„Du musst auch eine Drecksau sein“: Notizen vom ZDF-Talk zum Spiel Dortmund vs. Bayern

Allmählich drehen die Medien durch. Seit Wochen überschlägt sich die Berichterstattung vor dem Finale der Champions League. Borussia Dortmund gegen Bayern München im Londoner Wembley-Stadion ist das Spiel der Spiele. Jetzt ging es auch in Maybrit Illners ZDF-Talk um dieses Match, das am Samstag (20:45 Uhr) ins Haus steht.

Ich halte es mit dem guten alten Spruch des BVB-Altvorderen Adi Preißler: „Entscheidend is auf’m Platz.“ Alles Gerede vorher und nachher ist herzlich zweitrangig. So auch bei dieser Talkshow, deren Gästeliste nicht gerade Endspiel-Niveau erreichte. Vor allem fragte man sich, was um Himmels Willen Andrea Kiewel („ZDF-Fernsehgarten“) in dieser Runde zu suchen hatte. Sie war schon beim Sendereigen zum 50jährigen ZDF-Jubiläum – ebenfalls von Maybrit Illner moderiert – höchst präsent. Man kennt sich, man mag sich, man lädt sich ein…

Musste auch als Fußball-Talkerin herhalten: Andrea Kiewel vom ZDF-Fernsehgarten. (Foto: ZDF/Carmen Sauerbrei)

Musste auch als Fußball-Talkerin herhalten: Andrea Kiewel vom ZDF-Fernsehgarten. (Foto: ZDF/Carmen Sauerbrei)

Bloß keinen Aspekt auslassen

Maybrit Illner mühte sich, dem Thema alles, aber auch alles abzupressen. Bloß keinen Aspekt auslassen. Da ging es vor allem um den Mythos „Malocher gegen Millionäre“ und alle anderen Animositäten zwischen Bayern und dem BVB, die weidlich ausgekostet wurden. Bei Licht betrachtet, blieb jedoch von diesem angeblichen „Kulturkampf“ (Illner) substanziell nicht allzu viel übrig.

Man hatte versucht, die Runde möglichst gleichgewichtig zu besetzen. Ex-BVB-Kicker Frank Mill, der derzeit vereinslose Trainer Christoph Daum und Andrea Kiewel halten es eher mit der Borussia, der Journalist Claus Strunz und Moderator Markus Kavka hingegen mit den Bayern. Kleine Spitzen flogen hin und her, doch man tat einander nicht weh. Hörfunk-Fußballreporterin Sabine Töpperwien (WDR) gab sich öffentlich-rechtlich neutral, legte aber stets Wert auf die Formulierung „Ich habe übertragen“; ganz so, als sei sie für ihren Sender immer allein tätig. Nun gut. Ich gestehe freimütig, dass ich ihre Bundesliga-Berichte in ihrem ganzen knödelnden und gepressten Tonfall unsäglich finde.

Deutsche Gipfelgefühle

Apropos unerträglich. Man hält ja all diese Gipfelgefühle kaum noch aus: Deutschland ist doppelt an der Spitze des europäischen Fußballs angekommen, zudem gab ausgerechnet die britische BBC gestern bekannt, dass „wir“ weltweit das beliebteste Land seien. In dieser Talk-Sendung kam man freilich mental wieder etwas herunter, denn es wurde alles, aber auch wirklich alles durchgehechelt, was nur irgend aufs Finale in London bezogen werden konnte – bis hin zu den Chancen bei der nächsten Weltmeisterschaft oder den Scheichs und Oligarchen, die sich vor allem britischer Vereine bemächtigt haben. Wo aber wird solide gewirtschaftet? Richtig. Bei uns. Wo sonst?

Stammtischverdächtig

Wie bitte? Ja, selbstverständlich. Natürlich wurden auch Uli Hoeneß‘ Steueraffäre, der Götze-Transfer und Christoph Daums Kokain-Skandal von anno 2000 nochmals bekakelt. Und der wohltuend zurückhaltende Frank Mill musste zum wohl tausendsten Mal den Filmausschnitt von seinem legendären Pfostenschuss aus einem Meter Entfernung über sich ergehen lassen. Heilig’s Blechle!

An manch einem bayerischen oder westfälischen Stammtisch dürfte ähnlich (un)kundig debattiert werden. Stammtischverdächtig, aber irgendwie herrlich knorrig und kernig war auch der Satz des Abends, der von Christoph Daum eingeworfen wurde: „Du darfst nicht nur schön spielen, du musst auch eine Drecksau sein.“ In diesem Sinne freuen wir uns jetzt aufs Endspiel. Oder auch ganz anders. So mehr von innen heraus.




Endlich! Ein völlig objektiver Vorbericht zum Finale der Champions League

Hier nun ein paar völlig objektive, hochkulturelle Zeilen zum Spiel der Spiele: Nein, dieses Match lässt sich – um es mit einem legendären Lapsus aus Kickermund zu sagen – wirklich nicht mehr weiter „hochsterilisieren“.

Wenn am kommenden Samstag um 20.45 Uhr MEZ im Londoner Wembley-Stadion Borussia Dortmund und der FC Bayern München das Finale der Champions League austragen, dann fiebert natürlich alle Fußballwelt mit. In Dortmund herrscht allenthalben Ausnahmezustand. Um es vorsichtig zu formulieren. Wenn (sehr frei nach Peter Handke) das Wünschen bei der Kartenvergabe noch geholfen hätte, so würden Hunderttausende in Schwarzgelb nach London kommen.

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Exaltierte Leitmedien wie „Spiegel online“ bringen seit vielen Tagen den immer mit neuen Gerüchten und Parolen gefütterten Countdown bis zum Anstoß. Jede halbgare Äußerung aus beiden Lagern, jede Blessur wird da im bebenden Tonfall vermeldet und breit ausgewalzt. Der Ausfall des verletzten Mario Götze wird vollends als Tragödie von shakespearschen Dimensionen dargestellt; wie denn überhaupt der bevorstehende Götze-Transfer von Dortmund nach München das Weltgebäude hat wanken lassen. Naja, wenigstens hat offenbar die eine oder andere Redaktion gewackelt. Schlimmer noch: Heute bemächtigt sich auch eine seltsam besetzte Talkshow des Themas.

Das Feld der Emotionen besetzt

BVB-Trainer Jürgen Klopp erklärt Borussia Dortmund gleich zum spannendsten Fußballprojekt der Welt und wirbt flammend um die Herzen aller echten Fans auf dem Globus. Der Wahlspruch des Vereins, „Echte Liebe“, besetzt – zwischen Leidenschaft und Marketing – das emotionale Feld, während der Widersacher aus dem Süden vorwiegend mit Geld, Geld und nochmals Geld assoziiert wird und darum vielfach gern „Buyern München“ genannt wird. Ja, ja, ja, auch in Dortmund werden ein paar Groschen umgesetzt – und doch besteht da ein Unterschied.

Glaubt man der wahnwitzig ausufernden Vorberichterstattung, so ist ganz Deutschland gespalten in Schwarzgelb und Rot. Es wäre interessant zu erfahren, wie die Sympathien international verteilt sind. Eins ist klar: Die meisten Polen halten schon mal zu Dortmund. Doch die frischgewagte, husarenhafte BVB-Spielweise unter Klopp hat überdies neue Anhänger auf dem ganzen Kontinent gewonnen. Die bloße Vorstellung, dass sie in Lokalen von Rio, Buenos Aires, Tokyo oder Peking ein Dortmunder Tor bejubeln, ist herzerwärmend.

Sich heraushalten? Geht kaum!

Wer sich übrigens aus all dem heraushalten will, verhülle am besten sein Haupt, lasse die Rollos herunter, schalte alle Geräte ab oder begebe sich gleich für eine Zeit ins Kloster. Doch wer weiß, was sie dort am Samstag machen?

Bei nüchterner Betrachtung der Fakten (doch wer wird denn da nüchtern bleiben?) gehen die Bayern als haushohe Favoriten ins Finale. Sie können wahrscheinlich ihre Bestbesetzung aufbieten, während bei Dortmund nicht nur Götze fehlt, sondern zwei Verteidiger, Mats Hummels und Lukasz Piszczek, angeschlagen sind. Auch haben die Bayern eine nahezu makellose Saison hingelegt, so dass man sich fragt, was der künftige Trainer Pep Guardiola dort eigentlich noch richten soll.

Aber warten wir’s ab. Es gibt – sehr frei nach William Shakespeare – Dinge zwischen beiden Strafräumen, die sich unsere Schulweisheit nicht träumen lässt.

Im Fall eines Bayern-Sieges würde man sich drunten etwas freuen und dann bald zur Tagesordnung übergehen. Es wäre sicherlich kein Vergleich zu dem, was in und um Dortmund los wäre, wenn…

Warten wir’s ab. Es gibt Dinge zwischen Auslinien, Pfosten und Eckfahnen, die sich unsere…

Aggression und Zurückhaltung

In München kassiert man Titel ein und hakt sie ab. Viele Anhänger sind schlichtweg saturiert. Das „Mia san mia“-Denken ist weit verbreitet, die entsprechende Denkungsart des (anderweitig „angeschlagenen“) Bayern-Präsidenten Uli Hoeneß kommt einem fast schon gemütlich-folkloristisch vor, wenn man sie mit der unerbittlich aggressiven Stoßrichtung des Matthias Sammer vergleicht.

Demgegenüber wirkt die Zurückhaltung des Dortmunder Präsidenten Reinhard Rauball, des Geschäftsführers Hans-Joachim Watzke und des Sportdirektors Michael Zorc geradezu nobel. In der angeblichen Proletenstadt zeigt man inzwischen deutlich mehr Stil als an der Isar. Nur Jürgen Klopp darf schon mal gepflegt ausrasten. Jawohl, Kloppo darf das.

Ich gebe zu: Sollte Sammer am Samstag aus gutem Grund zornig mit den Zähnen knirschen, so würde mich das doppelt und dreifach er-götzen!




Hoeneß, Götze und der ganze Mist

Die Nachricht kam überfallartig: Wie zuerst die „Bild“-Zeitung berichtete, wechselt Mario Götze am 1. Juli 2013 für 37 Mio. Euro von Borussia Dortmund zum FC Bayern München. Inzwischen hat der BVB den Bayern-Coup bestätigt.

Bereits als Neunjähriger hat der gebürtige Allgäuer und womöglich begabteste deutsche Fußballer beim BVB gespielt, vorher hat er in Dortmund-Hombruch gekickt. Er galt also längst (ebenso wie die in Dortmund geborenen Marco Reus und Kevin Großkreutz) als einer der „Dortmunder Jungs“, als familienverbunden und „bodenständig“; als einer, der wegen ein paar Millionen nicht gleich abhebt. Auch hat Götze in Interviews immer gern das Hohelied auf Dortmund gesungen.

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Nun müssen wir dieses idyllische, sicherlich sehr naive Bild schleunigst revidieren. Es ist natürlich wieder nichts mit den hehren Sprüchlein à la „Elf Freunde müsst ihr sein“! Zwar hatte Götze seinen Vertrag beim BVB bis 2016 verlängert, doch gab es offenbar eine Ausstiegsklausel, derzufolge er den Verein für just 37 Mio. Euro vorzeitig verlassen darf. So weit ist formal alles in Ordnung.

Aber irgendwann muss mir mal einer schlüssig erklären, wieso jemand, der bereits viele Millionen anhäuft, partout noch mehr Millionen scheffeln will – und das trotz sportlicher Perspektiven, die eventuell gar nicht schlechter sind als in München.

Wer hat der „Bild“ den Tipp gegeben?

Dass diese Transfer-Geschichte ausgerechnet mit teuflischer Pünktlichkeit zum Halbfinale der Champions League öffentlich lanciert wird, dürfte erhebliche Unruhe im Dortmunder Team stiften. Der FC Bayern hatte seit jeher ein Interesse daran, die Bundesligakonkurrenz zu schwächen, nicht nur durch Wegkauf der wichtigsten Spieler. Da hegt man denn doch den Verdacht, der diskrete Tipp an das Boulevardblatt könnte aus den Kreisen der obersten Bayern-Etage gekommen sein. Dort haben sie ja auch indirekt mit der Steueraffäre Hoeneß zu tun, von der sie liebend gern ablenken möchten.

Und jetzt mal ganz wild spekuliert: Könnte dieser heiße Tipp an die „Bild“ gar mehr oder weniger stillschweigend mit der Erwartung verknüpft sein, dass dort wohlwollender oder zumindest weniger zupackend über den Steuerfall Hoeneß berichtet wird? Es gab ja schon immer Leute, die gehofft haben, mit der „Bild“ (wieder) den Fahrstuhl nach oben zu besteigen.

Doch halt! Das sind pure Phantasiespiele. Mag sein, dass sich alles ganz anders verhält. Die offizielle Münchner Lesart schaut so aus (Zitat aus „Spiegel online“): „Aus Rücksicht auf das anstehende Spiel des BVB wollten die Bayern den Wechsel ‚erst nach dieser Begegnung gegenüber dem BVB anzeigen’, heißt es in einer Presseerklärung der Münchner.“

Wie überaus rücksichtsvoll.

Geschwafel über „spanische Verhältnisse“

Dass Bayern-Präsident Uli Hoeneß kürzlich über „spanische Verhältnisse“ in der Bundesliga gebarmt hat (will sagen: nur zwei dominierende Vereine, nämlich Bayern und BVB, alle anderen hinken nach) und angeblich großmütig gegensteuern wollte, erweist sich jetzt als Geschwafel, als heiße Luft – wie so vieles, was Hoeneß im Laufe der Jahre von sich gegeben hat. Nun ahnt man auch, warum BVB-Trainer Jürgen Klopp im Gegenzug von „schottischen Verhältnissen“ geredet hat (will sagen: nur ein dominierender Verein, nämlich Bayern). Da muss Klopp schon etwas vom Götze-Deal gewusst haben.

Wie immer das fiskalische Verfahren um Uli Hoeneß ausgehen mag, so steht für mich doch eins fest: Bis gestern war ich in der rein sportlichen Frage noch schwankend bis neutral, doch jetzt drücke ich (und gewiss nicht nur ich) heute Abend und am nächsten Mittwoch dem FC Barcelona bei den Halbfinalspielen gegen die Bayern fest die Daumen. Señor Messi, walte Er seines Amtes und netze Er mit seinen Compañeros tüchtig ein!

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Abendlicher Nachtrag: Zur Zeit führt im Nachrichten-Rennen wieder Uli Hoeneß. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet, ist Hoeneß bereits am 20. März festgenommen worden. Doch der Haftbefehl sei seinerzeit gegen Zahlung einer Kaution (5 Millionen Euro) außer Vollzug gesetzt worden. Der Vorgang sei aber vielleicht ein Hinweis darauf, dass Hoeneß‘ Selbstanzeige vom Januar möglicherweise nicht strafbefreiend wirke.

Spätabendlicher Nachtrag: Wenn ich schon mal die Daumen drücke! 4:0 für Bayern. Gewiss, nicht alle Tore waren regulär. Aber den Barça-Leuten muss jemand ein Schlafmittel in den Tee getan haben.

Zeitloser Nachtrag: sport1.de am 4. Januar 2012: „FC Bayern-Präsident Uli Hoeneß lehnt eine horrende Ablösesumme bei einem möglichen Transfer für Dortmunds Nationalspieler Mario Götze ab. „40 Millionen Euro oder mehr – das würden wir nie machen“, sagte Hoeneß der „Sport-Bild“ (…) Ohnehin glaubt Hoeneß nicht an einen bevorstehenden Götze-Transfer: „Wo sollte er denn bei uns im Moment spielen?““




Jauchs Talkshow: Mutmaßungen über Hoeneß

Übers Wochenende ist ein Thema hochgekocht, für das Günther Jauch seine ARD-Talkrunde in Windeseile hat umplanen lassen. Die Rede ist natürlich vom Präsidenten und Patriarchen des FC Bayern München, Uli Hoeneß, der Steuern in Millionenhöhe hinterzogen haben soll.

Fernsehleute (und viele Zuschauer) gieren nach Themen, die sich so kraftvoll personalisieren lassen. Welch eine tragische Fallhöhe! Da steht der FC Bayern gerade kurz vor dem sportlichen und wirtschaftlichen Zenit. Da schickt man sich an, am nächsten Dienstag und in der Folgewoche den FC Barcelona zu besiegen und ins Finale der Champions League vorzudringen.

Tiefer Fall einer moralischen Instanz

Und ausgerechnet jetzt wird – durch Recherchen des „Focus“ – bekannt, dass der Übervater des Vereins, der Mann, der vielen als Vorbild oder gar als moralische Instanz galt, nicht nur unter Verdacht steht. Nein, Uli Hoeneß hat tatsächlich (schon im Januar) Selbstanzeige erstattet und damit bereits nicht geringe Verfehlungen zugegeben. Über die Ausmaße wird ebenso spekuliert wie über die Frage, ob die Selbstanzeige „strafbefreiend“ wirkt. Schlimmstenfalls würde Hoeneß sogar eine Gefängnisstrafe drohen.

Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Eine Talkshow, die sich zum jetzigen Zeitpunkt auf das Thema stürzt, läuft Gefahr, zum Tribunal oder zum öffentlichen Pranger zu werden. Doch Günther Jauch lenkte das Gespräch nicht nur in recht vernünftige, relativ ruhige Bahnen, er hatte auch Gäste geladen, denen bewusst war, dass es sich um ein schwebendes Verfahren handelt und dass man einstweilen vielfach nur Mutmaßungen anstellen kann.

Enttäuscht und fassungslos

Dennoch war spürbar, dass die Enttäuschung über Hoeneß überwiegt, der sich 2012 – just bei Jauch – gegen eine drohende „Reichensteuer“ empört und noch dazu gesagt hatte, manche gingen dann eben mit ihrem Geld in die Schweiz. Jetzt wissen wir, dass er selbst offenbar Millionen im Nachbarland gebunkert hatte.

Der langjährige ZDF-„Sportstudio“-Moderator Dieter Kürten, zudem mit Hoeneß befreundet, war ersichtlich völlig aus der Fassung. Er möchte nach wie vor an Hoeneß festhalten und am liebsten alles auf schlechte Berater schieben. Bedeutend strenger äußerten sich hingegen NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans und vor allem der frühere Steuerfahnder Dieter Ondracek, eine nahezu alttestamentarische Erscheinung. FDP-Mann Wolfgang Kubicki, Fachanwalt für Steuerrecht, konnte sich vorstellen, dass die Selbstanzeige von Hoeneß vielleicht nicht rechtzeitig oder vollständig genug eingegangen sei, um noch die erwünschte Wirkung zu erzielen. Könnte es Kubicki gar reizen, einen solch interessanten Fall anwaltlich zu übernehmen? Egal.

„Focus“-Chefredakteur Jörg Quoos sonnte sich anfangs im Erfolg seines Blattes, die Nachricht zuerst gehabt zu haben. Mit zunehmender Dauer schien er unwirsch zu werden, weil er feststellen musste, dass inzwischen andere Presseorgane den Vorsprung mindestens aufgeholt haben. So ist das im schnelllebigen Geschäft; erst recht, seit es das Internet gibt.

Gefundenes Fressen für manche Bayern-Gegner

Jungmoderator Oliver Pocher schließlich mimte ein wenig den „Klassenclown“ und wollte unentwegt locker wirken. Doch bei manchen Themen ist eine solche Grundhaltung etwas fehl am Platze. Immerhin bekam Pocher Szenenapplaus aus dem Saalpublikum, als er meinte, die Mannschaft des FC Bayern werde sich von all dem Gerede nicht irritieren lassen. Tatsächlich geht es ja um privates Geld und nicht um die Festgeldkonten des Vereins. Als Dortmunder und BVB-Anhänger weiß ich, wovon ich rede und was ich so höre: Man kann ziemlich sicher gehen, dass manche Bayern-Gegner quer durch die Republik derzeit klammheimliche Freude empfinden, weil das „Mia san mia“ Risse zu bekommen scheint. Kein schöner Zug.

Ein Thema wird „durchgehechelt“

Nebenher wurde in der Sendung noch ein spezielles Fass aufgemacht: Wer hat eigentlich die ersten Informationen an den „Focus“ gegeben? Für die Ermittlungsbehörden hielten alle die Hand ins Feuer. Und „Focus“-Chefredakteur Quoos wehrte entschieden ab, als hierbei der Name seines prominenten Vorgängers Helmut Markwort genannt wurde, der auch im Aufsichtsrat der Bayern sitzt…

Eins aber ist klar. Bevor die Steuerfahnder ihre Arbeit gemacht und bevor Richter über die Sachverhalte befunden haben, ist das Thema beim Fernsehen längst „durchgehechelt“. Schon an diesem Montag geht’s bei Frank Plasbergs „Hart aber fair“ weiter – mit der etwas scheinheilig klingenden Fragestellung: „Ausgerechnet Hoeneß – wem kann man jetzt noch trauen?“

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Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Das Wunder von Dortmund

So etwas hat es schon ganz lange nicht mehr gegeben. Zu Beginn der Nachspielzeit down and out. Und dann…

Nach einem 0:1- und einem 1:2-Rückstand (Letzterer noch kurz vor Ende der Partie) hat Borussia Dortmund gegen Málaga tatsächlich noch das Halbfinale der Champions League erreicht. Man mag es immer noch kaum glauben. Es kommt einem wie höhere Fügung vor. Wäre es den Bayern passiert, würde man es „Dusel“ nennen. Aber so… ist es eben das Wunder von Dortmund.

Meistervogel

Es dürfte einer der allergrößten Momente in der langen Geschichte des Ruhrgebiets-Fußballs sein. Man kann da an so viele Augenblicke zurückdenken.

Wenn man als kleiner Junge schon im alten Dortmunder Stadion Rote Erde gestanden und mitgezittert hat, wenn man das Heutige mit all dem Vergangenen (und doch Bleibenden) überblendet, so überkommen einen vielleicht einige Tränen der Rührung. Da zieht sich ein gewisses Etwas durch die vielen Jahrzehnte, das einen ergreift. Nennt es, wie ihr wollt. Wir reden ein andermal darüber. Dann, wenn wir zur Analyse wieder fähig sind.

Jaja, es gibt Wichtigeres. Die Politik und all das. Doch wann haben wir zuletzt eine solche unmittelbare Freude auf politischem Felde verspürt? Das wäre mal etwas! Insofern birgt auch und gerade der Fußball – in ganz großen, ganz seltenen Momenten – einen ästhetischen Vorschein der Utopie, um mit Ernst Bloch zu reden.

Verzeiht das Gestammel. Mehr fällt mir im Moment nicht ein. Und doch will es jetzt schon gesagt sein.

P.S.: Das Bild zeigt natürlich den schwarzgelben Wundervogel. Was sonst?




Zweite Chance: „Liliom“ im Bochumer Schauspielhaus

Eine Katze hat sieben Leben, James Bond wird unzählige Male erschossen und steht wieder auf und auch Liliom bekommt eine zweite Chance: Nach 16 Jahren Fegefeuer darf der Titelheld des gleichnamigen Stückes von Franz Molnár nochmal auf die Erde zurück, um sein verpfuschtes Leben gerade zu biegen. Zu den Klängen von „Skyfall“ steigt er auf die Bühne des Bochumer Schauspielhauses herab – und scheitert zum zweiten Mal.

LILIOMFoto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

LILIOM
Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Was zuvor geschah: Techno wummert, der Autoscooter kreist, Liliom (Florian Lange) macht einen auf dicke Hose. Er ist der „junge Mann zum Mitreisen“ im „Ringelspiel“, eine halbseidene Figur wie die anderen zwielichtigen Typen, die auf der Kirmes mit ihren Kunststückchen angeben. Zu diesem Zweck hat die Regisseurin Christina Paulhofer Artisten von Urbanatix engagiert, einem Kulturhauptstadtprojekt, das mit Street Art Shows das Publikum begeisterte. So mischen drei Tänzer und eine Tänzerin die Rummelplatz-Szene mit Flickflacks, halsbrecherischen Autoscooter-Stunts und fingierten Prügel-Szenen auf.

So ganz rund läuft die Choreografie bei der Premiere noch nicht, denn das Timing zwischen Showeinlagen und Stückhandlung muss extrem exakt sein, damit die Szenen nicht aus dem Rhythmus kommen. Aber das kann sich in den nächsten Vorstellungen ja noch zurechtruckeln. Für besonders gelungene Stunts bekommen die Urbanatixe Szenenapplaus, auf jeden Fall sorgt ihr Engagement für eine aktuelle Ästhetik des 1909 uraufgeführten Stückes.

Eigentlich handelt es sich um eine Liebesgeschichte im Armeleutemilieu mit düsterem Ausgang: Liliom, Schläger, Angeber und ein vagabundierendes Temperament, kann dem Mädchen Julie nicht gerecht werden. Weil sie die besseren Argumente hat, prügelt er sie. Einen Hausstand zu gründen, einer geregelten Arbeit nachzugehen, dazu ist er nicht geschaffen. Er bricht immer wieder aus der engen Wohnung aus. Als Julie schwanger wird, sind Freude und Stolz zunächst groß. Doch der Zuschauer ahnt: Das wird ein böses Ende nehmen. Geldmangel lässt ihn ein idiotisches Verbrechen begehen, aus Angst vor dem Gefängnis richtet er sich selbst.

Christina Paulhofer hat aber nicht nur die Charakterstudie des gescheiterten Angebers, sondern auch das Phänomen des weiblichen Masochismus im Blick: Warum lässt sich Julie prügeln? Und warum genießt sie es auch noch? Kristina Peters spielt die Julie als freche Göre in ihrem kurzen Röckchen, für die diese Liebe ein unreifer Mädchentraum ist. Da lässt sie sich lieber schlagen, als diese Illusion aufzugeben – mehr schrill und verstört denn verzweifelt. Ähnlich „Ringelspiel“-Besitzerin Frau Muskat (Julika Jenkins), die Liliom fürs Geschäft braucht – und sich dafür buchstäblich abwatschen lässt, eine gestandene Frau, plötzlich bedürftig nach Zuneigung des Jüngeren.

Doch dass die Weiber ihm verfallen sind, bringt Liliom keineswegs Glück. Bei seiner Wiederkunft auf der Erde begegnet er seiner Tochter (Mascha Schneider) zum ersten Mal und schlägt auch sie. Ihr hat’s ebenfalls nicht weh getan. Na, toll. Hier wird die Angelegenheit ein bisschen gestrig. Statt Liliom als Identifikationsfigur aufzubauen, hätte die Regie ihn lieber zum Teufel schicken sollen. Geschieht ihm doch recht, dem Idioten, soll er in der Hölle schmoren. Und Mädels: Weint ihm keine Träne nach!

Infos/Termine: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/10789286




Am liebsten schön schräg und schrill: „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“

Wer etwas auf sich hält, bereitet Fußballhistorie längst nicht mehr bierernst mit Ergebnislisten und Tabellen auf. Die bloße Nacherzählung und die kreuzbrave 1:0-Berichterstattung sind mausetot. Erst recht ist der feierliche oder gar pathetische Tonfall passé; selbst dann, wenn bedeutsame Jubiläen anstehen.

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Die (inzwischen etablierte) Avantgarde packt den Fußball ironisch, popkulturell und liebend gern aus schrägen Blickwinkeln an, ohne deshalb die Leidenschaft für diesen Sport aufzugeben. Im Gegenteil: Hier kommt oft erst der wahre Kult zum Vorschein, der eben auch etliche schrille Seiten hat. Den Takt geben in dieser Hinsicht derzeit das Fußballmagazin „11 Freunde“ und eine TV-Sendung wie „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ vor. Sie beweisen, dass man auch intellektuelles Vergnügen am Kicken und all seinen Begleitumständen haben kann.

Im Fernsehen kredenzen uns manche Fußball-Kommentatoren, die den Schnabel nicht ein Minute lang halten können, zwischendurch als Füllmasse die absurdesten Statistik-Ergüsse – ohne jedes Gespür für die Komik solcher Mitteilungen. Christoph Biermann und Philipp Köster (beide aus der besagten „11 Freunde“-Chefredaktion) wissen hingegen genau, welche abenteuerlichen Kuriosa sie uns in ihrem Band „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“ mitunter vorsetzen.

Wer dieses halbe Jahrhundert allen Ernstes aufarbeiten wollte, müsste einen enzyklopädischen Vielbänder herausbringen. Im vorliegenden Buch werden zwar Dekaden und Liga-Jahrgänge kurz einordnend skizziert, doch die Autoren gehen davon aus, dass die Leser(innen) in groben Grundzügen orientiert sind und beweisen Mut zur Lücke. Deshalb picken sie unscheinbare, gleichwohl prägnante Einzelheiten auf und präsentieren sie vorwiegend in staunenswerten Listen, Grafiken, knackigen Kurztexten und Foto-Fundstücken – weit abseits jeder fanatischen „Helden“-Verehrung. Es ist eine kleinteilige, durchweg kurzweilige Lektüre, die man zwischendurch jederzeit beiseite legen kann. Doch man wird sie rasch wieder hervorholen.

Da werden beherzt so grundlegende Fragen beantwortet wie die, welche Farbe in allen bisherigen Liga-Trikots am häufigsten vorkam (Rot vor Blau), ob man mit satten 76 Punkten die Meisterschaft verfehlen kann (Ja! Schalke in der Saison 1971/72), aus welcher weitesten Distanz ein Tor direkt erzielt wurde (73 Meter) oder in welchen Bundesländern noch nie ein Erstliga-Spiel angepfiffen worden ist (Schleswig-Holstein, Thüringen, Sachsen-Anhalt).

An einigen Stellen wird es auf herrlich alberne Weise beinahe magisch: Ein gewiss mühevoll erstelltes Diagramm verzeichnet getreulich, wie viele Schnauzbartträger im Lauf der Jahre 1977 bis 2000 in der Liga aufgelaufen sind. Mit einer Art Windrose wird graphisch exakt dargestellt, in welche Himmelsrichtungen die einzelnen Stadien ausgerichtet sind; ein anatomisches Schema zeigt punktgenau und unmissverständlich an, welche Spielernamen (Gansauge, Maul, Kastrati, Woodcock) notfalls an Körperteile denken lassen.

Und natürlich purzeln Zahlen über Zahlen: Torhüter mit den meisten Gegentreffern (Eike Immel, 829), größte Stadt ohne Erstligateam (Bonn, 325000 Einwohner), effektivster Torschütze (immer noch Gerd Müller mit 0,85 Treffern pro Spiel).

Wer will die schrillsten Frisuren oder Wohnungseinrichtungen der Liga-Historie sehen? Wer will wissen, wie die größten Exzentriker, die originellsten Sponsoren und legendäre Spielerfrauen hießen? Wer mag unfreiwillig lustige Mannschaftsfotos, wer will sich bizarre Zitate von Brehme oder Matthäus und die dollsten Spieler-Doppelnamen (Jan-Ingwer Callsen-Bracker) auf der Zunge zergehen lassen?

Ja, ja und nochmals ja? Alle rufen „Hier, ich!“? Na, dann schaut doch mal in dieses Buch!

Christoph Biermann / Philipp Köster: „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“. Kiepenheuer & Witsch (Kiwi-Paperback), 224 Seiten, viele Illustrationen. 12,99 Euro.




Im Paradies der guten Fußball-Resultate

Nachdem Borussia Dortmund kürzlich gegen Bayern München und dann auch noch gegen die Blauen aus Herne verloren hat (Es lag am Rasen!), muss jetzt schnellstens eine tiefgreifende Systemänderung her. Oder halt! Besser noch eine Rezeptur für alle Ewigkeit.

Fürs Jenseits hat man uns schon viel, wenn nicht alles versprochen. Warum also sollte das Paradies sich nicht auch durch günstige Fußball-Ergebnisse, traumhaft tarierte Tabellen und triumphale Turniere auszeichnen? Nein, nein, es soll gar nicht immer der glanzvolle Titel mit Schale, Pott oder Pokal sein. Zwischendurch würde Schwarzgelb auch mal kurz andere schnuppern lassen – so wie jetzt schon hienieden.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Doch im Jenseits wird alles gänzlich wunderbar. Künftige Partien werden auf dem saftigen Grün des Gartens Eden ausgetragen, das die allerschönsten Zauber-Spielzüge ermöglicht. Und siehe: Nachher ist man immer begeistert, ja man jauchzet und frohlocket ohn’ Unterlass.

Und alle vorherigen, die schmerzlich irdischen und unterirdischen Resultate? Lösen sich auf in Wohlgefallen. Werden verwandelt, umgestülpt und revidiert; vom bajuwarischen Duselfaktor und von unerhörten Schiri-Fehlleistungen befreit, dafür mit höherer Gerechtigkeit angereichert – und schon… Muss ich noch mehr sagen?

Wie jetzt?! Jeder Verein solle auf solche Art seinen eigenen Himmel haben, höre ich da… Unsinn! Habt ihr schon mal einen rötlichen oder blauweißen Himmel gesehen? Na bitte. Ich auch nicht.




Ein langer Fußballabend mit Bayern, dem BVB und ganz viel Gerede

So ein langer Fußballabend ist schon ganz schön anstrengend. Beispielsweise mit dem „Spiel der Spiele“ im DFB-Pokal: Bayern München gegen Borussia Dortmund. Um 20.15 Uhr geht’s los, um 23 Uhr ist immer noch nicht Schluss, da folgt – zum Leidwesen vieler Frauen – noch der „Sportschau-Club“. Welch ein unaufhörliches Gerede!

Mal ganz offen gesagt: Sonst erspare ich mir die Vor- und Nachbereitung und schaue mir nur die puren 90 oder auch 120 Minuten Spielzeit an. Mehr brauche ich nicht. Jetzt aber habe ich mir mal wieder die ganze Dröhnung gegeben. Puh!

Zuspitzung auf Teufel komm ‚raus

Vor dem Anpfiff wird dramatisiert und zugespitzt, dass es nur so seine Art hat. Essenz: Der Stachel der vielen Niederlagen gegen Dortmund sitzt bei den Bayern tief, sie wollen Revanche, es gehe ums Prestige, es sei eine Frage der Ehre. Nebenher kommen dann auch solche Sätze zustande: „Die Fußballwelt schaut zu – Emotionen garantiert“. Und das vorläufige Fazit vor dem Spiel? Offenbar wollen beide Mannschaften gewinnen. Wer hätte das gedacht?

ARD-Experte Mehmet Scholl (Archivbild von 2010 - © WDR/Herby Sachs)

ARD-Experte Mehmet Scholl (Archivbild von 2010 – © WDR/Herby Sachs)

Immerhin gibt es schlechtere Fußball-Duos als Gerhard Delling und Mehmet Scholl, der zuweilen erfrischend ehrlich urteilt. Seine Sympathien für den FC Bayern kann er freilich nicht ganz verbergen. Warum auch? Es wäre nur verkrampft. Apropos: Ich lebe seit Jahrzehnten in Dortmund. Zu wem habe ich wohl gehalten? Richtig. Aber ich gebe zu: Diesmal hat Bayern verdient gewonnen. Doch wartet nur ab…

Wie Steffen Simon dem Spielverlauf folgt

Es gibt auch Kommentatoren, die erheblich mehr nerven als Steffen Simon. Doch seine Bewertungen sind furchtbar opportunistisch, sie richten sich ganz nach dem jeweiligen Spielverlauf und schwanken in der Tendenz wie ein Schilfrohr im Winde. Worte wie „Mentalitätsbestie“ rutschen ihm auch mal heraus. Der Mann hat offenbar eine Heidenangst, dass er mal falsch liegen könnte. Aber nicht doch! Er passt sich jeder Wendung sofort an.

Zwischendurch und nachher werden – wie üblich – alle möglichen Leute befragt: BVB-Trainer Jürgen Klopp (leicht vergrätzt), Bayern-Coach Jupp Heynckes mit verhaltenem Triumph über einen – so wörtlich – „Gegner, der sich wehrt“, sodann die Herren Schweinsteiger und Weidenfeller, Bundestrainer Jogi Löw und und und. Die absurdeste Frage des Abends geht an Bayern-Verteidiger Philipp Lahm: „Habt ihr das so gewollt?“ Tja. Kann schon sein. Wahrscheinlich wollten sie ja wirklich überlegen sein.

Der Jux zum guten Schluss

Es ist der Selbstzweck eines solchen Abends, das Gespräch (oder auch Geschwätz) möglichst lange in Gang zu halten. Im abschließenden „Sportschau-Club“ (Gäste beim sympathischen Moderator Alexander Bommes: André Schürrle, Lewis Holtby) wird dann fast nur noch gejuxt, es geht jedenfalls betont entspannt zu. Schließlich muss auch der hartgesottene Fußballfan vor dem Schlafengehen ‚runterkommen.

Mit Arnd Zeigler hat man dabei jetzt einen ausgesprochen originellen und intelligenten Fußball-Interpreten an Bord. Da ist man doppelt froh, dass der elend gemütliche Waldemar Hartmann bei solchen Gelegenheiten nicht mehr dabei ist…

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Nichts als Gespenster: „Out of body“ tanzt in Bochum

„Ohne Wahnsinn kein Verstand“: Die Gummizelle hat eine Panoramascheibe, durch die das Publikum die entfesselten Tänzer beobachten kann. In wildem Furor werfen sie sich gegen die Wände, übereinander, auf den Fußboden. Sie sind völlig außer sich, als versuchten sie, mit den Grenzen ihres Körpers auch die der Vernunft zu überschreiten und sich in eine neue Dimension zu katapultieren. „Out of body“ heißt der im Schauspielhaus Bochum uraufgeführte Abend der Herner Tanzgruppe Renegade, die damit ihre dritte Koproduktion mit dem Bochumer Schauspiel zeigt.

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer aus uns allen“ – auch das ein Satz, der während der mehrsprachigen Aufführung als Übertitel eingeblendet wird. Zugleich ein Motto, denn der blassgeschminkte Conférencier kündigt im Halbdunkel ein schauriges Zombietheater an.

Da gibt es den Wissenschaftler, der sich der „Gefühlologie“ verschrieben hat und deswegen mit einem Dutzend leerer Plastikflaschen jongliert. Diese Leere fühlt er auch in sich. Seine Tochter musste darunter leiden: Den Kopf in eine Plastiktüte gewickelt, erzählt sie kurz vor dem Ersticken über die Schrecknisse ihrer Kindheit. Wie die Schmetterlingssammlung ihres Vaters ihr Angst machte; wie die Insekten sie in ihren Bann zogen, auf ihr herumkrochen, sie schließlich angriffen.

Doch der Spuk hat Methode: Atmosphärisch lehnt sich Julio César Iglesias Ungos Choreografie an Horrorvideos an, in denen es von Zombies, Untoten oder Vampiren wimmelt. So stoßen die Tänzer in einen Bereich vor, der jenseits des Materiellen liegt. Was passiert, wenn die Seele den Körper verlässt? „Am Ende aller Straßen wartet der Tod“, lautet der beruhigende Begleittext auf dem Spruchband.

Mit den Mitteln des Tanzes die Überschreitung des Körperlichen zu erreichen und in das Reich der Gespenster vorzustoßen: Keine leichte Aufgabe, die der kubanische Choreograph, der u.a. für Wim Vandekeybus und Samir Akika getanzt hat, sich da vorgenommen hat. Die Tänzer erfüllen sie mit Humor, großer Gelenkigkeit und einem Schuss Akrobatik. Allen voran der Junge mit den Dreadlocks, der in einem unfassbaren Slapstick einen Besuch in der Spielhölle vortanzt. Dabei scheint er eher dem Comicheft als dem Ballettsaal entsprungen zu sein. So kommt dieses Tanztheater ziemlich unverbraucht und überraschend daher; es zelebriert den Geist der Subkultur und zieht daraus seine Energie. Die Kooperation mit der freien Szene funktioniert als eine Art Bluttransfusion fürs Stadttheater, mit der auch jugendliche Publikumsschichten angesprochen werden.

Nach einer Stunde und 15 Minuten ist der Spuk vorbei. Die Zombies sinken zurück in ihre Gräber. Wann sie wieder tanzen, erfahren alle Untoten und andere Nachtschattengewächse unter:

www.schauspielhausbochum.de




Vom Hauen und Stechen im Theater: Kampftrainer Klaus Figge im Porträt

Foto: Markus Feger

Foto: Markus Feger

Der Essener Klaus Figge war Geschichtslehrer, jetzt schreibt er selbst Geschichte – am Theater. Als Choreograph für Kampf- und Fechtszenen ist er im deutschsprachigen Theaterraum die erste Wahl. Auch noch mit 70 Jahren.

Peter Zadek und Peter Stein. Dieter Dorn und David Bösch. Karin Beier und Karin Henkel. Jürgen Kruse und Jürgen Hartmann. Regisseure, die, von ihrer Bekanntheit einmal abgesehen, nicht viel gemein haben. In einem jedoch gleichen sie sich: Sie alle setz(t)en auf Klaus Figge.

So sieht er also aus: der Mann, der mindestens 30 finale Kämpfe zwischen Hamlet und Laertes ersann, der Tybalt mit allen denkbaren Waffen auf Mercutio hetzte. Der Mann, dessen Name kaum je im Programmheft fehlt, wenn auf einer größeren deutschen Bühne gekämpft wird und der seit vier Jahrzehnten Schauspielschülern an der Folkwang Hochschule das Kämpfen lehrt – seit 41 geschlagenen Jahren, sozusagen: Überraschend klein ist er, sehr weiß seine Haare. Klaus Figge trägt Cowboystiefel und graue Cargo-Hosen. Sein verwaschener Kapuzenpulli ist weit und schlabberig, doch darunter erahnt man die Körperspannung, die den ehemaligen Sportler ausweist.

Figges stahlblaue Augen saugen sich gerade an dem Kampf fest, der auf einer schiefen, nur etwa sechs Quadratmeter großen Ebene ausgefochten wird. In der Mitte der kleinen Spielfläche steht auch noch ein Pfeiler, an den eine Schauspielerin gefesselt ist. Die schiefe Ebene wird später zum Schiff, der Pfeiler zum Mast, die Akteurin zu Wendy. Und die Kämpfenden, sie werden sich in Kapitän Hook und Peter Pan verwandeln. „Tak. Tak. Hoch. Und rum. Die müsste schneller sein, die Drehung“, murmelt er. Dann laut: „Stop! Bitte noch mal!“

Jeder Ausfallschritt muss stimmen

Andreas Grothgar lässt Haken und Degen sinken, Silvia Weiskopf dreht sich herum. Es ist der Schlusskampf, in dem Peter Pan den Hook besiegt und Wendy befreit. Bis zur Premiere ist es noch ein Monat. Die Schritte sitzen, doch erst seit drei Tagen proben die Schauspieler auf der Schräge. Für Improvisation ist kein Platz, jeder Ausfallschritt, jede Gewichtsverlagerung muss exakt sitzen, bevor das Tempo angezogen werden kann. Klaus Figge klettert etwas umständlich auf die Bühne – die Knie! – und nimmt den Degen, um die Drehung vorzumachen. Der nächste Durchgang. „Gut! Gut!“, ruft er. „Mal’n bisschen loben“, brummt er dann.

In seinem ersten Leben war Klaus Figge Sport- und Geschichtslehrer an einem Gymnasium in Essen: Referendar, Studienrat, Oberstudienrat. Doch die Schule hatte ihn nie ganz. Schon 1971, kurz nach seinem Examen, nimmt Figge auch einen Lehrauftrag der Folkwang Hochschule an. Dort wird ein Lehrer für Bühnenkampf gesucht. Zufällig erfährt Figge von der Stelle und bewirbt sich, denn zufällig kann er fechten, sehr gut sogar – schon als Gymnasiast hatte er damit begonnen und das Fach an der Sporthochschule Köln sogar studiert. Der Fecht- und Kampf-Unterricht macht ihm Spaß, und schon bald kommt die erste Anfrage des Essener Schauspiels für eine Kampf-Choreografie. Mit dem Theater hat er bis dato kaum Berührung. Figge und das Theater, es war keine Liebe auf den ersten Blick.

Entscheidung gegen die Beamtenlaufbahn

Doch jede Produktion band ihn stärker an diese kleine verschworene Gemeinde, jedes Engagement zog weitere nach sich: Wer einmal mit ihm gearbeitet hatte, wurde zum Fürsprecher. Figges Schulleiter liebte das Theater, er ermöglichte die Seitensprünge seines Lehrers, der immer weiter Stunden reduzierte – und sich schließlich komplett gegen die Beamtenlaufbahn und für die Bühne entschied. Theater, das geht auf die Dauer nur ganz oder gar nicht.

Der Start in die große Bühnenwelt ist mit Uwe Ochsenknecht und Peter Simonischek verbunden. Klaus Figge hatte in Wuppertal die Fechtszenen für „Romeo und Julia“ choreografiert. In der Rolle des Romeo: der junge Uwe Ochsenknecht. „Er war gerade dabei, bekannt zu werden, deswegen saßen wohl Leute von der Schaubühne im Publikum. Sie fanden die Fechtszenen gut und luden mich nach Berlin ein, wo ebenfalls ,Romeo und Julia’ anstand“, erzählt Figge. „Den Tybalt sollte Peter Simonischek geben. Mit ihm hatte ich bereits in Düsseldorf gearbeitet, und als er hörte, dass ich engagiert werden sollte, empfahl er mich zusätzlich bei der Regie“, erzählt Figge. Kleine Anekdoten mit großen Namen – Figge könnte hunderte davon erzählen.

Heute hat Klaus Figge einen Luxus-Job. Wenn eine Theater-Produktion gut wird, dann ist der Erfolg auch sein Erfolg. Wenn sie scheitert, wird er – manchmal als einziger – lobend erwähnt. Zuletzt in Bochum, als die Kritik Katharina Thalbachs „Cyrano de Bergerac“ in seltener Einmütigkeit verriss. Über Klaus Figge hingegen hieß es, er habe „mit den Schauspielern wie immer Beachtliches erarbeitet“. Zu David Böschs „Romeo und Julia“ in Wien schrieb der „Standard“, die Fechtszenen seien „mustergültig choreografiert“ – ansonsten war der Rezensent wenig begeistert. Und über die Stockkämpfe in Sebastian Nüblings Ruhrtriennale-Produktion „Next Level Parzival“ hieß es, sie seien „von einer Präzision und Heftigkeit, wie man sie auf dem Theater selten sieht.“ Man kann sagen, Klaus Figge ist ein Liebling der Kritik. „Kampfchoreograph Nummer eins des deutschsprachigen Theaters“ nennt ihn das Deutschlandradio, die Mitteldeutsche Zeitung verstieg sich sogar zu der Formulierung, er sei der „renommierteste Meister der Kampfchoreografie“. Bühnenkampf-Legende ist die gängige Beschreibung.

Was macht diesen Mann zur Legende? Diesen 70-Jährigen, der zwar noch immer aus dem Stand vorwärts über die Schulter abrollen kann, dessen kaputte Knie ihn jedoch inzwischen daran hindern, die Bühnenrampe schwungvoll zu nehmen? Bühnenkampf-Lehrer gibt es schließlich an jeder Schauspielschule. Doch viele Regisseure wollen eben nur Figge. Christina Paulhofer etwa engagierte ihn zeitweise für fast jede Produktion. „Sie fühlte sich einfach sicherer, wenn er dabei war“, sagt ihr langjähriger Assistent Henner Kallmeyer.

Kallmeyer ist der Regisseur des Essener „Peter Pan“, und auch für ihn stand außer Frage, dass er für die Kämpfe Figge holt. „Er holt aus den Schauspielern einfach mehr raus. Und es sieht am Ende geil aus“, sagt er, „ich kann eine Menge Figge-Kämpfe nacherzählen. Der Tollste war der Schlusskampf in Jürgen Kruses ,Trying Macbeth’. Die Schwerter wurden immer größer, bis zu zwei Meter lang.“

Auf seinem Gebiet einfach der Beste

Foto: Markus Feger

Foto: Markus Feger

Man kann noch so viele Theaterleute fragen, die Antwort lautet stets ähnlich: Figge ist einfach der Beste. Und das hat nicht nur mit Techniken zu tun, und auch nicht nur mit der Ruhe und Souveränität, die er während der Proben ausstrahlt. Figge hat offenbar das Theater-Gen – szenische Phantasie, kombiniert mit einem Gespür für starke Bilder und dem Talent, mit wenig Aufwand große Wirkung zu erzielen. Er hat nicht nur Ahnung von Ring- oder Box-, von Karate-, Kung Fu- oder Schwerterkämpfen – er weiß auch, wie man sie auf die Bühne bringt. Und zwar so, dass die Zuschauer den Atem anhalten, die Schauspieler sich nicht verletzen und auch im dritten Rang noch etwas zu sehen ist. Figge weiß, aus welcher Perspektive man den tödlichen Stich zeigt. Er weiß, wie man zur Musik boxt und wie man Kampfgeschehen akustisch untermalt. Er weiß, dass ausgespuckte weiße Bohnen am besten Zahnverlust simulieren. Er weiß, dass Tybalt laut Shakespeare die Doppelte Finte und den Punto Reverso wie aus dem Lehrbuch beherrscht, während Mercutio eher der unkonventionelle Fechter ist.

Als Peter Zadek Angela Winkler als Hamlet wollte, brachte Klaus Figge ihr das Fechten bei, und als jüngst beim „Cyrano de Bergerac“ in Bochum ein Schauspieler kurzfristig ausfiel, da duellierte sich Klaus Figge höchstselbst mit Armin Rohde. „Den Ablauf kannte ich ja“, sagt er trocken. Das Publikum dankte mit mehrfachem Szenenapplaus.

Das Geheimnis des Klaus Figge ist vielleicht, dass er sich jeder Produktion, an der er mitarbeitet, mit Haut und Haar verschreibt. Er wird Teil des Ganzen, so wie alle am Theater. „Was machen Sie, wenn Sie mit einem Regiekonzept mal nicht einverstanden sind?“ – diese Frage kann Figge nicht beantworten, sie stellt sich einfach nicht. „Manchmal denke ich schon, so würde ich es nicht machen“, antwortet er dann vorsichtig. Aber wenn der Regisseur es so entscheidet, dann übt er mit zwei Schauspielerinnen auch das Fechten im Minirock und auf High Heels ein – obwohl in T.S. Eliots „Die Cocktailparty“ gar keine Fechtszene vorkommt. Dann choreographiert er in Bochum einen Kampf mit brennenden Äxten oder setzt in Hannover einen Ringkampf halbnackter Frauen im Sand in Szene.

Als Peter Zadek es sich anders überlegte

Oder er wirft das Ergebnis von vier Wochen Arbeit einfach weg, weil der Regisseur es sich anders überlegt hat. Noch so eine Anekdote: „Am Burgtheater inszenierte Zadek ,Der Jude von Malta’ mit August Diehl. Wir probten vier Wochen lang mit Offizierssäbeln. Die Szene war quasi perfekt, Zadek hatte sie aber noch nicht gesehen. Eines Tages sagte der Regisseur: Ich habe mir überlegt, wir machen den Kampf lieber mit Messern.“ Nicht einmal anschauen wollte Zadek die fertige Szene. „So etwas ist mir gottseidank nur ein Mal passiert“, sagt Figge, er lacht darüber.

Ein untypisches Erlebnis. Meist kennt Figge das Regiekonzept, dann erarbeitet der Bühnenkampf-Experte „seine“ Szenen autonom. So auch beim Essener „Peter Pan“: Wenn’s ums Hauen und Stechen geht, gibt Regisseur Kallmeyer die Hoheit an Figge ab und hält sich raus. Der Rahmen ist klar: Ein Stück für Kinder ab 6 Jahren – da braucht es actionreiche Szenen mit Witz und Pfiff, die nicht zu brutal werden. Klaus Figge kombiniert einen Fechtkampf mit einem Backpfeifen-Duell à la Bud Spencer, er lässt einen Piraten über Bord kitzeln und ersinnt Kaugummi-Blasen als Ablenkungsmanöver. Ein großer Kampf-Spaß, hinter dem wochenlange Arbeit an winzigen Stellungsdetails steckt.

Auf die Frage, mit welchen großen Regisseuren er noch nicht zusammengearbeitet hat, muss Figge lange überlegen. „Frank Castorf“, sagt er schließlich, „und Roger Vontobel.“ Allerdings: Es sind nicht die große Namen, die ihn an seiner Arbeit interessieren. „Klaus macht keinen Unterschied zwischen Burgtheater und freier Bühne“, weiß Regisseur Kallmeyer. Und erzählt, dass Klaus Figge neulich einen Stockkampf am Rottstraße 5 Theater einstudiert habe, einer kleinen freien Bühne in Bochum. „Es war zufällig eine Woche, in der ich Zeit hatte“, sagt Figge, „ich wollte eigentlich nur ein Mal hingehen, aber es hat mir Spaß gemacht.“ Er hätte es eigentlich vorher wissen müssen: Theater, das geht nur ganz oder gar nicht.

(Das Porträt wurde zuerst in der November-Ausgabe des Kulturmagazins K.West veröffentlicht).




Regina Schmekens Fotos von der Ästhetik eines Spiels namens Fußball

Fußball ist Geometrie. Die Beine gehören Toni Kroos. Foto: Regina Schmeken

Als Fredl Fesl, eine Art bayerischer Hippie der sanft-spöttelnden Natur, 1976 sein Lied von den „44 Fußballbeinen“ singsprechend zur Gitarre anstimmte, mochte ein wenig Gesellschaftskritik dahinter stecken (Heute würde das wenig nett gemeinte „Millionäre in kurzen Hosen“ bemüht). Doch eher ging es ihm wohl um das Beschreiben einer Sportart, die den einen Kult ist, anderen hingegen als sinnlose Rennerei vorkommt. Dass es sich um ein Spiel handelt, das gar ästhetische Komponenten in sich birgt, scheint der öffentlichen Wahrnehmung absolut fremd (geworden).

Hier nun hat sich die Fotografin Regina Schmeken zu Wort gemeldet. Mit aussagekräftigen Bildern, die nicht auf Action ausgerichtet sind, sondern auf Schönheit und (skurrilen) Witz. Die bisweilen Rätsel aufgeben, weil der Betrachter gerade nicht weiß, wo etwa der Ball ist. Weil er überhaupt nur Beine sieht, die sich in Verbindung mit Mittelkreis oder Seitenlinie zu einem grafischen Konstrukt formen. Keine Gladiatoren betreiben hier knallharten Sport, sondern der spielende Mensch gewinnt oder verliert in Schönheit.

Schmekens Fotos sind zurzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Großformatige Schwarzweiß-Studien, denen das Wort Fußballfieber fremd scheint. Eher verbinden sich mit ihnen die Begriffe Ruhe, Kontemplation, ja Intimität. Davon spricht jedenfalls Oliver Bierhoff. Ihm ist es zu danken, dass die in Gladbeck geborene Fotografin die Nationalmannschaft von März 2011 bis zum Juni dieses Jahres begleiten durfte. Die 40 ausgestellten Exponate fallen dabei vor allem durch eine choreographische Note auf. Und das kommt nicht von ungefähr.

Denn die Fotojournalistin hatte nicht nur selbst Ballettunterricht, sondern suchte stets tänzerische Elemente in ihren Bildern. Berühmt wurde eine Aufnahme vom Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München. Da waren Staatsmänner in quirliger Unordnung offensichtlich auf der Suche nach ihrem rechten Platz fürs Gruppenfoto – heiter wirkende Wuselei abseits des steifen Zeremoniells.

Schmekens Fußballbilder also: eingefrorene Bewegungen, gruppendynamische Momente, Szenen abseits des Brennpunktes namens Strafraum. Da liegt etwa der Ball im Netz, und Torwart Ron Robert Zieler mit fragendem Blick daneben: Wie ist die Kugel bloß dahin gekommen? Oder Sami Khedira: Liegt da im patschnassen Gras und schaut offenbar versonnen aufs Regenwasser in seinen Händen.

Vier Beine und ein Kopf oder: Klose und Podolski. Foto: Regina Schmeken

Geradezu skurril die Aufnahme, in der sich Klose und Podolski nach dem Ball bücken: Perspektivisch so eingefangen, dass wir vier Beine, aber nur einen Kopf sehen. Manchmal winden sich Arme umeinander, tänzeln zwei Füße mit dem Spielgerät. Regina Schmeken blickt auf Details, wo der Zuschauer – im Stadion – nur ein Gesamtbild hat. Fans hat die Fotografin übrigens auch abgelichtet: Konzentriert dreinblickende, angespannt sitzende Menschen im deutschen Nationaltrikot, vielleicht in Erwartung eines Freistoßes.

Brutalität aber, randalierende Fans, schimpfende Spieler oder Trainer, brutale Fauls gar sind nicht Schmekens Welt. Man mag ihr Abkehr von der Realität vorhalten, von der Tatsache, dass es letztlich um eine Menge Geld geht und somit wichtige Dinge auf dem Spiel stehen. Doch was ist dagegen zu sagen, dass sie auf die Ästhetik eben jenes Spiels hinweist, zu dem 44 Fußballbeine gehören?

Berlin, Martin-Gropius-Bau, Regina Schmeken, bis zum 6. Januar 2013.

http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/gropiusbau/ueber_uns_mgb/aktuell_mgb/start.php




Zum Auftakt der 50. Bundesliga-Saison: BVB – der Meister legendärer Fußballereignisse

Ich hatte einen Traum. Er spulte sich in der vergangenen Nacht ebenso plastisch wie mein Hoffen weckend vor meinem inneren Auge ab. Und dann fiel es mir wie Schuppen aus Augen und Haaren: Der Ballspielverein Borussia Dortmund ist der ultimativ wertvollste Club Deutschlands, wenn es um historische Wegmale in der Nachkriegsgeschichte der Kicker unseres Landes geht.

Es war der BVB, der letztmalig Deutscher Meister nach der überlieferten Methode wurde, bevor die Bundesliga ins professionelle Leben gerufen wurde. 3:1 schlug er den 1. FC Köln in Stuttgart, und ich sehe es noch wie heute, wie der Kölner Keeper Fritz Ewert schier hilflos hinter dem Ball her hechtete, den ihm „Zange“ Wosab, „Aki“ Schmidt und – ja – „Hoppy“ Kurrat um die Ohren schossen.

Vor 50 Jahren, als die Bundesliga ins Leben tapste, war es der BVB, der gegen Werder Bremen spielte und nach nicht einmal einer Minute durch den unvergesslichen Timo Konietzka das erste Tor dieser taufrischen Liga erzielte.

Es war der BVB, der 1966 in Glasgow als erste deutsche Mannschaft überhaupt einen europäischen Wettbewerb gewann und den FC Liverpool nach Verlängerung mit 2:1 besiegte. Reinhold Wosab erzählte mir gern die Geschichte, wie „Stan“ Libuda nach dem Siegtor, von seinen Mitspielern fast erstickt, japste: „Gott sei Dank, was hätte ich nur meiner Frau gesagt!“ Er und andere waren in der Nacht von Trainer „Fischken“ Multhaup beim Kartenspiel erwischt worden und der unerbittliche Chef hatte mit hohen Geldstrafen gedroht, falls am Spieltag das Match verloren ginge.

Auch war es der BVB, der als erster deutscher Verein den Weltpokal aus Japan nach Dortmund holte, nachdem die Borussen 1997 als erste deutsche Mannschaft die Champions League gewonnen hatten. Vorher hieß das volksmundig Landesmeister-Pokal.

Jubel im Westfalenstadion, anno 2012. (Foto: Bernd Berke)

Jubel im Westfalenstadion, anno 2012. (Foto: Bernd Berke)

Vergangene Saison fuhr dieser BVB mit 81 Punkten wieder ein Rekordergebnis ein und nahm den netten Bayern auch diese Last ab, in der ewigen Punkteliste der Deutschen Meister vorn zu liegen.
Und da fällt mir, passend zu meinem Schlussakkord, noch eine – wahrscheinlich nie mehr erreichbare Einzigartigkeit ein: 1956/57 und 1957/58 bejubelten die Borussen zweimal hintereinander den Gewinn der Meisterschale – mit exakt der identischen Mannschaftsaufstellung: Kwiatkowski, Burgsmüller, Sandmann, Schlebrowski, Michallek, Bracht, Peters, Preißler, Kelbassa, Niepieklo, Kapitulski. Unnas Bürgermeister Werner Kolter überrascht fußballbegeisterte Gesprächspartner gern damit, dass er die Aufstellung rückwärts vom Sturm bis zum Torhüter aufsagen kann und zeigt sich damit stolz als Muttermilchfan seiner Mannschaft.

Heute beginnt mit der Partie Borussia Dortmund – Werder Bremen die 50. Bundesligasaison. Eine historische Zahl, die den BVB wieder zu ebenso historischen Taten ermuntern möge: Eine Meisterschaft in der Jubiläumssaison, die dritte Meisterschaft in Folge, was noch nie gelang.

Ziemlich blöde lächelnd gelangte ich wieder unter die Wachenden und machte mir postwendend Mut: Das ist schwarz-gelbe Fan-Kultur, das Unwahrscheinliche in die Nähe des wahrscheinlich Möglichen zu rücken.




Familienfreuden II: Zur Selbstfürsorge ins Schwimmbad – oder doch nicht?

Wasserglas

Die Welt im Wasser(glas). Foto: Nadine Albach

Ob ein schlechtes Gewissen dann und wann wohl dazugehört zum Elternsein? Täglich genehmigen sich bohrende Fragen eine lustige Karussellfahrt durch mein Gedankenzentrum und die übergewichtigste von ihnen ist die nach dem „Genug oder zu wenig?“ Zumal bei all der Zuneigung dem Nachwuchs gegenüber auch ab und zu mal ein wenig Selbstfürsorge wichtig ist.

Also: Ich wollte schwimmen. Mit jeder Faser meines Seins stellte ich mir den Sprung ins kühle Nass vor. Und meine Schwiegermutter war gern bereit, mir dieses Rendezvous durch einen Spaziergang mit unserer Tochter zu ermöglichen. „Nimm doch mein Fahrrad“ war ihr zwitschernder, wie sich herausstellte verhängnisvoller Vorschlag.

Ein Rad mit Rücktritt war ich spätestens seit meinem zwölften Lebensjahr nicht mehr gefahren. Als ich vor dem Schwimmbad ankam und nur noch in Pudding trat, glaubte ich an einen Bedienungsfehler. Stattdessen hatte sich die Kette verabschiedet. Zwei patente Fensterputzer eilten zur Hilfe – und scheiterten nach einer Viertelstunde mit schmierigen Fingern und traurigen Blicken. Als ich schließlich zwischen den Werkzeugen der Radstation am Hauptbahnhof stand und der Werkstattleiter von einem wieder neu aufzuhängenden Hinterrad erzählte, wusste ich, dass sich die ölverschmierte Kette eifersüchtig zwischen das Wasser und mich geschoben hatte. Ich seufzte innerlich ein leises Ade.

Abends allerdings bekam ich eine zweite Chance. Mein Mann passte auf, ich brauste – diesmal mit meinem Rad – zum Schwimmbad, voll sprudelnder Gedanken, mit schnellem Trittt

– bis ich ein kleines Schild am Eingang im Wind flattern sah. „Das Schwimmbad ist aus technischen Gründen geschlossen.“

Ach! Duschen, dachte ich, duschen ist ja fast wie schwimmen…




Hundert Meter: Bolt usw.

Ich gehöre zu einer Generation, die weiß, wie betulich Leichtathletik-Sportfeste oder Länderkämpfe (gibt’s die überhaupt noch?) früher mal verlaufen sind. Stadionsprecher, so etwa auch in der Dortmunder „Roten Erde“, verkündeten beispielsweise gravitätisch „Programm Seite 29 – 100 Meter-Lauf der Herren…“ Und dann ging alles seinen vergleichsweise gemächlichen Gang.

Naja, immerhin lief Armin Hary damals auch schon 10,0 Sekunden über die Strecke. Jetzt sind die Deutschen gar nicht mehr gut zu Fuß. Sie fahren lieber Formel 1.

Abfotografiertes ZDF-Fernsehbild

Abfotografiertes ZDF-Fernsehbild

Heute schaue ich mir nur noch sehr selten solche Wettkämpfe im Fernsehen an. Das Ganze ist mir längst unheimlich geworden. All diese monströsen Muskelberge, das einstudierte Repertoire der zur Schau gestellten Imponiergesten (fast egal, ob nun lächelnd, locker, cool oder finster), der immerzu schwelende Dopingverdacht…

Eine Ausnahme ist Olympia, da gucke ich bei den Sprintkönigen mal wieder ´rein – gemeinsam mit schätzungsweise 1 Milliarde Menschen auf dem Globus. Die Medien hatten das Finale über 100 Meter seit Wochen zum Duell der Giganten hochgejubelt, zum Duell der Gegensätze stilisiert: Usain Bolt vs. Yohan Blake. Die Kommentatoren des ZDF, das heute an der Reihe ist, nutzen weidlich die Gelegenheit, um Satzfetzen wie „Das haben sie irgendwie im Blut, die Jamaikaner“ vorzubringen. Irgendwie.

Dennoch: Ich kann mich der Faszination nicht gänzlich entziehen. Man ist schließlich Zeitgenosse, wie widerspenstig und unwillig auch immer. Man möchte aber lieber nicht wissen, wie manche der 80 000 im Stadion an ihre Karten gekommen sind – bei angeblich 1 Million Anfragen.

…und dann gewinnt halt doch wieder Usain Bolt in 9,63 Sekunden. Vor Blake (9,75 sec.) und Gatlin (USA – 9,79 sec.).

Wir schalten zurück in die angeschlossenen Funkhäuser.




Die anderen siegen, ohne zu singen, wir siegen nicht, weil wir nicht singen

Ich hab’s, diverse Politiker haben’s auch, die BILD hat’s und wer hat’s übersehen? WIR konnten ja gar nicht den Titel des Europameisters gewinnen, weil WIR nicht richtig singen können – oder wollen – oder ethnisch so wenig vaterländisch sein mögen, dass WIR zwar Fußball spielen für UNS, also Schland, aber die vaterländische Tradition des kollektiven Chorgesanges nicht mittels Muttermilch in uns aufgenommen haben.

Wutentbrannt stürzten sich bereits vor der schmählichen Niederlage gegen Italien diverse User ganz ohne  Netikette auf Özil, Klose, Kedhira oder Podolski, weil deren Lippen unbewegt blieben, während eine ganze Nation bewegend die Brust schwellen ließ und das weinerliche Singdings vom Inselfelsen Helgoland in jedes sich bietende Wohnzimmer bzw. über jeden sich bietenden Rudelguck-Platz jodelte. Deutschland sucht den Superstar der Hymnen, Schlandlied walle wehrhaft, elf Sänger sollt Ihr sein.

Hingegen intonierten die schwarmintelligenten Mitglieder der Squadra Azzura gläubig ein donnerndes „Italia, Italia“ übers Feld und – gewannen, zumindest gegen die fortgesetzt böswilligen Verschmäher deutschen Hymnengutes.

Also, wir haben’s: Es war nicht die Unfähigkeit eines Trainers, modernen Fußball als siegbringendes Heilmittel zu erkennen, es war nicht die Unfähigkeit vieler Spieler, schnelles, zielgerichtetes Bewegen in Richtung gegnerisches Tor bzw. in Richtung ballführende Spieler als siegbringendes Mittel zu erkennen, es war nicht die seit Jahren siechend humpelnde Fußball-Philosophie in den Vereinen der Republik (einen nehme ich natürlich aus, den großartigen Deutschen Meister), die wieder einmal eine iberische Mannschaft ins Ziel brachte und nicht uns, die wir ja eigentlich dahin gehören. Nein, es war der eklatante Mangel an sängerischer Inbrunst, erzeugt von ganz sicher zu starker germanischer Nichtherkunft einiger Balltreter.

Nun denken (tun die das?) Politiker darüber nach, Singpflicht einzuführen. Damit WIR wieder singend ans Siegen kommen. So einfach kann Fußball sein: Viel Singen, wenig Rennen!

Übrigens, wie machen diese noch viel schwarmintelligenteren Spanier das bloß? Die singen nie. Können sie auch schlecht, weil ihre Ahnen es versäumten, der auch nicht sonderlich anregenden Hymne einen gescheiten Text zu verpassen – so etwa „Spanien, Spanien über alles …“, was in Sachen Fußball ja so weit von der Realität derzeit nicht entfernt wäre. Sie singen nie, sie siegen ständig – das geht doch nicht zusammen, kann den gesangsfördernden Politikern das mal jemand erklären?

Einwurf fürs Team der Antarktis, das nach der EM wieder verstärkt in den Blickpunkt rückt. (Foto: Bernd Berke)

Einwurf fürs Team der Antarktis, das nach der EM wieder verstärkt in den Blickpunkt rückt. (Foto: Bernd Berke)




Niederlage etc.

Ich muss mir doch noch mal kurz Luft machen, nachdem dieses unselige Spiel Italien – Deutschland halbwegs verdaut ist. Wie Rilke schon schrieb: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“

Nein, kein Wort hier zu Löws Aufstellung und „Taktik“. War da was?

Statt dessen dies:

a) Geradezu bestürzend überflüssig finde ich wohlmeinende Ratschläge von Hobbypädagogen, die einem nun beibringen möchten, wie man mit einer solchen Niederlage umgehen soll. Ach du jemine! Sie wollen, dass man etwas fürs Leben davon hat. Sie haben einen säuselnden Tonfall. Sie blüüüüühn im Glanze ihrer Weisheit. Meinetwegen können wir das auch noch mal singen.

b) Ein weiteres Deutungsmuster elend bemühter Geister besagt, dass durch die deutsche Niederlage eine neuerliches Aufkeimen unguter nationalistischer Tendenzen mit knapper Not verhindert worden sei. Anderfalls wäre womöglich noch mehr geflaggt und gewimpelt worden. Man denke nur! (Anmerkung: Auch mir geht die Sommermärchen-Seligkeit mitunter gehörig auf die Nerven – und besoffen grölende Horden sowieso). Merke: Mit einem solchen Spiel hat sich außer der Endspielteilnahme rein gar nichts erledigt.

Partyzelt leer, Fahne erschlafft (Foto: Bernd Berke)

Partyzelt leer, Fahne erschlafft (Foto: Bernd Berke)

c) Laue Beschwichtigungssprüche vom Kaliber „Der Bessere möge gewinnen“ haben mich seit jeher nicht beruhigt, sondern eher auf die Palme gebracht. Natürlich ist ein schönes Spiel besser als ein schlechtes, wer hätte das gedacht. Aber ich möchte doch mein Herz an etwas hängen, parteilich sein (selbst wenn Benin gegen Grönland spielen sollte) und mich königlich aufregen dürfen, wenn die blöde Realität den Präferenzen zuwider läuft. Mal ganz abgesehen von einem Phänomen wie der affektgeladenen Affinität zu Borussia Dortmund, die aus Kindertagen herrührt und somit tief sitzt.

d) Wenn ich mich gleichsam interesselos an figürliche Schönheit halten wollte, so könnte ich mich an Dressurreiten oder Sychronschwimmen ergötzen. Oder ich gäbe mich schrankenlos dem Hallenhalma hin.

e) Außerdem gibt es ja noch all die schönen Künste.

f) Was ich noch zu sagen hätte: Einen Countdown vor dem Anstoß, wie bei der EM Usus, muss man wahrlich nicht haben. Zahl und Umfang der Spieler-Tätowierungen haben signifikant zugenommen, es war nicht zuletzt ein Tattoo-Turnier. Das Fußballblüten-Logo vor und nach den Zeitlupen war eine ständige Zumutung. Und die Kommentare im Fernsehen? Frage niemand!

g) Schon jetzt erfasst einen Ach und Weh, wenn man daran denkt, zu welchen Uhrzeiten die WM-Spiele 2014 aus Brasilien übertragen werden…

h) Und damit gut.




Denkwürdige Vokabeln (7): Explodieren

Es beruhigt mich einerseits und es sorgt ebenso für tiefe Bestürzung bei mir: Geht es um Fußball und blumenerdige Sprache, diesem wunderbaren Mannschaftssport und seinen Be-Schreibern und verantwortlich Handelnden die verdienten Weihen hoher Eloquenz zu verleihen, ist es wie vor 40 Jahren – ihnen fällt einfach nichts Neues ein! Unser aller Jogi, der nette Herr Löw, schwäbelte sich vor Tagen spritzig durch eine Pressekonferenz und verkündete frohgemut, dass er der festen Überzeugung sei, sein bestimmt ebenso netter aktiver Kollege Özil stünde kurz davor, während dieser EM zum Wohle und zur Ehre des bundesdeutschen Fußballs „zu explodieren“.

Hätte der nette Herr Löw Recht mit dieser unbewiesenen Annahme, müssten wir den unmittelbar bevorstehenden Verlust der – wenn auch derzeit der recht uninspirierten – Kreativabteilung unserer Nationalelf befürchten. Bliebe der nette Herr Löw beharrlich bei dieser, seiner ungeschützten Vermutung, stellte sich die Frage, wer denn bloß die Reinigung der von postexplosionären Teilchen befleckten griechischen Trikots bezahlen müsste, wo die Griechen doch ohnehin wegen nationalen Unbehagens und allenthalben beschriebener Bargeldknappheit erstens schlecht auf alles Germanische zu sprechen sind und zweitens um jeden Eurocent verlegen.

Hätte jeder Nachkriegsbundestrainer damit Recht behalten, dass einer seiner Spieler dem Vesuv gleich kurz vor der finalen Explosion stünde, würden wir dringend im künftigen DFB-Fußballmuseum zu Dortmund einen eigenen Raum der Besinnlichkeit für junge Menschen der Vergangenheit einrichten müssen, die immer mal wieder selbstaufopfernd zum Ruhme des deutschen Fußballs explodiert waren.

Aber mal im Ernst: Weder der nette Herr Löw ist Herr seiner Sprache, noch sind es die, die ihn anschließend tagelang titelnd mit karajanischem Einfallsreichtum zitieren. Dieses „Explosionsgeplapper“ ist genau so blöd wie einst die „Bomben“, die unschuldigen Torhütern um die Ohren flogen, begleitet von Granaten oder eigentlich ganz friedfertigen jungen Männern in kurzen Hosen, die sich durch eine „Phalanx“ von gleichaltrigen jungen Männern „tankten“ um den eigenen „Sturmlauf“ durch den finalen „Schuss“ abzuschließen. Das könnten wir jetzt noch länger fortsetzen, Sportreporters und –moderators Einfallsreichtum, seinem Sprachgebrauch kriegerische Züge zu verleihen, ist unerschöpflich. Dabei kann dieser Sport, wie man in meinem Lieblingsstadion Saison für Saison bewundern kann, ebenso schnell wie intelligent und auch elegant ausgeübt werden, dass er zur Erzeugung der notwendigen Spannung solch blöde Begrifflichkeit gar nicht nötig hat.

Beschließen wir diese kurze Betrachtung mit einem kräftigen „Schland“ – oder wäre es am Ende besser, begeistert „Nur der BVB“ zu skandieren?




Ein Turnier ohne Prägekraft

Du meine Güte, da gab’s doch gestern wahrhaftig einen spielfreien Tag bei der Fußball-Europameisterschaft – und schon wussten manche Menschen nichts mehr mit sich anzufangen.

Ja, man sieht viel Elend. Heute aber endet die Durststrecke bereits. Es gibt wieder Dröhnung. Weil nun das Viertelfinale mit den allseits beliebten K.o.-Begegnungen und womöglich gar Elfmeterschießen anhebt, so bietet sich im Gefolge des landläufigen Sportjournalismus jener güldene Nervspruch mit langer Tradition an, der da lautet: „Jetzt beginnt das Turnier erst richtig.“

Ganz klar. Erst kann die Gruppenphase nicht genug bekakelt werden. Doch kaum ist sie vorüber, schrumpft sie zur Bedeutungslosigkeit. In diesem Falle ist das sogar verständlich, denn sportlich hat die Vorrunde ziemlich wenig geboten. Bislang war keine Partie zu sehen, die man übers Jahr hinaus im Gedächtnis behalten wollte. Keine sonderliche Kunst am Ball, kein neuer Mythos der Fußballreligion, also auch kein wirksames Opium fürs Volk.

Hoheitszeichen vor Gardine (Foto: Bernd Berke)

Hoheitszeichen vor Gardine (Foto: Bernd Berke)

Im Ruhrgebiet, wo sich speziell die Anhänger von Borussia Dortmund düpiert fühlen, weil der schwäbelnde Bayernfreund Löw die BVB-Recken nicht aufstellen mag (Ausnahme bis dato: Mats Hummels), kommt bis zur Stunde erst recht keine schrankenlose Begeisterung auf. So bleibt uns in diesen Breiten immerhin ein zombiehaftes Aufleben des zu Tode gerittenen Wortes „Sommermärchen“ erspart. Statt dessen dräut am morgigen Freitag ein griechisch-deutscher Kampf um den und die Euro. Man möchte sich die vergifteten Emotionen nicht ausmalen, die da schwelen.

Überhaupt vermisst man noch den Prägestempel, der diese EM unverwechselbar machen würde – es sei denn, man erachte den vielfach verdrucksten Umgang mit dem Gastgeber Ukraine als solchen. Eine der besseren Nachrichten ist noch, dass die 2010 in Südafrika nervtötenden Vuvuzelas quasi spurlos verschwunden sind.

Statt dessen mag man sich über den im Ungefähren wabernden Manipulationsverdacht ereifern. Spanien und Deutschland haben einander gegenseitig weitergepfiffen, so wird geargwöhnt. Es sieht tatsächlich beinahe so aus, als ziele die eine oder andere Fehlleistung der Schiedsrichter darauf ab, die „großen Fußballnationen“ (sprich: die zahlungskräftigste TV-Werbekundschaft) so lange wie möglich im Spiele und bei Laune zu halten.

Über die mediale Verwurstung durch ARD und ZDF kann ich – außerhalb der 90 plus x Minuten Spielzeit (was z. B. dank Béla Réthy schon Prüfung genug ist) – wenig mitteilen, weil ich das ganze Vorher- und Nachher-Gerede konsequent abschalte. Mein Lebtag werde ich nicht mehr Zumutungen wie „Waldis Club“ oder die grausige Moderation von Frau Katrin Müller-Hohenstein über mich ergehen lassen, welchletztere die Insel Usedom als Urlaubsziel nachhaltig zu entwerten droht. Nein, das sollte man sich wahrhaftig nicht antun. Schon Nietzsche wusste, dass, wenn man zu lange in den Abgrund blickt, der Abgrund auch in einen selbst hineinschaut. Uaaaaah!

Immerhin sorgte ARD-Experte Mehmet Scholl für ein vernehmliches mediales Rauschen, als er dem oft so unbeweglichen deutschen Stürmer Mario Gomez nickelig nachsagte, er müsse sich wahrend des Spieles „wundgelegen“ haben und solle deshalb lieber „gewendet“ werden. Das war kreatives Mobbing nach dem Motto „Warum sachlich, wenn’s auch persönlich geht?“




Der Handlungsreisende versus König Fußball – in Recklinghausen gewannen beide

Leerer als sonst war es an diesem Abend im Festspielhaus Recklinghausen. Es war der Abend des Länderspiel-Klassikers Deutschland gegen die Niederlande. Ungewöhnlich viele, die noch eine Karte verkaufen wollten, harren draußen aus. Drinnen dann geht es um das, was auch – seien wir ehrlich – den Fußball unserer Tage bestimmt: Geld, Ansehen, Popularität.

Das St.Pauli Theater Hamburg, Stammgast bei den Ruhrfestspielen, zeigte in der Schlusswoche der Ruhrfestspiele Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ in der Inszenierung von Wilfried Minks.

Im Mittelpunkt steht Willy Loman, der mit Mitte 60 ein müder und demoralisierter Handelsvertreter ist und seine besten Zeiten hinter sich hat. Seine Abschlüsse erreichen nicht die Zielvorgaben, seine Ausgaben übersteigen seine Einnahmen, die Existenzen seiner zwei erwachsenen Söhne sind schlicht gescheitert. Seine Säule ist seine ebenso tapfere wie leichtgläubige Frau Linda. Doch diese betrügt er genau wie sich selbst. Der Wahrheit blickt er nur selten ins Auge, schon den kleinsten Erfolg bläht er auf zum sagenhaften Fortschritt. Seine halbherzigen Hilferufe verhallen ungehört. Linda und die Söhne erkennen durchaus, wie schlecht es ihm geht, doch sind sie zu nicht mehr als schalen Durchhalteparolen fähig.

Belegt mit dem Fluch des Vertrieblers flüchtet Loman sich in falschen Stolz. Nicht um’s Überleben geht es ihm, sondern um die Sicherung seines Ansehens. Loman rettet sich mal in eine verklärte Vergangenheit, mal in Träume von einer glanzvollen Zukunft, die seine Söhne richten sollen. Doch diese richten gar nichts, eher werden sie gerichtet. Zugrunde gerichtet durch Willy Lomans Träume und übersteigerte Erwartungen.

Der als genialer Bühnenbildner Peter Zadeks bekannt gewordene Wilfried Minks inszenierte den „Handlungsreisenden“ mit sparsamen Mitteln werkgetreu und erlag nicht der Versuchung, das Stück in die Jetztzeit zu übertragen. Gerade deshalb entfaltet es durch die unwillkürlich beim Zuschauer aufkommenden Fragen eine bestechenden Sog. Hat sich etwas geändert? Ist es nicht gar noch immer schlimmer geworden? Sind wir nicht alle ein bißchen Loman?

Arthur Millers Intention war es nicht, die Realität zu spiegeln, sondern tief in die Psyche seiner Schlüsselfiguren einzudringen. Wie lebt man weiter, wenn man die Vergeblichkeit eines lebenslangen Tuns erkannt hat? Bei Miller ist die Antwort der Tod und so legen auch Minks‘ Darsteller ihr Spiel an. Burghart Klaußner zeigt Willy Loman eindringlich in seiner Zerrissenheit, sein Loman steuert vom ersten Moment an auf den Abgrund zu. Deutlich zeigt er, selbstübersteigernde Reden schwingend, den verzweifelten Versuch, das Abrutschen zu verhindern. Klaußners Loman glaubt schon lange nicht mehr, was er lügt. Er erwartet allerdings durchaus, dass andere ihm glauben. Nicht um sein Selbstbild geht es ihm, sondern um sein Spiegelbild in den Augen anderer. Wichtig ist nicht, was man kann. Wichtig ist, wie man auf andere wirkt.

Auch Margarita Broich in der Rolle der Linda Loman zeigt eine starke Leistung. Überzeugend gibt sie die Frau, auf der das Schicksal der Familie lastet, die Frau, die im Zweifelsfall ihren Willy über alles stellt, auch über ihre Söhne. Klaglos stopft sie ihre Strümpfe, während ihr Mann seiner halbseidenen Geliebten vollseidene Strümpfe kauft.

Das übrige Ensemble passt sich den beiden herausragenden Hauptdarstellern mutig an und versucht ebenfalls, sein Spiel aus der Psyche ihrer Figuren heraus zu erklären. Nicht allen gelingt dieses Tun und so wirkt das Stück manchmal holprig und desorientiert, wenn mehrere Ensemble Mitglieder auf der Bühne stehen und nicht recht zu wissen scheinen, wie sie eine Interaktion untereinander stimmig anlegen sollen. Tiefpunkt des Abends ist die Szene, in der die Söhne mit einem Marilyn-Monroe-Verschnitt anbändeln, einer Blondine im schlecht sitzenden weißen Plissee-Kleid, welches zu allem Überfluss auch noch klischeehaft hochgewirbelt wird. Dieser Gag im einem Stück des Monroe-Liebhabers Arthur Miller wirkt billig und bewirkt auch nicht mehr als ein paar vereinzelte Lacher. Das hätte man sich sehr gut sparen können.

Dennoch gelingt es dem St.Pauli Theater, die universelle und Zeiten überdauernde Gültigkeit von Millers systemkritischem Stück zu vermitteln. Der Handlungsreisende, der ewige Opportunist zerbricht, weil er sich der Demokratie des Anpassens unterordnet. Loman verabschiedet sich selbst aus diesem Leben, die Familie kassiert die Versicherungsprämie. Linda wundert sich, aber die fälligen Rechnungen bezahlt sie dennoch und kommt zum Schlußsatz „Wir sind frei“. Er klingt eher gefangen denn erleichtert.

Erleichtert sind hingegen die Zuschauer, die den Abend an der Bar des Hauses ausklingen lassen. Die letzte Viertelstunde des Fußballspiels können sie dort noch verfolgen. Deutschlands Kicker gewinnen.

Die Ruhrfestspiele befinden sich auf der Zielgeraden. Am morgigen Samstag, den 16. Juni, gibt es auf dem Recklinghäuser Hügel das große Open-Air Abschlusskonzert, bereits zum zweiten Mal mit BAP.




Europa, die Krise und der Kick

Es ist mal wieder so weit: Ein großes Fußballturnier greift ab heute (mindestens) in die Freizeit vieler Menschen ein – bis hin zum persönlichen Ausnahmezustand.

Leute, die eigentlich gar keinen Schimmer haben, schwingen sich plötzlich zu erprobten Experten auf und nerven mit ihren Kurzschluss-Ansichten. Bald wird wieder alles beflaggt sein, was sich nicht wehren kann. Auch werden wieder grausige Maskottchen (siehe Schlumpf- und Schlumpfinchen-Bild) auf den Markt geworfen. Am innigsten stöhnt es sich freilich über jene, die mit dem niederziehenden Neutralitäts-Spruch „Der Bessere möge gewinnen“ aufwarten. Diese Lauen wird ausspeien der Fußballgott.

Schlumpf und Schlumpfinchen, erhältlich bei einer großen Lebensmittelkette (Foto Bernd Berke)

Schlumpf und Schlumpfinchen, erhältlich bei einer großen Lebensmittelkette (Foto Bernd Berke)

Mag auch Europa politisch und ökonomisch ein wacklig gewordenes Projekt sein, so wird doch ab heute immerhin noch ermittelt, wer den erfolgreichsten Kick des Kontinents liefert – leider auch in einem Staatsgebilde von höchst zweifelhafter Statur, womit natürlich die Ukraine gemeint ist. Die Krisenländer Griechenland und Spanien sind jedenfalls mittenmang, die Spanier gelten gar als Mitfavoriten. Ich bin nicht so tollkühn, hier einen Tipp abzugeben. Es heißt, die Deutschen seien endlich mal wieder reif für einen Titel. Neuerdings kann man diese Annahme wieder füglich bezweifeln. Aber bitteschön…

Nur noch dies, aus Sicht des östlichen Reviers: Jogi Löws Entscheidung, im Kern mit dem „Bayern-Block“ anzutreten, kann einem Dortmunder nicht gefallen. Mit seiner Äußerung, bei der EM gehe es mit Verlaub nicht gegen Nürnberg oder Hoffenheim, verkennt Löw völlig, dass Borussia Dortmund just fünf Mal in Folge Bayern München bezwungen hat. Ja, ich springe weit über meinen Dortmunder Schatten und behaupte keck, dass nicht nur der Dortmunder Hummels, sondern auch der Schalker Höwedes in die erste Mannschaft gehört hätte.

Je nun, da gewichtet man eben seine Sympathien ein wenig anders und drückt (auch) den Polen die Daumen, die gleich mit drei BVB-Stammspielern antreten. Also gut, den Deutschpolen Podolski und Klose, den Deutschtürken Özil und Gündogan und ihren Mitstreitern wollen wir auch einiges, wenn nicht gar alles Gute wünschen.

Zur Lektüre – nicht nur in den Halbzeitpausen – empfehlen wir noch rasch zwei neue Bücher: Der Romancier und Dramatiker Moritz Rinke, seines zweiten Zeichens Stürmer des Schriftsteller-Nationalteams, versammelt ebenso liebevolle wie leichtfüßige Kolumnen zum Thema Nummer eins unter dem fast nietzscheanisch klingenden Titel „Also sprach Metzelder zu Mertesacker…“ (KiWi-Paperback, 201 Seiten, 7,99 Euro).

Weitaus ernster geht es in Thomas Kistners Sachbuch „FIFA Mafia. Die schmutzigen Geschäfte mit dem Weltfußball“ (Droemer Verlag, 426 Seiten, 19,99 Euro) zu. Wenn auch nur ein Teil der Vorwürfe stimmt, so ist es schlimm genug bestellt. Nur gut, dass hier der Weltfußballverband am Pranger steht und nicht etwa die europäische Vereinigung UEFA, die ab heute wieder Reibach macht, aber selbstverständlich nur mit lauteren Mitteln, nech?




Zwischen Landtagswahl und Fußballfesten: Das Propaganda-Dilemma

Was würden die Menschen nur machen, wenn man ihnen die Rituale nehmen würde, wenn es keine Identifikationen gäbe mit dem Ort, wo man seine wertvolle Zeit verbringt und lebt? Was wäre die Welt ohne Massenbewegungen? Was wäre das Leben ohne Fußball und ohne Parlament? Wir brauchen Begeisterung und Bewunderung, Schimpf und Schande, Leid und Freude, besonders, wenn man ein Leben führt, das in einem Umfeld stattfindet, das nicht zu den paradiesischen gehört – im Ruhrgebiet. Derzeit befinden sich zum Beispiel in Dortmund die Plakate, Banner und sonstige weit sichtbare Werbung in einem engen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit: Meisterfeier und Wahl zum nordrhein-westfälischen Parlament.

An der Wand des Hauses, in dem ich wohne, hängt ein Banner zum Ruhm des ehrenwerten Ballsportvereins Borussia Dortmund, dargebracht durch ansässige Firmen, die ihre Wärme zum hiesigen Verein demonstrieren wollen. Warum nicht? Auch der Liverpooler, der Manchester, der Römer, der Madrilene, sie alle identifizieren sich mit ihrem Heimatverein. Da sieht man Fußballbrötchen und Meisterwürste, kleine, gelbe Herzen und T-Shirts, die die Liebe aus dem Bauch bedecken.  Und dazwischen stehen und hängen die Wahlplakate und – je nach Zuneigung – frohlockt der Genosse und sein Wähler.

Die Parteien sind vom Wähler abhängig, sowie der Wähler letztendlich von den Parteien abhängig ist. Und wer abhängig ist, flucht gern und entzieht sich dem Gedanken, sich der Abhängigkeit zu entledigen. Immerhin kann man sich mehr oder weniger aussuchen, von wem man denn abhängig sein will. Das gilt auch für den Fußballer und seine Fans, die ja im Falle einer Meisterschaft kurzfristig zu einer großen Masse anschwellen. Da will jeder mal den Lewandowski oder den Hummels anhimmeln. „Unsere Jungs“, heißt es dann. Es gibt ganze Städte, ja, Regionen, die vom Fußball abhängig sind. Er ist das Aushängeschild und das Tor zur Welt. Das gilt mindestens für Dortmund und erst recht für Gelsenkirchen (dort gibt es den Verein Schalke 04). Wir lassen uns auf die Abhängigkeit ein, oft mangels Alternativen.

Wenn man jedoch ein griesgrämiger Zeitgenosse ist, dann wird der Fall schwierig, denn für ihn oder sie ist das Propaganda. Er fühlt sich überdeckt von all den gleichen Meinungen und Feierstimmungen, seien es die des ungeliebten Fußballvereins, oder die der ungeliebten Partei. Das geht zu weit. Man solle ihn in Frieden lassen mit diesen Massenverehrungen, erste recht wenn er, wie in einem angenommenen Fall, einer anderen Partei zuneigt als der, die gerade feiert, oder wenn die Mannschaft, zu der er neigt, eine andere ist, zum Beispiel die aus Gelsenkirchen. Aber bei einem Bierchen und mehr kann er darüber nachsinnen, wenn es denn mal anders kommt, wenn seine Partei und erst recht seine Mannschaft die Liebesbekundungen ganzer Regionen zu spüren bekommt. Dann ist er Teil des Ganzen und freut sich gnaden- und rücksichtslos nur über seine Freude. Da schlägt die monogame Identifikation durch, wie jetzt für alle anderen in dieser Stadt, wo an jenem Haus, in dem er wohnt, ein Banner mit Liebeserklärungen das Leben verklärt.




Seit 100 Jahren: „Biene Maja“ begleitet den BVB

Wie oft habe ich mitgesummt, wenn der „Biene Maja“-Titelsong durchs Stadion klang. Das war fröhlich und stimmte uns wie die Spieler auf optimistischen Tatendrang ein, Tore, Punkte, Tabellenplätze – natürlich vorn, ganz vorn. Heute Morgen entstieg ich dem Zug in Unna, Winni bestieg ihn schweren Koffers. Blind im Verständnis rief ich hinter ihm her: „Viel Spaß in Berlin!“ Es tönte aus dem Abteil zurück: „Ich bin Montag mit dem Pokal wieder da!“

Schwarz-Gelbe Ringelsocken, „Biene Maja“-Titelsong, grenzenlose Zuversicht und fröhliche Feste glücklicher Fans. Doch, was hat eigentlich diese Fernsehsummse mit dem BVB zu tun? Die Biene Maja wurde vor 100 Jahren geboren, nur etwas später als der BVB. Sie war in der Fantasie ihrer Leserinnen und Leser damals schon schwarz-gelb – der BVB lief anfangs noch in Blau auf.

PIlgerstätte (Foto: Bernd Berke)

PIlgerstätte (Foto: Bernd Berke)

Maja schaffte es beinahe aus dem Stand an die Spitze, der BVB brauchte ein wenig länger. Dafür war der BVB bereits ein Fernsehstar mit viel Auf und Ab, als das Bienchen die TV-Mattscheibe betrat und zu Karel Gotts Tenor eroberte.

Ein gewisser Waldemar Bonsels hatte vor einem Jahrhundert im eigenen Verlag den Kinderroman veröffentlicht, nannte ihn „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“. Nein er hieß nicht „… und ihr Freund Willi“, der kam erst viele Jahre später dazu, war eine Erfindung des ZDF-Redakteurs Josef Göhlen, der die Schwarmtierchen 1975 zu Fernsehstars machte. Herr Bonsels war gebürtiger Schleswig-Holsteiner, den es nach München zog und der als gelernter Kaufmann so etwas wie ein Bestseller-Autor seiner Zeit wurde. Dass sein größter Erfolg ein Kinderroman wurde, mag ihm nicht behagt haben, gut gelebt hat er dennoch davon, bis er 1952 starb und seine Maja fortfuhr, ganze Kindergenerationen zu begeistern.

Waldemar Bonsels, dessen heimelige Tiergeschichte selbst Soldaten vor Verdun fesselte, hatte allerdings den Makel, ein erklärter Antisemit zu sein. Er wurde ihn auch nie los, schmückte sich gar damit und textete in zuschlagenden deutschen Zeiten auch gern heroisches Versgedrechsel auf einen „Führer“.

Das konnte Majas Weltruhm indes nicht beschädigen, der Biene und ihrem Freund Willi, der inzwischen zum Urbestandteil der Geschichte gehört, flogen weiter die Herzen zu und immer neue Geschichten ins Drehbuch.

Und natürlich dieser Titelsong. Ich musste ihn mit anhören, wenn am Wochenende die unvermeidlichen Maja-Abenteuer über den Bildschirm flimmerten. Und ich durfte ihn mit anstimmen, wenn er unsere Schwarz-Gelbe Truppe beflügeln half. Und nun summe ich ihn am Samstag in einer Fernseh-bestückten Kneipe mit, dulde einen Marler neben mir und genehmige mir den grenzenlosen Optimismus, dass niemand den BVB daran hindern kann, den Pokal nach Dortmund zu holen.




Schwarzgelb getränkt

Vor Jahresfrist war hier schon die Rede davon, dass – als Grundzug im Leben – gleich hinter der Erfüllung ein kaum merklicher Anflug der Enttäuschung lauern mag. Damals war die siebte deutsche Fußballmeisterschaft von Borussia Dortmund der Anlass, diesmal ist es die achte, die ein paar Worte hervorruft. Wer hätte das vor drei oder vier Jahren für möglich gehalten?

Wenn man seine ersten Dortmunder Stadionbesuche noch als Kind in der „Roten Erde“ absolviert hat, freut man sich natürlich zutiefst. Doch manchmal hätte man es jetzt gern eine Spur verhaltener. Die Regionalzeitungen im Dortmunder Dunstkreis haben es übertrieben. Sie sind heute von vorne bis hinten schwarzgelb getränkt und komplett durchjubelt. Ein Overkill. Bereits jetzt laufen ziemlich viele Leute (und längst nicht nur Kinder) alltags in BVB-Farben durch die Stadt, als wär’s die normalste Kleidung. Von der Klitsche bis zum Konzern will jede Firma bekunden, dass auch sie mit den Borussen schwerstens sympathisiere. Eine Stadt dreht durch. Vorerst bis zum Pokalfinale am 12. Mai.

Nun warnen – von außerhalb – nicht wenige Journalisten vor den Gefahren der Übersättigung. Da wird geunkt, die Dortmunder Mannschaft sei künftig womöglich nicht mehr „hungrig“ und gierig genug, um einen weiteren Titel anzusteuern. Eine Formel, auf die man sich vielfach geeinigt hat, einer plappert sie dem anderen nach. Wir werden sehen. Wenigstens international muss der BVB ja noch einiges zurechtrücken.

Die Süddeutsche Zeitung aus München hält es (etwa aus schierer Missgunst?) allerdings nicht einmal für nötig, die Entscheidung um die Meisterschaft auf ihrer heutigen Titelseite auch nur zu erwähnen. Souverän ist das nicht. Das Thema bleibt allein dem Sportteil vorbehalten. Diese absurde Abstinenz hat das Blatt, das jüngst abermals die ganze graue Ruhrgebiets-Tristesse auf seiner Seite 3 lang und breit geschildert hat, sozusagen exklusiv. Vielleicht folgt ja noch der übliche Bericht, in dem bescheinigt wird, wie überaus nötig die geschundene Revierseele solche Erfolg im Fußball brauche.




Fußball? Nicht mehr ohne Maske!

Branchentypische Witzbolde sprechen vom „Maskenball“. Ballack hat eine getragen, Huntelaar und Subotic desgleichen. Dante, Höwedes, Mertesacker, Metzelder, Olic und Schürrle ebenfalls. Und so mancher andere. Es scheint geradezu ein Zeichen der Zeit zu sein: Kaum noch eine Begegnung in der Fußball-Bundesliga, bei der nicht wenigstens ein Spieler mit Maske aus Karbon aufläuft. Was hat das zu besagen?

Gewiss: Die Kicker wollen sich vor weiteren Gesichtsverletzungen schützen. Doch eine andere Botschaft ist ungleich stärker. Denn zugleich dokumentieren die Masken, dass der Träger die vorherige Blessur – etwa einen Nasenbeinbruch – noch gar nicht richtig auskuriert hat, aber trotzdem schon wieder am Ball ist. Ergo sendet er das Signal aus, zu den besonders harten Hunden des Gewerbes zu gehören. Das kommt an in den Fanblöcken, das steigert vielleicht sogar den Marktwert, wer weiß. Ja, bei den simpel Denkenden erstickt es unter Umständen auch die Frage, ob der und jener Recke vielleicht schwul sei.

Überdies sehen die Spieler mit solchen Schutzmasken nicht mehr wie verletzliche Individuen aus, sondern sie erscheinen als anonyme Monster. Denkt da jemand an die Guy-Fawkes-Masken der „Occupy“-Bewegung? Nun, wir sind hier wohl auf ganz anderem Gelände. Seit Zorro gab’s zahllose Figuren der Populärkultur, die hier insgeheim und ungewollt mitzitiert werden – bis hin zu Darth Vader oder den Furcht erregend muskulösen Kampfmaschinen mit ihren technoiden Panzerungen, die Teile der Comic- und Spielzeugwelt bevölkern. Mit derlei „body modification“ kann vielleicht gar den Gegenspielern unterschwellig Angst eingejagt werden.

Bevor ich das Phänomen überinterpretiere, fällt mir eine andere Erscheinung auf Fußballplätzen ein – jene Nasenpflaster der 90er, deren Verwendung bei der EM 1996 kulminierte. Sie sollten angeblich die Atem- und Laufleistung erhöhen, sind dann aber nach Studien, die diese Annahme widerlegten, sehr schnell in den Mülleimern verschwunden. Drum sollte man auch diesen Beitrag zügig gelesen haben, sonst ist der Gegenstand womöglich schon wieder hinfällig.




„Haus der Löcher“: Ödnis im Porno-Paradies

Keine Frage: Es wäre eine hehre Aufgabe der Literatur, der überall waltenden Pornographie etwas entgegenzusetzen oder beizugesellen, durchaus des Schweißes der Edlen wert. Es warten wohl insgeheim viele auf den großen Anti-Porno, der geil und reflektiert zugleich sein müsste. Und er müsste weit über bloße Akte hinausweisen.

Doch wie soll man’s anfangen? Soll man die gängigen „Schweinereien“ zu übertrumpfen oder gezielt zu konterkarieren suchen? Soll man sich der Flut entgegenstemmen oder auf ihrem Kamm mitschwimmen? Soll man tiefer in die Materie eindringen oder leichthändig die Oberflächenphänomene parodieren? Oder, oder, oder. Eins darf man ohne weiteres argwöhnen: Wer auf diesem Gebiet noch Gehör finden will, muss sich zumindest schon mal ein paar aberwitzige Stellungen ausdenken.

Ein schwieriges Feld, fürwahr. Und so hat sich der 1957 in Rochester/New York geborene, vom Feuilleton ungemein hoch gehandelte Nicholson Baker, der schon mit ambitionierten Erotika zu Telefonsex und Voyeurismus hervorgetreten ist („Vox“, „Die Fermate“), mit seinem neuen Roman „Haus der Löcher“ im Prinzip an etwas Gigantisches gewagt.

Doch ach! Besagtes „Haus der Löcher“ ist eine sexuelle Wellness-Oase brünstiger Phantasien, zuvörderst den schönen und jungen Menschen vorbehalten wie nur je im handelsüblichen Porno. Im Klartext: Ein paar tolle Titten, ein Prachthintern oder ein beachtlicher Schwanz sollten schon vorhanden sein, um in diesem Möchtegern-Pornotopia mitspielen zu dürfen, in dem ansonsten selbst Kalauer-Figuren wie das „Ungeheuer von Cock Ness“ verbal willkommen sind. Männer müssen für den Aufenthalt auch schon mal kräftig zahlen. Das kommt einem doch irgendwie bekannt vor, und zwar nicht aus utopischen Romanen.

Je nach mentaler Disposition wird man/frau beispielsweise durch den Trockner im Waschsalon, eine Kuli-Mine oder halt durchs Loch in der Eichel ins rundum permissive Porno-Paradies eingesogen. Wir lesen von einigen Transfers solcher Art. Auch das verbraucht sich rapide. Wie überhaupt das wogende Rein und Raus oder Auf und Ab von hoher Redundanz ist, darin ganz dem hundsgewöhnlichen Porno verhaftet. Das rein körperliche Repertoire ist ja auch begrenzt, spätestens der Marquis de Sade hat es schon ziemlich komplett durchkonjugiert.

Im Haus der Löcher überwiegt bei weitem die Damenwahl, doch wie versessen sind die Frauen hier aufs primäre maskuline Geschlechtsmerkmal! Typisches Zitat: „Ich muss jetzt von einem Schwanz gebohrt werden.“ Man verzeihe die Wortwahl, doch es ist annähernd die des Buches: Die Frauen wollen sich stets gleich eine Phalanx von ragenden Gemächten einverleiben, ganze Kohorten von zuckenden Gliedern, Kompanien von unentwegt spritzenden Dödeln. Ganz egal, in welche Körperöffnung. Es ist buchstäblich penetrant.

Immerhin herrscht ein höflicher Umgangston und es wird niemand gegen seinen/ihren Willen missbraucht. Freilich schweben auch schon mal vollends kopf- und körperlose Geschlechtsteile in der Gegend herum. Es geht aber auch so: Gleich zu Beginn macht sich ein vereinzelter Arm nützlich, der die weiblichen Lustpunkte perfekt bedient. Man ahnt schon: Hier sind keine Individuen zugange, sondern pornographische Prototypen.

Nun mag man immerhin mutmaßen, dass die deutsche Sprache in diesen Dingen zu grob und ungelenk, also einfach nicht geeignet sei, um derlei surreal sich gebende und doch rasch monoton wirkende Vorstellungswelten nachzuzeichnen. Doch das wäre erstens eine Ausrede vom Kaliber, dass der Rasenzustand an der 0:5-Niederlage schuld war. Und zweitens: Auch im US-Original („House of Holes. A Book of Raunch“) wird sich wohl so manches unfreiwillig lachhaft anhören. Bemerkenswert an manchen deutschen Rezensionen ist, wie diesem Autor sogar zugestandene Langeweile oder Lachhaftigkeit kurzerhand just als Stärken zugerechnet werden. Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“ (Ina Hartwig): „Großartig, wie er nebenbei eine Müllhalde sprachlicher Geschmacklosigkeiten auftürmt…“ Lobhudelei im Handumdrehen, wie beim billigen Zaubertrick. Warum eigentlich?

Hier muss man ein paar Zitate anführen, um den Tenor zu erhaschen (empfindsame Gemüter sollten bitte darüber hinweg lesen):

„Tendresse fuhr mit der Zunge über Neds runzlige Sackigkeit, dann sog sie das ganze linke Ei wie eine neue Kartoffel in den Mund.“

„Schon kam die Gewaltigkeit von Chucks Dödel herausgeschnellt…“

„Sie warf den Kopf zurück und öffnete den Mund für Chucks Schwanzheit… Stopf mir dein Fickvieh in den Mund…Chucks Donnerrohr von Dödelfleisch schob sich in sie hinein…dann rammte er ihn wieder in ihren Kopfbahnhof.“

„Und alle würden sie sagen: ‚Ja, du Fickgenie, wir wollen diesen soßensatten Fleischklops von einem Schinkensteak von einem Dödel.“

In der Peniswaschanlage (ja, so was gibt’s hier) heißt die Losung fürs weibliche Dienstpersonal: „Schrubbeln, nicht rubbeln.“

„Sie überlegte und runzelte die Stirn. ‚Ich werde ihre Schwanzpfähle vergöttern.’“

Fragt sich, was es in solch forciert frivolen Kontext noch zu überlegen und zu runzeln gibt. Wer wird sich denn da noch zieren?

Genug, es reicht. Man hält es mit wachsendem Missvergnügen vielleicht über 100 oder 120 Seiten aus; zur Not auch noch über 150 Seiten, versehen mit dem Porno-Prinzip Hoffnung („Vielleicht kommt ja doch noch etwas richtig Scharfes“). Doch vergebens. Ich habe mich bei diesem eintönigen Endlos-Gerammel zunehmend gelangweilt und bin schließlich kurz vor den Schlussnummern ausgestiegen. Und wahrlich: An keiner einzigen Stelle kommt man in Versuchung, Lektüre begleitende Maßnahmen zu ergreifen.

Wo der Autor vielleicht frohgemut ausgezogen ist, neue Formen der Sinnlichkeit zu erkunden, tut sich auf Dauer weites Ödland auf. Da hilft auch die Mühsal nicht, den Penis mit etlichen putzigen Namen zu belegen. Auch der „Schniedel“ ist keine (Er)lösung. Erst recht nicht der „Fotzenspalter“, der „Pollock“, der „Lincoln“, der „Malcolm Gladwell“ oder der „Johnnystock“, der unverdrossen Austern knackt.

Das imaginäre „Flugzeug, das herumfliegt und aus den Städten schlechten Porno absaugt“, hat in diesem Roman seine Hauptlast gleich schon wieder abgeworfen. In vielen Phasen wird man Zeuge eines wahren Taylorismus der Lust, Akkordarbeit im Geschlechtsverkehr inklusive. Da sind schon niedliche Sportarten wie „Muschisurfen“ auf dem See eine kleine Erholung.

Eine Essenz des ganzen Geschiebes wird auf Seite 233 gezogen: „Ich will wohl nur einen gutaussehenden Mann für hirnlosen Spaß in der Kiste.“ In Ordnung. Dann tut’s doch einfach. Aber müsst ihr uns damit dermaßen zuschwallen?

Nicholson Baker: „Haus der Löcher“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, 317 Seiten. 19,95 Euro.




Das Wort zum Wochenende

 

Westfalenstadion Dortmund, Südkurve, beim Spiel BVB - Hannover 96 am 2. April 2011 (Foto: Bernd Berke)

Westfalenstadion Dortmund, Südkurve, beim Spiel BVB - Hannover 96 am 2. April 2011 (Foto: Bernd Berke)

Es waren die Wochenenden, die vor langer Zeit viel erlebnisreicher waren.

Schon freitagabends ging es los, meist pünktlich um 20.30 Uhr. Bis zum Sonntagabend hielt dieses schier unbeschreibliche Gefühl an. Es waren junge Männer, die uns in den Bann zogen. Junge Männer in kurzen Hosen und Kniestrümpfen, farbenfroh gekleidet, im liebevollen Umgang mit einer Lederkugel. Dazu pfiff ein gestrenger Herr ein fröhliches Liedchen. Man nannte ihn zärtlich „Schiri“.

Wer erinnert sich nicht mit viel Wehmut an Szenen, wenn z.B. einer dieser tüchtigen Kerls seinen Schlappen ausfuhr zur Blutgrätsche? Oder gar den Ellenbogen in Richtung Halsschlagader? War das ein heiteres Bodychecken (Körpertasten)! Wir saßen alle um das bengalische Feuer, zusammen mit eifrigen Kuttenträgern, die ihrerseits ebenfalls immer bereit waren zum intensiven Körpertasten. Stimmungsvolle Choräle begleiteten das festliche Hochamt.

Die Messe dauerte in der Regel 90 Minuten, unsere Monstranz nannte sich Tabelle. Wir alle waren tiefgläubig.

Nun sind die Wochenenden trist und leer. Schon seit langer Zeit sind wir auf der Suche. Wo ist der Sinn, der Halt, der Anstoß?

Oh Herr, gibt sie uns zurück! – die LIGA!




Bob Anderson: Der Mann, der Darth Vader war

Wer kennt Bob Anderson? Ich bin mir sehr bewusst, dass es auf diese Frage nur sehr wenige gescheite Antworten geben wird. Sporthistoriker mögen auskramen, dass unter seiner kundigen Säbelführung die britische Fechtequipe 1952 bis ins Viertelfinale vorstieß, er als Einzelfechter allerdings nur die Vorrunde überstand. Militärkundige des Königreichs mögen vielleicht Erinnerungen daran entstauben, dass dieser Bob Anderson während des Zweiten Weltkrieges – vielleicht ein wenig anachronistisch – Fechtunterricht auf Kriegsschiffen erteilte. Ganz Kundige, die etwas von Kino verstehen, könnten indes pistolenschussartige antworten: „Das war doch der Typ, der als betagter Knopp mit dem Laserschwert als Darth Vader herumfuchtelte.“

Ja, das war Bob Anderson, der am Neujahrstag 2012 ganz leise von der Lebensbühne abtrat und urplötzlich noch einmal das Nachrufinteresse ernst zu nehmender Medien auf sich zog. Nach Krieg und Sportlerkarriere zog es ihn nach Hollywood, den Stars beizubringen, wie man ebenso elegant wie glaubwürdig seine Gegner mittels Degenklinge ins geschauspielerte Jenseits befördert. Errol Flynn beispielsweise, den er so hart ran nahm, dass er ihn richtig verletzte, was ihm den bissig-bewundernden Beinamen „Mann, der auf Errol Flynn einstach“ eintrug. Doch Flynn dankte ihm das harte Training mit unvergleichlichen Fechtszenen, die er als gern gebuchter Held in Unterhosen ablieferte.

Auch hier schwingt Darth Vader das Laserschwert: Dreier-DVD-Box von George Lucas' "Star Wars" (Trilogie IV-VI). (Copyright: Twentieth Century Fox Home Entertainment/Amazon)

Auch hier schwingt Darth Vader das Laserschwert: Dreier-DVD-Box von George Lucas' "Star Wars" (Trilogie IV-VI). (Copyright: Twentieth Century Fox Home Entertainment/Amazon)

Bob Anderson stieg zum nachgefragten Stuntman und Trainer auf. Er machte später Kiefer Sutherland ebenso wie Charlie Sheen zu unschlagbaren Musketieren, machte Orlando Bloom und Johnny Depp zu filigranen Klingenakrobaten, ließ den völligen Fecht-Dilettanten Viggo Mortensen im „Herrn der Ringe“ heldenhaft aussehen – Bob Anderson war damals schon 80 Jahre alt.

Ja, und er gelangte zu schier ewigem Ruhm als er ausgerechnet mit einem plastilinen Leuchtprügel unter George Lucas in Star Wars kurzerhand für David Prowse einsprang, weil der partout nichts Gescheites mit dem Laserschwert anfangen konnte. Lucas wollte eigentlich Andersons Anonymität bewahren, aber Mark Hamill, der den Luke Skywalker gab, konnte nicht an sich halten und lüftete das Geheimnis: Aus ehrlicher Bewunderung für die Arbeit des „mürrischen Bob“, wie er wegen seiner perfektionistischen Trainingshärte gern genannt wurde.




Revierderby

Über das Derby an und für sich ist eigentlich alles gesagt. Die Formkurvenverläufe von Borussia Dortmund und Schalke 04 sind ebenso bekannt wie die jeweilige Verletztenliste. Alle Statistiken wurden abermals umgewälzt und liegen abrufbereit in den Datenspeichern. Mit teils absurdem Zahlenstoff füllen TV- und Hörfunkreporter dann wieder das Vakuum, wenn eine Palaver-Pause „drohen“ sollte. Ach, wie gut könnte man da auf manchen Wortschwall verzichten!

Auch die Prähistorie des Fußballklassikers im Revier ist wahrlich hinreichend aufgearbeitet worden. Heute finden sich, vorzugsweise in der regionalen Presse, mal wieder Rückblicke bis in die Vorkriegszeit, als Schalke dominierte. Seit den späten 40er Jahren hatte Dortmund meist mehr Erfolg. Doch wem sage ich das?

Zum Ritual gehört das ständige Kokettieren mit der alten Rivalität. In den Tagen vor dem Derby gibt es z. B. erfahrungsgemäß bei jeder hiesigen Pressekonferenz (wovon sie auch immer handle) eine neckische Anspielungen aufs Match, auch bei den meisten anderen Zusammenkünften ist dies eine Standardsituation. Selbst fußballfernste Geister geben sich auf solch augenzwinkernde Weise leutselig und volksnah. Man muss dann nur ganz arglos Worte wie „Gelb“ oder „Blau“ sagen – und schon wird wohlig wissend gefeixt.

Gelb vs. Blau - hier mit Fingerfarben (Bild: Bernd Berke)

Gelb vs. Blau - hier mit Fingerfarben (Bild: Bernd Berke)

Mal eben Schluss mit dem preiswerten Grinsen. Um das Selbstverständliche zu sagen: Gewalt zwischen beiden Fangruppen ist von Übel. Neuerdings trifft man ja feinsinnige Unterscheidungen etwa zwischen Hooligans und Ultras. Bitte, bitte, wenn es der soziologischen Wahrheitsfindung dient… Es ist allerdings gleichermaßen schmerzhaft; egal, von wem es was auf den Schädel gibt. Schon das Unwort „Zecken“, mit dem viele Schalker den BVB belegen, müsste gebannt werden. Klar doch: Beim Widerpart klingt auch nicht alles zivilisiert.

Freilich sollte man die traditionelle Gegnerschaft nicht weichspülen oder verwässern. „Der Bessere möge gewinnen“ ist der ewige Schnarchsatz für Schlafmützen. Natürlich sollen „unsere“ den Sieg davontragen. Wer denn sonst?!




Teil einer Massenbewegung sein

Wollten Sie schon immer Teil einer Massenbewegung sein? Nein? Ich auch nicht. Dann ist eine „Kritische Masse“ sicher genau das Richtige. Am Wochenende gab es in Dortmund Gelegenheit, auszuprobieren, wie es sich anfühlt: Critical Mass!

Was das sein soll? Das kann wikipedia besser erklären: „Critical Mass (Kritische Masse) ist eine international verwendete Aktionsform, bei der sich mehrere nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer scheinbar zufällig und unorganisiert treffen, um mit gemeinsamen und unhierarchischen Protestfahrten durch Innenstädte mit ihrer bloßen Menge und ihrem konzentrierten Auftreten auf ihre Belange und Rechte gegenüber dem motorisierten Individualverkehr aufmerksam zu machen.“

Kurze Party auf dem Wall auf Höhe des Hauptbahnhofs.

Kurz gesagt, Critical Mass ist eine Demonstration auf dem Fahrrad für das Fahrrad, wobei die Demonstranten weder Forderungen auf Plakaten erheben noch lautstark skandieren, sondern höchstens dann und wann ihre Klingel betätigen. Die Teilnehmer machen sich eine Lücke in der Straßenverkehrsordnung zu Nutze, die es erlaubt, ab einer bestimmten Anzahl im Verband zu fahren – also bei ausreichender Menge auch die komplette Fahrbahnbreite einzunehmen. Genau das taten die rund 300 Menschen, die sich am Samstag um 15 Uhr auf dem Friedensplatz versammelten.

Ein junger Mensch mit Megaphon erklärte vor dem Start noch schnell die Regeln: Immer schön hintereinander bleiben, Ampelzeichen einfach gar nicht beachten, die Vorderen geben die Richtung an, jeder fährt auf eigene Verantwortung. Dann geht es ab auf den Wall.

Ein Blick über den Friedensplatz: Wer ist noch dabei? Da sind Fahrerinnen im Seniorenalter und gut behelmte Zehnjährige. Da sind langhaarige Männer mit Plastikblumen am Rad und junge Männer mit nackten Oberkörpern. Einige tragen riesige, wummernde Lautsprecher in Rucksäcken auf dem Rücken, andere ihre Kinder auf dem Gepäckträger. Ich sehe Hollandräder und Mountainbikes, Liegeräder und Rennräder, Lastenräder und Fahrräder mit extra breiten Reifen, die wie die Velo-Version eines Choppers aussehen, Tandems und Klappräder, eigene und von metropolradruhr geliehene Räder.

Gewummer vom Rücken statt aus dem Kofferraum.

Auf dem Wall geht es rechts herum Richtung Dortmunder U. Leise Enttäuschung: Die Polizei ist ja dabei! Dabei muss eine Critical Mass gar nicht wie eine Demo angemeldet werden. Bald merke ich, dass das schon besser ist: Es lassen sich sicher nicht alle Autofahrer gerne von einer Horde siegessicher grinsender Radfahrer demütig in die Warteposition versetzen. Da verschafft die Präsenz der grün-weißen Motorräder doch ein wenig mehr Sicherheit. „Bitte fahren Sie nur auf der rechten Spur, denken Sie an Ihre eigene Sicherheit“, erinnert der freundliche Polizist die Radfahrer wieder und wieder, doch der Hinweis nutzt nur am Anfang. Spätestens auf Höhe des Hauptbahnhofes wird die kritische Masse euphorisch. Wir besetzen nun alle drei Fahrspuren, klingeln wild und winken den wartenden Menschen an Fußgängerampeln und in Autos. Es dauert sicher drei Ampelphasen, bis die bunten Bicyclisten vorbeigezogen sind und der Verkehr seinen gewohnten Gang gehen kann.

Nach einer Ehrenrunde um den Wall biegen wir auf die Münsterstraße ab und fahren über die Mallinckrodtstraße bis zum Borsigplatz – der Höhepunkt der Tour! Wieder und wieder umrunden wir den Kreisverkehr, ungeachtet der Aufforderung der Veranstalter, nach einer Runde umzukehren. Ein Siegesgefühl wie bei der BVB-Meisterfeier greift um sich. Anwohner hängen an den Fenstern, Ladenbesitzer staunen und winken, Jugendliche schnappen sich ihre Skateboards und fahren kurzerhand mit.

Rückfahrt vom Borsigplatz.

Zurück geht es über die Bornstraße, wieder auf den Wall und dann über die Hohe Straße durchs Kreuzviertel. Die kritische Masse ist seit dem Start sicher um einige Dutzend Menschen gewachsen, da sich zufällig des Weges kommende Radfahrer kurzerhand angeschlossen haben. Aus den Lautsprechern kommt HipHop und Elektronisches, und wer kann, versucht auf dem Fahrrad mitzuwippen. Es macht Spaß! Die Freude rührt allerdings weniger daher, Teil einer sinnvoll-friedlich-kritisch protestierenden Masse zu sein. Es ist die pure Lust an der Rache. Rache an all den  ignoranten Autofahrern, die mir als Radfahrerin regelmäßig die Vorfahrt nahmen, mich schnitten, mich gefährdeten, mich nervten. Macht den Motor aus und hört unsere Klingeln!

Die Critical Mass Dortmund findet jeweils am zweiten Samstag des Monats statt. Los geht’s um 15 Uhr auf dem Friedensplatz.




Gestern im Skatverein – Stichprobe zu Medienbehauptungen in Sachen Frauenfußball

Gestern im Skatverein Johannestaler Buben Bottrop e. V.; viele dort sind fußballinteressiert oder -begeistert; alle davon schauen, na klar doch, die Frauenfußballweltmeisterschaft, einige sogar alle Spiele. Keine Spur von männlicher Arroganz, Herablassung oder Häme. Ganz anders als verschiedentlich in den Medien oder bei Facebook behauptet. Ganz entspannt und teils mit unverkennbarer Hochachtung werden die Spiele besprochen und begutachtet. Ganz selbstverständlich wechselt das Gespräch zum Montagsspiel der U17 der Männer gegen England und ganz selbstverständlich wieder zurück zu den Frauen. Gleichberechtigung im Fußball ist hier kein Thema.

(Foto: Bernd Berke)




Hungerast?

PyrenäenDer Hungerast ist wie eine Wand,
die steht vor dir, erbarmungslos.
Man friert. Die Beine werden schwach.
Man schimpft.

Dort oben hört einen niemand.

Da kann man schimpfen, man kann bitten, man kann flehen.

Irgendwo um 2000 Meter,
da oben am Tourmalet, am Großglockner, am Furka oder Grimselpass,
wo kein Baum mehr steht, da fängt es an zu schneien.
Man hat keine Winterreifen und auch keine 50 000 Euro
von Milchschnitte.
Man hat eigentlich keine Schnitte.

Das Zelt ist vom Discounter, die Handschuhe hat Omma gestrickt.
So ist man also im Berg.
Kein GPS.
Kein Begleitfahrzeug.
Nicht mal einen Besenwagen, der einen einsammelt.

Freunde der Tour de France kennen den Besenwagen.

Das letzte Gefährt, welches gescheiterte Profis oder solche,
die sich für Profis halten einsammeln und ins Hotel fahren.
Zur Massage ins Hotel.
Entspannungsbad.
Thai-Massage.
Ich meine eine Thailänderin im Nebel zu sehen,
„May Lin, hier bin ich !
Oh gute Bergfee, rette mich…!“

Aus der Lesung – Unterwegs –

vom Mittelmeer zu den Pyrenäen

Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Erfüllter Wunsch

So ist das vielleicht mit allen erfüllten Wünschen: Auf einmal fehlt der ganz große Glanz, der schon seine funkelnden Vorboten ausgesandt hatte und den man sich vorher aus der Ferne erhofft hatte.

Nicht, dass nun alles schal schmeckte. Doch man muss von den ersehnten 100 Prozent etwas abziehen. Wieder mal keine Apotheose. Die Vorlust war abermals größer als die die Erfüllung.

Wer wird denn da an Erotik denken?

Es sei dargetan am banalen Beispiel: Gesetzt den Fall, man hätte die ganze Saison über, Spiel für Spiel, mit einem Fußballverein gefiebert (nennen wir ihn mal probehalber Borussia Dortmund), und der würde am Ende tatsächlich obsiegen, so wird sich in alle Freude etwas ernüchternd Prosaisches mengen. Kann es sein, dass viele just eine Ahnung dieses Gefühls mit Alkohol betäuben? Dass sie die keimende Enttäuschung niedergrölen?

Sowieso hat der gute Goethe auch dazu seinen Senf gegeben. Oft zitiert, nie erreicht: „Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.“ Was soll man dagegen einwenden? Der Teufelskerl hat’s mal wieder auf den Begriff gebracht. Und Schopenhauer hat steigernd gewusst: „In einem Schlaraffenland würden die Menschen zum Teil vor langer Weile sterben oder sich aufhängen.“ Zum Teil.

Deutsche Meisterschaft im Fußball. Bei Licht betrachtet, mag es reichlich läppisch sein. Es gilt doch, die Welt vorm Niedergang zu retten. Utopien harren der Verwirklichung, so dass Tore, Punkte und Tabellen vergleichsweise kläglich gering anmuten. Ja, sagt das mal den Leuten, die jetzt bis in den Morgen feiern.

Ich habe heute in dieser Stadt viele glückliche Gesichter gesehen. Auch bei Menschen, die sonst wahrlich nichts zu lachen haben. Selbst ein Mann, der seine ganze Habe in einer Tüte mit sich tragen kann, lächelte selig vor sich hin. Besitzt er auch so gut wie nichts, so bleibt ihm doch diese frische Zuversicht. Ihm solche Spurenelemente von Lebensmut nehmen zu wollen, wäre zynisch. Doch kann es nicht dabei bleiben. Doch muss da erheblich mehr kommen. Doch reicht das beileibe nicht aus.

Ach, wie unvermischt war unsere Freude noch, als wir Kinder gewesen sind. Wie sehr waren wir jäher Absturz und erneutes Auffahren! Was ist daraus geworden?

Und jetzt?




LiteraTour de France

2003. Als man irgendwie noch an die Tour de France glaubte.

Schreibwettbewerb zur Tour.
Jeden Tag in die Tasten hauen.
Es ging um Punkte und Sekunden.

Jeden Tag eine Etappe beschreiben.

Nach Zieldurchfahrt, direkt ans Schreibgerät,welches zum Sportgerät wurde…

Klangvolle Namen, malerische Orte.

In Schweiß gebadet.
Bergziegen, Sprinter, Wasserträger.

20 Etappen.

Schreiben wie ein Uhrwerk.
Der großen Schleife Tribut zollen.
Wenn die schwitzen, schwitze ich auch.

Schreiben kann knüppelhart sein…
Auch dort lauern Anstiege,
schier endlose Serpentinen,
so unverschämt steil,
dass man nach Luft ringt.

Es heißt nicht umsonst, in den Bergen wird die Tour entschieden…




Fuchteln für den Vorteil

Eine Fußball-Untugend geht mir zunehmend auf den Geist, auch weil sie weit über den Sport hinausreicht und vom Zustand der Gesellschaft zeugt.

Ist eine Szene noch im Gange oder gerade vorbei, wird sofort (in Zehntelsekunden-Schnelle) ein Vorteil für die eigenen Farben reklamiert. Schon vollends automatisiert sind die Gesten, mit denen Spieler immer gleich lauthals Einwurf, Ecke oder gar Elfmeter „für uns“ fordern. In hitzigen Spielphasen wird fast in jeder Situation derart wild gestikuliert und dramatisch gefuchtelt. Also nicht, weil die Protagonisten tatsächlich glaubten, sie lägen richtig, sondern just, weil der Schiedsrichter beeinflusst werden soll. Auch will man so die Emotionen der eigenen Fans anstacheln. Die wahrhaftigen Anhänger, so wäre zu hoffen, sähen ihr Team lieber ohne solche Hampelei gewinnen. Es wirkt ja auch doppelt lächerlich, wenn sich stets alle Hände recken und simultan für beide Teams Freistöße & Co. anmahnen.

Ebenso ist es nach rüden Fouls international kläglich üblich, mit beiden Händen eine Kugelform anzudeuten. Will heißen: „Ich habe doch den Ball getroffen, da hinten rollt er.“ Mag sein. Doch daneben windet sich der ebenfalls oder ausschließlich getroffene Gegenspieler. Es sei denn, der hätte (um mal eben zwei Vogelarten ins Spiel zu bringen) lediglich eine „Schwalbe“ vollführt und mimte den „sterbenden Schwan“. Ich fürchte, dass schon manche erfolgshungrigen Kindermannschaften darauf getrimmt werden, auf solch hinterhältige Art Vorteile zu schinden.

So. Das wär’s. Nur eins noch: Rote Karten für alle fiesen Widersacher und ein paar Elfer ohne Torwart für mich, mich, mich! Sonst gibt’s was auf die…




Afrika und die Magie des Fußballs

Wohl kein anderer deutscher Journalist kennt sich mit Afrika u n d mit Fußball so gut aus wie Bartholomäus Grill, von 1993 bis 2006 und neuerdings wieder Afrika-Korrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“. Im Vorfeld der Fußball-WM 2010 in Südafrika ist jetzt sein Buch „Laduuuuuma!“ erschienen. Das Titelwort ist der immens lang gedehnte Torschrei am Kap der Guten Hoffnung – etwa vergleichbar dem exzessiven „Gooooooooool!“ in Brasilien.

Grill hat sein Buch jetzt in Dortmund vorgestellt, zünftig in der Stadion-Gaststätte „Strobels“. In diesem Dunstkreis fühlt sich der 1954 geborene Bayer (er stammt aus Oberaudorf wie z. B. die Herren Stoiber und Schweinsteiger) ein wenig zu Hause, ist doch Borussia Dortmund seit dem Europapokalsieg 1966 sein Lieblingsverein. Gutes Beispiel für Globalisierung: Auch in entlegenen Winkeln Afrikas sind ihm schon Einheimische im BVB-Trikot begegnet. Ich geb’s freimütig zu: Als Dortmunder gehen mir solche Vorfälle zum schwarzgelben Herzen.

Nun aber zur Sache. Grill findet, auf keinem anderen Kontinent sei man derart fußballverrückt wie in Afrika. Die Menschen wissen dort nicht nur mit den eigenen Vereinen Bescheid, sondern mindestens ebenso sehr mit der englischen Premier League oder Erstligisten in Spanien, Italien, Deutschland oder Holland, wo jeweils etliche afrikanische Stars ihr Geld verdienen. Selbst mit den härtesten Gangsterbossen in Townships wie Manenberg (mörderische no-go-area, in die sich Grill zu Recherche-Zwecken dennoch gewagt hat) könne man oft immer noch ein Gespräch über Fußball anknüpfen. Verblüffender noch: Als dem Autor im Kongo unversehens ein sichtlich aggressiver, bis an die Zähne bewaffneter Soldat begegnete, habe die bloße Erwähnung des Namens Ballack für Entspannung gesorgt. Das muss man sich für Wechselfälle merken.

Wie schätzt Bartholomäus Grill die im Hinblick auf die WM oft warnend beschworene Kriminalität in Südafrika ein? Nun, die Zahlen (rund 50 Morde am Tag) seien wirklich verheerend. Allerdings seien so gut wie nie Touristen die Opfer, sondern überwiegend (zu rund 70 Prozent) Schwarze aus armen Vierteln. Bei Grill klingt diese Einschätzung nicht zynisch, sondern realistisch und pragmatisch.

Die Darstellung in den hiesigen Medien sei indes fast immer ungerecht. Typisches Beispiel: Als die ARD-Tagesthemen kürzlich von der Gruppenauslosung zur WM berichteten, sei sogleich ein Kontrast-Schwenk über brennende Hütten vollführt worden. Grill: „Das ist ungefähr so, als hätten afrikanische Sender bei der Auslosung für die WM in Deutschland Skindheads gezeigt, die einen Obdachlosen totschlagen.“ Die eingefahrenen Wahrnehmungs-Muster westlicher Journalisten in Afrika liefen meist auf Not, Elend und Gewalt hinaus. Dabei werde dort ebenso gelebt, gelacht und geliebt wie überall auf Erden. Überhaupt: Selbst wohlmeinende Ratschläge „weißer Gutmenschen“ seien oft eher hinderlich.

In seinem erzählfreudigen und informativen Buch schildert Grill die enorme Bedeutung des Fußballs für Afrika, stets verknüpft mit geschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen (bis hin zur Diktatur des Schlächters Idi Amin), doch auch der gut platzierten, süffigen Anekdote nicht abhold. Man glaubt es schließlich gern: Es ist wohl tatsächlich ein Königsweg, um den Erdteil ein wenig zu verstehen, wenn man sich über den Fußball nähert. So ist zwar einerseits der Sport vielfach ebenso von Korruption durchsetzt wie ganze Staatengebilde, auch gibt es üblen Menschenhandel mit jungen Kickertalenten.

Doch beim Zusammenwachsen einer (vordem durch die Apartheid zutiefst gespaltenen) Nation wie Südafrika ist die Bedeutung von Fußball und Rugby eben auch kaum zu überschätzen. Nichts weckt solche Gefühlswallungen, nichts kann im besten Falle so sehr zusammenschweißen. Was Deutschland anno 1954 bewegt hat („Das Wunder von Bern“), hat Südafrika 1995 mit dem Sieg bei der Rugby-WM und 1996 als Afrikameister im Fußball erlebt. Heute allerdings, so Grill, dürfte das Gastgeberland das „mit Abstand schwächste Team“ aller 32 Teilnehmerländer stellen.

Eines der spannendsten Kapitel handelt mit drastischen Beispielen von Okkultismus und Magie: Der in ganz Afrika verbreitete Aber- und Hexenglaube, der mitunter sogar zur Lynchjustiz führt, lässt sich eben auch anhand des Fußballs illustrieren. Pavianpfoten, Krötenherzen, Rattenfelle oder allerlei Pülverchen sollen siegreiche Wunschergebnisse herbeizwingen. So mancher Zauberer ist auf diesem Gebiet tätig. Auf großen Fetisch-Märkten ist das bizarre Zubehör käuflich zu erwerben. Selbst wenn hiesige Fans schon mal verzückt den Rasen küssen: Welch nüchterne Verlässlichkeit scheint hingegen in der Bundesliga zu herrschen…

Die Frage, die keinesfalls fehlen darf: Wer gewinnt nach Grills Meinung das Turnier 2010? Er nennt ein Wunschfinale der kultiviertesten Spielkunst: Spanien gegen die Elfenbeinküste. Letztere möge dann mit 2:1 gewinnen.

Wenn das exakt so eintrifft, bin ich auch geneigt, an Geister zu glauben.

Bartholomäus Grill: „Laduuuuuma! – Wie der Fußball Afrika verzaubert“. Verlag Hoffmann und Campe. 256 Seiten. 20 €.

Gekürzte Fassung unter gleichem Titel auch als Hörbuch (gelesen von Andreas Pietschmann), ebenfalls Hoffmann und Campe, 2 CDs, 20 €.




Kleine Fluchten mit Faltboot

Zusammengelegt passt das Faltboot in einen mittelgroßen Rucksack. Mit ein wenig Geschick ist es in etwa 20 Minuten gebrauchsfertig montiert, der Rekord wurde bei einem Aufbau-Wettbewerb mit 6 Minuten gestoppt.

In den 1930er und den 1950er Jahren rief das Sportgerät wahre Massen-Bewegungen hervor. Es ermöglichte die „kleinen Fluchten“ an den damals noch kurzen Wochenenden – ein frühes Signal für die gerade erst als solche wahrgenommene und gestaltete Freizeit. Ohne diese Boote hätte sich auch das Campingwesen nicht so rasant entwickelt. Wenn man den ganzen Tag gepaddelt hatte, wollte man abends entlang der Wasserläufe übernachten. Also mussten Zelte und Zubehör mit ins Gepäck.

Das Herner Emschertal-Museum präsentiert jetzt im Schloss Strünkede Ausstellung rund um das populäre Wasserfahrzeug. Motto ist die einst im Werbespruch verwendete, treuherzige Aufforderung „Fahr fröhlich in die weite Welt…“ Es zeigt sich mal wieder: Man kann aus sämtlichen Gegenständen und Lebensbereichen eine Kulturgeschichte des Alltags gewinnen, so auch aus dem (Eschen)-Holzskelett mit Klappscharnieren und Stoffbespannung.

Experten wie der Sammler Markus Heise aus Willich bei Mönchengladbach, aus dessen einzigartiger Kollektion die kleine Herner Schau bestückt wurde, können stundenlang angeregt über die Materie reden. Auch Dr. Rainer Söntgen vom Mitverstalter Concultura GmbH (Bonn) kennt viele spannende Geschichten zum Thema. Ohne kundige Führung hat man leider nicht gar so viel von den Exponaten, zu denen z. B. zwölf historische Boote, ein umfangreiches Zelt-Ensemble der 30er Jahre, etliche alte Reklameprospekte und einschlägige Belletristik („Drei Mädel und ein Paddelboot“) gehören.

Erste Entwicklungsarbeiten waren zwar schon in England und Schottland geleistet worden, doch auf Dauer erwies sich das Faltboot vorwiegend als deutsche Angelegenheit (weshalb sich auch die Nazis der an sich harmlosen Begeisterung perfide bedienten). Engländer ruderten lieber, anstatt in Kajak oder Kanu zu paddeln, Holländer setzten die Segel, und Franzosen bevorzugten die „Kanadier“-Bootsform (großes Paddel taucht nur an einer Seite ein). Die Klassenfrage stellte sich auch: Faltboote sind – auch wegen der anfangs recht hohen Preise – vor allem eine Domäne bürgerlicher, akademischer Kreise gewesen. Arbeiter versuchten es gelegentlich mit der günstigen Marke Eigenbau.

Als eigentlicher Erfinder der zusammenklappbaren Boote gilt der Architekturstudent Alfred Heurich, der am 30. Mai 1905 mit einem Prototyp die Isar von Bad Tölz bis München befuhr. Er lernte kurz darauf den Rosenheimer Schneider Johann Klepper kennen, der bis dahin vor allem Skikleidung angefertigt hatte und nun half, die Boots-Idee marktreif zu machen. Beim Namen Klepper klingelt was: Klepper-Faltboote waren alsbald und sind bis heute die deutschen Branchenführer auf diesem Sektor.

Schon 1914 (kurz vor dem Ersten Weltkrieg) wurde der Deutsche Kanu-Verband gegründet. Der erste ganz große Aufschwung kam um 1920 im Zuge der Wandervogel-Bewegung. Auch FKK-Anhänger (siehe Illustration) ließen sich nicht lange bitten.

In den 30er Jahren gab es bis zu 65 deutsche Werften, die (auch) Faltboote fürs „Wasserwandern“ herstellten, heute sind noch ganze zwei übrig. Denn längst haben leichte Plastikboote die hölzernen Faltlinge verdrängt. Vor allem mit dem massenhaften Aufkommen der Privat-Pkws in den 60er Jahren schwand der Faltboot-Absatz, denn nun konnte man ja komplette Boote aufs Autodach schnallen oder im Hänger transportieren. Daraus kann man indirekt auch schließen, dass sich die Faltboote in der DDR ein wenig länger gehalten haben als im Westen.

Zwar kommt man in der Regel nur mit 6 bis 8 Stundenkilometern voran, doch können Faltboote durchaus für athletische Action und Abenteuer herhalten: Ein Schotte wagte sich bereits kurz nach 1900 mit einem Faltboot-Vorläufer auf die Ströme Euphrat und Tigris. Erfahrene oder auch tollkühne Paddler riskieren Ostsee-Touren, Überfahrten nach Helgoland, Überquerungen des Ärmelkanals, Atlantik-Trips oder Wildwasserfahrten auf reißenden Gebirgsbächen.

Schon der Rhein ist für Anfänger zu schwierig. Novizen sollten ihr Können deshalb erst einmal auf Kanälen erproben. Da gibt es gerade auch im Ruhrgebiet so manche taugliche Strecke. Die gemütlichere Variante der Kanufahrt wird auf dem Museumsfaltblatt „binsenbummelnd“ genannt. Man kann sich was drunter vorstellen.

Alles nur reine Nostalgie? Nicht unbedingt. In letzter Zeit zeichnet sich sogar – etwas hochtrabend gesagt – eine „Renaissance“ ab, die sich ökologisch begründen ließe, aber auch mit weltweiter Mobilität zu tun hat. Man kann solche Boote nämlich per Rucksack auf Fernreisen mitnehmen und dann etwa in Kanada, Alaska oder auch Asien zu Wasser lassen.

Auch die Eskimos haben gehörigen Anteil an diesem Bootswesen. Zum einen stammt das Wort Kajak nicht von ungefähr aus ihrer Sprache, zum anderen gibt es jene furiose „Eskimo-Rolle“ (seitwärts kopfüber kentern und auf der anderen Seite wieder hochkommen), die man vielleicht trainiert haben sollte, bevor man sich auf heiklere Strecken traut.

Das vorgeschriebene Mindestalter für (allein paddelnde) Kanuten ist übrigens 14 Jahre. Und noch eine Bestimmung: Jedes Boot muss einen deutlich sichtbaren Namen haben. Besagte Firma Klepper lieferte zeitweise sogar Sekt in Piccolo-Fläschchen zur Bootstaufe gleich mit dazu.

„Fahr fröhlich in die weite Welt…“ Zur Geschichte des Faltboots. Ausstellung des Emschertal-Museums Herne im Schloss Strünkede (Karl-Brandt-Weg 5). Bis zum 4. Oktober 2009. Geöffnet Di-Fr 10-13 und 14-17 Uhr, Sa 14-17 Uhr, So 11-17 Uhr. Eintritt: Erwachsene 1 Euro, Kinder 0,50 Euro. Tel. Museum 02323/16-1072.




Die Kultur umarmt den Fußball – Über die Deutsche Akademie für Fußball-Kultur

Vor dem EM-Endspiel noch mal kurz innehalten – und über Fußball und Kultur nachdenken. Manche bezweifeln ja immer noch, dass es solche Querbezüge gibt. Sie haben vielleicht noch nie von Lebens- und Alltagskultur gehört. Bei der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur in Nürnberg weiß man es besser. Nachgefragt bei Günter Joschko, Projektleiter der renommierten Einrichtung.

Wie ist das beispielsweise mit der oft beschworenen Spielkultur? Hat die EM neue Erkenntnisse gebracht? Joschko: „Auch hier erleben wir Globalisierung. Stilistisch gibt es weltweit eine Tendenz zur Angleichung.” Die Champions League, so Joschko, gebe mit rasantem Vereinsfußball vor allem der englischen und spanischen Spitzenclubs die Richtung vor. Dann versuche man es überall nachzumachen. Fast schon beängstigender Trend: immer schneller, immer kombinationssicherer. Ob das stets mit Kultivierung einhergeht?

Die Zeit der neuen
Fan- und Spielertypen

Zur Akademie für Fußball-Kultur gehören im losen Verbund Menschen zahlreicher Fachrichtungen. Soziologen sind vorwiegend am gesellschaftlichen Umfeld interessiert. Germanisten untersuchen sprachliche Weiterungen des Fußballs zwischen Fan- und Reporterdeutsch – bis hin zur hohen Literatur. Musikexperten analysieren Fangesänge. Philosophen wenden ewige Grundsatzfragen aufs Kicken an. Selbst Theologen sind dabei. Eigentlich kein Wunder, ist doch der Fußball eine Quasi-Religion unserer Tage und damit sozusagen eine Glaubensfrage.

Günter Joschko hat vor allem bei der letzten WM 2006 und der jetzigen EM beobachtet, wie sich die Spaßgesellschaft formiert: „Die Zahl der erlebnishungrigen Partygänger unter den Zuschauern ist enorm gewachsen. Das sind Leute, die kaum an taktischen Finessen interessiert sind, sondern am puren Event.” Der harte Kern der Kenner hingegen bleibe auf längere Sicht ungefähr gleich groß.

Der Stadionbau habe sich dieser Entwicklung angepasst. Joschko: „Die großen Arenen bieten heute Durchschnitts-Komfort und Rundum-Versorgung für alle – selbstverständlich auch für Frauen.” Der Fußball ist also längst in der ganz breiten Mitte der Gesellschaft angekommen und dabei – so unken Kritiker – auch etwas domestiziert worden.

Das deutsche Nationalteam, so meint Joschko, vereine heute ein breiteres Spektrum von Spielertypen als je zuvor. Die Mannschaft werde mehr und mehr zum repräsentativen Abbild der Gesellschaft. Umkehrschluss: Jeder kann sich seine passende Identifikations-Figur heraussuchen, jede Klientel wird fündig.

Lustige Vögel und Verantwortungsträger

Da gebe es sympathisch unbekümmerte, „lustige Vögel” wie „Poldi” und „Schweini”; aber auch ernsthaftere, „ausgesprochen gescheite Leute” (Joschko) wie Lahm, Mertesacker oder Metzelder, die über den Rand des Sports hinausblicken und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Damit liegen sie laut Joschko auf der Linie des DFB-Präsidenten Theo Zwanziger, der den Verband in dieser Hinsicht entstaubt habe.

Lang genug hat’s ja in Deutschland gedauert. In Spanien etwa war Fußball schon immer auch für Feingeister ein Thema. Hierzulande sind erst in den letzten 15 Jahren etliche Literaten, Künstler und Wissenschaftler auf den Zug aufgesprungen. Joschko: „Vorher war in diesen Kreisen das Reden über Fußball verpönt. Heute ist das völlig anders. Da sind Dämme gebrochen.” Kulturschaffende umarmen den Fußball nun so innig, dass ein gewisser Sättigungsgrad erreicht zu sein scheint. Man munkelt neuerdings von Trotzreaktionen: „Es gibt offenbar erste Rückzugstendenzen”, so Joschko.

Und das konkrete EM-Geschehen? Bekanntlich ist ja „entscheidend auf’m Platz”: Das Turnier sei für fast alle Mannschaften ein Auf und Ab gewesen, sagt Günter Joschko. Heute toll gespielt, beim nächsten Mal grottig – oder umgekehrt. Joschko: „Nur die Spanier haben ihr hohes Niveau gehalten.”

Beim Tippspiel der Akademie-Mitglieder waltete übrigens Skepsis. Gerade mal 18 von 75 Teilnehmern wetteten auf einen deutschen Titelgewinn. Nein, diese Kulturmenschen aber auch! Fehlt’s da etwa immer noch an der landläufigen Euphorie?

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INFO ZUR AKADEMIE

  • Die in Nürnberg ansässige Deutsche Akademie für Fußball-Kultur wurde 2004 gegründet.
  • Dahinter stehen als Mitglieder Institutionen wie das Goethe-Institut, das Grimme-Institut und der Volkshochschulverband.
  • Persönliche Mitglieder sind z. B. Django Asül (Comedian), Eckhard Henscheid, Albert Ostermaier (Autoren), Guido Knopp (Historiker), Renate Künast (Politikerin), Horst-Eberhard Richter (Psychologe) und Klaus Theweleit (Philosoph) sowie zahlreiche Journalisten und Professoren aller Fachrichtungen.
  • Die Akademie verleiht einen Fußball-Kulturpreis für die besten Fußballbücher, Fußballsprüche, das beste Spiel – und für einschlägige Bildungsprojekte.



Der Ball muss ins Buch – Lektüre zur EM

Zur Fußball-EM darf’s passende Lektüre sein. Auf dem Tisch liegt ein Stapel mit Neuerscheinungen. Das Spektrum reicht sozusagen vom Grottenkick bis zum legendären Match. Also hinein ins Strafraum-Getümmel, wo zunächst keine Treffer fallen – aber dann!

„Unsere Jungs” (Chronik Verlag, 198 S. Bildbandformat, 29,95 Euro) klingt schon im Titel ebenso kreuzbrav wie ‚ranschmeißerisch. Tatsächlich ist der DFB federführend an diesem Buch über 100 Jahre deutsche Länderspiele beteiligt. Der noch einfallslosere Untertitel („Tore, Titel, Triumphe” – fehlen nur noch die Tränen) gibt die Richtung vor: aufgewärmte Begeisterung aus dem Archiv, gedrucktes Ballgeschiebe.

Nicht viel trickreicher kommt das Mini-Buch „Fußball – Deutsch / Deutsch – Fußball” (Langenscheidt, 130 S., 5 Euro) daher. Männer, Frauen, Ärzte und Chefs wurden in der Erfolgsreihe schon sprachlich aufgegabelt. Bestenfalls Lektüre für Minuten: enorm kleinteilige Texte, immer hübsch bunt unterlegt und mit Promi (hier: Gerhard Delling) garniert. Irgendwie launig, aber nicht wirklich lustig. Leser und Fans werden klar unterfordert.

Monströs mutet das „Praxiswörterbuch Fußball” (Langenscheidt, 523 S., 16,95 Euro) an, in dem rund 5200 (!) Fachbegriffe auf Deutsch, Englisch und Französisch stehen. Wahrscheinlich ist es der ideale Lesestoff für international tätige Spieler, Schiris, Trainer – und ärztliche Betreuer. Schon gewusst, wie man Kreuzbandriss übersetzt? Bitte sehr: „cruciate ligament rupture” (engl.) und „rupture du ligament croisé” (frz.). Wer weiß, wann man’s braucht.

Pure Zahlen- und Faktenhuberei beschert „Deutschlands Fußball. Das Lexikon” (Herbig-Taschenbuch, 828 S., 20 Euro) mit 14 500 Einträgen und beigelegter CD-Rom (1400 Fotos). Von den zahllosen Pfeilen, die jeweils auf andere Stichworte verweisen, kann einem schwindlig werden. Gewiss nichts zum Schmökern, sondern höchstens zum Nachschlagen und Rechtbehalten bei Wetten.

Der österreichische Autor Franzobel sondiert in „Franzobels großer Fußballtest” (Picus Verlag, 240 S., 16,90 Euro) vor allem die Mentalität der gastgebenden EM-Nationen Österreich und Schweiz. Etwas speziell, aber bitteschön. Er tippt übrigens auf Italien, Spanien oder Frankreich und hofft auf Holland. Unentschlossener Hallodri!

Jetzt kommt der erste literarische Lattenkracher. Thomas Brussig (zuletzt bei „Berliner Orgie” in Rotlicht-Bezirken unterwegs) stimmt in „Schiedsrichter fertig” (Residenz Verlag, 92 S., 12,90 Euro) eine lange, absatzlose Klage-Litanei an: Der Schiri erscheint als bedauernswertes Neutrum in einer fanatisierten Welt, immerzu von lügnerischen Spielern bedrängt und oft gnadenlos ausgepfiffen. Ein Bild des Jammers.

„Titelkampf” (Suhrkamp Taschenbuch, 284 S., 8,90 Euro) heißt der Band, den die ebenso sprach- wie ballsichere Deutsche Autoren-Nationalmannschaft (so ‚was gibt’s! Moritz Rinke und Albert Ostermaier sind die „Stars”) beisteuert. Die gesammelten Geschichten und Gedichte schürfen oft erstaunlich tief und zeichnen prägnante Charakterbilder von Spielertypen und Fans. Willkürliches Reim-Beispiel: „Auf eines starken Bussards Flügeln / die Italiener niederbügeln.” Hoho! Das müssen die Holländer gelesen haben.

Als Nabokov und
Handke über
Torhüter schrieben

Hinterm nostalgischen Seufzer „Früher waren mehr Tore” (Diogenes-Taschenbuch, 302 S., 9,90 Euro) steckt eine erlesene Sammlung klassischer Stories und Buch-Auszüge – oft von ganz illustren Autoren. Vladimir Nabokov und Peter Handke haben z. B. über Torhüter geschrieben. Selbst Friedrich Dürrenmatt und Jaroslav Hasek („Schwejk”) kamen literarisch nicht am Leder vorbei. Ein Buch wie ein Sonntagsschuss. Die Vorentscheidung!

Den Siegtreffer per Fallrückzieher markiert freilich der unvergleichliche Ror Wolf, dessen gesammelte Fußball-Texte in neuer Ausgabe vorliegen: „Das nächste Spiel ist immer das schwerste” (Verlag Schöffling & Co., 300 S., 19,90 Euro). In langjähriger, besessener Feinarbeit (die er, gleichsam aus Selbstschutz, um 1982 abgebrochen hat) ist dieser Autor tief in die Mechanik der fußballerisch angetriebenen Sprach-Maschinerie eingedrungen. Collagen aus Reporter-Jargon und Fan-Gerede bringen das ganze Metier zur Kenntlichkeit. Großer Sport!

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WEITERE EMPFEHLUNGEN

Nick Hornby: „Fever Pitch – Ballfieber” (Kiepenheuer & Witsch, 335 S., 9,95 Euro). Fiktives Tagebuch eines Fans (FC Arsenal London). Fußball als harte Schule des Lebens. Hornby gilt seither als Kultautor.

Tim Parks: „Eine Saison mit Verona” (Goldmann-Taschenbuch, 520 S., 9,90 Euro). Italienische Ball- und Seelenkunde.

Theo Pointners Fußball-Krimis im Dortmunder Grafit-Verlag: „Rechts-Außen” (8,90 Euro) und „Tore, Punkte, Doppelmord” (8,40 Euro).

Martin Arnold (Hrsg.): „Abenteuer Fußball. Auf den Bolzplätzen dieser Welt” (Verlag Die Werkstatt, 224 S., 19,80 Euro). Reise zu exotischen Spielfeldern der Erde. Spannende Sozialstudie in Zeiten der Globalisierung.

Dietrich Schulze-Marmeling: „Holt euch das Spiel zurück. Fans und Fußball” (Verlag Die Werkstatt, 271 S. – vergriffen; übers Internet antiquarisch erhältlich). Erhellende Perspektive „von unten”. Vom selben Autor gibt’s Vereins-Historien, etwa über Borussia Dortmund.

Christoph Biermann: „Fast alles über Fußball” (Kiepenheuer & Witsch, 200 S., 9,95 Euro). Fleißig gesammelt: Komisches und Kurioses beim Kick.

F. C. Delius: „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde” (Rowohlt-Taschenbuch, 128 S., 6,90 Euro). Roman rund ums 1954er „Wunder von Bern” – aus Kinderperspektive erzählt.

Siobhan Curham: „Club der Fußballwitwen” (Droemer/Knaur, 8,90 Euro). Frauen nehmen Rache an Gefährten, die sich nur noch für Fußball interessieren. Gemein!




„Berliner Orgie“: Im schäbigen Garten der Lüste

Vor seinen Feldforschungen für dieses Buch hat Thomas Brussig nach eigenem Bekunden nie ein Bordell betreten. Das ganze Milieu der käuflichen Sexualität war ihm völlig fremd.

Der Autor wird in „Berliner Orgie” nicht müde zu betonen, wie unwissend und „unschuldig” er sich ans Thema herangepirscht habe. Er bescheinigt sich selbst „die köstliche Freiheit des Naiven” und stellt klar, dass es auch im Verlauf seiner jetzigen Recherchen kein einziges Mal zum Äußersten gekommen ist. Das hatte er vorher seiner Frau versprechen müssen. Ist ja schon gut. Jetzt wissen wir’s: Brussig („Sonnenallee”) ist offenkundig kein Asphaltdichter, sondern ein Gegenbild zu abgebrühten, szenekundigen Poeten wie etwa Wolf Wondratschek.

Brussig hat sich also staunend in diversen Rotlicht-Vierteln und Sexhandels-Bezirken der Hauptstadt umgetan. Seine Wege führen vom miesen Straßenstrich bis zum vermeintlichen Edelpuff, von der schummrigen Kontaktbar über die Escort-Agentur bis zum weitläufigen Swingerclub und in Porno-Kinos.

Die Namen der Stationen lauten branchenüblich verheißungsvoll: „Lustgarten”, „Sexyland”, „Artemis”, „La Folie”, „Tempel-Oase” oder „Villa Venus”. Doch hinter den glitzernden Fassaden sieht’s oft ganz anders aus. Wer hätte das gedacht? Mal ehrlich: Ein guter Journalist hätte mindestens ebenso tragfähige Ergebnisse erzielt. Doch Brussigs Name macht sich natürlich besser auf einem Buchdeckel. Wofür Schriftsteller sich früher allerdings geniert hätten: Er war im Auftrag des Berliner Springer-Boulevardblattes „B. Z.” unterwegs. Der Zeitungsverlag zahlte die Spesen. Problem des Autors: Fast überall war’s schwierig, Quittungsbelege zu bekommen. Jedenfalls erhoffte sich die Zeitung wohl knackige Resultate.

Die liefert Brussig freilich kaum. Vielfach schildert er redlich und nüchtern die schäbige Ödnis der Etablissements, in denen meist routiniertes Abzocken (Nepp mit Schampus & Co.) angesagt ist. Die Metropole Berlin erscheint dabei vielfach als trübes, ja nahezu „totes” Gelände – und das zur angeblich so brünstigen Zeit der Fußball-WM 2006. Vom Weltstadt-Knistern keine Spur. Aus Brussigs Streifzügen erwächst denn auch ein (weitgehend negativer) Stadtführer; stets werden die besuchten Adressen benannt.

Zuweilen gibt sich Brussig geradezu rührend gestrig. Herkömmliches „Anbaggern”, so meint er, bestehe hieraus: „Kreide fressen, Mit-Blumen-Antraben, den Romantiker mimen, Schwüre schwören usw.” Ist das wirklich noch so? Immer erst glühende Schwüre, bevor es lustvoll ins Bett geht?

Beim Sex für Geld hingegen, so Brussig, herrsche allemal Sachlichkeit. Hier hätten die Frauen das Heft in der Hand, sprich: Die Huren bestimmen die Regeln. Klingt fast nach Befreiung – und ist sicherlich nur der kleinere Teil der Wahrheit. Übrigens glaubt Brussig den Mädchen und Damen des Gewerbes auch ihre standardisierten Lebensgeschichten, als könnten es keine Legenden sein.

Nur zweimal lässt sich der literarische Berichterstatter zur Begeisterung hinreißen. Nach einem Stelldichein im Swingerclub sinniert er: „Die Orgien haben starken Eindruck auf mich gemacht.” Über ein anderes Lusthaus (ohne würdeloses Gefeilsche um die Preise) heißt es sogar euphorisch: „Ich habe die Zukunft der Prostitution gesehen.” Ob dieser starke Werbespruch dort wohl bald über dem Eingang prangen wird?

Thomas Brussig: „Berliner Orgie”. Piper Verlag. 205 Seiten. 16,90 Euro.