Abschied von Loriot

Es darf doch nicht wahr sein. Es soll doch bitte nicht stimmen!

Die Nachricht vom Tode Loriots macht sehr, sehr traurig. Doch sie macht die meisten nicht sprachlos. Denn nun lassen alle die Loriot-Sprüche oder sonstigen Werkpartikel vom Stapel, die ihnen ans Herz oder gleichsam ans Zwerchfell gewachsen sind. Auch das Netz vibriert heute vor lauter Hoppenstedt, Müller-Lüdenscheidt, Die Ente bleibt draußen, Heinzelmann und allem anderen. Wie wohltuend und entlastend, wenn man die Trauer ins kollektive Lachen kleiden kann – oder wenigstens in eine wehmütige Erinnerung an einstigen Frohsinn. Möge man ihn nur nicht irgendwann auf den „Hausschatz des goldenen Humors“ reduzieren. Er steht für ganz andere Dimensionen.

Das weithin presseübliche Verfahren, einen alten Artikel (etwa zum 80. oder 85. Geburtstag) „wiederzubeleben“, indem man ihn beinahe wortgleich wiederholt, um Geschehnisse der letzten Jahre sowie ein paar Trauerformeln ergänzt (und an den richtigen Stellen in die Vergangenheitsform setzt), das alles wollen wir uns hier ersparen.

Wir setzen nur noch schnell einen Link.

Dann sind wir endlich still und blättern abends leise in seinen wundervollen Büchern.




Alles ist ermattet, doch Elvis lebt!

Elvis als Automaskottchen (Bild: Bernd Berke)

Elvis als Automaskottchen (Bild: Bernd Berke)


Die Mehrheit der „Revierpassagen“-Autorinnen und Autoren ist derzeit auf Reisen, weite Bereiche des Kulturbetriebs haben jetzt eh geschlossen. Ohnehin hat der Müßiggang seine unwiderstehlichen Reize…

Aber das ist ja das Schöne am Bloggen. Während Zeitungen im Druck und mit ihren Ablegern im Netz sich abquälen müssen, trotz alledem täglich ihre Seite(n) zu füllen (ein bis auf weiteres unvergängliches Motto dabei: „Große Bilder sind schnell geschrieben“), können wir es zuweilen geruhsamer angehen lassen.

Aus gutem Grund haben wir niemandem tägliche Lieferungen versprochen, erst recht kassieren wir nicht für Abo oder Einzelverkauf, auch erheben wir keinerlei Gebühren, stecken ferner null Subventionen oder sonstige Zuschüsse ein.

Doch wenn auch die hiesige Kulturkritik ein wenig ermattet darnieder liegt und sich allenfalls zum sommerlichen Kriechgang aufrafft, so steht doch eines felsenfest: Elvis lebt! Auch unser bei typischem Sommerwetter entstandenes Fotos beweist es wieder.




Als der Widerstand wuchs: Gesichter der „Wende“

Des welthistorischen Tages wollen wir auch an dieser Stelle gedenken: Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, hat das DDR-Regime mit dem schändlichen Mauerbau begonnen. Doch wir zäumen die Sache von hinten auf und betrachten ein Buch über die „Wende“ von 1989, die diese Mauer schließlich zu Fall gebracht hat.

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Der Dortmunder Fotograf Dirk Vogel porträtiert in dem Bildband „Gesichter der Friedlichen Revolution“ insgesamt 63 Protagonist(inn)en jener bewegenden Phase deutscher Geschichte. Es sind durchweg aufrechte, anständige Charaktere, deren Lebensleistung hohen Respekt verdient. Unter teilweise großem persönlichem Risiko haben sie Courage in einer Diktatur bewiesen. Auch wenn einige es selbst nicht gerne hör(t)en, so darf man sie wohl Heldinnen und Helden der Zeitgeschichte nennen, Vorbilder weit über den Tag hinaus. Doch selbst Helden sind mitunter fehlbar.

Die kurzen Begleittexte zu den fotografischen Porträts stammen von 23 verschiedenen Autoren, sind also zwangsläufig von schwankender Qualität. Hie und da würde man sich wünschen, die Dargestellten mit deren eigenen Äußerungen wiederzufinden. So klingt manches etwas steril, weil praktisch nur von makellosen Menschen die Rede ist. Das liest sich schon mal wie Hagiographie oder landläufige Nachrufprosa. Ein Buch über Leute, die entschieden Widerspruch erhoben und Widerstand geleistet haben, dürfte ruhig etwas kontroverser sein. Hier aber hat es den Anschein, als würden (hochinteressante) Biographien im Idealzustand eingefroren und somit gleichsam stillgestellt.

Doch mit und zwischen den Zeilen lernt man auch hinzu. Von prägnanten Einzelheiten abgesehen, entsteht nämlich eine Art Typologie des Widerstands. Es werden die verschiedenen Triebkräfte sichtbar, die zur Friedlichen Revolution geführt haben. In erster Linie sind hier kirchliche Anstöße zu nennen. Auch sind die widerständigen Kräfte zuvörderst bürgerlich im traditionell besten Sinne.

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Bei vielen stand am Beginn des Aufbegehrens die Verweigerung des Waffendienstes bei der NVA (Nationale Volksarmee der DDR), also ein im weiteren Sinne friedensbewegter Ansatz. Andere kamen über umweltpolitische Fragen (Tschernobyl, Bitterfeld, AKW-Bau bei Stendal), Frauengruppen oder kulturelle Impulse allmählich zur grundlegenden Kritik am SED-Staat. Fast alle sind von der Stasi drangsaliert worden und haben Haftstrafen verbüßt. Doch man erfährt auch, dass jede auf Einschüchterung angelegte Repression verschärften Widerstand erzeugen kann. Eines steht fest: „Ostalgie“ kann hier wirklich nicht aufkommen.

Im Gegensatz zu den Texten sind Dirk Vogels eindringliche Schwarzweiß-Fotografien (grundsolide aufgenommen mit Leica-M-Modellen der Jahre 1956 und 1963), obgleich den Personen jeweils individuell angemessen, nahezu „aus einem Guss“. Es wird durchweg ein beachtliches Niveau gehalten, Vogel erweist sich als Porträtist von einigen Graden. Schmerzliche und freudige Lebenserfahrungen (welch eine Euphorie hat 1989 geherrscht, die hernach vielfach enttäuscht wurde) meint man den Gesichtern anzusehen, zuweilen auch Charisma, Trotz oder Verzagtheit, mehr oder weniger milde Ironie über die wechselhaften Zeitläufte, doch praktisch keine Verbitterung. Und immer wieder leuchtet in den Gesichtern die spürbare Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit auf. Lebensschätze, die in Wort und Bild aufgehoben werden müssen. Nicht zuletzt als Wegzehrung für kommende Zeiten.

Dirk Vogel hat Erfahrungen mit womöglich heiklen, jedenfalls vielschichtigen Themen gesammelt. So hat er sich fotografisch intensiv und leidenschaftlich mit jüdischem Leben in Deutschland, mit Sinti und Roma sowie mit dem Alltag behinderter Menschen befasst. Das alles verlangt Gespür für Nuancierungen und Empfindlichkeiten. Bemerkenswert überdies, dass ein Fotograf aus dem deutschen Westen dieses hauptsächlich östliche Feld bestellt. Vogel war 1989 Bundeswehr-Soldat in Niedersachsen. Als immer mehr DDR-Flüchtlinge kamen, sollte die Kaserne vielen von ihnen zunächst als erste Bleibe im Westen dienen. Die Begegnungen von damals waren prägend.

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Ein wenig beneidet man den Fotografen, dass er für sein aufwendiges Projekt all diese Menschen der „Wendezeit“ persönlich kennen lernen durfte. Um nur einige aufzuzählen: Wolf Biermann, Marianne Birthler, Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Lilo Fuchs, Katja Havemann, Roland Jahn, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Vera Lengsfeld, Markus Meckel, Matthias Platzeck, Lutz Rathenow, Friedrich Schorlemmer, Konrad Weiss. Und all die anderen. Sie hatten jeweils die Wahl des Ortes und des Ambientes, doch die Kompositionen waren Aufgabe des Fotografen. Man ahnt dieses (niemals feindselige) Widerspiel in manchem Bild.

„Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel“. Mit einem Essay von Claudia Rusch. Herausgeber: Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Archiv der DDR-Opposition). 144 Seiten, 19,80 Euro (ISBN: 978-3-938857-10-6)

Hier nochmals der Link zu sämtlichen Fotos des Bandes:
http://vogel-d.de/Frei/index.html
Ausgewählte Bilder sind verschiedentlich ausgestellt worden, u. a. in Berlin.
Am 3. Oktober 2011 (ab 19 Uhr) hält der Fotograf Dirk Vogel einen Vortrag beim Bochumer Kulturrat (Lothringer Straße 36 c) und stellt einige Bilder aus, siehe auch: http://www.kulturrat-bochum.de/index.php?id=141
Nach den Sommerferien 2012 (!) wird die Städtische Galerie Iserlohn alle 63 Porträts zeigen.

Alle Abbildungen sind dem besprochenen Band entnommen (Fotos: Dirk Vogel)




Im Nebel

Da lagen sie vor einem, die Richtungen,

himmlisch, teuflisch, weit & nah.

Es ging links ab, es ging rechts ab.

Aber es ging auch durch die Mitte.

Manches schien fern, anderes zum Greifen nah.

Wieviel Illusionen lagen im Nebel?

Manchmal sah man die Hand vor Augen nicht.

Was sah man denn überhaupt?

Es war still.

Die Dächer schwiegen,

und selbst die Geister schienen noch nicht erwacht,

aber schliefen sie überhaupt?

Was konnte man eigentlich über den Nebel sagen?

Und was konnte man über sich im Nebel sagen?

Dass man auf einen Leuchtturm hoffte?

Dass man diesen schwülen, dunstigen Regenwald satt hatte?

Auf das kleinste Geräusch hörte man.

Schon ein Lichtschimmer hätte genügt.

Ein Pfiff, ein Ruf.

Alles im Nebel.

Man konnte sich hinhocken.

Man konnte warten.

Aber wie lange wollte man warten?

Foto / Text: Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Kaffeebohnen-Leserei

Man(n) wollte es, man(n) wollte es nicht,
man(n) tat es, man(n) tat es nicht.

Derweil lagen die Bohnen auf dem Tisch.

man(n) schaute sie an, man(n) schwieg.

Es tat gut zu schweigen, nach all der Aufregung.

Ja, es war sogar notwendig.

Da waren also diese Bohnen, wie aus heiterem Himmel,

plötzlich auf den Tisch geregnet und natürlich auch gefallen.

Man(n) hatte noch den Klang in den Ohren.

Und auch der Duft war ihm wohlvertraut.

Immer mit der Nase nochmal daran, wer kennt das nicht?

Aber nun war es still.

Es hatte sich ausgeregnet.

Alles lag vor einem, ohne, dass man(n) begriffen hätte..

Man(n) möchte es trotzdem….

Und vielleicht lag sogar eine Notwendigkeit darin?

Aber wer wollte das behaupten?

Vor dem Behaupten, das Verstehen.

Aber wer legt sich schon gerne mit tausend Kaffeebohnen an?

Versuchen Sie mal 1000 Kaffeebohnen zu verstehen.

Da hat man(n) was am Hals.

So dann die Frage, ob man(n) es nicht besser lässt?

Gut, man(n) könnte auch einige einfach in ein Säckchen packen,

dann hätte man(n) einen besseren Überblick.

Aber verstünde man(n) dann mehr?

Foto / Text: Stefan Dernbach (LiteraTour)




Eine Reisende, die man nicht aufhalten kann: Vom Lichtkunstzentrum in Unna zur NRW-Kunststiftung

Ursula Sinnreich (Jahrgang 1957), der man gern den Dr. und den Prof. dem Namen voran stellt, geht nach Düsseldorf und übernimmt die Geschäftsführung der NRW-Kunststiftung, deren neuer Präsident, Dr. Fritz Behrens, sie für dieses Amt vorgeschlagen hatte. Sie verlässt das spärlich berühmte Unna, sie verlässt das wohlbekannte Lichtkunstzentrum, dessen Direktorin sie war, sie verlässt eine inhaltlich vorzügliche Aufgabe und widmet sich zukünftig dem landesweiten Geschäft. Verständlich, wenngleich bedauerlich, denn das „Zentrum für internationale Lichtkunst“ in der Kreisstadt östlich von Dortmund erlebte gerade einen Besucherandrang – und das im Jahr nach RUHR 2010, da in vergleichbaren Museen die Ströme sich wieder auf Normal-Niveau einpendeln.

Nun kann eine kleine Stadt nie mit den verlockenden Attraktionen konkurrieren, die eine Landeshauptstadt und eine landesweit operierende Institution bieten können. Viele Städte in NRW können sich völlig zu Recht „Kulturstadt“ nennen, doch neben Köln oder Düsseldorf verblasst ihr Stern alsbald zur Funzel, wenn ansehensträchtige Aufgaben in die Metropolen locken. Axel Sedlack, der jüngst pensionierte Autodidakt und rastlose Architekt einer kulturmittelstädtischen Sonderstellung Unnas, war noch die Ausnahme, er blieb ortsfest ebenso wie er für die Kulturpolitik standfest blieb. Kann sein, dass er der letzte seiner Art ist.

Sedlack betrachtet die Vorgänge von draußen, kann oder mag auch nicht mehr eingreifen. Ursula Sinnreich ist – wenn man so will – seine „Entdeckung“ für Unna gewesen. Sie wurde aus der Verantwortung für die östlichsten Beiträge zum Ruhrgebiets-Kulturhauptstadtjahr in die Leitung des Lichtkunstzentrums befördert. Und musste seit Beginn des Jahres 1 nach 2010 miterleben, wie der anhaltende Erfolg ihres einzigartigen Kellergewölbes breit zerredet wurde, wie jeder sich aufschwang, den anerkannten Leuchtturm einer ganzen Region in die Mahlwerke einer ideologisch geprägten Finanzdebatte zu parlieren.

Das hat die Frau Direktorin ganz sicher nicht gegen neue Herausforderungen resistenter gemacht.

Nun, neben dem Glück, das man ihr bei der neuen Arbeit wünschen soll, sei ein anderer, nachhaltiger Wunsch geäußert. Nämlich dass eine Nachfolge geregelt wird, die dem Lichtkunstzentrum gerecht wird, die seine Fortentwicklung und seine Bestandssicherung zum Ziel hat, die auch einmal Ideen im Kopf kreisen lässt, um sie frei nach draußen zu lassen und sie nicht bereits im Entstehen durch systemerzeugte Bedenken zerdrückt. Dieser Wunsch gilt der Lichtkunst-Leitung, dieser Wunsch gilt ebenso der behutsamen zukünftigen Leitung der Kulturarbeit im alten Unna, um sie möglichst verletzungsarm durch die Phase des finanziellen Dämmerlichts zu leiten.

(Bild: Screenshot der Internetseite des Lichtkunstzentrums)




Die norwegische Katastrophe oder: Warum der Tod von Amy Winehouse zur Randnotiz wurde

Es sollten einige Gedanken werden, über Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison, Kurt Cobain und nun Amy Winehouse, die jede und jeder nur 27 Jahre alt wurden. Und dass sie allesamt so grenzwertig gute MusikerInnen waren und wohl nur deshalb das leisten konnten, was sie so virtous beherrschten, weil sie parallel dazu das taten, was sie so frühzeitig umbrachte. So blieben sie legendär, und auch Amy Winehouse wird legendär bleiben, ob sie bei You Tube nun volltrunken auf der Bühne zu sehen ist, oder ihre Wahnsinnstimme wuchtig gegen jeden Lebensfrust ansingt.

Aber ehrlich gesagt, je länger die Anschläge in Norwegen vor drei Tagen nachbebten, desto intensiver beschatteten sie jede andere Nachricht. Ich weiß gar nicht, ob ich alle Gründe aufzählen kann, ob sie sich mir erschließen, mir überhaupt je bewusst werden kann, warum der Schatten so weit reicht. Ich will doch versuchen, mich dem ein bisschen zu nähern.

Es gab schon viele Katastrophen und menschenverursachte Anschläge, die ähnlich viele und noch mehr Menschenleben beendeten. Dennoch halte ich das nun Geschehene für bisher einmalig. Denn dieser blond-blauäugig-christliche „Schützer“ des Abendlandes, ein Mustergermane, vermutlich in der eigenen Nachbarschaft auch ein Muster-Norweger, er hat seine offenbar minutiös voraus geplanten Morde anscheinend als eine Art Marketing verstanden. Er gab eilends auf, als Polizisten ihn stellten, provozierte keinen finalen Rettungsschuss eines nervösen Beamten – was ja angesichts dessen, was auf dieser Insel geschehen war, eine verständliche Reaktion hätte sein können. Nein, Anders Behring Breivik wollte die Chance wahren, seine „Botschaft“ zu verkünden, den Menschen zu erläutern, warum er sein Handeln für unausweichlich hielt. Der Mann ist kein Amokläufer, der den eigenen Tod als Fanal und Finale der Tat mit einplant. Er fühlt sich als messianischer Verkünder einer Botschaft – in seinen Augen der Botschaft drohenden gesellschaftlichen Unheils.

Es gab schon viele menschenverursachte Taten, viele, die unmenschlich erschienen. Aber dieser Anders Behring Breivik blieb anscheinend zu jeder Sekunde dieses schrecklichen Tages kühl, voraus berechnend emotionslos. Er schaute jungen Menschen in die Augen und tötete sie mit einer Pistole, er peilte sie über die Zeileinrichtung seines Gewehrs an und sah wohl mehr oder weniger ungerührt zu, wie sie umfielen. Das ist schon eine andere Dimension als die eines Bombenanschlages, wenn auch in der grausamen Wirkung gleich. Diese Art des Anschlages setzte er nach polizeilichen Ermittlungen kurz zuvor in der Hauptstadt Oslo um, damit auch die Regierung wisse, dass sie gemeint sei. Anders Behring Breivik suchte geradezu diesen „Kontakt“, wollte keine Anonymität. Er war ja auch in seinen eigenen Augen kein Täter, sondern Botschafter, vielleicht sogar Prophet. Und die Opfer, junge Menschen, die fröhlich den Sommer im Ferienlager verbringen wollten, sie waren keine Opfer, sondern – in der kruden Fantasie des „Jägers“ – Bannerträger des Kulturmarxismus, was immer das auch sein mag.

Der Mensch als solcher hat wohl von jeher seinen jeweiligen Gesellschaften Gläubigkeit verordnet, höheren Wesen die Verantwortung für das Schicksalhafte weitergegeben, Weltanschauungen erdacht, damit erklärbar wurde, was zu den jeweiligen Zeiten noch nicht so schlüssig erklärbar schien – kurz, er schuf sich Religionen. Und weil im Laufe der Jahrtausende immer mehr und immer neue Anschauungen hinzu kamen, einige Religionen es unternahmen, missionarisch tätig zu werden, wuchs langsam aber sicher immer stärker die Angst vor dem Neuen und Unbekannten – was keineswegs auf eine Region oder eine Religion beschränkt blieb.

Und weil die jeweils missionierende Religion ihre Anschauung oder ihre Weltsicht für die einzig wahre und gültige hielt, wuchsen aus der jeweiligen Heimat und der Sicht auf die Dinge und weltlenkenden Göttlichkeiten Alleinvertretungsansprüche. Und entlang des geschichtlichen Strahls entdeckten die Alleinvertreter natürlich auch Minderheiten, vor denen man die Mitmenschen Furcht lehren konnte, die für Pest oder ähnliche zeitgenössische Bosheiten der Umwelt verantwortlich waren. Derzeit werden im westlichen Europa gern mal die Muslime haftbar gemacht…

So auch bei Anders Behring Breivik, der nach den bisherigen Erkenntnissen gern das Armageddon voraussagte, natürlich in Form anonymer, quasi vermasster islamischer Horden, die vor nichts und niemandem Halt machen. Norwegen wird zu klein für den „Ansturm“, 1,6 Prozent Muslime bei knapp fünf Millionen Einwohnern. Dabei ist gerade Norwegen in unsere Augen doch traditionell tolerant, ist als reiches Land relativ geschützt vor um sich greifendem Sozialneid, scheint durch seine ungeheure Weite eher erfreut über Zuwanderungsinteresse. Wird auch sicher alles so sein, aber es wird immer hoffähiger nicht so zu sein, ob das in Finnland, in Dänemark, Norwegen oder direkt vor unserer Türe geschieht.

„Hoffähig“ würden solche Gedanken gemacht, sagte heute Morgen jemand im WDR-Tagesgespräch. Unter anderem durch jene, „die schreiben, was sich offen auszusprechen andere nicht trauen“. Sofort fiel das Stichwort „Sarrazin“. Diese Gattung pseudowissenschaftlicher Schnellschreiber, die Millionen damit verdienen, dass sie als sehr ernst zu nehmende Persönlichkeiten und mit verfeinertem Sprachgebrauch das aussprechen, was andere nur am Tresen gut abgefüllt von sich lallen würden. Oder nicht so ernst zu nehmende Menschen wie Udo Ulfkotte es publizieren oder in den Internet-News des Kopp-Verlags von Eva Hermann verlesen lassen. Islamophobie hat Modecharakter, man kann sich eines Vokabulars bedienen, das verwissenschaftlicht klingt und kann dennoch braune Gedanken gut blondiert verkaufen.
Jedem so gestrickten Veröffentlicher sollte massiver Widerstand begegnen, eine Form Widerstand, die ihn lächerlich macht, seine gedankenlose Fehlsicht publik macht, sein Vokabular auf das reduziert, was es darstellt: grunddumme Hetze.

Das waren sie, ein paar Gedanken der schlafarmen Nacht. Amy Winehouse kam in dem Gedankenwust auch immer wieder vor. Aber sie geriet zur Randnotiz. Gleichwohl bedauere ich ihre zukünftige Abwesenheit ebenso wie die von Janis Joplin damals – lang her.

Tagespresse vom 25. Juli 2011 (Bild: Bernd Berke)




Als Brecht bei Feuchtwanger klingelte – Klaus Modicks Roman „Sunset“

Winter 1918. Der Krieg geht zu Ende, in München wird die Räterepublik ausgerufen. Das lässt auch den Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der sich bisher eher für buddhistische Weisheiten und historische Themen interessierte, nicht kalt.

Gerade arbeitet er an seinem Theaterstück „Thomas Wendt“, einem „dramatischen Roman“ über einen Künstler, der sich zum politischen Engagement bekennt und sich in die Revolution einmischt. Da klingelt es an der Hautür und ein abgerissen wirkender junger Mann mit Stoppelbart, Schiebermütze und abgewetzter Lederjacke begehrt Einlass in die Wohnung des arrivierten Schriftstellers. Er habe ein Stück geschrieben und hoffe, dass der über beste Bühnen-Kontakten verfügende Feuchtwanger in der Lage sei, eine Aufführung zu erwirken, „weil ein Stück“, so der selbstbewusste Jungdichter, „das nicht aufgeführt wird, nichts wert ist.“

Das Drama, das der freche Dichter dem älteren Kollegen auf den Schreibtisch pfeffert, trägt den Titel „Spartakus“. Ein Geniestreich, einer, der Feuchtwanger fast das Leben kostet. Denn als die konterrevolutionären Freikorps seine Wohnung plündern und das Manuskript finden, vermuten sie, nicht ganz zu Unrecht, Feuchtwanger würde mit der Räterepublik sympathisieren. Nur durch einen Zufall entgeht Feuchtwanger dem Erschießungskommando. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine, die vielleicht ein andermal etwas genauer erzählt und zu einer Novelle ausgeschmückt werden sollte.

In Klaus Modicks Roman „Sunset“ hat der süffisante Hinweis auf das lebensbedrohliche „Spartakus“-Manuskript eine andere Funktion: er soll zeigen, dass die Freundschaft, die in jenem Revolutionswinter zwischen Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht entstand und sich im Berlin der 20er genauso fortsetzte wie im kalifornischen Exil der 30er und 40er Jahre, von vornherein nicht frei war von bizarren Umgangsformen und kuriosen Streitereien. Wie sollte es auch anders sein, begegneten sich doch hier zwei Schriftsteller, die unterschiedlicher nicht sein konnten und doch zeitlebens miteinander aufs Innigste verbunden waren: Hier der bürgerliche Erfolgsautor, der mit seinen historischen Romanen gigantische Auflagen erzielte und selbst im Exil eine riesige Villa bewohnte. Dort der marxistische Intellektelle, der zwar stets viele Frauen um sich scharte, aber ständig am Hungertuch nagte und dessen Stücke in Amerika niemand spielen wollte. Ohne Feuchtwangers finanzielle Hilfe, das kann man ruhig einmal laut sagen, wäre Brecht in Hollywood vor die Hunde gegangen.

Klaus Modick weiß das natürlich alles. Schließlich hat er vor über 30 Jahren bei Hans-Albert Walter, den Mentor der Exil-Literatur-Forschung in Deutschland studiert und über Feuchtwangers Leben und Literatur promoviert. Durch die Romane Modicks spukt seither ein von Feuchtwanger inspirierter, historisch fundierter, von Aufklärung und Humanismus geprägter Erzählgestus. Eigentlich war es längst überfällig, dass Modick seinen Lieblingsautor zur Romanfigur macht. Ein schwieriges Unterfangen, musste er doch die sich in seinem Kopf angehäuften Fakten zu einer fiktiven Geschichte komponieren. Es ist ihm wunderbar gelungen.

Denn Modick verdichtet die Handlung auf einen einzigen Tag im August 1956: Feuchtwanger ist einer der letzten im kalifornischen Exil verbliebenen deutschen Dichter. Selbst die Kommunistenhysterie der McCarthy-Ära konnte ihn nicht vertreiben. Feuchtwanger ist allein in seiner „Villa Aurora“, es ist heiß, Gattin Marta macht auswärtige Besorgungen, die Sekretärin ist verreist. Da erreicht ihn ein von Johannes R. Becher geschicktes Telegramm aus Ost-Berlin: „Bertolt Brecht gestorben.“ Natürlich kann er der Einladung Bechers zum bereits am nächsten Tag angesetzten Staatsakt im Berliner Ensemble nicht nachkommen. Statt sich über den stalinistischen Kulturminister zu ärgern, erinnert sich Feuchtwanger lieber an seine Zeit mit Brecht. Wie er sich als väterlicher Freund und Ruhepol des jüngeren, aufbrausenden Kollegen empfand. Wie sie zusammen an Feuchtwangers „Warren Hastings“-Drama arbeiteten oder am „Spartakus“-Manuskript von Brecht, das unter dem Titel „Trommeln in der Nacht“ Bühnengeschichte schrieb.

Wenn der Tag zu Ende geht und die Sonne im Stillen Ozean versinkt, hat der von Magenkrämpfen gequälte Feuchtwanger nicht nur wichtige Stationen seiner Freundschaft mit Brecht abgeschritten, er hat auch eine Lebensbilanz gezogen. Modick hat dabei vieles frei erfunden. Aber eine gut erfundene Geschichte, das wusste niemand besser als Feuchtwanger, ist allemal besser als Langeweile in der Wirklichkeit.

Klaus Modick: „Sunset“. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt, 192 S., 18,95 Euro.




Soziale Miniaturen (10): Am Friedhofstor

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof (Bild: Bernd Berke)

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof (Bild: Bernd Berke)

Vier Rentnerinnen am schmiedeeisernen Tor zum Friedhof. Trautes Tratschen im Vorfeld der letzten Dinge.

Auf einmal kommt Bewegung in das Grüppchen. Schräg gegenüber, nah beim Hospiz, haben sie ein noch älteres Paar erblickt, vielleicht um die 85 Jahre. Es sind zwei, die innig zueinander gehören. Jetzt und für immerdar. Das sieht man sofort, wenn man es sehen will. Sie sind rührend umeinander bemüht. Die Erde wird ihnen daher so leicht, wie es noch irgend geht. Man mag an den Mythos von Philemon und Baucis denken. Aber diese beiden hier machen den Eindruck, als hätten sie sich erst kürzlich kennen gelernt. Etwas Neues, wie frisch Verliebtes ist in ihrem Tun, in ihrer ganzen Haltung, so gebeugt sie auch zwangsläufig sei.

Und die vier am Friedhofstor? „Ach, guckt mal da, unser Pärchen“, zischelt eine. Gelächter. Das steigert sich noch, denn eine andere ergänzt: „Unser Pärchen / wie Hans und Clärchen…“ Falscher Reim aufs Leben.




Als Heinrich Heine von den Franziskanern lernte

Mitten im Trubel der Düsseldorfer Altstadt gibt es seit etwa fünf Jahren einen sehr ungewöhnlichen Ort der Ruhe – das „Max-Haus“.

Es ist katholisches Stadthaus, Veranstaltungszentrum, Kunstgalerie, Gebetsstätte, Cafe und Konzerthaus in einem. Ungewöhnlich wirkt es nicht nur durch die Ausstrahlung, sondern vor allem durch seine preiswürdige Architektur, seine Offenheit für jedermann und seine Geschichte.

In der Nähe des früheren Hafens hatten Franziskaner auf den Resten der alten Citadelle 1661 ein Kloster errichtet, eine Kirche gebaut und ab 1695 eine Lateinschule eingerichtet, die Vorläuferin der heute noch bestehenden Max-Schule. Die Kirche war ursprünglich dem heiligen Antonius von Padua gewidmet. Als jedoch 1803 durch den Beschluss zur Säkularisation auch Kirche und Kloster abgerissen werden sollten, benannten die Mönche ihren Komplex schnell um nach dem heiligen Maximilian – dem Namenspatron des Kurfürsten. Durch diesen schmeichlerischen Trick (man ist eben in Düsseldorf) konnten die Gebäude erhalten werden, die Franziskaner gingen als Pfarrer in die Gemeinden und die Schule wurde im Sinne der französischen Besatzung als „Lyceum“ weiter betrieben.

Diese Schule nun bekam durch den späteren Dichter Heinrich Heine ein literarisches Denkmal. Der jüdische Junge hieß zu der Zeit noch Harry und besuchte die katholische Einrichtung von 1807 bis 1814. Er erinnert sich an mehreren Stellen seines Werkes, zum Beispiel in den „Reisebildern“, an diese für ihn meist angenehme Zeit, er führt einzelne Lehrer an und klagt über die Schwierigkeiten des Sprachenlernens. Im „Buch Le Grand“ schreibt er unter anderem über seine Probleme mit dem Lateinischen: „In den dumpfen Bogengängen des Franziskanerklosters, unfern der Schulstube, hing damals ein großer, gekreuzigter Christus von grauem Holze, ein wüstes Bild, das noch jetzt zuweilen durch meine Träume schreitet und mich traurig ansieht mit starren blutigen Augen – und vor diesem Bilde stand ich oft und betete: O du armer, ebenfalls gequälter Gott, wenn es dir nur irgend möglich ist, so sieh doch zu, dass ich die verba irregularia im Kopfe behalte.“ Dieses Kreuz hängt übrigens immer noch im Kreuzgang des ehemaligen Klosters.

Nachdem die Franziskaner vor drei Jahrzehnten das Kloster aufgegeben hatten, drohte es zu verfallen oder kommerziell genutzt zu werden. Weil die Düsseldorfer Katholiken und das Erzbistum Köln jedoch auf der Suche nach einem geeigneten Zentrum waren, wurde der Komplex nach einem Architektenwettbewerb renoviert und modernisiert. Der ehemalige Kreuzgang blieb erhalten, und durch ein großes quadratisches Glasdach entstand im Innenhof ein wetterfester, lichtdurchfluteter Veranstaltungsraum, der unter anderem für die „Mittwochsgespräche“, aber auch für Konzertreihen wie „Bach beflügelt“ genutzt wird. Besucher können das Haus jederzeit betreten, lesen, Kaffee trinken oder in einem „Raum der Stille“ meditieren oder beten. Außerdem gibt es im ehemaligen Kreuzgang ständig Ausstellungen verschiedener Künstler. Zur Zeit läuft noch bis zum 20. August 2011 eine Gemeinschaftsausstellung von fünf Künstlern unter dem Titel „Graffiti im Kreuzgang“. Kurator für diesen Teil des Zentrums ist der Düsseldorfer Künstler Christoph Pöggeler, dem man im Stadtbild überall begegnet: Er schuf die lebensgroßen und lebensechten Figuren, die man in der Düsseldorfer Innenstadt an vielen Stellen auf Litfasssäulen stehen sieht.

Zur Straße hin wurde die Fassade des ehemaligen Klosters unverändert gelassen. Auch das bronzene Erinnerungsschild an den berühmten Schüler Heinrich Heine hat man gelassen. Nebenbei: Weil der Umbau des Klosters zum „Katholischen Stadthaus“ so gelungen sei, hat der Düsseldorfer Architekten- und Ingenieursverein 2010 dem Max-Haus die jährliche Auszeichnung „Bauwerk des Jahres“ verliehen.

Ein Besuch in diesem Ensemble lohnt sich also, auch wenn man als Atheist oder Protestant oder sonst etwas keinen Bezug zum Katholizismus hat.




200 Jahre Franz Liszt: Biografie über einen Visionär

Franz Liszt gehörte nie ganz zu den von mir besonders hoch geschätzten oder gar geliebten Komponisten. Für mich war seine Klaviermusik, wenn ich sie gelegentlich hörte, immer wieder etwas zu sehr und leider oft genug nahezu ausschließlich mit reiner Virtuosenmusik verwechselbar.

Ziemlich früh allerdings, schon in meiner Kindheit, muss ich zumindest seinen Namen mit Hochachtung in meiner Salzburger Umgebung gehört haben. Vor allem mit den „Ungarischen Rhapsodien“, die mir in der Orchesterfassung sofort gefielen (und unter dem Dirigat Hermann Scherchens immer noch), den beiden Klavierkonzerten und dem (von heute aus gesehen) so leicht verkitschbar spielbaren „Liebestraum“ wurde ich schon früh im direkten Verbund mit Liszts Namen per Radiowunschkonzert vertraut. Dennoch: Schubert, Schumann, Brahms und auch Chopin, um von Beethoven, Mozart, Haydn und Bach, später auch von Ravel, Debussy, Szymanowski, Janáček und Bartók einmal ganz zu schweigen, bedeuteten mir von je her deutlich mehr. Und eigentlich ist das bis heute so geblieben.

Immerhin: Ich bekam mit, dass von mir sehr bewunderte Pianisten, wie z. B. Claudio Arrau und Alfred Brendel und sogar manchmal auch Wilhelm Kempff, sich immer wieder stark bis sehr stark für die Musik Franz Liszts eingesetzt haben. Und so war und bin ich bis heute dafür offen, mich eines Besseren belehren zu lassen. Ich sage mir, vielleicht tue ich der Musik Liszts ja auch Unrecht und ich habe meinen entscheidenden Zugang zu ihr nur noch nicht gefunden.

Und so kommt mir die lesenswerte Liszt-Biografie des Pianisten Jan Jiracek von Arnim gerade recht. An ihr vermochte sich nämlich zu erweisen, dass eine stärkere Annäherung nicht nur an den Menschen Franz Liszt, sondern vor allem auch an dessen eigene Kompositionen auf dem Umweg über seine Biographie auch für mich durchaus noch möglich ist. Nach der Lektüre dieses Buches werde ich mich mit weit größerem Interesse als zuvor auf die Musik Franz Liszts einlassen und habe schon gezielter damit begonnen.

Diese Liszt-Biografie ist gut proportioniert: Vier etwa gleich große, ihrerseits jeweils dreiteilige Abschnitte betreffen – zwar so nicht genannt, aber der Sache nach – die Abfolge der vier Lebensabschnitte, also von Kindheit, Jugend, Mannesjahren und beginnendem Greisenalter. Geschickt setzt das Buch, ehe es zu den Wunderkindjahren des Anfangs – vor der vielleicht alles entscheidenden Krise (S.55ff) – kommt, in einem Prolog mit den letzten Tagen Liszts bei seiner in später Versöhnung wiedergewonnenen Tochter Cosima in Bayreuth ein. Insofern geschickt, weil hier gleich zu Anfang spannend erzählt werden kann. Außerdem: Wir werden darauf eingestimmt, ein Leben, das so endet, genauer kennenlernen zu wollen.

Vom klugen Umfang des Buches her – nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig! – ahnen wir schon, dass auch dem bloßen Anschein nach nicht eine ganz umfassende und tiftelig differenzierte Biografie gegeben werden soll, sondern schlaglichtartig entfaltetete, exemplarisch thematische, lebensabschnittsbezogene bewegte Lebensbilder. In einem mit „Nachklang“ überschriebenen, das Ganze symmetrisch abrundenden, angemessen kurzen Epilog wird etwas von der vielfältigen Wirkung und Einschätzung Liszts in Zeitgenossenschaft und Nachwelt vermittelt, ehe wir uns dem aufschlussreichen, abschließenden Teil (Anmerkungen, Literaturangaben, Zeittafel, Danksagung und Bildnachweise) gegenübergestellt sehen. Auf neun umsichtig ausgewählte Bilder beschränkt sich diese Biografie, während die insgesamt zwölf Teile der vier Hauptabschnitte jeweils mit einem durchdacht ausgewählten und anregend sprechenden Zitat als Motto eröffnet werden.

Da diese Biografie erst fast am Ende der ersten Hälfte des laufenden Liszt-Jahres erschienen ist, konnte sie aus diesem Umstand eine Tugend machen: Auch im Jahr 2011 bereits erschienene Liszt-Biografien wie z. B. die von Oliver Hirmes konnten noch einbezogen werden und sei’s auch nur in Form von einigen wenigen, passenden Zitaten. So entsteht der Eindruck einer Biografie auf dem aktuellsten Stand.

Der Untertitel „Visionär und Virtuose“ macht vor allem darauf neugierig, was unter dem „Visionären“ bei Liszt wohl genau zu verstehen ist. Bei der Bezeichnung „Virtuose“ glaubt man zunächst schon relativ genau zu wissen, was das sei, und sieht sich doch alsbald mit einem kontrastierenden Vergleich Liszts mit Paganini konfrontiert, aus dem man sehr klar auch grundlegende Unterschiede zu entnehmen vermag. Der Biograf lässt dabei in einem sich über fünf Seiten erstreckenden Nekrologszitat Liszt selber zu Worte kommen, wodurch man aus erster Hand erfährt, wie sich Liszt – in diesem seinen Nachruf auf Paganini – selbst als Virtuose von dem um eine Generation älteren und dennoch ihm lange Zeit gleichzeitigen Geigenvirtuosen in Form einer Vision „von einer besseren Kunst“ abgegrenzt hat (S.83).

Mir war der Text neu; ob er schon in anderen Biografien vollständig zitiert worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Auch andere bei Jan Jiracek von Arnim ausführlicher zitierte Stellen von Liszt selber und auch anderer Gewährsleute sind mir durchgängig unbekannt gewesen, so dass ich nicht darüber böse sein kann, dass auch sie ausführlich zitiert worden sind. Hieraus folgt, dass als Einstieg in die Lebensgeschichte und in den Umkreis der Künstlereigentümlichkeiten und -fähigkeiten von Franz Liszt diese sehr gute und ansprechende Biografie bestens geeignet ist. Sie versammelt leicht überschaubar die vielfältigsten Informationen, bietet eine vorzügliche Kenntnis- und Verstehensgrundlage und ist geeignet, den Weg zu Spezialuntersuchungen und Binnendifferenzierungen nicht etwa zu verbauen, sondern umgekehrt ein Interesse daran anzuregen und wachzuhalten. So wird zwar Liszts reiches Liedschaffen (anders als so viele andere Teile des Gesamtwerkes, etwa seine geistliche Musik) nicht einmal erwähnt, die eigene mögliche Beschäftigung damit aber geradezu freigehalten. Unerlässliches kommt unabdingbar vor; dennoch a t m e t von Arnims Biografie erkennbar, sie bleibt für Ergänzungen beständig offen.

Von den V i s i o n e n Franz Liszts ist im Verlauf der Biografie mehrfach und vielfältig die Rede, so dass der Titel-Ausdruck „Visionär“ auch im Buch selbst wegen seiner gezielten Vieldeutigkeit nicht ganz ohne Geheimnis bleibt. Um eine nicht bloß virtuose Kunst à la Paganini ist es Liszt in seiner Vision von 1840 zu tun gewesen, so oft er auch zumindest von Zeitgenossen als ein „Paganini des Klaviers“ aprostrophiert worden sein mag. Als er 1848 nach Weimar ging, um die Stelle als Hofkapellmeister zu übernehmen, träumte er gelegentlich (S. 167) von einem 2. Weimar der Musik, das auf das 1. Weimar der sozusagen „Johann Wolfgang Goetheschen Kunst-Periode“ (Heine) folgen sollte: „Weimar schien wie eine weiße Leinwand zu sein, auf die Liszt nun seine Visionen zeichnen konnte.“ (a.a.O., S.152) Mehr und mehr scheitert er damit. (S.164) Auch in einer späteren Lebensphase in den 60er-Jahren in Rom scheitert er mit einer anderen Vision: „In Rom wurden Franz Liszts geistliche Werke kaum aufgeführt. Seine Vision, mit neuer religiöser Musik Kirche und Gesellschaft zusammenzuführen, war gescheitert.“ (S.186)

Liszts Leben ist geprägt vom Gelingen, vom oft triumphalen Gelingen, aber auch das Gefühl, das Bewusstsein, gescheitert zu sein, ist ihm durchaus vertraut. Über seiner Biografie könnte stehen, was Hans Mayer einmal als Untertitel über ein Goethe-Buch gesetzt hat: „Versuch über den Erfolg“.

Ungeschaute, nicht projektierbare Visionen Franz Liszts hingegen werden später gelingen. So schreibt Jan Jiracek von Arnim im Anschluss an seine Charakterisierung des Lisztschen Klavierstücks „N u a g e s g r i s von 1881“: „Hier wird bereits der Weg Richtung Schönberg und Webern gewiesen.“ (S.194).

Orte wie Raiding, Wien, Paris, London, Pest, Gut Woronińce, Weimar und Rom, aber schließlich auch Bayreuth werden biografisch ins Licht gerückt, ebenfalls die (von der Mutter mal abgesehen) drei entscheidenden Frauen seines Lebens, die vielen fruchtbaren, auch kontrastbildenden Begegnungen mit Zeitgenossen verschiedener Länder Europas. Wie viele waren doch darunter, die ich aus anderen Zusammenhängen (literarischen, philosophischen, generell künstlerischen) bereits ein wenig kannte und nun mit anderen Facetten durch diese Biografie neu kennenlernen durfte!

Ich nenne zwei entlegenere Beispiele: Unter der Abbildung „Liszt im zwanzigsten Jahr“ auf S.54 stehen Verse von Moritz Gottlieb Saphir, der seinerzeit sehr bekannt war, dessen Namen im Personenregister aber nicht auftaucht. Dieser Zusammenhang spornt mich geradezu zu weiteren Erkundungen an. Zweitens: die Tochter Marie, die die Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein aus der Ukraine nach Weimar mitgebracht hatte, ist alsbald verheiratete Prinzessin von Sayn-Wittgenstein-Hohenlohe. Bei diesem Namen wurde ich gleich hellhörig. In der Tat, sie ist dieselbe, die später im Briefwechsel mit dem Schriftsteller Ferdinand von Saar stand.

Bewundernswert, wie der Biograf seine eigenen (beachtlichen!) pianistischen Fähigkeiten nicht in die Waagschale wirft. Nur einmal im „Nachklang“ des „Epilogs“ erwähnt er wie nebenbei, dass auch er praktisch-konkrete Erfahrungen mit Werken von Franz Liszt hat, dass er nämlich „ein Werk wie Vallée d’Obermann aus seinen Wanderjahren spiele“ (S.199). Ebenso fällt auf, dass er auch keine anderen zeitgenössischen Interpreten, die heutzutage besonders mit ihrem Liszt-Spiel hervortreten oder bereits hervorgetreten sind, anführt, geschweige denn namentlich erwähnt. (Auch nicht in einer als denkbare Ergänzung zum Hauptteil eben nicht vorhandenen Referenzliste von Liszt-Einspielungen.)

Er lässt uns im Anschluss an seine Biografie entschieden unseren je eigenen Weg zur Musik Franz Liszts suchen. Er scheint sich zwischen den Zeilen ziemlich sicher zu sein, dass sich seine Leser… spätestens jetzt auf diesen Weg machen werden. In meinem Falle hat er sich dabei nicht getäuscht. Als erstes werde ich mich jetzt den Liedern (und Melodramen) Franz Liszts zuwenden, um nach und nach, deutlich gestärkt durch diese mich erfreulich anregende Biografie, meinen eigenen Weg zu Liszt zu finden.

Jan Jiracek von Arnim: Franz Liszt. Visionär und Virtuose. Eine Biografie. Residenz Verlag, St. Pölten – Salzburg 2011. 232 Seiten, 21,90 Euro.




Georg Stefan Troller: „Tagebuch mit Menschen“

„Tagebuch mit Menschen“ –

unvergessen ein Artikel in einem der deutschen Eliteblätter – sei es nun
FAZ oder SZ oder, oder … zum „Buch der Tagebücher“,
also zum Tagebuch überhaupt.

Wofür braucht der Leser ein Tagebuch,
wofür möchte er darin lesen?

Private Schnulzenschau, oder darf es doch etwas mehr sein?

Dann irgendwie glitt der Autor ab in einen Rundumschlag,
warum auch immer.
Ach, diese Tagebücher, diese Rotzerei, dieses ewige Zurschaustellen.

An der Stelle mochte ich dem Journalisten nicht mehr folgen,
war er wohl Opfer seiner angedachten, phantasierten,
verinnerlichten Vorstellung von Objektivität geworden.

Vielleicht hatte er auch für jenen Artikel, dem das „Buch der Tagebücher“
zugrunde lag, sich mit einer Auswahl beschäftigen müssen,
die ihn einfach nicht begeisterte.

Vielleicht war er aber auch ein nicht begeisterungsfähiger Mensch?

Diesen Eindruck kann man häufig bei Journalisten antreffen.
Warum das so ist, bleibt zunächst dahin gestellt.

Ich erinnerte mich an das „Tagebuch mit Menschen“ – also
Georg Stefan Trollers Buch „Personenbeschreibung“ –
welches man durchaus als Sternstunde des deutschsprachigen
Journalismus bezeichnen kann und es auch tun sollte.

So wohltuend sich abhebend von journalistischer Überheblichkeit,
von den alltäglich niedergeschriebenen Gedankenfürzen
bis hin zu intellektuellen Akrobatiken,
denen kaum ein Mensch noch folgen kann, noch will,
außer der Journalist selbst,
der einen hohen Wert auf Selbstbefriedigung legt.

Bei Troller ticken die Uhren anders, weil sie in seinem Leben
schon immer anders getickt haben,
als es der Mainstream hergibt, verlangt, predigt und feiert.

Aufgrund biografischer Erfahrungen mit deutscher Überheblichkeit
und Arroganz, ihnen gegenüber kritisch eingestellt und sich dennoch dem
deutschsprachigem Raum heimatlich verbunden gefühlt,
hatte er, hat er Vergleichswerte, die der gemeine Journalist
so in der Regel nicht hat.
Und das merkt man beim Lesen…

Hier also – in seinen Personenbeschreibungen zu finden –
eine Art Zusammenfließen von subjektiven und objektiven
Wahrnehmungen, die miteinander auf vielfältige Art und Weise
verbunden werden,
also eben nicht jene gern praktizierte Aufspaltung
zwischen Individualität und scheinbar objektivierbaren Fakten,
die der Darstellung komplizierter, komplexer Vorgänge nicht würdig ist.

Da der Durchschnittsjournalismus,​ der bis in höchsten Etagen reicht,
mit einer zweifelhaften Geistes- und Fingerfertigkeit solche Probleme
im Handumdrehen erledigt, ist die Lektüre von Georg Stefan Troller
eine wohltuende Abwechslung, kurativ, aber eben keine leichte Kost.
Dennoch nie unterschlagend, mit einer guten Prise Humor versehen,
inklusive Selbstironie, eine erhellende wie erheiternde Reise
durch ein reichhaltiges Leben.

So musste man eben entdecken wollen,
dann würde man auch entdecken…

Und an manchen Stellen dieser Reise würde man einfach
nur schweigen, weil das Dargestellte es so verlangt.

Aber dieser Forderung nachzukommen, erscheint in heutigen Zeiten
ungefähr so unmöglich, wie die Abschaffung des Privatfernsehens,
sofern es sich nicht selbst abschafft,
indem es immer mehr Verrückte produziert,
die eben nicht ihre Klappe halten können,
sondern sich berufen fühlen und vor allem berufen werden,
sich öffentlich – und das alltäglich – auszukotzen,
ohne kurativen Wert.

So dann auch die Frage an die vermeintlich Intellektuellen gestellt,
was sie gedenken zu tun,
angesichts dieser Lage, die man ohne zu übertreiben als
dramatisch bezeichnen darf, aber eben auf eine andere Art als
schon bekannt.

Man müsste also hineingehen ins Desaster, was nie schön ist.
Aber genau da gehört der Journalist hin,
wenn er oder sie – Aussagekraft entwickeln möchte.
An dieser Wegkreuzung kann sich kein Journalist vorbeimogeln,
ohne Schaden zu nehmen und Schaden zu verursachen.

Foto / Text: Stefan Dernbach ( LiteraTour )

http://www.stefandernbach.​kulturserver-nrw.de/




Soziale Miniaturen (9): Pornosammler

Sein Spitzname klingt so ähnlich wie „platsch!“ Als würde da jemand steinschwer ins Wasser plumpsen. Unrettbar und doch irgendwie brunzlustig.

Einem wie ihm gibt man früher oder später einen solchen Spitznamen. Er gehört zu jenen, die wohl nie mit einer Frau leben werden. Schwul ist er wahrscheinlich nicht, sondern ein manischer Onanist. Ein bekennender. Nein, ein herausprustender.

Mag sein, dass man ihn früher einen „Hagestolz“ genannt hätte. Obwohl man sich einen solchen eher mager und ausgedörrt vorstellt. Er hingegen ist füllig, früh aus jeder Form geraten. Wie wird er altern? Wie ist er als Kind gewesen?

Es ist schon einige Jahre her. Lange bevor das Internet in alle Öffnungen eingedrungen ist, hat er eine Sammlung von Pornoheften und Filmchen aufgehäuft – offenbar zimmerfüllend, wenn man seinen verdrucksten Andeutungen glaubt. Alles auf Wachstum angelegt, auch deshalb kläglich gesellschaftskonform. Auf der Arbeit spricht er tagtäglich davon. Schnubbelnd. Anders kann man das ebenso stolze wie verlegene Gegluckse kaum nennen.

Da er mit seiner Hilfstätigkeit erbärmlich wenig verdient, muss er einen wesentlichen Anteil seines Lohnes dafür aufbringen. Ein armer Teufel.

Die Kollegen feixen. Klopfen ihm gönnerhaft auf die Schulter. Mensch, du bist ja einer! Dann sagt er immer seine Formel, die alle von ihm hören wollen: „Hauptsache gemütlich!“

Da wird noch einmal final abgelacht.

Man kann ihm nicht böse sein. Man kann ihn nicht für voll nehmen. Man wendet sich sehr schnell anderen Themen zu.




Wege zur Musik: „The Feelies“

„Was wird das denn jetzt?“ Wohl an kaum eine zweite Situation, in der mir mein musikalischer Ziehvater eine Schallplatte vorstellte, kann ich mich genauer erinnern, als eben jene, in der er „The Feelies-Crazy Rhythms“ aus der Reihe zog.

Er hatte kein Regal, ging jedoch seit jeher äußerst pfleglich mit seiner Woche um Woche um fünf Scheiben (mindestens) wachsenden Sammlung um. Mit 16 Jahren hatte er es damit schon auf gut eineinhalb Meter Musik gebracht, und sein Spektrum war klar definiert. Wir kannten uns erst ein paar Monate, es war die Zeit von Dischord, Rough Trade und SST, noch lang kein Nirvana in Sicht, obgleich das Album „Bleach“ auf dem Markt  war und natürlich schon seinen Platz in Mikes Reihe hatte. Da waren die „Minutemen“ und die neuformierten „fIREHOSE“, da waren auch Jugendsünden wie „Die Kreuzen“, doch über „NoMeansNo“, „The Descendents“, „The Silos“ reichte es hinüber bis zu den „Fellow Travellers“. Alles interessant und für einen Jungspund wie ihn erstaunlich stilsicher. Ich selbst war immer musikinteressiert, doch wusste lang nicht wohin, so war meine Herangehensweise eher die eines Geschichtsstudenten…Beatles, Cat Stevens, auch Melanie…

Doch geht es hier nicht um Namedropping, es geht zunächst um diesen Moment, als er wie üblich die Platte samt Cover aus der mit der Öffnung nach hinten zeigenden Schutzhülle, dann die eigentliche Platte aus dem Cover nahm, welches er mir zur genaueren Betrachtung reichte und den Tonträger selbst sorgsam auf den Drehteller legte…

Das Cover, vier Nerds, für die der Begriff noch nicht gefunden war, nachkoloriert wie eine Postkarte aus Reit im Winkl die im Rathauscafé hing… „Was wird das jetzt?“

Der einzig halbwegs stimmige Vergleich in Sachen Schallplatte, der mir einfällt: „Pat Boone-40 greatest hits“ und der Song „Speedy Gonzales“, den ich meinem leiblichen Vater verdanke, da war ich 5 oder 6 Jahre alt. Und das einzig zutreffende Adjektiv lautet schrill. Und dann: Euphorie!

Denn was kam, das war ein formvollendetes Arrangement, wie ich es noch nie gehört hatte, woher auch? Ein dermaßen hibbeliger Sound, Percussions, die an Stellen der Hirnrinde anschlugen, die ich vorher nicht kannte, ein sich überlagenderer Gesang, der mich willfährig zu abnormen Bewegungen zwang, zwischen Spasmen und Eurythmie, nah am epileptischen Anfall.

„Was es wurde?“: „Loveless Love“ – und eine nicht endend wollende Odysse über Flohmärkte.

Auf den Gedanken zu fragen, ob es noch mehr Musik von denen gab, kam ich erst gar nicht, denn diese Erweckung war Erfüllung zugleich.

Doch Mike war ein guter Ziehvater und nach geraumer Zeit machte er mich vertraut mit „The Good Earth“ und „Only Life“. Eine Ernüchterung, doch wohl vorbereitet, ich hatte mir inzwischen etwas an theoretischem Unterbau angeeignet, und für zärtlicheren Wahnsinn mein Ohr geöffnet bekommen. Punk Rock muss nicht verzerrt sein, das Tempo nicht immer furioso (was schließlich für mein heutiges Dafürhalten die zentrale Aussage der „Crazy Rhythms“ darstellt).

Wer mit den Feelies vertraut ist, kann meine Vermutung, die Jungs hätten sich mit ihrem Debutalbum die Hörner aber sowas von ordentlich abgestossen, dass sie es fortan etwas ruhiger angehen mussten, hoffentlich nachvollziehen und eventuell bestätigen, auch wenn das grandiose side-project „Yung-Wu“ Argumente liefert, dies zu wiederlegen. Da kommen sie wieder, die sägende Gitarre, die klackenden Percussions, die man eher im Rumba gewohnt ist, der zersetzende Heulgesang – doch eben gereifter, elegischer.

Mike und Ich haben eine ähnlich lange Pause hinter uns. Vor ziemlich genau 19 Jahren haben wir zuletzt auf mehr oder minder ernstzunehmende Weise zusammen musiziert, unsere Wege führten zwar noch bis vor kurzem Parallelen, doch die Verlockungen der Großstadt mit der einhergehenden Problematik, dort einen vernünftigen Proberaum zu finden, ließen es nicht zu, weiter an eigenen Beiträgen zur Musikgeschichte etc. etc. PP

Aber man trifft sich. Und das Interesse ist geblieben. Und so war mein „Ach was!“ ein durchwegs positives, als er mir unlängst steckte, in ein paar Tagen stehe sie im freien Verkauf, und er sei schon bei VoPo Records gewesen (Berlin, Danziger Str.), und ja, dort würde er sie bekommen… Und so war ich doch sehr gespannt, auf die vor knapp einem Monat herausgebrachte vierte Scheibe von „the feelies“.

Dank Internet und den einschlägigen Plattformen konnte ich mir http://www.bar-none.com/the-feelies.html zur Probe anhören… Haben will ich sie, sowieso, doch konnte ich meine Ungeduld beruhigen, denn hier in Augsburg schlugen alle Versuche fehl, die Platte beim Fachhändler zu erstehen. Bestellen werde ich sie nicht. Ich möchte sie auf den Ladentisch legen, bar bezahlen, auf dem Weg nach Hause kurz in einem Café halt machen, schön schattig, die Platte in einer knisternden Plastiktasche mit beiden Händen sichernd einen Pernod genießen..und zur blauen Stunde dann das gute Stück von vorn bis zum letzten Ton auskosten…ein schöner Grund, mal wieder an die Spree zu reisen. Ist eine Prozession das Gegenteil einer Rezession? Ich freu mich drauf!

(Bild: Cover des Feelies-Debütalbums „Crazy Rhythms“)




Wie Erinnerungen anderer uns in den Spiegel blicken lassen

Gestern habe ich endlich einmal auf einen Sitz Hans Keilsons, des unlängst im Alter von 101 Jahren Verstorbenen, „Erinnerungen“ gelesen, die kürzlich unter dem Titel „Da steht mein Haus“ bei S. Fischer erschienen sind. Ein schmaler, gut lesbarer Band mit einem abschließenden, sinnvoll beigefügten Gespräch zwischen dem Autor und dem Herausgeber Heinrich Detering.

Wenn es hier bei unseren Texten jeweils und grundsätzlich um ausgewiesene Ruhrgebietsnähe ginge (aber um die geht es generell ja gar nicht, da wir für unsere Texte als ohnehin im Ruhrrevier Schreibende keine derartigen Aufhänger benötigen), ließe sich ein Anknüpfungspunkt auch dieser Art bei Keilson unschwer finden. Auf Seite 93, zu Beginn des 19. Kapitels, ist zu lesen: „In Rekken erlebte ich die ersten Luftangriffe auf das benachbarte Ruhrgebiet.“ Aber ansonsten ist vom Ruhrgebiet nirgends mehr deutlich die Rede.

Doch mich hier beschäftigt ohnehin anderes. Mir ist in diesen behutsam und hellsichtig geschriebenen Erinnerungen, die Unangenehmes und Schlimmstes nicht verschweigen, aber auch um die Fehl- und Verführbarkeit von uns Menschen wissen, wieder einmal aufgefallen, wie sehr ich mich doch in solchen Erinnerungsbüchern immer auch vergleichend mitlese: Die eigene Geschichte und Vorgeschichte wird immer wieder copräsent, mitgegenwärtig, in der Lektüre vom Leben vermeintlich ganz anderer, uns zunächst fremder Menschen. Und es stimmt schon: vor allem drei Generationen, die eigene und die Eltern- und die Großeltern-Generation, spielen bei diesen hinzutretenden Lese-Spiegelungen eine ganz beträchtliche Rolle, also die Privatgeschichte und die große allgemeine Geschichte der letzten 100 Jahre in ihrem zu Recht kaum aufdröselbarem Verbund.

Biographien, Autobiographien, Erinnerungen, Briefe, Tagebücher haben für uns Leser… immer auch diese Funktion, unsere eigenen Erinnerungen vergleichend wachzurufen, und je älter wir werden, umso mehr. Und doch, wenn solche Erinnerungsbücher nicht sprachlich gut und menschlich ansprechend geschrieben sind, interessieren sie zumindest mich nicht, lese ich sie nicht weiter, mögen sie noch so viele faktisch interessante Details enthalten. Ich bin zum Glück kein Soziologe oder Historiker, der sich manchmal auch durch Wust hindurcharbeiten müsste; ich kann mir meine Lektüren aussuchen. Und zum Glück gibt es so gut geschriebene wie die von Hans Keilson eben auch.

Hans Keilson: „Da steht mein Haus“. S. Fischer Verlag. 141 Seiten. 16,95 Euro




Monegassische Hochzeiten

Briefmarken, Fußball und Skat als Einbürgerungshilfen eines Ösi im Revier

Den Übergang vom Ösi zum Wösi (damals hieß das noch nicht so) schaffte ich mit 10 bei den etwa Gleichaltrigen durch das Fußballspielen, das ich im Essener Norden auf der Bleiche hinter unserem Kruppschen Wohnblock spielerisch lernte – und auf den abgeteilten Wiesen hinter den Häusern gegenüber, sowie auf unserer kaum befahrenen Sackgasse zwischen diesen Häusern, der Heegstraße nämlich, die heute zu einem großen Teil der in den 70er Jahren neuen Straßenführung von Essen nach Bottrop zum Opfer gefallen ist, und mit ihr die Häuser natürlich auch. Wenn wir heute mit dem Auto von Bottrop nach Essen fahren, fahren wir gleichsam durch unser Schlafzimmer. Virtuell natürlich. Aber wer weiß noch davon?

Skatspielen war auch wichtig. Das lernte ich ebenfalls mit 10 und durfte sehr bald (welch hohe, welch wirkliche Auszeichnung!) mit den alten Kruppianern und staublungigen Bergleuten, Rentnern und Frührentnern also, nach Herzenslust mitspielen. Und zwar immer bei uns, in der von meinem Opa, dem aus Ostpreußen stammenden und ebenfalls und maßgeblich Skat mitspielenden ehemaligen Walzwerker, gezimmerten Laube, die vordem ein Hühnerstall war. Da ging’s hoch her! Und auch meine Einbürgerung bei den Erwachsenen war hierdurch gelungen.

Als Konstante hatte ich meine Briefmarkensammelleidenschaft aus Salzburg mitgebracht. Damals sammelten noch viele Kinder und Jugendliche und Erwachsene Briefmarken. Und so gab es auch hier Anknüpfungspunkte und Übergangshilfen. Naheliegenderweise sammelte ich schwerpunktmäßig österreichische und deutsche Marken; lernte dadurch viel Geschichte, Erdkunde und vieles andere Wissenswerte kennen; sammelte aber auch Motivmarken aus dem Bereich vor allem der Tier- und Pflanzenwelt und des Sportes; nachdem ich zuvor eine ganze Zeit lang alle Briefmarken, die mir irgendwie in die Finger gekommen waren, also gestempelte und ungestempelte, geschnittene und gezackte, dreieckige und viereckige, aus welchem Land und aus welcher Zeit auch immer, in meine Sammlung einbezogen hatte.

Als ich vor einigen Tagen nun aus den Fernsehnachrichten, da bildbegleitet, wie nebenbei erfuhr, dass bei der aktuellen Fürstenhochzeit in Monaco ein Block Briefmarken mit dem neuvermählten Paar herausgegeben würde, fühlte ich mich sofort an meine einstige Sammelleidenschaft erinnert. Ich holte seit langem mal wieder meine alten Briefmarkenalben heraus und stieß gezielt auf meine monegassischen Marken der 50er-Jahre. Die drei Marken mit der Einzelansicht des Fürsten Rainier III fielen mir gleich ins Auge, auch die monegassischen Marken zu den Olympischen Spielen von Helsinki 1952 usf., vor allem aber, die fünf Briefmarken, die ich eigentlich gesucht hatte: die Marken mit dem damals Schlagzeilen beherrschenden Hochzeitspaar vom 19. April 1956. Dennoch war und bleibt das Jahr 1956 in meinem Gedächtnis vor allem das Jahr des am Radio von mir bewusst mitbekommenen Ungarnaufstandes und der fast gleichzeitigen Suezkrise, von der ich nur ein wenig zeitversetzt – in wieder aufgeweckter Erinnerung daran – ägyptische Briefmarken mein eigen nennen durfte.




Er ist wieder da!

Er hat anscheinend einen anderen Tagesrhythmus gewählt. Morgens fehlt er dem gewohnten Bild im Streckenabschnitt Hagen – Unna des RE 7 nach Rheine. Wie er missmutig dreischauend, angestrengt schnaubend, hypertonisch roten Kopfes Zug auf Zug ab marschierte und die Sitzplätze oder Müllbehälter nach Leergut absuchte. Wenn er fündig wurde, befüllte der Mittfünfziger (grobe Schätzung) sorgsam seine Kunstleder-Aktentasche, deren Design für ein Aktentaschen-Methusalem-Alter sprach, denn so eine hatte ich auch mal, als ich noch zur Schule radelte.

Nun, er war eine Zeit verschwunden, machte seine Runde nicht mehr im Zug. Traf in Schwerte nicht mehr seinen Bekannten, der gleichgesinnt durch die Abteile stöberte und sammelte. Bis vergangenen Freitag, als wir uns im Nachmittagsverkehr des RE 7 Richtung Hagen wiedertrafen. Das hypertonische Rot war keineswegs gewichen, immer noch dieselbe langdienende Aktentasche, auch schaute er nicht wohlgelaunt in die Runde. Nur eine Änderung: Er hat ein Depot geschaffen, einen Bierflaschenträger in einem Abteil installiert, darin die gläsernen Fundstücke gut aufgehoben werden können.

Wir stiegen beide in Hagen aus dem Zug. Er trug den Bierkasten und die prall gefüllte Aktentasche zur nächstgelegenen Verkaufsstelle, dass das Pfand eingetauscht werde.

Gut zu wissen, dass vieles Bestand hat, dass sich nur die Rhythmen ändern. Ich wünsche ihm noch ganz viel Pfand und noch mehr sei ihm Freude gewünscht.




Entnazifizierung im Revier: „Darum war ich in der Partei“

Über die Befreiung des Ruhrgebiets vom Nationalsozialismus durch alliierte Truppen habe ich hier vor einiger Zeit einige Hintergründe dargelegt. Nun soll es um die Entnazifizierung nach 1945 gehen.

Wenn die Amerikaner und ihre Verbündeten eine Stadt oder Gemeinde befreit hatten, dann setzten sie in der Regel sofort einen unbelasteten Bürgermeister ein. Manchmal brachten sie ihn sogar mit. Gleichzeitig hatten sie genaue Vorstellungen über die geplante „Denazification“. Noch vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht hatten die Besatzungsmächte am 25. April dazu eine Direktive erlassen, die vor Ort durch provisorisch eingerichtete Behörden und den Militärkommandanten umgesetzt wurde. In der britischen Zone, zu der auch das Ruhrgebiet gehörte, arbeitete die Besatzungsmacht mit einem Skalensystem von 1 bis 5. Die Kategorien 1 und 2 landeten vor Spruchgerichten. Dazu gehörten insbesondere Angehörige der verbrecherischen NS-Organisationen wie SS, Waffen-SS und des SD. Später kam die Unterscheidung zwischen A und B hinzu, nach welchen Kriterien Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, aber auch aus „finanziellen Unternehmen“ vorzunehmen seien. Wer unter A fiel, gehörte zu den „zwangsweise zu entlassenden Personen“. Solche Listen gab es wenige Wochen nach Kriegsende auch für Journalisten.

Wie das im Revier praktisch ablief, zeigen die Erlasse des Regierungspräsidenten in Arnsberg. Am 3. Juni 1945 verlangt er, dass sich die noch vorhandenen Mitglieder der Ortsgruppenstäbe der aufgelösten NSDAP „unter Aufsicht zu versammeln“ haben. An Ort und Stelle musste dann eine Liste aller ehemaligen männlichen und weiblichen Mitglieder der NSDAP in der jeweiligen Gemeinde angefertigt werden. Die beteiligten Funktionäre mussten eine eidesstattliche Erklärung abgeben, außerdem waren die Parteimitglieder nach dem Grund ihres Eintritts in die NSDAP zu befragen. Am 15. Juni seien die Listen abzugeben, eine Abschrift erhielt der Militärkommandant, bei wahrheitswidrigen Angaben drohte „strengste Bestrafung“.

Für das damalige Amt Milspe-Voerde – heute das Gebiet der Stadt Ennepetal – sind im Stadtarchiv diese Listen der einzelnen Ortsgruppen, nach Zellen geordnet, erhalten geblieben. Daraus ergibt sich zum einen, wie stark die Bevölkerung mit Funktionären der NSDAP und ihrer Gliederungen durchsetzt war, und zum anderen, wie feige die Menschen nach der Befreiung mit ihrer persönlichen Geschichte umgingen. Als Gründe für den Parteieintritt am häufigsten genannt wurden: Zwang der Behörden, Überredung durch die eigenen Kinder, Übernahme durch den BDM, wegen der Arbeitsstelle, wegen langjähriger Erwerbslosigkeit, Überredung durch die Frauenschaftsleiterin, aus taktischen Gründen (sehr oft genannt), wegen Aufforderung durch den Ortsgruppenleiter, um den Ehemann vor Angriffen seitens der Partei zu schützen, weil man es für einen guten Zweck hielt, um eine sichere Existenz zu bekommen, aus geschäftlichen Gründen, um im Beruf zu bleiben, weil man ohne Wissen übernommen worden sei.

Seltener werden die Gründe genannt, die wahrscheinlich für die meisten ehemaligen Parteimitglieder eher zutrafen: aus politischer Dummheit (mehrfach genannt), aus Überzeugung (nur wenige Nennungen), weil man Fanatiker war oder einfach „aus Dummheit“.
Einige Befragte machten auch persönliche Angaben: Ein Gastwirt sei nur eingetreten, um eine Konzession zu bekommen, ein anderer war Blockwart und eingetreten, „um meine Familie zu schützen“, ein dritter war körperbehindert und fühlte sich gezwungen, der Partei beizutreten, ein vierter sei „nur auf Anordnung des Dienstvorgesetzten“ beigetreten. Ein Unternehmer schrieb: „Weil ich im Anfang die Sache für gut und ehrlich hielt.“

Wie man sieht, wurde in den meisten Fällen der Parteieintritt als unausweichlich dargestellt. Einige ehemalige NSDAP-Mitglieder versuchten in dieser Befragung sogar, einen angeblichen Austritt zu konstruieren. Ein Unternehmer aus Gevelsberg schrieb, er sei im August 1944 aus der Partei ausgetreten, und das habe er auch in einem Schreiben am 10. Mai 1945 dem Herrn Amtsbürgermeister mitgeteilt. Zu dem Zeitpunkt war das Ruhrgebiet jedoch bereits mehrere Wochen besetzt, und das Deutsche Reich hatte am 8. Mai bedingungslos kapituliert.

Warum sich zahlreiche Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch engagierte Christen dem verbrecherischen Regime widersetzten und dafür Verfolgung und Tod in Kauf nahmen, die meisten Bürger der Hitler-Partei jedoch mit Überzeugung nachrannten, das bleibt ein großes Rätsel. Wenn man den persönlichen Notizen im Ennepetaler Stadtarchiv glaubt, dann waren es überwiegend sehr egoistische Motive – ohne Rücksicht auf die angekündigten Opfer.

Feierstunde zur Gründung der Stadt Ennepetal 1949




Soziale Miniaturen (8): Geschlossene Abteilung

Sie haben J. in die „Geschlossene“ eingewiesen, denn er ist mehrmals aus dem Altenheim geflüchtet. Die Polizei musste ihn jeweils einfangen. Wie schnell dann solch eine Einweisung geht.

Er gehört hier ganz offenkundig nicht hin. Ringsherum die schweren „Fälle“, stundenlang in endlos wiederholten Bewegungen kreisend. Ob ihnen noch zu helfen wäre? Das übersteigt nicht nur den Laienverstand.

Mit J. ist man schlichtweg „nicht fertig geworden“, wie es schon bei widerspenstigen Kindern heißt. Er beharrt auf seinen Rechten. Er will hier raus. Er schreibt Briefe an Behörden, „Eingaben“, mit sorgfältig ausgeschnittenen Pressezitaten gespickt. Er droht, dem „Focus“ das brisante Material zuzuspielen. Manchmal redet er krauses Zeug, das sich nicht erschließt, doch dann ist er wieder ganz und gar zugänglich und zugewandt. Ein Irrer ist er nicht, schon gar nicht gemeingefährlich.

Als der leitende Arzt über den Flur stolziert, macht J. seine Scherze über diesen „Cowboy“. Ja, so nenne man den. Und tatsächlich scheint es, als könnte der jederzeit den Colt ziehen und gegen die Verrückten richten. Der lässt sich nicht reinreden. Von niemandem. Der regiert seine eigene Welt, ein geschlossenes System. Er ist der mächtigste Insasse.




Kriegsende an der Ruhr: Bei Hattingen gab es „Friendly Fire“

Immer im Mai wird in Deutschland an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. Im Ruhrgebiet erlebten die Menschen diese Befreiung, die es ja objektiv war, in den Wochen von Anfang bis zum 18. April, als die im sogenannten Ruhrkessel eingeschlossenen Soldaten der Wehrmacht kapitulierten. An einige Details dieser Militäraktionen soll hier erinnert werden.

Für die alliierten Truppen bedeutete die Stadtlandschaft Ruhrgebiet eine gefährliche Herausforderung. Deshalb näherten sie sich mit ihren Panzerverbänden von mehreren Seiten. Bereits am 3. März 1945 hatten deutsche Soldaten die Rheinbrücken in Düsseldorf gesprengt, andere Übergänge folgten. Bei Wesel gelang es britischen und amerikanischen Pioniereinheiten am 23. und 24. März, den Rhein zu überqueren. Nacheinander werden die Städte Dorsten, Dülmen und Hamm befreit. Gleichzeitig näherten sich von Süden durch das Sauerland und das Bergische Land Verbände in Richtung Ruhr. Am 2. April hatten sich bei Siegen die von Norden kommende 2. US-Division und die aus Süden kommende 3. Division getroffen, so dass der geplante Kessel großräumig geschlossen und zugezogen werden konnte.

Bis zum 11. April zogen die südlichen Truppen der Alliierten etwa der heutigen B 54 folgend über Olpe, Meinerzhagen und Kierspe Richtung Hagen, Ennepe-Ruhr und Wuppertal. Wenn es Widerstand gab, wurde mit Panzerwaffen zurückgeschossen, so zum Beispiel in Schmallenberg-Oberkirchen oder in Ennepetal-Voerde. Dort hatte eine deutsche Panzerbesatzung einen amerikanischen Panzer in Brand geschossen. Als Folge gingen zahlreiche Häuser im Dorf durch Granatfeuer in Flammen auf. Unna war am 11. April „überrollt“ worden, wie die Menschen es ausdrückten, während Dortmund von der Wehrmacht kampflos geräumt wurde.

Von Osten aus erreichten die alliierten Soldaten Bochum und die Ruhr, während von Süden amerikanische, britische und belgische Einheiten über Schwelm und Sprockhövel Richtung Hattingen vorrückten. Diese erreichten am Abend des 15. April 1945 den Fluss, doch bevor es zur Teilung des Ruhrkessels durch den Zusammenschluss der alliierten Einheiten kam, lieferten sich die befreundeten Truppen noch ein Gefecht – „Friendly Fire“ genannt, weil man sich nicht rechtzeitig erkannte. Diese und andere Details finden sich in den zunächst als geheim eingestuften Tagesberichten der 8. US-Infanterie-Division, die als Kopien im Stadtarchiv Ennepetal liegen.

Drei Tage später, am 18. April, kapitulierte die deutsche Wehrmacht im Ruhrkessel. Etwa 350.000 Offiziere und Soldaten kamen in Kriegsgefangenschaft, die meisten lagerten zeitweise in den Rheinwiesen bei Düsseldorf. Die NS-Gauführung hatte sich kurz vor der Überrollung noch einmal in Hasslinghausen versammelt, dann schlug man sich in Zivil in die Büsche.

Am 25. April trafen in Torgau an der Elbe amerikanische und sowjetische Truppen zusammen, am 8. Mai kapitulierte Deutschland bedingungslos – der Krieg war in Europa beendet, im Fernen Osten dauerte er noch bis zur Kapitulation Japans am 2. September.

Wie die Befreier mit den NS-Funktionären umgingen, soll bei anderer Gelegenheit erzählt werden.




Viertes Gebot: Du sollst dich nicht über Neil Young ärgern!

Ich habe mir – aus altgedientem, bislang oft belohntem Vertrauen – gleichsam „blind“ Neil Youngs CD „A Treasure“ besorgt. Ganz gegen meine sonstige Gewohnheit ohne jedes Probehören, ohne jede vorherige Information, quasi hechelnd im Pawlowschen Reflex, auf den bloßen medialen Zuruf hin: „CD von Neil Young kommt auf den Markt“.

Und schon war das Ding bestellt. Hätte ich nur zur Kenntnis genommen, dass der Kanadier hier mit den „International Harvesters“ (benannt nach einem Landmaschinenhersteller, daher auch das sorgsam auf „verblasst“ getrimmte Coverbild mit Traktor) musiziert hat, so wäre ich hellhörig geworden. So aber habe eine bittere Enttäuschung mit einem ansonsten verehrten Musiker erlebt. Eigene Schuld. Über mich selbst muss ich mich ärgern, nicht so sehr über Neil Young.

Nebenbei: Ich habe die Platte auf eigene Rechnung gekauft, nicht etwa ein Rezensionsexemplar erhalten. Also kann ich mich frei von der Leber weg echauffieren. Ein recht angenehmer Zustand.

„A Treasure“ also, namentlich zum „Schatz“ deklariert. Doch es ist eine dieser elend putzmunteren Fiedel-Country-Platten, wie man sie in den Staaten sicherlich in ähnlichem Zuschnitt von etlichen Musikanten bekommen kann. Auch beim zweiten und dritten Hören will es sich nicht besser fügen.

Schon nach wenigen Nummern habe ich jenen Rufus Thibodeaux verflucht, der als Fiddler verzeichnet ist. Nicht, dass er sein Handwerk nicht beherrschte. Doch er darf sich penetrant in den Vordergrund spielen und unwiderruflich den flauen Charakter der Platte prägen. Der geht bisweilen in Richtung quietschfidele, biedere Lagerfeuer-Folklore. Genau davon wollte die Plattenfirma Young damals abbringen. Er blieb widerspenstig aus Prinzip. Man kann beide Positionen verstehen.

Schaut man etwas genauer hin, so wird schnell klar, dass hier eine Tournee von 1984/85 wieder aufgewärmt wird. Die Produzenten halten sich einiges darauf zugute, dass sechs Songs bisher noch nicht veröffentlicht worden sind. So what! Meinethalben mag es dokumentarischen Wert besitzen und im gesamten Oeuvre seinen gebührenden Platz einnehmen. Übrigens liest man in anderen Quellen von einer Tour 1985/86 und von fünf bisher unveröffentlichten Titeln. Habe ich Lust, in derlei Detailkunde einzusteigen? Nicht doch! Das sollen die Unentwegten unter sich ausmachen.

Da frage ich mich lieber: War ich beim Hören nur nicht in der passenden Stimmung? Nein, daran hat es wohl nicht gelegen. Selbst ein Neil Young hatte immer mal wieder schlaffere Phasen. Hin und wieder wird sehr deutlich, dass er im Grunde des Herzens auch ein verdammt konservativer Knochen ist. Die alten („uramerikanischen“) Werte und die Natur bewahren, jajaja. Gewiss. Bei uns wäre er wahrscheinlich für die schwarzgrüne Option zu haben. Was ja kein Vergehen ist, aber bitteschön: „Hey hey, my my, Rock’n’Roll will never die…“ Diese hymnischen Zeilen hat Neil Young schließlich selbst inbrünstig gesungen. Von Rock, Blues oder Punk-Anwandlungen aber spürest du kaum einen Hauch auf „A Treasure“.

Ich bin seit Anfang der 70er Jahre von Neil Young eingenommen, häufig auch hingerissen. Er gehört zu jenen, die einen quasi auf dem Lebensweg begleitet haben wie sonst nur wenige andere. Man ist ihm seither weit gefolgt, manche Biegung des Flusses entlang, bergauf und bergab, in verschiedenste Gelände, an ferne Gestade. Meistens bereitwillig, manchmal verzückt, selten widerspenstig.

Doch dies geschieht eben von Zeit zu Zeit gerade bei begnadeten Singer-Songwritern wie Bob Dylan (dessen dylanologische Anhängerschaft ungleich strenger ist) oder eben Neil Young. Sie tun einen Teufel, deine Erwartungen zu bestätigen. Längst ein Gemeinplatz: Sie durchlaufen Phasen des Suchens und Findens. Sie wollen sich nicht immerzu wiederholen und schiffen daher auf mehreren Fahrwassern. Auf einigen könnte man unbesehen mitfahren. Doch nicht auf jedem mag man ihnen folgen.

Und jetzt freue ich mich schon mal auf seine nächste Neuschöpfung.

Neil Young: „A Treasure“. Reprise Records/Warner Music, Juni 2011, ca. 16 Euro.




Zu Fuß durch Amerika

Eine seltsame Art zu reisen kündigt bereits der Untertitel an: „Zu Fuß durch Amerika“. Ausgerechnet durch das Land der Autofahrer. Doch dann erinnert man sich an den Namen des Autors. Wolfgang Büscher, das war doch der Journalist, der vor acht Jahren in seinem Buch „Berlin-Moskau“ einen ähnlichen Fußmarsch durch die östliche Pampa beschrieben und damit einen Bestseller gelandet hatte.

„Hartland“ lautet der Titel seines neuen Reisebuches, und da zögere ich bereits, denn Büscher ist weit mehr als ein Reiseschriftsteller. Hartland ist ein einfühlsamer, poetischer Zugriff auf das riesige, vertraute und doch so fremde Land auf der anderen Seite des Meeres.
Büscher kannte Amerika nicht, bevor er sich mit großem Rucksack und ausreichend Geld von Kanada aus zu Fuß auf den Weg von Nord nach Süd durch den Mittleren Westen der USA macht, von der kanadischen Grenze bis nach Mexiko.

Er lässt sich auf die Menschen ein, sieht Vorurteile bestätigt oder widerlegt und wird überrascht durch Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und echte Offenheit vieler Amerikaner. Er folgt teilweise den Spuren der Zerstörung, die wir europäischen Eroberer auf dem Weg nach Westen hinterließen. Er spricht mit Indianern und modernen Cowboys, lässt sich streckenweise in Pick-Ups mitnehmen und kommt so auch in Familien und fromme Christengruppen. Ratlos hört er den durchweg konservativen Meinungsäußerungen der Leute im amerikanischen Herzland zu – denn darauf bezieht sich auch der doppeldeutige Titel: Hartland heißt der erste Ort, den Büscher in den USA betritt, und dieser Name leitet sich von „Heartland“ ab. Aber Büscher lässt bei seiner Wegbeschreibung keinen Zweifel, dass er auch die deutsche Bedeutung von „Hartland“ meint, wenn er den endlosen Marsch durch die Prärie beschreibt oder den Spuren der unglückseligen Geschichte der amerikanischen Ureinwohner folgt. Zum Schluss verliert er zwar noch sein Gepäck, aber auch dem kann er erfrischende Gedankengänge abgewinnen.

Wer sich von Büschers weicher Prosa mitziehen lässt, und das ging auch schon bei „Berlin-Moskau“ so, der versteht sofort, warum der Autor bereits vor Jahren den Tucholsky- und den Ludwig-Börne-Preis erhielt.

Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika. Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 19,90 Euro




Die Fassade bröckelt

Eigentlich kreisen alle seine Bücher seit vier Jahrzehnten um die Lust auf Sex, Rausch und Drogen, den Hang zu kernigen Typen und rauflustigen Boxern. Wolf Wondratschek (Jahrgang 1943) ist vielleicht der letzte Macho der deutschen Literatur.

Doch jetzt, immerhin sind die besten Jahre vorbei und die Lebensuhr rückt unbeirrbar weiter, bröckelt die selbst gezimmerte Fassade. Der harte Kerl wird nostalgisch, lässt sein Leben Revue passieren und wird, wenigstens ein bisschen, gefühlig. Das liegt vor allem daran, dass Chuck, sein literarisches Alter Ego, in späten Jahren Vater eines Sohnes geworden ist und nun, mit Mitte 60, schwer ins Grübeln kommt. Zwar liebt Chuck seinen pubertierenden Sohn abgöttisch, aber er erreicht ihn nicht. Und verstehen kann er ihn schon gar nicht. Wie sollte er auch, ist der Sohn doch das Ebenbild seines Vaters als junger Mann: ein aufmüpfiger Mensch, der von den autoritären Erziehungsmethoden der Alten nichts hält und seine eigenen Erfahrungen machen will.

In „Chuck´s Zimmer“, einer 1974 im Alternativverlag „Zweitausendeins“ erschienenenen Sammlung mit Gedichten und Liedern, hatte Wondratschek sich zu einem drogen- und sexsüchtigen Intellektuellen stilisiert, der gegen alle politischen Ideologien und festen Beziehungen rebelliert. Das Gedicht „Warum Gefühle zeigen?“ endete mit den Zeilen: „Chuck, der sein Kind liebt, / das nie zur Welt kommen wird.“ Das wäre wohl auch zeitlebens so geblieben. Doch irgendwann hat der Zufall zugeschlagen. Weil Chuck mal wieder pleite war und kein Geld hatte, um in die Suchtklinik zu fahren, ging er in eine Bar und lernte eine Frau kennen, die ihm „Das Geschenk“ eines Sohnes machte.

Nun hockt Chuck alias Wondratschek am Schreibtisch und weiß nicht recht, was er mit diesem Geschenk anfangen soll. Weil Chuck seinen bei der Mutter lebenden Sohn selten sieht und sich zwischen ihnen emotionale Abgründe auftun, möchte der Vater sich dem Sohn durch Erzählen nähern. Er greift tief in die Erinnerungskiste, gräbt verschüttete Erlebnisse aus, versucht dem Sohn zu zeigen, dass auch der strenge Vater nicht immer nur ein alter Sack, sondern einmal ein junger Spund war. Dabei entstehen ein paar wunderbar witzige literarische Miniaturen. Der Besuch bei einer attraktiven Urologin: eine kabarettistische Glanznummer. Das Ansinnen, bei einem Treffen der Pharmaindustrie als Dichter aufzutreten: ein Abgesang auf die Rolle des Schriftstellers als Weltveränderer. Der Exkurs über Donald Duck als Genie des Scheiterns: eine an Samuel Beckett anknüpfende, absurde Kapriole.

Doch den hintergründig-humorvollen Sentenzen und aufgekratzten Selbstbespiegelungen haftet auch etwas Trauriges und Melancholisches an: ein eitler Pfau spreizt sich noch einmal und mutiert vom Macho zum nostalgischen Rentner. Der merkt denn auch gar nicht, dass ihm der Sohn als Zuhörer schon längst entflohen ist. Chuck spricht eigentlich nur noch mit sich selbst und benutzt den Sohn als Projektionsfläche seiner Reminiszenzen. Kein großes Buch, aber auch kein schlechtes.

Wolf Wondratschek: „Das Geschenk“. Hanser Verlag, München. 173 S., 17,90 Euro.




Morgen-Notiz aus der Provinz

Nein, ich zweifel nicht daran,

dass heute Freitag ist.

Man sagt, es ist Freitag und wer reibt sich heute

nicht alles die Hände…

Manchmal werden sie auch gefaltet.

Oh, gesegneter Freitag !

Oh, heiliges Wochenende!

Ach, ändert sich denn wirklich etwas?

Wer ändert sich denn schon?

Immer wird verlangt, die anderen sollten sich ändern.

Von sich selbst nimmt man in dieser Sache lieber Abstand.

Da betreibt man gerne Denkmalpflege…

Mit den letzten Ruinen gehen sie hausieren…

und merken es nicht einmal…

Verschanzt hinter ihrem eigenen Gedankengut,

welches alles andere als gut ist.

Es sind Brocken und mit diesen Brocken –

brocken sie einem was ein,

wenn man sie lässt…

Manchmal sollte man besser Abstand halten,

sonst werfen sie einem einfach die Brocken,

nicht einmal vor, sondern auf die Füße.

Sie meinen, das ginge völlig in Ordnung.

Warum das so ist, man kann es sich fragen

oder es auch lassen….

Aber das ist leichter gesagt als getan.

Sie rennen einem ja hinterher oder kreuzen den Weg,

der fortan dornenreich wird.

Ach, hätte man sie doch nie getroffen, denkt man manchmal.

Aber hatten sie sich nicht aufgedrängt?

Oh, diese alltäglichen Verführer des Alltags

mit ihren freundlichen Gesten und Attitüden.

Nein, was sind sie freundlich.

Sie sind so freundlich wie eine Puderdose.

Bloß nicht reinblasen…

 




Soziale Miniaturen (7): Herrenrunde

Kleinstädtisches Ausflugslokal, sonntags. Norddeutsche Herrenrunde am späten Nachmittag. Alle in den Sechzigern. Großväter, finanziell arriviert und arrondiert. Sie würden sich als gestandene Männer bezeichnen. Man ist mit dem Bürgermeister per Du.

Die ersten drei, vier Biere haben sie verdrückt. Man muss nicht lauschen, um manches zu hören. Jetzt schlägt einer vor, endlich mal den ersten Schnaps zu nehmen. Ein anderer möchte vorerst beim Bier bleiben. Gejohle am Tisch: „Entweder alle oder keiner!“ Man einigt sich schnell auf „alle“. Als einer im Lokal einen Weißwein trinkt, sind sie geradezu aufgebracht. Weißwein bei uns an der Küste! Unmöglich. Wahrscheinlich ein Pfälzer. Oder ein Schwuler. Hohoho.

Zwei Tische weiter begeht eine Frau den „Fehler“, diskret ihr Baby zu stillen. Die einschlägig geeichten Herren bemerken es trotzdem und rufen halblaut herüber: „Musste den Pullover richtig hochziehen, dann kommt das Kind besser ran.“ Launige Lachsalve der Marke „Nix für ungut“. Besser aber, dass die Frau es nicht vernommen hat oder es geflissentlich ignoriert.

Da kochen sie wieder im eigenen Saft.

Wenig später betritt ein junges Paar die Gaststätte. Die Herren stecken die Köpfe zusammen. Die Frau erinnert sie ohne Umschweife an „eine Professionelle“, wie sie es nennen. Tuschelnd werden Mutmaßungen ausgetauscht. Ach was, keine Vermutungen. Tatsachen! Man kennt sich aus im Leben. Ihnen kann niemand etwas vormachen.

Dann wird es wieder lauter: Im Nu ist man bei Kachelmann, Strauss-Kahn und dem berüchtigten Betriebsausflug der Versicherungsleute nach Ungarn. Man weiß Bescheid. Und man hat seine klaren Ansichten.

Noch bleibt es unausgesprochen, doch es zittert in der Luft: Die Welt ist voller Sex, wie soll man da widerstehen? Und diese jungen Dinger, also bitteschön! Zicken! Biester! Wenn nicht Huren…

Wenn man nur noch besser zurecht wäre, so wie früher. Und wenn die Alte zu Hause nicht wäre. Ja, dann würde man noch einmal durchstarten.

Soweit die Vorglühphase.




Hungerast?

PyrenäenDer Hungerast ist wie eine Wand,
die steht vor dir, erbarmungslos.
Man friert. Die Beine werden schwach.
Man schimpft.

Dort oben hört einen niemand.

Da kann man schimpfen, man kann bitten, man kann flehen.

Irgendwo um 2000 Meter,
da oben am Tourmalet, am Großglockner, am Furka oder Grimselpass,
wo kein Baum mehr steht, da fängt es an zu schneien.
Man hat keine Winterreifen und auch keine 50 000 Euro
von Milchschnitte.
Man hat eigentlich keine Schnitte.

Das Zelt ist vom Discounter, die Handschuhe hat Omma gestrickt.
So ist man also im Berg.
Kein GPS.
Kein Begleitfahrzeug.
Nicht mal einen Besenwagen, der einen einsammelt.

Freunde der Tour de France kennen den Besenwagen.

Das letzte Gefährt, welches gescheiterte Profis oder solche,
die sich für Profis halten einsammeln und ins Hotel fahren.
Zur Massage ins Hotel.
Entspannungsbad.
Thai-Massage.
Ich meine eine Thailänderin im Nebel zu sehen,
„May Lin, hier bin ich !
Oh gute Bergfee, rette mich…!“

Aus der Lesung – Unterwegs –

vom Mittelmeer zu den Pyrenäen

Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Paul Valéry: Das Denken am frühen Morgen

Es war ein ungeheures Unterfangen: Rund 50 Jahre lang (1895-1945) ist der französische Schriftsteller Paul Valéry in aller Heidenfrühe aufgestanden, um „geistige Gymnastik“ zu betreiben, wie er es nannte. Hätte er jeweils abendliche Bilanzen gezogen, so wäre sein Denken wahrscheinlich in andere Richtungen gegangen. In den Stunden zwischen Tau und Tag also sind jene zahlreichen „Cahiers“ („Hefte“) entstanden, insgesamt ein zerklüftetes, schluchtenreiches Textgebirge, eines der großen Zeugnisse menschlicher Denkanstrengungen. Vieles klingt noch heute so frisch wie ein neuer Morgen.

Valéry meidet es nach Kräften, auf ausgetretenen philosophischen Pfaden zu wandeln, jedes System ist ihm zuwider. „Die meisten Fragen der Philosophie scheinen mir nicht meine zu sein, abseitig und sogar bedeutungslos, – bar jeder Notwendigkeit…“ Auch verachtet er bloße Lektüren ohne Erfahrung und beflissene Gelehrsamkeit, die das Wissen bestenfalls häuft und sortiert, aber nicht umgräbt.

Hier ist ein originärer Selbstdenker am Werk, der die Frage, was der Mensch überhaupt tun und wissen könne, noch einmal von Grund auf angehen will. Leitlinien sind eine geradezu mathematisch anmutende Strenge, die alles Unbewiesene und Verwaschene verwirft, sowie ein waches Misstrauen gegen Verfälschungen durch Sprache und deren vorgeprägte Muster. Zugleich ist hier ein universell entflammbares, schweifendes Denken umtriebig unterwegs, das seine Gegenstände augenblicklich ergreift.

In der verdienstvollen „Anderen Bibliothek“ des Eichborn-Verlags ist jetzt unter dem Titel „Ich grase meine Gehirnwiese ab“ eine Auswahl aus den „Cahiers“ erschienen, die unter Schlagworten wie „Ich“, „Sprache“, „Denken“, „Wahrnehmung“, „Leibliches Denken“, „Selbstsorge“ oder „Skepsis“ einige Schneisen durchs Dickicht schlägt. Die Edition soll hinführen zu umfassenderen Ausgaben, die freilich auch von Vollständigkeit weit entfernt sind.

Valérys Aussagen wirken stets luftig und kristallin klar. Vielfach verdichten sich seine Erkenntnisse zu trefflichen Maximen, die zwar historisch, jedoch keineswegs gestrig sind. Man möchte Satz um Satz zitieren. Das spricht auch für die Übersetzung. Dringlich gewünscht hätte man sich allerdings die Datierung und somit historische Erdung der Aufzeichnungen. So schweben sie vielfach im luftleeren Raum.

Rupfen wir nur einige wenige Halme aus der „Gehirnwiese“:

Der Mensch wird bestürzend sichtbar als biologische Maschine unter dünnem Zivilisations-Anstrich. Seine Identität ist nur ein Phantom, obwohl er mehr oder weniger bestrebt ist, sein Ureigenes zu sammeln. Zitat: „Man glaubt, man sei derselbe. Es gibt keinen Selben.“ Alles bleibt fragmentarisch und zufällig, nichts mag sich runden und vollenden. Selbst die wildeste Leidenschaft ist brüchig: „Mitten durchs rasende Toben geht ein Strahl von Ist-mir doch-egal.“

Aber lässt sich nicht doch ein Kernbestand festhalten? „Was bewahrt sich durch alle Zustände? Was erhält sich im Schlaf, im Traum, in der Trunkenheit, im Entsetzen, dem Liebestaumel? Dem Irrsinn?“

Wo also soll der Gedanke sein Gravitationszentrum finden? Valéry macht den menschlichen Körper als Angelpunkt und Grenze allen Denkens aus. Pure Gegenwart und Schmerz begleiten uns von Kind auf, körperliche Impulse und Versuchungen, Reize und Reaktionen steuern alles Sinnen und Trachten. Wen überrascht es, dass Valéry auch sexuelle Energieströme als Triebkräfte ansieht, die den Geist bewegen?

Stets muss man laut Valéry mit der prinzipiellen Begrenztheit der Gattung rechnen: Der Mensch nimmt nur einen Bruchteil dessen wahr, was insgesamt vorgeht. Auch sieht er nicht die Dinge selbst, sondern taucht alles ins flackernde Licht seiner Erwartungen. So erblickt er beispielsweise keinen Baum, sondern lediglich Farbflecken, die dann erst im Kopf zum Begriff „Baum“ montiert werden. Die Malerei jener Zeit hat solche Gedanken reichlich „bebildert“.

Valéry versteht tief greifende Selbsterkenntnis als notwendige Basis des Denkens. Wort für Wort durchwandere er sich selbst auf der Suche nach (seiner) Wahrhaftigkeit. Nicht „Ich denke, also bin ich“, sondern „Ich bin, also denke ich“. Sein eherner Vorsatz klingt nahezu naiv, hat es aber in sich: „Die Aufgabe: – nicht mehr mit dem denken, was wir als falsch erkannt haben. Mit dem denken, was uns klar geworden ist.“ Wer sich ein halbes Jahrhundert lang um die Schärfung des Instrumentariums bemüht, der darf, ja der muss so sprechen.

Paul Valéry: „Ich grase meine Gehirnwiese ab“. Die Andere Bibliothek (Eichborn), 348 Seiten, 32 Euro.




Museum Bochum: Anatol und seine Arbeitszeit

Anatol neben seinem Bild "Brief einer sterbenden Lehrerin" (Acryl auf Pressspan, 1996)

Anatols künstlerische Arbeiten zu sehen, das ist das Eine. Ihn reden zu hören, das ist das Andere. Wobei natürlich eins mit dem anderen zu tun hat. Eine Präsentation im Museum Bochum legt jetzt Gewicht auf die leibhaftige Gegenwart des inzwischen 80-jährigen, staunenswert vitalen und nach wie vor handfest arbeitsamen Künstlers, der für so genannte „Ringgespräche“ im Kreise interessierter Besucher in die Revierstadt kommt. Er verlegt also seine „Arbeitszeit“ (Ausstellungstitel) an den Ort, wo sonst „nur“ Hinterlassenschaften der Künstler anzutreffen sind.

Das hört sich einigermaßen harmlos an, kann aber im Falle Anatols geradezu durchtrieben sein, jedenfalls geistig ungemein produktiv. Jeweils zwei Stunden dauern die inspirierenden Runden. Wer den einstigen Beuys-Weggefährten einmal erlebt hat, zweifelt keinen Augenblick daran, dass er diese Zeitspanne ebenso mühelos wie unterhaltsam überbrückt. Fast schon meditative Qualitäten gewinnt beim schier uferlosen Erzählen sein rheinisch grundierter Singsang. Solch einer hörbar lebenskundigen Stimme darf man sich anvertrauen, sie trägt einen an andere, vielleicht ungeahnte Plätze.

Doch sollte man sich nicht nur aufs Treibenlassen in einem langen ruhigen Sprachfluss einrichten, sondern auch auf plötzlich aufblitzende Erkenntnisse. Gut möglich, dass man auf einmal etwas genauer weiß, was die mit Leben und Tod verwobene Kunst auf Erden kann und was nicht.

Man lausche.

Gar manche bezeichnende Anekdote hat dieser Künstler parat. Manchmal verliert er sich freilich auch im Geflecht seiner Sätze. Aus solcher Trance erwachend, zeigt er ein weises, menschenfreundliches Lächeln. Gern untermalt er seine Berichte gestisch, nahezu schauspielerisch. Wie einer geht und aufsteht, wie einer stockt oder stolpert, das wirft Schlaglichter aufs Leben.

Doch weiter, weiter im Fluss: Eben noch hat Anatol prägnante Passagen von Goethe oder Hildegard von Bingen zitiert. Nun berichtet er unversehens vom Errichten einer Blockhütte. Oder vom Bootsbau. Er weiß aus Erfahrung, wie man einen unsinkbaren Einbaum anfertigt. Anno 1973 begab sich jene spektakuläre Kunstaktion auf dem Rhein: Joseph Beuys sollte mit dem urtümlichen Wasserfahrzeug zurück zur Düsseldorfer Kunstakademie geholt werden, aus der man ihn hinausgeworfen hatte. Keine ganz ungefährliche Sache, zumal bei Hochwasser. „Beuys war der einzige, der keine Schwimmweste trug“, erinnert sich Anatol. Eine Heldenlegende? Ach, nicht doch! Nicht, wenn einer so verschmitzt parliert.

Längst hat Anatol den Mittelpunkt seines Schaffens zur Museumsinsel Hombroich (Neuss) verlegt. Düsseldorf, so lässt er wissen, habe er aus gutem Grund den Rücken gekehrt: „Schickimicki liegt mir nun einmal überhaupt nicht.“

Wer die verbleibenden Gesprächstermine mit Anatol (der sonst vorwiegend bildhauerisch tätig ist) versäumt, kann sich in Bochum an eine kleine Auswahl seiner Tafelbilder halten. Bildträger dieser neueren Arbeiten sind „ärmliche“ Materialien wie Pressspan und Pappe.

Die auf den ersten Blick oft unscheinbaren Figurationen setzen unter der Hand „Erscheinungen“ frei, eins entzündet sich am anderen und glimmt auf. Eine antike Amazone neben einer martialischen Polizistin. Michael Jackson beim bizarren Totentanz. Ein Kraftwerk, das ein Dorf überwölbt. Das mag sich plakativ anhören, ist es aber nicht. Besonders in den hauchzarten Aquarellen scheint alles dem allmählichen Verfall preisgegeben. Vor der Vergänglichkeit muss schließlich auch die Kunst ihre Segel streichen.

„Anatol – Arbeitszeit“ (Ausstellung bis 17. Juli), weitere öffentliche „Ringgespräche“ mit dem Künstler am 9., 16. und 22. Juni, jeweils 10 bis 12 Uhr. Museum Bochum, Kortumstraße 147.

Weitere Infos:

http://www.bochum.de/kunstmuseum




Soziale Miniaturen (6): Im Herrenhaus

Die ältere Dame trägt wochentags stets einen schwarzen Kaschmir-Pullover. Sie sagt, sie sei einst Schauspielerin bei einem weltberühmten Regisseur gewesen. Beinahe achtlos lässt sie auch Namen wie Marianne Hoppe oder Will Quadflieg herabtropfen. Sie macht kein Aufhebens davon, sondern handelt es ab, als sei es selbstverständlich, derlei Theaterprominenz gekannt zu haben.

Sie lebt in einem weitläufigen Herrenhaus mit riesigem Park. Nebenher vermietet sie einige Ferienwohnungen auf ihren Latifundien. Weitere Domizile liegen in einer deutschen Metropole und in Übersee.

Früh hatte sie die Schauspielerei aufgegeben und sich in gewisse Formen des Journalismus eingefunden. Anfangs hat sie triviales Geschichten für damals noch florierende Illustrierte geschrieben. Später hat sie – unter Pseudonymen – Unterhaltungsromane mit billigem Lebenstrost verfertigt und schließlich ähnlich gelagerte Stoffe fürs Fernsehen gestrickt. Irgendwann glaubte sie die schaumigen Träume vom jederzeit möglichen Aufstieg der kleinen Leute selbst. So etwas schreibt sich leichten Herzens im Herrenhaus.

Ihre größte Sorge ist ihre Tochter, die einer brotlosen Kunst nachgeht. Das ließe sich ja noch regeln. Doch weitaus schlimmer sei dies: „Sie bringt mir keinen vernünftigen Schwiegersohn“, sagt die Dame über die Tochter, die als Einzelkind gar zu zickig sei. Am liebsten würde die Mutter ihr einen passenden Mann suchen. Der müsste halt mit einem etwas kleineren Busen vorlieb nehmen und den „Wildfang“ bändigen… Dafür gäb’s allerdings ein ansehnliches Erbteil und eine doch recht hübsche Gattin obendrein. „Hier. Schauen Sie. Ich habe ein paar Fotos.“

Tiefer Seufzer. In einigen Jahren werde die Tochter 40 sein, dann werde es immer schwieriger, wenn eine so eigenwillig sei wie sie. Den Besten von allen habe sie verschmäht, vergebens weine sie ihm jetzt nach.

Ach, es ist ein Elend. Geradewegs illustriertenreif.




Eberhard! (Schlotter…)

Schlotter "Schwarzer Lappen", 1962, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Schwarzer Lappen", 1962, Mischtechnik, Foto CL

Ich bin ja sehr tolerant. Und grundsätzlich historisch interessiert. Wenn mich also jemand fragt, ob ich mitkäme in den Kunstverein einer mittelgroßen Gemeinde (wart ihr schon mal in „Darmstadt“ (sic)? Liegt südlich von Wixhausen (sic). Kein Scherz; die Hessen sind bekannt für poetische Namensgebungen.) Also jedenfalls, wenn mich jemand sowas fragt und mir die Besichtigung der Ausstellung eines neunzigjährigen Malers in Aussicht stellt, sag ich natürlich gequält aber aufgeschlossen „kann’s kaum erwarten“ – oder sowas in der Richtung. Meister der Moderne muss man sich schließlich unermüdlich draufschaffen, weil wie wir wissen, ist besagte Moderne ja unsere Antike und so.

Dass mir der Name Eberhard Schlotter (tja, auch Niedersachsen können poetisch) noch nie begegnet ist, obwohl eingedenk unserer ansehnlichen Lebensspannen eigentlich Zeit genug gewesen wäre, bremst meinen Enthusiasmus zusätzlich. Dann aber erinnere ich mich an meine inbrünstig demokratische Lasst-mal-die-Kleinen-nach-vorn-Mentalität, und an meine Schimpftiraden hinsichtlich der immergleichen Hypes der üblichen Verdächtigen. Also halte ich mir einen pädagogisch wertvollen Vortrag, um mich von der These zu überzeugen, dass die Tatsache, dass ein Maler offensichtlich neunzig Jahre lang in der Pre-Emerging-Schleife verbracht hat, nur seine konsequente Mainstream-Inkompatibilität beweist, und hier aufrechter Widerstand gegen zeitgenössischen Anpassungsdruck zu erwarten ist.

Auf dem Weg zum Tatort weiß ich genau, welche Art von Malerei die nächste halbe Stunde meine geballte Selbstdisziplin (= Verdrängung hartnäckiger Fluchtimpulse) fordern wird. Wenn er 1921 geboren wurde, ist er aller Wahrscheinlichkeit nach in den 1950er Jahren zu Hochform aufgelaufen und hat demnach sein kreatives Potential in die unausweichlich informelle Malerei jener Epoche investiert. Gegen die hab ich auch gar nichts. Und gerade deswegen inzwischen dann doch häufig genug gesehen. Abbildungen in einer Zeitung bestätigen mein sorgfältig differenziertes Vorschussurteil: „Ach, so einer.“ Na denn: Auf zur Vollstreckung des Bildungsauftrags.

Schlotter "Die graue Tür", 00, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Die graue Tür", 00, Mischtechnik, Foto CL

Beim Betreten der Halle erleide ich einen Anfall akuter Maulsperre: Der Unterkiefer sackt und lässt mich eine Weile intelligenzfrei an die Wände starren. Der Wow-Faktor hat zugeschlagen.

Trotz aller Vielfalt lässt das Panorama aus abstrakten und veristischen – d.h. ins Groteske übersteigerten figurativen – Gemälden eine eigenartige Übereinstimmung erkennen:

Noch die scheinbar ungegenständlichsten Arbeiten erweisen sich als in Farbe und Form reduzierte Darstellungen wiedererkennbarer Motive: Architektur in Landschaft, Gebäudeteile, Licht und Schatten auf Mauerwerk und Holz.

Schlotter "Die kleine Stadt Huayacan", 01, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Die kleine Stadt Huayacan", 01, Mischtechnik, Foto CL

Der Verzicht auf Einzelheiten aber bedeutet keine wirkliche Reduktion, sondern bietet Raum für einen erstaunlichen Detailreichtum der Struktur einer Oberfläche, die keine ist. Aus einer Mischung von Sand, Gips und Farbe (oder so) entstehen Reliefs, die den Blick vollständig vom Inhalt („Leeres Kaufhaus“, „Das große Wäscheproblem“ etc.) auf die Form lenken. Das Auge kriecht in Furchen und stolpert über die Leinwand verkrustende Plateaus, deren Fülle erdfarbiger Nuancen einem denkbar unbunten Spektrum entstammt. Schlotters Palette beschränkt sich so konsequent auf Farbfamilien, wie sie allenfalls oberhalb der Vegetationsgrenze oder 40° Celsius in der Wüste vorkommen, dass es nicht überrascht, dass der Maler seit 1960 einen zweiten Wohnsitz im spanischen Alicante unterhält.

Schlotter "Gropius was here", 1999, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Gropius was here", 1999, Mischtechnik, Foto CL

Die Personendarstellungen aus den 1950er bis 70er Jahren hingegen sind bunter, aber nicht farbenfroh, denn Dunkles dominiert – in jeder Hinsicht. Auch hier lenkt das weggelassene Beiwerk die Aufmerksamkeit auf die psychogrammartigen Porträts. Nahezu alle Gesichter erinnern auf ihre Weise an Masken: das bizarre Makeup Jugendlicher Mitte der 80er Jahre, der bevorstehende Tod im aufgelösten Gesicht eines Heroinabhängigen, das subtile Sabbern des angetrunkenen Lustmolchs im Frack.

Schlotter "Der selbständige Sohn des Metzgers", Öl auf Leinwand, Foto CL

Schlotter "Der selbständige Sohn des Metzgers", Öl auf Lwd., Foto CL

Eine allgegenwärtige physiognomische Asymmetrie lässt auf die zwei Seelen, ach, der ProtagonistInnen schließen. Gesichts- und Körperhälften sind selten synchron: ein Auge ist müde, das andere lüstern, ein Mundwinkel hebt, der andere senkt sich.

Schlotter "Die Frau des Metzgers", 1958, Öl auf Lwd., Foto CL

Schlotter "Die Frau des Metzgers", 1958, Öl auf Lwd., Foto CL

Szenarios ohne Personen hingegen wirken symbolisch, dabei aber polyvalent – eher Pittura Metafisica als bedeutungsschwangere Redseligkeit. Zurückgelassene Gegenstände und leere Interieurs erzählen von etwas, das wir nie erfahren werden. Angesichts der Verteilung von lesbaren Details und freien – nicht leeren – Flächen drängt sich ohnehin der Eindruck auf, dass es dem Maler weniger um den rekonstruierbaren Plot ging als darum, das Geplauder der Einzelheiten räumlich einzudämmen und den größten Teil der Leinwand dem freien Spiel von Farbe und Schatten zu widmen.

Schlotter "Herein ohne anzuklopfen", 04, Mischtechnik, Foto CL

Schlotter "Herein ohne anzuklopfen", 04, Mischtechnik, Foto CL

Fazit: Normalerweise bin ich nicht so freigiebig mit Beifallsstürmen, aber diese Ausstellung ist faszinierend. Dabei hab ich die ganze Druckgrafik gar nicht erwähnt. Und das ist gut so, denn ein Blog ist kein Katalog und Schlotter muss man offline sehen. Fahrt mal nach Darmstadt (sic)!

Eberhard Schlotter „unterm Strich“ bis 22.8.11 in der Kunsthalle Darmstadt




Schubladen

Schublade auf, Schublade zu.

Nochmal auf, gucken, und wieder zu.

Kompaktes Format.

Sehr überschaubar.

Das gibt Sicherheit.

Noch ein paar Nägel in die Rahmung.

Man weiß ja nie was kommt.

Aber man weiß, was sich in der Schublade befindet.

Das weiß man.

In der Schublade liegt das Vermächtnis.

Man hat uns etwas vermacht,

oftmals völlig ungefragt.

Eine Gabe.

Milde Gabe, lustige Gabe, langweilige Gabe, ärgerliche Gabe, liebevolle Gabe …

Alles in die Schublade …

Dort gibt es Fächer wie in Besteckkästen.

Für das Süße, gibt es Kuchengabeln. Kleine Gäbelchen.

Die Messer liegen rechts, damit kann geschnitten, wenn nötig getötet werden.

Aber meistens schaut man auf die Löffel.

Schublade auf, Schublade zu.

Die Teller sind nicht besonders groß,

aber dennoch fällt es schwer, über ihren Rand zu schauen…

Stefan Dernbach ( LiteraTour )

http://www.stefandernbach.kulturserver-nrw.de/




„Du musst Dein Leben ändern!“

29. 05. 2011: „Du musst Dein Leben ändern!“
Mahlers Siebte mit den Bambergern Symphonikern unter Jonathan Nott in der Philharmonie Essen

Hätte ich genau diese Aufführung der 7. Symphonie Gustav Mahlers schon früher hören können und genau so hören können, wie es gestern Abend in der Essener Philharmonie der Fall gewesen ist, und wäre das noch in sehr jungen Jahren erfolgt und nicht erst jetzt nach einem langen Berufsleben, ab sofort würde ich einen ganz anderen Berufsweg eingeschlagen haben und mein Leben fortan ganz der Musik widmen.

1952, von Salzburg in den Essener Norden gekommen, hätte ich so den zweieinhalb Jahre zuvor begonnenen Klavierunterricht auch unter den widrigsten Bedingungen einer vorherrschend musikfremden Umgebung, in der ich nun weiter aufwuchs, unbedingt fortgesetzt und hätte nicht mehr erst in einem nur vorgestellt zweiten Leben, sondern damals ganz ernsthaft und entschieden (unter Berücksichtigung aller notwendigen Vorstufen) Dirigent oder gar Komponist werden wollen.

Aber hätte ich mit 10 diese Mahler-Musik schon so hören können? Wäre ich dafür schon bereit gewesen, so unmittelbar und so bezwingend nah, wie sie mir gestern Abend endlich gekommen ist? Und hätte es gegen 1952 irgendein Orchester und irgendeinen Dirigenten in der Welt gegeben, die einem ausgerechnet Mahlers Siebte auf diese Weise so hätten nahebringen können? Ich glaube nicht. Und nicht nur, weil der Mahler-Boom, den ich alsbald mitbekommen habe, so recht erst in den 60er-Jahren eingesetzt hat. Auch als ich über Rundfunk und Schallplatte schon längst für die Werke Mahlers gewonnen war, fand ich lange keine einzige Aufnahme der Siebten, die mich wünschenswert überzeugt bzw. begeistert oder gefesselt hätte.

Erst die Begegnung mit der Aufnahme des Utah Symphony Orchestra unter Maurice Abravanel, und nicht schon die mit den Aufnahmen Georg Soltis, Leonard Bernsteins und Rafael Kubeliks, hat maßgeblich etwas daran geändert. Und zwar recht eindrucksvoll schon mit dem Symphoniebeginn. Auf diese Abravanel-Einspielung stieß ich erst in den 70er-Jahren und sie blieb fortan (fast bis gestern) meine persönliche Referenzaufnahme. Aber mein Leben aufwühlend geändert hat auch sie nicht mehr. Erst nach der gestrigen Aufführung der Mahlerschen Siebten durch die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jonathan Nott weiß ich genau: Wäre ich jetzt noch jung, bliebe mir nun gebieterisch nur der Weg in die Musik, so dornig er auch wäre. Ich würde als junger Mensch spätestens jetzt mein Leben daraufhin ausrichten, meine Lebensplanung ändern.

Noch nie hat mich die Komposition und die Darbietung der ersten drei, vier Sätze dieser Symphonie so sehr überzeugt wie gestern. Auch im fünften Satz war die orchestrale Darbietung auf gleichbleibend hohem Niveau, mit dem kompositorisch angestrebten Verhältnis dieses Satzes zu den vier vorausgegangenen indessen habe ich (nur vorläufig?) noch gewisse Schwierigkeiten. Mahler scheint in diesem letzten Satz geradezu Wert darauf gelegt zu haben, hin und wieder ausgesprochen triviale, musikalisch eher minderwertig eingestufte Themen zu zitieren, zu verwenden und ironisch wichtig zu nehmen: „Schlösser, die im Monde liegen“ klingt da operettenhaft an, wie später in Bartóks „Konzert für Orchester“ das populäre „Dann geh ich ins Maxim“.

Im Juli werde ich Mahlers Siebte noch einmal in Essen hören: diesmal mit den hier Heimrecht habenden Essener Philharmonikern unter Stefan Soltesz. Kein Zweifel, dass auch diese Darbietung gut sein wird. Dennoch habe ich ein bisschen Sorge: Denn besser als die gestrige der Bamberger Symphoniker kann sie kaum sein. Gespannt bin ich aber darauf, wie der erste Satz, der mir bei jeder Interpretation anders vorkommt, diesmal klingen wird. Und ob mir der fünfte Satz langsam einzuleuchten vermag.




Soziale Miniaturen (4): Sandburg

Ein zweijähriges Mädchen am Inselstrand. Selbstvergessenes Spiel. Die Eltern müssen nur zuschauen.

Da erscheinen zwei Gymnasialklassen (man bemerkt sofort den Mittelschichts-Habitus), sechstes und siebtes Schuljahr. Die Phase, in der es zu „knistern“ beginnt. Mindestens.

Zunächst die Mädchen. Eine von ihnen kümmert sich sogleich rührend um das Kleinkind, baut eine Sandburg mit ihm. Ganz aus freien Stücken. Ganz geduldig. Die anderen schauen interessiert hin, freilich mehr oder weniger verstohlen; manche vielleicht auch mit dem Vorbehalt, ob das denn „cool genug“ sei. Die eine, sozusagen Pionierin, macht unverdrossen weiter – und bricht alsbald den Bann. Ein ums andere Mädchen schließt sich dem Spiel an, bis schließlich ein ganzer Kreis beisammen ist, alle um das Kleinkind geschart, das beglückt lacht.

Von der so vereinten Mädchengruppe werden nun auch die Jungen angelockt, die mit lässigen Gebärden herbeischlendern, einige großspurige Gesten des Burgenbaus vollführen, ein paar Sprüche klopfen und sich dann rasch wieder zurückziehen. Bis auf weiteres.

Sieht aus, als würde vieles so bleiben.




Soziale Miniaturen (3): Profis

Vierköpfige Schülergruppe, nachmittags. Ungefähr 9 bis 10 Jahre alt. Plötzlich entfährt dreien von ihnen der gegen den Vierten gewendete Ruf: „Loser!“ Tadellos ausgesprochen, geradezu mit Kennerschaft dahingesagt. Man merkt die medial vermittelte Gewohnheit. Sagt man so. Macht man halt. Kommt in jedem dritten „Tatort“ vor. Anlass zweitrangig. Und sie kennen noch ganz andere Worte…

Dann die unvermeidliche und doch erstaunliche Steigerung: Die Drei skandieren „Mob-bing, Mob-bing, Mob-bing…“ Sie ironisieren es und lassen es doch nicht bleiben. Sie mobben sozusagen auf höherer Ebene, laut und schmutzig – und stehen zugleich drüber, sind abgebrühte Profis.

Zutiefst dümmlich und zugleich hochreflektiert.

Doch, das geht. Anything goes.




Ehebriefwechsel der Tolstojs: „Du schienst mir alt, mager und bedauernswert“

„Nun will ich mich meinem Ideal der guten, vor allem tätigen und zu allem begabten Hausfrau annähern.“ So bereitwillig diente sich Sofja Tolstaja geb. Behrs ihrem weltberühmten Ehemann an, dem russischen Schriftsteller Lew Tolstoj („Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“).

Das Zitat stammt vom 5. Dezember 1864 und steht damit noch ziemlich am Beginn des umfangreichen Briefwechsels, der das beständig wogende Auf und Ab dieser Beziehung nachzeichnet. Das gemeinsame Glück war auf Dauer gleichsam streng bemessen.

Die Briefsammlung wird als Weltpremiere angepriesen: Erstmals sind die Schreiben beider Eheleute im Dialog zu lesen. Erstaunlich nur, dass dies erst jetzt möglich ist. Zur editorischen Vorgeschichte gehört, dass Sofja Tolstaja auf Lews misogyne „Kreutzersonate“ entschieden mit ihrem Kurzroman „Eine Frage der Schuld“ antwortete, der allerdings seinerzeit nicht erschienen ist, sondern erst 75 Jahre nach ihrem Tod. Seither ist sie ein wenig aus seinem Schatten herausgetreten.

Gegen Ende der langen Ehezeit, als ihr Mann sie aus weltanschaulichen Gründen brüsk verlassen hat, fleht sie am 29. Oktober 1910: „Ljowotschka, mein Liebster, kehre nach Hause zurück, Lieber, rette mich vor einem neuerlichen Selbstmordversuch (…) ich werde alles, alles tun, was du willst…“ Es gab keine Gelegenheit mehr: Lew Tolstoj starb wenige Tage später, am 7. November 1910.

Die beiden bisherigen Zitate täuschen. Sofja Tolstaja ist nicht all die Jahre über unterwürfig geblieben, sie hat phasenweise schroffe Kritik an Tolstojs (zunehmend asketischer) Lebensführung geäußert. Sie sorgte sich um die insgesamt 13 (!) Kinder, die sie (unterstützt von Gouvernanten aus Westeuropa) fast ohne tätige Mithilfe ihres Gatten aufzog, falls sie nicht schon früh starben. Zudem kümmerte sie sich in durchwachten Nächten mit Abschriften seiner Werke sowie als Lektorin und Herausgeberin aufopferungsvoll um Lew Tolstojs Ruhm.

Umso entsetzter war sie, als Tolstoj schließlich seine lukrativen Autorenrechte für „frei“ erklärte und damit die eigene Familie quasi enterbte. Die schreckliche, allgegenwärtige Armut in Russland hatte ihn auf einen Weg der christlich motivierten Entsagung gebracht, den er immer radikaler und ohne Rücksicht auf Angehörige beschritt. Hass auf die eigene, privilegierte Klasse bricht sich in etlichen seiner Briefe Bahn: „Das Leben unserer gesamten Schicht ist (…) errichtet auf Stolz, Grausamkeit, Gewalt, Übel…“ Tolstoj betrieb Garküchen zur Armenspeisung, doch überließ er sich andererseits einem Hang zur Esoterik. Er scharte Jünger um sich, die ihm schmeichelten und seiner Frau arg ins editorische Handwerk pfuschten.

Der Briefwechsel konnte sich in oft langen Trennungsphasen entfalten. Auf der Suche nach dem einfachen Leben zog sich Tolstoj immer häufiger nach Jasnaja Poljana und auf andere entlegene Landgüter zurück. Sofja hingegen blieb vor allem den Winter über in Moskau – wegen der ungleich besseren Schulen.

Man muss kein großer Frauenkenner sein, um die Wirkung solcher Zeilen einzuschätzen, mit denen sich Tolstoj 1871 für eine Briefsendung Sofjas bedankte: „Deine Photographie war auch dabei. Sie hat mich sehr gefreut (…), obwohl der erste Eindruck nicht gerade angenehm war. Du schienst mir alt, mager und bedauernswert.“

Immer wieder versichern die beiden einander ihrer bleibenden Liebe, der gegenseitigen Sorge ums leibliche und seelische Wohlbefinden, doch immer greller werden vor allem Gegensätze und Brüche sichtbar. Mühsam geschlossene Kompromisse erweisen sich rasch als bröckelnder Kitt.

Er tadelt ihren angeblichen Hang zum Luxus. Sie beklagt sich über seine Misanthropie. Er wirft ihr Garstigkeit und Streitsucht vor. Sie moniert, er stelle die Liebe zur Menschheit über die Familie. 1883 gelangt sie zum deprimierenden Fazit: „…zu wissen, daß Du mein ganzes Leben und mich als Menschen nicht gutheißt und nicht ernst nimmst.“ Dramatischer ausgedrückt: „Mit der einen Hand liebkost Du mich, während Du mir das Messer zeigst, welches Du in der anderen hältst.“

Als folgenloser Ausbruch erweist sich Tolstojs Zerknirschung: „(…) besonders aber bin ich mir selbst widerwärtig geworden. An allem trage ich die Schuld – ich, das grobe, egoistische Tier!“

Dann wieder sie: „(…) ich bin Deiner Güte nicht würdig, fühle mich um so vieles schlechter als Du…“ Oder auch so: „Du kannst mich nicht einfach fallenlassen, denn meine Bestimmung ist es, Deine Frau zu sein…“

Manche Passagen lesen sich qualvoll. Derlei Selbstaufgabe kann man sich kaum noch begreiflich machen. Ob der andere Zeithorizont zur Erklärung ausreicht? Oder ob hier zwei große, erbittert beharrliche Liebeszerstörer am Lebenswerke waren?

Der Briefwechsel ist zugleich ein fortlaufendes Dokument zur Historie. Das Spektrum reicht von Wohn- und Lebensverhältnissen über den ständigen Kampf mit staatlichen und kirchlichen Zensurbehörden, schließt Wetterunbill (oft bitterste Kälte), Erziehungsfragen und Gesundheitswesen ein, reicht schließlich bis zu gesellschaftlichen Verwerfungen im weiteren Vorfeld der russischen Revolution. Sofja zeigt sich stets besorgt, dass ihr Mann mit seinem Eintreten für die Armen als radikaler Sozialist gelten könnte und mahnt ihn inständig zur politischen Mäßigung. Die Familie stellte sie über alles, auch über den Gang des Weltgeistes.

Lew Tolstoj / Sofja Tolstaja: „Eine Ehe in Briefen“. Herausgegeben und übersetzt von Ursula Keller und Natalja Sharandak. Insel Verlag. 494 Seiten. 22,90 Euro.




Raddatz-Tagebücher: Im Haifischbecken der Literatur

Diese Lektüre hat sich hingezogen. 907 Seiten (plus Register) umfassen die Tagebücher der Jahre 1982-2001, die der Großkritiker, Autor und Publizist Fritz J. Raddatz jetzt vorgelegt hat. Es ist ein Wechselbad aus spannenden und ärgerlichen Passagen.

Frank Schirrmacher, FAZ-Mitherausgeber und früher FAZ-Kulturchef, wird auf der Rückseite des Buchs in goldenen Großbuchstaben zitiert: „Dies ist er endlich, der große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik!“ Wie zum Dank für die jubelnde Empfehlung erscheint Schirrmacher in Raddatz‘ Tagebüchern nahezu als Lichtgestalt, als gebildet, höchst intelligent und allzeit gedankenschnell, überdies habe er zeitweise das beste Feuilleton der Republik geleitet. Beinahe so etwas wie eine jüngere Ausgabe seines Vorbildes Raddatz also.

Man kennt sich, man hilft sich? Nun ja. Meist ist das Gegenteil der Fall: Im grässlich eitlen, zunehmend verkommenen Kulturbetrieb, so jedenfalls der Grundtenor des gesamten Bandes, denke jeder nur an sich selbst. Hauen und Stechen, jeder gegen jeden. Da ist man als normalsterblicher Leser heilfroh, nicht mit bekannten Schriftstellern befreundet zu sein und nicht solche Imponier-Sätze notieren zu müssen: „Ich gebe auf dem Postamt Briefe an Grass, Botho Strauß, Hochhuth und Enzensberger auf…“ Pointe: Selbst der Postbeamte hieß (welch’ Zufall) Max Frisch.

Bloß nicht mit bekannten Autoren befreundet sein

Im Haifischbecken der egomanischen Literaten erkundigen sich selbst altgediente Freunde, wie etwa die Autoren Günter Grass oder Rolf Hochhuth, kaum einmal näher nach Arbeitsvorhaben und Befinden des Fritz J. Raddatz. Er leidet unter solcher Ignoranz wie ein Hund. Und nimmt permanent übel. Viele seiner Notizen sind (auch pekuniär besehen) buchstäblich „Abrechnungen“: Demnach würdigt man ihn stets zu wenig und lässt sich auch noch von ihm aushalten. Kaviar, Schampus oder edle Bordeaux-Weine gingen allzu oft auf seine Kappe. Ist er hingegen anderswo zu Gast, geht’s eher schäbig zu. Fast alle sind geizig, er ist großzügig. Du meine Güte!

Überaus leicht verletzliche Eitelkeit ist ein Wesenszug dieses Tagebuchschreibers, der darum ringt, nicht nur als erstklassiger Journalist, sondern als veritabler Schriftsteller zu gelten. Ergo: Ein eitler Pfau hält all den anderen Pfauen ihre Pfauenhaftigkeit vor. Und das über so viele Seiten hinweg. Es ist mitunter quälend. Gemildert wird die Suada bisweilen durch zerknirschte Selbsterkenntnis: „Ich habe mich in den Fäden der selbstgesponnenen Eitelkeit verfangen und finde nun aus diesem Netz nicht mehr heraus…“ Oder sogar: „Ich muß mich schon fragen, ob ich mich, meine angebliche Lebensleistung und meine nebbich Bedeutung, nicht enorm überschätze.“ Zwiespältiger Befund: „Weiß also nicht, was ich will. Man will ,beachtet‘ werden – und zugleich in Ruhe gelassen.“

Ungeachtet aller Widrigkeiten ging’s immer wieder frisch ins Getümmel. Über die Buchmesse jammern, aber sich jedes Jahr hinein stürzen. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten darf „man“ eben nicht fehlen. Doch manchmal übermannt Raddatz der Überdruss, der Ennui: In Zürich langweilen ihn die Museen, einschließlich der Cézanne-Bilder. Demonstrativer Seufzer des übersättigten Ästhetizisten: „Was soll man mir schon Neues bieten?“

Von 1977 bis 1985 war der frühere Rowohlt-Cheflektor Raddatz Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Es waren dort wohl die lebendigsten Jahre dieses Ressorts. Dank Raddatz‘ vielfältigen Verbindungen zu Akteuren des hassgeliebten Literaturbetriebs schrieben damals die erlauchtesten Geister regelmäßig für das Blatt. 1985 wurde Raddatz wegen eines gar nicht mal so gravierenden, sondern eher lässlich-lachhaften Fehlers als Ressortleiter geschasst (er hatte in einer Buchmesse-Glosse Goethe mit dem – seinerzeit noch nicht existierenden – Frankfurter Bahnhof in Verbindung gebracht), blieb aber Autor der Zeitung, mit offenbar bestens gepolstertem Spesenkonto.

„70. Geburtstag. Grabstein gekauft.“

Dennoch: Das Leiden am Karrierebruch füllt viele Seiten des Tagebuchs. Eigentlich kein Wunder, dass der zusehends wehleidige Raddatz die Entwicklung der „Zeit“-Redaktion fortan als Niedergang wahrnimmt; erst recht, als Sigrid Löffler das Feuilleton übernimmt. Sein Selbstwertgefühl ist angekratzt und muss mühsam behauptet werden, zudem verspürt Raddatz Anzeichen des Alters. Später heißt es einmal wunderbar lakonisch: „70. Geburtstag. Grabstein gekauft.“ Vergällte Lebenslust – allem Luxus zum Trotz. Gegen Melancholie helfen natürlich weder die kunstsinnig ausstaffierten Wohnungen in Hamburg, auf Sylt und in Nizza, noch die teuren Fahrzeuge (erst Porsche, dann Jaguar).

Und der „Gesellschaftsroman“? Raddatz zeigt uns zahllose Prominente aus Kultur und Politik in Nahansicht. Der Mann hat so gut wie alle gekannt, die Rang und Namen hatten. Wer mitunter brillant formulierte Sottisen über Deutschlands wirkliche und vermeintliche Elite sucht, wird reichlich fündig. Darüber hinaus bietet das Buch tatsächlich Bruchstücke oder Bausteine einer bundesrepublikanischen Sittengeschichte. Doch ein Roman ist das alles bei weitem nicht.

Schreckenskabinett betrüblicher Gestalten

Wollte man eine Negativ-Rangliste aufstellen, so wären „Spiegel“-Begründer Rudolf Augstein (angeblich auf seine älteren Tage ein erbärmlicher Alkoholiker), die einstige „Zeit“-Mitherausgeberin Marion Gräfin Dönhoff („Kuh“), der selbstverliebt schwatzhafte Rhetoriker Walter Jens, dito „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki, Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld und der hochmütige Germanist Hans Mayer einige der missliebigsten Figuren im Schreckenskabinett des Fritz J. Raddatz. Also vorwiegend Leute, die mit Raddatz um Kronjuwelen des Kulturbetriebs bzw. des Pressewesens rivalisier(t)en, so auch ein weiterer Kritiker-Kollege, der „miese Herr Karasek“ vom herzlich verachteten Schmutzblatt namens „Spiegel“. Namenlose Schreiberlinge sind in solchen Sphären ohnehin nicht satisfaktionsfähig.

Altkanzler und „Zeit“-Mitherausgeber Helmut Schmidt kommt nach Raddatz‘ Lesart – wie nahezu alle Politiker – als banausenhafter Simpel daher, TV-Promi Ulrich Wickert wird als ahnungsloser „Fernseh-Ansager“ vorgeführt. Raddatz bekundet, von tagtäglichen Politiker-Sorgen nichts wissen zu wollen, denn – so wörtlich – „man will ja auch nicht die Sorgen der Müllabfuhrmänner hören.“ Klar, mit denen kann man ja nicht über James Joyce oder die besten Bordeaux-Lagen reden. Zu solchem Dünkel passt diese Notiz von einer Lesereise: „Mich interessiert ‚mein Publikum‘ nicht; sie sollen lesen und die Klappe halten.“

Einmal in Fahrt, schmäht Raddatz auch Klassiker der Literatur als mindere Skribenten, so u. a. Tolstoi, Montaigne, Balzac, Proust und Roland Barthes. Wie denn überhaupt Frankreich vorwiegend mit Oberflächlichkeit assoziiert wird. Ein alter, erzdeutscher Topos, erstaunlich beim erklärten Linken Raddatz. Im Zuge der deutschen „Wende“ 1989/90 ereilt der Bannstrahl (Stichwort „Stasi-Connection“) auch Heiner Müller und Christa Wolf. Mehr Abschätziges gefällig? Nur wenige Beispiele: Dürrenmatt ist „etwas dumm“ (S. 83), Thomas Bernhard ein bloßer Literatur-Clown (S. 278), Adolf Muschg flach (S. 510), Fontanes Tagebücher sind nichtssagend (S. 579), Elfriede Jelinek ist läppisch und infam (S. 663), Kavafis banal (S. 724), das „Bürschlein“ Harry Rowohlt lediglich „von Beruf Erbe“ (S. 816).

Nur selten, aber immerhin blitzt zwischen all den harschen, längst nicht immer triftigen, ja oft haltlosen Urteilen auch Selbstkritik auf: „Oder irre ich mich aus Verdrossenheit?“ Zum Ausgleich werden ein Autor wie Kurt Drawert oder der eng befreundete Maler Paul Wunderlich in hohen Tönen gelobt. Stimmen hier noch die Maßstäbe?

Wenn Raddatz seine Schwester (Kosename „Schnecke“) schildert, genießt man einige der besten Passagen des Buches. Doch manchmal trägt er Privates unangenehm stolzgeschwellt zu Markte. So renommiert der schwule Kulturkritiker damit, dass er es in jüngeren Jahren u. a. mit Größen wie dem Beat-Poeten Allen Ginsberg oder dem Tänzer Rudolf Nurejew getrieben habe. Vollends peinlich ist das sexuelle Eigenlob auf dem Umweg über „Stimmen zum Spiel“: Raddatz lässt wissen, dass viele Herrschaften ihn als jeweils besten Liebhaber ihres Lebens bezeichnet hätten (S. 749).

Das üppige Textkonvolut hätte man kürzen können, es ist hie und da arg wiederholungsträchtig. Dann wäre Platz gewesen für erläuternde Anmerkungen (und aussagekräftige Fotografien), die man schmerzlich vermisst. Schon heute sind etliche Personen und Vorfälle nicht mehr vielen Menschen geläufig, in ein paar Jahren werden sie noch mehr verblasst sein.

Fritz J. Raddatz: „Tagebücher 1982-2001“. Rowohlt Verlag. 939 Seiten. 34,95 Euro.




Martin Walsers Tagebücher 1974-1978: Wachsende Verbitterung

Also schreibt Martin Walser: „Ich schlug Günter vor, in ein Pornokino am Ku’damm zu gehen. Günter wollte nicht. Ich habe Phantasie, ich geh doch in keinen Porno.“

Richtig geraten. Jener Günter ist Günter Grass. Nach einem langen Diskussionstag in der Berliner Akademie der Künste mochte er sich offenbar nicht „unter Niveau“ entspannen. Oder war es die unverhoffte Gelegenheit, dem Marktkonkurrenten Walser „Phantasielosigkeit“ zu unterstellen? Egal.

Die läppische Episode begab sich im Mai 1976 und ist in Martin Walsers Tagebüchern verzeichnet. Er hätte die Passage, in der Grass vermeintlich „besser wegkommt“ als er selbst, gewiss nicht in den neuen Band aufnehmen müssen. Doch er hat es getan. Auch sonst ging er in den jetzt erschienenen Tagebüchern der Jahre 1974-1978 nicht gerade schonend mit sich um. Seine Wahrheit muss heraus. Mit anderen Worten: Dies ist ein notwendiges Buch.

Man kann hier noch einmal tief in den Kultur- und Literaturbetrieb der 70er Jahre eintauchen, als Autoren wie Grass und Walser, Max Frisch, Heinrich Böll, Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger die hiesigen Debatten prägten. Als dominanter Präzeptor des Betriebs, ja als geradezu mythische Gestalt – jedoch mit manchen menschlichen Schwächen – erscheint der offenbar allzeit virile Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, der sich außerehelich gern mit ausgesprochen jungen Gespielinnen schmückte wie nur je ein „Pate“. Auf ähnlichen Anhöhen thronte Max Frisch, den Walser als eitlen Altvorderen schildert. Und Enzensberger? War demzufolge ein Hallodri. Das durfte man erwarten.

Doch hier geht es weder um Tratsch noch um bloßes name dropping. Das hat Walser wahrlich nicht nötig. Er hat die meisten Kulturschaffenden (und Politiker), die er erwähnt, sehr gut gekannt und weiß Treffliches über sie mitzuteilen. Dabei werden Strukturen und Mechanismen des Betriebs bloßgelegt. So erfährt man einiges über Mauscheleien im Vorfeld wichtiger Literaturpreise, über bezeichnende Interna des Leitfossils Suhrkamp-Verlag oder über die teilweise gehässige Konkurrenz zwischen Schriftstellern.

Auch Walser ist natürlich nicht gänzlich frei von Anwandlungen der Missgunst. Mehrfach lässt er Futterneid just auf Grass durchblicken, der für Lesungen deutlich höhere Honorare kassierte und zudem höhere Prozentanteile an Buchverkäufen einstrich. Im Zuge der damaligen Tendenzwende (Zurückdrängung linker Positionen während des deutschen RAF-Terrorherbstes) fallen auch bissige Bemerkungen etwa über Peter Handke, der sich auf „wahre Empfindung“ kapriziert, während Walser seinerzeit immer noch im Umfeld der DKP (deren Mitglied er nie war) angesiedelt wird. Dabei ist auch er längst in andere Richtungen unterwegs.

Allerdings plagt sich Walser mit einer typischen 70er Jahre-Befürchtung, nämlich der, dass er als Hauseigentümer zu den verhassten Besitzenden gezählt werden könne.

Andererseits treiben den doch einigermaßen arrivierten Autor ständige, kleinmütig (und kleinbürgerlich) anmutende Geldsorgen um. Zitat: „Böll und Grass haben ihre enormen Geldreserven. Ich habe nichts.“ Jeder selbst bezahlte Hotelaufenthalt und erst recht ein Autokauf bereiten ihm Kopfzerbrechen. Will sich etwa jemand darüber mokieren? Wer steht schon für alle Zeit auf sicherem Grund?

Den bleiernen Schwerpunkt des Bandes bildet denn auch ein existenzgefährdender Vorgang, bei dem Walser übel mitgespielt worden ist, und zwar vom damaligen FAZ-Literaturchef Marcel Reich-Ranicki. Der hat am 27. März 1976 Walsers Roman „Jenseits der Liebe“ total verrissen, ja geradewegs verbal zerfetzt und dabei die literarische Eignung Walsers grundsätzlich in Zweifel gezogen.

Walser protokolliert in jenen Tagen, Wochen und Monaten seine nachhaltige Verbitterung. In der Rezension Reich-Ranickis glaubt er einen veritablen Vernichtungswillen zu spüren. Der Kritiker wolle ihn, Walser, „heraus haben“ aus der Literatur. Daran arbeitet sich Walser mühsam ab – zwischen Selbstzweifeln, Selbstzerfleischung und Selbstbehauptung, zwischen Rachedurst, Verfolgungswahn und aufblitzenden Selbstmordgedanken. Seine nächste Begegnung mit Reich-Ranicki stellt er sich im Tagebuch so vor: „Ich sage Ihnen also, dass ich Ihnen, wenn Sie in meine Reichweite kommen, ins Gesicht schlagen werde.“

Martin Walser erhielt damals etliche Solidaritätsbekundungen, so auch vom Freund Jürgen Habermas. Doch so gut wie niemand von medialem Belang wagte es, Reich-Ranicki öffentlich zu widersprechen. Besonders enttäuscht ist Walser über sozusagen schulterklopfende Großkritiker wie Joachim Kaiser („Süddeutsche Zeitung“) und Rolf Michaelis („Die Zeit“), die ihre Ablehnung in fadenscheinige Komplimente kleiden.

Walser kommt immer wieder auf seine notorischen Bauchschmerzen zu sprechen. Psychosomatische Symptome? Wer weiß. Jedenfalls vernimmt man einen Grundton des Verzagens, wechselnd mit trotzigen Wallungen und nur gelegentlichem Übermut, der auf verschüttete Lebenslust schließen lässt. Erst ein mehrmonatiger Arbeitsaufenthalt in West Virginia/USA bringt Linderung durch Distanz.

Das Ganze ist kein geringes Lehrbeispiel für Rezensenten aller Kunstgattungen, denn hieran lässt sich ermessen, was eine rücksichtslose Kritik mit einem Autor machen kann. Sie kann ihm schlimmstenfalls an die Lebensgeister gehen. Diese Feststellung ist beileibe kein Plädoyer für lediglich ergriffen nachzeichnende „Kunstbetrachtung“, wohl aber eine Mahnung zum Anstand. Auch entschiedenste Kritik sollte ihre Grenzen kennen.

Das rastlose Leben auf Lesetourneen (deprimierende Hotels, Provokateure im Publikum usw.) hält nur selten Trost bereit. Walsers auffällige Marotte: Wie ein akribischer Kursbuchhalter nennt er all die An- und Abfahrtzeiten der Züge, die er benutzt. Seine nervösen Zettel-Kritzeleien, deren Faksimiles den ganzen Band durchziehen, zeugen in kryptischer Form von seelischen Aufregungen (mit einem damals entstehenden Walser-Romantitel gesagt: von „Seelenarbeit“), sie geben dem Leser zudem das Gefühl einer großen Nähe zum Entstehungsmoment der Notizen. Ein sinnreicher Kunstgriff dieser Edition, die im Anhang aufschlussreiche Erläuterungen zum zeitgeschichtlichen Kontext enthält. Der vielleicht einzige Schwachpunkt des Primärtextes sind pseudo-lyrische Einsprengsel. Walser war und ist kein Lyriker. Er hat gut daran getan, sich anders zu orientieren.

Zauber der Nähe in vertrauter Region, heilsame Verwurzelung: Penibel hält der in literarischer Fron weltweit gereiste Walser fest, bis zu welchem Punkt er jeweils im heimischen Bodensee hinausgeschwommen ist. Und was der zuweilen arg besorgte Vater von vier Töchtern übers Familiäre äußert, ist auch nachträglich interessant. Franziska, Johanna, Alissa und Theresia Walser haben schließlich ihre je eigenständigen Wege als Autorinnen und beim Schauspiel (Franziska) beschritten. Es gibt bewegende Stellen in diesem Buch, die besagen, dass das Wachsen und Werden der Kinder Walser mindestens ebenso wichtig ist wie die eigenen Werke. Beispielsweise diese Aufzeichnung vom 31.8.1975:

„Die einzige Freude, die ich hatte, sind die Kinder. Wenn es zweien von diesen vieren gut ginge, könnte ich im Anschauen dieses Gutgehens meine restliche Zeit verbringen…“

Martin Walser: „Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978“. Rowohlt Verlag. 591 Seiten, 24,95 Euro.




Enzensberger: Festlegen gilt nicht

Wenn man jemals gedacht haben sollte, jetzt wüsste man aber, worauf dieser Hans Magnus Enzensberger hinaus will, so war er meist schon wieder ein paar Schritte oder Windungen weiter.

Auch als älterer Mann ist er gedanklich noch wendiger als die allermeisten Jüngeren. Allein schon der Tonfall des mittlerweile 79-Jährigen klingt auch im neuen Gedichtband „Rebus“ freiweg – wie in seinen frühen und seinerzeit zornigen Aufbruchsjahren. Oder will man es etwa nur gerne so haben und hört es sich so zurecht?

Es schwingt da mittlerweile auch eine gereifte Gelassenheit mit, die die letzten Dinge längst ins Auge gefasst hat und den Tod kommen sieht. Revolte? Umsturz? Ach was! Obwohl es doch einst so schön war, die Utopie zu erträumen. Zitat aus dem abschließenden Gedicht „Coda“, das von fern her an Bert Brechts selbstkritisches Lebensfazit „An die Nachgeborenen“ gemahnt: „Daß nicht alles Mögliche möglich ist, / tut mir leid…“

Vielleicht noch ein leiser Anklang an Brecht, in diesem Falle an die „Fragen eines lesenden Arbeiters“. Enzensbergers Gedicht „Angewohnheiten“ hebt so an:

„Wie oft musste Plato sich schnäuzen, / der heilige Thomas von Aquin / seine Schuhe ausziehen, / Einstein sich die Zähne putzen, / Kafka das Licht ein- und ausschalten, / bevor sie zu dem kamen, / was ihnen aufgetragen war?“

Und was sagt uns das letztlich? Etwas sehr Bedenkenswertes: Dass nämlich der vermeintlich unbedeutende Alltagskram, den wir alle miteinander teilen („Kochen, Waschen, Treppensteigen“), in seiner ganz gewöhnlichen Friedlichkeit viel unentbehrlicher sei als all die großen Werke…

Das Titelwort „Rebus“ erinnert an jene kombinierten Buchstaben- und Bilderrätsel, die sich eben just „mit den Dingen“ (wörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen) abgeben. Der Titelumschlag zeigt ein Lehrbuch-Bild aus der Hirnzellenforschung. Enzensberger hat oft Klage geführt gegen unsere grundsätzlich gespaltene Kultur: hie Geistes-, dort Naturwissenschaften, fast immer getrennt von einem Graben gegenseitigen Nichtverstehens. Seinen Gedichten ist gelegentlich zu entnehmen, dass er über solche Gräben hinwegsetzen will. Würde das Wort „ganzheitlich“ nicht so inflationär entwertet klingen, so wäre es hier angebracht.

Die Überschriften der Zyklen lauten wie knappe Befunde: „Gleichgewichtsstörung“, „Es gibt Probleme“, „Schwere Koffer“ (lastendes Gepäck der Erinnerung bis zurück in die Weltkriegszeit) und „Erste Person Plural“ (kollektive Erfahrungen in einer zwangsläufig diffusen „Wir“-Form). All diese durchaus noch unentschiedenen Bilanzen werden ausgesprochen lakonisch aufgesetzt. Unaufgeregt. Oft unterschwellig ironisch. Doch im Bewusstsein, dass da einiges ins krisenhafte Schlingern geraten ist – und dass der Mensch dem Verfall zu keiner Zeit entkommt. Das alte, natürlich nie erledigte Thema der Vergänglichkeit.

„Als ich zwanzig war, lange her / kam ich mir vor wie ein Toter, der keine Zukunft hat“, heißt es einmal weit rückblickend. Kaum ein prinzipieller Unterschied: Damals wie heute reicht, wenn man’s recht bedenkt, die halbwegs gesicherte Lebensperspektive im Grunde nur bis zum nächsten Tag. Man übersteht und überlebt, bis auf weiteres. Allem westlichen Luxus und allen momentanen Glücksgefühlen zum Trotz: „Auch das blühende Leben ist rutschig.“ Und selbstverständlich hat dieser Autor den Vorwurf des Jammerns auf hohem Niveau („Der hat gut reden“) stets schon klug mitbedacht.

Hinter jeder Zeilenbiegung kann hier eine kleine oder größere Überraschung lauern, hier gilt keine Festlegung, hier herrschen allemal schwer lösliche Widersprüche. Enzensberger ist eben nie so recht zu fassen. Nur ganz selten stört ein wenig seine Marotte des Aufzählens, diesmal z. B. auf Seite 85, im Gedicht „Bringschulden“. Da erfährt man nahezu komplett, was der Mensch „bringen“ kann – vom Opfer bis zum Ständchen…

Doch ein solcher Einwand ist läppisch im Vergleich zum reichlichen Gewinn, den man sich hier erlesen kann. Weitläufig sind die Felder, die in den kurzen Gedichten (gleichwohl ohne Eile) durchmessen werden, groß ist die Zeiten- und Themenfülle dieser Inventur zwischen Physis, Psyche und Gesellschaft. Nur zum Beispiel die Feier der vitalen Vielfalt, über alles nicht zu leugnende Elend hinaus: Diese immer noch wirksame Sinnlichkeit unserer wechselnden Jahreszeiten (ach, auch in dieser Hinsicht verwöhntes Europa!), sogar die wundersame Lebendigkeit der babylonischen Sprachverwirrung: „…sagen am Ende nicht / fünftausend Sprachen mehr als die eine?“

Und weiter, weiter, angetrieben von Ungewissheit (nur Scheitern und Niederlage seien gewiss): Der lebenslängliche Konflikt zwischen der Chemie in grauer Hirnmasse und dem widerspenstigem „Ich“, welches doch so schwammig zu sein scheint: „Je mehr du herumbohrst / in diesem Sumpf, / desto sinnloser.“ Das bedrohliche, womöglich aber auch beruhigende Nichts. Der flüchtige, jedoch erregende Augenblick: „Alles, was du spürst, ist gleich gültig. Das bloße Leben, bis in den kleinen Zeh.“ – Man beachte: „Gleich gültig“ statt „gleichgültig“, welch ein fundamentaler Unterschied!

Das Leben pulst und zittert also Tag für Tag fort und fort. Hingegen werden die großen, abstrakten Systeme und Behauptungen mit der Zeit relativiert. Vermeintlich felsenfester Glaube und Unglaube, Staatswesen („Leviathan“), angeblich weltbedeutende Werke. Ganz zu schweigen von den Torheiten neuester technischer Moden und der grassierenden, sinnleeren Betriebsamkeit…

Am besten, man begibt sich nicht in die Hauptströmung, sondern ergeht sich „dazwischen“ als jemand, der ruhig in eigenem Fahrwasser paddelt und aus der Distanz etwa dies amüsiert und befremdet wahrnimmt: „Alles, was wichtig ist, / zieht am Ufer vorbei – / Oberlandesgerichte, Tankstellen, / Mehrzweckhallen.“

Hans Magnus Enzensberger: „Rebus“. Gedichte. Suhrkamp Verlag. 120 Seiten, 19,80 €.




Knochenarbeit im Bergwerk des Humors – Vor 100 Jahren wurde Heinz Erhardt geboren

Er muss ein geradezu besessener Arbeiter im Bergwerk des Humors gewesen sein. Er selbst und seine Familie haben unter seiner nie versiegenden Schaffenswut gelitten. Doch kaum betrat der rundliche Kerl die Bühne, so war er eine Seele von Mensch – und vor allem: ein Schelm! Heute vor 100 Jahren wurde der Komiker Heinz Erhardt geboren.

Eine deutsche Ahnenreihe der Hochkomik sähe in den Grundzügen wohl ungefähr so aus: Wilhelm Busch, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Heinz Erhardt, Loriot, Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Otto Waalkes, Hape Kerkeling, Helge Schneider. Mögen da auch ein paar Bindeglieder fehlen (bitte wunschgemäß freihändig einsetzen), so gehören doch die Genannten hinzu. Heinz Erhardt steht dabei als singulärer Humor-Produzent für die 50er und frühen 60er Jahre, er war der Komiker des „Wirtschaftwunders“.

Erhardt kam am 20. Februar 1909 in der heutigen lettischen Hauptstadt Riga zur Welt. Sein Vater war Kapellmeister, der Großvater (bei dem er aufwuchs) ein achtbarer Klavierspieler. Heinz Erhardts Jugendtraum, Konzertpianist zu werden, erfüllte sich allerdings nicht. Erst 1994 kamen aus dem Nachlass einige seiner Kompositionen in klassischer Manier auf CD heraus.

1932 stand er erstmals in einem Lustspiel auf der Bühne des Deutschen Schauspiels in Riga. Entscheidender Schritt: 1938 wurde er ans Berliner Kabarett der Komiker geholt. Den Weltkrieg überstand er als schon recht prominenter Spaßmacher in der Truppenbetreuung, was ihn vor dem Dienst an der Waffe bewahrte.

Neubeginn in der Trümmerzeit: 1946 knüpfte Erhardt Kontakte zum NWDR in Hamburg, wo er Unterhaltungsprogramme wie „So was Dummes“ moderierte. Auch stand er in Komödien auf diversen Hamburger Bühnen. Seine Alleinunterhalter-Qualitäten sprachen sich schnell herum, so dass er bald erste Tourneen unternahm.

Durchaus auf der Basis traditionell überlieferter Verskunst und sprachlich manchmal höchst raffiniert, trieb Erhardt seine vorwiegend wortspielerisch grundierten Scherze. Das 1963 erschienene Buch mit dem Titel „Noch’n Gedicht“ wurde zum Verkaufsschlager. Es enthielt auch Erhardts wohlbekannte Zeilen über „Die Made“: „Hinter eines Baumes Rinde / saß die Made mit dem Kinde. / Sie ist Witwe, denn der Gatte, / den sie hatte, fiel vom Blatte …“ Und so weiter. Sein Erscheinungsbild war das eines allzeit netten, manchmal leicht verwirrten Onkels mit treuherzigem Mondgesicht. Er gab sich bewusst tollpatschig und gehemmt. So einen Menschen mochte man einfach gern, weil er so gar keine Bedrohung darstellte.

Vor allem im Kino (erste Hauptrolle 1957 als Marmeladenfabrikant in „Der müde Theodor“) hat er etlichen Klamauk mitgemacht und dabei zuweilen sein Talent unter Wert verschleudert. Möglicher Grund: Wie es heißt, war er ein Paniker, was seine finanzielle Situation anging. Auch sein Lampenfieber war legendär. Er soll es auch mit dem einen oder anderen Schnaps bekämpft haben.

1971 erlitt der bis dahin so rastlose Erhardt einen Schlaganfall und musste fortan deutlich kürzer treten. Er starb in der Nacht zum 5. Juni 1979. Etwa um 1983 kam es zu einer überraschenden Renaissance. Gerade Jüngere fanden plötzlich Gefallen an alten Erhardt-Filmen, die nun in den Programmkinos liefen. Und heute führt er ein beinahe schon gespenstisches Nachleben in Internet-Portalen wie „YouTube“, wo man viele Szenen mit ihm aufrufen kann. Was dort so flüchtig wirken mag, ist in Wahrheit unvergänglich.

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Infos

  • Filme (Auswahl): „Witwer mit fünf Töchtern“ (1957), „Immer die Radfahrer“ (58), „Natürlich die Autofahrer“ (59), „Der letzte Fußgänger“ (60), „Drei Mann in einem Boot“ (61), „Unser Willi ist der Beste“ (71).
  • Internet-Seite: http://www.heinzerhardt.de (betrieben von Heinz Erhardts Erben). Dort Hinweise auf viele Bücher, CDs und DVDs.

(Der Beitrag stand am 20. Februar 2009 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Nico: Die Frau mit der Sirenenstimme

Köln. Christa Päffgen war ein Weltstar, ja geradezu eine Ikone der Popmusik. Wie bitte? Christa Wer? Nun, weitaus bekannter war die gebürtige Kölnerin unter ihrem Künstlernamen „Nico“ – und geradezu legendär wurde sie als zeitweilige Sängerin der Kultband „Velvet Underground“.

Zur Erinnerung: Diese formidable Formation um Lou Reed und John Cale spielte anfangs unter der Ägide des Pop-Künstlers Andy Warhol, der auch das berühmte Bananen-Cover für ihre Debüt-Platte schuf. Das immens einflussreiche Album hieß „The Velvet Underground & Nico“ und war mit düsteren Titeln („I’m Waiting for my Man“, „Venus in Furs“, „Femme Fatale“, „Heroin“, „All Tomorrow’s Parties“) ein Meilenstein der Rockgeschichte. Nicht zuletzt lag es an Nicos suggestivem Sirenengesang, der sich mit hartem deutschen Akzent im Niemandsland zwischen Minimalismus und Nihilismus erging.

Die Ausstellung, mit der das Kölner Museum für Angewandte Kunst jetzt an Nico (1938-1988) erinnert, erweist sich mit zahlreichen Doku¬menten (Bilder, Texte, Filme und Töne – auch via Audioguide) als weit verzweigte Spurensuche. Sie ist mehr als eine bloße Reliquienschau.

Kaum zu glauben, in welchen Sphären sich diese Nico bewegt hat. Ihr Dasein als öffentliche Frau begann beileibe nicht erst im Pop-Geschäft. Nico wurde in hohem Maße zur Projektionsfläche diverser Männerphantasien. Wahrscheinlich ist sie daran zerbrochen; vielleicht auch am Überangebot der Freiheiten, das sich damals aufgetan hat.

Schon mit 16 Jahren wurde sie in Berlin als Model (damaliger Ausdruck: Mannequin) der Marke „Lolita“ entdeckt und zog bald nach Paris, wo sie den Künstlernamen „Nico“ annahm. Sie zierte die Titelseiten von Magazinen wie dem „Stern“ (1959 – Fotograf: Charles Wilp) oder des Zeitgeistblattes „Twen“ (1961). Auch die Glamour-Postillen „Elle“ und „Vogue“ wurden aufmerksam auf die Blondine mit der Aura zwischen Unschuld und Erfahrung. Später mengten sich mehr und mehr Schattierungen todessüchtiger Traurigkeit und von Dämonie mit hinein.

Eigentlich kein Wunder, dass ein auf optische Sensationen versessener Mann wie Federico Fellini sie dann 1960auch für den Film rekrutierte. Nico spielte eine kleine, aber seltsam faszinierende Rolle in dem Klassiker „La dolce vita“ (Das süße Leben) – neben den Stars Marcello Mastroianni, Anita Ekberg und Anouk Aimée. Einem gewissen Bob Dylan prägte sich Nicos kurzer Kinoauftritt derart ein, dass er ihr den Song „I’ll keep it with mine“ (1965) widmete. Folgenreicher Vorfall jener Jahre: Der Filmschönling Alain Delon schwängerte sie, wollte aber den gemeinsamen Sohn Ari nie anerkennen.

Nach dem furiosen Einsatz bei „Velvet Underground“ vagabundierte Nico durch die wildesten „Szenen“ der späten 60er Jahre. Klischee-Stichworte sind schnell genannt: Sex, Drogen, überdrehtes Leben am Rande des Todes. Nico faszinierte denn auch andere, früh verstorbene Rockgrößen: Jim Morrison (1943-1971) von den „Doors“ überredete sie zu musikalischen Solo-Projekten. Eine Zeit lang gehörte sie zu den Groupies im Gefolge der Rolling Stones, besonders der Gitarrist Brian Jones (1942-1969) war ihr zugetan. Stärkste Platte dieser Phase: „Chelsea Girl“ mit dem phänomenalen Titel „These Days“.

Zunehmend stilisierte die einstige Blondine zur dunklen, schläfrig wandelnden Erscheinung. Schwarz gefärbtes Haar, finster umflorter Blick, ausgezehrtes Gesicht. Später, in den 80er Jahren, gibt es erschreckende Bilder von einer aufgedunsenen, durch harte Drogen vorzeitig vergreisten Frau.

Den windungsreichen Weg, der immerzu bergab führt, kann man anhand der in Köln kenntnisreich ausgebreiteten Dokumente eingehend verfolgen. Hie und da könnte man glauben, Nico sehr nahe zu kommen; so etwa, wenn man die rasch hingefetzten Postkarten von ihrer zittrigen Hand liest. Diese fahrige, flüchtige Schrift, diese ziellose Signatur eines verletzlichen Menschen, der alle Wurzeln gekappt hat und sich nicht mehr zurechtfindet: Wort-Bruchstücke aus Herzen der Finsternis.

„Nico – Stationen einer Pop-Ikone“. Museum für Angewandte Kunst, Köln, An der Rechtsschule (neben dem Dom/Hauptbahnhof). Bis 1. Februar 2009. Geöffnet Di-So 11-17 Uhr. Eintritt 5 Euro. Internet: http://www.nico-cologne.de

(Der Beitrag stand am 21. November 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)