gedenken an einen der markantesten Punkte der deutschen/europäischen Geschichte, von manchen als Ur-Katastrophe des Kontinents bezeichnet, ist vielfältig. Das Jahr, in dem der 1. Weltkrieg ausbrach, und heuer ein Zentenarium zurückliegt, haben Historiker und andere Geisteswissenschaftler zum Anlass genommen, um in Buchform erneut auf die Ereignisse zu blicken – sei es in Form einer Gesamtschau oder in der Fokussierung auf Einzelaspekte. Zahlreiche Museen, auch und besonders in Nordrhein-Westfalen, wollen das Interesse ebenfalls wecken – mit zahlreichen Dokumenten oder Zeugnissen der Kunst jener Zeit.

Vom Allgemeinen zum Besonderen: Die Bochumer Symphoniker haben einen Reigen namens „Endspiel“ aufgelegt – Konzerte, Musiktheatralisches, Lesungen und ausgewählte Bildbetrachtungen (in Kooperation mit dem Museum Bochum) sollen nicht zuletzt auf die Verflechtung der Künste in der Vorkriegszeit hinweisen. Das Schlüsselwort ist der Expressionismus, der in der Literatur die Einsamkeit des Menschen im Moloch Großstadt anprangert, dann wieder jubilierend vom Aufbruch in bessere Zeiten schwärmt, oder in aller Düsternis die Schrecken des „großen Krieges“ vorausahnt. In der Musik wiederum entsteht eine Gegenbewegung zu Romantik und Impressionismus – Arnold Schönberg und die „2. Wiener Schule“ lösten sich von alten tonalen Strukturen, beschworen den Ausdruck als wirkmächtigstes Merkmal einer Komposition.

Exemplarisch blicken die Bochumer Symphoniker in einer gesonderten, vierteiligen Reihe auf dieses Wechselspiel von Dichtung (Textauswahl: Werner Streletz) und Musik . Der Titel „Menschheitsdämmerung“ verweist auf das Endzeitdenken vieler Autoren jener Jahre, und der erste Abend, „Verfall und Aufbruch“ überschrieben, zeugt von Ambivalenz: hier die Hoffnung auf neue Ufer, dort Resignation bis hin zur Todessehnsucht. Veronika Nickl und Martin Bretschneider vom Bochumer Schauspiel lesen die Lyrik von Georg Trakl, August Stramm, Ernst Wilhelm Lotz oder Georg Heym eindringlich, ohne ins falsche Pathos zu verfallen. Und wenn Lotz’ Gedicht „Aufbruch der Jugend“ in flammenden Worten vom Wegfegen der Alten, von leuchtenden neuen Welten spricht, und Martin Bretschneider dann fast nüchtern feststellt, Lotz sei im Alter von 24 Jahren in den Schützengräben des 1. Weltkriegs umgekommen, dann wird die grausige Tragik jener Zeit beklemmend greifbar.

Gelesen und musiziert – es spielt das heimische Streichquartett „Bermuda4“ – wird im Bochumer Wassersaal. Gut 160 Menschen hören zu. Der Raum, mit seinen halbrunden Bögen wie ein Gewölbe wirkend, weist erstaunliche akustische Qualität auf. Das Quartett – mit Raphael Christ und Katrin Spodzieja (1./2. Violine), Marko Genero (Bratsche) und Wolfgang Sellner (Cello) – klingt noch in den zartesten Strukturen von Anton Weberns Bagatellen op. 9 sehr präsent. Die aphoristische, spieltechnisch komplexe, fragile Musik des Schönberg-Schülers ist in ihrem Wechsel zwischen Aufbäumen und Ersterben sinnfällige Ergänzung zur expressionistischen Lyrik.

Frühe Werke Weberns wiederum – „Langsamer Satz“ (1905) und Rondo (1906) – verweist in ihrem dunklen, elegischen Tonfall sogar noch auf Johannes Brahms. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass „Bermuda4“ zum Ausklang dessen 2. Quartett spielt. Mit eindringlicher, teils großer Geste wird die bisweilen fiebrige Musik interpretiert, so ernst und kernig wie strahlend, wenn auch mit wenigen Problemen in der Tongebung.

Die weiteren Termine der Reihe „Menschheitsdämmerung“ sind der 11. und 25. Mai sowie der 22. Juni (Beginn jeweils 19 Uhr).




Ess-Kastanien im Park von „Haus Weitmar“

In den fünfziger Jahren war es für uns als Kinder ganz selbstverständlich, dass wir in den großen Ferien vom grünen Münsterland aus mit der Eisenbahn zu unseren Großeltern ins Ruhrgebiet fuhren. Ruß und Lärm und Kohlenstaub machten uns nichts aus, schließlich wogen das Spielen mit Cousins und Cousinen und die Spaziergänge mit dem Opa alles andere auf.

Unsere Mutter stammte aus Weitmar, und in diesem Bochumer Stadtteil wohnten unsere Verwandten. Ebenso wie der Opa waren auch die Onkel im Bergbau beschäftigt oder beschäftigt gewesen, meist sogar unter Tage. Kohle und Zechen gehörten also zum selbstverständlichen Alltag, genauso wie die Folgen der Steinstaublunge schon für uns Kinder hörbar waren.

Als mir jetzt ein Bild vom Kunst-Kubus auf den Ruinen des ehemaligen Adelssitzes Haus Weitmar unter die Augen kam, gab es einen Erinnerungsblitz. Im weitläufigen Park dieses 1943 durch Fliegerbomben zerstörten Gutshauses der Familie Berswordt gab es mehrere große Esskastanien. In Südeuropa findet man ganze Wälder dieser Edelkastanien, aber in unserer Gegend war das etwas ganz Besonderes, und erst recht für Münsterländer Kinder. Zusammen mit einem Cousin schlichen wir uns im Herbst durch ein Loch im Zaun in den Park und sammelten die Maronen für eine Mahlzeit vom Herd der Oma. Angeblich gab es im Park scharfe Wachhunde, was dem Abenteuer noch mehr Würze gab.

Inzwischen ist die Ruine des Hauses Weitmar, das vor genau 550 Jahre errichtet wurde, durch einen modernen Aufbau zu einer Kunst- und Kulturstätte veredelt worden. „Jedes Jahr im Sommer treten die Schüler der jeweiligen zweiten Klasse der Schauspielschule Bochum im Schlosspark Weitmar auf. Dabei wird traditionell ein Stück oder Szenen von Shakespeare gezeigt. „Der Eintritt ist frei und wird von den Bochumern immer gut besucht“ heißt es bei Wikipedia. Ob die Edelkastanien noch stehen und zuhören? Ich weiß es nicht.




Odilon Redon – Der „Prinz des Traumes“ und seine ätherischen Bildwelten

Wie hat der Mann nur diese jenseitigen, ungemein spirituellen Farben erzeugt, die sich oft zu Apotheosen des innigen Leuchtens steigern? Wie hat er diese so flüchtigen und ätherischen Traumgebilde fassen können – und doch nicht gebannt, sondern schwebend gehalten?

Ans Werk von Odilon Redon (1840-1916) kann man zahllose Fragen herantragen. Es hat seine ganz speziellen Reize und stillen Sensationen. Sogar der dunkel, fast reimhaft nachklingende Name scheint sich dazu zu fügen. Seltsam, was einen manchmal unwiderstehlich zu bestimmten Künstlern zieht.

Die Fondation Beyeler (Riehen/Basel) hat eine bemerkenswerte Auswahl aus seinem Oeuvre zusammentragen können, mit Leihgaben aus aller Welt. Wie gut, dass man all das durch Lektüre des streckenweise schwelgerischen Katalogs nachempfinden kann – so weit das eben ohne Originale geht. Aber vielleicht verschlägt es einen in den nächsten Monaten ja doch noch in die Baseler Gegend. Es lohnt sich gewiss.

odilon

In der prachtvollen Summe wird mehr und mehr deutlich, dass der in Bordeaux geborene, hernach selbstverständlich in Paris zu einigem Ruhm gelangte Odilon Redon eine frühe Leitfigur der Avantgarde gewesen ist. Viele seiner schöpferischen Nachfahren sind freilich heute noch berühmter als er.

In seinem legendären Roman „Gegen den Strich“ („A rebours“, 1884) hat Joris-Karl Huysmans den Künstler als „Prinzen des Traumes“ bezeichnet. Odilon Redon, dessen Fixsterne u. a. Delacroix und Courbet hießen, hat, wie bereits Maurice Denis feststellte, „ein mystisches und esoterisches Element“ in die Moderne eingebracht. Nach diesem lange wirkenden Impuls konnten Künstler auf vordem ungeahnte Weise Traumwelten und Visionen darstellen. Redons seinerzeit neuartiges, unter Aufgabe der gewohnten Perspektive ins Unbestimmbare ausgreifendes Raumkonzept beeinflusste zunächst vor allem die Gruppe der Nabis (u. a. Félix Vallotton, Pierre Bonnard, Edouard Vuillard, Maurice Denis, Paul Sérusier).

Im einleitenden Katalogaufsatz des Kurators Raphaël Bouvier gilt Redon überdies recht eigentlich als Begründer der „reinen Malerei“, als Anreger der Fauves („Wilden“), von Matisse und sogar noch von Yves Klein. Damit nicht genug: Auch Picasso und Kandinsky stehen demnach – wenigstens mit bestimmten Werkphasen – in Odilon Redons Traditionslinie. Nun ja, man muss dem Gegenstand (s)einer Ausstellung wohl Geltung verschaffen, warum also nicht gleich eine nahezu universelle?

Tatsächlich lassen Redons Werke, die häufig aus religiösen oder mythologischen Stoffen hervorgehen, aber auf genauester Naturbeobachtung fußen, einen weiten Deutungsspielraum, so dass man gar manches hinein- oder heraussehen kann. Weisen nicht seine zuweilen monströsen Metamorphosen oder seine geheimnisvollen Hybridwesen zwischen Mensch und Pflanze auch auf den Surrealismus voraus? Gibt es nicht auch innige Verbindungen zur asiatischen Kunst, aus der Redon einige Inspirationen empfangen hat? Dass er sich im Verlauf seiner ästhetischen Expeditionen auch schon mal in dekorativen Gefilden verloren hat, sei nicht verschwiegen.

Einzigartig und unverwechselbar sind jedenfalls die monumental wirkenden Bilder der Köpfe mit geschlossenen Augen, die eine innere Welt evozieren, fernab vom Getriebe der hellichten Tage; jene Barken, die in unendliches Blau, also in ganz andere Sphären zu gleiten scheinen. Hier wird Kunst im wahrsten Wortsinn seherisch. Ob man das nun mit dem Stil-Etikett des „Symbolismus“ versieht, tut wenig zur Sache. Diese Gemälde wollen ganz für sich betrachtet werden. In manche kann man sich lange versenken.

Im optisch und drucktechnisch hervorragend gelungenen Katalog erregen zumal auch einige Ausschnittvergrößerungen und Nahaufnahmen die Sinne. Hier wähnt man sich nicht nur unmittelbar an der Leinwand, sondern auch am soeben vollzogenen Schaffensakt. Die Textur der Bilder, die hier hervortritt, hat etwas von der Frische des „allerersten Augenblicks“.

Odilon Redon. Katalog zur Ausstellung der Fondation Beyeler. Verlag Hatje Cantz. 176 Seiten, gebundene Ausgabe 49,80 Euro.

Informationen zur Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, die seit dem 2. Februar läuft und bis zum 18. Mai 2014 dauert:
http://www.fondationbeyeler.ch/ausstellungen/odilon-redon/einleitung




„re:set“ – Recklinghausen zeigt Malerei nach Computer-Motiven

Drum

Viereinhalb Quadratmeter wabernde Kunst: „Drum’n Bass“ von Volker Wevers aus dem Jahr 2007 (Bild: Kunsthalle Recklinghausen/Katalog)

Der Computer, eine Binse, hat viele Lebensbereiche gravierend verändert. Auch die bildende Kunst bedient sich seiner, manche Menschen behaupten gar, der Computer selbst besäße Kreativität und würde den Künstler bald überflüssig machen. Ist die Maschine also das letzte Maß der Dinge? Das will man ja auch nicht so recht glauben, zumal Bäume nicht in den Himmel wachsen, selbst dann nicht, wenn sie digitalisiert sind.

In der Recklinghäuser Kunsthalle sind nun rund 70 Bilder zu sehen, deren Schöpferinnen und Schöpfer sehr bewußt eine Trennlinie zur elektronischen Kunstgenerierung gezogen haben. Es ist dies eine Grenze irgendwo auf dem Weg zum künstlerischen Endprodukt, keine Ausgrenzung des Elektronischen schlechthin. Vielmehr sind viele Entwürfe im Rechner entstanden, um letztlich jedoch zu einem „gemalten“ Bild zu führen. „Re:set – abstract painting in a digital world“ ist die Gemeinschaftsschau von 16 Künstlerinnen und Künstlern überschrieben, und es darf einen nicht wundern, daß vier von ihnen mit Video arbeiten, was der Malerei ja nur mit einigen definitorischen Anstrengungen zuzuordnen ist.

Die Teilnehmer stammen aus Deutschland, Belgien, Dänemark und den Niederlanden, kuratiert wurde die Ausstellung von Claudia Desgranges und Friedhelm Falke, die auch als Künstler beteiligt sind, und das ganze ist ein Gemeinschaftsprojekt der Kunsthalle Recklinghausen mit dem Kunstmuseum Heidenheim, dem Clemens-Sels-Museum in Neuss und dem Kunstmuseum Celle, wo die Ausstellung bereits zu sehen war. Womit wir endlich beim Thema wären: Was gibt es überhaupt zu sehen?

Global und kränkend phantasielos geantwortet: Viele große bunte Bilder, die in Machart und Anmut natürlich ebenso heterogen sind wie das Teilnehmerfeld. Noch komplizierter wird es, wenn in jedem Oeuvre die spezifische Beziehung zur elektronischen Bildergenerierung mitgedacht werden soll oder gar der Mehrwert für den Betrachter, der durch die handwerkliche Ausführung entsteht. Da hat Friedhelm Falke beispielsweise von schwarzen Balken dominierte Flächenkompositionen auf dem Rechner durchprobiert und seine Favoriten mit Acrylfarbe auf Nesselgrund gemalt; Signe Guttormsen betont die Stofflichkeit ihrer Werke, indem sie beim hölzernen Trägermaterial immer wieder die rechteckige Grundform bricht, Ab van Hanegem wiederum malt vergleichsweise traditionelle, farbenfrohe Flächenkompositionen auf Segeltuch. Ist er damit eher bei Cézannes Stilleben-Apfel, oder war der Bildschirmschoner sein Vorbild? „Eher Apfel als Bildschirmschoner“, stellt Hans-Jürgen Schwalm, der stellvertretende Chef der Kunsthalle, kategorisch fest. Wenngleich van Hagenems farbsatte Bilder auch sehr schöne Bildschirmschoner ergeben würden, unterlegt vielleicht mit einem pfiffigen Animationsprogramm.

Man schreitet voran durch die Hallen des ehemaligen Hochbunkers am Recklinghäuser Bahnhof, trifft auf Michael Jägers stupende Ansammlungen kleinteiliger Dekorationsmuster in knallbunten Clustern auf monochromen Flächen, begegnet Martijn Schuppers’ geheimnisvollen, dreidimensional wirkenden Farboberflächen, die aus dem All oder auch aus dem Elektronenmikroskop stammen könnten, tatsächlich jedoch in einer sehr speziellen Prozedur unter Zuhilfenahme von Lösungsmitteln und weiteren geheimen Chemikalien entstanden. Entfernt lassen sie in ihrer Textur übrigens an manche Flächenbilder von Gerhard Richter denken, der jedoch mit vollkommen anderer Technik zu seinen Resultaten gelangte.

Den wild geschweiften Flachformaten Volker Wevers’ ist eigen, daß sie kraftvolle Titel tragen: „Roundaboard“ heißt eines von ihnen, „Drum’n Bass“ ein anderes, „Wide Car in Germany“ ein drittes. In ihrer schlierigen, plastischen Anmutung erinnern sie an den spontanen Expressionismus des hundertjährigen K.O. Götz, den die Kunstwelt soeben wiederentdeckt (ab März in der Duisburger Küppersmühle), doch sind sie, wie angesagt, Früchte der Auseinandersetzung mit Computergeneriertem.

Einige Plastiken sind in der Ausstellung, und warum sie nicht Plastiken sein sollen sondern Malerei, ist beim besten Willen nicht nachvollziehbar. Aber die stilistischen Zuordnungen von Kunst sind eh immer schwierig und wirken oft auch willkürlich. Ohne Computer-Hintergrund könnte man durchaus auch meinen, in dieser Schau etlichen Vertretern beispielsweise des abstrakten Expressionismus oder der konkreten Malerei begegnet zu sein.

Der Eindruck, den diese Recklinghäuser „postdigitale“ Bilderschau hinterläßt, bleibt verhalten. Natürlich liegt das ganz wesentlich daran, daß die zwölf unterschiedlichen Positionen einander gegenseitig Aufmerksamkeit wegnehmen. Doch köchelt das Gezeigte auch sehr im eigenen Saft, zeigt jenseits des autoreferentiellen Eifers wenig Lust auf Botschaft oder gar Radikalität.

Schließlich gilt, wie stets: Man (und frau!) gehe selber ins Museum und mache sich ein Bild. Denn nur hier gibt es die Originale zu sehen, und die wirken viel stärker als jede Reproduktion.

„re:set“ – Kunsthalle Recklinghausen, Große Perdekamp-Straße 25-27 (am Bahnhof). Sonntag, 9. Februar, bis 13. April 2014. Geöffnet täglich außer Montag 11 bis 18 Uhr. www.kunst-re.de, Eintritt 3 Euro. Der ausführliche Katalog kostet im Museum 12 Euro, im Buchhandel 24,80 Euro.




Im Altar ein Türchen für den Prediger

Eine Stadt wie Köln kann mit ihrem weltberühmten Dom natürlich überall Eindruck schinden, aber auch im Ruhrgebiet gibt es sehr sehenswerte Sakralbauten.

Man denke nur an das Essener Münster oder die Stiepeler Dorfkirche, die es vor einigen Jahren zu ihrem 1000. Geburtstag sogar auf eine Sonderbriefmarke schaffte. Ein hübsches Kleinod findet man auch im Ennepetaler Stadtteil Voerde – die evangelische Barockkirche Johannes der Täufer.

Die Johanneskirche Voerde um 1930.

Die Johanneskirche Voerde um 1930, damals noch nicht weiß.

1780 wurde das Kirchlein gebaut. Den heute weiß getünchten Bau auf der Höhe sieht man schon von weitem, wenn man sich Voerde nähert. Der fast quadratische Innenraum wird von einer Tonnendecke aus Holz überspannt, die mit Ornamenten und biblischen Bildern bemalt ist.

Eine sehenswerte Besonderheit bildet jedoch der barocke Altar mit einem Gemälde des letzten Abendmahles, denn direkt über dem Altar befindet sich die Kanzel mit einem Schalldeckel. Der Prediger klettert also über eine Treppe im Rückraum des Altars in die erste Etage und tritt dann durch eine Tür im Altar-Obergeschoss vor sein Publikum. An jeder Seite dieses Tores steht eine Apostelfigur – links Petrus und rechts Paulus.

Natürlich stehen die Pfarrer in heutiger Zeit lieber vor dem Mikrofon auf gleicher Höhe mit ihren Schäfchen, aber bei besonderen Gelegenheiten wird auch heute noch die Altarkanzel genutzt.

Noch eine Seltenheit kann man aus dieser Kirchengemeinde erzählen: Über Jahrhunderte war die Gemeinde geteilt, und die Grenze verlief damals mitten über die Hauptstraße. Die östliche Seite der Pfarrei, auf der auch die Kirche steht, gehörte zu Hagen, die westliche Seite zu Schwelm. Sogar um die Kirmes auf dieser Hauptstraße gab es Streit, denn jede Seite wollte die Buden für sich haben. Das ist lange vorbei: Voerde ist seit 1949 ein Teil der Stadt Ennepetal, die zwar landschaftlich zum Sauerland, politisch aber zum Ruhrgebiet gehört.




Mit Farbe fabulieren: Werkschau von Otmar Alt auf Schloss Cappenberg

„Ach, da würd’ ich auch mal ganz gerne“, hat er sich oft gedacht, wenn er auf Schloss Cappenberg eine Ausstellung von Kollegen besuchte. Da würde er auch gerne selbst einmal ausstellen: Otmar Alt, der Künstler mit den bunten Farben, den man in seiner scheinbaren Verspieltheit so schnell zu begreifen glaubt. Jetzt hat es geklappt. Mit einem starken Gewicht auf Arbeiten der letzten Jahre zeigt der Kreis Unna im Museum des Schlosses eine breit angelegte Werkschau Otmar Alts unter dem Titel „Rückblick und Ausblick“.

Dem Rückblick auf das Frühwerk des 1940 in Wernigerode im Harz Geborenen, dessen Oeuvre seit 1996 in der Hammer Otmar-Alt-Stiftung gepflegt wird, räumt die Ausstellung relativ wenig Platz ein. Erste Bilder von ihm huldigen Mitte der 60er Jahre dem Informellen, gleichförmig Strukturhaften. Früh jedoch findet er zu eigenen Formen des Figurativen, doch seine Motive bleiben jenseits ihrer fröhlichen Ausstrahlung assoziativ verschlüsselt und rätselhaft.

(Bild: Otmar Alt Stiftung/Katalog)

(Bild: Otmar-Alt-Stiftung/Katalog)

Und der Ausblick? Natürlich weiß auch ein Otmar Alt mit seinen 73 Jahren, dass seine Arbeit irgendwann ihr Ende haben wird. Doch nennt er sich selbst einen „fabulierenden, positiven Menschen“, sieht die Kunst als „Botschaft und Abenteuer“ und lässt sich deshalb eben nicht zu bequemer Alterstrübnis verleiten.

Eine gewisse Radikalität des Spätwerks ist allerdings durchaus feststellbar, die Farbe Schwarz hat mehr Gewicht bekommen, nicht mehr nur schwarze Striche dienen der Strukturierung, auch schwarze Flächen hielten Einzug in die jüngsten Bilder. Bleifenster mit ihren starken Konturierungen durch Maßwerk und Bleifassungen hätten ihn dazu inspiriert, sagt der Künstler, doch sei dies lediglich „das Vokabular von Otmar Alt in einem neuen Kostüm“. Gleiches gilt für die wachsende Neigung, die Bilder stark weißgründig zu halten, die Motive gleichsam auf der Leinwand stehen oder auch schweben zu lassen.

Die Cappenberger Ausstellung zeigt einen geradezu unerwartet tiefgründigen, vielschichtigen Künstler und wird vor allem jene frappieren, die Otmar Alt längst schon in die Schublade derer wegsortiert hatten, die mit gefälligen Entwürfen lediglich den Massengeschmack zu treffen suchen und damit gutes Geld verdienen wollen. Gewiss hat er viele serielle Werke in Glas und Porzellan, aber auch in Bronze geschaffen, und vielleicht war sogar mal ein „Weihnachtsteller“ dabei. Doch zu dieser Art der „Massenfabrikation“ steht er: „Die 30 Jahre Porzellanzeit bei Rosenthal möchte ich nicht missen“. Besonders faszinierte ihn die Zusammenarbeit mit den Handwerkern, mit den Glasbläsern zumal, die seine technisch komplizierten Entwürfe realisierten.

(Bild: Otmar Alt Stiftung/Katalog)

(Bild: Otmar-Alt-Stiftung/Katalog)

Wenn er die Wirksamkeit eines Bildes überprüfen will, erzählt Otmar Alt, geht er mit ihm auf die Wanderschaft durch Atelier und Wohnung, betrachtet es in verschiedenen Umgebungen und fragt sich: Hält das Bild? Doch auch seine Arbeiten selbst laden zur Wanderschaft ein: „In den Bildern, die ich male, kann man topographisch wandern“, sagt er. Und schließlich auch, Stichwort Wanderschaft, lassen Museumsmenschen seine Bilder wandern, wenn sie sie aufhängen: „Es ist wahnsinnig aufregend, was die Leute aus deinen Sachen machen“, sagt der Künstler. Und schaut anerkennend zu Sigrid Zielke und Thomas Hengstenberg vom Fachbereich Kultur des Kreises Unna hinüber, die diese Cappenberger Ausstellung sehr zu seiner Zufriedenheit ausgerichtet haben.

Künstler mit Humor, so scheint es, sind selten geworden in unserer Zeit, doch Otmar Alt ist so einer. In besonderem Maße zeigen dies seine knubbeligen Bronzen. Dabei fehlt ihnen das wichtigste Stilmerkmal, nämlich die bunte Farbe, wenn man einmal vom sinnfälligen Wechsel zwischen Politur und Patinierung absieht. „Das ist mein Fußpilz“, lacht der Künstler, und weist auf eine in der Tat pilzförmige Plastik, der zwei ausgestreckte Füßchen offenbar größere Standsicherheit verleihen. Und dann dreht er den Pilzkopf so, wie es ihm am besten gefällt.

„Otmar Alt – Rückblick und Ausblick“ Museum Schloss Cappenberg, bis 23 März 2014. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr, öffentliche Führungen So 11.30 Uhr und 14.30 Uhr. Eintritt 4 Euro.

Zu der Ausstellung wird ein Museumspädagogisches Begleitprogramm mit den Themenblöcken „Karneval der Tiere“ (1.-6. Schuljahr) und „Phantastische Geschöpfe – Balanceakte mit Formen und Farben“ (7.-11. Schuljahr) angeboten. Weitere Informationen Tel. 0251 664758 und 0251 7625919




„Andy Warhol Pop Artist“ im Schloss Oberhausen

Andy Warhol 1981. Foto: Thomas Hoepker/Magnum Photos

Andy Warhol 1981. Foto: Thomas Hoepker/Magnum Photos

Campbell’s Suppendosen, Mao in Fehlfarben und die unvermeidliche Marilyn Monroe: Was wissen wir eigentlich noch nicht über Andy Warhol, den bekanntesten Pop-Künstler des 20. Jahrhunderts? Eine klug konzipierte Ausstellung in der Ludwiggalerie im Schloss Oberhausen „Andy Warhol Pop Artist“ zeigt neue Facetten aus Leben und Werk des Multitasking-Genies.

Dass Warhol zunächst als Grafiker begann und für die Werbung arbeitete, ist den Kunstfreunden geläufig. Doch dass die Stilikone mit der Silberlocke, die mit ihrer New Yorker Factory Kunst als Kollektiv-Leistung in serieller Produktion auf den Markt warf, in allen Phasen des Schaffens immer wieder angewandte Gebrauchsgrafik auf Auftrag schuf, gerät in Oberhausen sehr augenfällig in den Blick: Im Obergeschoss ist beispielsweise eine umfangreiche Sammlung von Plattencovern zu bestaunen. Das erste stammt von 1949 und illustriert im Stil der Zeit Prokofievs „Alexander Nevsky“. Das Highlight ist hier selbstverständlich die berühmte Banane auf dem Cover von „The Velvet Underground & Nico“ 1967, witzigerweise ist sie hier auch in geschälter Version ganz nackt und rosa zu sehen. Denn die berühmte Frucht war als Abziehbild konzipiert, der Fan konnte den Aufkleber entfernen und die Banane „entkleiden“.

Um den Raum zu bestücken, hat die Ludwiggalerie extra einen Aufruf an Fans gestartet, dem Museum ihre Warhol-Cover zu schicken. „Die Resonanz war riesig“, erklärt Kuratorin Meike Allekotte. „Die geschälte Banane beispielsweise stammt von einem Plattenladen in Essen. Den Besitzern war zunächst gar nicht bewusst, welch seltenes Exponat sie damit beisteuern können.“

Als Volontärin hat Allekotte in Oberhausen die Chance bekommen, die Warhol-Schau eigenständig zu betreuen – im Kunstbetrieb wohl eher eine Ausnahme. Doch das Vertrauen von Direktorin Dr. Christine Vogt hat sich absolut gelohnt; in Zeiten eines entfesselten Kunstmarktes steuert die Lugwiggalerie mit der Reflexion auf den Künstler und Marketing-Strategen Warhol eine kunsthistorische Betrachtung auf den Beginn dieser Entwicklung in den 60er Jahren bei.

Andy Warhol war nicht zuletzt ein großer Plagiator, Rechtsstreitigkeiten in Urheberfragen gab es zuhauf. Seine berühmten „Flowers“ entlehnte er einer Werbefotografie für Kodak. Die Fotografin bekam dann lange Zeit Tantiemen. Auch aus der Klassik klaute er hemmungslos: Die Venus kupferte er von Botticelli ab, aber sich selbst kopierte er ebenso gerne. In der Ausstellung hängt sein Beuys-Porträt neben einer Negativ-Version mit Diamant-Staub – als Neuauflage für reiche Sammler gedacht.

Auf der Trash-Promotion-Tour, Foto: Edition Leo Weisse/Galerie Krätz, 2012

Auf der Trash-Promotion-Tour, Foto: Edition Leo Weisse/Galerie Krätz, 2012

Andy Warhol beinahe privat kann man auf der zweiten Etage kennenlernen. 1971 auf Promotiontour für seinen Film „Trash“ reist Andy mit der Crew durch Deutschland. Ernsthaft, blass, fast schüchtern sieht er auf den Fotos von Leo Weisse aus, wie er vor Schloss Neuschwanstein im Schnee steht. Auf einem Bild trägt der Künstler eine Plastik-Duschhaube, um die Silberlocke vor den Flocken zu schützen.

Selbstverständlich darf auch Marilyn nicht fehlen: Im Erdgeschoss bilden die bunten Drucke der Filmikone das Entrée in den Raum mit der sogenannten Todes-Serie, denn sie entstanden kurz nach dem Tod der Diva. Hier hängen auch der „Elektrische Stuhl“ und die Künstlermappe zur Ermordung John F. Kennedys, die Warhol anhand von Pressefotos und Agenturmeldungen gestaltet hat.

Ja, und die Suppendosen gibt es auch zu sehen, gleich am Eingang, neben einem poppigen Goethe-Porträt. „Wenn man darüber nachdenkt, ist ein Kaufhaus eine Art Museum“, hat Andy Warhol gesagt. Die Ware als Fetisch – Andy wusste, wie das funktioniert.

19. Januar-18. Mai 2014, www.ludwiggalerie.de




Kindheitsmuster der Nachkriegszeit – Volker Reiches Graphic Novel „Kiesgrubennacht“

Irgendwann muss sich jedes Genre auch mal nobilitieren. Und so reden wir nicht mehr durchweg vom Comic, sondern raunen seit einigen Jahren gern von „Graphic Novel“, als quasi von bildnerisch gestalteten Romanen. Auf dem Felde mischt auch der ehrwürdige Suhrkamp-Verlag mit.

„Kiesgrubennacht“ heißt die umfängliche Schöpfung des Zeichners und Texters Volker Reiche. Tatsächlich gehört Reiche (der 2002 bis 2010 für die FAZ den Comicstrip „Strizz“ schuf) zu jenen, die diesen hehren Begriff adäquat füllen können. Mit diesem sehens- und lesenswerten Band beweist er es.

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Reiche schildert Szenen seiner eigenen Kindheit, die Geschichte setzt im Nachkriegssommer 1948 ein, als der kleine Volker vier Jahre alt ist und in einem knallgelben „Luftanzug“ herumtollt, der zum Fanal für die verheißungsvollen Seiten des Kindseins wird.

Spiele mit Stahlhelm und Gasmaske

Diese Lebensphase, so erfahren wir, verlief damals herrlich bis grausam unbehütet, sie bestand aus vielen kleinen, oft nicht ganz ungefährlichen Abenteuern, den rauhen Charme der Kargheit inbegriffen. Zwischen den Ruinen wurde nicht selten der Krieg nachgespielt – vielfach noch mit Original-Objekten wie im Schutt gefundenen Stahlhelmen oder Gasmasken.

Und die im Titel genannte Kiesgrube? Sie verweist auf die Orte zahlloser Hinrichtungen, von denen – wenn überhaupt – nur schaudernd geflüstert wird. Die Erwachsenen aber schweigen sich aus oder reden grauenhaft naives Zeug.

Mehr als nur nebenbei zeigt sich, wie schon damals Bilderbücher und erste Comics dem kleinen Helden die Tore zu einer anderen Wahrnehmung geöffnet haben. Sonst wäre bei wachen Sinnen so manches kaum auszuhalten gewesen. Als der Junge größer wird, frisst er begierig alle Lektüre in sich hinein – heute Donald Duck und Karl May, morgen Eugen Kogons „Der SS-Staat“.

Streit mit dem Kater Paul

Das damalige Geschehen steht bei Reiche ohnehin nicht plan für sich, sondern ist durchzogen von späterer Reflexion. Da sehen wir zwischendurch immer mal wieder den Zeichner von heute, der im steten Streit mit seinen alteingeführten Figuren (Kater „Herr Paul“, Hunde Müller und Tassilo) zu ergründen sucht, wie man die Szenen einer solch frühen Lebensphase angemessen darstellt, wie verlässlich die Erinnerung überhaupt ist und wie man Gewalt bildlich fassen kann, ohne dass man ihr selbst aufsitzt oder gar verfällt. Derlei Selbstbefragungen überwuchern stellenweise gar den eigentlichen Stoff. Doch keine Angst, meistenteils wird hier mitten aus dem Leben erzählt.

Noch einmal zurück in die so fern gerückte Vergangenheit: Die Flüchtlingsfamilie wohnt mit fünf Kindern denkbar schlicht, die Kleinen müssen sich zu mehreren die Betten teilen. Wahrhaftig ruft Reiche hier mit prägnanten Bildern, ja manchmal mit veritablen Tableaus eine versunkene Welt auf. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit… Um mal ins oberste Romanregal zu greifen.

Der Vater als Herrenmensch

Es fehlt auch nicht der dramatische Handlungsstrang, dem man streckenweise atemlos folgt, weil die Bilder so überaus wirksam gesetzt sind wie Hiebe: Der Familienvater wähnt sich nicht nur als unumschränkter Herr im Hause. Dieser einstige Kriegsberichterstatter und völkische Verseschmied, der zunächst ärmlich als Foto-Vertreter neu anfangen musste, hat gewisse Denkmuster und Verhaltensweisen aus der NS-Zeit noch nicht überwunden. Doch (wie so viele damals) mag er an früher nicht erinnert werden. Bei allfälligen Wutausbrüchen schlägt der Kraftprotz seine Frau grün du blau – im Beisein der versammelten Kinderschar. Als die Familie zerbricht und die Frau mit fünf Kindern allein bleibt, ist der Herrenmensch schon wieder Amtsrichter. Ein deutsches Leben.

1973, als Volker längst erwachsen ist, gibt es noch einen bizarren Nachhall mit dem gespenstisch vital gebliebenen Vater. Eine Lehre aus dieser schmerzlichen Farce: Über solch lähmendes Entsetzen kommt man nur hinweg, wenn man es eines Tages ganz entschieden hinter sich bringt und sich nach vorn ins werdende, also schöpferische Leben wirft.

Volker Reiche: „Kiesgrubennacht“. Graphic Novel. Suhrkamp Verlag, 232 Seiten, 21,99 Euro.




Ausweitung der Farbzone – Werke von K.O. Götz in Berlin und Duisburg

Er ist der große Unbekannte der zeitgenössischen deutschen Kunst. Dabei ist die Bedeutung seiner künstlerischen Innovationen und sein Einfluss auf viele Kollegen kaum zu übersehen und zu überschätzen.

Als die meisten deutschen Maler in der Nachkriegszeit versuchten, die durch die Kultur-Barbarei der Nazis verursachte Abschottung zu überwinden und Anschluss an die internationale Moderne zu finden, war der am 22. Februar 1914 in Aachen geborene Karl Otto Götz schon längst Mitglied grenzüberschreitender künstlerischer Projekte. Bei den Ausstellungen der „CoBrA“-Gruppe in Lüttich war Götz vertreten, seine abstrakten und informellen Bilder setzen Maßstäbe.

Karl Otto Götz: "Giverny VII". 1988, Sammlung Ströher, Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn / Olaf Bergmann, Witten.

Karl Otto Götz: „Giverny VII“. 1988, Sammlung Ströher, Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn / Olaf Bergmann, Witten.

Bereits in den 1930er Jahren hatte Götz mit Luftpumpen Farbornamente gesprüht. Und ähnlich wie sein amerikanischer Bruder im Geiste, Jackson Pollock, hat Götz Ende der 1940er Jahre angefangen, die Farben auf seine am Boden liegenden Leinwände zu klecksen. Durch einen Zufall kam er beim Anrühren von Kleister für seinen kleinen Sohn auf die Idee, seine Farben auf den feuchten Kleistergrund aufzubringen, um sie dann erst mit einem Rakel-Schieber aus Gummi oder Stahl zu verwischen und schließlich mit dem Pinsel in die aufgerakelten Passagen hineinzuarbeiten. Diese Technik hat Götz nicht nur immer weiter perfektioniert, er hat sie auch als Kunstprofessor in Düsseldorf an seine Schüler – unter ihnen Sigmar Polke und Gerhard Richter – weitergegeben.

Noch heute ist der nimmermüde Erneuerer, trotz einer Augenkrankheit, die ihn nahezu erblinden ließ, fast jeden Tag in seinem Atelier in Niederbreitbach-Wolfenacker (Westerwald) anzutreffen und malt unter Mithilfe seiner Frau Rissa seine farbekstatischen Bilder. In der Berliner Neuen Nationalgalerie ist jetzt zum 100. Geburtstag eine große Werkschau zu sehen, die anschließend nach Duisburg (Museum Küppersmühle) und Wiesbaden kommt. Die Retrospektive ist eine Verbeugung vor dem Lebenswerk und belegt zugleich die Bedeutung für die Kunstgeschichte.

Karl Otto Götz bei der Arbeit in seinem Düsseldorfer Atelier, 1959 (© Foto: Siegfried Kühl)

Karl Otto Götz bei der Arbeit in seinem Düsseldorfer Atelier, 1959 (© Foto: Siegfried Kühl)

Gezeigt werden 70 Hauptwerke, an denen sich verschiedene Lebensstationen und künstlerische Entwicklungen ablesen lassen. Bilder aus den frühen Jahren sind dabei, die in ihrer figurativen und grazilen Abstraktheit und an Klee und Kandinsky erinnern. Rasterbilder wirken wie Vorläufer elektronischer und mit Computern generierter Malerei. Und dann diese Ausweitungen der Farbzonen in seinen gerakelten Bildern, die spontan, improvisiert und zufällig anmuten und doch das Ergebnis höchster Konzentration und konzeptioneller Überlegungen sind! Abzulesen ist das an den – in Glasvitrinen liegenden – Skizzen und Studien, in denen Götz Farbe und Technik festlegt und serielle Variationen der abstrakten und informellen Bilder durchspielt.

Zu den eindrucksvollsten Bildern gehört „Dantons Tod“ (1960), ein düsterer, schwarzer und roter Farbteppich, der an eine Blut-Orgie gemahnt. Einige Exponate der umfangreichen „Giverny“-Serie sind zu bestaunen, in denen Götz unter Anlehnung an Monets Licht- und Farbstudien des Gartens im französischen Ort Giverny flirrende, sonnendurchflutete Impressionen schuf.

Nicht fehlen darf auch der mit unbändiger Kraft und Euphorie auf die Leinwand geworfene Kommentar zur geglückten deutschen Einheit: „Jonction – 3.10.1990“. In solchen Bildern zeigt sich, dass der mit Farben und Formen experimentierende Götz immer auch auf zeitgeschichtliche Bezüge in den Blick nimmt. Sein Triptychon zur Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Sprengköpfen spricht eine deutliche Sprache: Farb-Explosionen imaginieren eine Welt am apokalyptischen Abgrund. Da sage noch einer, abstrakte Malerei habe keine politische Botschaft.

K.O. Götz. Neue Nationalgalerie, Berlin. Bis 2. März 2014, Di, Mi, Fr 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Sa So 11-18 Uhr, Katalog 30 Euro, Eintritt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro. Infos unter http://www.kogoetzinberlin.de

Vom 21. März bis zum 15. Juni 2014 wird die Ausstellung im Duisburger Museum Küppersmühle zu sehen sein.




Schauspielerfest in Schwarzweiß – der Kinofilm „Das Mädchen und der Künstler“

Wir schreiben das Jahr 1943: Während die Welt in Krieg und Chaos versinkt, kämpft ein greiser Künstler mit seiner nachlassenden Schaffenskraft.

Der Bildhauer (Jean Rochefort) und seine junge Muse (Aida Folche). (© Camino Filmverleih)

Der Bildhauer (Jean Rochefort) und seine junge Muse (Aida Folche). (© Camino Filmverleih)

Noch einmal möchte der 80jährige Marc Cros (Jean Rochefort) eine Skulptur schaffen, in der die ganze Schönheit des Lebens und die Erhabenheit der Kunst zum Ausdruck kommen. Seine Frau Lea (Claudia Cardinale) spürt, dass ihr Mann einen kreativen und erotischen Reiz braucht. Damit er nicht vollends in Altersdepressionen versinkt, bringt sie eine junge Frau in sein Atelier. So wird junge Katalanin Mercè (Aida Folch), die tagsüber nackt Modell sitzt und des nachts Flüchtlinge über die Pyrenäen aus dem von Nazis besetzten Frankreich nach Spanien schmuggelt, zur Muse des Bildhauers. Sie beflügelt seine Fantasien und gibt ihm noch einmal die Kraft, dem Göttlichen in der Kunst ganz nahe zu kommen.

Regisseur Fernando Trueba setzt bei seiner filmischen Meditation über das Alter und den Tod, die Kunst und den Krieg ganz auf die stillen Momente des Daseins und die Beharrlichkeit großer Bilder. Die bäuerliche Welt am Rande der Pyrenäen, der Kampf mit dem künstlerischen Material in der Bildhauerwerkstatt, der gelegentliche Einbruch der kriegerischen Realität in die scheinbare Idylle, all das wird in wohl temperierten und atmosphärisch dichten Schwarzweißbildern ausgeleuchtet. Jedes grelle Licht und jeder harte Schatten gewinnen rätselhafte Bedeutung.

„Das Mädchen und der Künstler“ ist ein Fest für große Schauspieler und ein Lehrfilm über die Kunst der kleinen Gesten und sparsamen Worte. Im faltigen Gesicht von Jean Rochefort liest man wie in einem Buch. Das altersmilde Lächeln von Claudia Cardinale erzählt davon, dass wahre Schönheit nie vergeht. Faszinierend, wie der greise Bildhauer sich noch einmal gegen den Tod stemmt und es ihm unter Aufbietung aller verbliebenen Kräfte gelingt, die betörende Schönheit von Aida Folch in einem Kunstwerk festzuhalten.

Ab 25. Dezember in ausgewählten Kinos




Narr, Schamane, Anarchist: Zwiespältige Schlingensief-Werkschau in Berlin

Sein wichtigstes künstlerisches Mittel war die Provokation.

Ob er ein filmisches „Kettensägen-Massaker“ anrichtete oder mit dem Megaphon dazu aufrief, den FDP-Politiker Jürgen Möllemann zu töten; ob er die Spaßguerilla-Partei „Chance 2000“ gründete oder mit einem Fluxus-Oratorium „Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ betrauerte: Immer hatten die performativen Kunst-Events des gebürtigen Dortmunders Christoph Schlingensief etwas Flüchtiges und Chaotisches, wirkten sie wie hastig improvisierte Reaktionen auf politische Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Fehlentwicklungen, Entgleisungen des Zeitgeistes.

Christoph Schlingensief: "Freakstars 3000" (2003). Von links: Christoph Schlingensief, Horst Gelonneck, Kerstin Graßmann, Mario Garzaner, Achim von Paczensky. (© Filmgalerie 451 / Foto: Thomas Aurin)

Christoph Schlingensief: „Freakstars 3000“ (2003). Von links: Christoph Schlingensief, Horst Gelonneck, Kerstin Graßmann, Mario Garzaner, Achim von Paczensky. (© Filmgalerie 451 / Foto: Thomas Aurin)

Eigentlich kaum vorstellbar, dass all die Filme und Inszenierungen, Installationen und Aktionen eine museale Form annehmen könnten. Drei Jahre nach dem frühen Krebstod von Christoph Schlingensief präsentieren die Berliner „Kunst-Werke“ eine opulente Werkschau. Das ist nur möglich, weil Schlingensief, den viele für einen anarchischen Spinner und flüchtigen Ideenproduzenten hielten, ein notorischer Sammler und penibler Archivar seiner Kunst-Entäußerungen war.

So kann man jetzt, über mehrere Stockwerke und in unzähligen Räumen und Nischen, all das sehen, hören, nacherleben, was man längst auf der Halde der Kunstgeschichte wähnte: die Wiener Bau-Container, in denen einst (in einer Big-Brother-Persiflage) Ausländer hausten und auf ihre Ausweisung warteten; der aus sowjetischem Militärschrott gebastelte, auf einer Drehbühne installierte und von den Zuschauern begehbare „Animatograph“; der Mitschnitt jener Aktion, mit der Schlingensief hunderte Arbeitslose dazu aufrief, im Wolfgangsee zu baden, damit die Flutwelle bis an die Tür des Urlaubsdomizils von Kanzler Kohl schwappen möge; die mit versteckter Kamera heimlich gedrehten Bilder seiner „Parsifal“-Inszenierung in Bayreuth.

Auf Dutzenden Fernsehgeräten laufen in Endlosschleifen Videos, überall wabern akustische Pamphlete durch die Gänge. Alles, was man bisher vielleicht nur für Ausgeburten spätpubertärer Fantasie und geschmackloser Narretei gehalten hat, gewinnt, museal aufbereitet, fein beschriftet und kunstgeschichtlich einsortiert, plötzlich einen absurd anmutenden Kunst-Charakter. Und die Person, die – seien wir ehrlich – vielen Beobachtern zu seinen Lebzeiten mitunter heftig auf die Nerven gegangen ist, wird zum Gegenstand künstlerischer Verklärung.

Spätestens in jenem Andachtsraum, in dem das Vermächtnis Schlingensiefs – das von ihm inspirierte Operndorf in Afrika – weiterwirkt, beschleicht einen das verstörende Gefühl, in einen bizarren Kunst-Gottesdienst geraten zu sein. Aber Schlingensief war kein Heiliger, kein Wegweiser und kein Künder einer besseren Welt. Er war ein Störenfried, Schamane und Anarchist. Eine Nervensäge, ein permanenter Widerspruch. Ein Gesamtkunstwerk, das nur funktioniert, verstört, verärgert, solange er selbst den Provokateur spielt, den Ton und die Richtung vorgibt.

Ja, Schlingensief fehlt. Die deutsche Kunst ist ohne ihn um vieles ärmer. Aber im Museum wirkt er seltsam fehl am Platze, ins Unwirkliche entrückt, wie ein Denkmal seiner selbst. Irgendwie harmlos.

KW „Kunst-Werke“, Auguststraße 69, 10117 Berlin. Bis 19. Januar 2014, Mi-Mo 12-19 Uhr, Do 12-21 Uhr, Di geschlossen; Eintritt 6 Euro, ermäßigt 4 Euro.
Infos: http://www.kw-berlin.de/de/




Dem Himmel ganz nah: Martin Heckmanns` „Es wird einmal“ in Bochum uraufgeführt

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Wer sich schon einmal an einem Theater beworben hat, fühlt sich sofort erinnert: Kurze Begrüßung durch eine hektische Assistentin, dann stundenlanges Warten in der Kantine. Danach eine Referentin knapp vor dem Burn-Out, die einem das gleiche Schicksal in Aussicht stellt, falls „Er“ sich für einen entscheiden sollte.

Dann wieder Kantine, drei Cola, erster Weißwein, weiter warten, Schauspieler in Maske kommen rein, Vorstellung fängt gleich an. Chefdramaturgin: „Er“ sei manchmal sehr schwierig, ob man da gute Nerven habe? „Er“ wolle einen vielleicht später noch kennenlernen, ob man nochmal kurz in der Kantine? Zweiter Weißwein, dritter Weißwein, Anruf: Heute werde es leider nichts mehr mit „Ihm“, vielleicht morgen…Schauspieler kommen rein, Vorstellung ist aus, Absacker, Vorhang.

Nein, die Szene stammt nicht aus Martin Heckmanns neuem Stück „Es wird einmal“, das jetzt am Bochumer Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Sie ist selbst erlebt, doch das Anfangsszenario auf der Bühne ist ähnlich und die Satire geht in die gleiche Richtung: Zwei Schauspieler haben eine Einladung zum Vorsprechen bei „Obermann“ bekommen und begegnen sich auf einer leeren Probebühne. Sie treffen die namenlose Hospitantin (Kristina Peters), sie werden kujoniert von einer übermotivierten Assistentin (Minna Wündrich), sie treten in Konkurrenz mit einer Schauspiel-Kollegin (Therese Dörr) und verlieben sich in sie, sie zeigen viel Seele und geben alles: Doch „Obermann“ treffen sie nie.

Das ist fein und böse beobachtet, sprachlich brillant und doch erschöpft sich Heckmanns Text in der Inszenierung des Bochumer Intendanten Anselm Weber keineswegs in einer Satire über den Theaterbetrieb. Denn „Es wird einmal“ ist zugleich eine moderne Fassung des „Jedermann“. Die Bewerbung um eine unbekannte Rolle in einem unbekannten Stück ist zugleich eine Allegorie auf das Leben. Der Text muss erst noch geschrieben werden, die Konsequenzen des Handelns sind nicht immer klar.

Gott, falls es ihn gibt, lässt sich nicht blicken, nur manchmal hat man das Gefühl, er schaue von oben zu – wie Obermann. „Zufall ist das Pseudonym Gottes, wenn er nicht unterschreiben will“, heißt das in der Sprache Heckmanns und die namenlose Hospitantin schlüpft mit umgeschnallten Engelsflügelchen in die Rolle des Zufalls. Ansonsten sind sie und die intendantenhörige Assistentin Dora als balletttanzende Skelette zu sehen, ein Memento Mori für den älteren Schauspieler Hermann Schwinder (Günter Alt) und den Jüngeren Martin Neumann (Matthias Kelle), der sich mit der Rolle des Jedermann noch nicht anfreunden kann.

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Denn eigentlich schimpft Neumann/Jedermann sich Performancekünstler und als solcher möchte er dem Theater wieder gesellschaftliche Bedeutung verleihen: „Wir thematisieren den Raum und die Institutionen, die Abhängigkeitsverhältnisse, in denen wir uns bewegen, auch wenn wir uns jetzt hier bewerben, um Anerkennung von Unbekannten.“ Statt dessen wird er als nackter Mann über die Bühne gejagt (was Matthias Kelle so großartig verletzlich absolviert, dass man fast Mitleid mit ihm hat) und bekommt am Schluss eine Plastiktüte von Sinn&Leffers als Unterhose verpasst.

„Das Problem mit nackten Männerkörpern auf der Bühne ist allerdings, dass sich die Aufmerksamkeit des Betrachters meist auf einen Punkt fokussiert“, dichtet Heckmanns und der Punkt geht an ihn, denn der Satz hat nichts Banales, entlarvt er doch die Blickrichtung der Zuschauer in den letzten zehn Minuten. Ein Beweis dafür, dass „Es wird einmal“ klug und vielschichtig gebaut ist und mit Leichtigkeit zwischen den letzten und den oberflächlichsten Dingen oszilliert.

Es entsteht tatsächlich ein „kleines Bochumer Welttheater“, das die Figuren mit existenziellen Fragen von Leben und Tod konfrontiert. Es entlarvt die theaterbetriebseigene Hybris, die Bühne für das Leben zu nehmen und bekräftigt sie zugleich. Denn was sind wir sonst, als Spieler auf einer Lebensbühne? Die nicht wissen, wann und wie sie abtreten müssen? Die nicht wissen, ob ihnen die große Liebe bevorsteht oder die große Verletzung? Die nicht merken, ob Ihnen jemand zusieht oder ob das eigene Schicksal Leuten wie „Obermann“ nicht völlig gleichgültig ist. „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ – das gewichtige Luther-Zitat fungiert als Motto, aber drückt das Dramolett nicht nieder; es verleiht ihm eine Tiefendimension und lässt Raum für Ironie. Denn auf dem Theater sollte man das Leben leicht nehmen, sonst kann man nicht mitspielen.

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Unbedingt lobenswert daher die Schauspieler: Günter Alt gibt den älteren Mimen koboldhaft und traurig zugleich. Er hat viel gesehen, viel ertragen und er braucht verdammt nochmal diesen Job. Bei Obermann spielte er auch den dritten Engel von links oder Helmut Kohl, egal. Er muckt nicht mal auf, als am Ende offen bleibt, ob er jetzt stirbt oder engagiert wird – aber vielleicht kommt das ja auch auf dasselbe raus. Minna Wündrich spielt die Assistentin Dora so zickenhaft-intellektuell-überheblich, dass es eine wahre Freude ist und ihre Neigung zum Sadismus gegenüber der namenlosen Hospitantin, die in einer Ohrfeige mündet, wurde auch schon öfter am Stadttheater beobachtet. Kristina Peters wiederrum verleiht diesem bedauernswerten Geschöpf eine charmante Note und viel Spielwitz. Naiv und poetisch legt Therese Dörr die Sophie Sikora an, eine Darstellerin aus der Fußgängerzone, die natürlich auch zaubern kann. Der verkopfte Neumann, gespielt von Matthias Kelle, zeigt zum Schluss Herz und ansonsten nackte Haut (s.o.). Und der Regisseur? Schwierig, jetzt so einen „Obermann“ zu loben, nur soviel: Er vertraut auf dezente Weise dem Text und stülpt ihm nicht allzu viel über, was der Sache gut tut.

Zuletzt eine Frage an den Ausstatter Hermann Feuchter: Das Bühnenbild ist dem „Meeting“–Room des Land-Art Künstlers-James Turrell nachempfunden, zu sehen im MoMA PS1 in Brooklyn, NYC. An den Wänden des leeren Raums verläuft eine durchgehende Sitzbank, durch ein rechteckiges Loch in der Decke kann man den freien Himmel sehen. Fast eine halbe Stunde saß ich letzten Sommer dort und ruhte meine Füße aus, es war sehr friedlich. In Bochum ist dieses Loch allerdings rund und der Himmel eine Projektion. Also doch alles nur Illusion im Theater? Warum nicht gleich die Decke der Kammerspiele durchstoßen und dem Himmel ein wenig näher kommen? Doch was sollen die doofen Fragen, meint Heckmanns: „Kann das Theater nicht einmal aufhören Fragen zu stellen und stattdessen eine Antwort geben?“

Infos und Karten:
www.schauspielhausbochum.de




Ein Kapitel Foto-Geschichte: Bilder aus der Sammlung Ernst Scheidegger im Museum Folkwang

Der Blick eines Top-Fotografen: Henri Cartier-Bresson nahm dieses Motiv bei der Feuerbestattung Mahatma Gandhis 1948 auf. © Henri Cartier-Bresson / MagnumPhotos / Agentur Focus.

Der Blick eines Top-Fotografen: Henri Cartier-Bresson nahm dieses Motiv bei der Feuerbestattung Mahatma Gandhis 1948 auf. © Henri Cartier-Bresson / MagnumPhotos / Agentur Focus.

Das Folkwang Museum Essen zeigt seit heute eine Ausstellung mit rund 60 Fotografien aus der Sammlung des Zürcher Fotografen Ernst Scheidegger. Sie stammen aus einem Ankauf, den das Museum mit Unterstützung der Krupp-Jubiläums-Stiftung in diesem Jahr tätigen konnte. Anlass ist der 90. Geburtstag des Bildjournalisten und Künstlerfotografen am Samstag, 30. November.

Das Konvolut von Fotos, das nun zum großen Teil in der Sonderausstellung im Folkwang Museum zu sehen ist, stammt aus einer Schachtel, die Scheidegger jahrzehntelang verwahrt hatte. Darin sammelte er lose Abzüge, die er als junger Fotograf mit berühmten Kollegen tauschte. So erhielt er Bilder von Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Ernst Haas oder David Seymour. Im Januar 2013 öffnete er die Schachtel mit den Bildern seiner Freunde für Tobia Bezzola, den Direktor des Folkwang Museums. Zu den 86 angekauften Fotografien schenkte Scheidegger dem Folkwang Museum noch 25 eigene Bilder aus Burma.

Die wertvollen Vintage-Prints entstanden damals als Tauschobjekte unter Freunden – daher rührt auch der Titel der Ausstellung: „Bilder unter Freunden“. Unter ihnen finden sich Ikonen der Fotogeschichte wie Capas umstrittenes Bild „Fallender Soldat“, aber auch Reportagefotos etwa aus dem Japanisch-Chinesischen Krieg. Werner Bischof, Ernst Haas oder George Rodger spannen mit ihren Arbeiten ein weites Panorama der frühen Nachkriegsfotografie, etwa mit Aufnahmen aus dem Sudan oder dem Wien der vierziger Jahre. Von Henri Cartier-Bresson hängt unter anderem eine bestechend eingefangene Szene von der Verbrennung des Leichnams von Mahatma Gandhi 1948 in der Schau.

Sogar ein Motiv aus Essen ist unter den Bildern: Entstanden 1951, zeigt es einen Arbeiter an einer Mauer mit einer politischen Parole. Im Titel wird vermerkt, der Mann sei Mitglied einer Nazi-Jugendorganisation gewesen. Die Fotos sind teils im Pressebildformat 18×24, teils in größeren Formaten für Ausstellungszwecke abgezogen. Die Präsentation versteckt den Werkstattcharakter der ausgezeichnet erhaltenen Abzüge nicht hinter Passepartouts, sondern zeigt die Bilder in ihrem ursprünglichen Zustand, manche mit breiten unbelichteten Randstreifen.

Vielseitig tätiger Fotokünstler

EIn Foto von Ernst Scheidegger selbst, aufgenommen bei einem Initiationsfest in Burma. Es gehört zu den 25 Bildern, die der Fotograf dem Folkwang Museum Essen schenkte. © Fondation Ernst Scheidegger Archiv

EIn Foto von Ernst Scheidegger selbst, aufgenommen bei einem Initiationsfest in Burma. Es gehört zu den 25 Bildern, die der Fotograf dem Folkwang Museum Essen schenkte. © Fondation Ernst Scheidegger Archiv

Der aus Rorschach am Bodensee stammende Scheidegger hat ein Kapitel Fotogeschichte geschrieben. Einem Studium der Fotografie bei Hans Finsler an der Kunstgewerbeschule Zürich folgten Assistenzen bei Werner Bischof und Max Bill. Zwischen 1949 und 1952 verantwortete Scheidegger im Rahmen des Marshallplanes fünf internationale Foto-Ausstellungen. Vielfältig waren die Bereiche, in denen Scheidegger tätig war: Er fotografierte für die Agentur Magnum Photos, war 1959/60 Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, verantwortete als Bildredakteur von 1960 bis 1988 die Wochenendbeilage der Neuen Zürcher Zeitung, für die er rund 200 Bildreportagen erstellte. Außerdem war Scheidegger auch als freier Filmregisseur, Verleger und Galerist tätig.

Ernst Scheideggers Archiv umfasst rund 80.000 Negative und 50.000 Diapositive, dazu Filme über Künstler und Reisereportagen. Seit 2011 pflegt die „Stiftung Ernst-Scheidegger-Archiv“ den von der Neuen Zürcher übernommenen Archivbestand, inventarisiert und digitalisiert die Bilder. 2013 erschien im Verlag Scheidegger & Spiess eine Neuausgabe des Buchs „Alberto Giacometti. Spuren einer Freundschaft“ mit rund 30 bisher unveröffentlichten Farbfotografien. Scheidegger hatte Giacometti schon als junger Mann kennengelernt und 1964 bis 1966 einen preisgekrönten Film über den Künstler gedreht.

Die Ausstellung „Bilder unter Freunden – die Sammlung Ernst Scheidegger“ im Folkwang Museum Essen wird bis 16. Februar 2014 gezeigt. An den vier Adventswochenenden ist der Eintritt in das Museum frei. Geöffnet ist das Folkwang an diesen Tagen von 10 bis 18 Uhr.




Ausstellung im Kunstmuseum: Gelsenkirchen erinnert an die Gruppe ZERO

Blick in die Ausstellung ZERO im Gelsenkirchener Kunstmuseum. Foto: Lothar Bluoss, Copyright Kunstmuseum Gelsenkirchen

Blick in die Ausstellung ZERO im Gelsenkirchener Kunstmuseum. Foto: Lothar Bluoss, Copyright Kunstmuseum Gelsenkirchen

Vor fünfzig Jahren gab es im damals noch regen Kulturleben der Stadt Gelsenkirchen einen Höhepunkt: Die Avantgarde-Bewegung ZERO zeigte in der Künstlersiedlung Halfmannshof eine wichtige gemeinsame Ausstellung. Beteiligt waren unter anderem Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker. Das Kunstmuseum Gelsenkirchen will nun mit einer Ausstellung an das Ereignis von 1963 und an die aktive Rolle von Gelsenkirchen in der Unterstützung der Avantgardekunst in den 1960er Jahren erinnern.

In enger Kooperation mit der ZERO foundation Düsseldorf werden sieben Exponate der Ausstellung von 1963 präsentiert, dazu 18 vergleichbare Werke aus dieser Zeit von allen damals beteiligten Künstlern. Die Schau des Kunstmuseums greift das Grundprinzip der ersten Gelsenkirchener ZERO-Ausstellung wieder auf und zeigt Objekte, die durch Licht und Bewegung in den Raum greifen und diesen mit einbeziehen.

Die Ausstellung umfasst zudem einen Dokumentationsteil mit einem von Heinz Mack erstellten, erstmals ausgestellten Modell für das „ZERO-Haus“, ein der ZERO-Kunst gewidmetes Museum, das die Künstler Mack, Piene und Uecker der Stadt Gelsenkirchen zur Realisierung anboten. Vertreten sind in der Ausstellung: Pol Bury, Hermann Goepfert, Hans Haacke, Oskar Holweck, Adolf Luther, Heinz Mack, Otto Piene, Uli Pohl, Hans Salentin und Günther Uecker.

Die Avantgarde-Bewegung ZERO, die zwischen dem Ende der fünfziger und dem Anfang der sechziger Jahre unter dem Zeichen einer Reduktion künstlerischer Mittel angetreten war, erhielt ihren Namen von der 1958 durch Mack und Piene begründeten Zeitschrift ZERO.

Das 1984 eröffnete Museum zeigt außer seinen 1.300 Exponaten aus den Bereichen Klassische Moderne, Konstruktivismus, Kinetik, zeitgenössische Kunst und Graphik pro Jahr sechs bis acht Wechselausstellungen. Es ist Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei. Die Sonderausstellung „ZERO in Gelsenkirchen 1963/2013 – Zurück in die Zukunft“ ist bis 19. Januar zu sehen.




Waldfrieden in Wuppertal – wunderbar!

Beim ersten Blick auf das Wort „Waldfrieden“ denkt man vielleicht an eine Begräbnis-Stätte, einen Platz für Urnen unter Bäumen, aber solche Orte heißen meist „Friedwald“, also ein umgekehrt zusammengesetztes Wort. Waldfrieden in Wuppertal dagegen ist ein inzwischen international bekannter Skulpturenpark mit einem kulturellen Wert sondergleichen.

Cragg-Skulptur im Park Waldfrieden. (Foto: Pöpsel)

Cragg-Skulptur im Park Waldfrieden.
(Foto: Pöpsel)

Ein etwa vierzehn Hektar großes Park-Grundstück oberhalb von Elberfeld mit altem Baumbestand umgibt die ehemalige Villa Waldfrieden des Lackfabrikanten Kurt Herberts, der das Haus durch den Künstler-Architekten Franz Krause in den ersten Nachkriegsjahren bis 1950 dort errichten ließ. Im Jahre 2006 erwarb der Bildhauer Tony Cragg das gesamte Anwesen, um ein Ausstellungsgelände für Skulpturen zu schaffen – eben diesen so sehenswerten Park Waldfrieden, den man als Ruheort im industriell geprägten Wuppertal kaum vermuten würde.

Cragg ließ den historischen Baubestand restaurieren und zusätzlich einen Glaspavillon als Ausstellungshaus errichten. 2008 eröffnete die Cragg Foundation den Park als Ort der Begegnung mit zeitgenössischer und aktueller Skulptur. Entlang der Wege in dem weitläufigen Gelände findet man daher nicht nur Skulpturen des Künstlers Cragg selbst, sondern auch Werke zahlreicher anderer Bildhauer, zum Beispiel von Thomas Schütte. Außerdem gibt es vor dem Eingang im ehemaligen Gärtnerhaus ein nettes Cafe, und im Sommerhalbjahr kann man unter dem Titel „Klangart“ eine hochwertige Konzertreihe erleben. Aber auch im Herbst und Winter lohnt sich ein Besuch im Park Waldfrieden, dessen Haupteingang allerdings im verwinkelten und bergigen Straßensystem Wuppertals nicht einfach zu finden ist.

Seit dem 19. Oktober und noch bis zum 12. Januar 2014 gibt es neben der Dauerausstellung eine Sonderschau mit Skulpturen von Harald Klingelhöller zu sehen. Der Professor an der Kunstakademie Karlsruhe stellte auch auf der documenta aus und erhielt in diesem Jahr für sein Lebenswerk den Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg. Klingelhöller wurde 1954 in Mettmann geboren und studierte in Düsseldorf bei Klaus Rinke, unter anderem zusammen mit Thomas Schütte und Ludger Gerdes.

Skulpturenpark Waldfrieden, Hirschstraße 2 in Wuppertal. Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Dezember bis Februar nur Freitag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr geöffnet. Eintritt 8/6 Euro. www.skulpturenpark-waldfrieden.de




Neue Sicht auf altes Motiv: Thomas Schüttes „Frauen“ im Museum Folkwang Essen

Einer der "Großen Geister" Thomas Schüttes vor dem Essen Saalbau. Foto: Werner Häußner

Einer der „Großen Geister“ Thomas Schüttes vor dem Essen Saalbau. Foto: Werner Häußner

Die Essener müssten ihn kennen. Zumindest drei seiner Werke. Wer durch den Stadtpark geht, am RWE-Pavillon der Philharmonie vorbei, kann sich ihrem Eindruck nicht entziehen. Drei Riesen marschieren da auf. Klobig und doch filigran, humanoid geformt und doch wie Wesen von einem anderen Planeten, mit wulstigen Körpern und Gliedmaßen. Das Trio „Große Geister“ stammt von Thomas Schütte, der als einer der bedeutendsten Bildhauer der Gegenwart gilt.

Der in Düsseldorf lebende Künstler hat soeben den Ernst-Franz-Vogelmann-Preis für Skulptur 2014 erhalten. Es ist eine der renommierten Auszeichnungen; dafür spricht auch die Dotation mit 25.000 Euro. Um seinen Rang zu bestätigen, hätte Thomas Schütte den Preis nicht gebraucht, eine schöne Anerkennung ist er dennoch.

In Essen gibt es momentan jedoch noch mehr Schütte: Das Folkwang Museum zeigt noch bis 12. Januar 2014 seine „Frauen“. Die Serie von achtzehn monumentalen Plastiken ist erstmals komplett in Deutschland zu sehen. Die Arbeiten in Bronze, Stahl oder Aluminium variieren das Thema des liegenden weiblichen Körpers. Kunstgeschichtlich nun wahrlich kein Neuland. Doch was Thomas Schütte aus dem Vorgegebenen macht, ist eine kühne Verbindung eines alten Motivs mit einer neuen Sicht. Tradition ist sichtbar nicht in der Negation, nicht im offenen Protest. Sondern in einer Verschmelzung mit einer durch und durch zeitgenössischen Formsprache, die sich Schütte unverwechselbar für sich selbst und aus sich heraus angeeignet hat.

In den weiten, voluminösen Räumen des neuen Folkwang Baus liegen sie, wunderbar proportioniert, auf Tischen. Sind das Arbeitstische? Bahren? Labor-Installationen? Oder einfach nur Sockel in der archaischen Form einer Platte mit vier Beinen? Dem Betrachter bleibt überlassen, was er sehen will. Aber Schüttes Anordnung hat einen demonstrativen Charakter, der sich auch von der Figur distanziert. Sie zeigt den „Werk“-Charakter, die Scheu vor dem Fertigen, vor der Behauptung einer Vollendung.

Thomas Schütte: Frau Nr. 5. Foto: Museum Folkwang

Thomas Schütte: Frau Nr. 5. Foto: Museum Folkwang

Perfekt sein wollen nur die Oberflächen. Die Skulpturen sind edel verarbeitet. Schwarz glänzender, makelloser Lack. Kühl wertvolle Silberglätte. Spiegelndes Gold. Grelle Lackschichten in Magenta, Blau oder Rostrot, wie der Metallic-Überzug eines teuren Sportwagens. Selbst die schwarz mattierte Bronze, das Rostbraun des Stahls wirken vollendet. Und die Größe der Skulpturen lässt die porigen Oberflächen des rohen Aluminium-Gusses oder des unbearbeiteten Metalls versöhnlich hinter die gewaltige Form zurücktreten.

Schütte ist weit davon entfernt, sich ständig selbst zu zitieren. Die „Frauen“ haben ein Thema gemeinsam, doch wie es konkret ausformuliert ist, variiert der Bildhauer ständig. „Frau 12“ von 2003 etwa ist gegenständlich aufgefasst, anatomisch wenig verfremdet. „Frau 8“ dagegen, aus dem Jahr 2001, zeigt abstrakt fließende Formen und große glatte Flächen. „Frau 16“ von 2005 wirkt auch durch das Material – unbearbeitetes Aluminium – wie ein Reflex auf die arte povera. Und „Frau 15“, entstanden zwischen 2003 und 2009, spiegelt das Licht auf ihrer rostroten Metallic-Lackierung tausendfältig; erinnert mit kantig-prismatischen Flächen an die geometrisch inspirierten Gemälde eines Lyonel Feininger.

Thomas Schütte: Aluminiumfrau Nr. 4. Foto: Nic Tenwiggenhorn

Thomas Schütte: Aluminiumfrau Nr. 4. Foto: Nic Tenwiggenhorn

Die Großskulpturen fangen den ersten Blick ein, aber darüber sollte der Besucher nicht die Keramiken vergessen. Zwei Werkgruppen, die „Ceramic Scetches“ und „Es tut mir leid – es tut mir sehr leid“, sind präsentiert in hohen Regalen, leider oft oberhalb der Sicht normal großer Menschen. Die Keramiken sind keine Entwürfe zu konkreten Frauen-Skulpturen, obwohl sich ihre Formen im Großen zum Teil wiederfinden. Sie sind eher inspirierende Vorarbeiten, die aber selbständig und autonom gesehen werden wollen – Dokumente der „Formsuche“, wie Schütte sie selbst nennt.

Auch hier wechselt das Formenspektrum zwischen organisch-körperlich und intuitiv-abstrakt. Manche sind gegenstandslose Gebilde, geformt aus fetten Tonwürsten, farbenfroh glasiert. Andere nehmen den Bewegungsgestus einer Figur auf, ohne den Körper nachzuformen. Wieder andere repräsentieren emotionale Gebärden: einen Schrei, ein Aufbegehren, auch Verinnerlichung oder Verzweiflung. Bei anderen ist die Anatomie brutal gestört durch deformierte Köpfe oder zerdrückte Gliedmaßen. Die absichtslose Souveränität der Form lässt diese „Scetches“ dennoch fertig – und faszinierend – wirken.

Thomas Schütte. Foto: Michael Dannemann

Thomas Schütte. Foto: Michael Dannemann

Mit viel Spaß am Hintersinn und an der traumhaft sicher aufs Blatt geworfenen Zeichnung betrachtet man die circa 100 Zeichnungen und Aquarelle aus der Werkgruppe „Deprinotes“ aus den Jahren 2006 bis 2008: spontan wirkende, oft humorvolle Capricci, mit denen sich Thomas Schütte dem rätselvollen, verstörenden Alltag, aber auch den „großen Themen“ von Himmel und Hölle nähert – mit feinsinniger Naivität oder mit sanftem Sarkasmus.

Thomas Schüttes „Frauen“ sind bis 12. Januar 2014 im Folkwang Museum Essen zu sehen. Das Museum ist Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Freitag von 10 bis 22.30 Uhr geöffnet. Der Eintritt für Museum und Sonderausstellung kostet acht Euro, ermäßigt 5 Euro. Am 13. Dezember, 19 Uhr, kommt Thomas Schütte selbst ins Folkwang und spricht über seine Schöpfungen.

Der Katalog „Thomas Schütte. Frauen“ ist bereits 2012 – zur ersten kompletten Ausstellung aller 18 Großskulpturen im Museo d’Arte Contemporanea Castello di Rivoli bei Turin – im Verlag Richter & Fey, Düsseldorf, erschienen. Er enthält auf 160 Seiten unter anderem 195 Fotos und Beiträge von Andrea Bellini und Dieter Schwarz. Der Preis beträgt 39 Euro.




„Spätlese“ zum 90. von Loriot: Eine Fülle bisher unbekannter Zeichnungen

Ach, um den Humor deutscher Bauart ist es nicht eben blendend bestellt, seit prägende Gestalten wie Robert Gernhardt und Loriot gestorben sind. Umso inniger sollte man der beiden und einiger anderer gedenken.

Es hat sich herumgesprochen: Loriot (1923-2011) wäre just heute 90 Jahre alt geworden. Gern geben Verlage zu solchen Anlässen Bücher aus dem Nachlass heraus, möglichst mit bislang unbeannten Schöpfungen. Ganz in diesem Sinne möchte Diogenes, dass wir nun eine „Spätlese“ des begnadeten Vicco von Bülow verkosten. Die Verlagswerbung scheut dabei den marktschreierischen Begriff „Sensation“ nicht.

Das Wort „Spätlese“ bezieht sich auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung, weniger auf die Entstehung der bisher nicht publizierten Blätter, rund 400 an der Zahl. Ein anfänglicher Schwerpunkt liegt gar auf Zeichnungen und Cartoons der 50er und frühen 60er Jahre.

Loriot

Das Etikett „unveröffentlicht“ ist nicht durchweg ein Qualitätssiegel. Anfangs wurden vereinzelte Einfälle von Illustrierten wie „Stern, „Quick“ und „Weltbild“ noch abgelehnt – öfter freilich auch, weil die Redakteure den eigentlichen Witz verkannt haben.

Sehr schnell zeigt sich jedoch, dass die anfänglichen Fingerübungen zügig in einen eigenen, unverwechselbaren Stil übergehen. Der typische Loriot-Duktus entwickelt sich, der szenische Phantasie freisetzt und mit herrlich trockenem Understatement daherkommt. In einem Atemzuge wird da die Realität bemäntelt und enthüllt.

Wie man hier sehen kann, dienten Loriot häufig unscheinbare, insgeheim groteske Zeitungsmeldungen und Kleinanzeigen als Anstöße. Da schlägt er manchen Funken scheinbar aus dem schieren Nichts. Unvergleichlich, wie der Humorist Freundlichkeit und Abgründigkeit verbindet. Nur ein Beispiel: Die geradezu diskret erscheinende Straßenbahn-Zeichnung „Nicht mit dem Führer sprechen“ holt Hitler gruselig in die Gegenwart.

Zeitdiagnostisch für die Wirtschaftswunder-Republik sind jene Szenen aus der Arbeitswelt, die von Drill und starrer Disziplin künden und damit das Militärische in den Alltag bringen. Weitere Themenfelder muss Loriot nicht lange suche, sie drängen sich geradezu auf: Das Verhältnis zwischen Firmen und Kunden, Gebrauchtwagenkauf, Restaurantbesuche, Massentourismus, Jagd, Bahnfahren und Fliegerei sind auch ihm nahezu unerschöpfliche Quellen. Doch er findet zumeist einen eigenen Dreh, der ihn von der Masse der bloßen „Witzzeichner“ abhebt.

Geradezu nostalgisch mutet aus heutiger Sicht an, wie Loriot die damals gängigen Telefon-Ansagedienste aufgreift. Beispielsweise den Dienst mit Kochrezepten. Leider hat die Platte einen Sprung und verkündet immer wieder denselben Schritt. Und also schlägt der Koch daheim ein ums andere Ei entzwei.

„Große Deutsche“ als Knollennasenfiguren sind ein weiteres Kapitel, man bestaune Goethe, Nietzsche, Wagner, Thomas Mann, die der Bildungsbürger Loriot in den 90er Jahren auf etwas andere Weise zeigt. Leider ist die Reihe unvollendet geblieben. Eine Liste zeigt, wen Loriot noch porträtieren wollte – übrigens neben all den Berühmtheiten auch einen unbekannten „Herrn Schultze“.

Weitere Abschnitte des gewichtigen Bandes (fast 2,5 Kilo) widmen sich Möpsen (sozusagen in allen Lebenslagen) oder auch Zueignungen aus Anlass von Geburtstagen und anderen Feierlichkeiten. So hat Loriot liebvolle kleine Hommagen etwa an „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein, den Kritiker Joachim Kaiser, Tagesschau-Sprecher Karl-Heinz Köpcke oder den Kollegen Robert Gernhardt verfertigt. Doch auch sein Briefträger bekam zum Ruhestand eine Widmung.

Die wohl größte Überraschung aber sind die „Nachtschattengewächse“ im Schlusskapitel. Diese ins Horrible reichenden Visionen sind ganz offenkundig in schlaflosen Nächten entstanden. Die oft kubistisch getürmt erscheinenden Alpträume haben mancherlei Quellen. Hier spukt Hitler ebenfalls, doch auch die eigenen Figuren haben Loriot in gespenstischer Verwandlung heimgesucht.

Nun muss doch noch getadelt werden. So interessant das ausgebreitete Material sein mag, so nachlässig wird es präsentiert. Ich rede nicht von der Drucktechnik, dem guten Papier und überhaupt von der imposanten Physis des Bandes, sondern davon, dass bis auf eine läppisch kurze Vorbemerkung und ein paar nichtssagende Zwischentexte keinerlei Würdigung oder Einordnung dieser unbekannten Werkkomplexe gibt.

Es scheint ganz so, als hätte sich die Arbeit der drei Herausgeber (darunter Loriots Tochter Susanne von Bülow) weitgehend auf Beschaffung, Sichtung, Auswahl und Sortierung beschränkt. Jammerschade!

Loriot: „Spätlese“. Rund 400 bisher unbekannte Arbeiten aus dem Nachlass. Hrsg: Susanne von Bülow, Peter Geyer, OA Krimmel. Diogenes Verlag, Zürich. 374 Seiten. 39,90 Euro.

Gleichfalls unter dem Titel „Spätlese“ steht die Loriot-Ausstellung, die bis zum 12. Januar 2014 im Literaturhaus München gastiert (danach ab 25.1.2014 bis 21.4.2014 Galerie Stihl, Waiblingen, und von 4.5.2014 bis 16.8.2014 im Wilhelm Busch Museum in Hannover)




Der sehenswerte Domschatz von Essen

Obwohl das katholische Bistum Essen ja wirklich noch sehr jung ist, besitzt es schon einen großen Schatz, den es allerdings geerbt hat. Obwohl inzwischen viele Touristen zum Gucken lieber nach Limburg fahren, lohnt es sich sehr, dem Sitz des Ruhrbischofs in der Essener Innenstadt einen Besuch abzustatten.

Die Goldene Madonna im Essener Münster.(Foto: Bistum)

Die Goldene Madonna im Essener Münster.
(Foto: Bistum)

Der Essener Domschatz umfasst nämlich einmalige Kunstwerke aus der Zeit vom 9. bis zum 18. Jahrhundert und ist einer der bedeutendsten Domschätze Europas. Dazu gehören sakrale Gold- und Silber-Schmiedearbeiten, aber auch Elfenbeinschnitzereien, Skulpturen und Handschriften – Schönheiten, die man in einem Industrierevier zunächst nicht vermutet, die aber die reiche Geschichte einer Region zeigen, die auch einmal etwas Anderes war als Kohle- und Stahlstandort.

Weltbekannt ist in Essen vor allem die berühmte „Goldene Madonna“, die man allerdings nicht in dem schönen kleinen Museum am Rande der Domkirche findet, sondern im Münster selbst. Die Madonna gilt als die weltweit älteste figürliche Darstellung Mariens und wurde erst kürzlich aufwändig renoviert. Um das Jahr 980 wurde sie für das damalige Essener Frauenstift geschaffen. Sie ist aus Pappelholz geschnitzt und mit Goldblech umkleidet. Weil die Essener Marienfigur nach Ansicht der Katholischen Kirche ein Gnadenbild ist, steht sie eben in der Domkirche hinter einem stählernen Gitter auf einem Seitenaltar und nicht im Museum, damit die Gläubigen vor der Madonna beten, Kerzen entzünden und um Fürbitte für ihr Anliegen bitten können. Offiziell heißt die anrührende Frauengestalt mit dem Kind auf dem Arm auch nicht „Goldene Madonna“, sondern „Mutter vom Guten Rat“. Der damalige Papst Johannes XXIII. hat sie „zur ersten und besonderen Patronin des ganzen Bistums Essen“ ernannt.

Mitten in der Fußgängerzone von Essen wirken die Domkirche und das angeschlossene Museum mit dem Platz davor wie eine Insel der Ruhe. Die meisten Menschen hetzen vorbei, von Kaufhaus zu Kaufhaus, und verpassen ein Kleinod.




Gastbeitrag: „Warum der Museumsbau am Ostwall nicht abgerissen werden darf“

Dem Gebäude, das früher das Dortmunder Museum am Ostwall beherbergt hat, droht der Abriss. Unsere Gastautorin Sabine Schwalbert hat für den Erhalt des Baus eine Online-Petition gestartet, die bis zum Schlusstag (18. September 2013) von 5115 Menschen unterzeichnet wurde und – zusammen mit weiteren Unterschriften – dem Rat der Stadt Dortmund übergeben werden soll. Hier erklärt sie, was sie zu der Petition und zum weiteren Engagement bewogen hat:

Dortmund im Jahr 1947: Die Innenstadt ist nach dem Zweiten Weltkrieg zu mehr als 90 Prozent zerstört. Experten erwägen zunächst, Dortmund an einem anderen Ort komplett neu aufzubauen. Nach einem äußerst harten und kalten Winter 1946/47, der viele Todesopfer forderte, fehlt es nicht nur an Geld, Bau- und Heizmaterial, sondern auch an Lebensmitteln und Kleidung. Tausende Menschen hausen in Notunterkünften oder sind bei Verwandten einquartiert.

Blick aufs Museumsgebäude am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Blick aufs Museumsgebäude am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

In dieser prekären Gesamtsituation beschließt der Rat der Stadt, das im Krieg beschädigte Museum am Ostwall wieder aufzubauen. In den folgenden Jahren wird der Bau sukzessive hergerichtet. Als eines der ersten Museen in der jungen Bundesrepublik zeigt das Museum, das konsequent das Konzept der „Weißen Wand“ verfolgt, in seinen ersten Ausstellungen sogenannte „Entartete Kunst“ – Kunstwerke, die in der Nazizeit verboten und nicht zu sehen waren. Es war ein Signal für den Aufbruch in eine neue, demokratische Gesellschaft, in eine neue Zeit.

All das wusste ich nicht, als ich das Museum am Ostwall für mich entdeckte. Ich weiß auch nicht mehr genau, wann ich das erste Mal dort war. Es ging mir aber ähnlich wie Benjamin Reding, in Dortmund aufgewachsener Filmregisseur: „In meiner Kindheit und Jugend war das Museum am Ostwall für mich so etwas wie eine blühende Insel der Kultur im aschgrauen Asphalt des Ruhrgebiets der Siebziger. Das stille Haus mit dem wundervollen Garten, seinem großzügigen Lichthof, den Kieselböden, der Gabel-Plastik von Wolf Vostell und den mechanischen Zähneputzern hat mich tief beeindruckt…“

Hier konnte man Fluxus-Kunst kennen lernen, ohne vorher zu wissen, was das überhaupt ist. In den 80er und 90er Jahren, wurde ich zum Stammgast in diesem schlichten Haus, das den Besucher so ohne großes Brimborium einfach einlud und einließ. Nach ein paar Schritten stand man mitten im Lichthof und war von Kunst umgeben. Es gab viele, nicht immer hochklassige, aber immer interessante Ausstellungen, in der Bibliothek habe ich oft gesessen und Designzeitschriften durchgeblättert, die ich mir damals als Studentin nicht leisten konnte.

Später verlor ich ein wenig den Kontakt zum Haus. Nach dem Umzug der Sammlung in das umgebaute „Dortmunder U“ war ich sicher, dass sich eine neue Verwendung für das alte Haus finden würde. Denn dieses Haus ist einfach ein Stück Dortmund, fest verwurzelt in dieser Stadt, von außen bodenständig, aber mit immensen inneren Werten. Und es tritt hinter den Werken, die es präsentiert, mit seiner schlichten und doch eindrucksvollen Architektur immer zurück.

Viele Dortmunder meiner Generation haben noch die unrühmliche Geschichte der alten denkmalgeschützten Bibliothek deutlich vor Augen: Nach dem Abriss wegen Asbestbelastung hatten wir jahrelang mitten in der Stadt eine Brachfläche, jetzt steht dort ein mehr oder minder gesichtsloses Kaufhaus. Sollte sich diese Geschichte mit dem Abriss des alten Museums wiederholen?

„Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.“ Diesen Ausspruch von Hanns-Joachim Friedrichs haben wohl alle verinnerlicht, die journalistisch unterwegs sind, aber: Sind nicht auch wir Journalisten Bürger, die politische Entscheidungen grundfalsch finden können? Und wer, wenn nicht wir und andere Kulturschaffende, sollte auf solche Fehlentscheidungen hinweisen? Ich habe die journalistische Leitlinie von Hanns-Joachim Friedrichs letztendlich gebrochen und habe klar Stellung bezogen. Reißen wir dieses Haus ab, treten wir die Arbeit der Wiederaufbaugeneration mit Füßen und verlieren obendrein ein wertvolles Haus zu Gunsten von wahrscheinlich architektonisch durchschnittlichen Wohn- oder Büroflächen.

Mich in dieser Sache einzumischen, eine Petition gegen den Abriss zu starten und mich auch weiterhin zu engagieren war eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe. 5115 Menschen – nicht nur aus Dortmund – haben unterschrieben. Doch mit der erfolgreichen Petition allein ist es leider noch nicht getan.

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Hintergrund

Bericht vom November 2012 in den Revierpassagen
Bericht vom Mai 2013 in www.derwesten.de




Martin Kippenberger ist nicht tot: Premiere am Schauspiel Köln

Ein U-Bahnschacht auf einer griechischen Insel, der nicht zum Zug führt. Doch vielleicht ist der Metro-Bahnhof ja gar keine Attrappe, sondern symbolisiert die Idee eines weltumspannenden Streckennetzes? Ein Dorf braucht eine U-Bahn eigentlich auch viel nötiger als die Großstadt, wo ohnehin immer etwas los ist. Ist Köln ein Dorf? Weil alle sich kennen und dauernd übereinander reden? Und die Griechen möchten auch mal weg, eine U-Bahn-Fahrkarte können sie sich vielleicht noch leisten. Direkt am Dom steigen sie aus und kaufen Döner. „Du Assi, das heißt Gyros“, sagt der Türke.

Foto: Sandra Then/Schauspiel Köln

Foto: Sandra Then/Schauspiel Köln

Sieh da, es funktioniert. Der Künstler Martin Kippenberger inspiriert zur Imitation, zur Parodie und zu einem Diskurs über Kunst, der weniger Nonsens ist, als es scheint. In der Nachahmung Kippenbergers steckt immer auch ein wenig echter Kippenberger, wie schon der Katalog, also das Programmheft zum Stück „Kippenberger“ von Angela Richter zeigt, das jetzt am Schauspiel Köln Premiere hatte. Ein Readymade als Hommage an den in Dortmund geborenen Künstler, der mit 44 Jahren starb und zum Mythos wurde. Ein Frosch, über den sich der Papst ärgerte.

Leute aus der Kunstszene, die Kippenberger kannten, erzählen in einer Art Doku-Fiktion on stage, wie es so mit ihm war – und es war wild. Aber es war auch lustig, es war traurig, es war verrückt. Es war Punk und man war bei etwas Wichtigem dabei.

Große Leinwände rollen herum, darauf die Paris Bar, wo Kippenberger in Berlin logierte oder das Hotel Chelsea, wo man ihn in Köln traf. Die Schauspieler tragen 80er-Jahre-Klamotten und feiern mit entsprechendem Sound die große Kunstparty von damals nach. Das ist nicht nur witzig, sondern erweist sich als angemessene Methode, einen Künstler mitsamt Lebensgefühl zu begreifen. Oder anders ausgedrückt: Kippenbergers Geist war plötzlich da. Gerade weil die Weggefährten nicht nur ihre Bewunderung zelebrieren, sondern ebenso ihren Ärger und ihren Schmerz. „Er hat es immer geschafft, dass alle irgendwie für ihn arbeiteten“, sind solcherart Sätze oder: „Oh Gott, bloß nicht mit dem Kippenberger ein Projekt machen, der ist völlig unberechenbar, das wird Chaos.“

Es geht um sein Trinken, seine Liebe, sein Kind und es geht um seinen frühen Tod. Es geht um Maßlosigkeit und Genie und darum, wie der Künstler im sozialen Biotop Köln agiert und wahrgenommen wird. Es geht um die Spuren, die er mit, in und durch andere Menschen hinterlassen hat. Textquellen für die Theaterproduktion stammen aus Gesprächen u.a. mit Ben Becker, Diedrich Diederichsen, Inga Humpe, Walther König, Elfi Semotan oder Helge Malchow.

Die Schauspieler Yuri Englert, Marek Harloff, Melissa Logan, Judith Rosmair und Malte Sundermann genießen auf Basis dieses Textmaterials die Freiheit, je ihren eigenen Kippenberger zu zeigen – ob sie nun Lust haben, seine blöden Witze in Endlosschleife zu erzählen (Achtung: Auch das ein Zitat aus dem Künstlerleben) oder ein bisschen wie Michael Jackson zu tanzen.

Manchmal spielen sie auch einfach Kippenberger selbst. Aber möchten wir nicht alle ein bisschen Kippenberger sein? Komm los, sei kein Frosch.

Karten und Termine:

www.schauspielkoeln.de




Ruhrtriennale: Heiner Goebbels zeigt in „Stifters Dinge“ Kunst als Ablauf mechanischer Vorgänge

Friedhof der Klaviere: die zentrale Installation für "Stifters Dinge". Foto:

Friedhof der Klaviere: die zentrale Installation für „Stifters Dinge“. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Nun hat Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels selbst Hand angelegt. Als Konzeptkünstler, Regisseur und Komponist hat er dem Festival seinen ureigenen Stempel aufgedrückt. Auf dem zu lesen ist: „Stifters Dinge“. Angekündigt als Klavierstück ohne Pianisten, Theaterstück ohne Schauspieler und als Performance ohne Performer.

Goebbels misstraut offenbar dem Menschen auf der Bühne, setzt stattdessen auf die Macht der Elektronik, des Maschinellen. Zu sehen ist eine Installation, die wirkt wie das Ergebnis von jungenhafter Begeisterung an der Bastelei – mitsamt der hellen Freude, dass alles prächtig funktioniert.

Das Stück, wenn wir es so nennen wollen, passt also prima in die Duisburger Kraftzentrale, einst das energiespendende Herz für die Herstellung von Stahl. Denn auf der „Bühne“ laufen vielschichtige Arbeitsprozesse ab. Diesmal allerdings zur Erzeugung von Lauten, Klängen, bildlichen Illustrationen, Textauszügen. Die allesamt offenbar eine herbe Zivilisationskritik ausdrücken wollen: Der Mensch zerstöre mehr und mehr die schöne Natur. Goebbels erweist sich damit als Anwalt des französischen Philosophen und Ethnologen Claude Lévi-Strauss.

Aber zunächst wird eben jene Schönheit beschrieben, ertönt aus dem Lautsprecher „Die Eisgeschichte“ Adalbert Stifters, eine literarische Verneigung vor den Geheimnissen eines winterlichen Waldes, einer Terra incognita. Doch Lévi-Strauss verneint kurz darauf in einem eingespielten Interview, dass es auf der Welt noch unberührte Orte gebe. Und Vertrauen in die Menschheit, nein, das habe er nicht.

Natur - das ist nur noch eine Frage der Projektion. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Natur – das ist nur noch eine Frage der Projektion. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Solcherart Pessimismus spiegelt sich nicht zuletzt im zentralen Bühnenaufbau wieder. Fünf (präparierte) Klaviere – zum Teil sind es nur noch deren Torsi – hat Ausstatter Klaus Grünberg an einer Wand aufgeschichtet, dazwischen blattlose Baumkrüppel gesetzt. Wie ein Instrumentenfriedhof wirkt das (oder doch wie ein Altar mechanischer Kunsterzeugung?), dementsprechend wird ein musikalisches Aufzucken inszeniert, das sich in pochenden, knarzenden Geräuschen ausdrückt oder in fragmentierten Läufen, wilden Figurationen. Nur einmal erreicht uns ein Hort der Ruhe: wenn plötzlich der langsame Satz aus Bachs „Italienischem Konzert“ erklingt und aus drei großen Wasserbecken sanftes Plätschern zu vernehmen ist.

Ähnlich mag Jacob van Ruisdaels Waldbild, als Illustration von Stifters Erzählung, unser Gespür von Ästhetik erfreuen. Doch die farblichen Veränderungen, die das projizierte Gemälde alsbald ereilen, machen alles Wohlgefühl zunichte. Sodass uns Goebbels einerseits verstört zurücklässt. Verhindern aber kann er nicht, dass diese besondere, rätselhafte Art politischen Theaters für manche lediglich ein technisches Faszinosum darstellt. Gleichwohl – der Applaus ist höflich.

Weitere Vorstellungstermine sowie Informationen über eine „Unguided Tour“ unter www.ruhrtriennale.de

 

(Der Text ist in ähnlicher Form zunächst in der WAZ erschienen.)




Ruhrtriennale: Körper-Studie mit allen Mitteln

Foto: Eva Würdinger

Foto: Eva Würdinger

Mann und Frau begegnen sich – man sollte meinen, dass zu dieser Konstellation auf der Bühne kaum mehr Neues erzählt werden kann. Von wegen!

Im Choreographischen Zentrum PACT Zollverein trafen Meg Stuart und Philipp Gehmacher aufeinander. Die renommierte US-amerikanische Choreografin und ihr Kollege aus Österreich arbeiten inzwischen seit Jahren fruchtbar zusammen; diesmal banden sie außerdem den Video- und Installationskünstler Vladimir Miller ein. Das Ergebnis heißt „The fault lines“ – übersetzt etwa „Bruchlinien“, jene Störungslinien, die zum Beispiel nach Erdbeben im Gestein sichtbar werden. „The fault lines“ auf der Bühne ist das Zusammenspiel zweier Systeme, die nicht kompatibel sind.

Zu Beginn stehen Mann und Frau sich gegenüber, gehen aufeinander zu – ganz neutral, ohne erkennbar freundliche oder feindliche Absicht. Doch kaum, dass sie einander zu nahe kommen, reagieren die beiden Systeme unwillkürlich und autonom. Was auch immer der eine Körper macht – dem anderen scheint es unmöglich, sich der Bewegung des Gegenübers anzupassen, darauf einzugehen. Sie klammert sich an ihn – er versucht, sie abzusetzen. Sie flieht – er versucht, sie einzufangen. Er streckt die Arme aus – sie entwindet sich. Stuart und Gehmacher zeigen Dutzende solcher kurzer, heftiger Kontakt-Reaktionen, perfekt choreographiert wie ein Wrestling-Kampf, die meist in einem erschöpften Aufeinander-Liegen am Boden enden – bevor ein neuer Versuch beginnt.

Was da auf der Bühne stattfindet, ist kein Kampf der Geschlechter und auch nicht das ewige Spiel des Anziehens und Abstoßens. Wenn Philipp Gehmacher seinen Armen und Händen fast hilflos und erstaunt dabei zusieht, wie sie autonom, scheinbar ohne sein Zutun agieren, wird deutlich: Auf dieser kargen, einem Schuhkarton ähnlichen Spielfläche werden Körper-Studien betrieben.

Vladimir Miller filmt die beiden bei ihren Studien, fokussiert, filtert Details und definiert die Beziehung der Körper mit Hilfe seiner Kamera neu: Auf der Leinwand hält der Mann plötzlich den Kopf der Frau zwischen seinen Händen – tatsächlich aber steht er einige Meter von ihr entfernt.

Am Ende verschmelzen Performance und Video-Projektion: Er hält sie fest auf dem Boden, umklammert sie; sie ragt suchend die Arme in die Luft, und Miller zeichnet auf die Projektion ihrer Körper. Er zeichnet vorsichtig erkundend feine, zitternde Linien auf die beiden Körper. Es sind Störungslinien. Ein starker Moment, eine überzeugende Studie mit den Mitteln darstellender und bildender Kunst.

„The fault lines“ ist noch einmal am 21. September zu sehen.




Schopf und Schöpfung: Oberhausen zeigt „HAIR! Das Haar in der Kunst“

In der „flotten Schreibe“ älterer Machart hätte man formuliert, die neue Ausstellung in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen sei „eine haarige Angelegenheit.“ Und was der Redensarten mehr sind. Richtig ist, dass „HAIR! Das Haar in der Kunst“ das Titelthema rundum abhandelt. Wer da noch eine wesentliche Lücke entdeckt, ist wirklich findig.

Domenico Gnoli: "Hair Partition" (Scheitel), 1968 (© Museum Ludwig im Statlichen Russischen Museum St. Petersburg/VG Bild-Kunst, Bonn 2013)

Domenico Gnoli: „Hair Partition“ (Scheitel), 1968 (© Museum Ludwig im Statlichen Russischen Museum St. Petersburg/VG Bild-Kunst, Bonn 2013)

Gleich der erste Raum verheißt große zeitliche und ästhetische Bandbreite, die dann auch eingelöst wird: Bei Tilman Riemenschneiders „Marientod“ (um 1515) spielt die Haar- und Barttracht der Figuren eine entscheidende, charakterisierende Rolle – bis hin zur so genannten „Petrus-Locke“, die eben genau diesen Apostel kennzeichnet. Direkt gegenüber hängt eine Fotografie von Cindy Sherman, auf der die Künstlerin als steinreiche, überschminkte Dame der besseren Gesellschaft erscheint. Auch hier macht die Frisur einen Unterschied.

Cindy Sherman: "Untitled # 464", 2008 (© Hendrik Kerstens, courtesy NUNC Contemporary, Antwerp, Belgium)

Cindy Sherman: „Untitled # 464“, 2008 (© Hendrik Kerstens, courtesy NUNC Contemporary, Antwerp, Belgium)

Für viele Jahrhunderte bedeutete „ordentliches“ Haar auch geordnetes Denken oder gar Gottesnähe. Aus heutiger Sicht kuriose Dinge wie ein Echthaar-Kruzifix oder eine Maria Magdalena mit Ganzkörperbehaarung gibt es zu sehen, wobei das wallende Haupthaar selbstverständlich ihre jungfräuliche Scham bedeckt.

Spätestens nach der Hälfte des Rundgangs fragt man sich jedenfalls, wieso noch niemand zuvor auf die Idee gekommen ist, dieses Thema zwischen Schopf und Schöpfung zum zentralen Gegenstand einer Kunstausstellung zu machen. Museumsleiterin Christine Vogt und ihr Team haben insofern tatsächlich Neuland betreten.

Denn nach und nach zeigt sich, wie vielfältig der ikonographische Anspielungsreichtum des menschlichen Haares ist. Mal hat es religiöse, mal erotische Bedeutung, mal drückt es Machtverhältnisse oder soziale Zugehörigkeiten aus. Der Griff ins Haar oder die erzwungene Entfernung stehen für Demütigung und Stufen der Gewaltsamkeit. Auch kommt immer wieder der unaufhörliche Geschlechterkampf in Betracht.

Tilman Riemenschneider: "Marientod", um 1515 (© Sammlung Marks/Thomée, Aachen - Foto: Anne Gold, Aachen)

Tilman Riemenschneider: „Marientod“, um 1515 (© Sammlung Marks/Thomée, Aachen – Foto: Anne Gold, Aachen)

Haare haben überdies innig mit Tod und Vergänglichkeit zu tun, gerade weil sie das Letzte sind, was vom menschlichen Leibe nach dem Aushauchen erhalten bleibt. Im 19. Jahrhundert gedachte man der Verstorbenen deshalb nicht selten mit Lockenbildern.

Rotes Haar dient traditionell als Zeichen der Sündhaftigkeit, doch auch Blond (Warhols Monroe-Siebdruck, Roy Lichtensteins dekorativ weinendes Comic-Mädchen) und Schwarz (Otto Dix’ geradezu „dreckiges“ Hurenbild „Akt mit Zigarette“) haben ersichtlich ihre starken Reize.

Andy Warhol: "Geburt der Venus nach Bitticelli", 1984 (© The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Artists Right Society (ARS), New York - Foto: Anne Gold, Aachen)

Andy Warhol: „Geburt der Venus nach Bitticelli“, 1984 (© The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Artists Right Society (ARS), New York – Foto: Anne Gold, Aachen)

Und so geht es wechselhaft voran, mit 134 einschlägigen Exponaten von der Antike bis heute, kreuz und quer durch Bestände der diversen Ludwig-Sammlungen, hie und da um Stücke aus anderen Kollektionen ergänzt. Es wird klar, dass die Peter und Irene Ludwig keineswegs nur Pop Art erworben haben, sondern Kostbarkeiten aus nahezu allen Epochen. Zum Umfang der Ausstellung zählt übrigens auch reichlich altes Silber aus dem Besitz von Irene Ludwig, das davon zeugt, wie im 18. Jahrhundert noch Körper- und Haarpflege sozusagen beim Frühstück betrieben wurden. Hier hat man halt den verstorbenen Stiftern gehuldigt, ansonsten wäre es nicht zwingend nötig gewesen.

So manche Legende der Kulturgeschichte wird nicht zuletzt durchs Haar definiert, so etwa durchs Medusenhaar (auf dem Bild „Die Pest“ des Franz von Stuck). Auch das wallende Haar der sexuell bedrängten Susanna im Bade wäre zu nennen. Oder Judith, die den Schädel des enthaupteten Holofernes bei den Haaren packt.

Edvard Munch: "Madonna - Liebendes Weib", 1902 (© The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Foto: Anne Gold, Aachen)

Edvard Munch: „Madonna – Liebendes Weib“, 1902 (© The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Foto: Anne Gold, Aachen)

Streckenweise gerät die Schau also beinahe zur kulturgeschichtlichen Beispielsammlung, doch überwiegt insgesamt der künstlerische Impuls; vor allem, weil vornehmlich einige Gegenwartskünstlerinnen (jawohl, es ist offenbar überwiegend ein Frauenthema) frische Akzente gesetzt haben. Sie können auf alles zurückgreifen, mit Bestandteilen der ganzen Tradition jonglieren. Nicht sämtliche Arbeiten kommen über den bloßen Gag hinaus, doch einige gewinnen der Frisur neue Facetten ab.

Bedrohlich wirkt Rebecca Horns 1974/75 hergestellter Film vom simultanen Haareschneiden mit zwei Scheren, zu dem der jüngst verstorbe Otto Sander einen Text gesprochen hat. Anita Brendgens versetzt Fragmente eines ganzen Friseursalons in ein sanftes Schweben. Die vom Hardrock herkommende Patricia Murawski führt ihre langen Haare fotografisch beim selbstvergessenen „Headbanging“ vor. Und Billie Erlenkamp beweist, dass es möglich ist, die Umrisse eines weiblichen Akts in die dichte Behaarung eines Männerbeins zu kämmen.

Unbekannter Meister: "Erhebung der Maria Magdalena" (Maria Aegyptiaca), um 1480) (© Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen - Foto: Anne Gold, Aachen)

Unbekannter Meister: „Erhebung der Maria Magdalena“ (Maria Aegyptiaca), um 1480) (© Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen – Foto: Anne Gold, Aachen)

Wie bitte? Die Haarlosigkeit sei vergessen worden? Nichts da! Jim Raketes Porträtfoto des Schauspielers Jürgen Vogel und ein Selbstbildnis von Max Beckmann lassen mehr als nur lichte „Geheimratsecken“ sehen. Wuchernde wie abrasierte Intim- und Brustbehaarung kommen gleichfalls vor. Und schließlich darf auch das – aus modischen oder religiösen Gründen – bedeckte Haar nicht übergangen werden. Eine Arbeit der Iranerin Shirin Neshat erhebt hierbei subtilen Einspruch gegen den Tschador. Sieh an, sieh an, die Darstellung der Haare kann also auch gleichsam körperpolitisch gewendet werden.

„HAIR! Das Haar in der Kunst“. 22. September bis 12. Januar 2014 in de Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50, ermäßigt 3,50 Euro.

Nähere Informationen: www.ludwiggalerie.de




Alexander Calder und Candida Höfer: Zwei Ausstellungen in Düsseldorf

Foto: Achim Kukulies, © Calder Foundation, New York / Artists' Rights Society (ARS), New York© Kunstsammlung NRW

Foto: Achim Kukulies, © Calder Foundation, New York / Artists‘ Rights Society (ARS), New York
© Kunstsammlung NRW

Damit ihr Himmel nicht leer ist, hängt man für Babys ein Mobile auf: Das ist bunt, tanzt durch die Luft und macht die Welt zu einem freundlichen Ort. Die Kunst des amerikanischen Bildhauers Alexander Calder (1898-1976) spricht ebenso direkt unsere kindliche Seele an: Als einer der ersten hat der Avantgardist abstrakte Formen in Bewegung versetzt und damit die kinetische Kunst begründet.

Calder gilt als Erfinder des Mobiles, geprägt hat den Begriff allerdings Marcel Duchamp bei einem Atelierbesuch bei Calder in Paris, als er seine neuesten Objekte begutachtete. Die Wortschöpfung kombiniert die französischen Worte „Bewegung“ und „Motiv“ und die neue Ausstellung in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf „Avantgarde in Bewegung“ zeigt bis Januar 2014 Calders schwingende, klingende und farbenfrohe Objekte aus den 30er und 40er Jahren.

„So wie man Farben komponieren kann, kann man auch Bewegung komponieren“, lautet ein Credo von Calder und selten ist man sich der drei Dimensionen eines Ausstellungsraumes so bewusst wie in der ersten Calder-Ausstellung seit 20 Jahren in Deutschland. Über den Köpfen schweben filigrane und zugleich raumbeherrschende Objekte in den bizarrsten Größen, Formen und Kombinationen. Zugleich tritt mit dem Klang noch eine vierte Dimension hinzu, der Calder ebenso einen wichtigen Platz einräumt: Durch die Bewegung geraten seine Skulpturen in Schwingung und die verschiedenen Materialien erzeugen durch Zusammenstöße eine ebenso zauberhafte wie zufällige Melodie.

Leider ist es nicht erlaubt, die Mobiles im Museum selbst in Bewegung zu versetzen und so warten die Besucher gespannt auf den Mitarbeiter des K 20, der alle halbe Stunde eine rote Kugel mit einem wattierten Stab anstupst. Unter großem „Ah“ und „Oh“ setzt sich eine Kettenreaktion in Gang und das Instrumentarium aus Flaschen, Dosen, Kisten und Gongs lässt eine Melodie hören, deren Komponist der Zufall ist.

Foto: © 2013 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York Foto: Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark© Kunstsammlung NRW

Foto: © 2013 Calder Foundation, New York / Artists Rights Society (ARS), New York Foto: Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark
© Kunstsammlung NRW

Wenn Calder für Kunst in Bewegung steht, so zelebriert Candida Höfer ein paar hundert Meter weiter im Museum Kunstpalast das genaue Gegenteil: Ihre Fotografien verschreiben sich der absoluten Statik menschenleerer Räume. Die 1944 geborene Tochter von „Frühschoppen“-Gastgeber Werner Höfer studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie in der Becher-Klasse und lebt in Köln. Nun sind unter dem Titel „Düsseldorf“ Arbeiten ausgestellt, die in der Landeshauptstadt entstanden sind – beginnend in den 70er Jahren bis heute, so dass die Schau auch Höfers Entwicklung als Fotografin nachzeichnet.

Denn nicht immer waren ihre Bilder menschenleer: In frühen Fotos von Schaufenstern im Stadtgebiet spiegelt sich die junge Höfer sogar selbst mit Kamera. Eigentümlich spartanisch mutet das spärliche Warenangebot hinter vergilbten Vorhängen in den Geschäften der 70er Jahre an. Seltsam, hatte man doch früher niemals ein Gefühl eines Mangels und doch scheinen sich die Sehgewohnheiten durch die Supermarktkultur weitaus stärker gewandelt zu haben, als einem selbst bewusst ist.

Interessant ist auch Höfers Serie der ersten türkischen Gastarbeiter und ihrer Lebensumstände; ein maschinengeschriebener Brief der Akademie genehmigt der damaligen Kunststudentin ganz altmodisch-bürokratisch die Reise ins Heimatland der Arbeiter, um dort zu fotografieren. Höfers Fotos aus anderen Teilen der Welt bekommt man aber in dieser Ausstellung nicht zu sehen, die Auswahl beschränkt sich allein auf Düsseldorf.

So blickt der Besucher in Kirchen, Prunkräume des Benrather Schlosses, die Eingangshalle eines Bürohochhauses und das Treppenhaus des Stahlhofes. Die Szenarien atmen Perfektion, Akkuratesse und bestechen durch ihre harmonische Bildkomposition wie die Stillleben alter Meister. Es sind, so ist es im Katalog nachzulesen, „Räume vergangener bürgerlicher Öffentlichkeit“ und sie sind leer. Die versteckte Sprengkraft einer solchen Aussage zeigt, dass die Abwesenheit des Menschen als Sujet durchaus zum gesellschaftlichen Statement werden kann. Aus unseren ehrwürdigen Institutionen sind wir längst verschwunden – aber wo sind wir hin?

Infos:
K 20: „Alexander Calder – Avantgarde in Bewegung“, www.kunstsammlung.de
Museum Kunstpalast: „Candida Höfer – Düsseldorf“, www.smkp.de