Kommissar, Derrick und finstere Zeit: Herbert Reinecker vor 100 Jahren in Hagen geboren

Herbert Reinecker im Jahr 1995. Foto: ZDF/Hermann Roth

Herbert Reinecker im Jahr 1995. Foto: ZDF/Hermann Roth

Jeder kennt ihn, wenn vielleicht auch nicht bewusst: Herbert Reinecker gehört zu den erfolgreichsten Drehbuchschreibern des deutschen Nachkriegsfernsehens. Er ist der Schöpfer von Figuren, die Fernsehgeschichte gemacht haben: „Der Kommissar“ und „Derrick“. Zwischen 1952 und 1958 schrieb er rund fünfzig Filmdrehbücher: Für „Canaris“ bekam er 1955 das Filmband in Gold.

Aber Herbert Reinecker ist nicht nur der Grandseigneur der bundesrepublikanischen Filmunterhaltung. Er hat seine Karriere im Deutschland Adolf Hitlers begonnen und bis April 1945 für die nationalsozialistische Propaganda gearbeitet – als Journalist, Theaterdramatiker und Filmautor. Das Buch „Reineckerland“ beschreibt die Karriere des Autors detailliert und zeigt auch, wie Reinecker die alten Nazi-Verbindungen geholfen haben, in der jungen Republik Karriere zu machen.

Anders als etwa sein Derrick-Hauptdarsteller Horst Tappert, aber auch anders als spätere „moralische“ Größen in der Bundesrepublik wie Günter Grass hat Reinecker aus seiner Vergangenheit nie ein Hehl gemacht. Der Sohn eines Eisenbahners aus Hagen in Westfalen, geboren am 24. Dezember 1914, aufgewachsen in schlichten Verhältnissen, macht 1934 das Abitur und greift zu dem, was ihm die „neue Zeit“ bietet: Nach Anfängen bei der lokalen Zeitung redigiert er eine Jugendzeitschrift und macht das so gut, dass er nach Berlin geholt wird.

Mit der SS in den Krieg

1940 zieht er mit der SS als Berichterstatter in den Krieg. Noch im April 1945 schreibt er für „Das schwarze Korps“. Sein Schauspiel „Das Dorf bei Odessa“ ist das erfolgreichste seiner vier Dramen: Die Nazis sahen in Reinecker einen kommenden Vertreter ihrer Bühnenkunst. Mit „Junge Adler“ (1944) schreibt er das Buch zu einem Film, der neben „Hitlerjunge Quex“ der wohl wichtigste Jugend-Propagandafilm der NS-Zeit wurde.

Eine der erfolgreichsten Figuren Herbert Reineckers: Kommissar Keller (Erik Ode). Foto: ZDF/Neue Münchner Filmproduktion

Eine der erfolgreichsten Figuren Herbert Reineckers: Kommissar Keller (Erik Ode). Foto: ZDF/Neue Münchner Filmproduktion

Nicht zuletzt durch die Unterstützung alter NS-Kameraden wie Alfred Weidenmann schafft es Reinecker, sich Anfang der fünfziger Jahre als Drehbuchschreiber für den Film und das junge Fernsehen zu etablieren. Sein erstes Fernsehstück „Abteilung für Notwohnung“ schreibt er 1953. Da hatte er schon mit „Weg in die Freiheit“ ein wichtiges Filmdrehbuch an den Mann gebracht.

Fortan gehörte er zu den vielbeschäftigten Schreibern im deutschen Film. Im Interview erinnert sich Reinecker an seine Auszeichnung für „Canaris“; „Als mir der Innenminister den Preis überreicht hat, hab ich zu Alfred Weidenmann gesagt, du, ich glaube, jetzt gehören wir wieder dazu. Dann ging’s los mit vielen, vielen Spielfilmen.“

Moral, Disziplin, Pünktlichkeit: So beschreibt Martin Betz in einem Portrait Reineckers Erfolgsgrundlagen. Dazu kommen ein Blick für die Stoffe, ein Gefühl für die Zeit und für das spannende Erzählen, eine ungeheure Erfahrung.

Ob „Anastasia, die letzte Zarentochter“ oder der Kriegsfilm „Stern von Afrika“, ob „Die Trapp-Familie in Amerika“ oder Edgar Wallaces „Der Hexer“: Reinecker konstruierte seine Handlungen stets übersichtlich, dramaturgisch zielsicher und – wenn irgend möglich – mit einem Blick auf die Moral einer Story, die sich nicht in der bloßen Handlung erschöpft.

Schuld und Sühne als wiederkehrende Themen

Szene aus der Derrick-Folge "Das absolute Ende": Derrick (Horst Tappert) und Klein (Fritz Wepper) erleben eine böse Überraschung. Foto: ZDF/Michael Ewerbeck

Szene aus der Derrick-Folge „Das absolute Ende“: Derrick (Horst Tappert) und Klein (Fritz Wepper) erleben eine böse Überraschung. Foto: ZDF/Michael Ewerbeck

Das zeigt sich wohl am deutlichsten in seinen großen Krimi-Serien. 97 Folgen schrieb Reinecker zwischen 1968 und 1976 für „Der Kommissar, 281 Mal ließ er zwischen 1973 und 1997 den einsamen Jäger Stephan Derrick auf Verbrechersuche gehen.

Schuld und Sühne sind immer wiederkehrende Themen. Die Frage nach dem Bösen im Menschen treibt Reinecker um: Wie wird ein Mensch zum Verbrecher? „Herzlich willkommen beim Jüngsten Gericht“ heißt ein Buch, das Reinecker fünf Jahre vor seinem Tod im Jahr 2002 vorlegte. „Was könnten wir sagen, um vor dem höchsten aller denkbaren Gerichte bestehen zu können?“, fragt sich darin ein Bühnenautor. Es gehöre nicht viel Phantasie dazu, in dem Bühnenautor ein Alter ego Herbert Reineckers zu erkennen, meinte Michael Seewald in der FAZ dazu.

Unabhängig von der Frage nach möglicher eigener Schuld, die sich der willige Mittäter öffentlich nie gestellt hat, schienen Reinecker solche Fragen nicht losgelassen zu haben. Schuldhafte Verstrickungen gehören zu seinen Hauptmotiven, auch wenn er von sich selbst rechtfertigend sagt, er habe sich die Zeit und die Verhältnisse nicht ausgesucht. Der Frage nach der Moral stellte er sich in seinem Leben freilich immer wieder.

Als Hochbetagter war er der Überzeugung, die Welt rolle der Apokalypse entgegen. Vielleicht hat er in seinen Kriminalgeschichten – von so manchem als „moralinsauer“ missgedeutet – versucht, sich dem „dunklen Kern“ im Menschen, in der Geschichte mit dem verzweifelten Blick auf eine gefährdete Humanität zu nähern. In den Depressionen seines Alters, so sagte der 2007 verstorbene Reinecker einmal in einem Interview, träume er in ruhelosen Nächten „vom Krieg, nur noch vom Krieg“.




Und schon wieder ist ein Großer gestorben: Joe Cocker goes „Up Where We Belong“

Ehrlich gesagt, die augenblickliche Mortalitätsrate meiner musikalischen Helden von einst empfinde ich derzeit als unangenehm hoch. Obwohl Joe Cocker, als Auge und Ohr meiner Person damals mit ihm in Kontakt gerieten, für mich eindeutig ein Kandidat zum unmittelbar bevorstehenden Eintritt in den Club der 27-er war, die eben so jung sterben.

Aber der liebenswerte Zappelphilipp mit dem unvergleichlichen Whiskey-Organ blieb stabil, überlebte Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrisson, Kurt Cobain, Amy Winehouse und Alexandra. Nur dem Lungenkrebs hielt seine erstaunliche Konstitution nicht stand. Der Star mit dem britischen Blues, an dessen Stimme kaum ein anderer reichte, der Held von Woodstock raspelt seine Riffs nun nicht mehr begleitet vom zupfenden Trema der Finger, die eine Luftgitarre spielten, als die noch unbekannt war. Joe Cocker starb im Alter von 70 Jahren auf seiner Ranch in Colorado.

Joe Cocker 1969 in Woodstock (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=bRzKUVjHkGk)

Joe Cocker 1969 in Woodstock (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=bRzKUVjHkGk)

„Vance Arnold and the Avengers“ hieß die Band, deren Frontman er war, wenn er nach einem langen Arbeitstag als Gasinstallateur die verrauchten Kneipen Sheffields überhitzte. Einmal, 1963 war’s, durften die Jungs aus der englischen Industriemetropole sogar platzend vor Stolz als Vorgruppe für die „Stones“ auf die Bühne. Aber den Raketenstart legte Joe Cocker hin, als er „With A Little Help From My Friends“ von den Beatles coverte. Nie zuvor und nie wieder später interpretierte ein Sänger dieses Lied so eindringlich und virtuos wie Joe (Ringo Starr wird mir diese Feststellung verzeihen).

Auch in Woodstock strahlte sein Stern über alle, und das waren damals, 1969, die Besten der Größten. Ein schmaler Junge, der schon fast so alt wirkte wie er einmal werden sollte (nur die Fülle der Haare verriet seine Jugend), ein fast zerbrechlich erscheinender Jüngling barst los, füllte mit einer einzigartigen Stimmgewalt die zerregnete Festivalwiese und ließ jede Sekunde seines Auftrittes die Besucher an seinen Lippen hängen.

Nach Woodstock und dem folgenden Stargerumpel um den Plumber (engl.: Installateur) aus Sheffield kam postwendend der Absturz. Joe Cocker kippte und rauchte in seinen Körper hinein alles, was berauschend zeitgemäß war, er betrieb Raubbau an seiner Physis und seinem Talent, war hilflos eigensüchtigen und gierigen Beratern ausgeliefert. „Wenn du erst mal in dieser Abwärtsspirale bist, dann ist es schwierig, da wieder rauszukommen. Ich brauchte Jahre, das zu schaffen“, erzählte er in einem Interview der „Daily Mail“.

Er brauchte Jahre, so viele Jahre, dass ich beinahe vergessen hätte, dass er noch am Leben war. Diese Zeit und eine Frau namens Pam Baker, die er später heiraten sollte, brauchte er, um sich gegen die Abwärtsspirale zu stemmen. Und gemeinsam schafften sie das auch.

„Geh‘ mal in ‚Officer And Gentleman'“, riet mir ein Freund damals. „Und wenn’s nur wegen des Soundtracks ist.“ Ich ging und sah mir die weinerlich-romantische Story mit dem jungen Richard Gere und Debra Winger an. Aber beide waren vergessen, wenn Joe Cocker mit Jennifer Warnes „Up Where We Belong“ anstimmten. Nicht der Plot des Filmes, sondern Joe’s künstlerische Auferstehung trieb mir Tränen in die Augen.

Ja, er war wieder da, voll da. „When The Night Comes“, „N’oubliez jamais“, „Unchain My Heart“ – nur ein paar der Comeback-Hits. Und es schien (mir zumindest), als wäre seine Stimme mit jedem Mal besser geworden. 40 Alben eines Fieberkurvendaseins im Haifischbecken des Showgeschäftes zeugen von Pam Bakers felsenfester Überzeugung, dass die Menschen Joe Cocker wieder und wieder hören wollten. Eine Überzeugung, die sie liebevoll auf ihn übertragen hatte. 2012 erschien mit „Fire It Up“ das letzte Cocker-Werk. Und es ist nicht lange her, da kündigte er noch an, im kommenden Jahr eine neue Produktion folgen zu lassen.

Da holte ihn jedoch der unbarmherzig ablaufende Sand des Uhrenglases ein. Bye, Joe!

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Zur Ergänzung: ein Cocker-Porträt von Klaus Schürholz.




Leben im Wildwuchs der Lektüren: Ulrich Raulff blickt in die 1970er Jahre zurück

Leicht kommen einem die eigenen Jugendjahre mitsamt den Zwanzigern wie die allerbesten Abschnitte der Geschichte vor. Das waren noch Zeiten. Da fühlte man sich noch (gelegentlich) kraftvoll und schier unverwundbar. Und wie man von Tag zu Tag immer klüger wurde, wie man allen die Stirn bieten wollte…

In solchem Sinne, wenn auch mit nachträglicher Skepsis ausbalanciert, hat Ulrich Raulff jetzt Bruchstücke seiner intellektuellen Autobiographie vorgelegt. Ein weiteres Beispiel fürs Genre „Wenn Großvater erzählt“?

Der 1950 in Meinerzhagen geborene Raulff hat seine historischen und philosophischen Studien vornehmlich in Marburg, Frankfurt und Paris betrieben, sich aber auch in Berlin, England, Italien und den USA umgetan. Man darf da wohl einen gutbürgerlichen Familienhintergrund mit entsprechendem Selbstbewusstsein vermuten.

Raulff

Jedenfalls hat Raulff etwas aus sich gemacht: Er war zeitweise Feuilletonchef der FAZ sowie leitender Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und ist schließlich 2004 Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach geworden. Alles vom Feinsten.

In dem Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern“ erzählt er nun vornehmlich von seinen studentischen Lehr- und Wanderjahren. Der „Nach-68er“ Raulff, der somit an der vermeintlich großen Rebellion nicht beteiligt war, schildert die frühen 70er Jahre als Zeit des überaus heiligen Ernstes aus dem allmählich versiegenden Geiste marxistischer Strömungen und Grüppchen. Welch eine Rechthaberei herrschte da! Wie war man im Gehege des Zeitgeistes gefangen! In so mancher festgefahrenen Debatte ward den Sensibleren unbehaglich zumute. Hier drohte der Absturz ins Kleinbürgerliche, dort das Elend der Polit- und Psychosekten.

Ulrich Raulff beschreibt die vielen, vielen langen Tage, die er in den schönsten und ergiebigsten Bibliotheken verbracht hat. Er selbst baute an der Uni regelmäßig einen Büchertisch auf. Auch die erotische Neigung zu zartsinnigen Mädchen scheint sich allemal durch gehabte oder ersehnte Lektüren angebahnt zu haben. Büchereien, so lernen wir abermals, sind nicht zuletzt Stätten eines im weitesten Sinne erotischen Begehrens. Das Leben und das Lesen waren also nahezu eins.

Als große Befreiung hat der junge Mann es erlebt, im Paris der mittleren und späten 70er Jahre in ein ganz anderes intellektuelles Klima einzutauchen als vormals in Marburg, wo etwa Wolfgang Abendroth das Sagen hatte. In Frankreich waren es die großen Zeiten von Roland Barthes und Michel Foucault. Glückhafter Umstand für die weiteren Jahre: Von Foucault hielt Raulff alsbald ein Empfehlungsschreiben in den Händen, das seinerzeit in Paris und eigentlich weltweit alle Türen der Geisteswelt öffnete. Er und ein Freund hatten sich einfach getraut, den großen Meister anzusprechen…

Der Strukturalismus und seine Vernunftkritik, die etwas später als Import in Deutschland anlangten, erwiesen sich für Raulff als Vademecum gegen den bis dato stramm links dominierten Diskurs. Ideologische Spurwechsel wurden damals vielfach vollzogen. Vom „Auszug aus der Suhrkamp-Kultur“ ist bei Raulff die frohe Rede. Als weiterer Zweig des Bedenkenswerten kam u. a. Aby Warburgs und Erwin Panofskys Ikonologie (Lehre von den Bildern) hinzu, deren Impulse im deutschen Sprachraum von Denkern wie Klaus Theweleit und Ausstellungsmachern wie Harald Szeemann aufgenommen wurden.

Noch heute zeigt sich Raulff so beseelt von jener Zeit, dass er sich vielfach in Einzelheiten verliert. Der Punk kam damals auf und Raulff war Mitbegründer einer eher randständigen Zeitschrift namens „Tumult“. Man vernimmt hie und da Gestus und Duktus eines weltläufigen „Ich war dabei“, doch behält all das einen gewissen Charme und gerät nirgendwo zum Auftrumpfen. Gegen die Gefahren eines Bildungsphilistertums ist Raulff offenbar gefeit.

Auch kann man wahrlich die Wehmut nachvollziehen, mit der Raulff die schweifenden, wildwüchsigen Lektüren beschwört, deren Früchte sich in Zettel- und Karteikästen statt in Computer-Dateien ergossen haben. Jeder Lesende war sozusagen seine eigene Suchmaschine.

Wer damals (wenngleich begrenzter und glanzloser) ebenfalls studiert hat, kann zudem einigen geistigen Signaturen jener Jahre nachspüren, die einen selbst – so oder so – berührt haben. Auch in diesem Sinne sind Raulffs Erinnerungen ein aufschlussreiches Dokument der „Jahre, die ihr kennt“.

Ulrich Raulff: „Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens“. Klett-Cotta. 170 Seiten. 17,95 Euro.




Neue Horizonte im Damals: Botho Strauß‘ autobiographisches Buch „Herkunft“

Das hätte man nicht unbedingt erwartet: dass der hochmögende Zeit- und Zeichendeuter Botho Strauß (Jahrgang 1944) Teile seiner eigenen Lebensgeschichte quasi bis ins Anekdotische auffächert. Doch er greift ja auch weit darüber hinaus.

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Gewiss, es ist beileibe keine literarische Qualitätsaussage, doch ist „Herkunft“ seit langem das zugänglichste Buch von Strauß, wunderbar frei von etwaigen Verstiegenheiten. Vor allem aber ist es – auf gerade mal 96 Seiten – ungemein verdichtet: Man möchte Absatz um Absatz aus dieser Fülle zitieren.

Es schwant einem schon, wie Germanisten und Rezensenten ab sofort seinem neuen Text „Herkunft“ biographische Details entnehmen und dieselben auf seine erzählende Prosa, auf Essays und Theaterstücke beziehen werden. Tatsächlich dürfte es da etliche Verbindungslinien geben. Doch ach, wer wollte da deutelnd zu Werke gehen, wenn schon dem Autor selbst die eigene Vergangenheit auch ein Mysterium ist?

Ausgangspunkt ist Strauß’ anwachsendes Empfinden, die eigene Herkunft und besonders sein Vater hätten ihn weitaus mehr geprägt als ehedem gedacht. Sehnsüchtig gedenkt er der starken, führenden Hand, die ihm der Vater gereicht hat. Und also erinnert sich Botho Strauß streckenweise geradezu liebevoll an die Lebenswelt seiner Kindheit (mit ihren „bergenden Zeremonien“) und frühen Jugend.

Der schon im Ersten Weltkrieg verwundete Vater entwickelte, vorwiegend in Heimarbeit, neue Medikamente für die Pharma-Industrie. Er hielt sehr auf äußere Korrektheit, offenbar war ihm eine abweisend stolze Eleganz eigen, die sich auch sprachlich verwirklicht haben muss. Larifari gab es da nicht.

Man denkt dabei an den Schriftsteller Botho Strauß, der sich seit Jahrzehnten konsequent dem Literaturbetrieb und der medialen Aufregung zu entziehen sucht. Sein Vater muss wohl etwas entschieden Vorbildhaftes gehabt haben; einer, zu dem ein Sohn aufschauen konnte. Umso tiefer und anrührender erscheinen dann in den verschiedenen Lebensphasen die freudigen Momente: das erste eigene Fahrrad; die Erkenntnis, dass der gestrenge Vater einen Text von Brecht gelten ließ…

Nach der Übersiedlung aus Naumburg/Thüringen lebte die Familie in Remscheid und dann ab 1954 in Bad Ems an der Lahn (nicht weit von Koblenz), wo früher einmal Wagner, Dostojewski und Chopin Erholung in der Sommerfrische suchten. Hernach aber war es auch so ein westdeutscher Provinzort, wie sie immer wieder in der neueren und neuesten deutschen Literatur aufscheinen, zumal in den Ausprägungen der Nachkriegszeit – ob nun bei Peter Kurzeck, Andreas Maier oder auch Gerhard Henschel und Klaus Modick. Mitunter will es scheinen, als seien solche Orte literarisch mindestens ebenso ergiebig wie diese oder jene Metropole.

Natürlich bleibt es nicht bei all den anschaulichen Einzelheiten und Begebenheiten aus den 50er und frühen 60er Jahren. Strauß bemerkt, wie mit dem eigenen Altern das „Damals“ überhaupt immer gewichtiger wird, wie etwa jene Nachkriegsstrenge auf Dauer einen festeren Boden des Daseins abgebe, als jede neue geistige „Landnahme“. Wer sich dem „Einstweh“ ergibt, könne sogar ungeahntes Neuland erblicken. Zitat: „Die Erweiterung eines Horizonts besteht nicht selten darin, daß sich einem das Gewesene öffnet.“

Als es gilt, die elterliche Wohnung für immer aufzulösen, kommt es zu einem solchen Vergangenheitsschub: Bestürzend nahe rückt dem Sohn das Damalige, welches das Ureigene enthält – wie letztlich in jedem Lebenslauf. Zunehmend zeigen sich jene sich jene „zeugenden Bilder, die Stammzellen sind eines bestimmten Sehens, Empfindens, Begreifens.“

Restlos „aufklären“ und verstehen lassen sich diese Bilder allerdings nicht, so dass Strauß befindet, man müsse ohnehin über bloßes Wissen und schnöde Klugheit hinaus gelangen, sich hingegen lieber einmal vom Damals überwältigen lassen – eine Denkfigur, die auch sonst innig zur Straußschen Sphäre gehört. Man ahnt allenthalben, wie sehr er sich mit diesem Buch auf seinem Pfad bewegt.

Zugleich erweist sich der Blick in die eigene Vergangenheit als befreiende Möglichkeit, sich noch einmal so unschuldig und altklug zu fühlen wie einst. Es war eine Zeit vor den Enttäuschungen, vor allem nachträglichen und ach so billigen „Besserwissen“…

Botho Strauß: „Herkunft“. Hanser Verlag. 96 Seiten. 14,90 Euro.




Erfinder des Saxophons: Vor 200 Jahren wurde Adolphe Sax geboren

Ein Glück, dass die Welt in diesem Fall nicht auf den Papst gehört hat: Im Jahre 1903 erreichten Pius X. alarmierende Nachrichten vom Eindringen eines neuen Instruments in die geistliche Musik. Umgehend verbot er das Ding, das den Namen seines Erfinders Adolphe Sax trug. Bis heute sei der Bann nicht gelöst, heißt es. Aufgehalten hat der Heilige Vater den Siegeszug des Saxophons dennoch nicht. Bisweilen erklingt es wieder in Kirchen: wenn ein Organist etwa einen Saxophonspieler einlädt, mit ihm ein Konzert zu gestalten. Niemand wird deswegen noch eine Meldung nach Rom senden.

Adolphe Sax auf einer historischen Fotografie.

Adolphe Sax auf einer historischen Fotografie.

Der Erfinder des Instruments, Adolphe – eigentlich Antoine Joseph – Sax wurde vor 200 Jahren, am 6. November 1814, in Belgien geboren. Seine Heimatstadt Dinant an der Maas pflegt bis heute liebevoll sein Andenken: Das Jubiläumsjahr ist gefüllt mit Konzerten und Veranstaltungen, eine vier Tonnen schwere gläserne Wasseruhr in Form eines Saxophons schlägt bis zum Jubiläums-Geburtstag im Hof des Rathauses von Dinant. In Brüssel, wohin Sax mit seiner Familie noch im ersten Lebensjahr umzog, erinnert eine Ausstellung „Sax200“ bis 11. Januar 2015 an den genialen Erfinder und Instrumentenbauer. Sogar ein „Adolphe Sax Bier“ wird in Belgien gebraut.

Dabei hatten es weder Sax noch die nach ihm benannte Instrumentenfamilie leicht. In Kindheit und Jugend schien ein böses Geschick entschlossen, sein Überleben zu verhindern: Sax stürzte eine Treppe hinab, verschluckte eine Nadel, trank mit Schwefelsäure vergiftetes Wasser, erlitt bei einer Explosion Verbrennungen und wäre fast ertrunken. Später überlebte er Mordanschläge seiner Konkurrenten, Überfälle auf seine Werkstatt und eine schwere Krebserkrankung. Kein leichtes Leben, aber Sax lebte es zäh, ausdauernd und zielstrebig.

Der Vater arbeitete als Kunsttischler und eröffnete 1815 in Brüssel eine Werkstatt für Instrumentenbau. Sein Sohn – eines von elf Kindern – lernte das Handwerk von der Pike auf, studierte aber auch am Konservatorium Flöte und Klarinette. Letztere war das erste „Opfer“ seiner Erfindungsgabe, denn Sax verbesserte die Bassklarinette (später auch die Klarinette) und ließ sich mit 24 Jahren darauf ein Patent ausstellen. Es sollte das erste von 46 Patenten sein. Dasjenige auf die Familie der acht Saxophone, 1846 erworben, war nur das prominenteste. Andere betrafen Instrumente wie das Horn oder die Tuba – oder auch Tonsignale für die Eisenbahn.

Alte Saxophone sind kostbar und geben Einblick in Klang und Spieltechnik früherer Zeiten. Foto: Pixabay

Alte Saxophone sind kostbar und geben Einblick in Klang und Spieltechnik früherer Zeiten. Foto: Pixabay

Sax hatte einen Plan, den er zielstrebig umsetzte: Er wollte für das Militär ein Blasinstrument entwickeln, das dem Klang von Streichinstrumenten nahe kam, aber mehr Kraft und Intensität im Ton haben sollte. Damit wollte er bei der anstehenden Reform der französischen Militärmusik eine entscheidende – und für ihn wirtschaftlich segensreiche – Rolle spielen. Kein Wunder, dass er auf den entschlossenen und teilweise gewalttätigen Widerstand der gesamten Front der Pariser Instrumentenbauer stieß. Sie nutzten jedes Mittel, um Sax außer Gefecht zu setzen, überzogen ihn mit Prozessen, strebten eine Annullierung seiner Patente an, warben seine Arbeiter ab, brannten die Werkstatt nieder und sollen ihm sogar zwei Mal nach dem Leben getrachtet haben.

Sax hatte jedoch einen guten Schutzengel, mehr noch: Bei einem Wettbewerb 1845 gab es eine Schlacht der Instrumente auf dem Pariser Marsfeld. 25.000 Zuschauer sollen dabei gewesen sein, als das Saxophon-Orchester Adolphes über die mit traditionellen Blasinstrumenten wie Oboen, Hörnern und Fagotten angetretene gegnerische Formation einen lautstarken und überwältigenden Sieg errang. Fortan gehörte das Saxophon zur Ausrüstung der französischen Militärkapellen.

In der klassischen Musik fand es in den Komponisten der Zeit neugierige Befürworter. 1841 stellte Sax das erste Exemplar, ein Bass-Saxophon, auf der Brüsseler Industrieausstellung vor. Wohlweislich spielte er es hinter einem Vorhang, damit niemand seine Idee stehlen konnte. Ein Jahr später ging er mit einem Sopran-Saxophon ausgerüstet nach Paris; Hector Berlioz lernte das Instrument kennen, schrieb einen begeisterten Artikel und verwendete es 1844 in seiner im Original leider verlorenen „Hymne sacrée“.

Andere Komponisten folgten: von Georges Bizet bis Maurice Ravel reicht die Liste; letzterer vertraute dem exotisch anmutenden Klang des Saxophons eine prominente Rolle etwa in seinem „Boléro“ oder in seiner Bearbeitung von Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ an. Heute ist das Instrument aus der zeitgenössischen Musik nicht mehr wegzudenken. Es gibt sogar Ensembles wie das Raschèr Saxophone Quartet, das nicht nur neue Stücke spielt, sondern schon mal Bachs „Kunst der Fuge“ auf vier Saxophonen klanglich ungewohntes Leben einhaucht.

Sigurd Raschèr, der Gründer des Ensembles, 1907 in Elberfeld geboren, wurde 1933 aus Deutschland hinausgeekelt – doch es gelang den Nazis nicht, das „schmutzige“ Instrument, ein Symbol auch sexuell geprägter Leidenschaft, aus der Musik zu verbannen. Ein alter Musiker, der vor dem Krieg in den legendären Hotel-Tanzkapellen spielte, hat mir einmal berichtet, dass er sich als Klarinetten-Student am Konservatorium nicht erwischen lassen durfte, wenn er zum Saxophon griff, um sich in einer Band ein wenig Geld mit Tanzmusik zu verdienen. Das waren streng verbotene Abwege!

Doch damals hatte das Saxophon längst sein eigentliche Domäne erobert: die Jazz- und Swing-Musik des 20. Jahrhunderts. Zwischen den alten Jazzern und dem goldschimmernden Rohr zündete eine Liebe auf den ersten Blick. Was wäre der Jazz ohne das Saxophon eines Sidney Bechet, eines Charlie Parker, eines Coleman Hawkins? Was wäre die Tanzmusik der Zwanziger ohne die Saxophone von Duke Ellington? Was der ironische Schlager aus der Weimarer Zeit, der Berliner Swing oder die schmeichelnden karibischen Klänge der Lecuona Cuban Boys? Selbst in den Operetten der „goldenen“ Zwanziger, ob in Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ oder in Eduard Künnekes „Vetter aus Dingsda“, gehören Saxophone zur Original-Instrumentierung.

Diese Zeit hat Adolphe Sax nicht mehr erlebt: Er starb 1874, nach dem dritten und endgültigen Bankrott seiner Firma, verarmt und einsam in Paris und wurde auf dem Friedhof von Montmartre begraben. Sein Geburtshaus in Dinant steht nicht mehr, aber in der Rue Adolphe Sax 37 zeigt man die Stelle, an der es einst gestanden hat. Der Firmen-Name lebt weiter: Der Belgier Karel Goetghebeur ließ sich den Namen „Adolphe Sax & Cie“ schützen und belebte die Produktion von Saxophonen in Belgien neu. Seine Werkstatt in Brügge baut Instrumente nach Vorbildern aus den vierziger Jahren – aber mit allen modernen spieltechnischen Errungenschaften.




Familienfreuden XVI: Von Klokletten und anderen Erfindungen

Die einen sagen so, Fiona sagt "Komate". (Bild: Nadine Albach)

Die einen sagen so, Fiona sagt „Komate“. (Bild: Nadine Albach)

Wer mich kennt, für den dürfte das keine besondere Überraschung sein: Fiona redet gerne – und viel. In der Hinsicht also ganz die Mama. Sie scheint allerdings auch eine andere Vorliebe von mir geerbt zu haben: die des Worterfindens.

Als ich noch bei der Zeitung gearbeitet habe, hat ein Kollege tatsächlich mal eine der Kulturseiten unter seiner Schreibtischauflage aufbewahrt, weil ich in einer Schlagzeile eines meiner erfundenen Worte untergebracht hatte – ich glaube, es war „Kuschelpuschen“ oder so etwas in der Art.

In meiner Tochter habe ich nun allerdings meine Meisterin gefunden. Denn egal, wie oft man ihr das richtige Wort – beiläufig oder explizit – nennt, bei bestimmten Dingen ist sie nicht davon abzubringen, dass sie so und nicht anders heißen.

Komatöse Zustände

Die Tomate zum Beispiel ist für sie eine KOMATE. Was bei mir zu der Überlegung geführt hat, ob diese ja schon signalrot leuchtende Frucht tatsächlich bei übermäßigem Verzehr zu komatösen Zuständen führt. Wer könnte schließlich von sich behaupten, einmal 100 Tomaten direkt hintereinander gegessen zu haben und somit das Gegenteil beweisen? Eben. Wenn aber etwas dran wäre, so könnten Jugendliche fortan doch beim „Komatensaufen“ zumindest ein paar Vitamine zu sich nehmen.

Klangverwandtschaften

Ähnlich schön klingt in meinen Ohren das Wort „KLOKLETTE“. Logisch, mit zwei Jahren ist dieser ganze Themenkomplex ohnehin ein wichtiger für Fiona. Wenn sie kleine Duplo-Türme baut, setzt sie in der Regel immer eine Figur obendrauf – und die macht Pipi. Vielleicht liegt in diesem Kontrast von öffentlicher Zurschaustellung der Ausscheidungsvorgänge im Gegensatz zu dem Rückzug auf das stille Örtchen für Fiona auch die Faszination für die „Kloklette“. Wer auf einem Turm sitzt, zeigt alles – wer eine Tür zumacht, verbirgt dahinter vielleicht ein Geheimnis. Für mich jedenfalls ist „Kloklette“ durch die Klangverwandtschaft zur Yogurette erstmal positiv assoziiert. Vielleicht spielt Fiona aber auch darauf an, dass wir Erwachsenen ständig in dieses mysteriöse Zimmer verschwinden, folglich wie Kletten daran hängen, während sie mit ihren Windeln frei von solchen Zwängen ist – wer weiß?

Ewiges Leben

Mein absolutes Lieblingswort aber ist – entschuldigt, liebe Vegetarier – die „LEBEWURST“. Ach, wie herrlich klingt doch dieser banale Aufstrich erst, wenn man ihn von einem einzigen „R“ befreit. Ein Elixier des Lebens, vielleicht sogar die Discounter-Variante des heiligen Grals, der ja schließlich auch ewiges Leben verhieß? Oder, ganz schlicht, einfach ein tolles Wort.




„Geschlossene Gesellschaft“: Vom Glanz und Elend der Superreichen

Was macht das viele Geld mit den Reichen und Superreichen? Sind Multimillionäre und Milliardäre besonders glücklich oder besonders zerknirscht?

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Derlei Menschheitsfragen wollte Dennis Gastmann mit seinem Buch „Geschlossene Gesellschaft. Ein Reichtumsbericht“ stellen – und vielleicht gar beantworten. Ist es ihm gelungen?

Nun, zunächst einmal lässt er uns weitschweifig und umständlich wissen, an welche reichen Leute er n i c h t herangekommen ist, nämlich an fast alle Berühmtheiten: „Mick Jagger? Begrüßt mein Interesse, muss jedoch absagen. Johnny Depp? Hat keine Lust.“ Und so geht die Aufzählung Seite um Seite weiter. Da stehen leider fast alle, die wirklich interessant gewesen wären. Zeigt her eure Konten? Von wegen!

Andere Journalisten hätten das langwierige, wohl auch nicht ganz billige Recherche-Projekt in dieser Phase vielleicht aufgegeben. Nicht so Dennis Gastmann, der sonst vorwiegend für die ARD-Auslandsmagazine und die Satiresendung „extra 3“ arbeitet und offenbar partout ein Buch hat füllen wollen.

Wortreich schildert er seinen wenig ergiebigen Besuch beim Playboy-Sohn Rolf Sachs. Es folgt ein Treffen mit dem „Schraubenkönig“ Reinhold Würth, der offenbar ausgeprägt sozialdarwinistisch denkt und ein Patriarch vom knorrigen alten Schlage ist; ein Getriebener, niemals vom angehäuften Mammon satt.

Da ansonsten auch hier nicht viel Brauchbares abfällt, gerät der Autor zwischendurch vollends ins Faseln. Er stellt sich vor, wie viele Coffee-to-go-Becher Würth sich für sein Milliardenvermögen kaufen könnte und wie hoch die sich türmen würden. Damit noch lange nicht genug. Es ist streckenweise eine arge Zeilenschinderei.

Dennis Gastmann schleicht sich fortan ins eine oder andere Society-Ereignis ein, beispielsweise auf Sylt, wo einem manches nicht nur halbgar, sondern auch halbseiden vorkommt. Merke: Reichtum kann gleichzeitig so schäumend und so freudlos sein. Doch irgendwie scheint Gastmann schon stolz darauf zu sein, einmal beim halbwegs großen Gelde zu hocken. Er zeigt sich von seinem Thema zuweilen mehr affiziert, als er es vielleicht gewollt hat.

Weiter geht die Hatz nach Marbella, wo Gastmann sich kurz im Dunstkreis der Bea von Auersperg bewegt. Welch eine trübe Veranstaltung und so gar kein Anlass, die Story der Dame derart auszuwalzen.
Aber Gastmann hat ja noch viel mehr im Köcher. Wir werden durch die strengste aller Butler-Schulen geführt, lernen einen Egomanen kennen, der sein Geld als Schönheitschirurg scheffelt, besuchen mit Dennis Gastmann den oberpeinlichen Berliner Alt-Playboy Rolf Eden, schnüren über die Yacht-Messe in Cannes, schauen bei einer Maklerin in Monaco und einem russischen Oligarchen vorbei, der sich im Neureichen-Kitsch suhlt und seiner Gefährtin eine weltweite Pop-Karriere finanzieren will. Uff!

Ein dekadentes Sex- und Geldmonster bildet sodann gleichsam den Gegenpol zum ungemein bienenfleißigen Trigema-Chef Grupp (der mit der Affenwerbung), einem gelegentlich cholerischen Sonderling, wenn man der Schilderung glauben darf.

Hin und wieder hat das Buch nun doch etwas Fahrt aufgenommen, und es ist dem Autor gelungen, sozusagen ein paar Brosamen vom großen Reichtum aufzusammeln. Es gibt Passagen, bei denen man sich bis zur Grusel- oder Ekelgrenze ärgern kann. Allerdings würde Neid ins Leere laufen, so erbärmlich wirken die meisten Protagonisten. Manche dieser Gestalten gieren derart nach ein bisschen Aufmerksamkeit, dass sie einem schon fast wieder Mitleid abnötigen.

Wir erfahren, dass es geradezu verbissen seriöse Spielarten des Reichtums gibt, aber eben auch halbkriminell funkelnde Formen und verblichene Restbestände. Oft genug geht jedes Maß verloren. So richtig glücklich scheint niemand mit dem übermäßigen Geldsegen zu sein, der sich denn häufig als Fluch erweist. Ein altes Lied: Ach, die armen Reichen! Kann das ein Trost sein? Und falls ja: für wen?

Dennis Gastmann: „Geschlossene Gesellschaft. Ein Reichtumsbericht“. Rowohlt Berlin. 302 Seiten. 19,95 Euro.




Wie die Welt in den Kopf gekommen ist – Paul Austers „Bericht aus dem Inneren“

U1_XXX.indd„Am Anfang war alles lebendig. Die kleinsten Gegenstände waren mit pochenden Herzen ausgestattet, und selbst die Wolken hatten Namen. Steine konnten denken, und Gott war überall.“

Paul Auster gehört zu den bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Ob mit seiner „New-York-Trilogie“ oder seiner „Brooklyn-Revue“, mit „Der Mann im Dunkel“ oder „Sunset Park“: Immer wieder hat Auster die Möglichkeiten der postmodernen Literatur neu vermessen, furios mit Erzählweisen jongliert. Das neue Buch des 1947 geborenen und seit vielen Jahren mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheirateten Autors heißt „Bericht aus dem Inneren“.

Auster spricht von seiner Kindheit und Jugend und davon, wie es war, allmählich erwachsen und Schriftsteller zu werden. Vor einem Jahr, in seinem „Winterjournal“, ging es um eine erste, vorsichtige Lebensbilanz, um wichtige Stationen, um Todes-Erfahrungen, lebensbedrohliche Krankheiten, den allmählichen Verfall, die Nöte des Alters und um den Zufall, der so oft darüber entscheidet, ob und wie wir weiterleben dürfen.

Im „Winterjournal“ erzählte Auster die „Geschichte seines Körpers“, im „Bericht aus dem Inneren“ erzählt er jetzt die „Geschichte seiner Bewusstwerdung“: Er will herausfinden, wie die Welt ihn seinen Kopf gekommen ist und wie er sich seiner selbst und seiner Identität bewusst wurde. Er durchforstet die Gedankenwelt seiner Kindheit, erinnert sich, wie er mit acht Jahren angefangen hat, Romane zu lesen und Biografien über Baseball-Stars und historische Helden.

Immer wieder stellt sich schon beim Kind das Gefühl ein, in ein anderes Raum-Zeit-System zu gleiten, sonderbar benebelt und ausgehöhlt zu sein und das eigene Sterben zu proben. Schmerzlich kommt ihm in Kindertagen zu Bewusstsein, dass er Teil einer kaputten Familie ist, in der es zwar keinen Streit, aber permanentes Schweigen und Gleichgültigkeit gibt. Mit sieben oder acht Jahren kapiert er, dass er Jude ist, was bedeutet, abseits zu stehen und Außenseiter zu sein.

Während er dabei ist, die Bücher und Filme zu beschreiben, die ihn als Kind besonders beschäftigt und sein Bewusstsein geprägt haben, schickt ihm seine Ex-Frau, die Schriftstellerin und Übersetzerin Lydia Davis, einen dicken Packen Papier. Es sind Kopien der Briefe, die er ihr in den 1960er und 70er Jahren geschrieben hat: Sie kommen ihm wie eine Zeitkapsel vor, wie ein kostbares Geschenk und Ersatz für ein Tagebuch, das er nie geführt hat.

Mit den Briefen kann er rekonstruieren, wie er eine Zeitlang in Paris lebte, Drehbücher schrieb und von einer Karriere beim Film träumte, wie er 1968, zurück in New York, Teil der Studentenrevolte war, von der Polizei verprügelt wurde, Angst hatte, zur Armee einberufen und nach Vietnam geschickt zu werden. Und wie er dann irgendwann beschließt, sich ganz darauf zu konzentrieren, Künstler zu werden. Und Romane zu schreiben, die immer auch davon handeln, wie das Denken die Realität verändert und die Fantasie sich eine eigene Welt erschafft. Schon als Kind begreift er: „Die Welt ist in meinem Kopf.“

Paul Auster: „Bericht aus dem Inneren“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek. 289 Seiten, 19,95 Euro.




Vom Weiterleben nach einem Todesfall: Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“

Mit den ersten Sätzen in Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“ mag man als Leser zunächst Schwierigkeiten haben. Doch bald werden sie klar als Widerhall einer Traumsequenz Mariannes, die sich alsbald als erste wichtige, vielleicht wichtigste Figur dieses Romans herausstellt.

Die Ausgangssituation ist interessant. Die vielverzweigte Mehr-oder-minder-Patchwork-Familie Mariannes hat gerade in großer Anzahl Weihnachten miteinander gefeiert bzw. begangen. Nun stirbt kurz danach – wie nebenbei – die „Familien“-Matriarchin Jutta, die Großmutter Mariannes. Die zumeist gerade Abgereisten aus dem großen Kreis der Verwandten, Bekannten, Verschwägerten und Freunde (unter ihnen auch Mariannes Sohn Lukas) werden nun wieder zurückgerufen. Die Beerdigung steht an und bald danach auch der Erbfall.

reitzer_wir_erbenMit dem Tod einer Hauptperson beginnen so manche Romane, in der deutschen Literatur zum Beispiel Jean Pauls „Flegeljahre“ und Wilhelm Raabes „Im alten Eisen“ sowie Hans Erich Nossacks „Der jüngere Bruder“. So werden Vergleiche interessant: Wie unterschiedlich gehen die jeweils Hinterbliebenen mit einem solchen Todesfall um und wie prägt ein derartiger Beginn ein ganzes Buch?

Eines der Hauptthemen des Romans von Angelika Reitzer ist ganz konkret: Wie kommen wir Menschen, insbesondere wir mitteleuropäischen Menschen der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit unter diesen ganz bestimmten Bedingungen im jeweiligen Einzelfall mit unserem Leben zurecht? Dabei steht das Leben der Frauen vor allem im Blick, auch wenn Männer durchaus vorkommen und gelegentlich auch eine Rolle spielen.

Das Leben dreier, wenn nicht vierer Frauengenerationen wird – ab und an bruchstückhaft sichtbar gemacht – der Gegenwartsebene unterlegt. Dieses Wichtignehmen der Generationen macht das Buch zu einem Dialogpartner und Gegenstück zum nun schon eine ganze Generation älteren, verdienstvollen Roman Ingeborg Drewitz‘ „Hundert Jahre Gegenwart“.

Liest man das Buch der österreichischen Autorin nicht zügig durch, wird man die genauen Familien-, Bekanntschafts- und Freundschaftsverhältnisse vielleicht nicht immer ganz genau im Gedächtnis behalten. Vielleicht wollte Angelika Reitzer mit dieser Figurenfülle gerade das charakteristisch Patchwortartige der Lebensverhältnisse in unserer Zeit zu betonen? Und das Zurückgeworfensein einer jeden einzelnen Person auf ihr eigenes, ureigenes Leben?

Ich habe ja dieses Buch bis zu Ende gelesen, habe nicht ein einziges Wort, geschweige denn eine ihrer Passagen ungelesen gelassen, obwohl ich nach einigen Seiten nicht mehr ganz so interessiert wie zu Anfang gewesen bin. Aber wenn ich in der Nacht, aus Träumen gerissen oder aus anderen Gründen wach geworden, wieder auf andere Gedanken kommen wollte, habe ich jeweils zu diesem Buch gegriffen, an genau der Stelle, an der ich am Vortag zu lesen aufgehört hatte, weitergelesen und danach wieder weiter gut geschlafen.

Indes: Ein Spannungsmoment gab es in diesem Roman für mich nach wie vor. Erzeugt wurde dies merkwürdigerweise durch die Vorgriffe auf dem Buchumschlag. Zum ersten Mal durfte ich erleben, dass ein Klappentext durch seine Vorankündigungen nicht etwa schon zuviel verrät und damit Spannung im Voraus wegnimmt, sondern dass er gerade durch seine vorwegnehmenden Vorankündigungen eine Spannung und Neugier aufrechterhält, die der Roman selbst (in seinem ersten Teil) aufrechtzuerhalten nicht in der Lage war. Im „Waschzettel“ nämlich ist die Rede von einer zweiten nicht aus Österreich, sondern aus der ehemaligen DDR stammenden Frau, die zur Freundin der Österreicherin, also Mariannes, wird bzw. geworden ist.

Und so habe ich gewartet, bis diese zweite Person mit ihrer wahrscheinlich (und dann auch tatsächlich) ganz anderen Vorgeschichte in diesem Roman auftritt. Und das geschieht erst im zweiten Teil des Romans, einem Teil, der etwa ein Drittel des Gesamtromans umfasst. Und ehe diese zweite zentrale Hauptfigur des Romans vollends in den Blick rückt, schiebt sich die Geschichte ihrer Familie, insbesondere die ihrer Eltern, in den Vordergrund. Kurz vor dem Fall der Mauer flüchtet diese Familie über das „freundliche sozialistische Ausland“ aus der DDR in die Bundesrepublik und kehrt nach einigen dort verlebten Jahren wieder an ihren Ursprungsort zurück, um dort von neuem Fuß zu fassen, was nicht sehr leicht fällt.

Diese Geschichte aus dem zunächst noch getrennten, dann vereinten Deutschland ist recht interessant, hat aber auf den ersten Blick mit dem ersten weit umfangreicheren, vorwiegend in Österreich in der Nähe Wiens auf dem Lande spielenden Romanteil nicht allzuviel zu tun. Wie also wird es der Autorin gelingen, eine glaubhafte Verknüpfung beider Lebensgeschichten herzustellen, habe ich mich bei der Lektüre des zweiten Teils fortlaufend gefragt und dabei die Hoffnung nie ganz aufgegeben, dass durch eine überzeugende Verknüpfung auch der erste Romanteil nachträglich noch aufgewertet werden würde.

Es dauert lange, fast bis zum Ende des Romans, bis sich die beiden Frauen, Marianne und Siri, zufällig zum ersten Mal begegnen, auf der Toilette, in der Pause eines Konzertes in Wien. Daraus entwickelt sich nun nach und nach eine Freundschaft. Eine Liebe auf den ersten Blick, wie sie sich – fast gleichzeitig mit Siris zunächst nur flüchtiger Erstbegegnung mit Marianne – zwischen Siri und „Hans dem Bauer“ spontan ergibt, läuft, obschon zunächst auf scheinbar gutem Wege, ins Leere.

Der zweite Romanteil endet chronometerzeitlich früher als der erste. Umso stärker beschäftigt mich immer noch die Frage, wieso nicht schon im ersten Romanteil wenigstens andeutungsweise von der Freundschaft zwischen Marianne und Siri die Rede gewesen ist, wo doch andere Freundschaften und unproblematische wie problematische Zuneigungen durchaus ausführlich vorgekommen sind. Diese Aussparung kommt zwar romantechnisch der Spannung zugute, hat aber die Logik bzw. die Psychologik nicht so ganz auf ihrer Seite. (Indessen: ein blindes Motiv und eine indirekte Vorausdeutung ist mir aus dem ersten Teil durchaus noch in Erinnerung. Es soll da einmal eine junge Frau, die ursprünglich aus der DDR stammt, von Jutta, ihrer Großmutter empfohlen, bei Marianne als Hilfe eingestellt werden, wozu es aber nicht kommt.)

Was mich jetzt noch an diesem beobachtungssicheren, zeitsymptomatischen Roman interessiert, ist dies: Wie anders lesen (diese oder jene) Frauen diesen Roman als (manche) Männer? Oder sind die Leseunterschiede gar nicht so groß, wie man immer meint?

Zugegeben: Um dem Roman Angelika Reitzers angemessen gerecht zu werden, müsste ich ihn zuvor mindestens noch einmal lesen.

Auf der Seite 322 dieses Romans wird ein Gespräch zwischen Marianne und Siri über Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ wiedergegeben. Dort findet man u. a. diese Sätze: „Sie klappte das Buch zu, schaute Siri an. ‚Würdest du ein Buch lesen, das so anfängt?‘ Sie stellte ein anderes Buch ins Regal, auch die anderen, dann schloss sie die Glastür.“

„Würdest du ein Buch lesen, das so anfängt?“, solch eine Frage in ihrem eigenen Roman zu stellen bzw. stellen zu lassen, ist von der Autorin mutig. Auf den ersten Blick. Denn: Vielleicht besteht ja die Hoffnung, dass auch dieser Roman bei abermaliger Lektüre gewinnt.

Angelika Reitzer: „Wir Erben“. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien. 343 Seiten, 22,90 €




Später Ruhm eines großen Meisters: Vor 250 Jahren starb Jean-Philippe Rameau

In Sachen Karriere war Jean-Philippe Rameau ein Spätzünder. Seine erste Oper stellte er in einem Alter vor, in dem andere längst die Feder aus der Hand gelegt hatten: Mit fünfzig Jahren wurde er mit „Hippolyte et Aricie“ auf einen Schlag berühmt.

Da hatte Rameau schon ein Leben als Kirchenmusiker, Organist, Musiktheoretiker und Leiter eines Privatorchesters hinter sich. Vor ihm lagen noch dreißig Jahre, in denen er rund dreißig Werke für die Bühne schaffen sollte. Mitten in den Proben für sein letztes, die Tragödie „Les Boréades“, ist Jean-Philippe Rameau vor 250 Jahren, am 12. September 1764, in Paris gestorben.

Bei seinem Tod zählte er zu den am weitesten bekannten und am meisten geehrten französischen Musikern. Dennoch senkte sich über sein Werk allmählich tiefes Vergessen. Selbst sein Grab auf dem Friedhof von St. Eustache in Paris ist nicht mehr bekannt.

Erst die Rückbesinnung auf historische Spieltradition und Aufführungspraxis weckte das Interesse an seinem Schaffen über die gelegentliche, museale Reanimation hinaus. Ein Jahr vor seinem 300. Geburtstag – Rameau kam 1683 in Dijon zur Welt – wurde in Aix-en-Provence sein letztes Werk „Les Boréades“ uraufgeführt. In Deutschland sorgte eine opulente, viel gerühmte Neuinszenierung von „Castor und Pollux“ 1980 in Frankfurt für Aufsehen: In einem fantasievollen, technisch raffinierten Bühnenbild von Erich Wonder inszenierte Horst Zankl; Nikolaus Harnoncourt leitete das Orchester.

Seither ist das Interesse an Jean-Philippe Rameaus Bühnenwerken nicht mehr abgebrochen. So gab es etwa in Düsseldorf in den letzten Jahren eine Serie von Aufführungen, begonnen mit der deutschen Erstaufführung der turbulenten Komödie „Les Paladins“ in der Spielzeit 2009/10. Auf zahlreichen Aufnahmen ist inzwischen das erhaltene dramatische Werk Rameaus greifbar. Sie geben auch einen Überblick, wie sich die Art, seine Musik zu spielen, seit den ersten Schallplatten der siebziger Jahre verändert hat. In diesen Tagen erscheint etwa bei Erato eine Box mit Gesamtaufnahmen von neun seiner Opern, ergänzt durch Musik aus vier weiteren Bühnenwerken, Dirigenten wie William Christie, Nikolaus Harnoncourt, Marc Minkowski und Nicholas McGegan entfalten den Zauber und die Kraft der harmonischen Erfindungsgabe und der orchestralen Intuition Rameaus.

Als Kirchenmusiker ist der Franzose weit weniger greifbar, obwohl seine Jugend und die erste Phase seiner Musikerkarriere eng mit der Orgel verbunden sind. Erhalten sind lediglich vier zwischen 1713 und 1723 geschriebene, groß angelegte Motetten. Rameaus Vater war Organist an mehreren Kirchen in Dijon, unter anderem an der Kathedrale St. Bénigne.

An der Jesuitenschule, so wird berichtet, habe der junge Jean-Philippe mehr komponiert und gesungen als studiert. Seine Eltern schickten den Schulabbrecher 1702 auf eine Italienreise, auf der er in Mailand steckenblieb. Wieder zurück übernahm er mit Achtzehn eine Organistenstelle an der Kathedrale von Clermont. Ein Intermezzo in Paris bestritt er mit mehreren Orgelposten an kleineren Kirchen. Das erste seiner vier Bücher mit Cembalowerken, die „Pièces de Clavecin“ erschien dort 1706 und verhalf ihm zu einer gewissen Bekanntheit. Bis er sich 1722 endgültig in Paris niederließ, wirkte Rameau an mehreren Kathedralen, so in seiner Heimatstadt Dijon, in Lyon und in Clermont.

Es ist schwer zu entscheiden, wer wichtiger ist: der Komponist oder der Musiktheoretiker Rameau. Seit 1722 sein epochemachendes Werk „Traité de l’harmonie reduite à ses principes naturels“ erschienen ist, stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der gelehrten musikalischen Welt.

In weiteren Publikationen zur Harmonielehre entwickelte Rameau sein System weiter. Er stand in Kontakt mit internationalen musikalischen Größen wie Johann Mattheson oder dem Bologneser Musiktheoretiker und Franziskanerpater Giovanni Battista Martini, einer der prägenden Figuren der italienischen Musik des 18. Jahrhunderts.

Jean Jacques Rousseau wurde Rameaus Gegner im sogenannten Buffonistenstreit, in dem das Ringen um die Vorherrschaft der italienischen oder französischen Oper einen weit tieferen Streit um die künftige Ausrichtung der Kunstgattung überdeckte. Rousseau plädierte für die „natürliche“ Einfachheit der melodiebetonten italienischen Musik gegen die komplex instrumentierte, harmonisch ausgearbeitete und kompliziert polyphone französische Musik – ein direkter Affront gegen den gelehrten Harmoniker Rameau.

Dabei war Rameau bestrebt, seinerseits mit der „Natur“ zu argumentieren: Als aufgeklärter Denker wollte er die Musik als exakte Wissenschaft erfassen und universelle harmonische Prinzipien aus natürlichen Gegebenheiten ableiten. Rameau sah in der Harmonie die Basis jeder Musik, abgeleitet aus der Physik schwingender Körper. Die Harmonie entdeckte er als Quelle der Melodie und als Grundlage des musikalischen Ausdrucks. Musik sollte expressiv sein, dem Ohr gefallen, die Gefühle bewegen. Der tiefe Grund für die Wirkung der Musik lag für Rameau in ihrer Verbindung mit universalen, kosmischen Prinzipien, letztlich herrührend von Gott. Hier trifft er sich mit Bach, dessen „Wohltemperiertes Klavier“ ebenfalls 1722 zum ersten Mal erschienen ist.

Kaum ein späterer musikalischer Denker konnte sich dem Einfluss von Rameaus Konzepten entziehen; die Spuren verfolgen Fachleute bis in Paul Hindemiths Tonsatz- und Musiktheorie. Für die Entwicklung des musikalischen Denkens der abendländischen Musik hat Jean-Philippe Rameau eine Schlüsselposition inne. Seine Kunst des Komponierens hat nicht erst in jüngster Zeit wieder Anerkennung erfahren. Hector Berlioz verehrte ihn; Claude Debussy schrieb über „Castor et Pollux“, diese Musik habe „eine feine Anmut bewahrt, ohne jemals affektiert zu werden oder sich mit verdächtiger Grazie zu winden.“ Und Nikolaus Harnoncourt zählt die Opern Rameaus „zu den Höhepunkten der französischen Musik überhaupt“.




Joachim Fuchsberger ist tot – Schauspieler, Showmaster, Schlagertexter

Howard Carpendale zwitscherte seine Schlagertexte, Jürgen Marcus posaunte sie, Gitta Lind schmalzte sie und sogar Udo Jürgens machte sie zu Erfolgen. Nebenher bescherte er den Stuttgarter Kickers ihre Vereinshymne: Die Rede ist von Joachim Fuchsberger, der als gebürtiger Schwabe erstaunliches Hochdeutsch sprechen konnte.

Fuchsbergers Spitzname „Blacky“ wird einerseits auf ein falsch intoniertes „Jackie“ (Fuchsbergers soldatesker Deckname als Nahkampfausbilder im 2. Weltkrieg) zurückgeführt und andererseits auf die Anekdote, er habe eine Moderation im Bayerischen Rundfunk mit  trunkener Zunge absolviert: zuviel Black and White (böser Whiskey der 60er Jahre). „Blacky“ Fuchsberger, der weißhaarige, talkende Teilzeit-Weise, ein Mit-Fundament und Mit-Denkmal des Deutschen Unterhaltungsfernsehens, starb im Alter von 87 Jahren in München.

Einen schulischen Abschluss hatte er nicht, daran hinderte ihn der großdeutsche Krieg, den er als Nahkampfausbilder (Dan-Träger im Judo) erlebte. Nach dessen Ende kam er zu uns in Revier. Weil man hier im Gegensatz zu Stuttgart unter Tage prima Geld verdienen konnte. Also schackerte er in Recklinghausen auf Zeche König Ludwig als Bergmann. Dann montierte er an Setzmaschinen im väterlichen Betrieb, versuchte sich als Chemigraf (die machten einst Klischees u.a. für den Zeitungsdruck). Schließlich strandete er wieder im Süden, in München, wo er für Hörfunk und Wochenschauen seine markante Stimme zur Verfügung stellte.

Da war er dann kurzfristig mit der Sängerin Gitta Lind verheiratet, für die er auch – wie anfangs angdeutet – das Schlagertexten in sein reichhaltiges Kreativ-Repertoire aufnahm. Aber die Entwicklung des Herrn Fuchsberger, der seit 1954 mit der Kollegin Gundula Korte verheiratet war, ist da noch längst nicht am Ende.

Es trieb ihn zu einer finalen Leidenschaft: Er wurde Schauspieler. Speziell der Bühne blieb er bis zu seinem Tode treu. Es begann mit wenig erinnerungswürdigen Nebenrollen, bis er als Gefreiter Asch in der Verfilmung von Hans Hellmut Kirsts Roman-Trilogie „08/15“ über Nacht populär wurde. Und dann natürlich die unvergleichlichen Filme nach Edgar Wallace…

Wisst Ihr noch?  Der Frosch mit der Maske – da ist er der jugendliche Hobbydetektiv Richard Gordon, Die Bande des Schreckens  – „Blacky“ als Chefinspektor Long (Vorlage für eine Figur in einer späteren Parodie namens „Wixxer“), Die toten Augen von London, Das Geheimnis der gelben Narzissen, Die seltsame Gräfin, Das Gasthaus an der Themse, Der schwarze Abt, Der Hexer, Der Mönch mit der Peitsche. Kennen wir alle noch, ich gestehe freimütig, dass auch ich fast alle gesehen habe. Und alle wiedererkannt hatten wir sie in der genialen Tobi Baumann-Klamotte Der Wixxer, in dessen 2. Auflage Neues vom Wixxer Joachim Fuchsberger als ehemaliger Scotland-Yard-Chef Lord David Dickham auftritt. Mit dabei waren damals noch Chris Howland, Ingrid van Bergen und Wolfgang Völz – ebenfalls Wallace-Veteranen aus den 1960ern.

Nach seiner filmischen Ausflügen durch nebelige London wendete sich Joachim Fuchsberger der Fernsehmoderation zu: Auf Los geht’s los oder Heut‘ Abend hießen seine Formate, die er bestimmt und lächelnd beherrschte („Je älter ich werde, desto intoleranter werde ich.“).  Es lief immer wieder tragisch  für ihn und seine Familie. Er fing sich nach einem Schimpansenbiss eine üble Hepatitis B ein, war lange krank, litt depressiv. Sein Sohn Thomas ertrank 2010 im Kulmbacher Mühlbach.

Zwischen seinen verschiedenen TV-Verpflichtungen trieb es ihn in seine zweite Heimat nach Australien, von wo er Reportagen fürs deutsche Fernsehen lieferte.

Kaum zu zählende Preise, eine ellenlange Filmografie, prägende Auftritte im Fernsehen oder als Stadionsprecher der Olympischen Spiele von 1972, als er eine Panik vermied, weil er n i c h t durchsagte, dass ein Gerücht von einem Terroranschlag aufs Stadion im Umlauf sei – wenige Tage nach furchtbaren Angriff auf das Olympische Dorf. Und das war gut so, denn das Gerücht stellte sich schnell als solches heraus.

Joachim Fuchsberger war einer der zentralen Menschen in der Unterhaltungskunst für eine ganze Generation. Altwerden ist nichts für Feiglinge, lautet der Titel eines seiner Bücher. Er war kein Feigling, wurde alt und blieb bis ans Lebensende ein schaffensfroher Mann.

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Trailer zu „Der Hexer“: http://www.youtube.com/watch?v=89GmTX1SuE8




Rockoper über Kevin Gilbert – die Wiederentdeckung eines musikalischen Genies

Madonna, Michael Jackson, Sheryl Crow – es sind Persönlichkeiten mit großen Namen, die im Leben des musikalischen Genies Kevin Gilbert eine Rolle spielten. Seinen Namen hingegen kennt kaum jemand. Das will Singer-Songwriter Stefan Weituschat jetzt ändern („Er hätte der John Lennon seiner Generation werden können“) und organisiert die europäische Uraufführung von Gilberts Rockoper „The Shaming of the True“ am 9. November in der Stadthalle Oer-Erkenschwick. Ein Projekt, das vor Herzblut, Verrücktheit und echter Liebe sprüht.

Stefan Weituschat bei der Probe von "The Shaming of the True". (Fotos: Tim Jansen)

Stefan Weituschat bei der Probe von „The Shaming of the True“. (Fotos: Tim Jansen)

Die Geschichte beginnt vor 15 Jahren, bei einem Konzert von „Spock’s Beard“ in Düsseldorf. Bevor die US-Prog-Rock-Band die Bühne entert, dröhnt ungewöhnliche Musik durch die Lautsprecher. Stefan Weituschat (38) kommen ein paar Worte, ein paar Zeilen davon bekannt vor. Sie erzählen von der Liebe zur Musik, der Sehnsucht nach Erfolg, den Schachzügen der Plattenindustrie. Stefan Weituschat ist selbst ein junger Musiker; er kennt diese Kämpfe, dieses Hin und Her zwischen Kunst und Kommerz, Hoffnung und Enttäuschung. Das Gehörte lässt ihn nicht los. Es ist „The Shaming of the True“ von Kevin Gilbert. Stefan Weituschat stürzt sich in die Recherche – und stößt auf ein kurzes, aber außergewöhnliches Musikerleben.

„Der talentierteste Musiker, den ich je getroffen habe“

„Der talentierteste Musiker, den ich je getroffen habe“ – so sprechen einstige Kollegen von Kevin Gilbert. Und tatsächlich sieht es anfangs gut aus für den gebürtigen Kalifornier: Schon als Teenager nimmt er mit seiner Band „Giraffe“ erste Tracks auf, gewinnt einen großen Musikwettbewerb, trifft die richtigen Leute, ist dabei, als Michael Jackson und Madonna Songs aufnehmen.

Die Probe von "The Shaming of the True". (Fotos: Tim Jansen)

Die Probe von „The Shaming of the True“. (Fotos: Tim Jansen)

Gemeinsam mit anderen Songwritern trifft er sich jeden Dienstag, um Songs zu schreiben und aufzunehmen – der „Tuesday Music Club“. Kevin Gilbert bringt irgendwann eine junge Frau mit, ebenso Musikerin, bisher aber ohne großen Erfolg. Ihr Name ist: Sheryl Crow. Fortan geht es in den dienstäglichen Treffen um ein Album für sie.

Das Drama mit Sheryl Crow

Ihr Debüt – bezeichnenderweise mit dem Titel „Tuesday Night Music Club“ – wird ein Riesenerfolg, vor allem auch durch den Song „All I Wanna Do“. Was dann geschieht, vergleicht Joel Selvin vom San Francisco Chronicle mit einem klassischen Hollywood-Drama: Künstler trifft Künstlerin, wird ihr Mentor, bis sie erfolgreich ist – und wird geschasst. Es kommt zu Streitigkeiten über die kreative Urheberschaft. Selvin zufolge gab es Gilbert den Rest, als Sheryl Crow den Song „Leaving Las Vegas“ in der David Letterman-Show als autobiographisch bezeichnet. Kevin Gilbert bekommt zwar als Koautor von „All I Wanna Do“ 1995 einen Grammy. Zwischen Sheryl Crow und ihm aber kommt es zum großen Bruch. Die Verletzung, die Enttäuschung ist riesig.

Die Kraft der Musik hat alle bei der Probe von "The Shaming of the True" gepackt. (Fotos: Tim Jansen)

Die Kraft der Musik hat alle bei der Probe von „The Shaming of the True“ gepackt. (Fotos: Tim Jansen)

Gilbert stürzt sich in seine eigenen Projekte. Der Erfolg aber bleibt aus. 1996 findet sein Manager ihn tot in seiner Wohnung, erstickt. Kevin Gilbert ist gerade 29 Jahre alt.

Das letzte große Werk – nach dem Tod veröffentlicht

Sein Freund Nick D’Virgilio (Gitarrist von Spock’s Beard) und Manager Jon Rubin sorgen dafür, dass sein letztes großes Werk nach seinem Tod veröffentlicht wird: die Rockoper „The Shaming of the True“. Die Geschichte des Rockmusikers Johnny Virgil, der auf seinem Weg nach ganz oben in Drogen und Alkohol versinkt und sich selbst verliert, hat durchaus autobiographische Züge. „Aber es ist auch heute, in einer Welt der Casting- und Popstars, die dem Erfolg hinterherrennen, eine wichtige Botschaft: dass es in Wirklichkeit nicht auf die Dollarscheine ankommt, sondern darauf, sich selbst zu akzeptieren“, sagt Stefan Weituschat.

Erstmals in Europa

Bis heute wurde das Werk erst zwei Mal in den USA aufgeführt. Die Idee, es erstmals auch in Europa zu zeigen, kam Stefan Weituschat vor einem Jahr, bei einem Spaziergang. „Natürlich wollte ich das schon immer spielen, seit ich es entdeckt habe. Aber allein auf der Gitarre fehlt unglaublich viel. Dafür braucht man eine Rockband.“ Also trommelte der Singer-Songwriter, der sich zum Beispiel als „Der feine Herr“ oder mit der Band „anna.luca“ Gehör verschafft hat, seine Musikerfreunde zusammen: Neben ihm als Frontmann wirken Thomas Elsenbruch (Keyboards, Vocals), Christoph Granderath (Gitarren, Vocals), Freddi Lubitz (Bass, Vocals), Sven Hansen (Schlagzeug) und Max Klaas (Percussion) mit. Er nahm auch Kontakt zu Jon Rubin und Nick D’Virgilio auf – und erntete Begeisterung.

Kevin Gilberts Musik ist "authentisch und stark" - fanden die Musiker bei der Probe von "The Shaming of the True". (Fotos: Tim Jansen)

Kevin Gilberts Musik ist „authentisch und stark“ – fanden die Musiker bei der Probe von „The Shaming of the True“. (Fotos: Tim Jansen)

 

Authentisch und stark

Die Arbeit allerdings ging damit erst los. Denn außer der CD gibt es keinerlei Material für „The Shaming of the True“ von Kevin Gilbert – keine Noten, keine Regieanweisungen, nichts. „Deswegen wird es kein Musical, sondern eher ein Konzert mit Geschichte“, erklärt Stefan Weituschat.

Damit die Zuschauer Johnny Virgils Weg folgen können, gibt es immer wieder szenische und atmosphärische Videofilme. Vor allem aber ist es die Musik, die spricht. Eingängig sei die und voller Emotionen, vergleichbar mit Peter Gabriel, Steely Dan, Sting, Spock’s Beard, Marillion und Jellyfish, mal sehr rockig, mal melodiöser, dann epochal. Die Kraft der Musik packte auch Stefan Weituschat und seine Bandkollegen bei der ersten Probe:

"Dafür braucht man eine Rockband": Die Probe von "The Shaming of the True". (Fotos: Tim Jansen)

„Dafür braucht man eine Rockband“: Die Probe von „The Shaming of the True“. (Fotos: Tim Jansen)

„Wir waren alle durch die Bank überrascht, dass das so authentisch und stark ist. Das Material lebt schon so lange in mir, aber erst mit der Band habe ich gemerkt, wie nah einem das alles ist. Beim Singen habe ich richtig Gänsehaut bekommen.“

„Er hätte der John Lennon seiner Generation werden können“

Dieses Herzblut, hofft Stefan Weituschat, kommt auch bei den Zuschauern an. „Ich möchte, dass dieser Funke, der mich damals gepackt hat, auch die Leute vor der Bühne erreicht.“ Ein wenig hofft er auch, etwas wieder gut machen zu können für Kevin Gilbert, dieses verkannte Genie. „Diese Musik hat einfach noch zu wenige Ohren erreicht. Er hätte der John Lennon seiner Generation werden können“, sagt Stefan Weituschat. „Unser Anspruch ist, dass er stolz wäre.“

Übrigens – die Aufführung von „The Shaming of the True“ am 9. November könnte weitere Kreise ziehen: Mark Hornsby, musikalischer Leiter der letzten US-Produktion, hat eine Zusammenarbeit mit ihm und Nick D’Virgilio für die Zukunft nicht ausgeschlossen. „Eine Tour mit den beiden wäre natürlich ein Traum“, so Stefan Weituschat.

Fakten: 9. November 2014, 20 Uhr, Stadthalle Oer-Erkenschwick, Tickets bei der bei Stadthalle Oer-Erkenschwick oder eventim, mehr Infos auf Facebook




„Jeder soll leben, für immer“ – „Das Buch gegen den Tod“ aus dem Nachlass von Elias Canetti

Es ist kein erzählendes Werk, auch keine Lyrik, kein Tagebuch und keine philosophische Abhandlung. Was aber ist Elias Canettis „Buch gegen den Tod“?

Schwer zu sagen. Man liest zahllose einzelne Sätze und Absätze, oft in Paradoxien zugespitzt, vielfach in aphoristisch vollendeter Form. Bruchstücke einer großen Konfession. Eine imponierende, sprachlich und gedanklich funkelnde Materialsammlung – wider den Tod. Ein „unmögliches“ Unterfangen also? Doch genau solche verzagten, schicksalsergebenen Gedanken hätte Canetti nicht gelten lassen. Obwohl auch er gelegentlich solche Anwandlungen hatte. So bezichtigt er seine eigenen Mühen einmal mit diesen Worten: „…nichts als ein Prahlen und von Anfang zu Ende so hilflos wie jeder andere.“

Zeitlebens hat Elias Canetti („Die Blendung“, „Masse und Macht“) Sätze und Gedanken aufgehoben, die sich dem Tod widersetzen, die ihn weder bejahen noch hinnehmen. Das stetig anwachsende Werk ist fragmentarisch geblieben. Canetti selbst hat vorgeschlagen, dass andere daraus ein Buch machen sollten. Ohne sein weiteres Zutun.

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Nun liegt ein solcher Versuch vor. Für den Hanser-Verlag haben Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger sich der Aufgabe gestellt, Canettis Aufzeichnungen über den Tod in einen Zusammenhang zu bringen. Sie haben sich vor allem an eine zeitliche Abfolge gehalten, was Canetti zu Lebzeiten selbst erwogen hat: „Vielleicht würde es genügen, alle noch unpublizierten Aufzeichnungen über den Tod in chronologischer Folge aneinanderzureihen.“ Einen systematischen Plan fürs große Ganze hatte der vom Thema Besessene offenbar nicht. Er stürzte sich immer wieder hinein und schreckte doch davor zurück.

Zwar ist manches schon andernorts erschienen, doch rund zwei Drittel der Texte liegen erstmals gedruckt vor – und das trotz strenger Auswahl aus dem Nachlass. Die wesentlichen Aufzeichnungen reichen von 1942 bis in Canettis Todesjahr 1994.

Die Anfänge liegen also mitten im Zweiten Weltkrieg, woraus sich schon ein Antrieb herleiten lässt: der Protest, der Aufschrei gegen das allgegenwärtige Töten und Sterben. Schon das Zählen der Toten im Kriege raubt Canetti zufolge dem Einzelnen alle Würde. Hinzu kommen traurige Anlässe wie der frühe Tod des Vaters und später der Mutter, die Canetti niemals verwinden kann. Dies drängt ihn gleichfalls zum Schreiben.

„Der Gedanke an einen einzigen Menschen, den man verloren hat, kann einem Liebe zu allen anderen geben.“ Und also soll niemand sterben. Notiz von 1993: „Nicht einer, nicht ein einziger darf verlorengehen, jeder soll leben, für immer.“ Ein ungeheuerlicher Anspruch.

Canetti postuliert „ein allmächtiges Gefühl von der Heiligkeit jedes, aber auch wirklich jedes Lebens“. Seine Schlussfolgerung: „Ich anerkenne k e i n e n Tod.“ Oder auch: „Der Tod soll – ohne billigen Betrug – sein Ansehen verlieren. Der Tod ist falsch. Es ist unser Sinn, ihn falsch zu finden.“ Und so fort, in Hunderten von Formulierungen, die den Tod umkreisen und geradezu belauern; mal zornig und mal fintenreich.

Natürlich weiß ein scharfsinniger, freilich oft genug ins Surreale ausgreifender Denker wie Canetti, dass man es sich mit der Ablehnung des Todes nicht leicht machen darf – im Gegenteil. Dem Tod zu widersagen, bleibt seine lebenslange, sozusagen heroische Aufgabe. Also sucht er den Tod von allen Seiten her zu stellen und zu fassen, wie in einem unaufhörlichen Kampfgetümmel.

Dabei verwirft er harsch die Haltung anderer Schriftsteller. T. S. Eliot, der tote Dichter abqualifiziert, wird ebenso gescholten wie Hemingway mit seinem Kult des Tötens. Auch Thomas Bernhard, den Canetti zunächst als seinen Schüler schätzt, gebe – ähnlich wie Samuel Beckett – dem Tod nach.

Lodernd gegenwärtig muten die Äußerungen zum israelisch-arabischen Sechstagekrieg im Juni 1967 an. Canetti, der Mann jüdischer Herkunft, fühlt sich nach eigenem Bekunden vom Bild toter ägyptischer Soldaten so sehr verfolgt wie von Auschwitz: „Ich kann zwischen Toten keine Unterschiede machen.“ 1991 wird er dann vehement ein entschiedenes Einschreiten gegen Saddam Husseins Größenwahn fordern.

Rastlos sucht Canetti nach Mitteln der Gegenwehr (als wolle er eine neue Religion über alle Religionen hinaus stiften): ob nun in der Bibel (anfängliche Unsterblichkeit Adams, bis er vom Apfel aß), in den Mythen der Aborigines oder in Lehren von der Wiedergeburt, selbst in der am Horizont aufscheinenden technischen Möglichkeit, sich für kommende Zeiten einfrieren und eines Tages auftauen zu lassen. Auch Zeugungskräfte werden vom virilen Canetti, der noch mit 66 Jahren Vater einer Tochter geworden ist, als hoffnungsvolles Zeichen der Wiedergeburt aufgerufen.

Elias Canetti hat das Arsenal wider den Tod reichhaltig angefüllt, die Formulierungen liegen bereit. Was künftige Menschen daraus machen werden, können wir nicht wissen.

Und wer weiß, was uns von Canetti selbst noch erwartet. Er hat verfügt, dass seine Tagebücher und Briefe bis ins Jahr 2024 nicht publiziert werden dürfen. Ob sein Oeuvre danach noch einmal eine andere Dimension bekommt?

Elias Canetti: „Das Buch gegen den Tod“ (aus dem Nachlaß herausgegeben von Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger unter Mitarbeit von Laura Schütz). Mit einem Nachwort von Peter von Matt. Carl Hanser Verlag, München. 352 Seiten. 24,90 Euro.




Immer munter und vergnügt: Vom Leben älterer Menschen rund um den Erdball

Stets selbst mit im Bild: ZDF-Reporterin Anja Roth - hier mit dem sardischen Schäfer Tonino Tola (84). (Bild: ZDF/Frederic Ulferts)

Stets selbst mit im Bild: ZDF-Reporterin Anja Roth – hier mit dem sardischen Schäfer Tonino Tola (84). (Bild: ZDF/Frederic Ulferts)

Im ZDF haben sie mal wieder alle Probleme dieser Welt einfach weggelächelt.

„Wie geht die Welt mit ihren Alten um?“ lautete das Thema – und wurde weitgehend verfehlt. Es war gedankenarmes Wohlfühl-Fernsehen nach Art eines Boulevard-Magazins, mit dem uns die Reporterin Anja Roth vom Leben älterer Menschen rund um den Erdball berichtet hat. Immer lachend, immer munter und vergnügt. Wirklich gravierende Probleme oder gar bedrückende Armut kamen ja auch in dieser neuen Ausgabe von „außendienst XXL“ kaum vor. Im Gegenteil: Die meisten der gezeigten Leute konnten sich das bessere Leben schlichtweg finanziell leisten.

Fit und schön in Brasilien

Immer selbst mit im Bild: Reporterin Roth, die anscheinend weltweit keinen Dolmetscher brauchte. Sie war dabei, als sich „Senioren“ in Brasilien bis ins hohe Alter sportlich erstaunlich fit hielten und in Schönheitssalons strömten. Auch erfuhr sie, dass das Land den Weltrekord im Viagra-Verbrauch hält. Betagte Männer heiraten in zweiter Ehe oft junge Frauen. In diesem Zusammenhang fiel ein herzlich dummer Satz: „Bei so viel jüngerer Konkurrenz heißt es für die älteren Frauen: Gas geben.“ Ach, du meine Güte…

Prost auf die Hundertjährigen

Fröhlich ging’s weiter nach Japan, wo sich eine ältere Dame als Erntehelferin betätigte. Die schwere Arbeit wurde ihr von einem neuartigen Roboter (Stückpreis umgerechnet rund 7000 Euro) erleichtert, der ungeahnte Körperkräfte verlieh. Anja Roth fand’s verrückt und crazy – wie beinahe alles, was sie auf dem Globus so erlebte.

Auch auf der Insel Sardinien, wo es in bestimmten Gegenden viele über hundertjährige Menschen gibt, war sie rundum froh. Ein alter Schäfer schwor auf lebensverlängernden Käse und Rotwein. Prost!

Kostspielige Reise

Aber es war noch ein bisschen Gebührengeld übrig. Also durfte Anja Roth mit ihrem Team auch noch in die USA (sündhaft teure High-Tech-Häuser für alte Menschen), nach Israel (Cannabis-Behandlung gegen Schmerzen) und Ghana (fröhliche Beerdigungen) reisen. Mehrfach wurde immerhin klar, wie wichtig fürs gute Leben im Alter eine Einbindung in die – möglichst aus mehreren Generationen bestehende – Familie ist. Man hat so etwas allerdings schon mal gehört.

Zum postkartengerechten Sonnenuntergang verriet Anja Roth schließlich ihr Fazit: Der Mensch brauche auch im Alter eine Aufgabe oder eine Leidenschaft. Und man müsse immer offen bleiben für neue Ideen. Ach was! Für diese Weisheiten hat man die lachlustige junge Frau kostspielig um die ganze Welt geschickt?




TV-Nostalgie (24): „Der große Bellheim“ – Die älteren Herren wollen es noch einmal wissen

Vier ältere Herren wollen es noch einmal wissen – und wie! Wohl selten ist der Segen langjähriger Berufserfahrung so schlüssig vor Augen geführt worden wie im legendären Vierteiler „Der große Bellheim“.

Drei vom Quartett (v. li.): Mario Adorf, Will Quadflieg, Hans Korte - es fehlt nur Heinz Schubert. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=qP0JA3vx_gs)

Drei vom Quartett (v. li.): Mario Adorf, Will Quadflieg, Hans Korte – es fehlt nur Heinz Schubert. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=qP0JA3vx_gs)

Regisseur Dieter Wedel konnte bei den Dreharbeiten (1991/92) auf eine ungemein erlesene Darstellerriege vertrauen – allen voran das Quartett Mario Adorf (in der Titelrolle des Peter Bellheim), Heinz Schubert, Will Quadflieg und Hans Korte. Sie raufen sich nach und nach zusammen, um das altehrwürdige Kaufhaus Bellheim zu sanieren, das in Schieflage geraten ist und überdies von fiesen Finanzjongleuren (Heinz Hoenig, Leslie Malton) skrupellos attackiert wird.

Langweiliger Ruhestand

Eigentlich hatte sich Peter Bellheim schon mit 57 Jahren nach Spanien zurückgezogen, um den sonnigen Ruhestand zu genießen. Kurz vor seinem 60. Geburtstag erfährt er, dass die Hannoversche Kaufhauskette in Schwierigkeiten steckt. Die Hiobsbotschaft kommt ihm sozusagen gerade recht. „Der große Bellheim“ wollte ohnehin nicht mehr dauernd herumsitzen, nicht mehr jeden Tag bis zum Überdruss ausspannen. Oder wie ein Freund es formuliert: Irgendwann ist die Briefmarkensammlung halt fertig sortiert.

Ausgefuchste Wirtschaftsprofis

Auch die drei anderen, allesamt ebenso ausgefuchste Wirtschaftsprofis, wollen sich – allen Zipperlein zum Trotz – endlich mal wieder beweisen. Anfangs zieren sie sich noch ein wenig, doch Peter Bellheim muss keine allzu großen Überredungskünste aufwenden, um sie mit ins Boot zu holen. Gewiss, sie sind noch ein paar Jährchen älter als Bellheim und nicht mehr ganz so fit wie ehedem, doch Klugheit und Erfahrung machen das bei weitem wett. Da zeigen sie es allen jungen Schnöseln. Die klopfen derweil ziemlich dumme Sprüche: „Die Eskimos machen es richtig, die setzen ihre Alten einfach aus…“

Wedels Vierteiler (Erstsendung im Januar 1993 im ZDF, Gesamtlänge satte 455 Minuten) ist eine großartig gespielte Komödie über die besondere Leistungsfähigkeit von „Senioren“, wobei dieses immer etwas gönnerhaft klingende Wort hier so gar nicht passend erscheint. Es sind einfach gestandene Burschen, die es immer noch „drauf haben“. Punkt.

Das Thema bleibt aktuell

Die über 20 Jahre alte Reihe ist zeitgeschichtlich interessant, weil sie die Anfänge der Banken- und Börsenzockerei in Deutschland aufgreift und mit Blicken hinter die Kaufhaus-Kulissen auch den ziemlich freudlosen Stechkarten-Alltag der einfachen Angestellten einbezieht.

Außerdem mutet die Handlung aus heutiger Sicht sehr aktuell an. Die gegenwärtig wieder neu aufgeflammte Debatte, ob unsere Gesellschaft es sich leisten kann, fähige Menschen zu früh in den Ruhestand zu entlassen, wird hier in höchst unterhaltsamer Form angestoßen. Kurz und gut: Das ist ein Stoff, aus dem Fernsehklassiker gemacht sind.

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in „Das aktuelle Sportstudio“ (23)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Nur ein Ausruf statt eines vierfachen Nachrufs: Verfluchter Tod!

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Die Einschläge kommen näher? Nein, mit diesem billigen Schauder-Scherzchen kommen wir nicht davon, wenn – wie dieser Tage – kulturelle Vorbilder in rasend kurzer Abfolge sterben.

Man verzeihe die in der Summe beinahe lieblos wirkende Aufzählung, doch sie alle haben in den letzten Tagen die Welt verlassen: der Dirigent Lorin Maazel, der Schauspieler Gert Voss, die Schriftstellerin Nadine Gordimer und der Rockgitarrist Johnny Winter.

Ganz verschiedene Gestalten der Künste, fürwahr. Doch jede(r) eine große Schöpferkraft auf seinen Feldern. Menschen, die in beispielhafter Weise verwirklicht haben, was ihnen gegeben war.

Dies ist kein Nachruf. Erst recht kein vierfacher. Ich kann wahrlich nicht behaupten, dass ich von allen vier Werken gleich viel verstünde. Wer könnte das schon? Aber man ist – mehr oder weniger – von diesen immensen Lebensleistungen berührt worden.

Gewiss: Auch mit jeder armen, unscheinbaren Seele schwindet ein Stück Welt. Doch in den genannten Fällen gehen zudem ganze Welten dahin, die viele Menschen miteinander verbunden haben.

Man möchte stets wieder „Oh nein!“ ausrufen, wenn man solche Nachrichten hört. Man möchte dem elenden Tod noch und noch widerstehen. Erhellendes dazu lese man beim heroischen Todes-Widersacher Elias Canetti nach.

Man verliert auch etwas von sich, wenn solche Künstler gehen. Allein das Bewusstsein, dass von ihnen nichts Neues mehr kommen wird, lässt uns wieder ein wenig altern. Auch die Erwartung und die Ausrichtung auf Zukunft sterben stückweise. Wir werden es weiterhin erleben – und ersterben.




Tiefen und Untiefen des Alltags: David Gutersons Erzählungen „Zwischen Menschen“

Für die Redewendung, wonach der Alltag die besten Geschichten schreibt, bietet der US-Schriftsteller David Guterson mit seinem neuen Band „Zwischen Menschen“ gelungene Beispiele. Der Autor, der durch seinen Roman „Schnee, der auf Zedern fällt“ weltweit Berühmtheit erlangte, erzählt von menschlichen Begegnungen. In den zehn Episoden erscheint das Aufeinandertreffen der Beteiligten anfangs eher belanglos, bevor sich die eigentlichen Dimensionen erschließen.

Mit jedem Kapitel beweist Guterson sein Talent, die Figuren psychologisch exakt zu taxieren, wodurch ihre Gegensätze und die Spannungen in den jeweiligen Beziehungen deutlich zu Tage treten. Ganz selten nur ist harmonische Stimmung zu spüren, die will auch nicht in der Kurzgeschichte „Paradise“ aufkommen, die davon handelt, dass sich zwei ältere Menschen, eine Soziologin und ein Handelsrechtler, über eine Kontaktbörse kennen gelernt haben und nun auf den richtigen Partner für den Lebensabend hoffen. Doch die Vergangenheit kann manchmal dunkle und vor allem lange Schatten werfen, wenn Kindheits- und Jugenderlebnisse nicht aufgearbeitet werden.

9783455404814„Problems with people“ lautet der Originaltitel des Buches, eine Überschrift, die auf alle Erzählungen zutrifft. Da möchte ein Vermieter wohl gerne enger verbandelt sein mit seiner Mieterin, doch die Annäherungsversuche sind zwar nicht plump, aber auch keineswegs gelungen. Aber selbst wenn er überzeugender aufgetreten wäre, stellt sich die Frage, ob sie ihm wirklich eine Chance gegeben hätte. Diese Geschichte lebt vor allem durch eine aus Sicht des Wohnungsbesitzers eher ungewollte Komik.

Wortwitz prägt vor allem die Zusammentreffen eines Seniors mit der Hundesitterin, die er für seinen Vierbeiner gebucht hat. Die Gespräche lassen den Kontrast zwischen den beiden Menschen überdeutlich werden, doch trotz aller Rivalität entwickelt sich eine tiefe Bindung, die auch noch hält, als der ältere Herr ins Hospiz kommt.

Wie sich das Leben durch Demenz verändert, darüber sind schon Bücher über Bücher geschrieben worden. Guterson schildert das Schicksal eines an Demenz erkrankten Anwalts, der kurz nach seiner Pensionierung die Diagnose erhält. Nun möchte er wenigstens noch die größte innere Belastung loswerden und wissen, wie es um den Sohn bestellt ist, zu dem seit Jahren kein Kontakt mehr besteht. Ob die Entscheidung am Ende aber wirklich so glücklich war, darüber lässt sich vortrefflich streiten.

Immer wieder erweist sich Guterson als Schriftsteller, der die Gefühle der Menschen zu beschreiben weiß, ihren Unmut, ihre Freude, ihre Wut oder auch ihre Verzweiflung. Die prägt das Leben eines Paares, dessen Sohn durch ein Unglück auf einem Schiff starb. Nun müssen sich die Eltern der Situation stellen, dass der Kapitän mit ihnen über den Unfall sprechen möchte.

Die wohl stärkste Geschichte hat sich der Autor für den Schluss seines Buches aufbewahrt. Er schildert darin den Aufenthalt eines Juden in Deutschland, der im Alter von sechs Jahren und kurz vor der Reichspogromnacht mit seinen Eltern aus Deutschland floh. Eine Woche verbringt der Mann nun mit seinem Sohn in dem Land, für das er eigentlich nichts anderes als Verachtung übrig hat.

Als Leser empfindet man tiefe Sympathie für diesen Menschen, der eine Gedenkstätte nach der anderen aufsucht, um das Unfassbare zu verstehen. Am Ende hat er sich in die Reiseführerin verguckt. Krasawize hätte man sie zu seiner Jugendzeit genannt, erzählt er. So lautete der Ausdruck für eine Klassefrau.

David Guterson: „Zwischen Menschen“. Aus dem Englischen von Georg Deggerich, Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß. Hoffmann und Campe, 208 Seiten, 19,99 Euro.




Genial, aber politisch naiv: Musikforscher Ulrich Konrad über Richard Strauss

„Salome“, „Der Rosenkavalier“, „Elektra“: Richard Strauss ist nicht erst im 150. Jahr seiner Geburt auf der internationalen Opernbühne präsent. Er mag nicht zu den meistgespielten Komponisten gehören, zu den meist geschätzten zählt er auf jeden Fall. Kein Dirigent kann es sich leisten, auf Strauss zu verzichten; kein Opernhaus geht an seinen Hauptwerken vorbei. Und dennoch ist der Mensch Richard Strauss seltsam ungreifbar.

Bewandert in Sachen Strauss: Der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad. Foto: Werner Häußner

Bewandert in Sachen Strauss: Der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad. Foto: Werner Häußner

Seine Selbstinszenierung war „wasserdicht“: Nach außen ein bayerischer Großbürger, nach innen undurchschaubar. Auch die Forschung zu Richard Strauss kommt erst in Gang. Im Interview mit Werner Häußner erklärt Ulrich Konrad, Vorstand des Instituts für Musikforschung an der Universität Würzburg und anerkannter Strauss-Experte, was in Sachen Strauss noch nachzuholen ist.

Sie haben sich lange mit Richard Strauss beschäftigt. Haben Sie einen Zugang zu seiner Person gefunden?

Letztlich ist die Person Richard Strauss hinter ihrem bürgerlichen Habitus undurchdringbar. Selbst auf Fotos zeigt er stets eine Maske; es gibt nur ein paar Bilder, auf denen er einmal lacht. Was hinter dieser Stirn vorging, wissen wir nicht. Es gibt auch keinen Skandal in diesem Leben. Mit seiner Frau Pauline de Ahna führte er ein unverbrüchliches Lebensbündnis. Sein äußerlich geordnetes Leben entspricht in keiner Weise dem Klischee der Künstlerexistenz.

Und sein politisches Denken? Immerhin war Strauss Präsident der Reichsmusikkammer in der NS-Zeit …

Ich würde ihn als politisch naiv bezeichnen. Strauss hat sich immer mit den Mächtigen arrangiert. Er war ein schonungsloser Realist und dachte völlig unidealistisch. Als die Nazis an die Macht kamen, war Strauss viel zu berühmt, um nichts mit der Sache zu tun haben zu können. Das Regime biedert sich ihm an, und er macht mit, weil er die Chance sieht, seine kulturpolitischen Vorstellungen durchzusetzen: weg mit Lehár, weg mit Komponisten wie Gounod. Die Moderne hielt er für ‚Bockmist‘. Er glaubte allen Ernstes, die Nazis würden auf ihn hören und er könnte sein konservatives Ego-Programm durchsetzen. Erst spät hat er gemerkt, wie ihm die Felle davonschwimmen.

Ein Beispiel für seine politische Naivität: Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Post abgefangen und mitgelesen würde. Daher zieht er in einem berühmten Brief an Stefan Zweig über die Nazi-Ideologie her, was ihn in den Augen des Regimes diskreditiert hat. Aber in diesem Brief ist Strauss vollkommen ehrlich. Auch seine Reise nach Theresienstadt, um durch persönliches Erscheinen die Großmutter seiner Schwiegertochter aus dem KZ zu holen, gehört hierher: Strauss glaubte im Ernst, die Nazis würden nachgeben, wenn er, der berühmte Komponist, persönlich vor dem Lagertor steht.

Strauss‘ Denken war also von keinen Idealen oder gar von religiösen Werten bestimmt?

Die Unterschrift von Richard Strauss. Foto: Wikimedia

Als in Berlin 1918 das Kaiserreich zusammenbricht, notiert Strauss nur, dass ein Konzert ausfalle und er stattdessen Skat gespielt habe. Er nimmt ein welthistorisches Ereignis nur beiläufig wahr. Für ihn als Agnostiker zerbricht kein metaphysisches Weltbild – der Leser von Max Stirner und Friedrich Nietzsche hatte keines. Für ihn ist alles immer weltlich, seine Religion heißt Arbeit. Der bedeutende Mensch schafft aus sich selbst heraus die große Tat – da braucht es keine religiösen oder metaphysischen Verweise. So zeigt es sich auch in seinen Werken: Bei ihm gibt es das Spiel mit den Göttern, aber keine geistliche Musik, und seine Götter sind zweifelhafte Helden … .

Strauss hat tatsächlich keine geistlichen Werke geschrieben, von den vier Sätzen einer Messe in seiner Jugend (1877) abgesehen.

Der Theaterzettel der Uraufführung von „Salome“ an der Dresdner Oper, 9. Dezember 1905.

Diese Werke des Zwölfjährigen sind Übungsstücke, keine Bekenntnismusik. Es gibt keine religiöse Musik bei Strauss, das Religiöse wird allenfalls aus einer völlig säkularen Perspektive gesehen: das ist der Gestus des „Zarathustra“. Eine Art von Weltanschauung findet sich höchstens in der Motette „Die Schöpfung ist zur Ruh‘ gegangen“ auf Worte von Friedrich Rückert. Aber auch da geht es um die künstlerische Arbeit.

Strauss‘ Familie war ja nach 1870 altkatholisch.

Ihn hat das nicht tangiert. In seinem Werk finden sich wenige Themen aus dem Alten Testament: der Prophet Jochanaan in „Salome“, die „Josephslegende“. Aber ihnen begegnet er mit Spott und Ironie: Über die religiösen Debatten der Nazarener macht er sich in „Salome“ musikalisch lustig. Jochanaan nimmt er nicht ernst. Und mit dem keuschen Bürschlein in der „Josephslegende“ kann er nichts anfangen. In einer „atavistischen Blinddarmecke“ werde er nach einer Melodie für den Joseph suchen, schreibt er in einem Brief. Auf „Heiligkeit“ reagiert er – wie übrigens auch auf alle Ideologien – ironisch.

Und wie ging er mit dem katholischen Bekenntnis seiner Frau um?

Das war zunächst einmal eine bayerische Tradition. Mir ist nicht bekannt, dass in der Familie Strauss in irgendeiner Form ein religiöser Alltag stattgefunden hat. In der Erziehung der Kinder spielte Religion oder Glaube keine Rolle. Wert legte Strauss auf die humanistische Bildung, die Lektüre altgriechischer Autoren, die Lektüre Goethes.

Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus. Hat Strauss in irgendeiner Weise in seinem Werk auf diese „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ reagiert?

Dass der erste Weltkrieg die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ein für alle Mal zerschlagen hat, ist in Strauss‘ Erleben zunächst nicht präsent. Strauss hat nicht den geringsten Zweifel: Er macht deutsche Musik. Eine nationalistische Perspektive, die er übrigens auch mit Schönberg teilt. Im Zuge der Entstehung der „Frau ohne Schatten“ zwischen 1911 und 1915 schreibt er in einem Brief an Hugo von Hoffmannsthal, er verspreche, dies sei die letzte romantische Oper gewesen. Offenbar war Strauss bewusst, dass in dieser Zeit etwa zu Ende gegangen ist.

Schlägt sich dieses Bewusstsein im späteren Werk nieder?

Richard Strauss im Jahre 1922. Foto: Ferdinand Schmutzer/Österreichische Nationalbibliothek

„Intermezzo“, uraufgeführt 1924, ist ein schönes Beispiel: Auch ein Mann wie Strauss – er war bereits 60 Jahre alt – begreift zumindest, dass sich die Welt um ihn herum ändert, auch wenn er das nicht nachvollziehen kann oder will. Beobachtbar ist auch ein Nachlassen seiner Produktivität in den zwanziger Jahren. Seinen Opern – „Intermezzo“ 1924 und „Die ägyptische Helena“ 1928 – war der Erfolg zwar bei der Uraufführung, aber nicht dauerhaft gewogen. Das änderte sich erst 1933 wieder mit „Arabella“.

Zu spüren ist in dieser Zeit eine gewisse Richtungslosigkeit: Strauss will den „Menschen der Gegenwart“ auf die Bühne stellen. Er dachte an eine Art gesellschaftskritischer Spieloper – was für Hoffmannsthal unvorstellbar war. Strauss reagierte also nicht mit radikaler Veränderung, sondern mit einer Unsicherheit in der künstlerischen Orientierung. Bedenkenloses Weitermachen war für ihn nicht vorstellbar. In „Intermezzo“ ist zu sehen, wohin Strauss gehen wollte; letztlich hat er dann in „Die ägyptische Helena“ vor dem intellektuellen und kulturellen Überbau kapituliert, der in Hoffmannsthals schwerem Bildungstheater angehäuft ist. Das Verhältnis zwischen Strauss und dem Dichter, das meistens idealisiert wird, ist in der Forschung auch noch nicht bewältigt.

Die Strauss-Forschung bedürfte ja auch einiger Impulse durch das Jubiläumsjahr …

Diese Impulse kommen nicht aus den Jubiläen, sondern von der Forschungsstelle Richard Strauss in München. Am Institut für Musikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität ist im Februar 2011 das Langzeit-Editionsprojekt „Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss“ in Angriff genommen worden. Kooperationspartner des Projekts ist das Richard Strauss-Institut in Garmisch-Partenkirchen mit seinem seit 2009 durchgeführten DFG-Projekt „Richard-Strauss-Quellenverzeichnis“. Die philologisch orientierte Forschung ist damit in Gang gekommen.

Das Heim eines Großbürgers: Die Villa von Richard Strauss in Garmisch. Foto: Wikimedia/Josef Lehmkuhl

Was bisher fehlt, ist unter anderem eine Übersicht über die reichhaltige Korrespondenz Strauss‘ und ein umfassendes Quellenverzeichnis. Diese Forschungen dürften die wissenschaftliche und hoffentlich auch öffentliche Wahrnehmung von Richard Strauss verändern. Strauss selbst hielt wissenschaftliche und biografische Forschung zwar für überflüssig, es sei denn, es ging um die Darstellung seines künstlerischen „Heldenlebens“. Aber auch im Wissenschaftsbetrieb war Strauss – nicht zuletzt durch den Essay von Theodor W. Adorno zum Jubiläumsjahr 1964, der unabsehbare Folgen hatte – kaum ein Thema: Mit einer Arbeit zu Strauss anzutreten, hätte damals das Ende der akademischen Karriere bedeutet.

Diese Situation hat sich erst im Zuge der Postmoderne gelockert: Durch den historischen Abstand werden die Dinge entspannter gesehen. Die ideologische Ausrichtung auf die Wiener Schule und die Frage Adornos nach dem zeitgemäßen Material ist relativiert. Auch mit dem artifiziellen, spielerischen Umgang mit der Vergangenheit in Strauss‘ späten Werken lässt sich vielleicht aus postmoderner Perspektive heute mehr anfangen.




Die Kriegsbegeisterung war schnell dahin

In den letzten Tagen wurden wir mit Bildern überschüttet, die der alliierten Landung in der Normandie vor 70 Jahren und damit unserer Befreiung von der NS-Diktatur galten. Darüber ist wieder ein wenig das Gedenken an den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs in den Hintergrund getreten.

Mit Begeisterung waren auch in Deutschland die jungen Männer nach der Mobilmachung Anfang August 1914 in ihre Kasernen eingerückt. Weihnachten wollte man siegreich wieder zu Hause sein.

„Auf zur Visite beim Väterchen Franz in Paris“ malten in Ennepetal junge Soldaten auf ein Schild und stellten sich lächelnd dahinter für den Fotografen auf, doch schon nach wenigen Wochen kamen die ersten Todesnachrichten in der Heimat an, und es wurden immer mehr. Millionen starben schließlich in diesem dreckigen und sinnlosen Krieg, und die weltpolitischen Folgen wirken heute noch nach – sei es auf dem Balkan oder in der Türkei, in Griechenland oder in der Ukraine.




Familienfreuden auf Reisen: Der Engel im Clownskostüm

 

Die Versuchung ist groß - der Wille auch. (Bild: Albach)

Die Versuchung ist groß – der Wille auch. (Bild: Albach)

Sommer, Sonne, Strand – diesmal kein Klischee, sondern Realität: Wir sind auf Menorca! Und Fi gewöhnt sich langsam an die hiesige Lebensart.

Wir waren bewaffnet. Für den Flieger meine ich. Gefühlte 20 Pixi-Bücher, Handpuppen, Fruchtriegel, Windeln, Feuchttücher. Für jede Eventualiät gerüstet. Und was geschah? Fi ließ fröhlich die Beine in ihrem Sitz baumeln, kaute ihr Sandwich, lugte durch die Sitze zu dem Jungen vor ihr und schlief sogar irgendwann ein. Kind, wer hat Dich erfunden?

Vielleicht hat Fi geahnt, dass ein kleines Paradies auf sie warten würde. Der Eingang dazu entpuppte sich als Strandbar mit selbst hergestelltem Eis. Auch mit der Sorte SchokoLADE im Sortiment. Kleine Hände können eine Eiswaffel sehr fest umklammern. Und jeder der Strandspaziergänger, denen wir anschließend begegneten, musste grinsen angesichts dieses schokobärtigen Kindes, das aussah, als sei es kopfüber in flüssige Schokolade gefallen. Mal anders ausgedrückt: Der elterliche Wille, das Kind gesund und vielseitig zu ernähren und nicht mit Konsum zu überschütten, wird arg angekratzt, wenn einem nonstop andere Nachwüchse über den Weg laufen, die Eis schlecken, Pommes essen oder sonstwie von der Fast food Industrie als Werbeträger angeheuert wurden.

Auch der Gang in den Pool wird zur Abwehrschlacht: Wir haben einen Schwimmring und einen Eimer dabei. Fi sieht: Schwimmende Fische, Krokodile, Boote. Und lernt das Wort „kaufen“! „Auch Boot kaufen, auch Fisch kaufen“, lautet der Sirenengesang, dem man sich kaum entziehen kann. Hart bleiben kommt einem plötzlich grausam und so spielverderberisch puritanisch vor.

Fi jedenfalls passt sich schnell an die Umgebung an. Die spanischen Damen begrüßt sie schon mit „Hola“! Und erntete dass aufgeregte Gekreische und wilde Geküsse der Kellnerinnen anfangs noch einen entsetzten Gesichtsausdruck und einen Fluchtimpuls in den elterlichen Arm, streckt Fi jetzt bereits ihre Wange hin und verteilt selbst schmatzende Luftküsse.

Das größte aber ist eine Einrichtung, die wir wahrscheinlich sträflich missachtet hätten, wären unsere Nachbarn mit Tochter im gleichen Alter nicht so freundlich gewesen, uns darauf aufmerksam zu machen: die Mini-Disco! Menschen ohne Kinder dürften sich eher mit Grausen abwenden, wenn das kleine Animatoren-Team mit seinem Lautsprecher anrückt, die grellen Töne erklingen und die Kinder loshüpfen.Für Fi ist es der Himmel. Und der Engel darin ist in Form einer ansehnlichen Dame auf die Erde gekommen, die sich allabendlich in ein neues Clownskostüm wirft, die Lippen rot schminkt und einen Glitzerhut aufsetzt. Fiona kann den Blick nicht von ihr lassen, während ihre kleinen Beinchen auf und ab hüpfen. Und die Eltern? Die klatschen verzückt mit, das Eis für später in der Hand, das Gummiboot im Supermarkt nebenan in Gedanken schon gekauft.

Glück hat eben viele Gesichter.

 

Mehr über Nadine Albach unter www.medienwiese.tv




Deckname „Garbo“: Der spanische Doppelagent, der das Nazi-Regime überlistete

Berufsziel Spion klingt schon ziemlich verwegen, aber noch kühner war es wohl, dass sich jemand vorgenommen hat, als Agent gegen das Nazi-Regime zu kämpfen. Es war der Spanier Joan Pujol García, der diesen Entschluss in Zeiten fasste, als die deutsche Wehrmacht Europa überrollte.

Dass Pujol einmal eine Schlüsselrolle in der sicherlich größten militärischen Landungsoperation spielen sollte, die die Welt je gesehen hat, war in den Januartagen 1941 nicht vorhersehbar. Der „D-Day“ (Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, also morgen vor 70 Jahren) lag noch in weiter Ferne, als der zu jener Zeit in Madrid lebende Pujol seine Frau losschickte, um in der britischen Botschaft nachzufragen, ob man einen Spion gebrauchen könne.

05dd02d048Als „naiven Plan“ bezeichnet Arne Molfenter das Ansinnen des gebürtigen Katalanen. Der Autor (Jahrgang 1971) legt eine Biografie des Mannes vor, der sich schließlich als gewiefter Doppelagent erweisen sollte. Unter den Namen Garboo trug der einstige Hühnerzüchter wesentlich dazu bei, dass die verantwortlichen Militärs des NS-Regimes bis hin zu Hitler vor allem darin getäuscht wurden, wo die Alliierten den Kanal überqueren würden. Selbst nach der Landung in der Normandie schaffte es Pujol, die Deutschen glauben zu machen, der eigentliche Angriff stehe noch bevor.

Das Buch des Journalisten Arne Molfenter, der heute für die Vereinten Nationen arbeitet, ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Molfenter erinnert an einen Mann, der in den Geschichtsbüchern bislang nur wenig Beachtung gefunden hat und erläutert auch die Ursachen. Zugleich erzählt er nach intensivem Quellenstudium die Lebensgeschichte auf äußerst spannende Art und Weise.

Pujols Agentenplan wäre vermutlich ein Intermezzo in seiner Vita geblieben, wenn er sich vom Flop mit der britischen Botschaft hätte abschrecken lassen. Er besaß jedoch einen eisernen Willen, mit dem er sich auch gegen eine Ehefrau durchzusetzen wusste, die offensichtlich mit dem Begriff „hysterisch“ noch sehr euphemistisch beschrieben ist.

Der Autor lässt den Leser teilhaben an der Entwicklung eines Mannes, der seine weiteren Schritte sehr wohl bedachte und erst einmal Kontakt mit der deutschen Abwehr aufnahm, um sich als Mitarbeiter anzudienen. Die Bindungen zwischen dem Deutschen Reich und Spanien waren nach dem Sieg Francos, an dem die deutsche Legion Condor maßgeblichen Anteil hatte, ohnehin sehr eng. Nun zeigten auch die Briten an Pujol aufgrund seiner Verbindungen zu den Deutschen großes Interesse – und alsbald wurde aus ihm ein Doppelagent.

Gegenüber der deutschen Abwehr gab sich Pujol als überzeugter Nazi, erschlich sich das Vertrauen seiner Verbindungsmänner, um an militärische Pläne zu gelangen, die er dann den Briten zuspielte. In Diensten der Engländer setzte er zahllose Funksprüche ab, um die Deutschen zu irritieren. Die wahren Absichten der Alliierten sollten ihnen verborgen bleiben. Dass die NS-Militärs dem Täuschungsmanöver aufsaßen, lässt sich nach Molfenters Ausführungen historisch nachweisen. 22 deutsche Divisionen warteten auch noch acht Wochen nach dem D-Day in der Nähe von Calais auf den vermeintlichen Hauptangriff der Alliierten.

Das Kalkül der Alliierten bestand darin, dass die Deutschen möglichst wenige Truppen am Landungsort des D-Day stationieren sollten, vor allem auch, um die Opferzahlen so gering wie möglich zu halten. Menschenleben zu retten war auch das erklärte Motiv von Pujol für sein Handeln. Als er aber 40 Jahre später erstmals den Boden der Normandie betrat und die Friedhöfe nahe der Landungsstelle Pointe du Hoc aufsuchte, wirkte er eher resigniert: „Aber ich habe nicht genug getan“.

Am Ende des Krieges wurde er zum Mitglied des Ordens vom britischen Empire gekürt, die Auszeichnung hat Pujol aber erst viel später erhalten. Denn der britische Geheimdienst hatte ihn zu seinem eigenen Schutz „sterben lassen“ und seinen Tod verkündet. Man befürchtete, die ehemalige deutsche Abwehr könnte immer noch konspirativ zusammenarbeiten und den Spanier ausfindig machen.

Erst in den 80er Jahren begann, wie Molfenter schreibt, ein konservativer britischer Abgeordneter im Auftrag der Regierung mit der Aufarbeitung der Rolle des Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg und erkannte auch die Bedeutung Pujols. Er machte ihn in Venezuela ausfindig, wo der einstige Doppelagent seinen Lebensabend verbrachte. Jetzt erst nahm er wieder Kontakt zur Familie auf, besuchte Europa und wurde für seinen Einsatz geehrt.

Die britische Premierministerin Margret Thatcher war es, die lange Zeit versucht hatte, Nachforschungen zu Pujol zu unterbinden, schreibt der Autor. Sie habe die Deutschen nicht verärgern wollen. Oder ging es ihr vor allem nur um einen Deutschen – einen Gleichgesinnten, den konservativen Kanzler Kohl?

Arne Molfenter: „Garbo, der Spion – Das Geheimnis des D-Day“. Piper-Verlag, 288 Seiten, 26 Abb. 19,99 Euro.




Verlockungen der Bohème: Die Novelle „Später Ruhm“ aus dem Nachlass von Arthur Schnitzler

Früher einmal war Eduard Saxberger ein fescher junger Kerl und ein künstlerisch umtriebiger Dichter, der mit seinen poetischen „Wanderungen“ für Aufsehen sorgte. Doch das ist lange her. Heute ist er ein alter Mann, ein von der Welt vergessener Beamter, der in irgendeiner Wiener Behörde seit Jahrzehnten seinen Dienst leistet.

Seine einzige Freude sind die abendlichen Spaziergänge und die Besuche im Wirtshaus. Fast schon hat er vergessen, welche hochfliegenden Pläne er einst hatte und wie schön es gewesen wäre, allein vom Schreiben leben zu können. Doch dann steht plötzlich ein junger Mann vor seiner Tür, der sich als glühender Verehrer seiner frühen Verse und Mitglied des Schriftstellervereins „Die Begeisterten“ zu erkennen gibt. Geschmeichelt nimmt Saxberger zur Kenntnis, dass man ihn als Vorbild auserkoren habe und ihn einlade, an den Versammlungen und Lesungen ihres Zirkels teilzunehmen.

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Fasziniert von den hitzigen Debatten um echte und wahre Kunst, schließt sich Saxberger der literarischen Bohème an und ist angenehm berührt, als eine attraktive junge Schauspielerin seine Verse vortragen möchte. In der Hoffnung, er sei in einen kreativen Jungbrunnen gefallen, verspricht Saxberger sogar, für die geplante literarische Matinee ein paar neue Texte beizusteuern.

Doch seine Fantasie ist längst vertrocknet, und er muss schmerzlich erkennen, dass die Aussicht auf „Späten Ruhm“ ihm das Hirn vernebelt hat und die vermeintlichen Verehrer ihn nur benutzt haben, um mit seiner Hilfe die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen: Niemand aus der Garde der aufgeblasenen jungen Wilden hat in Wahrheit je die Gedichte Saxbergers gelesen.

„Später Ruhm“ ist ein süffisant-ironisches Porträt der literarischen Bohème. Mit leichter Hand entwirft Arthur Schnitzler feine psychologische Studien, in denen sich die Abgründe der morbiden Gesellschaft spiegeln. Eigentlich kaum zu verstehen, warum dieses literarische Kleinod erst jetzt, über 80 Jahre nach dem Tode des Autors, ans Tageslicht kam.

Geschrieben hat Schnitzler die Novelle 1884, kurz bevor er mit dem skandalträchtigen Theaterstück „Liebelei“ sich endgültig als Autor von Weltrang etablieren konnte. Zehn Jahre später, das zeigen die im Archiv aufgefundenen Manuskripte, hat sich Schnitzler die Novelle noch einmal vorgenommen, letzte Korrekturen angebracht und zur Veröffentlichung freigegeben. Warum es nie dazu kam, ist ein Rätsel.

An womöglich mangelnder literarischer Qualität des frühen Werkes kann es nicht gelegen haben. Denn die kleine Novelle zeigt bereits alles, was die Kunst Arthur Schnitzers ausmacht. Mit subtilen Beobachtungen und fein geschliffenen Sätzen werden seelische Ausnahmezustände und gesellschaftliche Verwerfungen eingekreist. Schön, dass die auf wundersame Weise jahrzehntelang im Nachlass des 1931 verstorben Autors vor sich hin schlummernde Novelle jetzt dem Vergessen entrissen wurde.

Arthur Schnitzler: „Später Ruhm.“ Novelle. Mit einem Nachwort von Wilhelm Hemecker und David Österle. Zsolnay Verlag, Wien 2014. 157 Seiten, 17,90 Euro.




TV-Nostalgie (16): Dieter Hildebrandt – die besten Jahrzehnte des Kabaretts

Heute bestreiten gewisse „Comedians“ ganze Abende mit dröhnenden Flachwitzchen darüber, dass Frauen auf Handtaschen und Schuhe versessen sind oder angeblich nicht einparken können. Welch ein himmelweiter Unterschied zum politischen Kabarett, das den Namen verdient! Da geht’s beim Lachen eben auch ums Nachdenken. Und wer hätte mehr dafür gestanden als Dieter Hildebrandt? Der Mann fehlt!

Sicher: Das parteipolitische Witzeln der 50er und 60er Jahre hatte sich irgendwann mal erledigt. Doch einer wie Hildebrandt lief zwar gewiss nicht jedem Trend hinterher, ging aber mit der Zeit und entwickelte gemeinsam mit jüngeren Begabungen das Kabarett weiter, so dass es in seinen besten Momenten auch gesellschaftliche Tiefenströmungen erfasste.

Dieter Hildebrandt im Januar 1982 in der legendären "Scheibenwischer"-Ausgabe über den Rhein-Main-Donau-Kanal (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=MosvwkOelcs)

Dieter Hildebrandt im Januar 1982 in der legendären „Scheibenwischer“-Ausgabe über den Rhein-Main-Donau-Kanal (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=MosvwkOelcs)

Man schaue sich Ausschnitte seit den 80er Jahren an: Wie viele Talente er da mit untrüglichem Gespür für Qualität gefördert und selbst noch von ihnen gelernt hat! Bei ihm bekamen sie alle eine große Bühne – von Gerhard Polt bis Richard Rogler, von Konstantin Wecker bis Georg Schramm, dem wohl besten Kabarettisten der letzten Jahre, der sich jetzt leider aus der Öffentlichkeit zurückzieht.

Die Technik des Verhaspelns

Der gebürtiger Schlesier und Wahlmünchner Hildebrandt (übrigens Anhänger von 1860 München) war ein vorbildlicher, durch und durch uneitler Förderer, der andere gern neben sich gelten ließ und dafür sorgte, dass sie reifen konnten. Allein das war schon eine große Lebensleistung – ganz abgesehen natürlich von den eigenen Auftritten, bei denen er seine unvergleichliche Technik des (hellwachen) Verhaspelns kultivierte. Am Ende hatte er zwischen den Zeilen immer ungleich mehr gesagt, als Geradeaus-Sätze es vermocht hätten. Übrigens merkte man bei seinen Soli und im Ensemble auch immer wieder, dass er eine ordentliche Schauspieler-Ausbildung hatte.

Legendenstatus erlangten seine Fernsehreihen „Notizen aus der Provinz“ (1973 bis 1979 im ZDF) und „Scheibenwischer“ (1980 bis 2003 mit Hildebrandt in der ARD, danach noch bis 2008 ohne den Meister). Auch bei „Neues aus der Anstalt“ (ZDF) stand Hildebrandt noch Pate und war mit von der Partie, wenn auch nicht mehr in vorderster Linie.

Bei Konservativen oft „angeeckt“

Die „Notizen aus der Provinz“ waren ein vorproduziertes Magazin, beim „Scheibenwischer“ gab’s hingegen Live-Kabarett. Beiden Sendungen gemeinsam war allerdings, dass sie oft bei konservativen Politikern und Fernsehgewaltigen „aneckten“. Besonders heftig geführt wurde der Streit um die Ausgaben zum korruptionsträchtigen Wahnwitz des Rhein-Main-Donau-Kanals (1982) und zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl (1986). Aus der Letzteren klinkte sich der Bayerische Rundfunk aus.

Millionenpublikum mit „Lach & Schieß“

Begonnen hatten all die ruhmreichen Jahrzehnte mit der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, die Hildebrandt 1956 gemeinsam mit dem Sportjournalisten Sammy Drechsel gegründet hatte. Zwischen 1963 und 1971 hatte die Truppe ein Millionenpublikum mit ihrem ARD-Silvesterprogramm „Schimpf vor zwölf“. Nie wieder hat deutsches Kabarett so viele Zuschauer versammelt wie damals.

Nur nicht unverbindlich sein

Ende 1972 löste sich die Lach- und Schießgesellschaft auf. Willy Brandt war 1969 Kanzler geworden und das linksliberal ausgerichtete Kabarett in eine Sinnkrise geraten. Es drohte staatstragend zu werden. Doch Dieter Hildebrandt hat niemals unverbindliche Scherze getrieben. Bezeichnend, dass er sich noch viel später mit Mathias Richling überwarf, der nach 2008 just auch Comedians zum „Scheibenwischer“ holen wollte. Solche Späße waren Hildebrandt zu läppisch und er untersagte die weitere Verwendung des Titels „Scheibenwischer“.

Seit Hildebrandts Tod im November 2013 vermisst man schmerzlich eine solch gewichtige Figur, die die Szene gleichsam väterlich zusammenhalten könnte. Was er wohl dort oben über den Wolken treibt? So ganz ohne klugen Spott dürfte es auch dort nicht abgehen…

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), „Was bin ich?“ (15)




Der verkannte Meister: Zum 150. Todestag von Giacomo Meyerbeer

„Erhalte die fünf französischen Opern, die ich komponiert habe, auf dem Repertoire aller Theater der Welt während meines ganzen Lebens, und ein halbes Jahrhundert hindurch nach meinem Tode.“ Was sich der Komponist Giacomo Meyerbeer in seinem „Täglichen Gebeth“ vom „großen Gott“ gewünscht hatte, ist im Lauf der Geschichte in fataler Weise eingetroffen und wirkt bis heute nach: Während sich im letzten Jahr zu den 200. Geburtstagen von Richard Wagner und Giuseppe Verdi der merkantil beschleunigte Reigen des sowieso Bekannten noch erhitzter drehte, bleibt es in diesem Jahr um den 150. Todestag des dritten und vielleicht wichtigsten Erfolgskomponisten des 19. Jahrhunderts still.

Alle großen Opernhäuser drücken sich um Meyerbeers monumentale Werke; selbst seine Heimatstadt und – neben Paris – wichtigste Wirkungsstätte Berlin schafft es gerade einmal, seine opéra comique „Dinorah“ aufzuführen, und das auch nur konzertant, aber immerhin als Auftakt eines Meyerbeer-Zyklus‘, während Daniel Barenboim als glamouröser medialer Protagonist des hauptstädtischen Musiklebens mit „Parsifal“ wieder einmal ein Wagner-Event auf den Markt wirft.

Auch das Dutzend der Musiktheater in Nordrhein-Westfalen nennt seit Jahren den Namen Meyerbeer nicht auf den Spielplänen. Wären nicht ein so passionierter Entdecker wie Peter Theiler in Gelsenkirchen Intendant gewesen, hätte es auch 2008 dort nicht „Die Afrikanerin“ gegeben. Sie war in NRW neben „Der Prophet“ 2004 am historischen Schauplatz in Münster und der Rarität „Dinorah“ in Dortmund (2000) unter John Dew die bisher jüngste Meyerbeer-Tat des neuen Jahrtausends.

Theiler sorgt am Staatstheater Nürnberg für den bisher einzigen Lichtblick in diesem Meyerbeer-Jahr: Dort haben „Les Huguenots“ am 15. Juni Premiere. Wer heute von einer „Renaissance“ spricht, weil es hier und da einmal eine Wiederaufführung gibt, verbreitet leider Zweck-Optimismus: Keines der großen Opernhäuser pflegt ein Meyerbeer-Repertoire, keines bietet eine kontinuierliche Arbeit mit seinen Werken an.

Günstige Voraussetzungen – aber keine Rezeption

Dabei sind die Voraussetzungen heute so günstig wie seit Meyerbeers überraschendem Tod am 2. Mai 1864 nicht mehr. Die alten nationalen und antisemitischen Vorurteile sollten den Blick nicht mehr verstellen. Forscher wie Gudrun und Heinz Becker oder Sabine Henze-Döhring und Sieghart Döhring – letztere Autoren einer brandneuen Meyerbeer-Biografie im Verlag C.H. Beck – haben Person und Werk historisch erschlossen. Die Opernhäuser könnten auf neu ediertes, kritisches Notenmaterial zurückgreifen.

Dirigenten wie Marc Minkowski („Les Huguenots“ in Brüssel 2011), Frank Beermann („L’Africaine“ unter dem von Meyerbeer vorgesehenen Titel „Vasco de Gama“ 2013 in Chemnitz) oder Enrico Calesso („L’Africaine“ in Würzburg 2011) haben die spezifischen Qualitäten der kompositorischen Großformen und der raffinierten Instrumentation erkannt und die willkürlichen, entstellenden Kürzungen der Vergangenheit rückgängig gemacht. Und musikalisch hervorragend gebildete Sänger eröffnen die Chance, die schwierigen Gesangspartien – auf deren Interpretation Meyerbeer allergrößten Wert gelegt hat – stilistisch ansprechend gestaltet zu hören.

Die Unlust der Regisseure?

Warum also kein Meyerbeer? Die Antwort muss wohl in einem Knoten aus nachwirkendem Vorurteil, Scheu vor dem Aufwand angesichts immer knapperer Mittel, Schielen auf die Auslastung und Unlust an der Herausforderung gesehen werden. In Deutschland und Österreich kommt noch hinzu, dass in den Theatern des Dritten Reiches der Jude Meyerbeer eine Unperson war und die Aufführungstradition auch deshalb abgebrochen ist.

Bernd Loebe etwa, Intendant der Frankfurter Oper und ohne Scheu vor ungewöhnlichen Werken auf dem Spielplan, macht das Problem auch an der fehlenden Identifikation mit Meyerbeers Werk fest: Er habe für „L’Africaine“ mehrfach Absagen von Regisseuren bekommen. Käme heute ein Regisseur mit einem tragfähigen Konzept für eine Inszenierung zu ihm, würde er nicht zögern, Meyerbeer in den Spielplan zu nehmen, sagte er auf Nachfrage in der Spielplan-Pressekonferenz seines Hauses.

Sollte Loebes Eindruck verallgemeinerbar sein, spräche das nicht für den Horizont der kreativen Szene: Meyerbeer Sujets sind hochpolitisch und bestürzend aktuell. Aber vielleicht eignen sie sich nicht als „Material“, das sich der eigenen Privatmythologie beugt: Das desaströse Scheitern von Hans Neuenfels an Meyerbeers „Le Prophète“ in Wien (1998) mag dafür sprechen.

Der Mensch – zerstört im Sog der Geschichte

Meyerbeers Werke sind nicht nur beachtenswert, weil sie weit über das 19. Jahrhundert hinaus die Operngeschichte beeinflusst haben. Für die Bühne wiedergewonnen, wären sie auch nicht nur „bedeutende Kunstereignisse und grandiose Unterhaltung“, wie Sabine Henze-Döhring und Sieghart Döhring schreiben. Gerade die fünf Opern, die Meyerbeer in seinem „Gebet“ meint, sind heute wieder bestürzend aktuell, wie einzelne gelungene Aufführungen der letzten Jahre beweisen. Es sind pessimistisch gestimmte Geschichtsdramen, in denen der einzelne Mensch in den zerstörerischen Sog von Ereignissen gerät, gegen die er sich kaum wehren, gegen die er aber seine persönliche Integrität – auch im Scheitern – bewahren kann.

Nach erfolgreichen Jahren in Italien begann mit „Robert le Diable“ 1831 Meyerbeers sensationelle Pariser Karriere; mit diesem – wie kaum ein anderes geschmähtem – Werk wurde er neben Gioacchino Rossini („Guillaume Tell“) und Daniel-François-Esprit Auber („La Muette de Portici“, 1828) zum Erfinder der „grand opéra“. „Les Huguenots“ (1836) und „Le Prophète“ (1849) festigten seinen Ruf, der mit der posthum uraufgeführten „L’Africaine“ (1865) noch einmal internationalen Widerhall finden sollte. Ohne diese Vorbilder hätte es keinen Verdi, keinen Wagner, aber auch keinen Gounod oder Massenet, nicht „Boris Godunow“ von Mussorgksy und nicht „Krieg und Frieden“ von Prokofjew gegeben.

Meyerbeers gewaltige Geschichtspanoramen sind oft auf ihren – zweifellos angezielten und in der Pariser Oper unabdingbaren – Schauwert reduziert worden. Wagner sprach in seinen antisemitischen Hetzschriften von „Wirkung ohne Ursache“ und verschleierte damit nicht nur, was er in seiner Karriere und seinem Werk – bis hin zum „Parsifal“ – dem diffamierten Kollegen verdankte. Der „Meister“ hat ebenso wie der unermüdlich polemisierende Robert Schumann nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass Meyerbeer die Tragödie einzelner Menschen mit einem resignativen Bild einer von zerstörerischen Kräften bestimmten Geschichte verbunden hat. Die Opern Meyerbeers wirken – so der Musikjournalist Frank Siebert – „wie die Kehrseite deutschromantischer Idealisierungen“.

Zu der in den Werken gespiegelten Geschichtsphilosophie gehört das Religiöse untrennbar dazu. In „Robert le Diable“ etwa geht es Meyerbeer um ein Menschheitsdrama vor metaphysischem Hintergrund, gefasst in die Bilderwelt einer mittelalterlicher Rittergeschichte. Um die Seele eines schwankenden Helden (Robert) streiten Himmel und Hölle mit den Mitteln von Täuschung und Gnade. Meyerbeer zeigt theologisch scharfsichtig, wie das Böse seine Realität in der Welt nur als Scheinexistenz aufrechterhalten kann: durch Projektion und lügnerische Phantome. Er wendet sich aber gegen ein billiges Schwarz-Weiß-Schema, indem er den negativen Protagonisten, Bertram, nicht dämonisiert, sondern ihm auch die Züge eines ehrlich liebenden Vaters gibt.

Meyerbeer setzt auf zu seiner Zeit schockierend drastische Mittel: Die Orgel auf der Theaterbühne ist ein musikalisches, der oft lächerlich gemachte Auftritt der wiederbelebten Nonnen ein szenisches: Dass sich in der „Auferstehung“ ihrer toten Körper die nachäffende Perversion des Bösen zeigt, ist in der Empörung und der späteren Verspottung dieser Szene meist übersehen worden. Doch nicht umsonst hat George Sand „Robert le Diable“ als „katholische“ Oper bezeichnet.

Abrechnung mit dem Missbrauch von Glaube und Religion

In „Les Huguenots“ thematisiert Meyerbeer, wie die Religion selbst in den zerstörerischen Sog der Geschichte gerät und ihren inneren Kern verliert. Meyerbeer gelingt im politisch-menschlichen Panorama der „Hugenotten“, den Chor als „Masse“ im modernen Sinn zu konzipieren: Menschen, die von Stimmungen und Ideologien getrieben, zu Gewalt und Vorurteil neigen, und ab einem gewissen Punkt der Entwicklung kaum mehr zu bremsen sind.

Noch radikaler rechnet Meyerbeer mit dem Missbrauch von Glauben und Religion in „Le Prophète“ ab: Vor der Kulisse der Wiedertäuferbewegung im westfälischen Münster – und wohl auch der Pariser Revolution von 1848 – schildert die Oper Aufstieg und Fall des Schankwirts Jean als Gallionsfigur einer revolutionär-religiösen Bewegung. Meyerbeer exponiert das politisch-soziale Elend in der Willkürherrschaft des Adligen Oberthal, idealisiert aber die religiös bemäntelte Revolution der Wiedertäufer in keiner Weise: Ihre Mittel sind Täuschung, Gewalt und Betrug; ihr „Glaube“ ist bloßes Mittel zum Zweck.

Der zum „Prophet“ gemachte Jean ist Täter und Opfer zugleich: eine typischer Meyerbeer’scher Charakter, der rücksichtslosen, zynischen Manipulation durch die Wiedertäufer hilflos ausgeliefert, der er sich am Ende nur noch durch Vernichtung und Selbstauslöschung entziehen kann. In dem Trio der Wiedertäufer gelingt Meyerbeer nicht nur eine infernalische „unheilige Dreieinigkeit“, sondern auch ein Soziogramm des Funktionierens manipulativer Macht von bestürzender Modernität.

Umso erstaunlicher ist, dass diese wegweisende Oper im heutigem Betrieb überhaupt nicht beachtet wird: Ist sie doch viel mehr als eine Geschichte über die tragische Unvereinbarkeit von Macht und Liebe. „Le Prophète“ mit dem schillernden Helden und der messerscharfen Analyse der Mechanismen von Macht und Manipulation, von Ideologie und kollektiver Illusion, ausgearbeitet mit „stupender Bildhaftigkeit und psychologischer Tiefenschärfe, die in nie gekannter Genauigkeit auch die Szene und den Darsteller mit einbezieht (Döhring), wäre eine Herausforderung für jedes Theater, dem es darum geht, epochale Werke als relevant für unsere Zeit zu entdecken.




Familienfreuden XV: Ostern von seiner Schokoladenseite

Wenn "Lade" lockt, braucht man mit Möhrchen nicht mehr zu kommen. (Bild: Nadine Albach)

Wenn „Lade“ lockt, braucht man mit Möhrchen nicht mehr zu kommen. (Bild: Nadine Albach)

So ist das ja meistens mit den Sachen, die man sich auf eine ganz bestimmte Weise sooo schön vorgestellt hat – sie laufen ganz anders als geplant. Oder mit anderen Worten: Ostern mit einer fast Zweijährigen.

Eier und Geschenke verstecken, Gäste herzlich begrüßen, vielleicht noch etwas vom Osterhasen erzählen – und dann das Startsignal für die große Suche im Garten geben, bei der alle freudig die Tulpen nach Buntebemaltem durchforsten. So in etwa sah meine Vorstellung vom Osterfrühstück mit den beidseitigen Großeltern aus. Ich hatte die Rechnung ohne den Forschungsdrang von Fiona gemacht.

Von wegen gutes Timing

Die Großeltern waren für halb Elf bestellt. Gut eine halbe Stunde vorher hatte ich – im Osterhasen-Stellvertreter Amt– alles versteckt. Gutes Timing, dachte ich. Prima, dachte Fi, die gerade vom Vierrad-Fahren mit Normen zurückkehrte, die Gartenpforte öffnete – und mit messerscharfem Blick das erste Ei erblickte. Soviel auch zu meiner Theorie, dass die Eier besser nicht zu schwer versteckt sein sollten…

Fi stürzte sich „Ei! Ei! Ei!“ brüllend auf das eben so Beschrieene, reckte es stolz empor wie einst die Affen den Knochen in Kubricks „2001“ – und donnerte die Beute auf die Natursteinmauer. Hatte ich schon erwähnt, dass Fiona Eier ungefähr so liebt, wie andere Kinder Süßigkeiten – und Ostern somit für sie Weihnachten gleichkommen dürfte? Jedenfalls: Das erste Ei war schneller in ihrem Mund verschwunden, als ich ein Versteck dafür ersonnen hatte. Als das zweite Ei dem gleichen Schicksal anheim zu fallen drohte, klingelte es glücklicherweise an der Tür…

Lebensmittel-Konkurrenz

Der Vormittag verging friedlich mit der Suche nach den immer wieder neu versteckten Eiern. Ein Lebensmittel aber machte dem Produkt glücklicher Hühner ernsthafte Konkurrenz. „LADE!“ Ich bin sicher, wenn Fiona einmal eine Partei gründen sollte – dies wird ihr Schlachtruf: „LADE für alle!“ Alle Menschen werden sie dafür wählen, denn wer isst sie nicht gern – die Schokolade?

Fiona jedenfalls öffnete sich zu Ostern eine Tür in eine neue Welt, die wir zu Weihnachten noch geschlossen halten konnte: Die verlockend lächelnden Hasen, die süßen Eier in allen Größen die Küken und Käfer – sie alle präsentierten sich ihr diesmal ungehemmt von ihrer Schokoladenseite. Von den Großeltern, der Nachbarin, auch ein wenig von uns. Wir hatten keine Chance.

Versteckspiel nur umgedreht

Irgendwann mussten wir das Versteckspiel umdrehen und die bereits gefundenen Schoko-Schätze außer Sichtweite bringen, damit das Ganze nicht in einer Orgie endete, für die jeder Zahnarzt uns gekreuzigt hätte.

Einen Tag später hatten wir fast alle Spuren beseitigt. Fionas Spürnase allerdings ist jetzt schon äußerst ausgeprägt, so dass sie zielsicher und für uns unerwartet einen lächelnden Schokohasen in der Hand hielt, der so groß war, dass er ihr ein ehrfürchtiges „Boah!“ entlockte.

Nicht allein

Übrigens, wir sind nicht allein. Als wir – ja, Schande über uns – heute den beiden Nachbarskinder ein verspätetes Schokoladen-Nest reinreichten, fielen die Eltern fast in Ohnmacht.

P.S.: Wir haben jetzt mit den besagten Nachbarn ein „No-Schoko-Agreement“ beschlossen  – kurz NSA.

 

(Mehr von Nadine Albach gibt es übrigens auf der Medienwiese).




Zum Tod des Feuilletonisten Hans Jansen

Er war ein Feuilletonist vom alten Schlage, ein Kritiker, der die Gegenstände seines Schreibens spürbar liebte, auch wenn er mit den konkreten Ergebnissen des Kulturschaffens beileibe nicht immer einverstanden war. Der brachiale Verriss aber war seine Sache nie: Hans Jansen, langjähriger Kulturchef der Essener WAZ, ist jetzt mit 79 Jahren gestorben.

Die mit ihm gearbeitet haben (ob als Redakteure, Volontäre, Praktikanten), sprechen mit größter Achtung und Bewunderung von ihm. Der Mann mit der sonoren Stimme hatte gleichsam auch etwas Väterliches. Er besaß ein untrügliches Gespür für junge journalistische Talente, die er anzuregen und zu fördern wusste. Von einem wie ihm hätte auch ich gerne mehr gelernt, doch ich war nun mal bei einer anderen Zeitung. So blieb es bei gelegentlichen Begegnungen in Theaterfoyers und meist kurzen Gesprächen, vor allem aber bei der Lektüre seiner Theater- und Literaturkritiken.

Mit den Jahren des Schreibens lässt man längst nicht mehr alle gleichermaßen gelten, die ringsum das gleiche Metier ausüben, man wird da recht wählerisch, wenn nicht manchmal mürrisch. Doch bei Hans Jansen hat es mich noch stets interessiert, was und wie er geschrieben hat, besonders dann, wenn man denselben Theaterabend erlebt hatte. Das war eine Herausforderung, sich daran zu messen!

Unter den Kulturjournalisten des Ruhrgebiets gab es schwerlich jemanden, der dem promovierten Theaterwissenschaftler an Bildung, auch Herzensbildung, profundem Wissen und einfühlsamer Beschreibungskraft gleichkam. Kein Wunder, dass ihm manche Haltlosigkeit der „Spaßgesellschaft“ ein Graus war.

Seine Studienzeit in Wien hat ihn nicht nur literarisch geprägt, sondern wohl auch seine ganz spezifische Eleganz und seinen Charme inspiriert. Im kleinen Kreise hat er einmal geklagt, dass man sich im Revier doch vielfach von Hässlichkeit umgeben sehe. Es ist vielleicht die Mission dieses wahrhaftigen Kulturmenschen gewesen, die Schönheit(en) aufzuspüren und zu rühmen, die man dem entgegenstellen konnte.

Dem WAZ-Kulturteil hat Hans Jansen spürbar gefehlt, nachdem er in den Ruhestand gegangen war. Einen wie ihn kann es in diesen und den kommenden Zeiten nicht mehr geben.




Eine Chance für junge Musiker: Orchesterakademie Essen vergibt Stipendien

Links, erste Geigen. Drittes Pult, vorne. Das ist er: Schlank, schwarze Haare, schwarze Augen. Nestor Luciano Casalino, einer der jungen Musiker aus der Orchesterakademie der Essener Philharmoniker. Einer aus 400 Bewerbern, der für ein Jahr eines der heißbegehrten Stipendien ergattert hat.

Der Geiger Nestor Luciano Casalino (rechts) mit seiner Mentorin Natalie Arnold. Foto: Werner Häußner

Der Geiger Nestor Luciano Casalino (rechts) mit seiner Mentorin Natalie Arnold. Foto: Werner Häußner

Geige zu spielen hat der Argentinier schon mit vier Jahren begonnen: „Mein Onkel ist Pianist und arbeitet als Korrepetitor. Er hat mit die Geige gekauft und den ersten Unterricht bezahlt.“ Casalinos Geigenlehrer in Argentinien hatte in Köln studiert – und dem jungen Mann die Musikhochschule in Deutschland empfohlen.

2010 war er zum ersten Mal hier, ein Jahr später hat er in Köln die Aufnahmeprüfung bestanden, erzählt Casalino in flüssigem Deutsch. Nein, in der Schule hat er die Sprache nicht gelernt: „Erst fünf Monate vor Beginn des Studiums habe ich intensiv begonnen, mich mit Deutsch zu beschäftigen.“ Die Alternative, in der vertrauten Sprache Italienisch zu studieren, hat er ausgeschlagen: „Ich wollte nicht nach Italien, sondern etwas Neues kennenlernen.“

Fünf Monate Deutsch – dann von Córdoba nach Köln

Der junge Mann aus Córdoba weiß um die tolle Chance. Und er weiß, wem er sie zu verdanken hat. Die Orchesterakademie wird ausschließlich von Sponsoren und engagierten Musikfreunden getragen. Der Verein mit gut 100 Mitgliedern ermöglicht pro Jahr acht jungen Musikern, sich eine Spielzeit lang intensiv auf den Einsatz in einem Spitzenorchester vorzubereiten. „Seit Gründung 1999 haben wir mehr als 100 jungen Menschen ein Stipendium ermöglicht“, berichtet Vorsitzender Herbert Lütkestratkötter. 2014/15 sollen es sogar zehn sein. Bereits mit 80 Euro Jahresbeitrag kann man zu den Förderern gehören. Für Lütkestratkötter ist der Verein ein Beispiel bürgerschaftlichen Engagements: „Ich habe Interesse an Musik und möchte etwas für junge Menschen tun“, erklärt er seine Motivation.

Nestor Luciano Casalino wird von einem „anonymen Privatspender“ gefördert. Bei seiner Geigen-Kollegin Johanna Radoy kommen die Mittel von der Alfred und Cläre Pott Stiftung. Der finnische Cellist Christian Fagerström wird von Helene Mahnert-Lueg unterstützt. Und bei der Fagottistin Kaitlyn Grace Cameron trägt der frühere Essener Orchesterchef Stefan Soltesz bei: Er war im März 1999 einer der Gründerväter der Akademie und ist seit 2012 ihr Ehrenmitglied.

„Musiker ist ein emotionaler Beruf“

Der 23-jährige Geiger, der in Wuppertal studiert, freut sich, den Spielbetrieb eines Orchesters kennenzulernen: Proben, Arbeit mit verschiedenen Dirigenten, Austausch mit erfahrenen Musikern. Jeder Stipendiat hat einen persönlichen Mentor aus dem Orchester zur Seite. Für Casalino ist das die Geigerin Natalie Arnold: „Wir machen jede Woche eine Stunde Unterricht, gehen Opern durch, bereiten die Standardstücke vor, die bei Probespielen verlangt werden.“ Vor allem die Oper komme in der Hochschul-Ausbildung zu kurz. Da bringen die Erfahrungen am Aalto-Theater die jungen Musiker ein gutes Stück weiter. Alleine fünfzehn Opern lernt Casalino in der laufenden Spielzeit. Dazu kommen die Dienste bei einigen Konzerten.

Natalie Arnold weiß auch, dass die angehenden Orchestermusiker Tipps brauchen, wie sie die psychisch belastenden Probespiele und – bei Anstellung – das Probejahr bewältigen können: „Musiker ist ein emotionaler Beruf, man muss sich im Orchester aufeinander einstellen. Ein junger Kollege kann dabei viel falsch machen.“ So geben die Mentoren den jungen Berufsanfängern auch Informationen, wie man eine Bewerbung richtig angeht: „Sie wissen nicht, auf was Orchester bei Bewerbern achten. Nach welchen Kriterien Bewerbungen ausgewählt werden. Und wie man sich im Gespräch und Vorspiel richtig präsentiert.“

Casalino hat’s offenbar richtig gemacht: Der aufgeschlossene junge Mann hat einen Jahresvertrag bei den Essener Philharmonikern in der Tasche. Und ist damit so glücklich wie sein Mit-Stipendiat Francesc Saez: Der bekam nach erfolgreichem Probespiel die freie Hornistenstelle im Orchester. Kein Einzelfall ist, dass ehemalige Stipendiaten zu den Philharmonikern zurückkehren. Andere sind in namhaften Orchestern in der ganzen Welt tätig. Nestor Luciano Casalino freut sich jetzt erst einmal, dass er bald bei seiner Lieblingsoper, Giacomo Puccinis „Turandot“, im Graben dabei sein darf. Und er möchte gerne wieder Mozarts „Figaro“ spielen: „Das war die erste Oper, die ich noch als Geigenschüler im Orchester in Córdoba mitspielen durfte.“

(Der Bericht ist in kürzerer Form bereits in der WAZ Essen erschienen)




Ai Weiwei und die Kunst des Konflikts

Er hätte in New York bleiben können, frei, unbehelligt. Immerhin lebte der chinesische Künstler und Architekt Ai Weiwei von 1981 bis 1993 seinen amerikanischen Traum. Aber wer kannte ihn schon? Erst als aufrührerischer Heimkehrer entwickelte Ai ein von der westlichen Welt bewundertes Werk voller Zorn und Schönheit. Der Konflikt mit dem kommunistisch-kapitalistisch agierenden Regime inspiriert ihn zu immer wieder neuen Installationen, die er jetzt in einer grandiosen Schau im Berliner Gropius-Bau zeigt: „Evidence“ – Beweis.

Dass er selbst nicht zur Eröffnung kommen durfte, passt Ai Weiwei durchaus ins Konzept. Das Verbot sei, ließ er vorab verlauten, „ein Kunstwerk an sich“ und spiegele die menschliche Verfassung wider.

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Die chinesischen Behörden verweigern ihm die Ausreise, seit er 2010 mit einer im Internet angekündigten Protestparty auf den willkürlichen Abriss seines Ateliers in Shanghai reagierte. Während Ai in Hausarrest saß, ließ er rund 1000 Gästen ein symbolhaltiges Mahl servieren: Flusskrebse, chinesisch „he xie“. Genauso klingt – etwas kompliziert für westliche Rezipienten – das chinesische Wort für Harmonie, welches wiederum vom Regime gebraucht wird, sobald es um Gleichschaltung geht. Für Ai Weiwei sind die Flusskrebse nun seine subversiven Krabbeltiere. Er ließ sie 2011 in kostbarem Porzellan nachbilden, grau und rot, zerbrechlich, aber nicht verderblich. In unübersehbarer Zahl liegen sie auf dem Boden des Ausstellungssaals – unheimlich und reizvoll.

So macht sich Ai Weiwei die Dinge und Ereignisse zu eigen. Die Idee der Verwandlung ist sein Trick und zugleich seine Erlösung. Die Überwachungskameras, die vor seinem Haus in Peking installiert wurden, ließ er in Marmor nachbilden. Versteinert sind sie nun, hübsch, harmlos und doch Zeugnisse einer allgegenwärtigen Schikane. Ai hat sie verzaubert – genau wie die Handschellen, die zum Jade-Schmuck wurden, und sechs schäbige Plastikbügel, die jetzt als Kristallobjekte edel in einer Vitrine schimmern. Gezähmte Erinnerungen an die 81 Tage, die Ai im Frühjahr 2011 in einem Geheimgefängnis verbrachte.

Ohne Angabe von Gründen hatte man ihn auf dem Flughafen verhaftet und in eine Zelle gesperrt, wo das Licht nie ausging und die Möbel mit Schaumstoff umwickelt waren. Ein Nachbau soll dem Publikum (nur sechs Personen dürfen zugleich eintreten) die Gefühle des Gefangenen nahebringen, Ai lässt nichts aus. In einem suggestiven Musikvideo marschiert er zwischen Bewachern auf und ab – und inszeniert seine Fantasien. Ein Kind rasiert ihm die struppigen Haare vom Schädel, auch der lange Bart fällt. Der bullige Künstler wird zu einer kahlköpfigen, geschminkten Diva, die aus dem Gefängnisgang einen Laufsteg macht. Wieder hat die Metamorphose funktioniert.

Ein gefährliches Spiel, was Ai da treibt. Nicht immer geht es so gut aus wie Ende 2011, als Tausende von Spendern seine angeblichen Steuerschulden bezahlten. 2009, als er nach dem verheerenden Erdbeben von Sichuan auf Baumängel in den zusammengestürzten Gebäuden hinweisen wollte, erlitt er nach einer Polizistenattacke eine Hirnblutung, die in Deutschland operiert wurde. Zu einer Ausstellung im Münchner Haus der Kunst durfte er damals noch leibhaftig erscheinen. Heute ist er virtuell gegenwärtig – und ein andächtiges Publikum huldigt ihm im Gropius-Bau, dem ehemals kaiserlichen Kunstgewerbemuseum, um 1880 von Martin Gropius (dem Großonkel des Bauhaus-Gründers) als Pseudo-Renaissance-Palast errichtet.

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: "Stools" (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: „Stools“ (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Ai weiß, wie man auch solche Räume füllt. Über 6000 alte Hocker aus nordchinesischen Dörfern stehen dichtgedrängt im prächtigen Lichthof. Sie tragen die Spuren vieler Leben und erzählen mit ihren Kratzern, Brüchen und Farbresten von Chinas Vergangenheit, deren Überreste systematisch dem Wirtschaftsboom geopfert werden.

Nicht nur in Peking verschwinden historische Stadtviertel, um neuen Wohn- und Geschäftsburgen Platz zu machen. Schon 2007, nachdem er antike Häuserteile und Möbel auf der Documenta installiert hatte, ließ Ai 30 Türen zerstörter Häuser in Marmor nachbilden. Sein „Monumental Junkyard“, der monumentale Schrottplatz, ist ein Denkmal für das Verlorene – genau wie zwölf vergoldete Bronzen chinesischer Tierkreisfiguren, die sich einst in den Gärten des kaiserlichen Sommerpalastes befanden, wo sie 1860 von europäischen Soldaten geraubt wurden.

Jede Zeit gebiert ihr eigenes Unrecht. Und sie sorgt für Verdrängung. Die jungen Chinesen im Fortschrittsrausch interessieren sich kaum für die traditionelle Kultur ihres Landes. Sie wollen Audi fahren. Ai Weiwei hat dafür in diesem Jahr ein starkes Zeichen geschaffen: Er überzog acht etwa 2000 Jahre alte Vasen aus der Han-Dynastie mit metallisch glänzendem Autolack. Sieht perfekt aus, dieser Akt der Zerstörung. Ai Weiwei, der abwesend Anwesende, hat sich wieder einmal klar ausgedrückt.

„Ai Weiwei – Evidence“: bis 7. Juli im Martin-Gropius-Bau, Berlin, Niederkirchnerstr. 7. Mi.-Mo. 10 bis 19 Uhr, ab 20. Mai bis 20 Uhr, Di. geschlossen. Katalog im Prestel-Verlag: 25 Euro (Buchhandelsausgabe: 39,95 Euro). www.gropiusbau.de




Als Prügel für Kinder zum Alltag gehörten

Über evangelische Pfarrhaushalte ist schon so manches geschrieben worden. Der Schriftsteller Tilman Röhrig (Jahrgang 1945) kann seine besondere Geschichte aus solch einer Familie erzählen, die doch in den Grundzügen zugleich furchtbar zeittypisch anmutet: Er ist als Kind von seinem Vater windelweich geprügelt worden. Immer und immer wieder. Oft aus nichtigen Anlässen. Willkürlich. Manchmal nur, weil die Stiefmutter es eben so wollte. Eine Realität wie aus dem bösen Märchen.

Röhrigs erschütternder Bericht vom höllisch gottgleich strafenden Vater stand im Zentrum eines bewegenden Dokumentarfilms von Erika Fehse, den die ARD aus unerfindlichen Gründen am Montag erst um 23.30 Uhr ausgestrahlt hat. Warum nur?

Angstfrei oder gar glücklich wirken diese Schulkinder von 1952 nicht. Aber vermutlich ist keine Gewalt angewendet worden, weil ja eine Kamera zugegen war. So etwas nennt man dann "Symbolfoto". (© WDR/akg-images)

Angstfrei oder gar glücklich wirken diese Schulkinder von 1952 nicht. Aber vermutlich ist keine Gewalt angewendet worden, weil ja eine Kamera zugegen war. So etwas nennt man dann „Symbolfoto“. (© WDR/akg-images)

Das Thema von „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie…“ interessiert sicherlich sehr viele Leute, vor allem aus den älteren Generationen. Sie kennen beispielsweise noch solche bedrohlichen mütterlichen Sätze: „Warte nur, bis dein Vater heute Abend nach Hause kommt…“ Dann setzte es was. Und die Angst hatte sich schon den ganzen Tag über angestaut.

Vielfach ging es – etwa hinter der biederen Fassade des neu erbauten Einfamilienhauses – mit Ledergürtel, Teppichklopfer oder gar Reitpeitsche auf den blanken Hintern. Wie viel verdrehte Sexualität da wohl dem Treibstoff der Gewalt beigemischt war?

Nicht nur Tilman Röhrig, sondern auch einige andere Prügelopfer kamen in dem Film zu Wort. Einige von ihnen sind spürbar hart geworden, die Züge dauerhaft erstarrt, sie können wahrscheinlich nicht einmal mehr weinen. Bei anderen lässt die aufblitzende Erinnerung Dämme der Selbstbeherrschung brechen. Es ist wirklich zum Heulen. Heute noch. Für alle verbleibende Zeit.

Erinnert sich an schreckliche Prügel in der Kindheit: Schriftsteller Tilman Röhrig. (© WDR/doc.station GmbH)

Erinnert sich an schreckliche Prügel in der Kindheit: Schriftsteller Tilman Röhrig. (© WDR/doc.station GmbH)

Gewiss, es waren extreme Fälle darunter, in denen über viele Jahre hinweg Prügel und Schläge sozusagen die hauptsächliche elterliche Zuwendung waren. Doch wie schrecklich „normal“ körperliche Züchtigung damals generell gewesen ist! Auch ich kann mich noch gut erinnern, dass Eltern gern einen Pakt mit den Lehrern eingingen. Motto: „Wenn er nicht spurt, dann hauen Sie ihm ruhig mal eine runter…“ Rituelle Ergänzung aus dem unguten Zeitgeist: Eine Ohrfeige hat noch keinem geschadet.

In unserer damals noch so genannten Volksschule musste man bei „Verfehlungen“ vor die Klasse hintreten, die Hände mit der Innenseite nach oben drehen, vorstrecken – und bekam es dann nach Kräften mit einem schweren Holzlineal auf die Finger. Wie das brannte! Welch eine Demütigung das war… Und wie man es den Lehrern von damals am liebsten noch nachträglich heimzahlen möchte!

Auch auf dem Gymnasium gab es im Kollegium noch kriegsgewohnte Schlägertypen, die auch schon mal mit der Faust mitten ins Gesicht langten. Schmerzhaft zwirbelndes Ohrenlangziehen war bei diesen asozialen Kerlen das Mindeste.

Zurück zur TV-Doku, die einen folglich ziemlich mitnahm, weil sie auch eigene Erfahrungen aufrief: Bei kleinen Exkursen zeigte sich, dass die Wurzeln der tagtäglichen Nachkriegs-Gewalt nicht nur in die NS-Zeit zurückreichen, sondern tief in die preußische Geschichte von „Zucht und Ordnung“. Überdies erfuhr man, dass auch in der DDR der Rohrstock noch häufig niedersauste – entgegen allen offiziellen Verlautbarungen über den „neuen Menschen“ im Realsozialismus.

In der Bonner Republik wurde die Prügelstrafe in Schulen erst 1973 bundesweit verboten, ein ausdrückliches Recht auf gewaltfreie Erziehung ist erst seit dem Jahr 2000 gesetzlich verbrieft. Doch auch das entspricht leider nicht der Wirklichkeit. Auch heute noch werde jedes dritte Kind geschlagen, hieß es – ohne weiteren Beleg und Quellenangabe – am Schluss der Dokumentation. Doch wer will da um Prozentanteile streiten? Jeder Schlag, ja schon jedes Ausholen ist zu viel.




Immer der Geige nach: Auf den Spuren der wunderbaren Hilary Hahn

Hilary Hahn (Foto: Michael Patrick OLeary)

Hilary Hahn (Foto: Michael Patrick OLeary)

Menschen, die ihrem Star hinterher reisen, jedes Konzert besuchen oder die Tourdaten ihres Lieblingspianisten auf Jahre im Kopf haben, sind mir bisher immer etwas seltsam vorgekommen. Die haben wohl zu viel Zeit, habe ich gedacht, wenn sie Konzertsäle in ganz Europa aufsuchten, nur um ihren angebeteten Musiker zu hören.

Bei der Geigerin Hilary Hahn könnte ich selbst fast schwach werden. Vor Jahren begleitete ich eine Freundin zu einem ihrer Auftritte und er kam mir irgendwie überirdisch vor. Ich weiß nicht mehr, was gespielt wurde, ich weiß nur noch, dass ich dachte: Diese zierliche, fast scheue Person produziert Töne, die nicht mehr von dieser Welt sind. Als nun ein Konzert von Hilary Hahn in meiner Heimatstadt Düsseldorf angekündigt wurde, wusste ich gleich: Da muss ich unbedingt hin. Dabei war mir völlig gleichgültig, welches Programm Hilary Hahn in der Tonhalle beim Konzert der Freunde und Förderer spielen wollte, eine „Sternstunde“ würde es für mich bestimmt werden.

Ich bin keine Musikkritikerin und möchte hier auch keine Rezension verfassen. Ich konnte auch gar nicht mitschreiben, weil ich bereits nach drei Takten mit den Tränen kämpfte, da Hilary die Geige so hoch und klar und sehnsüchtig singen ließ. Dabei weine ich nicht einmal bei Kitschfilmen, höchstens bei „Vom Winde verweht“.

Es sei allerdings verraten, dass Hahn das Konzert für Violine und Orchester von Johannes Brahms spielte begleitet vom HR-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi. Das Stück dauerte 38 Minuten. Hilary Hahn und ihre Geige verschmolzen zu einem Wesen. Ihr Oberteil glitzerte und ihr Rock schwang mit der Melodie. In all ihrer musikalischen Perfektion wirkte sie unprätentiös, vergnügt und beinahe sportlich. Dort, wo Brahms „Zigeunermusik“ zitierte, hüpfte sie ein paar Schritte über die Bühne und man spürte ihr Temperament, das durch Disziplin geformt, eine zielgerichtete Kraft in den Saal verströmte. Die Geige sang, die Geige tanzte. Energie und Gefühl befanden sich genau im richtigen Mischungsverhältnis. Das Publikum war äußerst gespannt und still, es gab Momente, da blieben sogar die sonst unvermeidlichen Huster aus.

Doch plötzlich, viel zu schnell, war der Spuk wieder vorbei, die Tonhalle jubelte bravo und die Teufelsgeigerin bekam einen Blumenstrauß. Pause und Signierstunde. Im zweiten Teil brauste dann Bruckners dritte Symphonie (Ich habe nicht ganz verstanden, in welcher Fassung) über die Köpfe hinweg und die Bläser machten sich deutlich bemerkbar. Aber das übertönte nur die Leere vorne auf der Bühne, wo die Geigerin gestanden hatte. Denn Hilary war schon weg.

Aber zum Glück kann ich am 13. Mai ins Dortmunder Konzerthaus reisen: Dort gastiert Hilary Hahn, begleitet von dem Pianisten Cory Smythe, u.a. mit Werken von Schönberg, Schubert, Telemann.




Von der Ruhr nach Wien: Karin Bergmann am Burgtheater, Tomáš Netopil an der Staatsoper

Das Wiener Burgtheater hat sich in den letzten Wochen über einen Mangel an Schlagzeilen nicht beklagen können – wohl aber über ihren Inhalt: ein weitreichender Finanzskandal, dubiose Praktiken in der Geschäftsführung, der Rausschmiss von Direktor Matthias Hartmann, das Bekanntwerden üppiger Zusatzgagen und Produktionskosten, drohende Steuernachzahlungen in Millionenhöhe, ebenso ein deftiges Minus in der Bilanz. Nun soll es eine Frau aus dem Revier richten: Karin Bergmann leitet das größte Ensembletheater der Welt interimistisch bis 2016. Die 60jährige, die sich selbst als „Theaternarr seit Jugendtagen“ beschreibt, stammt aus Recklinghausen. Zum ersten Mal steht mit Bergmann eine Frau an der Spitze des Burgtheaters.

Aus Recklinghausen nach Wien: Karin Bergmann. Foto: Reinhard Werner, Burgtheater

Aus Recklinghausen nach Wien: Karin Bergmann. Foto: Reinhard Werner, Burgtheater

Das Ensemble habe sie mit tosendem Applaus begrüßt, hieß es in der österreichischen Presse. An der Burg ist Bergmann keine Unbekannte: Sie kam schon 1986 mit Claus Peymann als Pressesprecherin ans Haus. 1993 holte sie Intendant Rudi Klausnitzer als Pressesprecherin und Direktionsmitglied an die Vereinigten Bühnen Wien, bis sie 1996 in den gleichen Funktionen zu Klaus Bachler an die Volksoper Wien wechselte.

Als Bachler 1999 an das Burgtheater berufen wurde, nahm er Karin Bergmann als stellvertretende Direktorin mit. 2008 übernahm er parallel zum Burgtheater die Münchner Staatsoper; Bergmann führte für ihn in Wien die Geschäfte und organisierte den Übergang zur Matthias Hartmann, bei dem sie als seine Stellvertreterin noch in der ersten Spielzeit 2009/10 blieb. Bergmanns Theaterlaufbahn hatte 1979 unter Peymann am Schauspielhaus Bochum begonnen.

Für die Interims-Direktorin geht es nun darum, das wirtschaftlich schlingernde Haus zu stabilisieren und die Spielzeit 2014/15 zu planen. Ob sie sich für die Zeit nach 2016 auf die Burgtheater-Direktion bewerben wird, ließ Bergmann im Interview noch offen.

Tomás Netopil dirigiert in Wien und Dresden. Foto: TUP

Tomás Netopil dirigiert in Wien und Dresden. Foto: TUP

Auch für Tomáš Netopil zeigen die Wegweiser nach Wien: Der Essener Generalmusikdirektor debütiert an der Wiener Staatsoper. Am 5., 10. und 13. September leitet er drei Aufführungen von Antonín Dvořáks „Rusalka“ mit Kristine Opolais als Rusalka und Piotr Beczala als Prinz. Auch die Dresdner Semperoper hat eine Neuproduktion mit Netopil am Pult angekündigt: Am 18. Oktober hat an der Elbe Leoš Janáčeks „Das schlaue Füchslein“ in einer Regie von Frank Hilbrich Premiere, bis 9. Dezember folgen sechs weitere Aufführungen.

Man wird sehen, ob Netopil die „Rusalka“ auch nach Essen bringen wird – in seine Linie slawischer Opern würde das Werk passen. Freilich war „Rusalka“ erst 2012 in Gelsenkirchen zu sehen: Aus dem breiten slawischen Repertoire gäbe es durchaus Werke, die seit Jahren nicht – oder noch nie – im Ruhrgebiet zu erleben waren.




In einer Welt ohne Halt und Gewissheit: Joseph Conrads „Lord Jim“ neu übersetzt

Welch ein machtvoller Roman! Man spürt schon beim Einstieg den schweren Ernst, die Größe und Tiefe. Wahrlich kein Wunder, dass es „Lord Jim“ von Joseph Conrad zu einiger Berühmtheit gebracht hat. Jetzt liegt der monumentale Titel in neuer Übersetzung vor. Eine lohnende Anstrengung, die uns den Klassiker wieder näher bringen kann.

Jener Jim heuert auf dem Pilgerschiff „Patna“ an, das Hunderte von armseligen Passagieren an Bord hat. Das Schiff, auf dem ein wahrhaft hässlicher Deutscher das Kommando führt, ist ein durch und durch maroder Seelenverkäufer.

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Durch eine fluchwürdige Reihe von Zufällen gerät Jim (Häufig wiederholter Ausruf oder auch Seufzer: „Er ist einer von uns“) in eine furchtbar schuldbehaftete Lage: Es sieht ganz danach aus, als hätte er mit dem üblen Kapitän und ein paar anderen Halunken vor einem vermeintlichen Schiffsuntergang frühzeitig die Flucht ergriffen und die schlafenden Passagiere ihrem Schicksal überlassen. Während der Käpt’n sich vollends davonstiehlt, ist Jim Manns genug, als einziger vor Gericht die Verantwortung zu übernehmen. Doch sein Leumund ist damit ein für allemal zerstört. Von der Selbstachtung gar nicht zu reden.

Joseph Conrad erzählt, zumeist aus der Perspektive des erfahrenen Seemanns Marlow, wie die – wenn auch unwillentliche – Verfehlung ein junges, anfangs aussichtsreiches Leben zerfrisst. Schon ein Gran Verderbtheit oder auch nur Trägheit kann, so erweist sich, alle guten Anlagen nachhaltig vergiften. Die Fährnisse auf hoher See führen allemal in kaum auszulotende Untiefen der Seele. Hier erfährt man, wie es gehen kann, wenn einer sich wirklich ein Gewissen macht. In Zeiten vielfachen Gewissensverlustes ist dies also per se eine aufrüttelnde Lektüre.

Die Übersetzung ergeht sich hie und da in wahren Gedankenstrich-Orgien, die Sprache gerät immer wieder ins Stocken und lässt geradezu körperlich spüren, wie sich Jim selbst peinigt und quält. Unverhofft erhält er später eine zweite Chance, indem er einen äußersten Handels-Vorposten auf einer fernab von aller westlichen Zivilisation gelegenen Insel betreuen darf und gleichsam ein hoch geachteter, weil „unfehlbarer“ Beschützer der Eingeborenen wird. Kann er dadurch sein vorheriges Versagen gleichsam tilgen? Ach!

Wenn man so will, ist „Lord Jim“ schon so etwas wie ein Vorbote des Existenzialismus. Heftiger in eine böse, grenzenlos in Unordnung geratene Welt geworfen ward bis dahin selten eine andere Figur. Und wie verzweifelt, verloren, gottfern und von allen Menschen verlassen dieser Jim sich fühlt: „Wer sein Schiff verliert, der verliert seine ganze Welt; die Welt, die ihn gemacht hat, erhalten hat, versorgt hat.“ Alle inneren und äußeren Katastrophen sind fortan denkbar, jeder Halt ist trügerisch. Wenn man nun erwägt, dass dieser Roman im Jahr 1900 erschienen ist, am Beginn eines Jahrhunderts also, das alle (un)vorstellbaren Gräuel mit sich gebracht hat…

Als Triebkräfte menschlichen Leidens werden nicht zuletzt Neugier und Zweifel ausgemacht, zwei Haltungen, die gemeinhin vor allem als Tugenden gelten. Doch hier wendet sich noch jede Hoffnung zur Nachtseite. Was Wahrheit sei, kann letztlich nicht mehr gesagt werden, ein zentraler, lapidarer Satz lautet: „Es gab keine Gewissheit (…)“. Und so erscheint denn auch Jim selbst geisterhaft undurchdringlich.

Uns Heutigen mag die schuldbeladene Gewissenserforschung allzu herzensinnig und ausufernd erscheinen, doch man sollte sich dieser unzeitgemäßen Mühe unterziehen. Dringlicher Hinweis im Roman: „Erst wenn wir uns mit dem tiefsten Nöten eines anderen Menschen befassen, begreifen wir, wie unverständlich, unbestimmt und flüchtig die Wesen sind, die mit uns den Anblick der Sterne und die Wärme der Sonne teilen.“

Joseph Conrad: „Lord Jim“. S. Fischer Verlag. Neu übersetzt von Manfred Allié (nach der Kritischen Ausgabe, 1996 bei W.W. Norton & Company – New York/London – erschienen). 493 Seiten. 22,99 Euro.




Brigitte Bardot und die erotische Nostalgie

Heute Abend war Henri-George Clouzots Filmklassiker „Die Wahrheit“ (1960) im arte-Programm zu sehen. Da dachte ich spontan: Den schaust du dir noch einmal an. Wer spielt die Hauptrolle? Richtig: Brigitte Bardot! Mit diesem Film wurde sie erstmals auch als ernsthafte Charakterdarstellerin wahrgenommen.

Zuvor hatte die Bardot vor allem als blonde Lolita Männern – wie man früher zu sagen pflegte – „den Kopf verdreht“, vorwiegend in nicht allzu ambitionierten Filmen. Charakteristisch schon die (deutschen) Titel wie „Gier nach Liebe“, „Das Gänseblümchen wird entblättert“, „Und immer lockt das Weib“ oder „Mit den Waffen einer Frau“. Da wurde ganz anders fabuliert als im französischen Original.

Schwärmerei und Raserei

Mehr Markenzeichen ging damals nicht. In den 50ern und den frühen 60ern galt die Bardot als das weibliche Sexsymbol schlechthin. Ihre Ehen mit Roger Vadim und Gunter Sachs wurden legendär und zogen Klatschpresse samt Paparazzi zuhauf an. Wohl so manche Spießer-Phantasie wurde dabei aufgestachelt. Sie hatte das Zeug dazu, Männer zum Schwärmen oder gar zur Raserei zu bringen.

Szene aus "Die Wahrheit" (1960): Dominique (Brigitte Bardot) bringt den jungen Dirigenten Gilbert (Sami Frey) zur Verzweiflung. (© ARTE France/CPT Holdings Inc.)

Szene aus „Die Wahrheit“ (1960): Dominique (Brigitte Bardot) bringt den jungen Dirigenten Gilbert (Sami Frey) zur Verzweiflung. (© ARTE France/CPT Holdings Inc.)

Wer hätte damals gedacht, dass sie schon sehr bald für den hochintellektuellen Regisseur Jean-Luc Godard (1963 in „Die Verachtung“) spielen würde? Und wer hätte vorausgesehen, dass sie nach dem abrupten Ende ihrer Filmkarriere (1973) einmal als militante Tierschützerin und als Galionsfigur der französischen Front National, also der fremdenfeindlichen Rechtsaußenpartei, Aufsehen erregen würde? Kurzum: Sie ist einem inzwischen herzlich unsympathisch geworden.

Heute sind andere Typen gefragt

Auch erotische Moden haben ihre Zeit, insofern kann man geradezu von „erotischer Nostalgie“ sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine wie die Bardot heute ähnlich Furore machen würde. Jetzt sind längst andere Frauentypen gefragt – und andere Männertypen als damals.

Trotzdem: Wenn man ein wenig älter ist, kann man immer noch gut nachvollziehen, was damals den Mythos der Bardot ausgemacht hat. Man ist ihr ja vielleicht selbst ein wenig auf den Leim gegangen; seinerzeit, als Brigitte Bardot ein gehöriges Stück Zeitgeist buchstäblich verkörpert hat.

Geilheit als Generationenfrage

War ihre flirrend unschuldige und doch so „sündige“ Ausstrahlung nicht auch ein Zeichen der Freiheit, eine Rebellion gegen starre Moral-Verhältnisse? Genau darum ging es in Clouzots Gerichtsfilm „Die Wahrheit“, der ganz grundsätzliche Kritik an der Justiz übt. Der Streifen hat bis heute Bestand – nicht zuletzt wegen der grandios agierenden Bardot. Dazu diese aufregende Pariser Atmosphäre…

Vor ein paar Jahren fiel einmal der Name Brigitte Bardot in einem freundschaftlichen Gespräch. Ein junger Mann, der damals auf die 30 zusteuerte noch heute (knapp) unter 40 ist, musste bekennen, dass er den Namen Brigitte Bardot noch nie gehört hat. Unfassbar! Da merkt man denn doch, woran die Geister sich scheiden. Auch Geilheit ist eine Generationenfrage…

Übrigens: Im nächsten September, so sagt der Kalender, wird Brigitte Bardot 80 Jahre alt. Kann man sich das vorstellen? Du meine Güte! Irgendwie nicht.




Mit Lebenslust altern und sterben – Der Film „Rosie“ kommt ins Kino

Sibylle Brunner als Rosie (Bild: Look Now! Filmverleih)

Sibylle Brunner als Rosie (Bild: Look Now! Filmverleih)

Rosie geht es gesundheitlich gar nicht gut. Trotzdem hat sie keine Lust, mit dem Trinken und Rauchen aufzuhören.

Der Rat ihrer Ärzte kann ihr gestohlen bleiben und gegen die Vorhaltungen ihrer (erwachsenen) Kinder ist sie immun. Wenn sie schon das verbitterte Gesicht ihrer schmallippigen Tochter Sophie sieht oder den besänftigenden Dackelblick ihres Sohnes Lorenz, dann wird ihr ganz anders. Rosie, obwohl bereits vom Tode gezeichnet, ist eine lebenslustige Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt und lieber sterben will als ihr viel zu großes Haus zu verkaufen und in einem Altenheim zu vegetieren. Rosie kämpft um ein Altern und Sterben in Würde.

Wie schwer das ist, das zeigt der anrührende Film von Regisseur Marcel Gisler. „Rosie“ ist ein Kammerspiel der großen Gefühle, die man nicht nach außen trägt, sondern in sich einbunkert. Ob Rosie (Sibylle Brunner), Sophie (Judith Hofmann) oder Lorenz (Fabian Krüger), sie alle schweigen beharrlich über das, was sie wirklich bewegt. Um sie zu verstehen, muss der Zuschauer zwischen den Zeilen der wenigen Worte lesen und die vom Marcel Gisler gefundenen Bildsequenzen dechiffrieren.

Das ist manchmal ziemlich anstrengend, aber meistens auch ganz schön aufregend. Wer sich darauf einlässt (und sich nicht vom Schweizer Dialekt verstören lässt), wird mit einem beeindruckenden und überraschenden Familienporträt beschenkt.

In Rosies Leben gibt es einige Geheimnisse, die nur langsam ans Tageslicht kommen. Da muss sogar Lorenz staunen. Der lebt, weit entfernt von seinem Schweizer Familienhaus, als Schriftsteller in Berlin und hat sich einen Namen gemacht als Autor schwuler Befindlichkeit. Zurück in seinem Heimatort, fühlt er sich fremd und merkt gar nicht, dass ihm dort, wenn er nur wollte, die große Liebe des Lebens begegnen könnte.

Das Leben könnte so schön sein, man muss es nur richtig anpacken und den Mut haben, seine Träume zu bewahren. Doch wovon soll man, von schuldbewussten Kindern in eine Seniorenresidenz abgeschoben, noch träumen?

(Start in ausgewählten Kinos am 27. März)




Ansichten eines Hörbuchjunkies (8): Der Hundertjährige, bei dem es nie langweilig wird

Jonasson_Jonas_Der_Hundertj_hrige_der_aus_dem_Fenster_stieg_und_verschwandNun kommt das 100-jährige Chaos auch als Film: Jonas Jonassons Erstling, der mich als Hörender platt machte. Das muss ich sehen.

Allan Karlsson soll zum so sehr besonderen Anlass seines 100. Geburtstages ein Fest im Altenheim von Malmköpping gegeben werden, eine Vorstellung, der Allan nur ungern und missvergnügt entgegen sieht. Und so fasst der ungewöhnlich rüstige ältere Herr einen wegweisenden Entschluss. Er öffnet das Fenster seines Altenwohnraumes, zwängt seine Gestalt trotz zugegebenermaßen rostiger Gelenke durch die Öffnung und entweicht in eine ihm fast unbekannt gewordene Freiheit. Wie der Titel schon sagt: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“.

Und dann beginnt eine Handlung, deren Absurdität nur einer übertreffen kann, der Autor Jonas Jonasson selbst, was er auch mit dem Nachfolgewerk „Die Analphabetin, die rechnen konnte“ tat. Doch noch sind wir bei Allan, der seine bewegungsallergische Gestalt hinaus in die nahe Ferne bewegt und an einer Bushaltestelle die erste Begegnung mit menschlichen Wesen der Gegenwart hat. Mit einem jungen Mann, der Allan bittet, mal kurz auf seinen Trolleykoffer aufzupassen, während er sich im WC erleichtern will.

Gutmütig willigt der alte Mann ein, klettert aber, als der Jüngling nicht schnell genug zurückkehrt, in den pünktlich eintreffenden Bus Richtung Strängnäs und entschwindet, mit Koffer und Inhalt, der aus sehr viel Geld besteht, wie sich später herausstellt.

Nun beginnt sich um Allan, während er sich immer weiter vom behaglichen Altenheim entfernt, ein Freundeskreis zu scharen, der seinesgleichen sucht. Es beginnt mit dem 70-jährigen Forstdieb Julius Jonsson, bei dem der gutherzige Kofferdieb einkehrt und alsbald wieder von dem ihn wütend verfolgenden Jüngling eingeholt wird, den die beiden Greise aber ungewollt nach kurzem Kampf einfrieren, weil sie vergessen, die Kühlung im Gefrierraum abzustellen, in den sie den Ganoven, Mitglied einer Rockerbande, einsperren.

Der sich zufällig erweiternde Freudeskreis gewinnt Julius, den Langzeitstudenten, hinzu, den ehemaligen Imbissbudenbesitzer Benny Ljungberg und die einsam auf ihrem Hof lebende Gunilla Björklund, auch „die Schöne Frau“ genannt, die eine aus einem Zoo in Växjö entflohene Elefantendame namens „Sonja“ ständig mit sich führt. Später gesellen sich noch der Rockerbandenchef und der ermittelnde Polizeibeamte dazu, der eine, weil er seinen Kindheitsfreund in der schrillen Gesellschaft wiedertrifft, der andere, weil er die Nase voll hat vom Leben des Beamten.

Zwischen die krassen Ereignisse rund um den wachsenden Kreis irrer Neuzeitgenossen streut Jonasson die Rückblenden auf das lange Greisenleben, vom begabten Jung-Sprengmeister, über den beiläufigen Geistesblitzer, der das Manhattan-Projekt in Los Alamos rettet und zum besten Kumpel von Harry Truman wird, mit Zwischenstation in China, wo er Maos Frau vor den bösartigen Attacken der Chiang Kai-chek-Gattin bewahrt bis zum Gefängnis in Teheran, wo Allan den staatsbesuchenden Churchill von einem fiesen Attentat bewahrt. Ach ja, und Stalin trifft er auch…

Episch breit und nie breit getreten, keine Sekunde langweilig, bunt und schrill wandert die Geschichte durch die Jahrzehnte, geleitet von einem zunächst beschränkt wirkenden Helden, dessen unbedarfte Art ihn stets die direktesten Wege gehen lässt, und der dabei über Brücken läuft, die kein anderer erkennt. Beiläufig zupfen Jonassons Figuren schier allem, was hohen Rang oder historischen Wert hat und an Institutionen, die mehr um ihrer selbst als wegen ihres gesellschaftlichen Gewichts existent gehalten werden, jede erdenkliche Maske der Seriosität ab.

Peter Weis‘ sonores Organ erzählt über 13 Stunden lang, als sei es sein eigenes Leben…

Jonas Jnasson: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“. Gelesen von Peter Weis. 13 Stunden und 25 Minuten. Der Hörverlag.

Kinostart: 20. März 2014 (u. a. Camera und Cinestar (Dortmund) / UCI, Union und Casablanca (Bochum) / Cineworld (Lünen) / Schauburg (Gelsenkirchen) / CinemaxX und Lichtburg (Essen))




Die Anfänge eines kunstvollen Scheiterns – Samuel Becketts Briefe 1929–1940

Kaum jemand hat das Scheitern so gekonnt zu seinem Markenzeichen gemacht wie Samuel Beckett. „Wieder scheitern. Besser scheitern“, heißt es in Worstward Ho (Aufs Schlimmste zu; 1983). Die Anfänge des großen Prosaisten, Lyrikers und Dramatikers, der seine Bühnenfiguren in Mülltonnen steckte oder bis zum Hals in einem Erdhügel vergrub, der in seiner Romantrilogie systematisch den Erzähler abschaffte und vor dessen vernichtendem Denken sich kaum eine literarische Gattung retten konnte, die Anfänge sind inzwischen als autobiographische Zeugnisse in Form von Briefen nachlesbar.

Beckett hatte vor seinem Tod im Jahr 1989 verfügt, dass nur solche Briefe veröffentlicht werden dürfen, die für sein Schaffen von Belang sind. Nach und nach entdeckte die Beckett-Forschung, in welchem Maße sich der Autor – wenn auch teilweise bis zur Unkenntlichkeit verschlüsselt – aus Erlebtem bedient hat. Erben und Herausgeber einigten sich auf die Publikation von 2.500 der ca. 15.000 bekannten Briefe, verteilt auf vier Bände.

Der erste Band, 2009 in England und im vorigen Jahr in einer gelungenen Übertragung von Chris Hirte auf Deutsch erschienen, umfasst den Zeitraum 1929–1940. In diese zwölf Jahre fallen mehrere Veröffentlichungen, die den späteren Literatur-Nobelpreisträger allerdings noch nicht berühmt machten – das sollte sich auch für weitere zwölf Jahre bis zu Warten auf Godot, das im Januar 1953 uraufgeführt wurde, nicht ändern.

Da wäre zunächst Whoroscope – ein Langgedicht, mit dem der Vierundzwanzigjährige seinen ersten Literaturpreis gewonnen hat und das sich all denen nicht vollständig erschließen kann, die zum Beispiel nicht dieselbe Descartes-Biographie wie Beckett gelesen haben.

Sein Essay Proust (1931) verkaufte sich akzeptabel; eine weitere von Beckett vorgeschlagene Monographie zu André Gide aber wollte der Verleger nicht folgen lassen.

Für seinen ersten fertiggestellten Roman, Dream of Fair to Middling Women, fand Beckett keinen Verleger – nicht zu seinem Schaden. Der frühe Romanversuch, den Beckett später als „unreif und unwürdig“ bezeichnen und nicht mehr zur Veröffentlichung freigeben würde, enthält mehrere akademisch verbildete oder in Joyce’scher Manier strapaziöse Passagen. Zugleich verrät Beckett darin ungeschützt biographische Details, die auch seine Jugendlieben in unvorteilhafter Weise erscheinen lassen. Das Werk diente jedoch als Steinbruch für den 1934 veröffentlichten Band mit Erzählungen, More Pricks Than Kicks (in deutscher Übersetzung: Mehr Prügel als Flügel).

Es folgte 1935 unter dem Titel Echo’s Bones and Other Precipitates ein Band mit Gedichten, deren Urfassungen Beckett teilweise als Anlagen mit seinen Briefen versandt hat und die in die vorliegende, gut kommentierte, Ausgabe aufgenommen wurden.

Schließlich Murphy, der Roman, der nach zweiundvierzig Ablehnungen im Jahr 1938 endlich bei im Londoner Verlag Routledge erscheint, was Beckett zu dem Zeitpunkt beinah schon gleichgültig zur Kenntnis nimmt. Murphy gilt zu Recht als geniales Frühwerk, nicht zuletzt aufgrund der dort wiedergegebenen Notation einer Schachpartie, die Becketts Denken vielleicht im Kern zutreffender charakterisiert als viele Worte. Jedoch hatte Beckett darin noch nicht zu seinem minimalistischen Stil gefunden, in den er sich im Lauf seines Lebens zunehmend, besser gesagt: abnehmend, hineinschreiben wird.

In den Briefen rund um die mühselige Verlagssuche tauchen bereits die resignierten, lakonischen, selbstironischen Töne auf, für die man Beckett später verehren wird.

„Du weißt, dass ich überhaupt nicht schreiben kann. Der einfachste Satz ist schon Folter“ – am 25. Januar 1931 an Thomas McGreevy. Weiter am 8. November desselben Jahres: „Schreiben kann ich überhaupt nicht, mir nicht mal die Umrisse eines Satzes vorstellen oder Notizen machen“ (ebenfalls an McGreevy). Schließlich, im August 1932: „Zu schreiben habe ich gar nicht erst versucht. Schon der Gedanke ans Schreiben scheint mir irgendwie lächerlich.“ Oder noch genereller an seine Tante Cissie: „Arbeiten kann ich nicht. Einen Monat schon gebe ich mir nicht mal den Anschein von Arbeit“ (14. August 1937).

Was wüssten wir über Samuel Beckett, wäre da nicht der Freund? „Ich hätte niemals einen so detaillierten und auf Tatsachen gestützten Bericht über Becketts Leben, Gedanken und Ideen schreiben können, hätten mir nicht seine Briefe an McGreevy zur Verfügung gestanden“, berichtet seine erste Biographin, Deirdre Bair.

Der dreizehn Jahre ältere Thomas McGreevy war Becketts Vorgänger als Englisch-Lektor an der École Normale Supérieure in Paris. Als Beckett ihn 1928 auf dieser Stelle ablöste, blieb McGreevy zunächst in der französischen Hauptstadt, machte Beckett u. a. mit James Joyce und seinem Umfeld, später mit dem Maler Jack B. Yeats und dem Verleger Charles Prentice (Teilhaber von Chatto and Windus) bekannt; er ermunterte ihn zu dem Essay über Marcel Proust und entfachte seine Begeisterung für bildende Kunst. In ihrer jeweiligen Haltung zu Irland allerdings gab es zwischen den beiden erhebliche Differenzen; die irisch-katholische Vaterlandsliebe seines älteren Freundes konnte Beckett nicht nachvollziehen.

Einzelne Textstellen aus den mehr als dreihundert erhaltenen Briefen an Thomas McGreevy übernahm Beckett in seine Prosatexte und Stücke. In die Korrespondenz investierte er mitunter mehr Zeit als in sein – im engeren Sinne – literarisches Schreiben. Obgleich auch die Briefe nicht ohne literarische Finessen sind. Der deutsche Titel des ersten Bands der Briefausgabe, „Weitermachen ist mehr, als ich tun kann“, ist ein Zitat aus einem Brief vom 26. März 1937 an seinen ehemaligen Studienkollegen vom Trinity College Dublin, Arland Ussher.

Das Schreiben schien ihm aber damals noch keine Notwendigkeit gewesen zu sein, anders als ab 1942, als er sich mit seiner späteren Frau Suzanne – beide waren für die Résistance tätig – im südfranzösichen Roussillon (Vaucluse) vor den Nazis versteckte.

Noch 1937 teilt er McGreevy mit: „es ist weiß Gott nicht so, dass ich jemals gewünscht hätte, mein Leben mit Schreiben zu verbringen.“ Er bewarb sich um eine Dozentur für Italienisch an der Universität Kapstadt („Mir ist wirklich gleichgültig, wohin ich gehe oder was ich tue“). Zeitweise liebäugelte er auch mit der Vorstellung, Pilot zu werden. Ein Praktikum beim Film scheiterte – Sergei Eisenstein reagierte nicht auf seine Bewerbung. Über Nino Frank, den er auf einer Party bei den Joyces trifft, meint er: „Er kann mich hier mit Filmleuten in Kontakt bringen, falls ich überhaupt jemals noch mit jemandem Kontakt haben will“ (am 11. Februar 1939 an McGreevy).

Ein wichtiges Thema in den Briefen, über das zu sprechen Beckett in späteren Interviews rigoros ablehnte, betrifft das gespannte Verhältnis zu seiner Mutter. Immerhin zahlte sie ihm eine Psychotherapie in London, die nur das Ziel haben konnte, den Sohn von der Mutter zu heilen. Beckett, der sich in London auch einen Vortrag von C. G. Jung anhörte, berichtet dem Freund über die fragwürdigen Erfolge der zahlreichen Sitzungen mit seinem Arzt Wilfred Ruprecht Bion.

Letztlich aber half nur die räumliche Distanz vom Elternhaus in dem gepflegten Dubliner Vorort Foxrock. In Paris hielt er sich von 1928 bis 1930 und dann kontinuierlich ab 1937 auf, in London während der langwierigen Therapie 1934/1935 und oftmals zu verschiedenen Besuchen bei Freunden. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Briefwechsels spiegelt seine frühen Deutschlandreisen wider, zunächst in den Jahren 1928/1929 von Paris aus nach Kassel zu seiner damaligen Geliebten Peggy Sinclair, die zugleich seine Cousine war und deren fehlerhaftes Englisch er in Traum von mehr bis minder schönen Frauen (übernommen auch in den Band mit Erzählungen, Mehr Prügel als Flügel) festhält. Dann die halbjährige Deutschlandreise 1936/1937 mit ausgiebigen Besuchen in Kunstmuseen, was ihm zur Vorbereitung einer Karriere als Kurator (die er nie beginnen sollte) ein willkommener Vorwand war, seiner ihn vereinnahmenden Mutter zu entfliehen. Beckett lernt in Deutschland viele Persönlichkeiten aus dem Kunstbetrieb kennen und erlebt mit, wie sogenannte „entartete“ Kunst in den Kellern verschwindet, Museumsleiter oder Kunsthistoriker von ihren Posten suspendiert, Künstler und Intellektuelle jüdischer Herkunft diskriminiert werden.

In München sah und bewunderte er Karl Valentin – „Komiker allererster Sorte, aber vielleicht gerade am Beginn seines Niedergangs“, wie er am 30. März 1937 an Günter Albrecht schreibt. Durch Albrecht lernte er den späteren Rowohlt-Lektor Axel Kaun kennen, der ihm Gedichtbände von Joachim Ringelnatz zur Übersetzung ins Englische antrug („meiner Ansicht nach nicht der Mühe wert“ – 9. Juli 1937). Der Hamburger Teil der „German Diaries“ wurde 2003 in einer bibliophilen Ausgabe veröffentlicht.

An illustren Namen unter den Briefempfängern oder in den Briefen auftauchenden Personen fehlt es nicht. Da wäre zuallererst das frühe Vorbild James Joyce, der in Beckett seinen talentiertesten Assistenten fand, der aber auch als Erster an Becketts Krankenbett erschien, nachdem dieser bei einer Messerstecherei lebensbedrohlich verletzt worden war.

Mit der Kunstmäzenin Peggy Guggenheim, die er auf James Joyces Geburtstag 1938 kennenlernte, verband Beckett vom selben Abend an eine Liaison. Sehr hilfreich sind im Anhang die Kurzporträts der wesentlichsten Briefempfänger und mehrerer in den Briefen genannter Personen. Durch die Briefausgabe gewinnen wir auch Einblicke in Becketts frühe Lektüre: Dante, Samuel Johnson, Sade, Schopenhauer, Gontscharows „Oblomow“, die Surrealisten Paul Éluard und André Breton, in Deutschland auch (auf Empfehlung eines Freunds) Hans Carossa.

Der letzte Brief in Band 1 datiert vom 10. Juni 1940, einem Montag. Für den Freitag derselben Woche möchte er sich mit dem Malerfreund Bram van Velde zu einer Partie Billard im Café des Sports verabreden – „All das unter der Voraussetzung, dass wir in Paris bleiben.“ Diese Partie musste leider auf unbestimmte Zeit verschoben werden. „Am 12. Juni bestieg Beckett einen der letzten Züge von der Gare de Lyon nach Vichy, wo die Joyces sich aufhielten“, wie wir durch seine Biographin Deirdre Bair erfahren – „Seine Papiere waren nicht in Ordnung, und Geld hatte er auch keines (…). Er wusste, dass er in Vichy nicht bleiben konnte, denn die Stadt füllte sich zusehends mit Regierungsbeamten, die nach der Besetzung von Paris und dem Fall Frankreichs hier eine neue Regierung aufbauen sollten. (…) Am 13. Juni machte Beckett sich zu Fuß gen Süden auf, fand jedoch bald einen Zug, der hoffnungslos verspätet war und nur sehr langsam vorankam. Beckett zwängte sich hinein, hockte sich in eine Ecke und schaffte es auf diese Weise bis nach Toulouse. Ehe der Zug die Stadt erreichte, sprang Beckett ab und entging damit der Internierung von Ausländern in einem Flüchtlingslager.“ (Deirdre Bair: Samuel Beckett, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 393)

Becketts O-Ton zu den Kriegs- und Nachkriegsjahren 1941–1956 liegt seit dem September 2011 als Band 2 der englischen Briefausgabe vor. Die deutsche Übersetzung erwarten wir mit Ungeduld.

Cover Beckett Briefe 1929 bis 1940

 

Samuel Beckett:
Weitermachen ist mehr, als ich tun kann – Briefe 1929–1940
Herausgegeben von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck
Aus dem Englischen und Französischen von Chris Hirte
Mit zahlreichen Abbildungen
Frankfurt a. Main (Suhrkamp), 2013
Gebunden, 856 Seiten, D: 39,95 €
ISBN: 978-3-518-42298-4




Zeit für „Raketenmänner“ – das neue Buch von Frank Goosen

RaketenmännerBei Elton Johns Song „Rocket Man“ heisst es „I’m not the man they think I’m at home“. Frank Goosen selbst sagte in einem Interview*, diese Zeile sei ihm die Inspiration für seinen Buchtitel gewesen. Es sind Geschichten von Männern, die die Rakete starten wollten, aber mit diversen Fehlzündungen hadern.

Frank Goosen erzählt von geschiedenen Vätern, von Chefs, die in Konferenzen von einem Haus am Meer träumen, von alten Schulfreunden, die in grauer Vergangenheit leidenschaftlich gemeinsam in einer Band schrammelten, von Männern, für die das Leben eine einzige Spätpubertät ist.

Es sind kleine Geschichten, die doch von den großen Lebensthemen handeln: Wehmut, Ernüchterung, der Macht von Vergangenheit und Erinnerung, Träumen, Plänen und was am Ende davon übrig bleibt. So erzählen Goosens Raketenmänner vom Leben und vom Tod sowie dem Frieden, den man damit machen kann – oder eben nicht. Geschichten, jede für sich stehend, aber doch zusammengehörig. Manche Männer treffen wir in einem anderen Umfeld, einer anderen Geschichte wieder. Manch loser Faden fügt sich wieder zusammen, so dass das Buch am Ende keine Sammlung von Kurzgeschichten ist, sondern ein in sich abgerundeter Episodenroman.

Im Buch ist „Raketenmänner“ der Titel einer vergessenen, unbekannten Schallplatte (für die jüngeren Leser: Das sind diese runden, schwarzen Dinger aus Vinyl). Die Raketenmänner tauchen aus dem Dunkel eines alten Plattenladens auf und stehen für das einzig Perfekte, das ein Musiker mit dem bezeichnenden Namen Moses je hervorgebracht hat. Wie ein roter Faden zieht sich diese Platte durch die Geschichten und spielt im Leben mehrerer Männer eine wichtige Rolle.

Goosens Stil in diesen Geschichten ist wie die Musik auf der Platte: „schlicht, ohne Show und Schnörkel. Da trifft einer, ohne zu zielen.“ Mit feinem Sprachwitz und trockenem Humor lässt Goosen zeitweilig auch Melancholie und Nostalgie zu. Rechtzeitig findet er aber immer wieder zurück zu ironischer Distanz, so dass Sentimentalität gar nicht erst aufkommt. „Raketenmänner“ ist ein wesentlich reflektierteres Buch als die beiden letzten des vor allem im Ruhrgebiet äußerst beliebten Autors.

Nach dem kommerziell völlig zu Unrecht nicht so erfolgreichem Roman „So viel Zeit“ konnte man bei Goosen die Befürchtung hegen, er würde sich mit Büchern wie „Radio Heimat“ oder „Sommerfest“ auf eine Art ruhrischen Heimatroman beschränken. Die „Raketenmänner“ nun zerstreuen diese Befürchtung, sie sind sozusagen die Quintessenz des lachenden Pokorny mit So viel Zeit.

Die beliebten Gassenhauer legt Goosen nun klugerweise seinen Protagonisten in den Mund, der Erzähler selbst gönnt sich schöne einfühlsame Bilder wie die „vom Himmel über den abgeschlossenen Geschichten“ oder „vom Irgendwann, dem Land, in dem die schönsten Dinge passieren“. Sätze, für die man manche Geschichten schon vom ersten Absatz an mag, auch wenn man noch gar nicht weiß, worum es geht. Sätze, die so für sich alleine stehen bleiben könnten, eine ganze Geschichte, ein ganzes Leben, in einem Satz erzählt.

Natürlich sind es wie immer Geschichten mit hohem Wiedererkennungswert. Eins der größten Talente des Autors ist seine exzellente Beobachtungsgabe. Der Tonfall eines jeden Charakters ist wunderbar getroffen, man hat sie sofort vor Augen: den schnöseligen Unternehmensberater, den träumerischen Schallplattenverkäufer, die Frau, die man(n) nur noch als Frau Dingenskirchen in Erinnerung hat.

Wie so oft bei Frank Goosen werden viele Geschichten von Musik begleitet. Die lautlosen Geschichten, die keinen Soundtrack haben sind auch die hoffnungslosen. In den anderen Geschichten ist es die Musik, die Leben retten, begleiten und beenden kann. Wie in der letzten Geschichte, die ein würdiger Schlusspunkt geworden ist. Eine Geschichte wie ein Traum von einem Rockkonzert, einem Konzert von „einfachen Leuten“ für „Raketenmänner“ oder umgekehrt. So sind die Raketenmänner ihre eigene Hymne geworden: Auf die Freundschaft, für die Verwirklichung von Träumen und eine verständnisvolle Liebeserklärung an die Männer mit all ihren Bemühungen und all ihrem Scheitern. Kurze Geschichten, geschrieben von einem Mann über Männer, bei weitem aber kein Buch nur für Männer. Schließlich wollen auch wir Frauen gerne wissen, wie Männer ticken. Vor allem die, die so gerne „Raketenmänner“ wären.

Bei aller Freude über ein sehr gelungenes neues Buch von Frank Goosen – eins kann der Autor fast noch besser als schreiben: nämlich lesen. Vorlesen. Den Tresenleser vergangener Tage hat er in sich bewahrt. Meiner eigenen Erfahrung nach werden seine Geschichten erst dann so richtig rund, wenn er sie selber liest und kommentiert. Termine finden sich auf seiner Homepage. Gerüchten zufolge gibt es noch einzelne Tickets.

Frank Goosen: „Raketenmänner“. Verlag Kiepenheuer und Witsch. 233 Seiten, € 18,99

Homepage des Autors: frankgoosen.de

(* Interview in der allgemeinen Frankfurter Sonntagszeitung vom 2. Februar 2014)

 

 




Familienfreuden XIV: Eine Lektion Babyschwimmen

Es gibt solche Eltern. Und es gibt solche Kinder. Oder: Wir waren beim Babyschwimmen. Eine Lektion in Demut, Erziehung und dem ganz normalen Wahnsinn.

Ich bin sicher, es gibt sie. Kinder, die nie nölen, schreien oder laut protestierend ihren Willen durchsetzen wollen. Die nie im unpassenden Moment in die Windel machen, für den nächsten Keks fast den Kinderwagen zum Umfallen bringen oder an der Supermarktkasse eine Revolte anfangen, gegen die die Französische Revolution ein Fliegenpups ist. Die allerdings schon mit sieben Monaten das Laufen begonnen haben, mit acht Monaten das Sprechen und ab anderthalb den ersten Kurs an der Uni besuchen. Und es gibt sicher auch die Eltern, die nie die Nerven verlieren, die immer genau wissen, was gerade mit ihrem Kind los ist und die nie auch nur ein gekauftes Gläschen an ihren Nachwuchs verfüttert haben.

Tropische Gefühle beim munteren Babyschwimmen. (Bild: Albach)

Tropische Gefühle beim munteren Babyschwimmen. (Bild: Albach)

Ich gestehe: Wir gehören nicht dazu.

Der Auslöser für diese Zeilen? Wir waren beim Babyschwimmen.

„Was ein Stress“

Normen watete mit Fi ins Wasser, ich stand am Beckenrand. Als ein Vater einen anderen mit leidendem Gesichtsausdruck und den Worten „Oh, was ein Stress! Wir müssen gleich noch zu Babyone!“ begrüßte, versuchte ich, das nicht als böses Omen zu werten.

Und tatsächlich: Fi lachte, planschte, paddelte – das Glück hatte ein Gesicht.

Nur ich hätte es beinahe nicht gesehen, weil mir schwarz vor Augen wurde. Die Schwimmhalle war auf gefühlte 50 Grad aufgeheizt. Die anderen Väter und Mütter am Beckenrand standen in luftigen Sportklamotten da – ich in meiner Winterkleidung drohte gleich, ins Wasser zu kippen.

Als ich einer Mutter sagte, dass mir die Hitze zu schaffen machte und die anderen Eltern ja schlauerweise dünner angezogen seien, schaute sie mich von oben bis unten an und sagte: „Mit gutem Grund!“

Ich schluckte es runter wie Fi das Chlorwasser.

Wickeln im Stehen

Hinterher in der Kabine, neben mir eine Mutter, die ihr Kind anzog, die Oma daneben. Ein eingespieltes Team, das sah man sofort. Fiona hingegen verstand unter Einspielen etwas anderes, als sich ruhig hinzulegen und anziehen zu lassen. Sie blieb zeternd stehen. Wickeln im Stehen gehört mittlerweile zu meinem Standardrepertoire – in normalen Situationen. Eine winzige Umkleide bei tropischer Hitze sprengt allerdings den normalen Rahmen. Wir arbeiteten uns millimeterweise vorwärts, ich beruhigend auf Fi einredend, sie zappelnd.

Blick von links. Missbilligend. Vielsagendes Räuspern. „Schau mal, Arabella“, sagte die Mutter neben mir honigsüß zu ihrer Babytochter, „DA wird noch diskutiert. DIE Phase haben wir ja schon hinter uns. DU wirst einfach hingelegt – und gut ist!“

Kennt Ihr die Folge des Tatortreinigers, bei der er von einem Nazi verbal belagert wird und in Tagträumen überlegt, wie er gern reagieren würde? Ich will keine Details nennen, aber mein Tagtraum hatte mit Fi’s voller Windel zu tun…

Glück zählt

Was soll ich sagen? Wir werden trotzdem wieder hingehen. Fi schließlich hat es glücklich gemacht – das zählt.

Das nächste Mal aber werde ich daran denken, was Normen beim Umziehen in der Männerkabine mitangehört hat. Dass nämlich der eine Vater den anderen fragte, ob er demnächst mal wieder joggen werde. Und der nur resigniert sagte, er habe nun Familie, Job, Haus. Da sei sowas wirklich nicht mehr drin.




Afrikanischer Immigrant im mörderischen Dauerstress – „Call Shop“ beim WLT uraufgeführt

Noch ein Stück über afrikanische Immigranten? Wieder die bis zum Überdruss vernommene Klage über das Unrecht in der Welt und die Ignoranz der reichen Europäer?

Die Ankündigung des Stückes „Call Shop“ von Jubril Sulaimon, das jetzt beim Westfälischen Landestheater seine Uraufführung erlebte, weckt solche Erwartungen, geht es doch in der Tat um einen afrikanischen Studenten und seine „typischen“ Probleme, die immer deutlicher werden, je länger wir ihm beim Telefonieren zusehen. Doch was Sulaimon als Autor wie auch als Hauptdarsteller erzählt, ist weitaus komplexer als erwartet. Und beschämt, wie könnte es anders sein, all jene, die vorher schon alles ganz genau wussten.

Im Gepäck vieler Menschen aus ärmeren Teilen der Welt, die in den reichen Norden kommen, stecken riesengroß auch die Erwartungen der Daheimgebliebenen. Man rechnet mit Geldüberweisungen, mit Hilfe vor Ort für Nachzügler. Außerdem, das Telefon macht die Erde zum globalen Dorf, erwartet die Verwandtschaft, dass sich die jungen Emigranten weiter um die Probleme zu Hause kümmern, um den kaputten Stromgenerator, um Großmutters Verdauungsprobleme, um die Ziege, die einem Nachbarn angeblich eine Glasscheibe zerstört hat, wofür dieser Schadensersatz haben will. Nicht im geringsten können sich die eigenen Leute vorstellen, dass ihr Sonnyboy Lamidi in Europa ganz andere, riesengroße Probleme hat, dass sein Visum erloschen ist und ihm die Abschiebung droht. Im Call Shop, in dem einige Telefone gar nicht und manche nicht richtig funktionieren, kämpft Lamidi einen aussichtslosen Kampf gegen übermächtige Widerstände. Er muss einem leid tun.

Die andere Figur in diesem Zweipersonenstück ist Damika (Julia Gutjahr), die mit mäßiger Motivation im Call Shop an der Kasse sitzt und für die Dauerklagen des gestressten Dauertelefonierers den entspannten Dialogpartner abgibt. Heirat verhieße Bleiberecht – man spricht über Paare, über alte Europäerinnen und ihre jungen afrikanischen Männer, über subtile Formen der Ausbeutung.

Späterhin verändert sich Damikas Rolle grundlegend, die Maske der Coolness fällt von ihr ab. Sie berichtet, dass ihre osteuropäische Familie sie schon als Kind zur Prostitution zwang, dass sie nach Deutschland floh und keinen Kontakt mehr zu ihren Leuten hält. Das ist ihre Überlebensstrategie, die sie auch Lamidi beschwörend nahelegt: Wenn er in der Fremde überleben will, muss er sich von den Problemen der alten Heimat abnabeln. Aber das ist nicht leicht.

So, wie Christian Scholze es in Castrop-Rauxel inszeniert hat, ist Jubril Sulaimons aufgeregtes, rastloses Einstundenstück eher Statement als Erzählung. Doch sicherlich hätte man auch die Geschichte im Stück stärker betonen können. Denn wenn Damika und Lamidi einander näherkommen und der Call Shop sich als ihrer beider verzweifelter Sehnsuchtsort entpuppt, als kümmerlicher Treffpunkt der fortgejagten, einsamen Kinder, dann ist das eine Liebesgeschichte, wenngleich ohne Happy End. „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll“, sagt Lamidi gegen Ende des Stücks, „Ich brauche die Stimmen von zu Hause“. Und dann geht er doch.

Seit 1992 lebt und arbeitet der Nigerianer Jubril Sulaimon (Jahrgang 1968) in Deutschland, spielte in Essen, Bochum, Bremen, Wuppertal, Düsseldorf und Hamburg Theater, ist aktuell mit seinem Tanz- und Theaterensemble „Jubril Sulaimon und aipo“ auf Tournee, macht Soloprogramme. Er ist ein Märchenerzähler und ein Komödiant, meistens. Wenn in diesem bedrückenden „Call Shop“ keine Heiterkeit aufkommen konnte, so lag dies sicherlich nicht an ihm.

Die nächsten Termine sind in Essen: 26. u. 27. Februar, 20 Uhr, Einführung 19.30 Uhr. Maschinenhaus Essen. www.maschinenhaus-essen.de, Tel. 0201 / 83 78 424.
Weitere Infos: http://westfaelisches-landestheater.de/repertoire/++/produktion_id/400/

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen)




Der Flaneur braucht kein Ziel

In der Regel hat der Weg in der westlichen Leistungsgesellschaft ein Ziel. Man geht zur Arbeit oder zum Supermarkt, man muss Behördengänge erledigen, die alte Mutter besuchen, für den Halbmarathon trainieren, Schuhe kaufen oder wenigstens Brötchen holen. Auch die systematische Besichtigung historischer Innenstädte in artigen Gruppen oder mit Hilfe eines gedruckten Reiseführers ist durchaus üblich.

Der Flaneur (aus dem Französischen: flaner = umherstreifen, schlendern) braucht alle diese Gründe nicht, um stundenlang durch eine Stadt zu bummeln. Er hat keine Eile, er lässt sich treiben. Mal beobachtet er die Schwäne auf dem Stadtteich, mal lauscht er einem Straßenmusiker, mal trinkt er einen Espresso, sieht Passanten hinterher und lässt die Zeit vergehen. Ein Flaneur verfolgt keinerlei praktischen, wirtschaftlichen oder sportlichen Nutzen. Er sammelt Eindrücke.

Inspirationen suchen

Das ist für emsig arbeitende Menschen eher suspekt. Der kleine Müßiggang beim Cappuccino wird zwar mittlerweile akzeptiert, man darf mal Pause machen. Aber nicht zu lange, dann muss man wieder ins Büro. Oder wenigstens ins Sportstudio. Der Flaneur lächelt nur milde, grüßt flüchtig und schlendert weiter, um die nächste Ecke. Das ist seine liebste Beschäftigung. Für einen Faulenzer darf man diesen Charakter dennoch nicht halten, denn er registriert alles.

Flaneusen sind in der Kulturgeschichte nicht vorgesehen. Aber es soll sie geben... (Bild: Privat)

Flaneusen sind in der Kulturgeschichte nicht vorgesehen. Aber es soll sie geben… (Bild: Privat)

Viele Dichter und Journalisten verschafften sich flanierend ihre Inspirationen. Der Beschwörer des Unheimlichen zum Beispiel, Edgar Allan Poe, ließ den Ich-Erzähler seiner Novelle „Der Mann in der Menge“ (1838) nach langer Krankheit „an dem Bogenfenster des vielbesuchten Café D. in London“ Platz nehmen und das städtische Leben beobachten: „Das Gefühl der wiederkehrenden Kräfte hatte mich in jene glückliche Stimmung gebracht, die das Gegenteil von Langeweile ist, alle Sinne schärft, aufnahmefähiger macht… Alles, selbst Unbedeutendes, nötigte mir eine ruhige, forschende Teilnahme ab.“ Durch die dunstbeschlagenen Scheiben späht der Mann auf die Straße hinaus, Poe lässt ihn unermüdlich die Vorübergehenden beschreiben: die Herrschaften und Hausierer, die Bettler und Spieler, die Kuchenverkäufer und Trunkenbolde bis hin zu einem kleinen alten Mann, dessen satanisches Gesicht ihn derartig fasziniert, dass er ihm folgt – durch den Nebel der Nacht.

Kunst der Wahrnehmung

Flanieren, lernt man aus diesem Stück Literatur, hat nichts mit Dösen zu tun. Es verbessert vielmehr die Wahrnehmungsfähigkeit. „Flaneure sind Künstler, auch wenn sie nicht schreiben“, behauptet der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom in einem Essay für die „Zeit“: „Sie sind zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung, sie sind die Registrierer des Verschwindens, sie sehen als erste das Unheil, ihnen entgeht nicht die kleinste Kleinigkeit.“ Kein Riss im Parkhaus-Beton, keine Bausünde, keine Verwahrlosung. Und kein Vogelzwitschern im Gebüsch.

Hans Dieter Schaal, der jenseits der Szene arbeitende Architekt, Bühnenbildner, Dichter und Denker, fühlte sich von den Städten, die er besuchte, so vielfältig angeregt, dass er im Jahr 2009 seine „Stadttagebücher“ veröffentlichte. „Ich bin Erlebender und Beobachter“, schrieb Schaal im Vorwort: „Ich schaue mir die Gebäude, Straßen, Plätze, Märkte Fußgängerzonen, Malls und die Menschen an, lasse die Oberflächen auf mich wirken, spüre den Atmosphären nach. Manchmal überfällt mich die Angst, dann wieder fühle ich mich beglückt und bereichert.“ Knapp 700 eng bedruckte Seiten füllte Schaal mit Texten und selbst fotografierten Bildern.

Langsam gehen

Der Flaneur kann also auch besonders fleißig sein. Muss aber nicht. Er ist im Prinzip ein Zeitverschwender, gibt Nooteboom zu. „Wenn ich an all die Stunden – und allmählich Jahre – denke, die ich durch die Straßen der Welt geschlendert bin, dann hätte ich in dieser Zeit die gesammelten Werke von Hegel und Kant mit der Hand abschreiben können“, scherzt er. Stattdessen habe er „ein Buch gelesen, das nie zu Ende geht, ein Buch, dessen Kapitel und Buchstaben aus Gebäuden, Standbildern, Straßen, Autobussen und Menschen bestehen“.

Als „Lektüre der Stadt“ bezeichnete schon der Autor und Rowohlt-Lektor Franz Hessel (1880-1941) das Flanieren. In seinem Buch „Spazieren in Berlin“ feierte er 1929 das zweckfreie Schlendern: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.“ Allerdings registrierte Hessel in der geschäftigen Metropole auch misstrauische Blicke: „Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.“ In Paris, wo Hessel vor dem Ersten Weltkrieg einige glückliche Jahre verbrachte, war das anders: Das Flanieren als Lebensart wurde dort im späten 19. Jahrhundert erfunden und von Autoren wie Marcel Proust („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) gefeiert. Wie viele Bilder der Impressionisten zeigen, liebte man das zweckfreie Bummeln besonders, seit die französische Hauptstadt kein Labyrinth stinkender Gassen mehr war. Der Präfekt Georges-Eugène Baron Haussmann hatte großzügige Boulevards und lauschige Passagen angelegt – das ideale Terrain für den Flaneur, den Charles Baudelaire, Poet der „Blumen des Bösen“, als „Künstler, Mann von Welt, Mann der Menge und Kind“ beschrieb.

Melancholischer Voyeur

Nach Ansicht des deutschen Philosophen und Proust-Übersetzers Walter Benjamin (1892-1940) ist der Flaneur ein Süchtiger, ein melancholischer Voyeur, ein Detektiv und ein Verdächtiger zugleich. Benjamin widmete dem Phänomen sein unvollendetes „Passagen-Werk“, dessen Durcharbeitung allerdings nur strebsamen Geisteswissenschaftlern zu empfehlen ist. Alle anderen sollten einen leichten Mantel anziehen und einfach nach draußen gehen, in die Stadt, zum Flanieren.

Zitat:

„Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen.“
(Franz Hessel, Flaneur)

Und wo bleibt die Flaneuse?

Frauen haben offensichtlich immer was zu tun. Jedenfalls kennt die Literatur keine Flaneuse. So, wie sich die Männer bei der Arbeit entschlossen bis stur auf ein Ziel konzentrieren, sind sie auch in Sachen Müßiggang durch nichts abzulenken. Immerhin gibt es bei Marcel Proust den Begriff der „Passante“ (französisch: Spaziergängerin). Dabei handelt es sich um vorbeiziehende, flüchtige Figuren, die alle Blicke und Begehrlichkeiten flanierender Herren ignorieren. In der Gegenwart bahnt sich zum Glück eine Änderung an. In dem Flaneur-Büchlein von Stefanie Proske (siehe Buchtipps) wird zwischen vielen Männern auch die Berliner Schriftstellerin Christa Moog zitiert: „Ich spazierte zum Grab von Kleist.“

Buchtipps:

„Das Passagen-Werk“
„Man darf, ohne Einschränkung, von einem epochalen Werk sprechen“, befand die Züricher Zeitung. Alle klugen Menschen nicken verständig, wenn von Walter Benjamins „Passagen-Werk“ die Rede ist. Jeder, der über das Flanieren philosophiert, wird es zitieren. Dabei handelt es sich um eine fragmentarische, aber überaus umfangreiche Sammlung von Texten, die durchzuarbeiten nicht gerade ein Vergnügen ist. 13 Jahre lang, bis zu seinem Selbstmord im Exil 1940, arbeitete der 1892 in Berlin geborene Philosoph an seinem Hauptwerk, einem Buch über seine Lieblingsstadt Paris – und wurde niemals fertig. Der Titel leitet sich ab von einer reichlich trockenen Abhandlung über die Geschichte der im 19. Jahrhundert erbauten Passagen, jene überdachten Gassen für den flanierenden Genießer. Die zweibändige Textsammlung ist nur geeignet für Menschen mit entschiedenem Bildungswillen. (Walter Benjamin: Passagen-Werk. Edition Suhrkamp, 1354 Seiten, 29,90 Euro)

„Flaneure – Begegnungen“
Das rosarote, hübsch gestaltete Büchlein der Lektorin und Politologin Stefanie Proske ist so leicht, dass es der Flaneur ohne weiteres in die Tasche stecken kann. Und die Lektüre ist ein müheloses Vergnügen für ein Stündchen im Café, denn Proske hat einige kurze Beispiele aus der Flaneur-Literatur zusammengestellt. Das geht vom alten Pariser Charles Baudelaire, der „inmitten dieses in Kittel und Kattun gekleideten Volkes“ eine „große, hoheitsvolle Frau“ entdeckte, bis zum Wiener Karl Kraus: „Dagegen zog mich von jeher das Leben der Straße an…“ Ideale Lektüre für ein müßiges Stündchen im Straßencafé. (Stefanie Proske: Flaneure – Begegnungen auf dem Trottoir. Edition Büchergilde, 198 Seiten, 14,90 Euro)

„Stadttagebücher“
Als Bühnenbildner reiste der oberschwäbische Architekt, Zeichner und Autor Hans Dieter Schaal in viele Städte von Venedig bis Kuala Lumpur. Das Flanieren wird bei ihm auch immer zum Analysieren. Was er entdeckte und bedachte, sammelte Schaal in umfangreichen „Stadttagebüchern“, die mal historische Abhandlung, mal persönliche Anekdote sind. Man kann und muss das schwere, mit eigenen Fotos illustrierte Buch nicht komplett lesen – aber man kann dem Flaneur Schaal in die eine oder andere Stadt folgen. (Hans Dieter Schaal: Stadttagebücher. Edition Axel Menges, 647 Seiten, 79 Euro).