Familienfreuden XX: Die Spielzeug-Sekte

Das "richtige" Spielzeug. (Bild: Albach)

Das „richtige“ Spielzeug. (Bild: Albach)

Kinder sind Ideologie pur. Und seitdem Fiona da ist, weiß ich: Die Kampflinie verläuft zwischen Plastik und Holz!

Es war auf den Straßen von San Francisco, Fiona schlummerte selig in ihrem Kinderwagen, als uns eine Frau freundlich ansprach: „Sorry, are you from Germany?“ Normen und ich schauten uns erstaunt an: Wir waren es schon gewohnt, dass wir, kaum dass wir den Mund aufmachten, als Deutsche identifiziert wurden, aber just in diesem Moment hatten wir golden geschwiegen. Woran sie denn das erkannt habe, fragten wir neugierig. Zielsicher und mit breitem Grinsen zeigte sie auf die Spielzeugkette, die an Fionas Kinderwagen baumelte. Sie war – aus Holz. „In the US, this would be plastic!“

Niemals hätte ich gedacht, dass meine Nationalität einmal am Spielzeug unserer Tochter ablesbar sein würde. Bunte Bilder von aufblasbaren Eiffeltürmen, Spaghetti aus Stoff oder Holz-Frikandeln futschen durch meinen Kopf – willkommen in Klischeetanien!

Demarkationslinie zwischen Holz und Plastik

Dabei muss ich der spielzeugweltgewandten Dame doch entschieden widersprechen – schließlich gibt es sie auch in Deutschland selbst, die ideologische Demarkationslinie zwischen Plastik- und Holzspielzeug. Und noch vor einigen Jahren wäre ich selbst fahnenschwingend und „Ostheimer“-rufend für Holz als einzig echten, wirklich wahren Spielzeug-Werkstoff auf die Barrikaden gegangen.

Inzwischen bin ich da vorsichtiger geworden. Denn inzwischen bin ich ihr begegnet: der Spielzeug-Sekte.

Ein Graus!

Es war zu Fionas erstem Geburtstag. Meine Schwiegermutter wollte Fiona unbedingt eine Puppe schenken. Sie hatte eine diese ganz klassischen Babypuppen ausgesucht – für mich ehrlich gesagt ein Graus! Ich gestand ihr meine Aversion mit Bauchschmerzen. Sie reagierte ganz entspannt: „Dann such‘ Du doch einfach eine aus!“

Erleichtert ging ich in die Stadt. Dort hat man die Auswahl zwischen zwei Spielzeugläden – und zwei Weltanschauungen: Der eine hat sich auf das qualitativ hochwertig, pädagogisch wertvolle Spielzeug spezialisiert. Der andere verkauft einfach alles, was der Markt hergibt. Meine Schwiegermutter hatte sich für die gute Seite der Macht entschieden. Dachte ich.

Mission Umtausch

Ich betrat den Laden, ohne zu ahnen, dass es ein Kriegsschauplatz würde. Meine Mission: Baby- gegen Stoffpuppe umtauschen. Naiv wurde ich bei einer Verkäuferin vorstellig. Kaum hatte ich mein Sätzchen aufgesagt, fiel die gute Dame fast in Ohnmacht. „WAS wollen sie?“, rief sie empört, die Augen vor Entsetzen geweitet. „Diese wunderschöne Puppe umtauschen?“

Schon etwas vorsichtiger geworden, nickte ich nur. Sie holte zum Rundumschlag aus. Noch NIE in ihrer 40-jährigen Verkäuferinnenkarriere habe sie etwas Derartiges erlebt. „Also nein! Das ist doch eine Puppe für die Ewigkeit! Darüber freut eine Frau sich auch noch im hohen Alter, wenn die im Schrank steht und sie anlächelt.“ Attacke, versenkt. Ich stand nur noch wackelig auf den Beinen und murmelte, dass das doch vielleicht Geschmackssache sei. Sie entlud einen weiteren Hagel Fassungslosigkeit.

Tief fliegendes Kaufladen-Obst

Als sie erkannte, dass ich trotz allem standhaft blieb, sah sie mich an, als erwöge sie, gleich die UN-Puppenrechtskonventionen zu zitieren oder mich mindestens noch mit Kaufladen-Obst (aus Holz natürlich) zu bewerfen. Doch sie zuckte nur mit den Schultern ob so einer Ignoranz und sagte: „Tja, wenn sie sich sicher sind (kurze Pause), DANN müssen sie eben zur Kasse gehen.“

Mit gesenktem Kopf tat ich wie geheißen. An der Kasse wiederholte ich mein Anliegen – in der Hoffnung, das Schlimmste nun überstanden zu haben. Stattdessen erwischte mich die neue Zermürbungstaktik kalt. Die ältere Dame an der Kasse sah mich strafend und schweigend an. Dann nahm sie mir die Puppe ab, legte sie wie ein echtes Baby in ihre Arme, schaute sie mitleidig an und sagte: „Hast Du kein Zuhause gefunden? Och, Du Arme! Dann kommst Du wieder zu uns! Bei uns bist Du willkommen!“

Wie eine Menschenhändlerin

Ich brach fast zusammen. Das Geld nahm ich mit dem Gefühl, eine Menschenhändlerin zu sein.

Draußen auf der Straße plagten mich Gewissensbisse. Warum hatte ich diese Puppe nicht lieben können? Ich rief meine beste Freundin an. Jemand musste mir jetzt versichern, dass ich nicht der schlechteste Mensch auf diesem Planeten bin.

Als ich wieder hergestellt war, ging ich zu dem Spielzeugladen, der alles verkauft. Vorsichtig sah ich mich um. Keine Verkäuferin, die mir eine Moralpredigt halten wollte. Keine Schilder, die mir anzeigten, welches Spielzeug „gut“ oder „schlecht“ war. Ich nahm eine Stoffpuppe. Schaute mich um. Ging schnell zur Kasse. Bezahlte. Keiner kommentierte meine Auswahl. Ich hatte selbst entscheiden dürfen! So, wie es Fiona jetzt tun soll – auch wenn es dann eben Plastik oder eine Babypuppe ist. Denn das war der Tag, an der ich der Spielzeug-Ideologie abschwor.




Deutschland im Herzen: Über den Heimat-Begriff

Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss (vorne) mit (v.li.) TU-Rektorin Ursula Gather, MKK-Leiterin Gisela Framke und Bürgermeister Manfred Sauer.

Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss (vorne) mit (v.li.) TU-Rektorin Ursula Gather, MKK-Leiterin Gisela Framke und Bürgermeister Manfred Sauer. (Foto: Thomas Kampmann/Dortmund Agentur)

Ihr Kopf ragt gerade über das wuchtige Rednerpult, hinter dem sie steht – eine elegante, ausgesprochen zierliche Frau mit markanter runder Brille und langen, perfekt frisierten Haaren. Und doch: Kaum dass sie den Mund aufmacht, hat sie ihr Publikum voll im Griff. Die New Yorkerin Carol Kahn Strauss, 72, strahlt ungeheure Präsenz aus – ihre Aura macht die Körpergröße mehr als wett.

Dass sie dort steht, in der Rotunde des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte, über ihren Begriff von „Heimat“ spricht und die Einladung nach Dortmund gar als „Ehre“ bezeichnet – das ist alles andere als selbstverständlich.

Eltern und Großeltern mussten 1938 aus Dortmund fliehen

Denn Kahn Strauss lebt in New York, wo sie 1944 geboren wurde, nachdem ihre Eltern und Großeltern 1938 aus Dortmund fliehen mussten – eine angesehene jüdische Familie aus dem gehobenen Bürgertum, der Vater Rechtsanwalt, der Onkel Kinderarzt, der Opa Geschäftsmann.

Carol Kahn Strauss selbst war 20 Jahre lang International Director des Leo Baeck Institute in New York City, ein wissenschaftliches Archiv, das die Geschichte und Kultur deutschsprachiger Juden dokumentiert. Es zählt zu den führenden Forschungsinstituten zur Geschichte der deutschsprachigen Juden.

Ungewöhnlich ist schon diese Karriere einer Frau, die doch die Sprache, die Heimat ihrer Eltern mit gutem Recht ebenso hätte ignorieren, verdrängen, ja: verdammen können. Stattdessen hält sie nun, im Jahr 2016, einen Zeitungsartikel aus den New York Times in die Luft, geschrieben im September 2015. Die Korrespondentin hatte damals fast ganzseitig über die Willkommenskultur in Dortmund berichtet, als hunderte Menschen die Flüchtlinge am Bahnhof mit Applaus und Hilfe-Angeboten begrüßten. Sie sei stolz gewesen, als sie das gelesen habe, sagt Carol Kahn Strauss: „Irgendwas ist da wohl in meiner DNA.“

Hölderlin, Kant und Heine im heimischen Regal

Doch die Verbundenheit mit Dortmund hat sich natürlich nicht genetisch vererbt – sondern durch bewusste Erziehung und Sozialisation. „Es war ,Hoppe hoppe Reiter’, es war Heinrich Heine, es war ,Die Blechtrommel’ und nicht ,The tin drum’, erzählt sie von ihrer Kindheit in den USA und spricht von den meterhohen und –langen Bücherregalen, die die Eltern ihr hinterlassen haben – Hölderlin, Kant, Heine, größtenteils noch in Sütterlin gedruckt. Man sprach deutsch, man pflegte die Erinnerung an die Heimat – ein Wort, für das es im Amerikanischen gar keine Entsprechung gibt.

„Meine Eltern konnten die Geschichte … breiter sehen“, sagt Carol Kahn Strauss zur Erklärung, nach Worten ringend, „sie sahen nicht nur den kleinen Ausschnitt der Nazi-Zeit.“ Als sie zehn Jahre alt war, fuhren ihre Eltern mit ihr das erste Mal nach Dortmund. Carol Kahn Strauss weiß sehr gut, wie ungewöhnlich diese Entscheidung ihrer Eltern war. „Ich habe auf der ganzen Welt viele deutsche Juden kennengelernt, die nach ihrer Flucht nie wieder deutsch sprachen, nie wieder in Deutschland waren.“

Auch die junge Carol wusste oder ahnte, dass Deutschland in der Welt der 1950er Jahre nicht besonders wohlgelitten war. Als der Direktor der Grundschule sie damals bat, für ein neu angekommenes Mädchen aus Deutschland zu übersetzen, behauptete sie gar, sie spreche kein deutsch. Als Jugendliche und junge Erwachsene riss die Verbindung zur Heimat ihrer Eltern fast gänzlich ab – „alle anderen Länder interessierten mich damals mehr“.

Die Geisteswelt als zweites Zuhause

Doch die Eltern hatten den Nährboden gelegt, hatten dem Kind die deutsche Sprache, Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaft nahegebracht und einen Stolz auf dieses Erbe vermittelt. Daran konnte Carol Kahn Strauss anknüpfen, als sie später Präsidentin einer jüdischen Gemeinde in New York wurde und wieder verstärkt deutsch sprechen musste. „Kinderdeutsch“ nennt sie heute ihre Sprache – reines Understatement. Sie spricht grammatikalisch nahezu perfekt, ab und zu hört man westfälische Einschläge heraus.

Deutschland war nie ihr Zuhause, und es war nach 1938 auch nicht mehr das Zuhause ihrer Eltern. Doch eine Heimat ist es gleichwohl geblieben. Denn auch Bildung, auch die Geisteswelt kann eine Heimat sein – diese Botschaft nahm das Publikum am Ende mit. Ein Heimatbegriff, der womöglich mehr bedeutet, schwerer wiegt, fester bindet als die bloße Zugehörigkeit zu einem Land, in dem man zufällig geboren wurde und das man dank glücklicher Umstände nie verlassen musste.

Die Veranstaltung „Stadtgespräche im Museum“ ist eine Kooperation zwischen MKK Dortmund und TU Dortmund. In der Reihe geht es derzeit um das Thema „heimaten – Konstruktionen der Sehnsucht“: Aus verschiedenen Blickwinkeln befassen sich die Referentinnen und Referenten mit dem Begriff Heimat, passend zur großen Sonderausstellung „200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ im Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK).




Wahn zum neuen Jahr – ein paar Halluzinationen mitten in der Silvesternacht

Am 31.12. 2015 bin ich um 23.30 zu Bett gegangen. Ich hatte mich entschlossen, mich den Feierlichkeiten zu entziehen und ganz normal einzuschlafen, um im Jahr 2016 erst wieder aufzustehen. Mein Wunsch war also, wieder aufzustehen.

Draußen sind die ersten voreiligen Schüsse zu hören. All die, die Angst haben, um Mitternacht überhört zu werden, schreien ihre Böller schon vorab in die Luft. Hört! Hier bin ich und ich knalle. Ich knalle jetzt, weil ich nicht weiß, ob ich das neue Jahr noch erlebe.

Ich schließe die Augen.

Anstatt mich die Wiege des Schlafes zu begeben, reist mein Hirn durch alle Regionen der Welt. Ich sehe Knallerfontänen auf Tonga. Der König von Tonga, Tonga, Tonga, erhebt sein Zepter und zeigt damit in Richtung Borsigplatz.

In Sydney leuchtet das Firmament als gelte es, den Weltuntergang einzuleiten. Zu Füßen der Oper verschluckt sich ein achtzehnjähriger an einem Drops und fällt tot um. Zur gleichen Zeit sitzt Wilhelm in der Dürener Straße an seinem Küchentisch und versucht, seine Flasche Bier an der Tischkante zu öffnen.

In Hongkong küsst der Suppenverkäufer Wang die Lehrerin Ming, während am Himmel ein Herz-Feuerwerk leuchtet. In Dubai brennt ein Hochhaus.

In Malaga werfen sich die Menschen Weintrauben in den Mund und in Castrop-Rauxel heult einsam ein Hund, während Manfred seinen letzten Korn herunterkippt.

Draußen herrscht Krieg. Darauf wird angestoßen und die vielen Kohlesäureopfer haben bereits ihre Aspirin-Tabletten auf dem Nachttisch platziert.

Plötzlich landet ein Knaller mitten in mein Hirn.

Erinnerungen werden abgespult im Blitztempo.

pizzeria Bedenkenswertes, Oberflächliches, Berührendes, Ärgerliches, Fragen und Antworten – eine Sammlung kleiner Erlebnisse und Begegnungen während des Projektes zur Erkundung und Beeinflussung der Nachbarschaft: Der Stahlarbeiter als Messdiener und Tanzstubentänzer, der ehemalige Boxtrainer und jetzige Rentner, der Grieche, der als Kürschner hierher kam und ein Geschäft eröffnete, als andere vor Kohle oder Stahl schwitzten, die Ex-Gefallene mit zwei Kindern, die jetzt als Disco-Fee Hula-Hoop Performerin ist, der Kiosk Betreiber als Imker und Soziologe, die Hundefrau mit ihren vier chinesischen Tempel-Tölen mit Comedy Ambitionen, der Sitarspieler und Heiler mit der Ruhestrahlung eines Friedens-Reaktors, der 12-jährige als Kochmeister, die Studentin und die obskuren Nachbarn, die afrikanische Kommunion, das Fensterkonzert von Queen, winkende Straßenbahnfahrgäste, die Spielerei mit der freien Republik Borsigplatz, der BVB-Fähnchen schwenkende Pizzabäcker, die Unterhose im Baum, die alle dutzende Frisörin, die Hippie-Wohnung des Lebenskünstlers, die Vogel-Kolonie im Geisterhaus, die Rollstuhlfahrer-Connection, die roten Tänzerinnen im Park, Monopoly für Aufmerksame, die Suppen von André, Biertrinker im Regen, die Kunstablehner, die Kunstverwirrten, das Klinkenputzen bei Eis und Wind, der Blinde und der Taube, das Punk-Konzert und die 90-jährige Zuhörerin. Die Wahrheiten.

Stille.

Nur in der Ferne noch ein paar Böllerchen.

In einer Wolke erscheinen Menschen und ihre Wünsche hängen wie Sprechblasen an ihren Lippen. Immer mehr und immer mehr. Wie in einem Drogenrausch höre ich Stimmen. Nichts ist sortiert. Ich versuche, meine Augen geschlossen zu halten und gleichzeitig, ein Lied zu summen……“Atemlos…“

zoo enteIch wünsche mir ein neues Jahr, höre ich jemanden flüstern. Ich wünsche, dass Mama mir einen Kuß gibt, dass Papa wiederkommt. Ich wünsche, dass ich mir was wünschen darf. Ich will im neuen Jahr immer zuverlässig sein. Ich will mich regelmäßig rasieren. Ich werde keinen Tropfen mehr trinken. Ich lasse das fluchen. Es soll im Sommer wieder die Sonne scheinen. Ich wünsche mir schönere Lippen. Im neuen Jahr will ich endlich Nein sagen. Ich wünsche mir ein Kind. Ich wünsche mir eine Oma. Ich werde niemandem mehr in die Fresse hauen. 2016 sollen mich alle am Arsch lecken. Ich werde Rücksicht nehmen. Der BVB soll Meister werden. Ich wünsche meinem Onkel, dass ihm der Arm abfällt. Ich werde an einem Friedensmarch teilnehmen. Ich werde einen Friedensmarsch organisieren. Ich werde einen Friedensengel basteln. Ich werde zu Gott beten. Ich verspreche, immer zuzuhören. Ich verspreche, mehr Sport zu treiben. Ich werde einmal pro Woche Sport treiben. Ich werde es einmal pro Woche treiben. Ich verspreche, mehr Luft zu schnappen. Ich werde einen Gymnastikball heiraten. Ich werde nie mehr vergessen, meinen Reißverschluss zuzumachen.

Ich werde zu meiner Schwester brüderlich sein. Ich will eine Frau werden. Ich will ein Mann sein. Ich will keine Plastiktüten mehr benutzen. Ich werde keine Selfies mehr posten. Ich werde Pornos nur noch sonntagmorgens anschauen. Ich verspreche: Bis dass der Tod uns scheidet.  Ich werde berühmt. Ich werde berühmt geworden sein. Ich will einen eigenen YouTube Channel gründen.

Mein Wunsch für 2016 ist: Mehr Licht! Mehr Geld, mehr Liebe, mehr Urlaub, mehr Hunde, mehr Fische, mehr Meer. Ich will meinen kleinen Bruder nie mehr mit der Faust ins Gesicht schlagen. Ich werde meinen Lehrer töten. Ich werde den Geburtstag meiner Katze nicht mehr vergessen. Ich will wieder laufen können. Gesundheit, Frieden, Gesundheit, Frieden…mehr Leben, mehr Kalorien, mehr Privatsphäre, mehr Katzen, ein gewaltiger Shitstorm soll alles in Schutt und Asche legen.

So langsam werden die Stimmen leiser und ich höre noch einen Böller, wie er langsam sich am Boden windet, platzen und krachen will, aber letztlich elend versagt und still liegenbleibt.

Ich schlafe ein. Das Jahr 2016 hat begonnen.




Die Revierpassagen wünschen frohe Weihnachten und ein ersprießliches neues Jahr

Liebe Leserinnen und Leser der Revierpassagen, bleibt und bleiben Sie uns auch im nächsten Jahr gewogen. Ihnen und Euch allen schöne Feiertage!

© Stella Berke (6)

© Stella Berke (6)

© Stella Berke (6)

© Stella Berke (6)




Aus Westfalen in die große Opernwelt: Bariton Eike Wilm Schulte feiert 50. Bühnenjubiläum

Eike Wilm Schulte in Wagners "Meistersingern" in Wien. Foto: privat

Eike Wilm Schulte in Wagners „Meistersingern“ in Wien. Foto: privat

An einem mangelt es der internationalen Opernszene nicht: an Stimmwundern. Zumindest, wenn man den Plattenfirmen und PR-Agenturen Glauben schenkt. Da ist oft von „vielversprechenden Talenten“ die Rede, die aus den Opernstudios direkt zu umjubelten „Weltkarrieren“ aufbrechen.

Die Wirklichkeit indes sieht anders aus. Junge Sängerinnen und Sänger, von ersten Erfolgen geblendet, lassen sich von Agenten oder Intendanten hoffnungslos verheizen. Ein souveräner Tamino wird bald als Tristan gebucht; die Soubrette scheint innerhalb weniger Jahre zum dramatischen Sopran gereift. So mancher strahlender Star entpuppt sich dann als rasch verglühende Sternschnuppe.

Doch es gibt auch echte Stimmwunder. Sie überdauern viele Jahre wie Fixsterne, deren Glanz nicht blendet, sondern beständig ist und Orientierung schafft. Zu ihnen gehört zweifellos Eike Wilm Schulte.

Der 1939 in Plettenberg im Sauerland geborene Bariton feiert dieser Tage sein 50. Bühnenjubiläum. Allein die Statistik seines Schaffens liest sich beeindruckend: In bisher 2166 Vorstellungen sang Schulte 119 Opern- und 35 Konzertpartien an über 70 Theatern und bei 26 verschiedenen Festspielen. Auf drei Kontinenten arbeitete er mit 120 Regisseuren und 190 Dirigenten zusammen. Als gern gesehener Gast feierte er Erfolge an den großen Opernhäusern dieser Welt: der Metropolitan Opera New York, der Covent Garden Opera London, der Mailänder Scala, der Semperoper Dresden, den Staatsopern München und Wien.

Ein Höhepunkt seiner Karriere waren die zwölf Jahre ab 1989, in denen er zum Ensemble der Bayreuther Festspiele gehörte und als Heerrufer, Wolfram von Eschenbach und Gunther brillierte. Kritiker heben ihn stets lobend in ihren Besprechungen hervor. Oft ist die Rede davon, dass Schultes nobler Bariton mühelos jüngere Kollegen an die Wand singe.

Bei allem Erfolg ist Eike Wilm Schulte bescheiden geblieben. Dass seine Stimme in fünfzig Jahren nichts an Kraft eingebüßt hat, schreibt er keinem Wunder zu. Vielmehr sei die perfekte Beherrschung der Technik der Grundstein, auf dem eine erfolgreiche Sängerkarriere beruhe.

Dankbar erinnert er sich an seine Ausbildung bei Clemens Glettenberg und Josef Metternich an der Staatlichen Hochschule für Musik und Kunst in Köln zurück. Und an Grischa Barfuß, den damaligen Intendanten der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf. Er war es, der 1966 den jungen Schulte noch vor dessen Studienabschluss ins Opernstudio holte. Im gleichen Jahr debütierte Schulte mit der Partie des Sid in Brittens „Albert Herring“. Im Rahmen eines Anfängervertrages über zwei Jahre konnte Schulte seine Stimme in kleinen und mittleren Partien reifen lassen, etwa als Standesbeamter in Puccinis „Madama Butterfly“ und Iberto in Monteverdis „L´incoronazione di Poppea“.

1970 holte ihn Generalmusikdirektor Bernhard Conz dann nach Bielefeld. Hier erarbeitete er sich zahlreiche Partien als Spielbariton, etwa Dr. Falke in Strauß´ „Fledermaus“, Kothner in Wagners „Meistersingern von Nürnberg“, Zar in Lortzings „Zar und Zimmermann“ und Guglielmo in Mozarts „Così fan tutte“. Ein Höhepunkt war seine Rolle des Alfred Ill in der deutschen Erstaufführung von Gottfried von Einems „Der Besuch der alten Dame“ mit Martha Mödl als Partnerin.

Langjährige Wirkungsstätte von Eike Wilm Schulte: das Staatstheater Wiesbaden. Foto: Werner Häußner

Langjährige Wirkungsstätte von Eike Wilm Schulte: das Staatstheater Wiesbaden. Foto: Werner Häußner

1973 verließ Schulte Westfalen, um am „Sängerhaus“, dem Staatstheater Wiesbaden, in den kommenden 15 Jahren auch als Kavalierbariton zu triumphieren. Für kurze Zeit wechselte er noch einmal 1989 nach Düsseldorf und sang hier unter anderem den Escamillo in Bizets „Carmen“, die vier Bösewichte in Offenbachs „Les contes d´Hoffmann“, Frank/Pierrot in Korngolds „Toter Stadt“ und eine der Rollen seines Lebens, den Figaro in Rossinis „Barbier von Sevilla“.

Als sich die Angebote großer internationaler Häuser mehrten, entschloss sich Schulte, frei zu arbeiten. Dennoch kam er immer wieder als Gast zurück ins Ruhrgebiet. In Gelsenkirchen sang er den Grafen Eberbach in Lortzings „Wildschütz“, in Oberhausen Rossinis Figaro, in Köln glänzte er als Amfortas und Klingsor in Wagners „Parsifal“, in Essen konnte man ihn in der Titelpartie in Schumanns „Faust“ erleben, und als Meistersinger-Beckmesser – der Rolle, die er mit 149 Mal am häufigsten verkörpern sollte – in Köln, Düsseldorf und Krefeld.

Eine besondere Freundschaft verbindet ihn nach wie vor mit dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden. Dort erarbeitete sich Schulte während der Amtszeit von GMD Siegfried Köhler zwischen 1973 und 1989 ganze 75 Partien. Oft stand er an hundert Abend jährlich auf der Bühne, zum Beispiel als glanzvoll singender Hamlet in Ambroise Thomas‘ gleichnamiger Oper. Eine Leistung, die gewürdigt wurde: Nachdem das Staatstheater Schulte 1993 zum Ehrenmitglied ernannt hatte, verlieh ihm das Land Hessen 2008 die Goethe-Plakette und machte ihn 2010 zu Hessens erstem Kammersänger.

Eike Wilm Schulte als Geisterbote in Richard Strauss' "Frau ohne Schatten" in Wiesbaden. Foto: privat

Eike Wilm Schulte als Geisterbote in Richard Strauss‘ „Frau ohne Schatten“ in Wiesbaden. Foto: privat

Aus Anlass der „Goldenen Hochzeit“ Schultes mit der Opernbühne ließ es sich das Theater nicht nehmen, seinem Ehrenmitglied ein großes Gala-Konzert zu spendieren. Neben politischer Prominenz waren es vor allem die Wiesbadener Fans, die den großen Sänger feierten. Mit Bedauern nahmen sie zur Kenntnis, dass der inzwischen 92-jährige Siegfried Köhler aus gesundheitlichen Gründen nicht anzureisen vermochte. Zehn Jahre zuvor hatte er noch die Gala zum 40. Jubiläum Schultes geleitet. Generalmusikdirektor Zsolt Hamar leitete das Orchester des Staatstheaters. Der seit 1991 in Wiesbaden engagierte Bass Wolfgang Vater moderierte den Abend. Als ehemalige Weggefährten nahmen die Bässe Eduard Wollitz, Harald Stamm, Hans Sotin sowie der Bariton Ekkehard Wlaschiha auf der Bühne Platz.

Mehr oder weniger teilnahmsvolle Grußworte richteten der Wiesbadener Oberbürgermeister Sven Gerich, die Wiesbadener Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz, der Hessische Kultusminister Ralph Alexander Lorz sowie Intendant Uwe Eric Laufenberg an Schulte. Letzterer zog sich mit seiner peinlichen Rede, in der er den verdienstvollen Sänger mit „Herrn Schultewilms“ ansprach, den Unmut der Gäste und des Publikums zu.

Dass sich Eike Wilm Schulte besonders für junge Talente engagierte, bewies er, indem er den 17-jährigen Sauerländer Leon Lorey einlud. Der junge Harfenist ist Preisträger zahlreicher renommierter Wettbewerber und begeisterte mit Johann Dusseks „Sonate für Harfe“. Ebenso glücklich fiel Schultes Wahl seiner Sopranpartnerin aus: Cristina Pasaroiu – die aktuelle Wiesbadener Desdemona – überzeugte mit der Arie „Glück, das mir verblieb“ aus Korngolds „Die tote Stadt“.

Ein großes Geschenk für Jubilar und Publikum war René Kollo. Obwohl der berühmte Wagner-Tenor längst seinen Abschied von der Bühne genommen hat, gab er – nach wie vor technisch bravourös und mit beinahe jugendlicher Verve – nicht nur ein Berliner Lied seines Vaters Willi Kollo, sondern auch die Mutter aller Tenorarien, Puccinis „Nessun dorma“, zum Besten.

Kollo und Schulte als Stolzing und Beckmesser beeindruckten während des launig und auf hohem Niveau gegebenen Festwiesen-Wettstreits aus den „Meistersingern“, weil sie jede Phrase klug und ohne Mühe durchgestalteten.Selbst ein so simpel anmutendes Liedchen wie das des Besenbinders aus Humperdincks „Hänsel und Gretel“ geriet bei Schulte zur großen Szene.

Gipfelpunkt des Abends indes war die Landhaus-Szene aus dem zweiten Akt von „La Traviata“. Die Wandlung Germonts vom berechnenden Patriarchen zum mitfühlenden Vater durchmaß Schulte mit solcher Intensität, dass das vollbesetzte Haus schier den Atem anhielt.

Zum Abschluss der vierstündigen Gala gaben sich Schulte, Kollo und Pasaroiu noch der Operettenseligkeit hin. Viele Zuschauer erinnerten sich noch an die heute vergessene Arie „Wein am Rhein“ aus Willy Richartz´ „Kölnisch Wasser“, und dem Rauswerfer „Im Feuersturm der Reben“ aus der „Fledermaus“ folgte als eine der Zugaben die schelmisch auf Deutsch gesungene „Plapperarie“ des Figaro. Und es wäre ganz untypisch für Eike Wilm Schulte als Gastgeber, hätte er nicht das ganze Haus eingeladen, den langen Abend mit ihm im Theaterfoyer bei einem mitternächtlichen Umtrunk ausklingen zu lassen.

(wesentliche Mitarbeit und Recherche: Marcel Schilling)




Sich in Faultiere und Birnen einfühlen – ja, selbstverständlich geht das!

Weckerbrüllt! Uff… nur… ne Viertelstunde noch… konzentriert schlafen (jawoll, das geht)…

»Schorsch (nach Picasso)« Scherl, 2015

»Schorsch (nach Picasso)« © Scherl, 2015

…wenn dann Kater Schorsch sein aggro-beleidigtes MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! raushaut ohne Luft zu holen, weil er der Meinung ist, daß er sogleich Hungers stirbt, wenn ich ihn nicht sofort fütter (Essenszeit für ihn in zwei Stunden!), hau ich mein 100% aggro RUHEJETZTVERDAMMTESCHEIßE! raus, daß die metallenen Bettpfosten mitsingen.

Es kümmert ihn zwar keinen feuchten Kehricht, aber immerhin hab ich das erhebende Gefühl, daß mir wenigstens ein Ding auf Erden Resonanz gibt – und wenn’s nur die Bettpfosten sind.

Wenn ich dann allerdings zB versuche, mich in ein Faultier einzufühlen, weil ich einen Faultiershirtentwurf machen muß und das Vieh so richtig schön faul werden soll oder das gleiche in drei Birnen für eine Auftragszeichung, damit da auch wirklich die richtige Geschichte erzählt wird mit dem Obst (ja freilich kann man sich in Birnen einfühlen. Bin ich Künstler oder Hobby-?) und der schwarze Pelzsatan legt dann los mit seinem Geschrei (wofür er in 99% aller Fälle exact (ja, mit »c«)) den richtigen Zeitpunkt findet und auch nicht eher aufhört, bis ich entweder keine Zeit mehr hab oder mir auch noch das letzte bissl Muse zerrüttet ist), packt mich einfach nur noch tiefste Verzweiflung und eine Stimme fragt in mir:

»Was hätt Picasso an meiner statt getan? Oder Matisse? Oder Cezanne? Oder Christian Schad? Oder…« (Zwischenruf einer anderen Stimme: »Charles Manson?«) und es antwortet: »Sie wären ins Atelier gegangen und wenn sie da schon gewesen wären, in ’n anderes.«, dann kommentiert die nächste: »Thomas, schreib auf deinen ‹Ziele 2016›-Zettel ganz oben, ganz groß: ‹1. Viel Geld verdienen, 2. Atelier mieten›.«

Done.

(Also das mit dem Zettel.)




Liebevoll-ironische Würdigung des Künstlers: Tilman Spengler über Jörg Immendorff

Jörg Immendorf war (und ist) einer der bedeutendsten deutschen Künstler der Gegenwart. Sein Schaffen umfasst Malerei, Bildhauerei, Grafik und Aktionskunst. Er starb 2007, in seinen letzten Jahren galt er als Begründer einer neuen deutschen Historienmalerei, immer aber hatte sein Werk politischen Bezug und gesellschaftskritischen Inhalt. Bevor er an amyotrpher Lateralsklerose („ALS“) erkrankte, führte er ein schonungsloses, in der Außenwirkung ab und an auch exzessives Leben. Ausgelassen hat er jedenfalls wenig.

Der gebürtige Oberhausener Tilman Spengler ist ein vielfach ausgezeichneter deutscher Publizist. Einem breiterem Publikum ist der studierte Politikwissenschaftler und Sinologe wohl durch die Fernsehreihe „Klassiker der Weltliteratur“ bekannt.

Spengler/ImmendorffMit seinem Buch „Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben“ hat Tilman Spingler nun seinem verstorbenen Freund Jörg Immendorf eine ganz besondere Schrift gewidmet. Es ist eher eine fiktionale als klassische Biographie, aber von Wahrheit und Wahrheiten geprägt. Spengler zeichnet ein persönliches und sicher gerade dadurch wahrhaftiges Bild des Jörg Immendorff und der Zeit, in der der Künstler lebte, an der er litt und die er prägte.

Das Buch gliedert sich in 15 Tableaus, beginnend mit der Taufe Immendorffs, endend mit seiner Trauerfeier. Jede Station ist eine Hommage an den großen Künstler. Nicht moralinsauer, auch nicht moralisierend, sondern – schlicht und einfach vergnüglich. Spengler beherrscht die große Kunst des zärtlich-ironischen Erzählens, der waghalsige Versuch würdigt Immendorff ebenso, wie er ihn und den um ihn herum irrlichternden Politik- und Kulturbetrieb auf die Schippe nimmt. Man spürt die Verehrung, aber auch die Freundschaft, die Spengler Jörg Immendorff entgegenbringt, in jeder Zeile. Ebenso wie das Vermissen.

Spengler schreibt Immendorff folgende Interpretation des Begriffes Kunst zu: „Wenn man beim Betrachten oder Hören oder auch beim Lesen eines Werkes der Kunst nicht an Kunst denken muss, und zwar keine einzige, nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde lang, erst dann begreift man Kunst.“ Immendorffs Werke waren so, genau so. Man sah seine Werke und dachte nicht darüber nach, wie der Künstler das wohl und womit geschaffen hat, sondern man war davon berührt (oder auch nicht) und dachte darüber nach, wie man mit dem, was dieses Werk einem sagte, umgehen wolle. Immendorffs Kunst war alltagstauglich in einem guten Sinne.

Graffito von Jörg Immendorff (©Foto aufgenommen von B. Langhoff in Blavand - DK, Mai 2015)

Graffito von Jörg Immendorff (©Foto aufgenommen von B. Langhoff in Blavand – DK, Mai 2015)

Eine persönliche Anmerkung: Im dänischen Blavand steht an dem Strand, an dem sich Nordsee und Wattenmeer trennen, ein alter Bunker. Diesen Bunker ziert – siehe Foto – ein Graffito von Jörg Immendorff, dem Cover des Buches verwandt. Ich fand es in einem Urlaub dort großartig, jeden Tag daran vorbeizugehen und es sprach mich, die ich vieles, aber keine Kunstkennerin bin, auf eine sehr besondere Weise an. Wir betitelten das Graffiti als den „Friedensaffen“ und ganz gleich, was immer Immendorff auch zu diesem Zeichen bewog, das ist für mich Kunst, die mich berührte und die ich für mich begreifen konnte.

Genauso ergeht es einem nun mit dem Buch Tilman Spenglers. Man liest es gerne, man liest es neugierig, man denkt über den Künstler und seine Intentionen nach. Eines der schönsten, liebevollsten Bücher des Jahres.

Tilman Spengler: „Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben“. Berlin Verlag, 160 Seiten, 18 €.




„Was ich mag? Das Leben!“ – Vor 100 Jahren wurde der Schauspieler Curd Jürgens geboren

„Sechzig Jahre – und kein bisschen weise“. Das geflügelte Wort stammt aus einem Schlager, den Curd Jürgens 1975 auf einer „Polydor“-Schallplatte eingesungen hat. Der Satz könnte auch über dem Leben des blonden Publikumslieblings stehen: Denn Jürgens wurde nie „weise“. Seine schweren Herzoperationen hielten ihn nicht davon ab, weiter gut zu essen, ordentlich zu trinken und viel zu rauchen. Und so starb er mit nur 66 Jahren in Wien während der Dreharbeiten zum Film „Teheran 43“.

Cover der neuen, im Aufbau-Verlag erschienenen Curd-Jürgens-Biographie von Heike Specht - Daten siehe am Schluss dieses Artikels. (© Aufbau-Verlag)

Cover der neuen, im Aufbau-Verlag erschienenen Curd-Jürgens-Biographie von Heike Specht, 480 Seiten, 22,95 € – Daten siehe auch am Schluss dieses Artikels. (© Aufbau-Verlag)

„… und kein bisschen weise“ ist auch der Titel seiner 1976 erschienenen Autobiografie. Ein Zeugnis eines lebensgierigen Mannes, der vor 100 Jahren – am 13. Dezember 1915 – in München geboren wurde und 45 Jahre lang ein Star war. Auf alles, so zitierte er Oscar Wilde, könne er verzichten, nur auf Luxus nicht. Den gönnte sich Curd Jürgens, wie er ihn von Beginn seines Lebens an gewöhnt war: Wohnsitze in den Pariser Champs-Elysées, in Zürich, Wien, der Schweiz und auf den Bahamas; in den Garagen Nobelmarken wie Rolls-Royce und Bentley, Mercedes und Porsche für den „Alltag“, fünf Ehefrauen und eine heiße Affäre mit Romy Schneider, dazu unzählige Bewunderinnen: Curd Jürgens brachte den Glamour des Lebemanns in die graue Nachkriegszeit in Europa.

Nicht nur ein schnoddriges Raubein

Die raue Hülle, die zupackende Energie, der grenzenlose Optimismus seiner Ausstrahlung: Jürgens zeigte der Welt die Seite seiner Persönlichkeit, die sie gerne sehen wollte. Die andere, intime offenbarte sich erst aus seinem Nachlass: In den privaten Aufzeichnungen erleben wir einen Jürgens, der vor dem Gedanken an den Tod erschrickt, der um seine verlorene Liebe trauert, der betet. Aber wir finden auch das schnoddrigen Raubein, als das er sich auch in seinen Filmen gerne inszenieren ließ, und den nach dem Leben fiebernden, glamourösen Bonvivant.

Um ein Haar hätten wir nie von Jürgens‘ verborgenen Seiten erfahren: Seiner letzten Frau Margie hatte er aufgetragen, nach der Beerdigung ein großes Fest zu feiern und am Ende im leeren Swimmingpool der Villa bei Nizza den Nachlass anzuzünden. Margie Jürgens folgte dem nicht, sondern überließ den Stapel von Zeitungsartikeln, Kritiken, Filmplakaten, Fotos, (Liebes-)Briefen und Tagebüchern dem Deutschen Filmmuseum in Frankfurt. Zum 100. Geburtstag des Schauspielers gestaltet das Museum eine virtuelle Ausstellung im Internet: http://curdjuergens.deutsches-filminstitut.de/

Jürgens‘ Vater war ein wohlhabender Hamburger Kaufmann, seine Mutter eine Lehrerin aus Frankreich. Die Karriere als Schauspieler strebte er bereits als Jugendlicher an. Jürgens arbeitete als Journalist und nahm parallel Unterricht; als Anfänger wurde er 1935 ans Dresdner Metropoltheater engagiert, wechselte aber ein Jahr später ans Theater am Kurfürstendamm in Berlin.

Bereits als Zwanzigjähriger wirkte er in seinem ersten Film „Königswalzer“ mit. Rund 160 sollten es in den folgenden vier Jahrzehnten werden. Um seinen aufwändigen Lebensstil zu finanzieren, scheute Jürgens nicht vor banalen Rollen zurück. Von „Küssen ist keine Sünd‘“ bis zur „Rose vom Wörthersee“ tingelte er sich durch das belanglose deutsche und österreichische Nachkriegskino. Titel wie „Käpt’n Rauhbein aus St. Pauli“ (1971) spielten perfekt mit dem Image des blonden, blauäugigen Hünen.

Doch seine Qualitäten zeigte Jürgens in anderen Zusammenhängen. Auf dem Theater zum Beispiel: Da spielte er am Wiener Burgtheater etwa in Brechts „Das Leben des Galilei“ oder in München in „Liliom“ von Franz Molnár. Bei den Salzburger Festspielen war er von 1973-1977 ein legendärer „Jedermann“. Und zum letzten Mal stand er in einer Oper auf der Bühne: 1980 gab er die Sprechrolle des Bassa Selim in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ bei einem Gastspiel der Bayerischen Staatsoper in Japan.

Ein Sozialist im Rolls Royce

Sein feudaler Lebensstil hielt Jürgens nicht davon ab, sich politisch als links einzuordnen: Willy Brandt begeisterte ihn ob seiner moralischen Integrität und der Gegnerschaft zu den Nazis. Brecht spielte er nicht nur, weil er die Rollen hervorragend fand, sondern auch aus politischer Überzeugung. „Ich bin Sozialist“, sagte er einmal, „und wenn man mir dies hin und wieder zum Vorwurf macht, auch dass ich dazu noch einen Rolls Royce fahre, so meine ich: Besser ein Sozialist im Rolls als ein Faschist im Panzerwagen.“

1955 spielte er in Helmut Käutners Film „Des Teufels General“ nach Carl Zuckmayers Theaterstück den General Harras – eine Rolle, in der sich sein eigener ambivalenter Lebensstil widerspiegelt. Der leichtlebige, politisch eher holzschnittartig denkende, aufrichtige Militär, der am Ende seinem Gewissen verpflichtet den Tod wählt, hat Jürgens in die erste Riege internationaler Schauspielkunst aufrücken lassen; mit Robert Siodmaks „Die Ratten“ nach Gerhart Hauptmann bestätigte er seinen Rang als Charakterdarsteller.

„Was ich mag? Das Leben!“, sagte er einmal in einem Interview. Seinem Tod am 18. Juni 1982 folgte ein Begräbnis in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof.

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Virtuelle Ausstellung, TV-Sendungen und neue Biographie

Die virtuelle Ausstellung des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt zum 100. Geburtstag von Curd Jürgens wird zum 13. Dezember freigeschaltet: http://curdjuergens.deutsches-filminstitut.de/

Sein bekanntes Lied „Sechzig Jahre – und kein bisschen weise…“ ist hier zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=BqfvLP–4Ew

Das Fernsehen würdigt Jürgens mit der Ausstrahlung von Filmen. „Katja, die ungekrönte Kaiserin“ von Robert Siodmak (1959) mit Romy Schneider als Katja zeigen das Bayerische Fernsehen am 13. Dezember, 13.50 Uhr, und das ARD-Vormittagsprogramm am 14. Dezember um 10.05 Uhr.

In einigen dritten Programmen zu sehen ist am 12. Dezember, 23.20 Uhr, Helmut Käutners „Der Schinderhannes“ nach Carl Zuckmayer, u.a. mit Maria Schell, Siegfried Lowitz und Eva Pflug. Der MDR zeigt am Montag, 14. Dezember, 23.40 Uhr die legendäre Zuckmayer-Verfilmung „Des Teufels General“.

Der Westdeutsche Rundfunk widmet seine „Flimmerkiste“ auf WDR 4 am 13. Dezember, 17.25 Uhr, dem Jubilar. http://www.wdr4.de/musik/liebhabersendungen/flimmerkiste/geburtstag-curd-juergens-100.html

In der Sendung wird auch die neue Curd-Jürgens-Biografie von Heike Specht vorgestellt, die im Aufbau-Verlag erscheint. http://www.aufbau-verlag.de/index.php/sachbuch/kunst-kultur/curd-jurgens.html




Das Elend des Authentischen: „Träumen“ – noch so ein Lebensroman von Karl Ove Knausgård

Um Karl Ove Knausgård ist ein regelrechter Hype entstanden. Sein sechsteiliger Roman-Zyklus wurde in Norwegen, einem Land von gerade einmal 5 Millionen Einwohnern, über 500.000 Mal verkauft. In Amerika und England schwärmen Kritiker in höchsten Tönen, und die Schriftstellerin Zadie Smith meinte, sie sei „süchtig“ und „brauche den nächsten Knausgard-Band wie Crack“. Jetzt ist auf Deutsch „Träumen“, der fünfte Band der literarischen Autobiografie erschienen, die im norwegischen Original den für deutsche Ohren arg befremdlichen und provokanten Titel „Min Kamp“ („Mein Kampf“) trägt.

Gerade im digitalen Zeitalter, wo Selbstdarstellung und Voyeurismus suchtartige Züge tragen und viele Menschen zwar unzählige virtuelle Freunde haben, aber kaum noch realen Kontakte pflegen, scheint ein großes Bedürfnis nach authentischer, unverstellter Wirklichkeit zu bestehen.

Knausgard

Wenn Knausgård in seinen Romanen die Leser mitnimmt in die Untiefen seines Daseins und ihnen offenbar sämtliche Erlebnisse und Gedanken, Ängste und Selbstzweifel, Siege und Niederlagen mitteilt, dann haben sie das Gefühl, sie würden am Leben des Autors teilhaben – ein typisches Beispiel von Über-Identifikation und eine große Illusion. Denn Leben und Literatur, Erinnertes und Geschriebenes, Erlebnis und Sprache sind nie identisch.

Alles, woran sich Knausgård erinnert und was er bis ins letzte Detail beschreibt, wird intellektuell und emotional bearbeitet. Aus dem Bekenntniszwang entsteht Literatur, die nicht eine reale, sondern eine künstliche Wirklichkeit spiegelt.

Onanie und andere Kleinigkeiten

In den bisherigen Romanen („Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“) hatte Knausgård schon fast sein ganzes Leben vermessen: In „Träumen“ geht er noch einmal zurück in die Jahre zwischen 1988 und 2002 und beschreibt, wie er mit einem Stipendium an die Literaturakademie in Bergen kommt und dort den Unterricht bei keinem Geringeren als den norwegischen Literaturstar Jon Fosse erlebt und erleidet; wie er sich in der ständig verregneten Stadt eine kleine Wohnung nimmt, mit seinem Bruder Yngve auf Sauftoren geht, sich unglücklich verliebt und mehrmals am Tag mit einem Porno-Heft auf dem Klo verschwindet, um ausführlich zu onanieren.

Sein erster Romanversuch scheitert, er schmeißt das Studium hin, versucht sich in vielen Jobs, heiratet und hat irgendwann tatsächlich einen ersten kleinen literarischen Erfolg. Doch als ihm nach einer erotischen Eskapade der Vorwurf der Vergewaltigung gemacht wird, verlässt er seine Frau, geht ins Exil nach Schweden und beginnt dort mit dem gigantischen autobiografischen Roman-Projekt, mit dem er sich endgültig frei schreiben und einen Namen machen wird.

Wo alles gleichermaßen (un)wichtig ist

Knausgård bietet den Lesern wieder genau das, was sie erhoffen und erwarten. Wer nicht genug davon bekommen kann, ein ganzes Menschenleben aufzusaugen und noch in der kleinsten Banalität nach authentischem Leben zu fahnden, kommt auch hier wieder auf seine Kosten. Wer allerdings gegen den Wirklichkeitstaumel resistent ist und dem Suchtpotenzial des Alltäglichen widersteht, wird gelangweilt sein vom ewigen Einheits-Brei eines Literatur-Quarks, bei dem alles gleich wichtig – oder eben: unwichtig – ist.

Wenn alles in einem gleichförmigen Erzählfluss mäandert und die frühzeitige Ejakulation des Autors beim Geschlechtsverkehr denselben Stellenwert hat wie seine Beschäftigung mit Paul Celans „Todesfuge“, dann sehnt man sich nach literarischer Gewichtung und poetischer Konzentration. Doch die wird man bei Knausgård, für den das Leben und das Schreiben ein permanenter Kampf sind, nicht finden.

Über den jungen Literaturstudenten lästert einmal ein Kommilitone, Knausgård sei ja wirklich ein schöner Mann, aber leider ein ganz schlechter Autor. Der ständig zwischen Versagensangst und Größenwahn schwankende Knausgard leidet bei solchen hämischen Bemerkungen wie ein Hund. Doch wo der einstige Kommilitone recht hat, hat er recht.

Karl Ove Knausgård: „Träumen“. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München. 796 S., 24,99 Euro.




Rohstoff des Lebens – das intime „Kronos“-Tagebuch des Witold Gombrowicz

Vom polnischen Weltautor Witold Gombrowicz („Ferdydurke“, „Trans-Atlantik“, „Pornographie“) gibt es zwei Tagebücher. Eines war für die Öffentlichkeit bestimmt, ein anderes eigentlich nur für den eigenen Gebrauch. In der Ausgabe des Hanser Verlags tragen diese Aufzeichnungen den Titel „Kronos. Intimes Tagebuch“. Doch wer da nach Enthüllungen lechzen sollte, wird unweigerlich enttäuscht werden.

Gombrowicz (1904-1969) hat von 1939 bis 1963 im argentinischen Exil gelebt. Vor allem um diesen Zeitraum und um die Jahre seit der Rückkehr nach Europa (vorwiegend Frankreich) geht es im vorliegenden Tagebuch. Das gewichtige Wort „Kronos“ deutet aufs Vergehen der Zeit hin. Und auf dem Titelumschlag steht „Gombrowicz“ ohne Vornamen; ganz so, als wäre das ein Markenzeichen sondergleichen. Was ja auch stimmt.

Wuchernde Fußnoten

Es handelt sich hierbei größtenteils um wahrhaft rudimentäre Notizen, mit denen der Schriftsteller sozusagen den Rohstoff des Lebens festzuhalten suchte, für die früheren Jahre aus gehörigem zeitlichen Abstand. Vielfach sind die Aufzeichnungen so knapp und kryptisch, dass die Erschließung in Fußnoten den Primärtext bei weitem überwiegt und überwuchert. Man muss schon ein sehr spezielles Interesse an Gombrowicz’ Leben aufbringen, um hier jede einzelne Wendung nachzuschmecken.

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Immerhin lässt selbst diese lückenhafte Materialsammlung erahnen, wie entbehrungsreich das Leben im Exil über viele Jahre hinweg gewesen sein muss. Immer wieder werden Geldnöte skizziert, auch spielen gesundheitliche Sorgen eine zunehmende Rolle.

Weitere, häufig wieder aufgegriffene Bemerkungen betreffen etwa Gombrowicz’ Leidenschaft fürs Schachspiel und besonders das Ringen um Publikationsmöglichkeiten in der anfangs so ungewohnten Fremde. Zuweilen reiht er lediglich lauter Namen aneinander – überwiegend Begegnungen und Kontakte, die dem Schriftsteller vielleicht einmal nützlich werden konnten. Doch häufig verzeichnet er auch das Gegenteil, nämlich mit wem er gerade wieder auf immerdar gebrochen hat.

Lektüren (u.a. Thomas Mann) und politische Verhältnisse kommen hier hingegen eher stichwortartig vor – und das in jenen wahrlich bewegten Zeiten. Doch darüber konnte man sich ja öffentlich äußern.

Sexuelle Bilanzierung

Gar nicht so geheimes Gravitationszentrum ist allerdings der offenbar überaus rege Sexualtrieb, den der Autor höchst wechselhaft ausgelebt hat – mit Angehörigen beider Geschlechter. Auch in seinen jeweiligen Jahresbilanzen bewertet er stets summarisch die erotischen Erlebnisse („Ero – nicht schlecht“), hin und wieder allerdings im Modus der Unzufriedenheit.

Zwischendurch finden sich zahllose Erwähnungen und Kürzel, die das Geschehen eher bemänteln als darlegen. Es waren Zeiten, in denen homo- oder bisexuelle Neigungen durchaus die Polizei auf den Plan rufen konnten. Auch das ist Gombrowicz nicht selten passiert.

Gombrowicz scheint jedenfalls sexuelle Erfüllung häufig auch bei Huren (und Strichern) in der brodelnden Metropole Buenos Aires gesucht zu haben. Zitat von eher untypischer Deutlichkeit, ja lakonisch-abgründiger Drastik: „Die Nutte. Tripper. Das Mädchen, das ich nicht vergewaltigen konnte.“ Oder so, ganz nüchtern nachhaltend: „Ich schlafe mit einer Tänzerin sowie mit einem Dienstmädchen.“ Editorisches Problem(chen) nebenher: Ob mit dem Buchstaben M im Einzelfalle muchacho (männlich) oder muchacha (weiblich) gemeint war, lässt sich nicht immer hinreichend klären. Sei’s drum.

Aufwertung durch zahlreiche Fotos

Und wie sind diese Tagebücher zur Publikation gelangt? Nun, Gombrowicz’ Gefährtin und Witwe Rita Labrosse, selbst Literaturwissenschaftlerin (Promotion über Colette), hat das Konvolut zur Verfügung gestellt und mit herausgegeben. Ob sie Blätter, auf denen von ihr selbst die Rede war, zurückgehalten oder modifiziert hat? Das zu mutmaßen, wäre pure, fast schon unanständige Spekulation. Nicht nur angesichts der oft kruden Passagen in diesem Tagebuch darf man wohl von einer redlichen Übergabe ausgehen.

Eine enorme Aufwertung erfährt dieses Buch durch zahlreiche Schwarzweißfotos aus Gombrowicz’ Biographie, darunter auch Faksimiles seiner Schrift.

Das Titelbild zeigt Witold Gombrowicz im Mai 1966 mit der erwähnten Rita, die er 1964 kennen gelernt hatte, bei einer Fahrpause auf dem Pass von Vence (Südfrankreich). Die ausgesprochen attraktive Frau scheint sich darum zu kümmern, was unter der Motorhaube der Citroën-„Ente“ vorgeht, während Gombrowicz anscheinend die Haltung eines ungeduldig Wartenden eingenommen hat. Aber daraus ziehen wir jetzt natürlich keinerlei Schlüsse.

Fragen wir uns lieber, was die (literarische) Welt von all dem hat. Bei einem Autor vom überragenden Format des Witold Gombrowicz mag wohl jede noch so unscheinbare Äußerung von Interesse sein; möglichst nichts darf verloren gehen, kein Wort soll vergessen werden.

Freilich zeigt sich hier nicht der Schriftsteller, sondern quasi der (allerdings fiebrige) Buchhalter eigener Lebenstatsachen. Anhand solcher Aufzeichnungen kann man vielleicht ermessen, wie sehr sich dann die große Literatur über das tagtäglich Gelebte erhebt – und es dennoch zuinnerst betrifft.

Gombrowicz: „Kronos.“ Intimes Tagebuch. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Carl Hanser Verlag. 359 Seiten. 27,90 €.




Leidenschaftlicher Lehrer, Autor und Ratsherr in Unna – zum Tod von Rudolf Schlabach

Der Geest-Verlag, „sein“ Verlag, schreibt spürbar betroffen auf seiner Website: “In großer Trauer nehmen wir Abschied von unserem Autor Rudolf Schlabach, der am Montag, den 26. Oktober 2015 nach langer, schwerer Krankheit verstarb. Das Erscheinen seines letzten Bandes, ,Die Freiheit zu schreiben’, durfte er noch miterleben. Wir werden sein Ansehen und seine unendliche Schaffenskraft in würdiger Erinnerung behalten.”

Wenn man das Motto des Geest-Verlages liest, weiß man, warum Rudi Schlabach ihn wählte, um seine Bücher zu verlegen: “Unpolitisch sein heißt politisch sein, ohne es zu merken.” (Rosa Luxemburg)

Rudolf Schlabach (Foto: © Geest Verlag)

Rudolf Schlabach (Foto: © Geest Verlag)

Rudolf Schlabach (Jahrgang 1924) war aber nicht nur ein Autor, wenn auch das seine Leidenschaft war und bis zu seinem Tode blieb. Er war ebenso leidenschaftlicher Pädagoge, als solcher Gründungsdirektor des Geschwister-Scholl-Gymnasiums in Unna, er war lebenslang Lernender, auch als Lehrender.

Tief geprägt von Erlebnissen aus der Zeit des dumpfen Nazi-Terrors und den Kriegszeiten bei der Marine war er Sozialdemokrat bis zur Knochenhaut, obwohl ihm manche befreundeten Zeitgenossen gern seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund vorhielten, wie das auch gern mal sein Altbürgermeister Erich Göpfert auf lästerliche Weise tat. Rudi blieb seinem Freund aber da nichts schuldig, denn er wusste wie er dem “Genossen Erich” zu antworten hatte. Und eines wussten nur wenige Vertraute: Rudi Schlabach kannte jedes einschlägige Arbeiterlied textsicher auswendig.

Rudi Schlabach verfasste viele Beiträge für die legendäre Hörspielreihe “Papa, Charly hat gesagt…”, er liebte das Hörspiel als solches und schrieb viele Texte für dieses Genre, außerdem lesenswerte Novellen (zuletzt noch “Undine lebt”). Für ihn war sein vorpensionärer Hauptberuf von besonderer Bedeutung. Jungen Menschen Bildung zu geben, sie derart zu prägen, dass sie Literatur gern lasen, sie als Grundnahrungsmittel erlebten. Er wollte sie durch solche Prägungen resistent machen gegen das, was er selbst zur Nazi-Zeit erfuhr – dass die menschenunwürdige Herrschaft einer blindideologischen Partei mehrheitsfähig werden konnte.

Rudolf Schlabachs letzte Novelle

Rudolf Schlabachs letzte Novelle

So war es beinahe folgerichtig, dass sich Rudi Schlabach darum bemühte, neben seinen pädagogischen Aufgaben und seiner Leidenschaft als Autor auch noch Ratsmitglied in seiner Stadt zu werden. Es gelang ihm 1975, und er gehörte dem Rat Unnas bis 1984 an. Bisweilen erschien er manchen seiner Fraktionskollegen zu feingeistig, er wurde aber stets geachtet und respektiert, weil er auch da pädagogisch vorging. Und er zeigte ohne erkennbare Hybris, dass er sehr wohl wusste, wovon er im politischen Raum berichtete.

Als er dann Pensionär wurde, zog es ihn nach Hude nahe Oldenburg. Er lebte und schrieb, ließ nur handverlesen alte Bekannte teilhaben und war fern der Heimat im Märkischen Sauerland ein glücklicher Mensch. Es bleibt viel von ihm, was Nachgeborene lesen sollten, es bleibt viel von ihm, was er Lernende lehrte, und es bleibt viel von Rudi Schlabach, an das sich Weggefährten in Rat und Rathaus in Unna erinnern. Mach’s gut, alter Freund!




Gerhard Mensching: Germanist, Puppenspieler, Romanautor – eine wehmütige Erinnerung

Revierpassagen-Gastautor Heinrich Peuckmann, in Bergkamen lebender Schriftsteller, erinnert an den 1992 verstorbenen Bochumer Autor und Germanisten Gerhard Mensching, der viele seiner Studenten nachhaltig beeinflusst hat:

Romane und Erzählungen von Gerhard Mensching zu lesen, löst bei mir Freude und Wehmut zugleich aus. Freude, weil es ein schönes Leseerlebnis ist, sich mit den phantasievollen Geschichten dieses Autors, die immer auch mit der Realität spielen, zu beschäftigen. Wehmut, weil ich an der Ruhruniversität in Bochum bei Mensching Germanistik studiert habe. Nein, nicht einfach nur studiert, sondern er und seine Seminare haben mich geprägt.

Vieles, was ich später als Schriftsteller an Kenntnissen und Techniken gebraucht habe, habe ich mir bei ihm aneignen können. Nach meinem Examen haben wir uns für einige Jahre aus den Augen verloren, dann aber den Kontakt wiederbelebt. Wir haben in Briefen und Telefongesprächen gemeinsame Projekte abgesprochen, doch als wir sie umsetzen wollten, ist er ganz plötzlich verstorben.

mensching

Wehmut also, wenn ich auf ihn und seine Geschichten stoße, weil sich die Frage aufdrängt, was noch möglich gewesen wäre. Möglich bei ihm, diesem unglaublich kreativen Menschen, aber auch bei uns, denn die Zusammenarbeit mit ihm, das weiß ich, wäre für mich fruchtbar gewesen. So bleibt nur die tief befriedigende, aber von Melancholie durchzogene Freude, seinen Geschichten wieder zu begegnen oder andere, die ich noch gar nicht kannte, zu entdecken.

In E.T.A. Hoffmanns Tradition

Mensching stand in der Tradition der Novellistik des 19. Jahrhunderts, vor allem E.T.A. Hoffmann, der Gespenster-Hoffmann, hatte es ihm angetan. In jedem seiner Seminare tauchte er mindestens am Rande auf und wer Hoffmann kennt, weiß, dass man sich auf einen platten Realitätsbegriff bei ihm nicht verlassen darf. In Fichtescher Tradition, nach der das Ich sich sein Gegenüber selbst setzt, ist ein objektives Weltverständnis nicht zu erwarten.

Bei Mensching gespenstert es ebenfalls, können Gegenstände durch die Wand gereicht werden, passieren Dinge, die mit normalen Maßstäben nicht vereinbar sind. Aber immer entwickelt Mensching daraus Geschichten, die der Leser ihm abnimmt, weil er daraus eine neue, in ihrem eigenen Sinne glaubhafte Realität entwickelt.

Beispielhaft dafür steht sein bester Roman, „E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung“. Natürlich passieren in diesem Roman die tollsten Dinge, ganz im Sinne von Hoffmann, aber der Hintergrund der Geschichte, dass der Dichter gar keines natürlichen Todes gestorben ist, sondern der preußische Geheimdienst nachgeholfen hat, weil ihm dieser politische Kopf zu gefährlich war, ist absolut glaubhaft. Mensching entwickelt diese Überlegung an der Romanfigur Friedrich Rieger, der dem schon gelähmten Dichter als Sekretär gedient hat und dem Hoffmann seine letzten Geschichten diktierte. Zwanzig Jahre nach Hoffmanns Tod spürt Rieger plötzlich, dass er selber verfolgt wird und er beginnt zu ahnen, warum das so ist. E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung spielt eine Rolle, noch immer scheinen die Herrschenden Angst zu haben vor diesem kritischen Dichter.

Was einen Unterhaltungsroman ausmacht

Als ich den Roman kurz nach Menschings Tod las, erinnerte ich mich an ein Seminar bei ihm, in dem wir uns das Konzept eines guten Unterhaltungsromans überlegten. Zuerst einmal, notierten wir, muss er ein wichtiges, auch politisches Thema haben, wobei für Mensching der politische Anspruch auf gar keinen Fall vordergründig sein durfte. Anfangen, meinten wir, müsse der Roman mit einer spannenden Episode, dann müsse etwas Erotisches folgen, was bei Mensching sowieso immer eine Rolle spielte, dann muss die Gegenseite gezeigt werden, dann wieder turbulente Aktion. Mensching fand gut, dass wir so ein Konzept erstellten, die Unterscheidung zwischen ernsthafter und unterhaltender Literatur hat er sowieso nie mitgemacht. Unterhaltung kann auch ernsthaft sein, sie kann vor allem Tiefgang haben, das war seine Position. Genauso wie es unsere war.

Phantastische Welt des Puppentheaters

Wenn man die Wurzel seiner phantastischen Geschichten fassen will, liegt der Bezug zu Hoffmann nahe. Bei Mensching kam aber noch etwas anderes hinzu. Die ersten Jahrzehnte seiner schriftstellerischen Arbeit hat er mit Puppenspiel verbracht. Mensching hatte ein Puppentheater, er spielte selber und schrieb die Stücke dazu. „Lemmi und die Schmöker“, der bekannte Bücherwurm, hat viele Jahre lang im Fernsehen die Kinder erfreut.

Kann man einen solchen Schriftsteller ernst nehmen? Aber ja, Tankred Dorst, der bekannte Theaterschriftsteller, mit dem Mensching befreundet war, hat genauso angefangen. Mensching hat mir mal eines von Dorsts Puppentheaterstücken in Schreibmaschinenschrift geliehen. Und wer Puppentheater liebt, wer Kinder in eine phantastische Welt hineinziehen will, muss einfach phantasievoll schreiben. Ich glaube, dass Mensching diese Erfahrung aus seinen Anfängen auf seine neun Erzählbände, Novellen und Romane übertragen hat, die er in nicht einmal einem Jahrzehnt geschrieben hat.

Eruptives Schreiben

Ja, es waren nur wenige Jahre, in denen er ernsthaft schrieb, denn Mensching hat lange nach einem eigenen Weg gesucht. Sollte er Wissenschaftler werden oder Puppenspieler oder doch Autor? Als er sich zum Schreiben von Romanen und Novellen entschloss, war es wie eine Eruption. Jedes Jahr gab es eine Publikation von ihm, und so musste es auch sein, denn es blieben ihm leider nur noch wenige Jahre.

Hochaktuell ist zum Beispiel die Erzählung von Herrn Krotta, der irgendwann beschließt, dass es Zeit sei zu sterben. Er weiß, dass so etwas von einem Institut erledigt wird, das mehrere Varianten des Sterbens anbietet. Krotta wählt den teuren, den Liebestod, seine Frau ist einverstanden, möchte aber noch ein bisschen leben. Am vereinbarten Todestag erscheint Krotta eine wunderschöne Frau und sein Todeswunsch erlischt augenblicklich. Diese Frau zu besitzen und mit ihr zu fliehen, ist plötzlich ein lohnenswertes Ziel. Warum sterben, wenn das Leben so schön sein kann? Die Frau geht darauf ein, gemeinsam flüchten sie in ein Hotel, wo Krotta bei der ersehnten Umarmung aber plötzlich einen heftigen Schmerz verspürt. Kurz drauf ist er tot. Die Frau verlässt das Hotel und trifft draußen im parkenden Wagen ihren Mann. Der hat ebenfalls gerade jemanden ins Jenseits befördert. Die beiden sind zufrieden, dass ihre Aufträge wie gewohnt geklappt haben. Sie werden Sonderprämien bekommen und haben folglich Geld genug, um erst mal essen zu gehen.

Das ist weiß Gott eine Mensching-Geschichte! Sie hat ein skurriles Thema, fast eine wie aus unserer Zeit, dazu einen Schuss Gesellschaftskritik durch den bestellbaren Tod und außerdem eine Portion Erotik. Der Leser weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll.

Verdienstvolles Lesebuch

Prof. Walter Gödden hat in „Nylands kleine westfälische Bibliothek“ (Nyland-Stiftung, 59227 Ahlen) ein Lesebuch mit ausgewählten Texten von Gerhard Mensching herausgegeben. Die sehr verdienstvolle Publikation befördert einen Autor ans Tageslicht, über den sich schon Dämmerung ausgebreitet hatte. Dämmerung, aber kein Schatten, denn dazu sind Menschings Texte viel zu gut.

Gödden hat die Auswahl sehr geschickt getroffen, ein Reader ist entstanden, bei dem auch die Textauszüge in sich geschlossen und für den Leser verständlich sind. Vor allem macht die Textauswahl Lust, sich mit diesem Autor zu beschäftigen, dem neun Jahre reichten, um sich weit nach vorn zu schreiben. Nach der Lektüre dieses Lesebuchs hat der Leser garantiert Lust, sich mit einem von Menschings Romanen oder Novellenbänden zu beschäftigen.

„Lesebuch Gerhard Mensching“. Zusammengestellt von Walter Gödden. Aisthesis Verlag, Köln, 2013. 176 Seiten, 8,50 Euro. ISBN 978-3-895289842.




Farewell, Barney: Zum Tod des Dortmunder Journalisten Werner Strasdat

Es ist wieder einmal an der Zeit, Bertolt Brechts Gedichtzeilen aus „An die Nachgeborenen“ zu zitieren: „Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen…“ Eine erschütternde Neuigkeit lautet jetzt so unerbittlich: Der Kollege, Kumpel und Freund Werner Strasdat ist tot.

Die meisten kannten ihn unter seinem Spitznamen „Barney“. Und er kannte zeitweise enorm viele Leute. Zumal als junger Mensch – ich bin ihm zuerst in unseren frühen 20ern begegnet – hat er so richtig „Betrieb“ gemacht, war ständig ruhelos unterwegs in allen (linken) Szenen und Gassen. Wenn Stillstand drohte, fragte er flackernd: „Ey, was liegt an?“ Dazu könnten einem Neil Youngs Zeilen einfallen: „It’s better to burn out than to fade away…“

Wohin führt der Weg? Irland 1976: "Barney" befragt eine Straßenkarte.

Wohin führt der Weg? Irland 1976: „Barney“ befragt eine Straßenkarte und entzieht sich zugleich dem Fotografen.

Etwas ausgesprochen Fahriges und Unstetes hat „Barney“ bis in seine mittleren Jahre behalten. Doch was früher vor allem Ausdruck einer herrlichen Spontanität gewesen ist, erschien wohl zusehends als betrübliches Orientierungsproblem, als Sinnkrise. Einen wie ihn konnte man sich eh nicht als 75- oder gar 80jährigen vorstellen.

Zwischenzeitlich haben wir uns mehrmals länger aus den Augen verloren, so auch in den letzten Jahren. Da hatten wir nur sehr sporadisch miteinander zu tun. Vor wenigen Wochen erschien seine Nummer auf meiner Liste verpasster Anrufe. Ich habe nicht zurückgerufen. Später, später, demnächst…

Muss ich mir nun Vorwürfe machen? Habe ich Signale ignoriert? Andere waren zuletzt sicherlich „näher dran“, aber was kann man schon tun? Ach, es ist ja fast alles Gerede.

Es war 1976. Mein bester Schulfreund Klaus hatte – über gemeinsame Freundinnen – „Barney“ kennen gelernt. Zu dritt sind wir damals für sechs Wochen nach Irland gefahren. Eine wunderbare, nun erst recht unvergessliche, auch ein wenig chaotische Rundfahrt. Schon auf der Rückreisen-Fähre stiegen mir wehmütige Tränen auf. Wie weh wäre mir erst geworden, hätte ich den weiteren Lauf der Dinge geahnt.

Denn andererseits war es eine gottvermaledeite Reise, als hätte ein heimlicher Fluch darauf gelegen. 1987 hat sich Klaus das Leben genommen – und jetzt… bin ich aus dem damaligen Trio übrig; abermals ratlos trauernd.

Etliche Jahre nach dem Irland-Trip, Anfang der 1990er, war Werner Strasdat dann Volontär bei der Westfälischen Rundschau, zeitweise auch in unserer Kulturredaktion. Wahrhaftig einer von den Besseren oder gar Besten. Schnell und originell denkend, reflektiert und mit Witz gesegnet. Freilich mit keinerlei Hang zur Dauerhaftigkeit.

Er hat danach seine Freiheit vorgezogen und sich über die tägliche Knechtschaft der Festangestellten belustigt. Wenn wir uns – selten genug – trafen oder miteinander telefonierten, fragte er süffisant: „Na, was macht die Kleinfamilie?“ Mag sein, dass er just etwas mehr Verlässlichkeit gebraucht hätte. Doch berufliche und familiäre Festlegungen entsprachen nun mal nicht seinen Vorstellungen, seinen Utopien. Auch konnte und wollte er nicht buchhalterisch mit dem Geld haushalten, das seinerzeit noch vorhanden war. Er war so gar nicht kleinlich und auch niemals kleinkariert. Er war verdammt in Ordnung.

Aus seiner anfänglich genossenen Freiheit scheint auf dem journalistischen Markt mit den Jahren Vogelfreiheit geworden zu sein. Wo er einst Aufträge verschmäht hatte, die ihm nicht vollends zusagten, kämpfte er nun um die wenigen verbliebenen Zugänge und Möglichkeiten. Welch ein negatives Lehrstück.

Sein aufrechter Sinn und sein gegen Widerstände aufrecht erhaltener Anspruch haben ihm auf Dauer geschadet. Einst hatte er sich geweigert, für die ziemlich geringen Honorare einer großen Zeitungsgruppe im Revier weiterhin als freier Mitarbeiter tätig zu sein. Auch lehnte er, aus ebenso nachvollziehbaren Gründen, die allermeisten TV-Formate rundweg ab und sprach von „Blümchenfernsehen“. In der Tat hätten dem profunden Irland-Kenner viele, viele Fernsehleute, die sich derweil lukrativ betätigten, kaum das Guinness reichen können.

Es ist eine tragische Geschichte. Und eine sehr, sehr traurige.




Die Illusionen sind dahin – „Raketenmänner“ von Frank Goosen in Oberhausen

Raketenmänner, Theater Oberhausen

„Raketenmänner“ in Oberhausen, Szene mit Torsten Bauer und Anja Schweitzer (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Wie soll man sie nennen? Mitmenschen, Nachbarn, Allerweltsgestalten, Normalos? Das Personal wirkt ziemlich durchschnittlich.

Eine Frau, die weiß, dass ihr Mann fremdgeht, ein Mann, der gerne fremdgehen würde, ein unglücklicher Angestellter, den der Vorgesetzte mobbt, ein alternder Platzwart, zwei alte Freunde, die sich nicht mehr richtig verstehen, eine Demente, ein sterbender Kinobesitzer – sie bevölkern das erste Theaterstück des Bochumer Autors und Kabarettisten Frank Goosen, das in Oberhausen Premiere hatte und, auf den ersten Blick etwas unverständlich, „Raketenmänner“ heißt.

Eine alte Schallplatte

Doch ist der Titel flugs auch im Stück erklärt: „Raketenmänner“ lautet der Titel einer fiktiven Langspielplatte, die ein gleichfalls fiktiver Stefan Moses in den 70er Jahren aufnahm. Dieses Album geistert nun durch die sich reihenden Szenen, ist für den jungen Wenzel (Thieß Brammer), der mutig einen Laden mit Vinyl-Schallplatten übernommen hat, eine unerwartete Begegnung mit familiärer Vergangenheit, ist für die meisten anderen eine verklärende Erinnerung, Sinnbild für Träume und Sehnsüchte. „Bass, Gitarre, Schlagzeug, manchmal ein Klavier. nichts Besonderes“, erinnert sich Gaby (Anja Schweitzer) im Verlauf des Stücks, „ich kann das irgendwie nicht richtig erklären“. Es war wie eine Verheißung, gleichwohl: Die Raketen zündeten nicht, sie alle blieben auf der Erde mit ihren tiefgrauen Problemen.

Raketenmänner, Theater Oberhausen

Hartmut Stanke pflegt das Grün als Platzwart (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Stellenweise lustig

Eine gewisse Nähe zum Kabarett ist in der Inszenierung des Oberhausener Intendanten Peter Carp unübersehbar, und würde Frank Goosen selber vortragen, kämen einige Episoden wohl noch kerniger über die Rampe.

Doch muss einem Missverständnis vorgebeugt werden: Trotz des Personals, das einem aus Goosens Themenkosmos bekannt vorkommt, trotz einer zumindest vorstellbaren Verortung im Ruhrgebiet und trotz Dialogen, die kurz und klar sind und oft auf Pointen zielen, ist dieses Stück nicht wirklich lustig. Wenn schon nicht eine Lebensbilanz à la Becketts „Das letzte Band“, so ist es doch so etwas wie die illusionslose Ermittlung eines Zwischenstandes der „Generation Goosen“, die jetzt so um die 50 Jahre alt ist. Und wer in dem freien Journalisten Kamerke (Torsten Bauer), der wie zufällig durch die Episoden treibt und mit den Leuten redet, ein Alter Ego des Autors zu erblicken glaubt, liegt sicher nicht ganz falsch.

Raketenmänner, Theater Oberhausen

Im Plattengeschäft gibt es noch richtiges Vinyl, auch die Platte „Raketenmänner“. Szene mit Thieß Brammer und Torsten Bauer. (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Sehnsucht nach den Sternen

Das Theaterstück ist die Fortschreibung eines gleichnamigen Romans und, wenn man so will, eine Variation auf die Geschichte „The Rocket Man“ des amerikanischen Science-fiction-Autors Ray Bradbury, der durch den später verfilmten Roman „Fahrenheit 451“ berühmt wurde. Sie erzählt 1951 bereits von einem Astronauten und seiner Sehnsucht nach den Sternen und der Unendlichkeit des Alls, während er noch daheim im trauten Kreis der Familie sitzt. Der Elton John-Hit „Rocket Man“ ist ebenfalls von dieser Geschichte inspiriert.

Eine verwahrloste Bühne

Nach der Pause, wenn die Zahl der Einzelepisoden abnimmt und die Gespräche länger werden, hat sich auch das Bühnenbild (Manuela Freigang) geändert. Die alte plüschige Guckkastenbühne, die in der ersten Hälfte nur einen schattigen Hintergrund bildete, dominiert nun die Szene, und deutlich erkennt man jetzt ihre völlige Verwahrlosung. Die Bühne des Lebens, plakativ ruiniert – ist die Bilanz denn wirklich gar so düster?

Raketenmänner, Theater Oberhausen

Junge Menschen, alte Platte: Laura Angelina Palacois, Eike Weinreich. (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Nun, zumindest träumt hier keiner mehr, und in diesem Punkt unterscheidet sich Goosens Personal grundlegend beispielsweise vom dem Yasmina Rezas („Der Gott des Gemetzels“), die in ihren Stücken ja auch sehr sorgfältige Gesellschaftsbilder zeichnet, deren Personal jedoch immer wieder in Widerspruch zwischen eigenen (mitunter absurden) Idealvorstellungen und den Widrigkeiten der Welt gerät.

In den eigenen Stiefeln sterben

Doch wenn die Menschen keine Träume mehr haben, dann muss eben ein Wunder geschehen. Oder zumindest etwas Wunderbares. Deshalb darf der todkranke Kinobesitzer, dessen Liebe zu den guten alten Wildwestfilmen sich auf nachfolgende Generationen übertrug, in seinen Stiefeln sterben, wie es im Westen halt Brauch war. Und schließlich singen alle zum leisen, treibenden Trommelschlag „Do Not Forsake Me, Oh My Darlin“ aus Fred Zinnemanns Western-Klassiker „High Noon“ („Zwölf Uhr mittags“) mit Gary Cooper in der Hauptrolle. Will vielleicht auch sagen: Das haben wir zusammen erlebt, das kann uns keiner nehmen.

Ein gefühltes Viertelstündchen dauerte es, bis sich das Oberhausener Ensemble mit dem neuen Stück warmgespielt hatte, dann aber war sein Auftritt überzeugend. Dankbarer, anhaltender Applaus.




„Weltkunst“ ohne Grenzen – Wuppertal zeigt die famose Sammlung des Eduard von der Heydt

Von einem veritablen „Großereignis“ spricht Wuppertals Museumsdirektor Gerhard Finckh, der zwar zu schwelgen weiß, aber nicht zu maßlosen Übertreibungen neigt. Man zeige – in bislang beispielloser Breite – wesentliche Teile der bedeutendsten deutschen Kunstsammlung, die hauptsächlich in den 1930er und 40er Jahren aufgebaut wurde.

Konkreter: Wuppertal würdigt den Mann, dem es quasi seine grandiosen Museumsbestände und seinen bleibenden Rang in der Kunst-Landschaft verdankt. Wenn man es pathetisch sagen mag: Alle Stockwerke des Hauses sind nun von Sammlergeist des Eduard von der Heydt erfüllt.

Vincent van Gogh: "Kartoffelsetzen" (1884). Vermächtnis Eduard von der Heydt, 1964 (Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Vincent van Gogh: „Kartoffelsetzen“ (1884). Vermächtnis Eduard von der Heydt, 1964 (Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Seit 1962 trägt das Museum den Namen Von der Heydts. Er hat der Stadt nicht nur unermasslichen Kunstbesitz vermacht, sondern auch ein Millionenvermögen, das in eine Stiftung zum Ankauf weiterer Werke eingeflossen ist. Glückliches Wuppertal! Jedenfalls in dieser Hinsicht.

Eduard von der Heydt war, wie schon sein Vater August, ein Wuppertaler Bankier, der nach und nach in London, der Schweiz, den Niederlanden, Berlin und Paris wirkte; ein Mann von europäischem Format also. Aufbauend auf der Kunstsammlung seines Vaters (erst konventionell mit Marees, Makart und Courbet, dann auch schon kühner ausgreifend), trug er eine famose Kollektion der Moderne zusammen. So zählte er zu jenen Pionieren, die schon sehr zeitig Picasso-Bilder erwarben.

Paul Cézanne: "Liegender weiblicher Akt" (um 1886/90). Vermächtnis Eduard von der Heydt, 1964 (Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paul Cézanne: „Liegender weiblicher Akt“ (um 1886/90). Vermächtnis Eduard von der Heydt, 1964 (Foto: Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Doch nicht nur das. Durchaus gleichberechtigt kamen künstlerische Arbeiten aus Asien, Afrika und Ozeanien hinzu. Etliche Fotografien aus Von der Heydts großbürgerlichen Villen und sonstigen Wohnsitzen bezeugen solch hierarchieloses Nebeneinander im Sinne einer übergreifenden „Weltkunst“-Idee. Von der Heydt besaß selbst ein Gespür für Qualität, ließ sich freilich auch eingehend von Fachleuten beraten. Man konnte ja nicht alles selbst wissen.

Erstmals in dieser üppigen Form werden nun Eduard von der Heydts Sammlungen wieder zusammengeführt. Rund 320 Exponate repräsentieren die etwa 3500 Stücke, die Eduard von der Heydt erwerben konnte. Skulpturen und Bildnisse aus Asien und Afrika kamen nach dem Zweiten Weltkrieg ins Züricher Rietberg-Museum (Villa Wesendonck), während die überwiegend moderne Kunst ins Wuppertaler Museum zuteil wurde. Jetzt kooperieren beide Institute, um die Gesamtschau zu ermöglichen. In chronologischer Folge werden Aspekte der Sammlerbiographie und der Museumsgeschichte aufgefächert.

Buddha auf dem Schlangenthron, Kambodscha, Khmer-Reich, 12. Jhdt. Sandstein. (Foto: Museum Rietberg, Zürich)

Buddha auf dem Schlangenthron, Kambodscha, Khmer-Reich, 12. Jhdt. Sandstein. (Foto: Museum Rietberg, Zürich)

Einige gekonnte Inszenierungen der „Weltkunst“-Schau lassen Kontexte der Sammelzeit aufleben. Immer wieder sieht man hier Originale, die schon auf besagten historischen Fotografien auftauchen. Es ist, als träten sie plastisch aus jener Historie hervor, als würden sie ungeahnt lebendig.

Ein Saal lässt beispielsweise ahnen, wie Von der Heydts Sammelstücke vor der majestätischen Meereskulisse im holländischen Zandvoort (wo er einen Bank gründete) gewirkt haben mögen. Eine weitere Vergegenwärtigung betrifft den Monte Verità, die traditionelle Kultstätte damaliger Lebensreformer, die Eduard von der Heydt kurzerhand kaufte, um dort u. a. ein Hotel zu betreiben. Die künstlerische Ausstattung des (hier teilweise stilgerecht nachempfundenen) Speisesaals hatte wahrhaft museale Qualitäten.

Maske batcham (Kamerun, Bamileke, Bamendjo, 19. Jhdt., Holz). (Museum Rietberg, Zürich)

Maske batcham (Kamerun, Bamileke, Bamendjo, 19. Jhdt., Holz). (Museum Rietberg, Zürich)

Ach ja. Wir haben bislang noch kaum Künstlernamen genannt. Nun, man müsste ja auch weite Teile der Moderne durchbuchstabieren, von Van Gogh bis Picasso, von Odilon Redon bis Moholy-Nagy, von Hodler bis Jawlensky, von Modersohn-Becker bis Beckmann. Um doch nur wenige zu nennen. Schon beim Presserundgang mussten, um die Fülle zu bewältigen, tatsächlich Meister wie Edvard Munch auch schon mal „links liegen gelassen“ werden, sonst wäre der Termin zeitlich ausgeufert.

Alexej von Jawlensky: "Die schwarzen Augen" (1912). (Von der Heydt -Museum Wuppertal)

Alexej von Jawlensky: „Die schwarzen Augen“ (1912). (Von der Heydt -Museum Wuppertal)

Zu all den Werken der Europäer gibt es faszinierende Beispiele für afrikanische und asiatische Kunst, die nicht etwa unter soziologischen, sondern unter ästhetischen Gesichtspunkten gesammelt wurde; wie denn überhaupt Eduard von der Heydt vor allem der Schönheit huldigte und mit der Kunst keinen hehren Bildungsauftrag für die einfachen Leute verfolgte. Das unterschied ihn von Karl Ernst Osthaus, der ein paar Jahrzehnte zuvor von Hagen aus zum sendungsbewussten Botschafter der Moderne wurde.

Die Ausstellung, kuratiert von Antje Birthälmer, verschweigt auch nicht Eduard Von der Heydts notgedrungenes Lavieren im „Dritten Reich“. Die Familie zählte zum engeren Kreis um Kaiser Wilhelm II., der einen reaktionären Kunst-Geschmack hatte, sich aber nie kritisch zur fortschrittlich orientierten Sammeltätigkeit der Banker geäußert haben soll.

Spürbar ist ein abwägendes Bemühen um geschichtliche Gerechtigkeit. Nach 1946 wurde Von der Heydts zunächst zwiespältig erscheinendes Verhalten in der NS-Zeit gerichtlich untersucht. Es sieht so aus, als hätte er sich einigermaßen anständig verhalten und jedenfalls keine Kunst-„Schnäppchen“ auf Kosten drangsalierter jüdischer Mitbürger an sich gebracht.

Eduard von der Heydt als "Buddha vom Monte Verità", um 1930. (Foto: Privatarchiv)

Eduard von der Heydt als „Buddha vom Monte Verità“, um 1930. (Foto: Privatarchiv)

Ein überaus kompliziertes Diagramm soll außerdem veranschaulichen, wie Eduard von der Heydt staatliche Geldflüsse, gedacht für deutsche Spionage, teilweise umgeleitet hat, um Juden vor der Verfolgung zu retten. Allerdings herrscht auf diesem Felde immer noch Klärungsbedarf. Abermals soll ein Symposion im Rahmen der Ausstellung der schwierigen Wahrheit näher kommen.

Im Laufe des Rundgangs fragt man sich gelegentlich, was dieser Sammler denn eigentlich für ein Mensch gewesen sei. Eine Fotografie zeigt Eduard von der Heydt als eine Art Buddha im Schneidersitz. Er wirkt freundlich, aber letztlich auch unnahbar. Aus seinem Privatleben drang wenig bis nichts nach außen; ganz so, als hätte er – im Reich einer vermeintlich reinen Ästhetik – über allem geschwebt.

„Weltkunst. Von Buddha bis Picasso. Die Sammlung Eduard Von der Heydt“. 29. September 2015 bis 28. Februar 2016. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro, Katalog 25 Euro. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Do 11-20 Uhr, Mo geschlossen. Info-Hotline: 0202/563-26 26. www.von-der-heydt-museum.de / www.weltkunst-ausstellung.de




Den „Piefke“ gab es wirklich: Vom Heldennamen zum Schmähbegriff

Johann Gottfried Piefke. Zeitgenössisches Porträt, entstanden vor seinem Todesjahr 1884.

Johann Gottfried Piefke. Zeitgenössisches Porträt, entstanden vor seinem Todesjahr 1884.

Der „Piefke“ gilt als österreichisches Schimpfwort für den typischen preußischen Großkotz: arrogant, besserwisserisch, militaristisch. Doch wer glaubt, das Wort sei nur ein typisierender Sammelname für all die unsympathischen Zeitgenossen nördlich der Mainlinie, der irrt.

Den Piefke gab es wirklich: Johann Gottfried Piefke war ein preußischer Militärmusiker von hohem Ansehen. Der Komponist von „Preußens Gloria“, heute noch ein beliebter Marsch, wurde vor 200 Jahren, am 9. September 1815 in Schwerin an der Warthe im damaligen Kreis Posen geboren.

Ins österreichische Schimpfwörterverzeichnis geriet Piefke, glaubt man den legendarisch verbrämten Erzählungen, ohne eigenes Zutun: Der fast Zwei-Meter-Mann sei bei der Siegesparade nach der österreichischen Niederlage bei Königgrätz 1866, abgehalten auf dem Marchfeld bei Gänserndorf, mit seinem ebenso langen Bruder Rudolf an der Spitze der vereinigten Musikkorps einmarschiert. „Die Piefkes kommen“, sollen da die Soldaten und die Wiener Schlachtenbummler gerufen haben. Seither hat sich der „Piefke“ zum Synonym für den halb belustigenden, halb bedrohlichen Deutschen entwickelt.

Johann Gottfried Piefke war damals schon über ein Jahr lang „Director der gesamten Musikchöre des III. Armeekorps“; ein einmaliger Titel, den vor und nach ihm niemand mehr getragen hat. Wilhelm I. ehrte damit den Schöpfer der beiden Düppeler Märsche, des „Düppeler Sturm Marsches“ und des „Düppel-Schanzen-Sturm-Marsches“. Beide entstanden im Schleswig-Holsteiner Krieg 1864 gegen Dänemark. Bei der Erstürmung der Düppeler Schanzen, so eine weitere Piefke-Legende, soll der Königliche Musikdirektor mit Beethovens Yorck’schem Marsch den Sturm begleitet haben – mit dem Degen dirigierend. Damals war Preußen mit den Habsburgern verbündet. Piefke erhielt die Goldene Medaille des Kaisers von Österreich-Ungarn, Theodor Fontane würdigte den „Tag von Düppel“ mit einem Gedicht – den Musiker eingeschlossen: „‘Vorwärts!‘ donnert der Dirigent, Kapellmeister Piefke vom Leibregiment.“

So eindeutig, wie solche Erzählungen wollen, ist die Zuordnung des „Piefke“-Begriffs zu dem preußischen Militärkapellmeister freilich nicht. Vorher schon verwendet etwa der Berliner Schriftsteller Adolf Glaßbrenner die Kunstfigur in diversen satirischen Publikationen. So annonciert er etwa im „Komischen Volkskalender für 1849“ die „nächste deutsche Kunstausstellung“, unter anderem mit dem Bild „Rellstab, an einer Tonne Weißbier dichtend … Hintergrund Die Villa Piefke bei Tivoli“. Oder er vermerkt für den 6. Mai: „Der Bürger, Schlächtergesell Piefke, heirathet die frühere Fürstin von Dämelhagen-Mottenau-Schimmelburg-Strohfelde-Pilzethal“. Im „Kladderadatsch“ stellt Glaßbrenner den Piefke neben satirische Figuren wie Strudelwitz und Pudelwitz oder Schulze und Müller.

In Wien rangierte „Piefke“ derweil als Wiener Grantler, wie Piefke-Forscher Hubertus Godeysen in seinem Buch „Piefke. Kulturgeschichte einer Beschimpfung“ niedergelegt hat. Im Duett mit Pufke zog er in der Zeitschrift „Der Humorist“ über Tagesereignisse her – und die Sottisen wurden offenbar so populär, dass sogar Johann Strauß senior nach den beiden Figuren eine Polka benannt hat. Nach der Niederlage von Königgrätz änderte sich das: Piefke mutierte zum Zerrbild eines preußischen Großmauls. Im Dritten Reich stand in der „angeschlossenen“ Heimat des „Führers“ der „Piefke“-Spottname unter Strafe: Bußgelder und Haftstrafen sollten die Schmähung eindämmen – mit wenig Erfolg, wie die Urteile und die medialen Aufforderungen zum Wohlverhalten belegen.

Der originale Piefke konnte freilich nichts dazu. Er nutzte sein ererbtes musikalisches Talent für die Weiterentwicklung der preußischen Militärmusik. Mit 19 Jahren trat er als Hoboist beim Leibgrenadier-Regiment Nr. 8 in Frankfurt an der Oder an. Drei Jahre später schickte man den begabten Jungen zum Studium an die Berliner Musikhochschule. 1843 zu seinem Regiment zurückgekehrt, ging er mit diesem 1852 nach Berlin, wo sein Talent schnell bekannt wurde: Die Militärmusik bestritt damals unter anderem Platzkonzerte, Bälle, Festkonzerte und viele andere Gelegenheiten mit populärer musikalischer Untermalung. Piefke beherrschte so gut wie alle Instrumente, die in seiner Kapelle benutzt wurden, und feilte unermüdlich daran, den Klang der Militärmusik zu verbessern. Ab 1860 war wieder Frankfurt/Oder sein Wirkungsort, wo er 1884 starb und unter hohen militärischen Ehren auf dem Alten Friedhof – heute der Kleistpark – beigesetzt wurde.

Piefke schrieb über 60 Märsche, unter ihnen als die bekanntesten den „Königgrätzer Marsch“, „Preußens Gloria“ und den „Kaiser-Wilhelm-Siegesmarsch“. Seine beiden Düppeler Märsche waren in Berlin Gassenhauer. In der Musikszene war Piefke hochgeschätzt. Hans von Bülow schrieb über ihn: „Seine aufgeführten Werke von Beethoven und Wagner waren Leistungen, wie sie in dieser Sphäre meisterhaft nicht einmal gedacht werden können und gereichen dem Dirigenten und der Kapelle zur höchsten Ehre.“ Zu den Bayreuther Festspielen 1876 erhielt er als einziger Militärmusiker eine Einladung. Schon im Juli 1876 soll er bei einem Platzkonzert in Frankfurt/Oder Teile aus dem „Rheingold“ in eigener Bearbeitung dem begeisterten Publikum vorgestellt haben. An dem gebildeten Feingeist in Uniform lag es also nicht, dass sein Name bis heute in Österreich herhalten muss, wenn es um deutsche Unkultur geht.




Das unerhört Neue, das sich in jedem Leben begibt – Andreas Maiers Roman „Der Ort“

Allmählich wird das abgelegene Friedberg in der Wetterau zum literarischen Ort. Je mehr der Schriftsteller Andreas Maier („Wäldchestag“) Kindheits- und Jugenderinnerungen in verdichtete Sprache überführt, umso mehr reiht sich der hessische Flecken ein in die Historie bedeutsamer Provinznester.

Mit „Das Zimmer“, „Das Haus“ und „Die Straße“ hat Andreas Maier nach und nach immer weitere Kreise um sein Herkommen gezogen. Sein neuester Roman heißt „Der Ort“ und spielt in den frühen 1980er Jahren, als der Protagonist sozusagen auf dem ersten Scheitelpunkt seiner Pubertät anlangt, sich lesend (was sind das noch für Zeiten gewesen!) von allem und allen in ungute Einsamkeit zu entfernen scheint, während er doch zugleich einem regen Kollektiv, einer bestimmten „Szene“ angehört, und zwar keineswegs als randständiger Außenseiter.

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Stimmig, feinsinnig und mit Erfahrung angefüllt schildert Maier den gleitenden, gleichwohl auch schmerzlichen Übergang aus den späten Kinderjahren in die Jugendzeit. Noch spielen die Mädchen Gummitwist und dergleichen, doch lockt zumal eine gewisse Katja Melchior schon auf andere, durchaus aufregende Weise. Die Jahre, die ihr kennt…

Auch der Ort verändert sich. Es ist die Zeit, in der nach und nach alle Umgebung durch Trassen und Umgehungsstraßen durchpflügt, umzingelt und nachhaltig geprägt wird. Fast unmerklich und doch machtvoll kündigt sich ein Verlust an.

Im Leben der Jugendlichen ist derweil alles randvoll mit Ahnungen, es ist ein Ansammeln vordem ungeahnter Gefühlslagen. Da dämmert eine neue Lebensrolle herauf, fast wie aus dem Nichts.

In wechselnden Konstellationen und Choreographien kreisen die jungen Leute Tag für Tag umeinander, klären auf Partys ihre mehr oder weniger subtilen Hierarchien, üben die Regeln des Sich-Näherns und des Entfernens ein.

Alles, was da geschieht, wirkt überaus gültig – und dermaßen erschöpfend, so dass so manche Schulvormittage vertrödelt werden müssen. Entschiedener noch: Es bilden sich Rituale heraus, mit denen die Jugendlichen sich gezielt künstliche Ohnmachten zuzufügen, sich in Trance versetzen. Dabei kommen sie sich doch so unverwundbar vor. Vielleicht müssen sie sich gerade deshalb betäuben?

Wie befremdlich auf einmal der gewöhnliche Alltag wird. Die eigene Unterhose kommt dem Erzähler ebenso seltsam vor wie das gesamte elterliche Ambiente, ja überhaupt das Leben der Erwachsenen am Ort und überall. Mag sie auch betrüblich grundiert sein, so hat die Distanz doch auch ihre sanft komischen Seiten. Und die Eltern, die Lehrer? Sind bei all dem rundweg sprach- und machtlos.

Das Gefühl der schier grenzenlosen Freiheit führt auch – eher noch spielerisch – zur ersten Politisierung, die sich dort und damals gegen rechtslastige CDU-Typen richtete. Wie lang ist das her!

Es ist beileibe nicht das erste Buch, das dieses ungeahnte, alsbald nicht mehr wiederkehrende Jugendgefühl beschreibt. Es ist vielmehr die Fortsetzung einer großen, langen Tradition. Das unerhört Neue, das sich in jedem Leben begibt, hat eben viele, viele Vorläufer. Es bleibt, wenn es so beschrieben wird wie hier – für alle Zeit spannend.

Allerdings flüchtet der Erzähler willentlich vor dem landläufigen Jungsein. Alles kommt ihm so gespielt und aufgesetzt vor, wie ein tausendfältiges Klischee. Ihm ist gar, als habe er seine Hände verloren und als müsse er reglos verharren. Ein Schluss, der auf Erstarrung hinzudeuten scheint. Aber wer weiß.

Andreas Maier: „Der Ort“. Roman. Suhrkamp-Verlag. 154 Seiten. 17,95 Euro.

Auszug aus einer Lesung des Autors hier




An der Schwelle der Moderne: Vor 125 Jahren starb Vincent van Gogh an einem Schuss

Vincent van Gogh: Ein Selbstporträt mit grauem Filzhut von 1887. Das Bild gehört dem van Gogh Museum Amsterdam. Bis 6. September ist es in der Ausstellung "Van Gogh + Munch" im Munch Museum Oslo zu sehen. Foto: Van Gogh Museum, Amsterdam (Vincent van Gogh Foundation)

Vincent van Gogh: Ein Selbstporträt mit grauem Filzhut von 1887. Das Bild gehört dem van Gogh Museum Amsterdam. Bis 6. September ist es in der Ausstellung „Van Gogh + Munch“ im Munch Museum Oslo zu sehen. Foto: Van Gogh Museum, Amsterdam (Vincent van Gogh Foundation)

Seine Sonnenblumen, sein Selbstbildnis, seine Sternennacht: Bilder, die ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Millionenfach reproduziert, weltbekannt. Vincent van Gogh, der niederländische Pfarrerssohn und exzentrische Außenseiter, gehört heute zu den populärsten Meistern am Beginn der Moderne – und zu den teuersten Malern im internationalen Kunstmarkt.

1987 wurden knapp 40 Millionen Dollar für eines seiner Sonnenblumenbilder gezahlt; drei Jahre später legte ein japanischer Sammler für das „Porträt des Dr. Gachet“ über 82 Millionen Dollar hin. Erst vor drei Wochen wurde bei Christie’s das frühe Aquarell der „Laakmolen“ bei Den Haag von 1882 für 2 Millionen Pfund versteigert.

Van Gogh war nicht zum Maler geboren. Erst mit 27 Jahren, im Herbst 1880, entschied er sich, Stift und Pinsel zu den Werkzeugen zu machen, mit denen er künftig seinen Lebensunterhalt verdienen – und mehr noch, sich selbst ausdrücken wollte. Die nötigen Kenntnisse eignete er sich selbst an. Er kopierte Zeichnungen und Drucke, um zu lernen, genoss gelegentliche Unterweisungen, etwa von seinem Cousin Anton Mauve. Sein Bruder Theo van Gogh kam für seinen Lebensunterhalt auf und erhielt dafür einen großen Teil von Vincents Werken.

Von der Theologie zur Kunst

Die nur 37 Jahre seines Lebens begannen mit einer Kindheit in Brabant, die van Goghs Liebe zur Natur weckten; mit einer schwierigen, mit 15 Jahren beendeten Schulzeit des eigenbrötlerischen Jungen; mit unglücklicher junger Liebe und der Suche nach einem Beruf.

Die Lehre bei einem bedeutenden Kunsthandel ging schief, weil van Gogh als Verkäufer ungeeignet war. In London fühlte er sich einsam, in Paris kapselte er sich ab und beschloss, ein Studium zu beginnen. An seinen Bruder Theo schreibt er: „Ich wäre unglücklich, wenn ich nicht das Evangelium predigen könnte … wenn ich nicht meine ganze Hoffnung und all mein Vertrauen auf Christus gesetzt hätte …“. Doch fand er die Theologie an der Universität einen „unbeschreiblichen Schwindel“, gab das Studieren auf und besuchte ein Laienprediger-Seminar in Brüssel.

Ging für zwei Millionen Pfund bei Christie's weg: Vincent van Goghs "Laakmolen bei Den Haag", ein Aquarell aus dem Jahr 1882. Foto: Christie's

Ging für zwei Millionen Pfund bei Christie’s weg: Vincent van Goghs „Laakmolen bei Den Haag“, ein Aquarell aus dem Jahr 1882. Foto: Christie’s

Eingesetzt als Hilfsprediger im Steinkohlerevier bei Mons in Belgien, identifiziert er sich bis hin zu einer bettelarmen Lebensweise stark mit den Arbeitern. Er malt die einfachen Menschen; er verschenkt Lohn, Lebensmittel, Kleider. Wohl auch, weil er radikal an die Ränder der Gesellschaft ging, wurde seine Anstellung nicht verlängert. Die Zurückweisung ist einer der Gründe, warum sich van Gogh vom Christentum abwandte, zeitlebens aber ein religiös und sozial sensibler Mensch geblieben ist.

In Brüssel, unterstützt von Bruder und Eltern, versucht er, sich zum Maler heranzubilden, besucht Museen, beginnt zu zeichnen. Entscheidend für van Goghs künstlerische Entwicklung ist die Begegnung mit der Kunst des Impressionismus im Paris der Jahre 1886 bis 1888. Van Gogh lebt dort bei seinem Bruder Theo und lernt später berühmt gewordene Maler kennen, von Alfred Sisley über Henri Toulouse-Lautrec bis Paul Gauguin.

Der Einfluss japanischer Farbholzschnitte beeinflusst seine Malweise: Er verzichtet auf Körper- und Schlagschatten und trägt die Farben, wie er selbst schreibt, „flach und einfach“ auf. Die japanische Kunst empfindet er aufregend neu: „Ist, was uns die Japaner zeigen, nicht einfach eine wahre Revolution…?“, schreibt er. Die Bilder von Eugène Delacroix bestärken ihn, seine Farbwahl zu ändern: Er verwendet nun kräftige und helle Farben, die sich gegenseitig verstärken.

Diese Einflüsse und sein gereifter persönlicher Stil führten zu der typischen Malweise, die wir heute mit van Gogh verbinden. Im Februar 1888 flieht der Maler aus Paris nach Arles: Psychisch angeschlagen, genervt von den Streitereien der Malerkollegen, strapaziert von der hektischen Großstadt und zermürbt von Absinth-Exzessen versucht er in Südfrankreich, zu sich selbst zu finden. In Arles will er in der Natur reine, intensive Farben finden, wie sie ihn interessieren: die „schönen Gegensätze von Rot und Grün, von Blau und Orange, von Schwefelgelb und Lila“.

Intensive Farben, symbolische Gegenstände

Van Gogh wählt für seine Bilder nicht mehr die natürlichen Farben der Gegenstände oder der Landschaft. Er entwickelt stattdessen für jedes Bild ein Farbschema, mit dem er eine „gute Wirkung“ erzielen will. Die Farben stehen – wie auch Gegenstände im Bild – für eine symbolische Aussage: „Ich habe versucht, mit Rot und Grün die schrecklichen menschlichen Leidenschaften auszudrücken“, schreibt er etwa zu seinem Bild „Das Nachtcafé“ von 1888. Auch seine Malweise ändert sich: Der dicke Farbauftrag macht die Pinselstriche sichtbar, neben die glatt aufgetragenen treten gestrichelte Farben, die van Gogh in Wellen oder rhythmischer Bewegung anordnet. Dass er seine Bilder schnell und ohne zu überlegen gemalt hat, ist eine Legende. Vielen Motiven gingen intensive Studien voraus.

Das van Gogh Museum Amsterdam. Es zeigt ab 25. September die Ausstellung "Munch - van Gogh". Foto: Rene Gerritsen/van Gogh Museum Amsterdam

Das van Gogh Museum Amsterdam. Es zeigt ab 25. September die Ausstellung „Munch – van Gogh“. Foto: Rene Gerritsen/van Gogh Museum Amsterdam

Eine der van-Gogh-Legenden ist auch, dass ihn plötzliche Wahnsinn befallen und er sich sogar ein Ohr abgeschnitten habe. Vermutlich hat er sich lediglich im Rausch am Ohr verletzt. Dass van Gogh psychisch angeschlagen war, hat er selbst in den letzten Lebensjahren als zunehmend belastend erlebt.

Im Mai 1889 ließ er sich in der Nervenheilanstalt Saint-Rémy-de-Provence unterbringen, im Mai 1890 zog er nach Auvers, wo er Patient des heute sehr kritisch betrachteten Arztes Dr. Gachet wurde. Dort entstanden in einem Schaffensrausch rund 140 Werke.

Vor 125 Jahren, am 27. Juli 1890, schoss sich Vincent van Gogh wohl selbst eine Kugel in den Körper. Neue Biographen bezweifeln jedoch die Selbstmord-These. Sie ziehen einen Unfall oder sogar eine Tötung durch einen anderen in Betracht. Zwei Tage später starb er an der Verletzung. Entgegen landläufiger Meinung war van Gogh zum Zeitpunkt seines Todes ein im Kreis seiner Kollegen höchst anerkannter Maler.

Das van Gogh Museum Amsterdam würdigt seinen Namensgeber im 125. Todesjahr mit zahlreichen Veranstaltungen. Ab 25. September ist dort die Ausstellung „Munch – van Gogh“ zu sehen, die Ähnlichkeiten zwischen beiden Malern und den Einfluss van Goghs auf die Entwicklung von Edvard Munch thematisiert. Info: http://vangogheurope.eu/event/munch-vangogh/




Stipendium – zu spät: Bloke Modisane, ein südafrikanischer Autor in Dortmund

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über ein bewegendes Autorenschicksal – und ein weithin unbekanntes Seitenstück Dortmunder Literaturgeschichte:

Es ist eine Geschichte, die mich tief betroffen gemacht hat damals. Und ganz ist sie nie gewichen, denn wenn sie mir wieder einfällt, die Geschichte, ist sie wieder da, diese Betroffenheit. Ganz unvermittelt geschieht das, während einer Autofahrt zum Beispiel, während eines Spaziergangs, während der Wartezeit auf einen Bus oder eine Straßenbahn. Unauslöschlich haben sich die Bilder in mein Gedächtnis eingeprägt.

Die Geschichte begann mit einem Brief, den ich unerwartet erhielt. Ich war Vorsitzender des Schriftstellerverbandes in meiner Region, deshalb hatte der Schreiber mich als Adressaten ausgesucht.

Bloke Modisanes bekanntestes Buch "Blame me on History" (deutsch: "Weiß ist das Gesetz")

Bloke Modisanes bekanntestes Buch „Blame me on History“ (deutsch: „Weiß ist das Gesetz“)

„Lieber Heinrich Peuckmann“, schrieb er, „vor einigen Jahren habe ich William Bloke Modisane, einen farbigen Südafrikaner kennen gelernt. Bloke ist 62 Jahre alt, hat als oppositioneller Journalist in Südafrika einiges erdulden müssen, unter anderem auch Folter, und ist nach Flucht und längerem Aufenthalt in London, wo er Hörspiele für die BBC geschrieben hat, schließlich in Dortmund gelandet. Seine jetzige Situation ist, gelinde gesagt, ´ziemlich beschissen´: Scheidung im Dezember 84, kein Geld, Asthma-Anfälle, die er sich mit Cortison wegspritzen lässt, eine Hüftoperation, deren Wunde nicht zuheilen will usw. Das Unangenehmste aber ist, dass er in Dortmund kaum jemanden kennt und mit Sicherheit niemanden, mit dem er sich als Schriftsteller austauschen kann. Meine Bitte: Ist es möglich, ihn mal zu einem Treffen des Dortmunder Schriftstellerverbandes einzuladen und so einen Kontakt zu knüpfen zu einem Mann, bei dem sich praktische Solidarität mit einem Verfolgten des Apartheidregimes üben lässt?“

Einladung des Schriftstellerverbands

Der Absender war ein bekannter Dramatiker, dessen Drama „Das Totenfloß“ gerade auf vielen Bühnen in Deutschland gespielt wurde. In der Zeit der Nachrüstung zeigte es die beklemmende Vision einer Gruppe von Menschen, die sich nach dem alles vernichtenden Atomschlag rheinaufwärts zum Meer retten will.

Ein verfolgter südafrikanischer Schriftsteller in meiner direkten Nähe? Ich war überrascht, schließlich hatte ich geglaubt, die literarische Szene in meinem Umfeld zu kennen. Ich wählte noch am selben Morgen die angegebene Telefonnummer und tatsächlich meldete sich eine dunkle, leicht heisere Stimme, die in gebrochenem Deutsch sprach: Bloke Modisane, mit dem mich in den folgenden Monaten eine kurze, aber tiefe Freundschaft verbinden sollte.

Ich lud ihn zur nächsten Sitzung der Dortmunder Schriftsteller ein, beschrieb ihm den Weg dorthin und spürte, wie überrascht, aber auch erfreut er über meinen Anruf war. Wir hatten nichts über ihn gewusst und er nichts über uns. Er versprach zu kommen, zwei-, dreimal wiederholte er es, und ich bat ihn, dann ganz offen mit uns über seine Situation zu sprechen und natürlich auch, uns etwas über die südafrikanische Literatur zu erzählen. Wir würden uns freuen, ihn kennen zu lernen, sagte ich, und wir würden ihm gerne bei dieser oder jener Beschwernis helfen.

Beschwernis, das war so ein leichthin gesprochenes Wort. Wir sollten bald feststellen, welche handfesten Probleme Bloke Modisane hatte.

Lockerer Scherz über Asthma

Tatsächlich waren alle Autorenfreunde gespannt, ihn kennen zu lernen, als ich zu Beginn der nächsten Sitzung von Bloke erzählte. Aber er kam nicht. Ein paar Tage später rief ich ihn wieder an. Nein, nein, sagte er, er hätte den Termin nicht vergessen, aber er hätte beim besten Willen nicht kommen können. Er hätte einen seiner Asthmaanfälle erlitten und es sei ihm unmöglich gewesen, die Wohnung zu verlassen. Aber beim nächsten Mal, das verspreche er hoch und heilig, würde er garantiert kommen. Da gäbe es nur zwei Möglichkeiten. Entweder, er sei bis dahin an einem Asthmaanfall erstickt oder er würde pünktlich erscheinen. Wir lachten, als sei es ein locker dahin gesprochener Scherz.

Tatsächlich kam zur nächsten Sitzung ein etwas korpulenter Schwarzer mit schaukelndem Gang, was, wie ich aus dem Brief wusste, an der Hüftoperation liegen musste. Er erzählte uns von seiner Literatur, vor allem von seinem wichtigsten Werk, dem autobiographischen Werk „Weiß ist das Gesetz“, das 1964 auch in Deutschland erschienen, aber schon lange vergriffen war.

Brutale Apartheid

Er schildere darin die Brutalität des rassistischen Apartheidregimes Anfang der sechziger Jahre. Es sei eine Zeit voller Gewalt gewesen, erzählte er, in der zwei Freunde der jugendlichen Hauptperson sterben, der Vater bei einem Kampf getötet wird und der Jugendliche schrittweise, vor allem aber blutig eine Überlebensstrategie lernt. Gebannt hörten wir zu.

Über seine eigene Verfolgung sprach er nur zögernd und in Andeutungen, die Foltern, die er während seiner Verhaftungen durch die Polizei erlitten hatte, erwähnte er mit keinem Wort. Wir spürten, wie tief ihn das damalige Unrechtsregime in Kapstadt verletzt hatte, wie verwundet er noch nach vielen Jahren war. Es war diese Mischung aus Bescheidenheit und verletztem Stolz, die bedrückend auf uns wirkte und die ihn für uns einnahm.

Ich besorgte mir Literatur über Südafrika und fand in einem Buch von Breyten Breytenbach eine Spur von Bloke Modisane. Breytenbach rechnete ihn darin der Generation der fünfziger und sechziger Jahre zu, die die Rastlosigkeit und den Rhythmus des Stadtlebens in ihre Literatur aufgenommen habe und sich in ihren, von süßer Bitterkeit durchzogenen Werken oft der Mittel des Enthüllungsjournalismus bedient hätte.

Was Breytenbach von Gordimer unterscheidet

Über Breyten Breytenbach erzählte uns Bloke Modisane auch etwas während einer späteren Sitzung. Er verglich ihn mit der südafrikanischen Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer und meinte, dass beide als Weiße gegen das Apartheidregime seien, Breytenbach aber „schwarz“ denke, während Gordimer die Probleme des südafrikanischen Gesellschaft aus weißer Sicht darstelle. Nadine Gordimer bekam damals gerade einen großen Literaturpreis in Dortmund und wir sorgten dafür, dass Bloke an der Verleihung teilnehmen konnte.

Die Hörspielhonorare, die Bloke durch die Arbeit seines Übersetzers, des Dramatikers, bekam, reichten hinten und vorne nicht. Irgendwann erzählte er mir, dass der WDR ein Hörspiel von ihm abgelehnt hätte, sich dann aber, als der NDR es schließlich produzierte, anschloss. Er hätte das Geld schon viel früher gebrauchen können, sagte er. „Warum tun die das?“, fragte er mich dann. „Warum lehnen die ein Hörspiel von mir ab, um sich dann über den NDR daran zu beteiligen?“

Ich wusste es nicht, es konnten nur finanzielle Gründe gewesen sein. Wahrscheinlich sparten sie bei der Übernahme an Geld. Geld, das Bloke dringend hätte gebrauchen können.

Kein Geld für die Stromrechnung

Wir bemühten uns um Lesungen für ihn, was aber, seiner unzureichenden Deutschkenntnisse wegen, schwierig war. Als ich Bloke eines Abends anrief, erzählte er mir, dass morgen ein Mann von den Vereinigten Elektrizitätswerken komme, um ihm den Strom abzuschalten, wenn er nicht 50 Mark anzahlen könne. Die VEW sei ihm schon entgegen gekommen, sagte er, denn er hätte bei ihnen eine offene Rechnung von über 300 Mark, aber er hätte die 50 Mark Anzahlung eben nicht. Ich streckte 50 Mark aus unserer Verbandskasse vor, steckte sie in einen Briefumschlag, fuhr in die Stadt, bat Freunde, die ich zufällig traf, ebenfalls etwas zu spenden, beteiligte mich auch selbst daran und brachte den Brief zur Hauptpost. Für ein paar Wochen war die Gefahr abgewendet.

Mein Schriftstellerkollege und Freund Gerd ergänzte unsere Bemühungen, bemühte sich unter Mithilfe des nordrheinwestfälischen Kultusministeriums um ein Stipendium für Bloke und tatsächlich haben in diesem Falle alle Institutionen reibungslos und schnell gearbeitet. Schon ein paar Wochen später wurde uns mitgeteilt, dass Bloke ein monatliches Stipendium in ausreichender Höhe von der Friedrich-Ebert-Stiftung bekommen sollte, zuerst einmal für ein Jahr, aber bei rechtzeitigem Antrag auf Verlängerung würde es keine Schwierigkeiten geben.

Wir freuten uns wie die Kinder, und ich weiß noch, dass ich die gute Nachricht bei der nächsten Sitzung unseres Schriftstellerverbands, zu der Bloke nun immer kam, wenn es ihm seine Gesundheit nur eben erlaubte, so lange wie möglich hinauszögerte. Einfach, weil das Gefühl so schön war, gleich, in ein paar Minuten, ihm eine so schöne Mitteilung machen zu können. Bloke strahlte, als ich es ihm sagte.

Endlich, endlich etwas erreicht

Ich weiß noch, wie wir uns nach dem Ende der Veranstaltung vor der Gaststätte verabschiedeten, wie Bloke mir die Hand gab und versprach, beim nächsten Mal wieder dabei zu sein, wie er mit leicht schaukelndem Gang die Straße hinauf zur Straßenbahnhaltestelle ging, um von dort nach Hause zu fahren. Wie uns das gute Gefühl auch während der Heimfahrt nicht verließ, endlich, endlich etwas für ihn erreicht zu haben. Es war ein Dienstagabend, wie immer bei unseren Treffen.

Am Donnerstagmorgen rief Gerd mich dann an und teilte mir die Nachricht mit, die mich traf wie ein Keulenschlag. Bloke Modisane war gestorben. Er war einen Tag nach unserem letzten Treffen an einem Asthmaanfall erstickt, allein in seiner Wohnung. Ich habe das lange nicht akzeptieren wollen, ich habe auch lange nicht darüber sprechen können. Es hatte doch alles geklappt, er hätte doch endlich in Ruhe schreiben können, unser südafrikanischer Dortmunder Freund Bloke Modisane.

Stattdessen saßen wir an einem bitterkalten Märztag 1986 in der Trauerhalle eines kleinen Friedhofs in der Nähe der Hohensyburg. Ein etwa zehnjähriger Junge, Bloke Modisanes Sohn aus der geschiedenen Ehe, stellte sich neben den Sarg und spielte ein unendlich trauriges Lied auf seiner Blockflöte. Als Sprecher des Schriftstellerverbands hielt ich eine kleine Rede, schilderte die kurze Zeit unserer Zusammenarbeit, versprach, im Rahmen unserer Möglichkeiten auf das literarische Werk von Bloke hinzuweisen und gab der Hoffnung Ausdruck, dass seine Literatur, kurz bevor wir seinen Leichnam in Dortmunder Erde versenkten, zurückkehren möge in ein freies Südafrika.

Beisetzung in bitterer Kälte

Zusammen mit dem Dramatiker, der uns auf Bloke aufmerksam gemacht hatte, und meinen Freunden Gerd und Kurt, dem Leiter des Dortmunder Kulturbüros, haben wir Blokes Sarg zum Grab getragen. Ein bitterer Gang bei minus 15 Grad. Jahre später erzählte mir mein Freund und Autorenkollege Horst, dass er einen Spielfilm im Fernsehen gesehen hätte. In dem Film sei ein weißer Söldner in ein afrikanisches Land gereist, um dort aufzuräumen, um seine Vorstellungen von Recht und Gesetz durchzusetzen: „Weiß ist das Gesetz“. Bei seinen Fahrten durch das Land hatte er einen schwarzen Fahrer dabei und der sei ihm sofort bekannt vorgekommen. Die niederschmetternden Erlebnisse, vor allem aber die Erklärungen seines Fahrers hätten bei dem Söldner mit der Zeit einen Sinneswandel bewirkt und am Ende sei so etwas wie Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Der Söldner starb und sein Fahrer, der niemand anderer war als Bloke Modisane, hat ihn begraben. Das hatte er also auch gemacht, unser südafrikanischer Freund, er war Schauspieler gewesen.

1992 fand ich in der „Zeit“ einen Aufsatz von Nadine Gordimer, in der sie das Ende der Apartheid in Südafrika begrüßte, aber gleichzeitig darauf hinwies, wie viele Opfer unter Schriftstellern das menschenverachtende System verlangt hatte. Ganz konkret fragte sie dann, was aus einzelnen Schriftstellern geworden sei und erwähnte dabei auch Bloke Modisane.

Ich besorgte mir ihre Adresse und schrieb ihr einen langen Brief, in der ich ihr das Ende von Bloke schilderte. Das Manuskript einer Rundfunksendung, die ich inzwischen über Bloke gemacht hatte, legte ich bei.

Wochen später erreichte mich ihr Brief: „Dear Heinrich Peuckmann. Many thanks for sending me details about Bloke`s life abroad and his ironically sad sudden death, just when you had succeeded in obtaining a grant for him. The information in your letter will go into the archive of the Congress of South African Writers and will be valued there. As you rightly say, Bloke`s fight was that of all fellow South Africans who want to see justice and freedom in our country.”

Keine Zeile in der Lokalpresse

Als die Informationen über Blokes Leben und Tod in Dortmund nach Südafrika gelangt waren, als sein Buch “Weiß ist das Gesetz” (Original „Blame me on History“) dort wieder aufgelegt worden war, hatte sich für mich ein Kreislauf geschlossen, der mich zwar beruhigte, doch die Wunden rissen trotzdem noch einmal auf, zwei Jahrzehnte später.

Da war ich mit einem Dortmunder Kulturredakteur noch einmal zu Blokes Grab gefahren. Ich habe es ohne langes Suchen gefunden, die Erinnerungen an den Tag der Beerdigung waren nicht verblasst. Wir haben ein Foto gemacht, ich am Grab von Bloke. Der Kulturredakteur hat einen schönen Erinnerungsbericht über ihn geschrieben, der aber niemals erschienen ist. Der Lokalchef hat ihn im letzten Moment gekippt. Er war ihm nicht interessant genug.




Kinoschauspieler, Folkmusiker und vieles mehr: Theodore Bikel starb mit 91

Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an die TV-Sendung und ihren genauen Namen erinnern, ist einfach zu lange her. Aber der Name des Moderators (wie man es heute nennen würde) blieb haften. Es war Theodore Bikel. Theodore Meir Bikel ist jetzt im Alter von 91 Jahren gestorben. Nach meinem Dafürhalten ist er auf eine Stufe zu stellen mit beispielsweise Sir Peter Ustinov.

Immer wieder seit unserem ersten Kennenlernen via TV ereignete es sich, dass ein Film begann oder endete, und ich im Vorspann seinen Namen las oder im Nachspann erfuhr, dass er es war, dessen Rolle mir auffiel, aber wieder mal sein Name mir nicht eingefallen war. Meist entfuhr mir dann leise: „Ah, ja, Theodore Bikel.“ Und selten waren es Rollen und Filme, deren Auftauchen in einer späteren Filmografie hätten bedauert werden müssen.

Auftritt beim St. Louis Jewish Books Festival: Theodore Bikel am 2. November 2014. (Foto: Fitzaubrey / Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Auftritt beim St. Louis Jewish Books Festival: Theodore Bikel am 2. November 2014. (Foto: Fitzaubrey / Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ob es in John Hustons „African Queen“ der zackige deutsche Marineoffizier war, dem sein Schiff von Humphrey Bogarts handgeklöppeltem Torpedo im tapferen Flussschiffchen unter den Füßen abgeschossen wurde, oder ob er als Sheriff Max Muller in Stanley Kramers „Flucht in Ketten“ neben Tony Curtis und Sidney Poitier auftrat – fast alle Filme mit dem gebürtigen Wiener (auch in scheinbar randständigen Nebenrollen) hatten eine tolle Geschichte zu erzählen. „Flucht in Ketten“ bescherte Theodore Bikel sogar eine Oscar-Nominierung.

Der multibegabte junge Mann musste indes wie viele seiner Konfession im Jahre 1938 mit Mutter Miriam und Vater Joseph vor den Hitler-Deutschen fliehen, als die Österreich anschlossen. Erst einmal nach Palästina, wo sie britische Staatsbürger wurden. Dort war er zunächst Kibbuzim, dann studierte er am Habimah-Theater in Tel Aviv, und schließlich war er Mitbegründer des Tel Aviv Chamber Theater. Niemand anderem als Sir Laurence Olivier war es vorbehalten, sein Talent zu entdecken und ihm den Weg nach London zu weisen, wo er dann in „Endstation Sehnsucht“ auftrat.

Aber nach „African Queen“ zog’s ihn endgültig in die Staaten, nach New York. Dort führte er seine lebenslange Doppelkarriere fort – als anerkannter Bühnen- und Filmschauspieler und als beklatschter Folksänger, der mit Pete Seeger das „Newport Folk Festival“ ins Leben rief, der selbst außer Gitarre, Mandoline, Balalaika und Mundharmonika spielte, um sich selbst zu begleiten, wenn er in 20 Sprachen dieser Welt sang (sechs davon beherrschte er perfekt).

Und immer wieder kamen die Filmanfragen. Bis hin zu „007“, wo er fast Gerd Fröbe den Bösewicht Goldfinger weggeschnappt hätte. Auch an seine Auftritte in „Star Trek – The Next Generation“ wird man sich wieder erinnern, wenn sie im TV wiederholt werden.

Theodore Meir Bikel war sein Leben lang ein ungemein politischer Mensch. Immer stand er den amerikanischen Demokraten nahe. 1977 nahm Präsident Jimmy Carter ihn ins National Council for the Arts auf, was er bis 1982 beibehielt. Er war Präsident der Actors’ Equity Association und war bis zu seinem Tod Präsident der Associated Actors and Artistes of America. Er engagierte sich bei Americans for the Arts und natürlich im American Jewish Congress, dessen Vizepräsident er war.

Theodore Bikel spielte jedoch im Film gern den Schurken, den garstigen Typen, der seinen Weggefährten Übles antat. Seltsam, aber so oft ich ihn in Filmen genau so sah, so oft er selbst diesen Rollen eine manchmal fast sympathische Wärme gab, werde ich doch Theodore Bikel immer nur mit dem freundlich aus dem Schwarz-Weiß-Fernseher blickenden Herrn verbinden, der uns Kindern Freude machte und dabei immer wieder eines der Lieder aus seinem grenzenlosen Repertoire klampfte.




Absturz aus dem bürgerlichen Leben: Doris Knechts Roman „Wald“

Doris Knecht, Wald Ein Haus in den Voralpen. Tief im Wald, in der Nähe ein Fluss, Idylle pur. Marian lebt allein in diesem Haus. Im Garten baut sie Gemüse an. Davon und von dem, was sie sonst noch so findet, ernährt sie sich.

Ab und an angelt sie ein Festmahl, dazu gibt es selbstgebackenes Brot, zum Dessert einen selbstgebackenen Apfelkuchen. Wärme spendet ein Holzofen, befeuert aus dem sorgsam gestapelten Holz hinter dem Haus. Ihr Tagesablauf wird nur durch die Grundbedürfnisse vorgegeben: Essen, schlafen, es warm haben. Keine Termine drängen sie, Telefonate führt sie nur äußerst selten, einen Email-Account besitzt sie nicht mehr. Ihre Kleidung näht sie aus alten Stoffresten, das kann sie besonders gut, das hat sie gelernt.

Denn – das ist die Kehrseite der Medaille: Kleider entwerfen, das war ihr Beruf, ihre Berufung. Marian ist nicht freiwillig dort in diesem Haus im Wald. Ihre primitive Autarkie ist unfreiwillig, sie hat alles verloren. Noch vor wenigen Monaten lebte sie als gefeierte Designerin in der Großstadt und schneiderte den Damen der Gesellschaft edle Roben auf den Leib. Sie residierte in einer hochherrschaftlichen Wohnung, ernährte sich biologisch wertvoll und hätte niemals diesen schnöden Filterkaffee getrunken, der sie heute so beglückt.

Persönliche Folgen der Finanzkrise

Doch dann kam die Finanzkrise und fatalerweise ignorierte sie die ersten warnenden Anzeichen. Die Vorstellung, irgendwelche Lehman-Brüder, von denen sie nie gehört hatte, könnten sie und ihr Geschäft bedrohen, empfand sie einfach nur als absurd. In einer fatalen Mischung aus Größenwahn und hormonvernebeltem Tun ob des neuen attraktiven Lovers eröffnete sie einen Flagship-Store, dessen Miete sie bald nicht mehr bezahlen konnte und segelte unaufhaltsam in einen spektakulären Bankrott.

Ihre Schulden sind so hoch, dass ein Leben alleine niemals reichen würde, um sie abzuzahlen, auch wenn sie sich zunächst als Näherin am Stadtrand die Finger blutig näht. Dann lieber der totale Rückzug in den Wald, in ein Haus, das ihr niemand nehmen kann, weil es ihr gar nicht mehr gehört. Es ist das Erbe einer Tante und in einem Moment der Klarsicht hat sie es auf ihre Tochter überschrieben. Die Tochter, die sie kaum kennt, weil sie das Kind der Karriere wegen beim Vater gelassen hat.

Sehnsucht nach dem einfachen Leben

Geschickt spielt die österreichische Autorin Doris Knecht in ihrem neuen Roman „Wald“ mit zwei großen Themen, die derzeit die Mittelschicht umtreiben: die Sehnsucht nach dem sogenannten einfachen, selbstbestimmten Leben auf dem Lande und die Angst vor dem Absturz aus der bürgerlichen Welt, der angesichts immer neuer Unsicherheiten stets nur einen Schritt entfernt zu sein scheint.

Man nähert sich dieser Erzählung mit schon fast voyeuristischer Neugier. Nicht, dass man sich am Unglück von Marian (die eigentlich Marianne heisst, die vermeintlich schicke Abkürzung bewahrt sie als letzte Reminiszenz an ihr altes Leben) weidet. Nein, es ist jedem klar, dass es passieren kann, jederzeit und überall. Auch Marian hat keine gravierenden Fehler gemacht, „manchmal übernehmen eben die Umstände das Leben“. Als Leser will man wissen, wie es sein wird, wie es sein kann, wenn die Existenz zerbricht und man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Gibt es dann wirklich eine Chance für das Aussteigerleben, von dem so mancher heimlich träumt?

Kühle Figurenzeichnung

Doris Knecht, deren erster hochgelobter Roman „Gruber geht“ bereits verfilmt wurde, ist für ihre messerscharfen Analysen von Lebenssituationen bekannt. Eindeutige Antworten gibt sie hingegen nie, auch in „Wald“ nicht, Schlußfolgerungen überläßt sie dem Leser. Bei ihr gibt es kein „richtig“ oder “ falsch“, weder verherrlicht sie das Aussteigerleben, noch verdammt sie das snobistische Dasein in der Stadt. Auch ihre Figuren haben Brüche und Widersprüche. Ihre Marian zeichnet sie distanziert, geradezu kühl. Dass man sich ihr als Leser trotzdem nahe fühlt, liegt an der Projektion, die man unwillkürlich vornimmt. Ein Stückchen Marian steckt in jedem von uns und wenn nicht, kennt doch jeder eine Marian in seinem Umfeld.

Doris Knechts Marian bleibt allen Widrigkeiten und gelegentlichen Anfällen von Resignation zum Trotz eine Kämpferin. Sie entdeckt unbekannte Fertigkeiten und Talente an sich. Dinge, die sie früher unbekümmert „outsourcte“, gehen ihr nun leicht von der Hand. Ein Opfer ist sie nicht, war sie nicht und will sie auch jetzt nicht sein, wo sie zu allem Überfluss auch noch von der alteingessenen eingeschworenen Dorfgemeinschaft angefeindet wird.

Die Ökonomie einer Beziehung

Allerdings gibt es da noch Franz, den heimlichen Herrscher über das Land, auf dem sie lebt. Franz, der Großgrundbesitzer, der sich um sie und ihre Holzvorräte kümmert, ihr kleine dringend benötigte Geschenke macht und sich seine vorgeblich nächstenliebende christliche Fürsorge in der einzigen Währung bezahlen lässt, die Marian noch geblieben ist. Diese Beziehung läßt sich nicht so einfach in ihr neugezimmertes Weltbild einordnen. Wird sie dadurch wirklich zur „Hur“, wie ihr ein Unbekannter auf die Haustür geschmiert hat? Oder hat nicht jede Beziehung letzten Endes ihre eigene Ökonomie?

Doris Knecht erzählt klar, uneitel und ohne jede Sentimentalität. Obwohl man der Autorin eine gewisse Affinität zu Schachtelsätzen nicht absprechen kann, erzählt sie den Roman in hohem, forderndem Tempo, die Härte vieler Sätze lediglich durch österreichische Klangfärbung abgemildert. Und ihr Roman endet mit einem Lichtblick.

Doris Knecht: „Wald“. Roman. Rowohlt Verlag. 271 SEiten, €19,95.




„Ein Stück von sich schenken“: Zum 75. Geburtstag der Sängerin Helen Donath

Sie war nie die strahlende Diva, aber auch nie ein schüchternes Mauerblümchen; sondern stets eine Sängerin, die mit Stimme und Karriere verantwortungsvoll und vorsichtig umgegangen ist. Und so kommt es, dass Helen Donath am heutigen 10. Juli ihren 75. Geburtstag feiern kann und nach wie vor singt. Bis gestern stand sie als Mrs. Grose in Robert Carsens Inszenierung von Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ auf der Bühne des Wiesbadener Staatstheaters.

Eine Rolle, die sie im Frühjahr auch in Köln gesungen hat, wo ihre Laufbahn vor 53 Jahren begonnen hatte. Die Texanerin Helen Janette Erwin, geboren in Corpus Christi, bekam 1962 ihr erstes europäisches Engagement am Kölner Opernstudio. Damals hatte die 22jährige jedoch schon eine lange Ausbildung hinter sich.

Helen Donath (Foto: Wikipedia Commons/DEDB - Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Helen Donath (Foto: Wikipedia Commons/DEDB – Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Begonnen hat alles, so erzählte sie einst August Everding in einer seiner berühmten „da capo“-Sendungen, mit dem Film „The great Caruso“ von 1951. Helen wollte singen wie Mario Lanza im Film und eignete sich die Tenor-Arien an. Als sie 14 war, gastierte George London in ihrer Heimatstadt – und sie nahm sich ein Herz und sang ihm „Vesti la giubba“ vor – das ergreifende Solo des Canio aus Ruggiero Leoncavallo „Pagliacci“. London muss ziemlich irritiert gewesen sein: Er fragte das Mädchen, was für ein Stimmfach sie denn sei, und Helen antwortete, ziemlich hilflos, mit einem Begriff, den sie vom Programmheft von Londons Konzert abgeschaut hatte: „I am a lady baritone“.

Eine derart exotische Stimme wurde Helen Donath zwar nicht – aber sie entwickelte sich zu einer der führenden lyrischen Sopransängerinnen, vornehmlich im deutschen Fach. Eine Position, der ihr 40 Jahre lang nur wenige streitig machten. George London übrigens traf sie in Köln wieder – auf der Bühne: Er sang in Wieland Wagners „Ring“-Inszenierung den Wotan, sie die zweite Rheintochter. Lange blieb sie nicht in Köln; Rollen wie Liú in Puccinis „Turandot“ oder Micaëla in Bizets „Carmen“ waren nicht das Richtige für die junge Stimme, die unter der Obhut von Londons Lehrerin Paola Novikova behutsam reifen sollte.

In Hannover debütierte sie 1963 in Mozarts „Zauberflöte“ als Pamina – eine Rolle, die für ihre Laufbahn prägend werden sollte. Schon ein Jahr später stellte sie sich mit dem sensiblen Porträt einer gefühlvoll-selbstbewussten jungen Frau bei den Salzburger Festspielen vor.

Mozart sollte ein ständiger Begleiter ihrer Sängerlaufbahn werden: Pamina, Susanna und Zerlina, auch Donna Anna, aber erst im Jahr 2000 Despina („Cosí fan tutte“). Dazu die Sopranpartien in den großen Messen. Donaths Zerlina am Aalto-Theater Essen, die sie in der „Don Giovanni“-Inszenierung von Stefan Herheim zuletzt 2011 gesungen hat, ist in lebendiger Erinnerung: Zerlina als ältere Dame mit Rollator, stimmlich aber jung geblieben und immer noch mit dem hellen, optimistischen Ton, der Helen Donaths anmutigen, feintönigen, stets leuchtend präsent geführten Sopran in ihren Glanzzeiten ausgezeichnet hat.

Hannover wurde auch in anderer Hinsicht bedeutend für die junge Sängerin: Hier lernte sie den Kapellmeister Klaus Donath kennen. Es war „eine Liebe auf den ersten Blick“, sagte sie später. Vor 50 Jahren heirateten die beiden – zum Geburtstag kann also auch Goldene Hochzeit gefeiert werden. Donath half seiner jungen Frau, die Karriere umsichtig aufzubauen. Vor allem aber lernte sie – die in Köln gerade einmal ein paar deutsche Wörter wie „Sauerkraut“ kannte – den Umgang mit der Sprache. Die Texanerin spricht völlig akzentfrei und mit einer Grammatik, um die sie mancher deutschstämmige Gymnasiast beneiden dürfte.

Bei Mozart, aber auch im Liedgesang und in moderner Musik kommt Helen Donath ihr Sprachgefühl zupass: Das Wort steht für sie im Vordergrund. Beim Lernen einer Rolle sei es „das Allererste, dem Text nachzugehen und zu fragen: Was möchte ich ausdrücken?“. Für sie ist es „absolut notwendig, dass das Publikum begreift, was ich ihm im gesungenen Wort vermitteln möchte“. Wer ihre Aufnahmen hört – sie hat wohl mehr als 100 Schallplatten und CDs gemacht –, kann diese Position nachvollziehen: Donath bleibt bei der Artikulation der Texte kompromisslos.

Das zeichnet nicht nur ihre Mozart- und Strauss-Aufnahmen aus. Helen Donath hat sich nicht um neue Musik und nicht um seltene Partien gedrückt. In Köln sang sie in Boris Blachers verschwundener Version des „Romeo und Julia“-Stoffs. In Hannover in Werner Egks ebenso vergessener „Verlobung in San Domingo“. Sie war Luise in Hans Werner Henzes damals brandneuer Oper „Der junge Lord“, sang später auch in Ernst Kreneks „Karl V.“ und in Hans Pfitzners „Palestrina“. Vor neuer Musik hat sie keine Angst: Wer mit Mozart umgehen kann, kann alles singen, ist ihr Bekenntnis. Und mit fortschreitendem technischem Verstehen habe sie auch aktuelle Musik für sich entdeckt – von Aribert Reimann bis John Corigliano.

Helen Donath (rechts) als Mrs. Grose in der Wiesbadener Aufführungsserie von Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" in einer für Wien entstandenen Inszenierung von Robert Carsen. Foto: Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Helen Donath (rechts) als Mrs. Grose in der Wiesbadener Aufführungsserie von Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ in einer für Wien entstandenen Inszenierung von Robert Carsen. Foto: Karl-Bernd Karwasz / Hessisches Staatstheater Wiesbaden

1967 wechselte sie an die Bayerische Staatsoper München, wo sie in den Folgejahren eine glanzvolle Karriere entfaltete. Sie sang unter George Solti die Sophie im „Rosenkavalier“; Herbert von Karajan holte sie 1970 für seine „Meistersinger“-Aufnahme als Eva. Karajan, so erzählt Donath, wollte keine erwachsene Stimme, sondern ein „Evchen“, naiv, jung und frisch. Erst 16 Jahre nach der Aufnahme hat sie die Partie auf der Bühne gesungen – später unter anderem in Wien und unter Colin Davis in Leipzig.

Als Helen Donath 1970 ihren ersten Münchner Liederabend gab, schwärmte der Kritiker Karl Schumann von „Geschmack und Intelligenz“ und von ihren edelsten vokalen Qualitäten. Ein Urteil, das sich in zahlreichen Lied- und Oratorienaufnahmen nachprüfen lässt. Mit Farbe und Attacke hält sich Helen Donath zurück; vokale Glut oder gar veristische Exaltation sind ihre Sache nicht. Dafür entwickelt sie dramatische Miniaturen aus der Welt des Liedes ganz aus dem Wort und aus der Leuchtkraft eines unbeschädigten Timbres. Auch ihren Strauss-Partien kommt die Sorgfalt in der Formung des Wortes entgegen. In Essen war das zu erleben, als Helen Donath erstmals die Aithra in der „Ägyptischen Helena“ sang, einer Partie, mit der sie 2003 auch in Salzburg großen Erfolg hatte.

Ihre internationalen Engagements führten sie an alle großen Opernhäuser, von London über Mailand und Zürich bis Paris. An der Metropolitan Opera debütierte sie erst 1991 als Marcelline in Beethovens „Fidelio“. In Detroit sang sie die Marschallin im „Rosenkavalier“ mit ihrem Mann Klaus am Pult und in der Regie ihres Sohnes Alexander Donath. An der Wiener Staatsoper debütierte sie 1973 als Pamina und Zerlina, später sang sie auch Sophie, Meistersinger-Eva und zuletzt 2006 Despina in Mozarts „Cosí fan tutte“. Nicht vergessen werden sollten die Operetten, in denen Helen Donath stets geschmackvolle Rollenporträts gestaltet hat.

Helen Donath singt nach wie vor, gibt aber auch Meisterkurse, um ihren reichen Erfahrungsschatz an die junge Generation weiterzugeben. Beim Singen komme es darauf an, die Stimme reifen zu lassen, sagt sie. Mit Sorge sieht sie, wie junge Menschen heute um des schnellen Erfolges willen unfertig auf den Bühnen verschlissen werden. „Das Wichtigste beim Singen ist, ein Stück von sich zu schenken“ – diese Botschaft liegt ihr am Herzen.

Am 23. Oktober 2015 gibt Helen Donath gemeinsam mit ihrem Mann Klaus Donath einen Liederabend in der Düsseldorfer Oper, wo sie wieder einen Meisterkurs mit dem Opernstudio hält. Der Titel des Abends: „Ein glückliches Sängerleben“.




Frühe Salinger-Stories erstmals auf Deutsch – ein schmales Buch von begrenztem Nutzen

Das Sujet seiner Kurzgeschichten in dem schmalen Band „Die jungen Leute“ scheint zunächst einmal wenig auffällig zu sein, handelt es sich doch um kleine Ereignisse und Begegnungen aus dem Alltag. Doch durch seine Erzählkunst gelingt es Jerome David Salinger, den Texten eine besondere Note zu geben.

Zum einen zeichnet sie ein gesellschaftskritischer Blick auf das Leben aus, zum anderen braucht der Autor keine langatmigen Passagen, um die einzelnen Charaktere zu beschreiben. Das erledigen sie selbst durch ihre Sätze, ihre Gesten und den Umgang miteinander. Ob es sich um einen Streit unter Geschwistern handelt oder um eine zufällige Partybekanntschaft, die Ereignisse weisen über sich hinaus und die Figuren lassen erkennen, wie fragwürdig für sie bestimmte Verhaltensformen und Gewohnheiten geworden sind. Das gilt auch für die Szene, in der sich ein Mann von seiner Frau verabschiedet, weil er in den Zweiten Weltkrieg zieht. Seine Bitte, sie möge sich doch ein wenig um die demente Tante kümmern, gerät zu einem grotesken Disput eines Paares, das nicht weiß, ob es sich je wiedersehen wird.

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Die Geschichten von J.D. Salinger stammen aus den 40er Jahren. Damals war der amerikanische Schriftsteller, der vor fünf Jahren starb, noch weit von einem Weltruhm entfernt, den er mit seinem 1951 erschienen Buch „Der Fänger im Roggen“ erlangen sollte. Mit den drei Arbeiten aus seiner frühen Schaffenszeit stellt Salinger aber schon nach Meinung vieler Kritiker sein schriftstellerisches Talent unter Beweis, das er dann in seinem Erfolgsroman formvollendet habe. Inhaltlich lassen sich ohnehin Parallelen ziehen, geht es doch immer um das Lebensgefühl junger Menschen.

In dem Nachwort zu den jetzt erstmals in deutscher Sprache veröffentlichen Arbeiten hebt der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic hervor, dass Salinger den Umbruch gesellschaftlicher Werte in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts widerspiegelt und genau darin auch der literarische Stellenwert des Autors zu sehen sei. Glavinic stellt den amerikanischen Autor in eine Reihe mit Tolstoi, Hamsun und Remarque, die in ihren Werken ebenfalls den jeweiligen gesellschaftlichen Wandel zum Ausdruck gebracht hätten. Mit ein paar Sätzen über das Liebesleben Salingers, einem Blick auf dessen Rückzug aus der Öffentlichkeit und einigen Lebensdaten fällt der biographische Teil aber dann doch sehr kurz aus.

Legt man das schmale Büchlein aus der Hand, bleibt man auf seltsame Weise unschlüssig zurück. Sollte das nun auf Vorgeschmack auf gute literarische Kost gewesen sein, dann fehlt der Hauptgang. Sollte Salingers Werk gewürdigt werden, wäre eine längere Biographie doch sicherlich angemessener gewesen als die wenigen Seiten – mit durchaus wohlmeinenden Worten – von Glavinic. So wirken beide Buchabschnitte unvollendet.

Offensichtlich verhindern, wie aus anderen Quellen als dem vorliegenden Buch hervorgeht, Urheberrechte, dass noch weitere Kurzgeschichten von Salinger erscheinen dürfen. Ein zarter Hinweis hätte sicherlich wertvolle Dienste geleistet, um das Zustandekommen des Buches besser einordnen zu können. Und wenn schon immer wieder auf „Der Fänger im Roggen“ verwiesen wird, hätte der Leser gewiss keine Einwände gehabt, wenn nicht nur die Intention des Buches hingehuscht worden wäre, sondern man auch den Inhalt kurz skizziert hätte. Schließlich schreibt Glavinic selbst, dass sich die Faszination von damals heute nicht mehr unbedingt erschließt.

J.D. Salinger: „Die jungen Leute“. Drei Stories. Piper Verlag, München. Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld. 80 Seiten. 14,99 Euro




Familienfreuden XIX: Von endgültigen Abschieden

Heute wird es nicht ganz so freudig in den Familienfreuden. Es geht um den Tod. Fiona ist noch nicht ganz drei Jahre alt – aber das Thema Sterben ist für sie schon präsent.

Abschiede werfen Fragen auf. (Bild: Albach)

Abschiede werfen Fragen auf. (Bild: Albach)

Es gibt viele wunderschöne Momente, unbezahlbare, leuchtende, die wir mit Fiona erleben. Dann auch nervige. Ärgerliche. Traurige. Aber bei dem Thema Tod merke ich, dass ich vor allem eins bin: verunsichert. Wie soll man mit einem kleinen Kind darüber reden? Was kann man ihm zumuten – und was nicht?

Als ein lieber Mensch letztens schwer krank im Krankenhaus lag, fand ich eine Broschüre. Dort stand klar, man solle Kindern sagen, was los sei – egal, wie alt sie sind. Ihnen erklären, dass XY sehr krank ist, aber die Ärzte sich gut um XY kümmern. Also fasste ich mir ein Herz und erklärte Fiona genau das. Sie hörte sich alles mit großen Augen an und es schien zunächst, als habe das Gesagte sie nicht sonderlich beeindruckt. Wenige Stunden später aber wirkte sie völlig verstört, ganz anders als sonst, in sich gekehrt und bedrückt. Als ich sie fragte, was los sei, antwortete sie, dass sie Angst hätte – vor einem Mann, der immer so traurig sei.

Ich beschloss: Uneingeschränkt sagen, was los ist, ist zumindest für unsere Tochter keine gute Idee.

Ich merkte aber auch, wie schwierig der Umgang mit dem Thema Tod und Sterben ist, weil er es auch für mich ist. Das klingt erst einmal banal. Es hat mir aber doch deutlich gezeigt, wie weit weg ich dieses Thema bisher aus meinem Leben gehalten habe. Wie also erklärt man einem Kind, was einen selbst beunruhigt?

Ich recherchierte viel. Und fand Internetseiten von Trauerberatern. Auch dort hieß es, man solle möglichst offen mit den Kindern reden. Bei einem Fallbeispiel lag der tote Vater sogar tagelang in der Wohnung der Familie, damit seine Kinder sich von ihm verabschieden konnten.

Ich bekam zunehmend das Gefühl, das keiner dieser Ratschläge sich wirklich an der Lebensrealität einer nicht ganz Dreijährigen orientierte – zumindest nicht an der unserer Tochter. Das Krankheit auch zum Tod führen kann, ist für sie unvorstellbar: Sie nimmt bei Husten ihren Saft und ist nach ein paar Tagen wieder gesund.

Vor wenigen Wochen ist ein guter Bekannter sehr plötzlich gestorben. Fiona war einige Zeit danach bei seiner Frau zu Besuch. Hinterher fragte sie mich: „Wo war der Mann?“ „Er ist gestorben. Das heißt, er ist nicht mehr da und er kommt leider auch nicht mehr wieder“, sagte ich, um Ehrlichkeit bemüht. „Warum?“ kam unausweichlich die Nachfrage. Ich atmete tief ein. Und griff auf den einzigen Ratschlag zurück, den ich bei meiner Recherche für annehmbar gehalten hatte: Ich suchte nach einem Bild, das für sie ansatzweise vertraut ist. „Er ist jetzt ein Stern. Und immer, wenn wir abends in den Himmel schauen, können wir ihn sehen und ihm winken.“ Fiona schaute mich nachdenklich an. „Schläft er auf einer Wolke?“ „Ja.“ „Auf einer blauen!“, beschloss sie – und schlief ein.

Am nächsten Morgen beim Frühstück spukte ihr das Gespräch noch im Kopf rum. Sie ging alle Menschen durch, die ihr nahe stehen, und fragte, ob sie gestorben seien. Wir schluckten ein bisschen und sagten, dass sie alle leben. Fiona aß ihr Brötchen weiter.

Als wir später zum Spielplatz liefen, lag eine tote Hummel gekrümmt auf dem Boden. Fiona und ich schauten sie genau an. Dann nahmen wir eine ihrer Schaufeln und schoben die Hummel darauf. Fiona trug das kleine Tier zu den Beeten und legte es zu den Blumen.




Als Winnetou bleibt er unsterblich: Abschied vom Schauspieler Pierre Brice

Pierre Louis Baron Le Bris ist im Alter von 86 Jahren gestorben. Hierzulande kannte man ihn nur als den perfekt en allemand parlierenden Pierre Brice mit dem netten „fransösischen“ Akzent. Noch besser kannten wir ihn als den ebenso perfekten Darsteller des Winnetou, der neben Lex Barker blutsbrüderlich durch die karstige Film-Landschaft Kroatiens ritt. Beide sind nun in den ewigen Jagdgründen, wie man so sagt.

Aber wie kaum ein anderer hinterlässt Pierre Brice bei seinen deutschen Fans den Eindruck solch einer vollkommenden Identifikation von Darsteller und Rolle. Niemand hätte in ihren Augen den edlen Helden nahezu jeder Kindheitslektüre spielen dürfen. Niemand hätte sich mit schwarzer Langhaar-Perücke so elegant in die unvermeidlichen Leggins zwängen können wie er. Keinem wäre es gelungen, so behend‘ den Pferderücken nach wildem Galopp zu verlassen und dabei die Silberbüchse wie ein Zepter den bösen Gegnern entgegen zu schwingen. Das konnte nur er, Pierre Brice – nicht zuletzt auch im Sauerland, beim Festival in Elspe, wo er ab 1976 für rund zehn Jahre mitwirkte.

Pierre Brice als Einnetou bei den Karl-May-Festspielen in Elspe (Sauerland), um 1978. (Foto: Elke Wetzig - Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de - Link zum Bild: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Piere_Brice_als_Winnetou,_Karl-May-Festspiele_Elspe_2.jpg)

Pierre Brice als Winnetou bei den Karl-May-Festspielen in Elspe (Sauerland), um 1978. (Foto: Elke Wetzig – Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de

„Nur wenige Leute wissen, wie ich vor und seit Winnetou gelebt habe und lebe. Winnetou war ein wichtiger Teil meines Lebens und ich habe ihm viel zu verdanken. Doch neben Winnetou haben noch viele andere Menschen und Situationen eine wichtige und prägende Rolle in meinem Leben gespielt.“ So schrieb er in seiner 2004 erschienen Autobiografie, der er – ohne eine Spur von Ironie – den Titel „Winnetou und Ich“ gab. So sehr er selbst diese Rolle, von deren Erfolg er völlig überrascht wurde, als die Seine wahrnahm, so viele andere Seiten an diesem Mann sind zu entdecken. Seiten, die den meisten seiner Bewunderer verborgen blieben.

Als Jugendlicher barg er in seiner Heimatstadt Brest (Bretagne) Verschüttete nach alliierten Bombardements aus den Trümmern. In dieser Zeit pirschte er als Bote für die Résistance durch deutsche Linien. Der glühende Patriot Pierre Brice meldete sich freiwillig, als sein Land glaubte, die Kolonien in Indochina verteidigen zu müssen. In Algerien mischte er als Fallschirmjäger mit. Der eher still wirkende Jüngling war damals so, wie sein Freund Alain Delon sich gern spielte. Der war im Übrigen mitverantwortlich, dass Pierre Brice daheim in Frankreich kaum Chancen hatte, übers Modeln und Tanzen hinaus zu kommen. Die zwei sahen sich zu ähnlich, so war sein Typ schon besetzt in einem Land, das jede Menge junger Stars zu bieten hatte.

Italien und Spanien waren seine frühen Bühnen als Schauspieler, B-Movies sein Genre, Sandalen- oder Mantel-und-Degen-Rollen seine üblichen Spielformen. Horst Wendtland war dann sein eigentlicher Entdecker. Sie lernten sich in Berlin kennen, wenig später bot der Produzent ihm die Winnetou-Rolle an. Pierre Brice schlug ein, obwohl ihm weder Autor Karl May noch die Figuren seiner Romane etwas sagten. Auch war ihm das Indianerbild nur aus amerikanischen Western bekannt, wo sie die ewigen Verlierer waren. Das war Pierre Brice unbehaglich.

Pierre Brice im November 2011 in Luxemburg (Foto: François Besch - Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Pierre Brice im November 2011 in Luxemburg (Foto: François Besch – Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Vielversprechend fand er seine Aufgabe also nicht. Große Erfolge wähnte er nicht auf sich zu kommen. Überraschung, das Gegenteil trat ein. Im Heimatland nahezu unbekannt, in Deutschland ein ruhmreicher Star, dessen Winnetou dem erfahrenen Westerndarsteller Lex Barker kaum Raum ließ. Karl May hob eben den edlen Apachen in ungeahnte Sympathiehöhen und mit ihm seine Idealverkörperung Pierre Brice.

Ich lernte ihn mal kennen, als er mit seiner Gattin Hella Krekel in Unnas WR/WAZ-Geschäftsstelle eine Massenhysterie auslöste, weil wir daselbst sein Erscheinen zur Autogrammstunde angekündigt hatten. Engelsgeduldig malte er seinen Schriftzug auf alles, was ihm als Untergrund angeboten wurde. Stets freundlich lächelnd, ein auch im wahren Leben grundsympathischer Mensch, dem Allüren offensichtlich so fremd waren, wie Charly Mays sächsische Heimat seinem Apachenfreund. Als die kleine Geschäftsstelle am Unnaer Markt an den Rand des Teilabbruchs gelangt war, ging dann auch die vorgesehene Stunde zu Ende. Wir tauschten einen warmen Handschlag aus, ich radebrechte artig mein Schulfranzösisch herunter und des lächelnden Stars warmer Bariton (17 Platten nahm er nebenher auf) antwortete auf Deutsch.

Pierre Louis Baron Le Bris durfte das Bundesverdienstkreuz im Revers tragen, er war Ritter der Ehrenlegion in Frankreich, wie Chris Howland würdigte man ihn mit dem „Scharli“, der für besondere Verdienste um das kulturhistorische Erbe von Karl May verliehen wird. Drei Starschnitte in der „Bravo“, 12 Ottos und fünf Bambis umkränzten seine bundesdeutsche Karriere. Er spielte mit Marcello Mastroianni, Sophia Loren und Catherine Deneuve.

Pierre Brice fühlte sich auf der Theaterbühne wohl, war im TV einer der Reisenden auf dem „Traumschiff“. Aber es konnte kommen, was wollte in seinem Darstellerleben. Immer, wenn er in der Republik zu sehen war, blieb er doch der ewige Winnetou.

Er hat dessen Filmtod (1965) lange überlebt, und er wird noch sehr lange in der Erinnerung vieler lebendig bleiben. Adieu, Pierre!




Ballonfahrt, Boheme und untröstliche Trauer: Julian Barnes‘ Buch „Lebensstufen“

Der Name der ebenso ruhmreichen wie exzentrischen Schauspielerin Sarah Bernhardt ist Kultursinnigen ja bereits öfter begegnet. Aber wer hat schon von den Herren Burnaby und Tournachon gehört?

Um ein Rätsel gleich zu lösen: Es handelt sich um zwei passionierte Pioniere des Ballonfahrens nach 1860. Noch viel schöner klingt freilich die Bezeichnung Aeronauten. Da spürt man mehr als nur einen Hauch von Zukunft und großem Versprechen.

9783462047271Mit dieser Zeit vormals ungeahnter, allerdings stets gefährdeter Freiheit in luftiger Höhe beginnt Julian Barnes sein Buch „Lebensstufen“, das später in andere Gefilde driften wird.

Am kulturgeschichtlichen Horizont jener Jahre leuchten große Namen auf: Jules Verne, George Sand, Victor Hugo, Odilon Redon und Nadar (alias Felix Tournachon), der nicht nur die frühesten Luftfotografien anfertigte, sondern auch unvergleichliche Porträts der eingangs erwähnten Sarah Bernhardt aufnahm.

Zeit der ungeahnten Freiheit

Da hängt also manches mit manchem zusammen, die Aeronauten etwa mit der Fotografie und den Bohemiens der Zeit, die sich ebenfalls ungeahnte Freiheiten nehmen und gleichsam Gott herausfordern. Das erste von drei Kapiteln trägt denn auch den Titel „Die Sünde der Höhe“…

Der Maler Odilon Redon hatte damals auch schon die Vision einer allmächtigen Überwachung aus den Lüften, als er ein bedrohliches Auge am Himmel schweben ließ. Ein Bild, wie für uns Heutige geschaffen.

Kommen zwei Menschen zusammen, so geschieht oft nichts Nennenswertes, zuweilen aber ändert sich das Gefüge der Welt und man darf die beiden eigentlich nie mehr trennen – so eine Denkfigur von Julian Barnes. Im zweiten Kapitel („Auf ebenen Bahnen“) schildert er die kurze, sehr ungleiche und glücklose Liebesgeschichte zwischen Colonel Fred Burnaby und der Männersammlerin Sarah Bernhardt.

Plötzliche Erschütterung

Damit wären wir also schon im weiten Reich des Zwischenmenschlichen angelangt. Doch geradezu schockhaft beginnt der dritte Teil, welcher da heißt: „Der Verlust der Tiefe“.

Barnes, der bislang über Historisches geläufig und unterhaltsam zu plaudern schien, nimmt auf einmal eine ganz andere Haltung zu den Lesern und somit zur Welt ein: Sein Buch, das zuvor in geschichtlicher Ferne zu schweben schien, allerdings nach und nach dringlicher wurde, ist nun noch weitaus unmittelbarer, ungleich erschütternder. Barnes spricht davon, wie er sich seit dem unendlich schmerzlichen Tod seiner Frau Pat Kavanagh am Leben gehalten hat. Seither gibt es keine „ebenen Bahnen“ mehr…

Julian Barnes war 30 Jahre mit seiner Frau zusammen, von seinen frühen Dreißigern bis ins 63. Lebensjahr. Sie wurde 2008 geradewegs aus dem Leben gerissen, zwischen Diagnose und Tod sind nur 37 Tage verstrichen. Der Autor berichtet von teilweise unbegreiflich läppischen oder fühllosen Reaktion der Mitwelt, auch von Freunden, die es daher nicht mehr sind. Dabei hätte er doch auch sie als verlässliche Zeugen des eigenen (Weiter)-Lebens gebraucht.

Vom Schwinden jeder Gewissheit

Rückbezogen wird der unfassbare Tod auf die vorherigen Ballonfahrt-Episoden. Vom Verlust der Höhen- und Tiefendimension im Dasein ist die übertragene und buchstäbliche Rede, vom Schwinden aller gewohnten Muster und des Sinns, also auch von Selbstmordgedanken.

Eine direkte Notwendigkeit, dies alles mit den frühen Ballonfahrten zu verknüpfen, erschließt sich nicht unbedingt sofort. Doch vielleicht ist gerade dies ein verzweifelter Akt der Sinnfindung und der Konstruktion eines neuen Zusammenhangs, eines Lebensrahmens. Eventuell verbirgt sich da irgendwo eine Art Gleichung, die aufgeht und neue Wege weist.

Julian Barnes erwägt die Möglichkeiten, mit dem Tod des geliebten Menschen – nein, nicht „fertig“ zu werden, aber ihn zu ertragen und trotz allem Quellen der Linderung zu finden, ob nun in der ungeheuren Gefühlshöhe mancher Opern (Glucks „Orpheus und Eurydike“), im Traum oder sonstwo. Oder gar in der Banalität des Sports im Fernsehen. Egal. Jeder Strohhalm wird ergriffen. Doch wer wagt es, von Trost zu reden?

Sex, Liebe und Leid

Die im Titel genannten „Lebensstufen“ (im Original „Levels of Life“) entsprechen laut Barnes den Wendekreisen der Biographie: Zuerst geht es darum, wer schon Sex hatte und wer nicht. Dann geht es um die Erfahrung der Liebe, schließlich um die Erfahrung des Leids.

Tiefen und Untiefen dieses Leids möglichst genau auszuloten – wenn das keine lebenswichtige Aufgabe ist! Und wer weiß: Vielleicht erfasst den Ballonfahrer oder auch den Leidenden ja doch eine Brise, die ihn in andere Breiten trägt?

Julian Barnes: „Lebensstufen“. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 143 Seiten. 16,99 €.




„Nach Feierabend“: Der Dienstschluss gebiert etliche Ungeheuer

Haben wir uns nicht alle schon mal gefragt, was die Kolleginnen und Kollegen eigentlich nach Feierabend machen? Dann also, wenn sie den Betrieb oder das Büro hinter sich gelassen haben…

Jetzt gibt’s ein Buch, das sich dieser Frage annimmt und schlichtweg „Nach Feierabend“ heißt. Der Verlag nennt die Texte der beiden Journalistinnen Kathrin Spoerr (48) und Britta Stuff (35) einen „Roman“. Das Etikett gilt seit jeher als verkaufsfördernd. Von „Kurzgeschichten“ mag fast niemand mehr reden.

nachfeierabend

Die Autorinnen gehen die ganze Hierarchie einer fiktiven Berliner Firma durch – vom Poststellen-Mitarbeiter bis zur stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden, vom Personalchef bis zur Pförtnerin, welchletztere eine schriftstellerische Laufbahn anstrebt und ihre blühende Phantasie zu abenteuerlichen Bestseller-Plots aufstachelt. Denke dabei bloß niemand an den realen Bochumer Schauspielhaus-Pförtner W. W., der in hochliterarische Gefilde sich aufschwang und selbst einen Peter Handke in Erstaunen versetzte!

Es scheint jedenfalls ein vollkommen durchschnittliches Unternehmen zu sein, wie es Tausende gibt. Die Menschen sind jedoch samt und sonders ziemlich speziell. Jeden einzelnen Mitarbeiter bewegen nach Dienstschluss ungeahnte Dinge und Verhältnisse. An vielen Stellen tun sich wahre Abgründe auf.

Natürlich wirken die Ereignisse des Tages in den Abend hinein. So zieht etwa der arrogante Marketingleiter (namens Handke! – einen Schirrmacher gibt’s übrigens auch noch) Neid, aber auch wüste Mordphantasien anderer Angestellter auf sich.

Da gibt es Einblick um Einblick ins vielfach beschädigte Leben: Der Sohn von Frank aus der Poststelle ist unheilbar krebskrank, was lakonisch und wie nebenher zum Vorschein kommt, aber natürlich sein ganzes Dasein überschattet. Die Marketing-Sekretärin ist derweil besessen von ihrer Waschmaschine, deren Programm-Vorgänge sie stundenlang beobachtet.

Und weiter, weiter: Der Vertriebs-Angestellte lässt seine Wohnung vermüllen und weist alle ab, die sich nähern. Zwei Assistentinnen träumen von einer eigenen, selbstredend „alternativen“ Schweinezucht als Fluchtpunkt, Zielgruppe sollen Großstadt-Ökos sein. Die Controlling-Leiterin, belauscht beim abendlichen Elternsprechtag, durchleidet das Elend einer überforderten Alleinerziehenden. Sigmund aus dem Archiv hat herbe Psycho-Probleme mit seinen Eltern, Arne vom Vertrieb und seine frühverrentete Partnerin zimmern sich höchst seltsame Rituale mit Rehblut zurecht. Unterschlagung und Hochstapelei kommen ebenso vor wie ein lebensbedrohlicher Herzanfall im Bordell.

Genug!

Es ist eine Art Moritat von allerlei trüben und betrüblichen Umtrieben, von Sinnlosigkeiten, Zwangsneurosen, mühsam gebändigten Aggressionen. Etliche dieser Leute stehen kurz vorm Aufgeben, sie halten nur notdürftig gerade noch durch. Überstehen ist alles. Erschreckende Normalität?

Tagsüber in der Firma sitzen die Charaktermasken wohl noch einigermaßen, doch gleich nach Feierabend bricht sich das Ungefüge und Ungeschlachte allseits Bahn. Da schlummert einiges, was sich gesellschaftlich nicht einfach einhegen lässt.

Kathrin Spoerr und Britta Stuff erzählen bodenlose, oft tieftraurige Geschichten. So manche dieser sozialen Miniaturen hätte man selbst gern geschrieben. An einigen Stellen wird es freilich eine Spur zu deutlich, so dass nicht mehr viel in der Schwebe bleibt. Ein, zwei Sätze weggelassen, die Schraube nicht gar so fest angezogen – und es wäre noch treffender gewesen. Vor allem aber irritiert es, dass all diese Angestellten – ohne Ansehen des Bildungsgrades – sich weitgehend im selben Jargon und Tonfall bewegen. Doch es gibt Passagen, die man mit fliegendem Atem liest.

Was am Ende geschieht, wollen wir hier nicht verraten. Es ist etwas Ungeheuerliches, das sozusagen alles überwölbt und untergräbt, was vorher passiert ist.

Jedenfalls haben wir hier ein recht achtbares Gegen- und Seitenstück zu allerlei Büro- und Angestellten-Romanen der letzten Jahre. Am Schnitt- und Wendepunkt zwischen Arbeit und so genannter Freizeit zeigen sich gesellschaftliche Verwerfungen in aller Schärfe. Der Dienstschluss gebiert jede Menge Ungeheuer.

Kathrin Spoerr/Britta Stuff: „Nach Feierabend“. DuMont Verlag, Köln. 174 Seiten. 14,99 Euro.




Vom Mikro zur Motorsäge – die zweite Karriere von Pia Lund („Phillip Boa & the Voodooclub“)

Sie war Sängerin bei Phillip Boa & the Voodooclub, der einzig wirklich erfolgreichen und international anerkannten Dortmunder Band. Heute arbeitet Pia Lund alias Pia Bohr als bildende Künstlerin im Dortmunder Klinikviertel. Unser Gastautor Michael Westerhoff hat sie dort besucht.

Pia Bohr alias Pia Lund (Foto: privat)

Pia Bohr alias Pia Lund (Foto: privat)

Pia Bohr arbeitet dort, wo sie lebt. In einem Hinterhof-Loft des Dortmunder Klinikviertels. „Hier ist nichts richtig gedämmt, im Winter ist es sehr kalt“, bremst Pia Bohr meine Begeisterung. Ihr Hund hat es sich auf einem Teppich gemütlich gemacht. Wir sitzen in ihrer Küche, die gleichzeitig Schlafzimmer und Wohnzimmer ist. Halt ein großer Raum, in dem sich das Leben abspielt.

Außer der Kunst. Die hat Pia Bohr ausgelagert. In einen Vorraum des Lofts. Wenn sie Baumstämme mit der schweren Motorsäge bearbeitet, staubt es mächtig. Holz für ihre Skulpturen holt sie einmal im Jahr in Italien: „Ich packe dann so viel wie möglich in den Kofferraum und fahre mit dem schwer beladenen Wagen nach Hause“.

Nach Hause – das ist seit einigen Jahren wieder Dortmund, nachdem sie einige Zeit mit ihrem früheren Partner Phillip Boa auf Malta gelebt hat. „Ich bin viel unterwegs und froh, wenn ich wieder hier hin komme“, erzählt sie. Pia weiß, dass Dortmund nicht der Nabel der Kunstwelt ist, sie fühlt sich hier aber wohl. Übrigens genauso wie ihr Ex-Partner Boa, der mittlerweile wieder zeitweise in der Stadt lebt.

„Du hast dich mit ihm im Café Strickmann getroffen? Da hat er schon früher immer seine Interviews gegeben.“ Es ist ein, zwei Jahre her, dass wir dort über Musik, aber insbesondere über Musiker, die an Streams und Downloads kaum noch etwas verdienen, gesprochen haben. Das ist durchaus auch für Pia ein Thema: „Die sollen schön weiter auf Tour gehen“, grinst sie. Bohr ist Mit-Autorin der meisten Lieder, bekommt also Tantiemen, wenn ihr Ex Phillip Boa mit den Songs auf Tour geht…

Mit Musik hat sie sonst nicht mehr viel zu tun. 2013 ist Pia Bohr ein zweites Mal beim Voodooclub ausgestiegen. Es hatte mal wieder Krach gegeben. „Ich würde gern mal wieder einen Song schreiben, das fehlt mir“, sagt sie. Die Auftritte mit der Band weniger. Doch sie hat den kreativen Prozess vom Schreiben bis zum Aufnehmen der Songs genossen.

Sie ist stolz auf ihre musikalische Vergangenheit: „Wir haben uns nie verbogen.“ Mit „Container Love“ oder „This is Michael“ hatten Phillip Boa & the Voodooclub ein paar passable Hits, arbeiteten mit dem Produzenten von David Bowie und verkauften in 30 Jahren immerhin rund zwei Millionen Tonträger. Dass sie keine Superstars wurden, lag wohl eher daran, dass sie Promotion und Marketing weitgehend vermieden haben.

Das Potenzial hatten sie. Auch wegen der einprägsamen Stimme von Pia Lund, wie sie sich damals nannte. „Sie haben sich durch ihre unnahbare Art viel kaputt gemacht“, sagen manche Kritiker. An Pia Bohr kann es nicht gelegen haben. Sie ist eine offene, sympathische Frau, mit der es Spaß macht, über Gott und die Welt zu reden.

Tim Renner holte die Band in den 80ern vom eigenen Independent-Label zur großen Polydor. „Der Renner ist ja jetzt Staatssekretär für Kultur in Berlin“, sagt Bohr. „Und er legt sich gerade heftig mit Claus Peymann an“, ergänze ich. „Naja, mit dem kann man sich ja auch gut anlegen“, antwortet Bohr. Und schon sind wir beim nächsten Thema.

Auf dem Esstisch liegt ein Buch von Kim Gordon, Ex-Sängerin von Sonic Youth. Wie Bohr Musikerin, die in den frühen 80ern begonnen hat, wie Bohr bildende Künstlerin und wie Bohr eine der wenigen Frauen, die in der musikalischen Macho-Welt der 80er als Frau bestehen konnte.

"Spionin" - eine Skulptur von Pia Bohr (Foto: Pia Bohr)

„Spionin“ – eine Skulptur von Pia Bohr (Foto: Pia Bohr)

Für Wehmut gibt es jedoch keinen Anlass: „Heute kann ich entscheiden, was ich arbeite und wie ich arbeite, ich muss nicht mehr in einer Gruppe agieren.“ Sie genießt sie ihre Unabhängigkeit: „Ich muss keine Kompromisse mehr machen, kann tun und lassen, was ich will. Das war schon immer mein Traum“.

Ein lauter Traum, von dem die Kinder in der Tagesstätte gegenüber sicherlich ein Lied singen können. Wenn sie den Motorschleifer anwirft, ist das schon Punk: „Mehr als drei Stunden am Tag schaffe ich nicht, das Gerät ist zu schwer.“ Wegen der schönen Struktur bearbeitet sie in erster Linie Birnen- und Oliven-Baumstämme.

Bohr hat zwar einen Plan, wenn sie einen der Baumstämme zu großen Skulpturen verarbeitet. „Aber dabei bricht schon mal was ab.“ Das durchkreuzt regelmäßig ihren Plan. „Man muss mit dem Holz gehen, mit ihm kommunizieren.“ Bis eine Skulptur fertig ist, können Wochen vergehen.

Demnächst stellt Bohr in Berlin aus: „Da gibt es eine richtige Kunstszene, die die Arbeiten schätzt“, sagt sie mit einem kleinen Seitenhieb auf Dortmund. „Die Dortmunder wollen kleine, quadratische Bilder.“ Allenfalls Ärzte und Rechtsanwälte kaufen im Ruhrgebiet ihre Skulpturen. Trotzdem engagiert sie sich im Vorstand der „Dortmunder Gruppe“, einer Künstler-Vereinigung, die 1956 gegründet wurde, beteiligt sich an Kunstaktionen und öffnet ihr Atelier regelmäßig für Besucher.

Auftragsarbeiten macht Bohr eher ungern, aber manchmal kann sie nicht nein sagen. Sie zeigt mir zwei kleine Holzstücke, die sie vorsichtig in Handtücher eingeschlagen hat. „Sieht man, dass das Büffelköpfe sind?“ Die Hörner und der Kopf sind klar erkennbar. Man wird sie demnächst an der Tür eines Burgerladens im Kreuzviertel bewundern können.




Die Welt der Pilger – Ausstellung im Museum für religiöse Kultur in Telgte

Auf der Falkenburg bei Detmold gefunden: Ein "vera icon", ein Pilgerzeichen aus Rom aus dem 13./14. Jahrhundert mit dem Antlitz Christi. Leihgabe und Foto: Lippisches Landesmuseum Detmold.

Auf der Falkenburg bei Detmold gefunden: Ein „vera icon“, ein Pilgerzeichen aus Rom aus dem 13./14. Jahrhundert mit dem Antlitz Christi. Leihgabe und Foto: Lippisches Landesmuseum Detmold.

Was Telgte und seine Marienkapelle schon sind, kann das „Religio“ in diesem Jahr werden: eine Pilgerstätte. Jetzt ist im Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte die Ausstellung „Pilgerwelten“ zu sehen.

Die Ausstellung begleitet die Eröffnung eines neuen Teilstücks des Jakobswegs von Bielefeld bis Wesel. Die Federführung dieses Projekts hat die Altertumskommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Die Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft e.V. firmiert als Schirmherrin für die „Pilgerwelten“.

Für die Kuratorinnen Anja Schöne und Lena Mengers ist das Pilgern auch eine Reise zu sich selbst. Dementsprechend haben sie nicht nur Leihgaben aus dem Stiftungsbestand Preußischer Kulturbesitz, dem Jüdischen Museum Berlin, dem Kölner und dem Essener Domschatz zusammengetragen, wie etwa eine Handschrift mit dem Pilgerbericht des Ritters Arnold von Harff vom Ende des 15. Jahrhunderts aus dem Kloster Maria Laach.

Arnold von Harff kniet vor den Heiligen Drei Königen. Aus dem Pilgertagebuch des Arnold von Harff, Niederrhein, Handschrift von 1554. Leihgabe und Foto: Bibliothek der Abtei Maria Laach.

Arnold von Harff kniet vor den Heiligen Drei Königen. Aus dem Pilgertagebuch des Arnold von Harff, Niederrhein, Handschrift von 1554. Leihgabe und Foto: Bibliothek der Abtei Maria Laach.

Die Ausstellung fragt auch nach den Motiven, warum sich Menschen auf Pilgerfahrt begeben – weltweit sind es jährlich 350 Millionen –, wie sie pilgern und was das Pilgern mit ihrem Körper und ihrer seelischen Verfassung macht.

Für den umfangreichen Katalog haben die beiden Ausstellungsmacherinnen Pilger aller Weltreligionen nach ihren Motiven, Erfahrungen und Erlebnissen befragt. „Dabei lag der Fokus stets auf Westfalen“, unterstreicht Mengers.

Der Schwerpunkt liegt auf der Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. Diese Reise zum Grab des Apostels Jakobus in den äußersten Westen der iberischen Halbinsel entwickelte sich seit dem 9. Jahrhundert und zog bereits zwei Jahrhunderte später viele Pilger aus ganz Europa an. Die Ausstellung folgt ihren Spuren. Zudem beleuchtet sie die praktische Seite des Pilgerns, so dass man sich anschließend gleich auf den Weg machen könnte. Denn: Zur besseren Anschaulichkeit ist der Herdfeuerraum im alten Teil des Museums zu einer echten Pilgerherberge mit echten Stockbetten umfunktioniert.

Der Weg der Jakobspilger von Bielefeld nach Wesel wird mit einer ökumenischen Andacht und einer gemeinsamen Begehung am Freitag, 8. Mai, ab 14 Uhr, eröffnet. Info: www.jakobspilger.lwl.org

Info zur Ausstellung und zum umfangreichen Rahmenprogramm, u. a. mit Radpilgern und einem Musical: www.museum-telgte.de

 




Schmerzlicher Abschied: Jürgen Klopp verlässt nach der Saison den BVB

Wie ärgerlich, dass mal wieder die „Bild“-Zeitung die Nachricht zuerst hatte: BVB-Trainer Jürgen Klopp hat um Auflösung seines bis 2018 reichenden Vertrages gebeten.

Soeben hat Jürgen Klopp die Nachricht offiziell in einer Pressekonferenz bestätigt – sichtlich bewegt, zeitweise zaudernd, mit stockender Stimme. Der Entschluss falle ihm „unglaublich schwer“, aber die Entscheidung habe jetzt getroffen werden müssen, damit der Verein die nächste Saison planen könne. Es sei somit die „absolut richtige Entscheidung“, fernab von aller Sentimentalität und Romantik.

In aller Bescheidenheit sei’s gesagt: Vor einigen Monaten hatte ich an dieser Stelle für einen Neuanfang auf Sparflamme plädiert – möglichst mit neuem Trainer und nicht mehr mit lauter millionenschweren Stars, sondern mit dem Rüstzeug fürs solide Mittelfeld. Hernach kann man ja immer noch auf Höheres aus sein. Ein solcher Weg der kleineren Schritte scheint nun eingeschlagen zu werden. Es wäre nur vernünftig.

BVB-Trainer Jürgen Klopp am 9. August 2014 (©Foto: Tim.Reckmann/Wikipedia - Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

BVB-Trainer Jürgen Klopp am 9. August 2014 (©Foto: Tim.Reckmann/Wikipedia – Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Da Borussia Dortmund in der kommenden Spielzeit voraussichtlich an keinem europäischen Wettbewerb teilnehmen wird (und wenn doch, dann allenfalls an der nur mäßig attraktiven Europa League), empfiehlt sich finanzielle Zurückhaltung auf jeden Fall. Auch sollte klar sein, dass vorerst Vereine wie Wolfsburg, Gladbach oder Leverkusen in der Bundesliga hinter den Bayern rangieren.

Gleichwohl möchte Klopp, wie er heute sagte, mit dem BVB noch die verbleibenden Maximalziele erreichen und möglichst noch einmal mit dem Lastwagen rund um den Borsigplatz fahren. Voraussetzung dafür wäre der Pokalsieg… Und man kann sich vorstellen, dass Klopp und die Mannschaft angesichts des bevorstehenden Abschieds noch einmal ungeahnte Reserven ausschöpfen.

Zurück zu jetzigen Realität. In den Blickpunkt ist jüngst auch das Wirken des Dortmunder Sportdirektors Michael Zorc gerückt, der für die Einkaufspolitik verantwortlich zeichnet. Zunächst hatte er vielfach eine glückliche Hand, doch in letzter Zeit sind ihm einige derart kapitale Fehleinschätzungen unterlaufen, dass man durchaus an ihm zweifeln darf.

Besonders die beiden Spieler Ciro Immobile (für 19,4 Mio. Euro aus Turin geholt) und Henrikh Mkhitaryan (Ablöse 27,5 Millionen Euro)* haben nicht einmal ansatzweise die Erwartungen erfüllt. Auch die anfangs frenetisch gefeierte Rückholung des Japaners Shinji Kagawa aus Manchester erwies sich als falsche Maßnahme.

Man könnte noch weitere Namen nennen. Doch zuletzt haben auch das ganze Gefüge der Mannschaft und der Draht zum Trainer nicht mehr funktioniert, so dass man nicht nur einzelnen Akteuren die Schuld zuweisen darf. Trotzdem sollten einige Spieler sich bald andernorts umschauen, wo sie vielleicht Besseres bewirken können.

Jürgen Klopp hat ersichtlich resigniert, er wirkte an der Seitenlinie oft kläglich hilflos – ganz anders als in früheren Tagen. Es ist wohl nur konsequent, wenn er im Sommer eine „Auszeit“ nimmt und danach neue Herausforderungen z. B. in der englischen Premier League sucht, in London oder Manchester. Wer weiß, vielleicht nimmt er dann den BVB-Kapitän Mats Hummels gleich mit auf die Insel. Oder der macht dort schon mal vorher Quartier. In der heutigen Pressekonferenz bestritt Klopp freilich, konkrete Pläne für seine Zukunft als Trainer zu haben.

Ob der angebliche Nachfolger Thomas Tuchel, der auch schon in Mainz in Klopps Fußstapfen trat, nach Dortmund und zur Borussia passt, könnte sich beizeiten weisen. Brennenden Ehrgeiz brächte er jedenfalls mit. Über Sympathien ließe sich später immer noch streiten. Übrigens: Fragen zur Klopp-Nachfolge wurden heute beim BVB aus Prinzip nicht beantwortet.

Mit dem Abgang von Klopp, der 2008 zum BVB kam, geht in Dortmund eine große Fußballzeit dem Ende entgegen. Er hat mit dem BVB nicht nur zwei deutsche Meisterschaften und einen Pokalsieg errungen, sondern auch international für Aufsehen gesorgt, indem er das Finale der Champions League erreichte. In einer Stadt, der der Fußball so viel bedeutet wie keiner zweiten im Lande, ist Klopp ein (zunächst imaginares) Denkmal sicher. Der dauerhafte Dank aller BVB-Fans ist ihm eh gewiss.

Zeitweise sah selbst der FC Bayern München, verglichen mit Borussia Dortmund, ziemlich dürftig aus. Die Herrschaften von der Säbener Straße reagierten – wie üblich – vor allem mit pekuniären Mitteln, indem sie die BVB-Protagonisten zu sich holten: Götze wurde weggekauft, Lewandowski mit besten Aussichten weggelockt. Inzwischen sind die Südlichter längst wieder die Chefs auf dem Rasen. Aber eines schönen Tages…

(* Ablösesummen laut www.transfermarkt.de)




Abschied vom „lebenslustigen Pessimisten“ – zum Tod des Schriftstellers Günter Grass

Es gab Zeiten, da war sein Ruhm kaum noch zu steigern. Als Günter Grass im Herbst 1999 den Literaturnobelpreis bekam, war er auf dem Gipfel der weltweiten Reputation angelangt. Heute ist Deutschlands gewichtigster „Großschriftsteller“ der Gegenwart mit 87 Jahren gestorben.

Über die Toten nur Gutes, heißt es. Doch manches kann und soll man nicht verschweigen: Die moralische Instanz, die Grass über Jahrzehnte gewesen ist, hat leider Risse bekommen. Sein allzu spätes Eingeständnis, mit 17 Jahren Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, hat die Nation im Sommer 2008 wochenlang bewegt. Vor allem auch konservative Gestalten, die der betont linksliberale Grass zuvor vielfach mit seinen (zuweilen auch polemischen) Äußerungen verärgert hatte, witterten nun ihre Chance auf Revanche. Sie warfen ihm anmaßende Selbstgerechtigkeit vor. Aber waren sie selbst frei davon? Von derlei Richtungsstreit abgesehen, war und bleibt es ein Fehler von Grass, so lange in eigener Sache geschwiegen zu haben.

Das wohl sinnvollste Gedenken - Grass' "Danziger Trilogie" Lektüre für die nächsten Tage und Wochen.

Das wohl sinnvollste Gedenken – Grass‘ „Danziger Trilogie“ als Lektüre für die nächsten Tage und Wochen.

Das literarische Lebenswerk des Mannes, der am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren wurde, hat jedoch über solche Querelen hinaus Bestand.. Und sein Publikum hat allzeit treu zu ihm gehalten. Zudem wird schon seit vielen Jahren eifrig für seinen Nachruhm gesorgt. Eine umfangreiche Werkausgabe im Steidl-Verlag versammelt die Schriften für die Nachwelt.

Einen „lebenslustigen Pessimisten“ hat sich Günter Grass einmal selbst genannt. Wahrhaftig gab es ja den geradezu „barocken“ Genussmenschen Grass, der seine Gäste gern als meisterlicher Koch verwöhnte. Doch man kannte auch den mürrischen Mann, für dessen Empfinden der Fortschritt gar zu schneckenhaft kroch und der sich, zuweilen auch schon mal etwas penetrant und hochfahrend, in jedwede Debatte einmischte.

In einer brenzligen Phase freilich, um 1968 herum, wollte Grass selbst die Entwicklung lieber bremsen und in Richtung Sozialdemokratie dirigieren. Der SPD hat er sich überhaupt zeitweise mehr verschrieben, als es einem unabhängigen Autor guttun konnte.

Allein die Tiergestalten, die zentral in seinen Büchern vorkommen, liefern reichlich Stoff für Phantasien und Interpretationen: Zu nennen wären „Die Vorzüge der Windhühner“ (Lyrik-Erstling von 1956), „Katz und Maus“ (Novelle von 1961), „Hundejahre“ (1963), „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ (1972), „Der Butt“ (1977), „Die Rättin“ (1986), „Unkenrufe (1992) und „Im Krebsgang“ (2002). Zwei philosophierende Ratten waren schon im Theaterstück „Hochwasser“ (1957) aufgetreten.

Die Bildkraft dieser Menagerie beruht nicht auf Zufall. Grass, der eine Steinmetzlehre absolvierte und Kunstakademien in Düsseldorf und Berlin besuchte, hat literarische Einfälle stets anhand eigener Skulpturen und Graphiken überprüft. Bei diesem ungemein schöpferischen Autor war kaum auszumachen, ob etwa ein Roman ursprünglich aus Bildern hervorgegangen war – oder ob sprachliches Fabulieren die ersten Keime gesetzt und die Bilder nach sich gezogen hat. Am Anfang war das Wort? Nicht immer und unbedingt.

Unstrittig lässt sich der Mittelpunkt im literarischen Universum des Günter Grass bestimmen: seine Geburtstadt Danzig, ein Brennpunkt geschichtlicher Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Aus dem Fundus seiner Kindheit hat Grass unvergessliche Geschichten geschöpft.

Über Oskar Matzerath und „Die Blechtrommel“ (1959) herrscht weithin Einvernehmen: Der Roman bedeutete seinerzeit den „Durchbruch“ der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Er galt als Fanal gegen die Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, obgleich oder gerade weil er weder politisiert noch moralisiert, sondern die wirren Zeitläufte mit saftigen Figuren darstellt.

Nach Erscheinen seiner Bücher überwog hernach meist vorschnelle Erregung, denn Grass mischte sich denn doch vehement in gesellschaftliche Fragen ein. Wortgewaltig malte er die Apokalypse einer zerstörten Umwelt („Die Rättin“) oder begab sich in die Untiefen des Matriarchats („Der Butt“).

Grass war beileibe kein gewöhnlicher Schriftsteller, sondern mit den Jahren zunehmend ein Repräsentant, dessen Meinung zu vielerlei Themen gefragt oder auch gefürchtet war. Manchmal mochte man dabei an eine herausragende Figur wie Thomas Mann denken, dessen Geburtsstadt Lübeck sich Grass zur Wahlheimat erkor. Beiden Größen widmete die Hansestadt Gedenkorte: Buddenbrook-Haus und Grass-Haus sind wahre Pilgerstätten.

Feindselige Regungen hat Grass oft zu spüren bekommen. Für horrende Hysterie sorgte 1995 sein Roman „Ein weites Feld“. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki zerriss den Band auf einem „Spiegel“-Titelbild buchstäblich in der Luft. Ein Skandal, der sich aber nach und nach verflüchtigte. Angesichts der inzwischen verflossenen Zeit wirken die damaligen Aufregungen ziemlich lachhaft.

Mögen sich Grass und Reich-Ranicki bei einer leidenschaftlich-kernigen Debatte im Jenseits versöhnen – oder auch nicht. Mit den beiden – und einigen anderen Protagonisten – ist eine Ära der kulturellen Nachkriegsgeschichte unwiderruflich dahin. Doch die Bücher künden noch davon.




Pionierin mit der Kamera: Frauenfilmfestival erinnert an die Dortmunderin Elisabeth Wilms

Als „filmende Bäckersfrau“ hat sich Elisabeth Wilms (1905-1981) lange Zeit selbst verstanden. Oft und penetrant wurde diese Formel später in journalistischen Titelzeilen aufgegriffen, bis sie vollends zum Klischee geronnen war.

Jetzt werden ausgewählte Arbeiten von Elisabeth Wilms in einem regionalen Schwerpunkt des Internationalen Frauenfilmfestivals in Dortmund gezeigt. In diesem Kontext ist es natürlich erst recht nicht ratsam, sie als Ehefrau vorzustellen, die lediglich ihrem Hobby gefrönt habe. Da klingt es doch weitaus besser, dass der Gatte Erich, als er nach Jahrzehnten der Plackerei 1964 die Bäckerei verpachtet hatte, von ihr fortan als Chauffeur und Stativträger beschäftigt wurde…

Kamera läuft: die Dortmunderin Elisabeth Wilms beim Dreh. (© Stadtarchiv Dortmund)

Kamera läuft: die Dortmunderin Elisabeth Wilms beim Dreh. (© Stadtarchiv Dortmund)

1932 hatte die gebürtige Münsterländerin just nach Dortmund eingeheiratet und Tag für Tag im Bäckereiladen des damals noch dörflich anmutenden Ortsteils Asseln gestanden, nebenher ihre Filmleidenschaft entdeckt und nach und nach ihr spürbar vorhandenes Talent staunenswert entwickelt. Unschätzbar wertvolles Zeitzeugnis: 1943 filmte sie das noch unzerstörte Alt-Dortmund. Welch ein Jammer, dass dies alles längst dahin ist.

Schnitt am Wohnzimmertisch

Elisabeth Wilms hatte ein Gespür fürs Wesentliche, das sie mit gekonnter Kameraführung umzusetzen verstand. Den Schnitt besorgte sie selbst am heimischen Wohnzimmertisch. Und als sie sich eine bessere Kamera leisten konnte, war das alsbald auch an der Qualität der Filme abzulesen.

Ihre ersten Streifen wie „Münsterland – Heimatland“ oder „Der Weihnachtsbäcker“ wurden 1944 von der Filmprüfstelle ausgezeichnet. Sie fügten sich – ob gewollt oder nicht – ins kritiklose Heimatbild der NS-Zeit. Was Betrachter_innen (so die Schreibregelung im Festivalheft) nicht ohne weiteres wissen können: Der Bäckermeister im Weihnachts-Film war nicht etwa Elisabeth Wilms’ Ehemann Erich. Der war damals als Soldat im Einsatz. Deshalb übernahm ein Kriegsgefangener seine Rolle. Und der Lehrling, der in dem anheimelnden Streifen vorkommt, ist kurz darauf gegen Ende des Krieges gefallen. Sprich: Der verborgene Hintergrund des Films ist ungleich bedeutsamer als das, was auf der Leinwand erscheint.

Trotz strenger Verbote machte Frau Wilms heimlich Aufnahmen während der Bombenangriffe auf Dortmund und Münster. Es war dies aber auch schon das Höchstmaß an Ungehorsam, das sie sich erlaubte.

Blanke Not in der Trümmerzeit

Weithin bekannt wurde Elisabeth Wilms mit Filmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die 1980/81 um ihre nachträglich aufgesprochenen Kommentare ergänzt wurden. „Alltag nach dem Krieg“ (1948) berichtet in bewegenden, höchst einprägsamen Bildern vom Elend der Dortmunder Bevölkerung in der Trümmerlandschaft.

Szene aus dem Wilms-Film "Alltag nach dem Krieg" (1948): Armenspeisung für Kinder. (© Elisabeth Wilms/KG Asseln)

Szene aus dem Wilms-Film „Alltag nach dem Krieg“ (1948): Armenspeisung für Kinder. (© Elisabeth Wilms/KG Asseln)

Mitten in den Ruinen hausten die Menschen unter heute unvorstellbar erbärmlichen, oft lebensgefährlichen Bedingungen. Es wird einem weh zumute, wenn man in all die ausgemergelten Gesichter schaut. Mit Szenen von Schwarzmarkt, Hamsterfahrt und notgedrungenem Kohlenklau erweist sich der Film als erstrangiges zeitgeschichtliches Dokument. Manch eine Einstellung wird man nicht so schnell vergessen – und das zeugt auch von der besonderen Begabung der Elisabeth Wilms, die mit diesem Film zu Spenden aufrufen wollte.

Wie die Westfalenhalle entstand

Mit teils riskanten Drehs hat Elisabeth Wilms 1951/52 den Bau der neuen Dortmunder Westfalenhalle filmisch begleitet. Es lässt sich so wenden, dass sie sich in dieser Männerwelt der Bauleute behauptet hat. Jedenfalls ist es ein interessanter Film, der auch als Lob der Arbeit und der vielen beteiligten Gewerke durchgeht.

Bei der Festival-Vorführung dürfte es freilich bestenfalls für nachsichtiges Lächeln sorgen, dass beim Eröffnungsprogramm der Halle „das schwache Geschlecht“ (O-Ton von damals) Gymnastik vorführen durfte. Für Unkundige sei’s gesagt: Damit waren Frauen gemeint.

Wirtschaftswunderbare Waschmaschine

Später drehte Elisabeth Wilms vielfach Auftragsarbeiten und Werbefilme – beispielsweise für eine Constructa-Waschmaschine, die der geplagten Hausfrau das Leben erleichtern sollte. Bevor der Ehemann sich gnädig zum Kauf herbeiließ, waren – mit gereimten Sprüchlein – rund 9 Minuten (!) einer zeittypischen Familiengeschichte zu absolvieren, in denen natürlich alles für die Waschmaschine sprach, die übrigens auch das Honorar für diesen putzigen Werbefilm darstellte. Den Chefs des unentwegt ins Bild gerückten örtlichen Stromversorgers VEW dürfte das Filmchen gleichfalls gefallen haben.

Fern von aller Renitenz

Elisabeth Wilms und ihre Filme können heute weder politisch noch feministisch vereinnahmt werden, dazu ist das in diesen Schöpfungen waltende Bewusstsein denn doch zu harmlos und kleinbürgerlich. Utopien oder Befreiungs-Sehnsüchte sind diesen Werken nicht eigen, von Rebellion ganz zu schweigen.

Gleichwohl war da eine begabte Pionierin am Werk, die zwar nicht anderen den Weg ebnete, aber recht konsequent ihren eigenen Weg beschritten hat; wobei sie es vergleichsweise leicht hatte: Ihr Film über eine Italienreise aus den 1950er Jahren zeigt gediegenen Wohlstand mit Opel Kapitän und imposantem Wohnananhänger. Daheim besorgte ihre Schwägerin den Haushalt. Auf solchen Komfort konnte damals wahrlich nicht jede Frau zurückgreifen.

Vermessung der „Komfortzonen“

Apropos Komfort. Das stilistisch und thematisch sehr weit gefächerte Dortmunder Frauenfilmfestival widmet sich diesmal dem äußerst dehnbaren Begriff „Komfort“ und schickt sich an, gleichsam rund um den Erdball in allerlei Formen „Komfortzonen“ (auch so ein Modewort) auszuloten bzw. deren Verlust zu ermessen. Der Ruhrgebiets-Schwerpunkt firmiert übrigens unter dem Leitbegriff „Arbeit“, der etwas bemüht mit „Komfort“ kurzgeschlossen wird: Ohne Arbeit gibt es meist keinen Komfort. Wohl wahr…

An diversen Orten der Stadt (Festivalzentrum im Dortmunder „U“, weitere Spielstätten im domicil, Schauburg und Cinestar) sind in den nächsten Tagen laut Broschüre „rund 40 Programme von der Quarkgebäck-Werbung bis zum iranischen Vampirfilm“ zu erleben. Selbstverständlich stehen vielfältige Bilder des Frauenlebens im Mittelpunkt – in aller Welt und zu verschiedenen Zeiten.

Der historische Reigen beginnt im frühen 20. Jahrhundert – mit 1917/18 gedrehten Stummfilmen von Rosa Porten, die seit der Entstehungszeit in Deutschland nicht mehr zu sehen waren. Da darf man von wohl einer kleinen Sensation sprechen.

Nähere Informationen zum Festival-Programm (14. bis 19. April):
www.frauenfilmfestival.eu




Familienfreuden XVIII: Österliche Schonfrist

„Fiona“, fragte ich gestern Abend, „weißt Du eigentlich, was morgen ist?“ „Vogelparty?“ Letztens hatte die Tagesmutter Karneval nachgeholt und Fi hing dem flatterhaften Event immer noch sehr hinterher. „Nein, die war doch schon. Weißt Du, was morgen ist?“ „Ja!“ …. „Was denn?“ Sie überlegte kurz. „Weiß gar nicht.“ Diese Formulierung gehört mittlerweile zu unseren geflügelten Worten. „Morgen ist doch Ostern!“ In Fionas Augen stahl sich ein Strahlen. „Schokolade!“

Große Ostergeschichten sind noch nicht gefragt. (Bild: Albach)

Große Ostergeschichten sind noch nicht gefragt. (Bild: Albach)

Seit einigen Tagen schon hatten wir erzählt, dass bald Ostern ist. Ihr Geschichten dazu vorgelesen. Ihr auch vom Osterhasen erzählt. Aber das einzige, was hängen geblieben war: Es gibt Schokolade! Und das ist gut so – weil es ablenkt und Misstrauen gar nicht erst aufkommen lässt. Davon, dass Normen und ich unsere Ausbildung beim CIA (Club der IntelligentvorFeiertagen AgierendenEltern) noch nicht abgeschlossen haben. Oder anders ausgedrückt: Die Geheimhaltungsstufe ist bei uns im Moment noch viel zu niedrig angesetzt.

Vor ein paar Tagen habe ich zum Beispiel Geschenkpapier gekauft, ziemlich auffällig, mit vielen Küken drauf. Fiona entdeckte es und spielte vergnügt mit der bunten, großen Rolle. Als sie heute Morgen ihre Ostergeschenke auspackte, schien sie sich nicht darüber zu wundern, wie der Osterhase an unser Geschenkpapier gekommen war.

Oder die Süßigkeiten. Wir gehen eigentlich immer mit Fi einkaufen. Und natürlich ist der Versuch, die österlichen Naschwaren unbemerkt in den Einkaufswagen zu schmuggeln, gnadenlos gescheitert. Ganz im Gegenteil bestand sie darauf, die Schokoladenküken bis zur Kasse in der Hand zu halten. Immerhin konnten wir die Maus davon abhalten, die Packung auch gleich aufzureißen und den Inhalt aufzuessen. Aber auch hier: Keinerlei Verwunderung, dass die Küken heute in ihrem Nest lagen.

Und der krudeste Coup: die Ostereier! Samstagmorgen starteten Fi, meine Ma und ich die Fließbandproduktion und färbten, bemalten, betupften, beklebten 30 Eier, jedes für sich genommen ein kleines, wunderschönes Kunstwerk. Ich bemühte mich redlich, Fiona zu erklären, dass der Osterhase unsere Unterstützung braucht, weil er ja schließlich nicht alle Eier für alle Kinder anmalen kann. Sie nickte zwar ernst. Aber ich hätte glaube ich genauso gut von einem sprechenden Auto erzählen können.

Wir haben also noch Schonfrist. Jetzt nimmt Fi die Dinge noch hin – Hauptsache, es gibt Schokolade. Für die nächsten Osterfeste müssen wir uns aber besser präparieren. Ostercodes entwickeln. Geheime Einkaufstouren organisieren. Eine falsche Hasenidentität entwickeln. Oder: Den Berg an Schokolade einfach größer werden lassen.




Im Zweifel für das Leben: Ian McEwans neuer Roman „Kindeswohl“

Für die Londoner Familienrichterin Fiona Maye gehören komplizierte juristische Fragen zum Alltag, doch der Fall des Adam Henry ist besonders bizarr. Sein Schicksal steht im Zentrum von Ian McEwans Roman „Kindeswohl“.

Der 17jährige Adam Henry ist an Leukämie erkrankt. Eine ihn rettende Bluttransfusion lehnen seine Eltern und auch er selbst aus religiösen Gründen kategorisch ab. Die Familie gehört zu den Zeugen Jehovas, die mit Verweis auf Worte der Bibel einen solchen medizinischen Eingriff untersagen. Die behandelnde Klinik kann und will sich mit der Verweigerungshaltung nicht zufrieden geben und stellt einen Eilantrag, die Blutübertragung durchführen zu dürfen. Aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des jungen Patienten dulde die Entscheidung keinen Aufschub, betont das Hospital.

Auf den nun folgenden Seiten, 30 an der Zahl, breitet der Autor nun den Verlauf Gerichtsverhandlung aus, bei der rechtliche und ethische, religiöse wie auch psychologische Gesichtspunkte ausführlich erörtert werden. Dabei liegt der Gedanke nahe, dass es im Prinzip keinen Zweifel an der Haltung der Richterin geben dürfte. Es müsste doch ihre Pflicht sein, ohne Wenn und Aber für das Leben des Minderjährigen einzutreten.

Nun kennt das englische Recht allerdings die Besonderheit der Gillick-Kompetenz. Damit ist gemeint, dass junge Leute auch unter 16 Jahren intellektuell durchaus in der Lage sein können, zu entscheiden, ob sie sich bestimmten medizinischen Maßnahmen unterziehen wollen. Benannt ist diese Fragestellung nach Victoria Gillick. Die katholische Mutter von zehn Kindern startete in den 80er Jahre eine Initiative, die sich gegen eine Gesetzesänderung wandte, die vorsah, dass Mädchen unter 16 Jahren die Pille auch ohne das Wissen der Eltern verschrieben bekommen sollten. Daraus entstand eine juristische Auseinandersetzung, ob und wann Minderjährige die Reife haben, selbst über ihr Schicksal zu befinden.

Eindrucksvoll schildert der Autor, wie sich die Richterin nun selbst darum bemüht, Denken, Fühlen und Handeln des todkranken Jungen zu ergründen. Sie unterbricht die Verhandlung, um ihm am Krankenbett zu besuchen. So kühl und distanziert, wie der Leser sie bislang kennen gelernt hatte, ist die Juristin hier längst nicht mehr. In die Entscheidung, die die Richterin letztlich trifft, bezieht sie zwar ein, dass Adam über eine hohe moralische Kompetenz und einen scharfen Intellekt verfügt, sieht ihn aber eingezwängt in ein religiöses System, das ein freies Denken nicht wirklich zulässt. Dieses System, das ist ihr bewusst, ist für die Eltern mehr als nur eine Glaubensgemeinschaft. Insbesondere durch die schwierige Lebensgeschichte des Mannes ist die Gemeinde zu einem wichtigen Hort geworden, der Halt und Hoffnung bietet.

Doch mit dem Spruch der Richterin, die Klinik solle Adam wie beantragt behandeln, findet die Geschichte noch längst nicht ihr Ende. Das Leben danach, also nach der Transfusion, hält für alle Beteiligten noch schwierige Fragen parat. Wie gehen die Eltern nun mit ihrem Sohn um? Und was denkt der Sohn eigentlich wirklich über seine Eltern? Fiona Maye haben die Erlebnisse auch nicht unbeeindruckt gelassen und das auf eine Weise, mit der sie selbst wohl kaum gerechnet hätte. Sie kann nicht verhehlen, gewisse Gefühle für Adam entdeckt zu haben, was wiederum wie ein Treppenwitz in ihrer kinderlosen Ehe wirkt, hat ihr Mann Jack sie doch genau zu dem Zeitpunkt, als die Klinik sich an das Gericht wandte, gebeten, ihm eine außereheliche Beziehung zu gestatten.

Von beiden Partnern zeichnet Ian McEwan zunächst das Bild karrierebewusster Persönlichkeiten, die rational und wenig emotional ausgerichtet sind. Während Jack aber nun eher von innen heraus zu der Ansicht gelangt ist, dass ihm eine Affäre mal gut täte, sind bei seiner Frau eher äußere Einflüsse, die ihre bisherigen Vorstellungen ins Wanken bringen. Mit Adam verbindet sie zudem eine Liebe zur klassischen Musik. Im Zuge eines Konzerts erfährt sie schließlich, welche dramatische Wendung das Leben des jungen Mannes noch genommen hat.

McEwan versteht es brillant, nicht nur verschiedene ethische und juristische Ebenen miteinander zu verknüpfen, sondern die Vielschichtigkeit auch ansprechend darzustellen. Die Einbindung des Falls in einen Ehekonflikt mag zwar gewagt erscheinen, weil das eine mit dem anderen erst einmal nicht in Verbindung steht, doch es gelingt dem Autor, die Protagonisten mit ihren zum Teil widersprüchlichen Motiven sehr klar zu charakterisieren.

Ian McEwan: „Kindeswohl“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich. 224 Seiten, 19,90 Euro




Ein paar Gedanken (und Gefühle) bei Durchsicht meiner Büchersammlung

Vor einem Umzug kommt man schon mal auf die Idee, seine Bücher einer Revision zu unterziehen. Um vielleicht „Ballast“ abzuwerfen. Oder auch nicht.

Ein Kernsatz beim Sortieren bemisst sich vorwiegend am Bauchgefühl: Werde ich wohl jemals wieder in dieses Buch hineinsehen? An den Rändern der Sammlung sind mit der Zeit unscharfe Zonen entstanden, in denen sich Bücher gleichsam nur noch versteckt halten und schlotternd auf Nicht-Entdeckung hoffen. Ha! Die sollen mich kennen lernen.

Doch Vorsicht, nichts überstürzen: Denn viele dieser Bücher gehören mehr oder minder zu meiner Biographie. Auch wenn es nicht samt und sonders literarische Gipfelwanderungen sind.

Was muss man in Reichweite haben?

Die großen „Klassiker“ aus allen Zeiten bis in die Gegenwart bleiben selbstverständlich im Fundus. Auch die halbwegs großen. Alles natürlich ziemlich subjektiv betrachtet.

Da türmt sich einiges auf. (Foto: Bernd Berke)

Da türmt sich einiges auf. (Foto: Bernd Berke)

Doch hat sich – nicht zuletzt im Gefolge dieser Leitfiguren – der (literarische) Geschmack entwickelt, so dass man die Schöpfungen eines gängigen „Kult“-Autors wie etwa Nick Hornby nicht mehr unbedingt in den Regalreihen wissen möchte, so sympathisch er als Mensch, Rock- und Fußballkenner und überhaupt als Zeitgenosse auch sein mag. Ich bin halt zu dem Schluss gekommen, dass ich seine gesammelten Werke nicht in Reichweite haben muss.

Von salbadernden Gestalten wie Paulo Coelho mal ganz zu schweigen. Doch dessen Bücher muss man ja gar nicht beiseite stellen. Weil sie hier gar nicht erst vorhanden sind. So viel leserliche Überheblichkeit muss jetzt einmal sein.

Als die Lesezeit unendlich war

Als Student und in vielen folgenden Jahren hat man die Büchersammlung unentwegt anwachsen lassen. Man hatte ja noch so unendlich viel Zeit zum Lesen. Hat man jedenfalls gedacht. Später hat man geglaubt und den Gedanken geradezu gehätschelt, dass man eine gewisse Reserve an noch nicht gelesenen Büchern haben müsse; was ja auch stimmt.

Doch nun, da Begrenzungen sichtbar und spürbar werden, will man seine knappere Zeit erst recht nicht mehr mit minderen Hervorbringungen verschwenden. Und also trennt man sich ziemlich leichten Herzens von einigen. Vor allem von so manchen Sachbüchern, die mitunter sehr schnell gealtert sind. Auch ertappt man sich bei selektiven Gedanken der fragwürdigen Art. Gehört die oder jener nicht zum bloßen „Mittelfeld der Literatur“?

Rasch zum Perspektivenwechsel. Allmählich muss man auch daran denken, Erben zu entlasten. Ich gestehe freimütig: Die beileibe nicht geringe Bibliothek meiner Mutter, die freilich ganz andere Autoren und Schattierungen bevorzugte, habe ich – bis auf wenige antiquarische Bände – nicht übernommen. Es hätte, mit meinen Beständen zusammengerechnet, ohnehin das vernünftige Maß überstiegen.

Das mitleidige Lächeln der Jüngeren

Sichtet man seine Bücher einmal gründlicher, so tauchen einige auf, die man verloren glaubte oder vergessen hatte. Ich sortiere Belletristik nach Autorenalphabet und Sachbücher grob oder fein nach Themen. Da gerät beim Hin und Her der Zugriffe schon mal etwa ins Rutschen. Und siehe da…

Man wird von etlichen jüngeren Leuten bestenfalls mitleidig belächelt, weil man sich überhaupt mit solchen Gedanken martert und sich solche Mühe gibt. Warum denn noch Texte auf Papier? Warum solche tonnenschweren Lasten bei einem Umzug? Ach, es ist die schiere Lebensgewohnheit. Früher einmal galten ordentlich bestückte Bücherwände nicht nur in Kulturmagazinen und Feuilletons als Zeichen. Wofür nochmal?

Kohleofen und Zigaretten

Viele Bände – vor allem Taschenbücher – haben die Jahre nicht schadlos überstanden. Einige überwinterten vor Zeiten noch in einem Zimmer mit Kohleofen, man sieht’s ihnen an. Andere haben über Jahrzehnte Zigarettenrauch in sich gesogen und sind auch sonst vergilbt. Wer weiß, ob nicht auch die früher so rußig-giftige Ruhrgebietsluft manchen Exemplaren schwer zugesetzt hat. Jaja, der regionale Aspekt waltet auch hier.

Fraglich ist, was man mit den aussortierten Büchern machen soll. Sicherlich wird man versuchen, die besser erhaltenen zu spenden – beispielsweise an chronisch unterfinanzierte Stadtteilbibliotheken, Gefangenen-Büchereien, Läden von Hilfsorganisationen wie Oxfam usw.

Ehrfurcht vor dem Buch an sich

Heute gibt es zudem kommerzielle Dienste, die Bücher kostenlos abholen, aber nur Cent-Beträge pro Exemplar bezahlen. Jedenfalls scheut man sich immer noch, sogar übel zugerichtete Bücher so mir nichts, dir nichts in den Papiercontainer zu werfen.

Einst ist einem Ehrfurcht vor Büchern eingeflößt worden. Davon ist noch etwas übrig. Die Heiligkeit gewisser Texte. Die Vorstellung, dass Anhänger mancher Schriftsteller so etwas wie eine geheime „Kirche“ bilden können. Ihr kennt das ja.

Habe ich schon den Spruch gebracht, dass man Bücher eh nicht mit ins Jenseits nehmen kann? Nein? Dann sei es jetzt nachgeholt. Wisset also, dass man Bücher nicht mit ins Jenseits nehmen kann.




Familienfreuden XVII: Im Land des freien Willens

Es ist jetzt keine Überraschung. Schließlich kann man das in jedem Elternratgeber nachlesen. Und gut ist es ja im Prinzip auch. Nämlich: Unsere Tochter ist gerade auf Erkundungstour in das Land ihres freien Willens – und wir alle müssen mit. Sofort!

Kein "Nein" mehr beim Tanzen. (Bild: Nadine Albach)

Kein „Nein“ mehr beim Tanzen. (Bild: Nadine Albach)

Unsere Tagesmutter hat es letztens auf den Punkt gebracht: „Fiona wird einmal einen Job mit Weisungsbefugnis bekommen“, stellte sie lapidar fest. Und berichtete dann, wie unsere Tochter zwei andere zweieinhalbjährige Mädchen instruiert hatte, mit ihr eine Bank zu tragen – bis diese endlich da stand, wo sie sie haben wollte. Die beiden anderen Mädchen hatten ohne Widerspruch getan, was Fiona von ihnen wollte.

Ehrlich gesagt würden wir das auch gern manchmal tun. Denn wehe dem, der sich Fionas Ideen in den Weg stellt. Oder ich drücke es mal anders aus: Den Dickkopf hat sie sicher von uns beiden geerbt. Auch wenn wir nicht ganz so viel bei der Durchsetzung unserer Interessen schreien.

Aber: Wir sind die Eltern. Und damit auch immer wieder in der Rolle der Verhinderer, im-Weg-Steher, Bedenkenträger, des „Geht jetzt nicht“ oder schlicht des „Nein“. „Nicht immer Nein sagen“, ruft Fiona dann. Aber es hilft ja nix. Allein über die Straßen gehen, die Küche unter Wasser setzen oder auch noch stundenlang bauen, wenn wir zur Arbeit müssen – das alles sind nicht so richtig tolle Ideen. Und außerdem wollen wir ja auch nicht, dass Fiona zu einem kleinen Monstrum mutiert, das immer bekommt, was es gerade will.

Wille prallt auf Wille

Dumm nur, dass es am Tag gefühlte 234 Situationen gibt, in denen Wille auf Wille prallt. Die einschlägige Ratgeberliteratur hat uns einen kleinen Lichtblick beschert mit dem Tipp, Fiona vor Handlungsalternativen zu stellen, so dass sie das Gefühl bekommt, die Entscheidung selbst getroffen zu haben. Wenn sie also Freunden nicht Tschüss sagen will, schlagen wir vor, dass sie ein „Goodbye“ loslässt – und es klappt! Auch die Frage, ob sie abends lieber zuerst Zähne putzen oder den Schlafanzug anziehen will, lässt die Diskussion gar nicht erst aufkommen, ob ins Bett gehen überhaupt eine Option ist. Allerdings verknotet sich mein Gehirn bei dem Versuch, in jeder Situation interessante Alternativvorschläge zu finden. Wenn Fi sich gerade ein Glas Wasser über den Kopf schütten will – soll ich ihr dann vorschlagen, es stattdessen bei mir auszuprobieren?

Das Drama leben

Manchmal also kommt man nicht umhin, das Drama zu leben. „Nein“ zu sagen. Punktum. Und dann: Ohren zu und durch. Schreien. Weinen. Laufende Nase. Stampfen. Auch mal auf den Boden werfen. Schon mal gar nicht in den Arm nehmen lassen. Für Minuten, gefühlte Stunden. Wut ist ja auch mal ganz gut.

Aber – es gibt auch die schwachen Momente. Die, in denen man weich wie Butter ist, wie die Mädchen, die die Bank getragen haben. Es sind die Situationen, in denen Fi ihre ganze Weisungskompetenz zeigt.

Hooked on a feeling

Letztens zum Beispiel. Fiona wollte tanzen. Sie verlangte nach ihrem aktuellen Lieblingslied, „Hooked on a feeling“ von Blue Swede. Wenn das fordernde „ugachaka ugachaka“ das Wohnzimmer füllt, wissen Normen und ich schon, was wir zu tun haben: Fi stürmt die Couch, unsere Positionen sind rechts und links vor ihr. Jeder bekommt ein Kuscheltier zugewiesen. Wir hüpfen. Wir schwingen die Hüften. Wir lassen die Kuscheltiere fliegen. Und wenn der Sänger „Aaaaaah!“ ruft, werfen wir die Arme in die Luft und schließen die Augen vor lauter Inbrunst.

Ach ja. Manchmal kann nachgeben sooo schön sein!




Lachen gegen die absurden Regeln der Welt: Vor 50 Jahren starb Stan Laurel

Stan Laurel auf einem historischen Foto, um 1920.

Stan Laurel auf einem historischen Foto, um 1930.

Diese Lache wird niemand vergessen, der sie je miterlebt hat. Erst ein zufriedenes Schmunzeln, ein amüsierter Lacher, ein sich steigerndes rhythmisches Quieken, schließlich atemlos gackernde Kaskaden, Falsett-Staccato, kreischendes Kichern: Stan Laurel reißt in dem Film „Blotto“ („Angeheitert“) von 1930 nicht nur seinen Partner Oliver Hardy in den Heiterkeitssturm mit, sondern infiziert unweigerlich auch die Zuschauer.

Es ist eine der vielen unvergesslichen Szenen, die der geniale Komiker Stan Laurel hinterlassen hat. Laurel, der vor 50 Jahren, am 23. Februar 1965, in Santa Monica in Kalifornien starb, wurde vor allem als einer der Partner des legendären Duos „Laurel & Hardy“ bekannt – im deutschen Sprachraum mit „Dick und Doof“ nicht sehr glücklich bezeichnet.

In „Blotto“ – das eigentlich so etwas wie „sternhagelvoll“ heißt – ist der Rausch freilich nur eingebildet. Die beiden Herren wollten sich mit einer von Mrs. Laurel versteckt gehaltenen Flasche Likör einen lustigen Abend machen. Sie bemerkten nicht, dass die Frau von Laurel den Inhalt heimlich ausgetauscht hat. Mit den Worten „Das war kein Likör, das war kalter Tee“ beendet die angesäuerte Gattin abrupt die drei Minuten exaltierter Erheiterung.

Es gibt noch andere solcher Lach-Szenen, etwa in „Scram“ von 1932 oder in der herrlichen Parodie auf Daniel François Esprit Aubers Oper „Fra Diavolo“ von 1933. Sie reißen die Zuschauer nach dem Prinzip der Steigerung mit, aber um die Spannung in solchen wort- und handlungslosen Szenen zu halten, braucht es ein überragendes komisches Talent. Stan Laurel hatte das.

Aus englischen „Music Halls“ nach Amerika

Geboren wurde Arthur Stanley Jefferson – so der eigentliche Name – 1890 im englischen Ulverston in eine Theaterfamilie. Seine Eltern waren Schauspieler, sein Vater bespielte Theater im Norden Englands. Schon mit neun Jahren soll er zum ersten Mal auf der Bühne gestanden haben; mit 16 debütierte er in Glasgow.

Seine Welt war die der „Music Halls“, also der Varieté- und Unterhaltungstheater, in denen artistische Shows, kurzweilige Sketche und Komödien, Operetten und musikalisches Lachtheater gespielt wurden.

1910 entdeckte der amerikanische Produzent Fred Karno sein Talent und nahm ihn mit in die USA, wo er Laurel als Ersatzmann für den damals ebenfalls noch unbekannten Charlie Chaplin einsetzte. Nach Jahren in einem Komiker-Trio und auf Unterhaltungsbühnen folgte 1917 Laurels Filmdebüt. Zehn Jahre arbeitete er für verschiedene Produzenten, drehte Kurzfilme und Parodien auf erfolgreiche Kino-Hits. In dieser Zeit entwickelte Stan Laurel seinen Stil mit seinen typischen zerfahrenen Gesten und seiner ratlos-naiven Mimik, die in der schon um 1925 anlaufenden deutschen Rezeption als „doof“ missverstanden wurde.

106 Filme mit „Laurel & Hardy“

Die Begegnung mit dem Produzenten Hal Roach 1918 erwies sich als folgenreich. Zwar wirkte Laurel bis 1925 mit verschiedenen anderen Filmschaffenden zusammen. Aber bei Roach begann er mit Oliver Hardy zusammenzuarbeiten, den er zwischen 1917 und 1921 in einem Film namens „Der glückliche Hund“ erstmals als Partner vor der Kamera hatte. 1927 begann mit „Leichte Beute“ („Duck Soup“) ihre gemeinsame Karriere als Komiker-Duo.

Der Kurzfilm „Music Box“ über einen katastrophalen Klaviertransport über eine lange, steile Treppe erhielt 1932 einen Oscar als beste Kurzfilm-Komödie. Bis „Atoll K“ („Dick und Doof erben eine Insel“) von 1950 drehten die beiden 106 Filme. Laurel war alles andere als „doof“: Er war der Kopf des Duos. Während sich Hardy vor allem als Schauspieler verstand, wirkte Laurel am Drehbuch mit, schrieb Gags, führte Co-Regie und bestimmte den Schnitt mit.

Große Zeit nur bis 1940

Ihre große Zeit sollte allerdings schon 1940 mit „Saps at Sea“ („Abenteuer auf hoher See“) zu Ende sein. Laurel hatte sich mit Hal Roach entzweit; der Vertrag des Duos wurde nicht verlängert, andere Filmgesellschaften zeigten wenig Interesse. So drehten Laurel & Hardy bis 1945 nur noch neun Spielfilme. Nach dem Krieg folgten bis 1954 mehrere Bühnentourneen durch die USA und nach Europa, bis Oliver Hardys Gesundheitszustand keine Auftritte mehr ermöglichte.

Eines der letzten filmischen Dokumente zeigt die beiden genialen Komiker in Farbe: Der stark abgemagerte Hardy besucht Stan Laurel zu Hause – ein Jahr später war der fülligere der beiden Schauspieler tot. Für Laurel ein schwerer Schlag, denn er verlor nicht nur einen langjährigen Filmpartner, sondern auch einen guten Freund.

Laurel lehnte künftig Filmangebote ab. 1961 wurde er mit einem Oscar für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Er starb im Alter von 74 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts. Zu seiner künftigen Beerdigung hatte Stan Laurel schon zu Lebzeiten verfügt: „Wer es wagt, bei meiner Beerdigung zu weinen, mit dem rede ich kein Wort mehr!“

Ein Laurel & Hardy gewidmetes Museum gibt es sogar in NRW: In Solingen ist das „Laurel & Hardy Museum“ samstags von 12 bis 17 und sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet: http://www.laurel-hardy-museum.de/

Eine „offizielle“ Webseite hält die Erinnerung an das Komiker-Duo lebendig: http://www.laurel-and-hardy.com/ , und ein Archivprojekt will die Briefe Stan Laurels sammeln, auswerten und zugänglich machen: http://www.lettersfromstan.com/

In Laurels Geburtsort Ulverston erinnert ebenfalls ein Museum an den großen Sohn der Gemeinde: http://www.laurel-and-hardy.co.uk/index.php  




„Nachkriegskinder“: Das fortwährende Leiden unter den Soldatenvätern

Die Kölner Journalistin Sabine Bode (WDR, NDR) hat ganz offenkundig seit langem das Themenfeld ihres Lebens gefunden – und intensiv durchpflügt. Ihr liegen die deutschen Kriegs- und Nachkriegskindheiten am Herzen, mithin die mehr oder minder verborgenen Verheerungen, die der Zweite Weltkrieg auch noch im Seelenleben von Nachkommen der Täter angerichtet hat.

9783608980394Eines ihrer Sachbücher heißt „Nachkriegskinder“. Der bereits 2011 erschienene Band ist ein mehr als heimlicher Verkaufserfolg, er hat kürzlich bereits die sechste Auflage erreicht. Bevor man es nun weiterhin versäumt, ihn zu entdecken und zu empfehlen, bespricht man ihn lieber doch noch. Besser spät, als nie.

Tatsächlich leben ja auch noch enorm viele Menschen, die hier zumindest Bruchstücke aus ihren Biographien wiederfinden können, geht es doch laut Untertitel um „Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“.

In etlichen eingehenden Gesprächen mit Zeitzeug(inn)en hat Sabine Bode die Historie sondiert. Es zeigt sich dabei immer wieder, wie sehr die seelische Innenausstattung einer bestimmten Epoche beileibe nicht nur persönliche, sondern zu großen Teilen eine kollektive Angelegenheit ist. Da ist eine ganze Generation im Schatten vielfach tyrannischer Väter aufgewachsen, die an der Kriegsfront höchstwahrscheinlich schwerste Schuld auf sich geladen haben, aber nie davon zu sprechen wagten.

Es sind charakteristische Jahre und Sozialtypen, deren Umrisse hier auftauchen; zutiefst widersprüchliche, innerlich zerrissene Väter, verbissen, verschwiegen und im Familienkreis auf ungemein pedantische Weise herrschsüchtig. Ja, arme Teufel waren sie natürlich auch. Irgendwie.

Man hatte diesen Männern die Jugend gestohlen und sie schickten sich ihrerseits an, ihrem Nachwuchs in grässlich verdrucksten Friedenszeiten die Kindheit zu versauen und so manche Freuden auszutreiben – mit willkürlichen Prügelstrafen und aller sonstigen Gewalt, die seinerzeit wie selbstverständlich dazugehörte.

Man lese als Ergänzung nur die üblen „Erziehungs“-Ratgeber von damals, die teilweise schon aus finsteren Zeiten stammten. Demnach waren etwa Jungen zur Härte abzurichten, indem man sie schon in frühester Kindheit lange allein vor sich hin schreien ließ. Man liest es heute noch mit kaltem Zorn.

Von manchen Vorfällen weiß ich auch selbst zu sagen, wie so viele andere Gleichaltrige: Mein Vater hatte sich als 17jähriger freiwillig an die russische Front gemeldet. Was er in und um Smolensk getan hat, blieb für mich allzeit im Dunkeln. Gegen Ende seines Lebens haben ihn die schrecklichen „Stahlgewitter“ noch einmal merklich durchzittert.

Eine abstruse Wutfigur, die ganz ähnlich auch in Sabine Bodes Buch vorkommt, war jene abgründig aggressive Spielart seines nachträglichen „Pazifismus“. Im Originalton hörte sich das so an: „Wenn du zur Bundeswehr gehst, schlag’ ich dich tot.“ Wortwörtlicher Wahnwitz. Andererseits erstaunlich, wie wenig Fotos und Dokumente aus seiner Soldatenzeit vorliegen. Was hat er verloren, was hat er vernichtet?

Im Buch wird übrigens eine Behörden-Quelle genannt, bei der man womöglich nähere Einzelheiten über die Kriegseinsätze der Väter erfahren kann, nämlich die Wehrmachtsauskunftsstelle WASt. Wer will, ziehe Erkundigungen ein.

Sabine Bode, selbst vom Jahrgang 1947, hat sich derart einlässlich in ihre Themen vertieft, dass sie als gute Zuhörerin weit über bloße Betroffenheitsliteratur hinaus gelangt. Hier wird sichtbar, was eine Generation überhaupt ausmacht. Viele Kinder reagierten insgeheim mit schmerzlichen Selbstvorwürfen auf das Geheimleben ihrer Väter, während die Mütter meist wegsahen und sich in Verdrängung oder Beschwichtigung übten. Sie kümmerten sich halt ums Alltägliche.

Welch eine stickige, verlogene, verbogene Zeit – diese 50er Jahre. Und welch unerlöste Lebensläufe zuhauf. Wie überaus harmlos muten hingegen spätere Altersgruppierungen wie etwa die „Generation Golf“ an.

Es mag stimmen, dass im Zuschnitt der Nachkriegsgeneration auch Erklärungsansätze für das Phänomen der fast durchweg links gewendeten Nach-„68er“ liegen.

Allerdings erhebt sich auch die Frage, wie wir damit umgegangen wären, hätten wir von unseren Vätern direkt und unverblümt die volle Wucht der Wahrheit erfahren, hätten wir also konkret von Erschießungen oder Vergewaltigungen gehört. Vielleicht wollten wir – im Vollgefühl moralischer Überlegenheit – nur halbwegs hartnäckig gefragt haben, aber dann lieber doch nicht alles wissen? Hätten wir als Kinder von Mördern Frieden mit unseren Eltern und mit uns selbst schließen können? Die ganze Republik wäre eine andere gewesen…

Es klingt plausibel, dass die Nachkriegskinder oft erst im höheren Alter gleichsam hinterrücks noch einmal von den Lebensdramen ihrer Eltern eingeholt werden. Sie haben sich eingeredet, dass man als Erwachsener irgendwann mit seinen Altvorderen im Reinen zu sein hat. Doch weit gefehlt.

Sabine Bode: „Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“. Verlag Klett-Cotta, 302 Seiten. 19,95 Euro.




Guten Rutsch…

Alles Gute zum neuen Jahr

wünscht das Team der Revierpassagen

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)




Der Hochstapler, der die Nazis hasste – Jan Zweyers Roman „Eine brillante Masche“

Er besaß zweifelsohne ein hohes Maß an krimineller Energie, trat wechselweise unter sieben verschiedenen Namen auf, vor Gericht versuchte er aber dann den Biedermann oder gar den Helfer in der Not zu geben. Die Rede ist von Johann Bos, dem der Journalist und Schriftsteller Jan Zweyer sein neues Buch widmet.

Zweyer erzählt – nach wahren Begebenheiten – die Geschichte eines ausgebufften Betrügers, der in den Wirren der ersten Nachkriegsjahre „Eine brillante Masche“ (So der Titel des Buches) fand, um sich zu bereichern. Bos hatte es auf die engsten Angehörigen von Nazi-Funktionären abgesehen, die noch in Haft saßen. Der größte Wunsch der Familien bestand natürlich darin, ihre Männer oder Väter wieder frei zu bekommen. Da klammerte man sich an jeden Strohhalm und fiel auf Leute wie Bos schnell herein, dem es immer wieder gelang, sich das Vertrauen der Verwandten zu erschleichen und sie um große Mengen an Schmuck zu erleichtern.

zweyer

Er gaukelte den Leuten vor, durch diese „Vorkasse“ bei Aufsehern oder Führungskräften von Gefängnissen die Freilassung erwirken zu können. Dazu erfand er glaubhafte Geschichten zu seiner eigenen Person, stellte sich als Kripobeamter oder einflussreicher Industrieller vor. Er  hatte sich zuvor im Umfeld der späteren Opfer umgehört.

Die Kripo war zwar hinter ihm her, aber es kam dem Gesuchten anfangs sicherlich zugute, dass es im Polizeisystem um den Austausch an Informationen – beispielsweise über seine Aufenthaltsorte – nicht zum allerbesten bestellt war. Aber selbst, wen man ihn verhaftet hatte, was mehrfach geschah, sollte es dem wendigen Bos gelingen, aus dem Knast zu türmen.

Doch im Januar 1948 war dann das Spiel endgültig vorbei, der Mann hatte es offensichtlich zu weit getrieben. Handel mit gefälschtem Schmuck war es unter anderem, der die Polizei auf die Fährte von Johann Bos brachte. In der Anklageschrift war die Rede von Diebstahl,  vollendetem Betrug in 45 und versuchtem Betrug in 20 Fällen. Auch Beamtenbestechung und Urkundenfälschung wurden ihm vorgeworfen.

Schon die Lebensgeschichte dieses Draufgängers, der neben seiner Frau noch zwei Verlobte hatte, ist fesselnd, spannend und unterhaltsam zugleich. Durch die Art und Weise, wie der Autor die Biographie des gebürtigen Osnabrückers aufbereitet hat, wird aus dem Buch ein Lesestoff, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte. Zweyer hat nicht nur Gerichtsakten studiert, sondern vor allem auch die Presseberichte zu dem Prozess vor dem Arnsberger Landgericht im Jahr 1950 zur Hand genommen. Dadurch gelingt es ihm, das Bild eines äußerst zwiespältigen Menschen zu zeichnen: Während der Metzgerlehre bestiehlt er seinen Chef mehrfach, bis der ihn schließlich rauswirft, dagegen erweist er sich später als vertrauenswürdiger und liebevoller Vater.

Mit dem geklauten Geld hat er sich übrigens den ersten Besuch in einem Stripteaselokal finanziert. Als ihn während des NS-Regimes der Gestapo-Mann im KZ verschwinden lässt, den er beim Schäferstündchen mit seiner Frau erwischt hatte, bleibt seine Rolle im Konzentrationslager im Ungefähren. Dass er dort aber nicht zu den Tätern gewechselt ist, wie er später beteuert, mag man ihm schon glauben. Das Arnsberger Gericht versucht er auch davon zu überzeugen, dass er – bei allen seinen menschlichen Schwächen – doch eigentlich ein gutes Herz hatte. Nachprüfen ließ sich seine Beweisführung zum Zeitpunkt der Verhandlung nur nicht mehr, denn da waren die Lebensmittel, die er Mitmenschen gespendet oder an Kinderheime verteilt haben will, wohl schon längst verspeist gewesen sein.

Offen ließ es Bos, wo er sein ergaunertes Geld versteckt hatte, sofern überhaupt noch etwas vorhanden war. Für das Motiv seiner Taten legte er ein klares Bekenntnis ab: Er mochte die Nazis nicht leiden und „die meisten, die in den Internierungslagern sitzen, sind dort völlig zu Recht“.

Wenn der Leser am Ende des Buches erfährt, dass nicht alles, was er über Johann Bos erfahren hat, den Tatsachen entspricht, sondern vielmehr der Autor sich hier und da auch schriftstellerische Freiheiten gegönnt hat, ist das dem Band nicht abträglich. Im Gegenteil. So ist es wirklich spannend, sich mit einer solch schillernden Persönlichkeit zu befassen, wobei sich schon die Frage stellt, warum man so wenig über Johann Bos weiß, der auch in Städten wie Hagen und Herne sein Unwesen trieb.

Jan Zweyer: „Eine brillante Masche – Die fast wahre Geschichte eines Lügners“. Roman. Grafit Verlag, Dortmund, 221 Seiten, 9,99 Euro.