John Irvings Roman „In einer Person“: Ein junger Mann sucht seine sexuelle Identität

Schauspieler leben gefährlich. Vor allem wenn sie jung sind, fast noch ein Kind, und nicht nur früh den Verlockungen des Theaters, sondern sich auch der Vielfalt der Rollen erliegen.

Dass Männer in Frauenkleider schlüpfen (und umgekehrt) und dass eine faszinierend schöne Schauspielerin in Wirklichkeit ein hormonbehandelter ehemaliger Mann ist, lernt der pubertierende William Abbott jedenfalls schon sehr früh. Seine Mutter arbeitet als schlecht bezahlte Souffleuse am Theater der (fiktiven) Kleinstadt „First Sister“. Sein Großvater trägt auf der Bühne gern Frauenkostüme und warnt den jungen, ebenfalls zum Theater drängenden William, dass es für einen Schauspieler manchmal schwer ist, bei all den Rollen und Identitätsvariationen den Überblick zu behalten und noch zu wissen, wer und was man eigentlich ist.

Miss Frost, seine Lieblingsbibliothekarin, die William mit den Romanen von Dickens und den Dramen von Ibsen vertraut macht, verliert ihren Job, als bekannt wird, dass die große Diva der Laien-Theatertruppe des Ortes früher ein Mann war und heute junge Knaben sexuell verführt. Was für William eine durchaus erregende Erfahrung ist, wird im Ort zum riesigen Skandal. Spätestens da weiß William, dass er das miefige Provinzkaff erst einmal für eine Weile verlassen und herausfinden muss, was er vom Leben und der Kunst erwartet und wie er es schaffen könnte, seine sexuellen Leidenschaften für Mann und Frau, die sich bei ihm „In einer Person“ zu einem explosiven Amalgam vermischen, ausleben zu können.

„In einer Person“ ist nun bereits der dreizehnte Roman von John Irving. Und wie die meisten seiner Vorgänger verarbeitet auch das neue Buch wieder viele biografische Erfahrungen des Autors zu einer weit ausgreifenden literarischen Fiktion. Denn ob in „Garp“ oder in „Owen Meany“, „Zirkuskind“, „Bis ich dich finde“ oder „Letzte Nacht in Twisted River“: Immer ist auch ein Stück fiktionalisiertes eigenes Leben in den Romanen des Autors versteckt. Auch Irvings Mutter war Souffleuse am Theater, auch Irving liebt Dickens und Ibsen, auch Irving wurde als Jugendlicher von einer älteren Frau ins Sexleben eingeführt. Auch Irving ist Scheidungskind und hat viele Jahre gebraucht, bis er seinen leiblichen Vater wiedergefunden hat. Auch Irving ist, wie sein Held William Abbott, passionierter Ringer. Man könnte ewig so weitermachen.

Aber was besagt das schon über die Qualität und die Sprengkraft von „In einer Person“, diesem vorwitzig und freizügig erzählten Roman über die Faszination des Theaters, die Schwierigkeit individueller Identitätsbildung und die sexuelle Prüderie im Amerika der 50er und frühen 60er Jahre? Der Held und Erzähler William Abbott, der auf sein bewegtes Leben als Bisexueller zurückblickt, nimmt den Leser mit auf eine Reise ins Herz der Finsternis sexueller Befreiung: Denn auf die große sexuelle Sause der Schwulenbewegung der 70er Jahre folgte in den 80ern mit der Aids-Epidemie das große Sterben. Für William, der alle sexuellen Spielarten erprobt und das hippe Leben in New York und San Francisco genossen hat, wird es Zeit, wieder nach Vermont, in seine Heimat, zurückzukehren und dort, ganz im Stillen und Kleinen, zu versuchen, seine Träume von der der großen Liebe zu verwirklichen.

Dass Irving genauso so alt ist wie sein Erzähler und sich ebenfalls gern in den Naturschönheiten und Weiten Vermonts verliert, sollte den Leser nicht zum Kurzschluss verleiten, er sei mit William identisch. Im Gegenteil. Der Roman, das verriet Irving in einem Interview, sei eine Hommage und eine Liebeserklärung an seinen Sohn Everett. Der hatte sich 2009, gerade als Irving mit dem Schreiben des Buches begann, seinem Vater gegenüber als Schwuler geoutet. Vielleicht hat das dazu beigetragen, dass der filigran konstruierte und mit deftigem Humor erzählte Roman den Leser nicht nur glänzend unterhält und amüsiert, sondern auch, wenn Freiheit und Vorurteil, Lust und Tod eng beieinander sind, zutiefst berührt.

John Irving: „In einer Person“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Hans M. Herzog und Astrid Arz. Diogenes-Verlag, Zürich, 725 Seiten, 24,90 Euro.




Sommernachtstraum im Park von San Francisco

Im Buena-Vista-Park von San Francisco spielen tagsüber die Kinder. Vielköpfige Familienclans bevölkern die Grünflächen. Des Nachts treffen sich hier im Schutz der Bäume und Büsche die Verliebten, es streifen einsame Herzen auf der Suche nach ein bisschen Glück durch den im Dunklen liegenden Ort.

Dass die Menschen ihre Lebens- und Liebesspiele direkt unter den Augen von Elfen, Zwergen und Kobolden vollbringen, auf diese Idee kann man kommen, wenn man Shakespeares „Sommernachtstraum“ als zeitlose Geschichte über die Freiheit der Fantasie und das Ineinander von Wunsch und Wirklichkeit liest und als immer wieder frische Parabel auf die Nähe von Lust und Leid und die Allgegenwärtigkeit des Todes versteht.

Chris Adrian gilt als neuer Stern am US-amerikanischen Literaturhimmel. Der 1970 in Washington geborene und heute in San Francisco lebende Autor studierte Theologie und Medizin. Er arbeitet als Arzt auf einer Station für krebskranke Kinder. Den Roman „Die große Nacht“, in dem Adrian die Grenzen zwischen Zeit und Raum, Traum und Realität verwischt und Shakespeares „Sommernachtstraum“ in die Gegenwart holt, hat er den langen, schlaflosen Nächten abgerungen, der Verzweiflung und Hilflosigkeit, die ihn überfällt, wenn er das Dahinsiechen und Sterben seiner kleinen Patienten mitansehen muss. Der „New Yorker“ wählte ihn jüngst zu einen der wichtigsten jungen amerikanischen Autoren dieser Tage. ZDF-Journalist Wolfgang Herles pilgerte eigens mit seinem „Blauen Sofa“ nach San Francisco, um den neuen Literaturstar zu interviewen.

Erstaunlich, wie leichthändig der hochtalentierte Adrian mit dem mythenbeladenen und auf den Bühnen dieser Welt beinahe zu Tode inszenierten Stoff umgeht. Dass ihm bei seiner modernen Shakespeare-Version Botho Strauß und dessen Sommernachtstraum-Variation „Der Park“ behilflich gewesen sein könnte, ist mehr als wahrscheinlich. Denn wie bei Strauß dampft es auch in Adrians nächtlichem Park vor sehnsuchtsvoller Sinnlichkeit und purem Sex. Und wie bei Strauß streiten sich auch diesmal das sich unters gemeine Menschenvolk mischende Elfenkönigspaar Titania und Oberon um einen sterblichen Knaben. Oberon hat das Kind einer Menschenmutter geraubt und seiner Titania ins Bett gelegt. Die hat sich so sehr an den fröhlichen Wonneproppen gewöhnt, dass sie unendlich leidet, als das Kind an Leukämie erkrankt und weder von ihrem Elfenzauber noch von den Medikamenten und Apparaten der Ärzte zu retten ist. Zorn und Verzweiflung sind so groß, dass Titania nicht nur Oberon beleidigt und verstößt, sondern auch noch den hinterhältigen Dämon Puck von seinem Sklavendasein befreit und zu einem Monster macht, das in seinem Hass mordend durch den Park wütet.

Pucks Blutrausch und das Gezeter der um ihr Leben flüchtenden Elfenbande hat erheblichen Einfluss auf die nachts durch den Park irrenden Menschen. Vor allem Molly, Will und Henry werden arg in Mitleidenschaft gezogen. Eigentlich suchen die drei, die alle gerade einen geliebten Menschen verloren haben und nun mit der Liebe und dem Leben hadern, nur die Villa eines Freundes, der in seinem verwilderten Garten eine seiner legendären Feste veranstaltet. Sie wollen endlich einmal wieder fröhlich sein, die Einsamkeit und den Tod vergessen. Doch nun werden sie von Elfen verwirrt und verzaubert. Sie wissen nicht mehr, ob sie träumen oder wachen. Im verwunschenen Park warten dunkle Erinnerungen und peinigende Ängste genauso wie seltsame erotische Begegnungen und neue befreiende Hoffnungen. Und was hat es eigentlich mit dieser merkwürdigen Truppe von Laiendarstellern auf sich, die im schummrigen Mondlicht ein Polit-Musical probt und mit ihren Songs dagegen protestiert, dass in San Francisco angeblich Obdachlose verschwinden, zu Menschenfleisch verarbeitet und den Armen und Bedürftigen zur kostenlosen Speisung vorgesetzt werden?

Sehr undurchsichtig und gefährlich, aber auch sehr komisch und fantastisch ist diese „große Nacht“, die Adrian vor den staunenden Augen des Lesers ausbreitet. Wenn das erste Tageslicht den Park erhellt, wird die Welt eine andere und der Leser um einige köstliche Erlebnisse reicher sein.

Chris Adrian: „Die große Nacht“. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Rowohlt-Verlag, 445 S., 14,95 €




Eine Liebe aus lauter Worten – Martin Walsers Roman „Das dreizehnte Kapitel“

Diese nahezu parodistisch klingenden Namen – und welcher lebenswichtige Ernst wird später daraus! Da lernt, bei einem bundespräsidial umrahmten Geburtstagsfest auf Schloss Bellevue, die Theologin Dr. Maja Schneilin den Romancier Basil Schlupp kennen.

Aber ach, nein! Kennenlernen wäre viel zu viel gesagt. Sie tafeln im selben Raum, doch nur er nimmt sie wahr – und wie! Groß. Strahlend. Einzigartig. Damit sie überhaupt auf ihn aufmerksam wird, bringt er im Laufe des Abends eine blödsinnig starke Behauptung vor. Kurz darauf schreibt er ihr, und zwar so raffiniert feinfühlig, dass sie sich zu einer Antwort hinreißen lässt.

Eigentlich schade. Denn man könnte stundenlang lesen, wie überaus geschmeidig und nuanciert Martin Walser derlei gesellschaftliche Zusammenkünfte wie jene im Schloss schildert. Das beherrscht er seit jeher virtuos, schon seit den legendären „Ehen in Philippsburg“ (1957).

Doch nun beginnt ein veritabler Briefroman; eine Gattung, die man schon für ausgestorben halten konnte. Aber auch dabei entfaltet sich etwas, was niemandem besser gelingt als eben Walser: eine Vierecksgeschichte, wie sie etwa schon „Ein fliehendes Pferd“ (1978) bestimmt hat. Basil Schlupps Frau Iris (TV-Serienautorin) und Maja Schneilins Mann Korbinian (geschäftlich erfolgreicher Molekularbiologe) sind im Reigen der Briefe stets präsent.

Dahinter scheint in kunstvoller Verschachtelung eine weitere Vierecksgeschichte auf, denn Maja und Korbinian sind auf desolate Weise mit dem steinreichen Egozentriker Ludwig und dessen Frau Luitgard befreundet. Geradezu schmerzlich rührend wird das recht eigentlich Unaufhebbare solch langjähriger Zweisamkeiten deutlich, allem ehelichen Verdruss zwischen geschwätzigen und stummen Tagen zum Trotz. Diese Paare bleiben zueinander gefügt, aneinander gekettet, das ist gewiss. Und doch ist da jenes Unabweisliche, das ganz Andere…

Anfangs schien der besagte Briefwechsel vor allem auf männlicher Seite eine galante, beinahe zierlich-rokokohafte Sprachtändelei zu sein, doch dabei bleibt es beileibe nicht. Maja und Basil schreiben sich nach und nach ins schier Unmögliche hinein, sie bauen Wortbrücken ins luftleere Nichts, spielen unentwegt mit dem „Als ob“, das sich erhitzt. Es wächst und wächst ein wortwörtlicher Überschwang, die beiden gestehen einander Dinge wie niemandem sonst. Martin Walser gelangt dabei noch einmal auf die Höhen seiner ungemein einfühlsamen Schreibkunst.

Maja und Basil sind unterwegs zu einem absoluten Mitteilen, zu einer hochkultivierten Stufe körperlos erotischer Existenz, hervorgerufen mit rein sprachlichen Mitteln, belletristische und theologische Beigaben inbegriffen, zumal Maja einen Liebesbriefwechsel des berühmten Theologen Karl Barth von Maja als historisches Muster benennt. Briefeschreiben, so erfahren wir jedenfalls innig, kann zum alles erschütternden Abenteuer der Selbstüberschreitung werden. Ein Abenteuer für jene, die sich auch sonst mit dem Vorhandenen nicht abfinden wollen.

Schon die Signaturen einiger Briefe aus den Zonen der lockenden Unmöglichkeit lassen ahnen, wohin das Schreiben einen tragen kann:

„Es grüßt Sie der Verratssüchtige“
„Ihr Anempfinder“
„Ihre Teilhaftige“
„Ihr heute Ausgelieferter“
„Die Gelieferte“
„Deine Kapitulierende“.

Ein sekundenkurzer Zufallstreff am Flughafen („Wunder von Tegel“) lässt die brieflichen Worte überfließen, nun fehlen im Buch sogar vorübergehend die Seitenzahlen (von 158 bis 161), so allenthoben wird auf einmal jubiliert.

Doch es folgt ein jäher Absturz. Schlupp hat ein gedankenlos gefallsüchtiges Interview gegeben, in dem er seine Beziehung zu Frauen aus steter Höflichkeit herleitet. Kein Wunder, dass die kurzzeitig entflammte Maja tief beleidigt ist. Statt der langen Mails, die sie zuletzt geschrieben hat, findet Schlupp auf dem Bildschirm nur noch die Botschaft „Es sind keine Objekte in dieser Ansicht vorhanden“.

Mit der letzten Wendung beginnt ein Schlussteil, der gleichsam mit schnellerem Atem geschrieben zu sein scheint, buchstäblich zum Ende hin. Maja schickt wieder Briefbotschaften an Basil, und zwar hierüber: Ihr Mann Korbinian ist krebskrank, zwingt aber sich und sie zu einer irrsinnigen Fahrradtour in die entlegensten Landstriche des nordkanadischen Yukon-Territoriums, wo die zusehends Erschöpften lauter Liebesversehrten begegnen. Dort auch ertönt in zwei längeren Zitaten Jack Londons lebens- und todessüchtiger „Ruf der Wildnis“.

Selbst wenn man es vielleicht kommen sieht, so ergreift einen das Finale.

Martin Walser: „Das dreizehnte Kapitel“. Roman. Rowohlt Verlag. 271 Seiten. 19,95 Euro.




Schöner als Kino: Wie Liebe und Tod nach Gladbeck kamen

Die folgende hoffentlich kurzweilige, aber doch einige Seiten lange Liebesgeschichte rekonstruierte ich da, wo ich sie in manchen Details nicht erfand, auch aus Kopien zweier Briefe Sigismund von Radeckis, die mir Ruth Weilandt-Matthaeus schenkte  und die mit mir dazu lange Gespräche führte. Sie gab mir ausdrücklich die Erlaubnis, ihre Geschichte weitererzählen zu dürfen. Ruth, die lange die Nachlassverwalterin der Werke von Radeckis war, verstarb vor einigen Jahren in Gladbeck. Auch der in Riga geborene von Radecki, der über viele Jahrzehnte in Zürich wohnte, liegt seit 1970 in Gladbeck begraben. 1953 erschien von ihm bei Rowohlt das rororo-Taschenbuch Nr. 84 unter dem Titel „ABC des Lachens“, ein Buch, das sich bis zum Mai 1981 knapp 350.000mal verkaufte.

Mehr über diesen Übersetzer, Meister der kleinen Form und Freund von Karl Kraus bei Wikipedia oder im „Schriftenverzeichnis Sigismund von Radecki“, das Dirk-Gerd Erpenbeck bearbeitet hat, der Bochumer Radecki-Kenner, der mir mit so mancher Information auf die Sprünge half. Ihm, Ruth und Sigismund von Radecki widme ich die folgende Geschichte.


Ruth, Sigismund, und Johannes auch – eine Liebesgeschichte
Auf- und nachgezeichnet sowie koloriert von Gerd Herholz

1946, der Krieg zu Ende, Johannes war aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Ausgehungert waren wir, heißhungrig auch auf Lesestoff. Aber wir hatten nichts, nullkommanichts, er nicht, ich nicht, bis Johannes in Wurzen die Arbeit in der Molkerei bekam. Endlich konnten wir uns Bücher kaufen, auch welche von Sigismund von Radecki. Wir liebten den, noch ehe wir ihn persönlich kannten. Johannes hat für die Molkerei Kühe gezählt, Statistik gemacht. 1948 kam eine Anfrage von seiner alten Arbeitsstelle, dem Essener Reisebüro, das ist das große Ding am Bahnhof, eine Anfrage, ob er sofort wieder anfangen wolle. Was Besseres konnte ihm nicht passieren. Ich blieb noch in Wurzen. Als das wirklich was Festes wurde in Essen, bin ich zweimal schwarz über die Grenze, durch die Wälder mit zwei Koffern, da war alles drin, was ich so an Klamotten besaß, paar Löffel, paar Teller. Einmal bin ich von Russen erwischt worden. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich ein anderes Mal erzähle. Diese Russen haben mir, ohne mir etwas zu tun, ganz freundlich über die Grenze geholfen. Das glaubt kein Mensch.

Und jetzt kommt ein merkwürdiger Zufall:
Wir lebten in Essen damals, in nur einem Zimmer in einem kaputten Haus, dem Elternhaus von Johannes. Teile des Daches waren aus Wellblech, damit es nicht durchregnete. 1948 war das, in der Siedlung Feldhauskamp. Einige Häuser weiter wohnte eine Dame, die hatte einen süßen Pekinesen, auf den waren wir gleich scharf. Irgendwann lud sie uns zum Kaffee ein und im Gespräch stellte sich heraus, dass sie viel über Radecki wusste. Die Dame war Gertrud Jahn, eine geborene Kirmse. Der hat Radecki sein Buch „Nebenbei bemerkt“ gewidmet, erschienen bei Rowohlt, ihr und ihrer Freundin Ziegler, also „Gertrud Kirmse und Liselotte Ziegler gewidmet“. Ich habe das sogar hier, ich müsste nachschauen. Und diese verwitwete Gertrud Jahn wohnte jetzt neben uns. Sie war seit Langem persönlich befreundet mit Radecki. Oft hat sie von ihm erzählt und mir Bücher geliehen, die ich noch nicht kannte.

„Ich war also eigentlich schon vorbereitet…“
In den 50er-Jahren zogen wir nach Moers. Da waren wir schon Radecki-Fans, wir standen auf Radecki. In Moers hatten wir ein eigenes kleines Reisebüro gegründet. Den guten Kontakt zu Frau Jahn hielten wir. Ich fuhr oft nach Essen und habe sie besucht, weil sie mir so viele schöne Dinge, aber auch andere erzählt hat. Also, Radecki sei schwierig, sie könne für nichts garantieren, wenn ich ihn mal selbst vor mir hätte, er könne sehr brüsk sein, wenn ihm nicht gut ist, dann ist er so kurz ab und die Leute beschweren sich „Ist der arrogant!“, und so was. Ich war also eigentlich schon vorbereitet.

In Essen hatte ich antiquarisch ein kleines Buch erstanden, von Jean Paul, so eine ganz kleine Schwarte, die schickten wir Radecki zum Geburtstag nach Zürich, die Adresse hatten wir von Frau Jahn. Das war der erste Kontakt. Einmal Anfang der Sechziger – glaube ich – kam von Gertrud Jahn, sie wohnte nicht mehr in Essen, ein Anruf. Sie wollte sagen, Radecki lese in der städtischen Bücherei in Düsseldorf. Das war so im …, auf jeden Fall eine kühle Jahreszeit. Wenn wir hinfahren könnten, sollten wir doch schöne Grüße ausrichten, sie selbst könne nicht, sie sei krank.

c/o westfälisches literaturarchiv (münster)

Düsseldorfer Dichterlesung
Da waren wir natürlich begeistert. Wir haben den Laden einfach zugemacht, sind nach Düsseldorf. Das war die Zeit, da waren Dichterlesungen proppenvoll. Selbst die in Düsseldorf, wo sie große Büchereien hatten. Radecki las „Der eiserne Schraubendampfer Hurricane“, sehr spannend. Wir waren fasziniert, alle waren fasziniert. Wie der lesen konnte! Die Leute liebten das, dieses Exotische. Dann war Schluss, und mein Mann meinte nur: „Ich hole unsere Garderobe, du kannst ja in Radeckis Garderobe gehen, schließt dich da der Schlange an und lässt signieren.“ Da stand ich also in der kleinen Garderobe und hab‘ mich einfach immer wieder an das Ende gestellt. Du kannst dir vorstellen warum. Ich hörte, wie er jedes Mal, wenn die Leute mit ihm sprechen wollten, einfach nur „Sigismund von Radecki“ ins Buch schrieb. Wenn dann auch nur jemand sagte: „Ach Herr von Radecki, das Buch war so schön, aber die vielen Druckfehler …!“, die fingen dann an, irgendwas fachzusimpeln. Als das passierte, ging bei ihm ein Vorhang runter. Sein Gesicht fiel richtig zusammen und Radecki antwortete nur, ja, das sei halt so. Und Schluss. Dann nur noch: „Bitteschön“, „Danke“, „Bitte“, „Danke“, so ging das. Also habe ich mir gedacht, der hat so wunderbar gelesen, und wenn er eben zu müde ist, bedankst du dich und dann schwirrst du ab. Es war so schön, da soll man nicht noch mehr verlangen.

„Das war schöner als Kino“
Ich wartete bis zuletzt, dann stand ich da und der schaut noch nicht einmal auf, und ich sage: „Guten Abend, Herr von Radecki, ich möchte mich auch im Namen meines Mannes bedanken, es war so eine wunderbare Lesung“, und da habe ich irgendwie, es sind alles so Zufälle, habe ich hinzugefügt: „Das war schöner als Kino!“
Ich wusste gar nichts, wusste nicht, dass er jeden Abend ins Kino ging, der konnte ohne Kino nicht leben. Jeder Film wurde angeschaut. Später, in Zürich, habe ich das gemerkt, manchmal schreckliche Filme, die mir nicht gefielen. Ein paar Mal bin ich verärgert `rausgegangen.
„Herr von Radecki, mir gefällt das nicht, seien Sie nicht böse, ich möchte jetzt gehen.“
„Ja, ja, natürlich, gehen Sie.“
Und er blieb sitzen. Aber manchmal haben wir auch zusammen geweint. Das war bei „Frühstück bei Tiffany“, da haben wir zusammen geweint.
Als er also in Düsseldorf hörte, dass ich sagte: „Das war schöner als Kino“, da schaute er auf, da guckte er mich richtig groß an – sonst hat er die Augen immer so halb zugehabt –, so hat ihm das gefallen, auf einmal ist er wieder aufgeblüht.
„Ich soll auch schöne Grüße von Frau Jahn ausrichten.“
„So? Danke schön, wie geht’s ihr?“ So richtig steif.
„Es geht ihr gesundheitlich nicht so gut.“
„Ja, das ist schade.“
Ich hatte immer noch das Buch unterm Arm, vergessen, vor lauter Begeisterung.
„Ist das Buch da zum Signieren?“
„Ja, Entschuldigung, bitte schön.“
So, jetzt schrieb er. Ich denk‘, was machst du denn jetzt?
„Herr von Radecki, wir verstehen das, wenn Sie jetzt absagen, aber mein Mann hat mir aufgetragen, Sie zu fragen, ob wir Sie zur Erfrischung irgendwie einladen könnten in das Café da vorne oder wohin Sie wollen.“
Das hatte ich natürlich erfunden.
„Ich kann verstehen, dass Sie erschöpft sind“, aber ich hab’s halt versucht. Da guckt er wieder groß und sagt:
„Ach wissen Sie, ich bin so müde, ich möchte jetzt gerne ins Hotel.“
„Ja, das verstehe ich. Danke.“
„Aber, wissen Sie, ich bin morgen den ganzen Tag in Düsseldorf, und wenn Sie wollen, dann können wir uns morgen treffen.“
Und ich darauf: „Das werde ich meinem Mann sagen. Ich weiß nicht, wie sein Dienst ist.“ Wir konnten den Laden schließlich nicht einfach ein paar Tage zumachen.
„Ach“, sagte er, „ich wohne in dem und dem Hotel“, den Namen weiß ich jetzt nicht mehr, „rufen Sie mich doch bitte morgen früh noch einmal an.“

Wir waren eine Lachgemeinschaft
Das haben wir gemacht, angerufen von Moers aus, und er fragte: „Wollen Sie am Nachmittag kommen oder am Abend?“ Da habe ich geschaltet und gedacht, wenn du sagst: „Am Nachmittag“, dann hat man eventuell den Abend noch, wenn ich sage: „Am Abend“, dann muss man um zehn Uhr verschwinden.
„Wenn es Ihnen recht ist, dann nachmittags.“
„Gut. Und wollen Sie mich abholen?“
Ja, denn wir hatten damals doch ein Auto, einen Opel. Ich habe natürlich gedacht, er will mit uns in ein Lokal gehen.
„Wir möchten Sie ein Stück über den Niederrhein fahren, wenn das Wetter gut ist, und dann irgendwo eine Tasse Kaffee trinken.“
„Ja“, sagte er, „ich hätte eher gedacht … bei Ihnen Zuhause?“
„Ach, Herr von Radecki, wir wohnen in einem schlecht möblierten und schlecht heizbaren
Zimmer.“
Das war damals so, wir sind da eingewiesen worden und wohnten immer noch da. Ein kleiner Raum, eine Küche mit einem alten Kohleherd drin, mehr nicht.
„Eigentlich macht mir das nichts. Aber heizbar müsste das schon sein. Wissen Sie, ich habe bei Else Lasker-Schüler in ihrem kleinen Dachkämmerchen gesessen und das war so gemütlich.“
Ich entschied aber: „Wir holen Sie ab und wenn es Ihnen recht ist, dann fahren wir irgendwo Kaffee trinken.“ So haben wir es gemacht und sind in Büderich gelandet, im „Landsknecht“, ein Ausflugslokal, da war kein Mensch.
Wir tranken gemütlich Kaffee, aßen Kuchen und unterhielten uns. Es war sofort so, dass wir über dieselben Sachen lachten. Wenn er was erzählte oder wenn mein Mann aus seiner Praxis Reisebüro was erzählte, dann waren wir eine Lachgemeinschaft. Er kam aber auch auf ernstere Themen und wir waren plötzlich bei Alexander dem Großen gelandet und er sagt:
„Ja …“
Und ich sage „Es waren alles nur grausige Kriege, die mussten bloß immer Kriege machen.“ Er darauf: „Wenn der Alexander nicht gewesen wäre, dann müssten wir alle Pferdemilch trinken.“
„Na und? Erstens mal wären wir daran gewöhnt und zweitens, warum denn nicht?“
Ach, er hat mich ganz entsetzt angeschaut. „Ja, wenn Sie das so sehen.“
In dieser Art und Weise ging das Gespräch und plötzlich war es acht Uhr abends. Da haben wir gesagt, wir müssten jetzt gehen und er hat auch gesagt, es werde jetzt Zeit: „Ich habe im Hotel das Abendessen bestellt.“ Wir fuhren ihn nach Hause ins Hotel und zum Abschied hat er sich für den schönen Nachmittag bedankt, und wir haben uns auch bedankt. Mir hat er zugenickt: „Es war sehr amüsant.“ Als ich ihm später, nach vielen Jahren, erzählte, was er da gesagt hatte, wie ich ihm das wiedererzählte, wie das gewesen war: „Ach ja?“, sagte er, das war ja, ja, ja, da hat er sich erinnert.
„Aber habe ich das wirklich gesagt?“
„Ja, Sie haben gesagt: ‚Es war sehr amüsant.‘“
„Das war doch nichts Schlimmes.“
„Nein, aber zu wenig.“

Die Nase
Zum Schluss meinte Radecki noch: „Ich lese morgen in Herne, das ist nicht allzu weit von Moers. Wenn Sie können und wenn Sie wollen und wenn Sie Lust haben, ich mach‘ dann auch ein anderes Programm.“ Natürlich sind wir nach Herne gefahren. Da war Radecki noch relativ jung und noch gar nicht so krank. Der Veranstalter lud ihn hinterher zu einem Abendessen ein. Später nahm er das überhaupt nicht mehr an. Kurz vor Beginn kamen wir an, wir suchten ihn auf und er hat sich gefreut. Er hat uns vorgestellt:
„Das sind Freunde, ich möchte sie gerne nach der Vorstellung mitbringen.“ „Selbstverständlich, Herr von Radecki.“
An diesem Abend las er seine Übersetzung von Gogols „Die Nase“, das ist eine Geschichte, da ist der ganze Abend weg. Wir haben uns später herzlich verabschiedet, Adressen hatten wir schon ausgetauscht. Wir sind glücklich nach Hause gekommen, haben geschwärmt, das war ein Erlebnis, ach, war das herrlich in Düsseldorf und Herne, und haben uns weiter gar nichts erhofft.

„Manchmal war das Publikum blöde …“
Später reiste Radecki erneut durchs Ruhrgebiet. Da gab es in Bochum eine Vermittlung, Wortmann hieß der Mann, glaube ich. Der besorgte die Vermittlung von Schriftstellern für Lesereisen, Vorlesebüro oder so was, Vortragsamt. Der hat Radeckis Tournee geplant mit Zugverbindungen, die waren zum Teil so schlecht, dass er manchmal irgendwo lange herumsaß, und da hat mein Mann gemeint, abends war er ja frei, er könne ihn mit dem Auto fahren. Das hat er natürlich gerne angenommen. Wir sind mit ihm gefahren, jeden Abend, überall war das Publikum anders. Er war sehr penibel, er brauchte sehr viel Licht, wollte immer ein Glas Wasser, aber bitte kein Mineralwasser, einfach aus der Leitung, weil er sonst Aufstoßen hatte. Rechts die Lampe, links das Wasser und einen Tisch und einen Stuhl. Das klappte fast nie. Meistens hatten sie da eine Flasche Wasser hingestellt. Nichts klappte, obwohl Herr Wortmann sehr tüchtig war, überallhin hatte er alles Wichtige geschrieben, aber wie es so ist. Da war Radecki froh, wenn ich immer vorher hingegangen bin und mir alles angeschaut habe. Ich spielte ein bisschen den Reisemarschall. Manchmal war das Publikum blöde, hat an der falschen Stelle gelacht, dann war er traurig.

Ein Brief aus Zürich
Irgendwann kam ein Brief aus Zürich, den habe ich noch hier, darin steht: „Sehr geehrte Frau Weilandt, sehr geehrter Herr Weilandt, Sie werden sich wundern …, ich bin allein, Sie haben immer so viel von Ihren Reisen erzählt …“, wir machten damals ja sehr viele Reisen selbst, zum Schauen für die Kunden, waren auch eingeladen auf großen Traumschiffen, das habe ich alles ausgenutzt, und ich reise auch sehr gerne, „ … aber auf Reisen ist man noch einsamer als sonst, und da wage ich zu fragen, ob Sie mich auf Ihre nächste Reise mitnehmen wollen als Dritten im Bunde.“
Dieser Stil! Er war als junger Mann einmal Hauslehrer gewesen, bei den Falz-Feins, in der Ukraine, reiche Leute hatten damals einen Privatlehrer für ihre verwöhnten Kinder, es waren gebildete Menschen und er musste den Kindern Mathe beibringen. Da war er bei Großgrundbesitzern, Super-Millionären damals im zaristischen Russland, es sollen deutsche Einwanderer gewesen sein.
„Getrennte Kasse, ich verspreche Ihnen, ich werde nicht stören.“
Wir haben sofort gesagt, das machen wir. Wir schrieben zurück, wir seien entzückt, wir würden ihn gerne als Dritten haben wollen, er solle sagen, was er besonders gerne sehen möchte. Wir hätten noch das Auto, wir würden eventuell eine Autoreise machen. Da sieht man mehr. Er schrieb dann, er möchte gerne nach Holland. Er möchte die Stätten von Peter dem Großen sehen und Holland überhaupt. Und segeln möchte er. Das war der Beginn unseres Reisens und das ging wunderbar. Die erste Reise unternahmen wir 1962 mit dem alten Opel. Wir fuhren mit dem Opel, weil der Opel eben billig war, den fuhren wir bis zuletzt. Am Ende mussten wir vorne die Türe mit einer Zange aufmachen, weil der Griff abgebrochen war. Es war richtig rührend, wie Radecki sich bemühte, dass er bloß nicht lästig wurde. Wir hatten ihn in Duisburg abgeholt, alles ins Auto gepackt, die Koffer, und sind losgefahren Richtung Holland. Wir wohnten in einem Hotel, Johannes hatte das vorher gebucht, es war ja sein Beruf. In Gegenden, wo man segeln konnte, sind wir gesegelt. Wir haben fotografiert, leider welken die Dias, alle Farbfotos haben unmögliche Stiche bekommen.

Es entwickelte sich eine intensive Freundschaft, wir sahen uns jedes Jahr vier- bis fünfmal. Einmal waren wir eingeladen auf Mallorca, da grantelte er: „Da sind so viele Leute.“ Ich habe geantwortet: „Da sind gar keine vielen Leute. Mallorca ist so eine zauberhafte Insel“, vor allen Dingen damals, idyllisch. Da waren höchstens Engländer, die Deutschen kannte man da noch gar nicht so. Doch dann brach die Cholera oder so was in Spanien aus, da musste man geimpft werden, und wir Esel hatten alles schon gebucht. Also sind Johannes und ich allein nach Mallorca, mittlerweile hatte Radecki in Zürich auch noch die Grippe bekommen.

ruth & svr (westfälisches literaturarchiv)

Also bin ich mit Radecki alleine los
Wir hatten es immer noch schwer mit dem kleinen Reisebüro, überhaupt etwas zu verdienen. Wir lebten noch in Moers. Und diesmal wollte Radecki, dass wir ihn auf einer Reise in den Süden begleiteten. Johannes konnte nicht mit. Einer musste Geld verdienen. Also bin ich mit Radecki alleine los. Er wollte so gerne nach Dalmatien. Früher, in den Dreißigern, ist er da gesegelt, das war ein wunderbarer Segeltörn. Mein Mann hatte alles gebucht, auch das Schiff, das sah von außen sehr schön aus. Mit dem Schiff sind wir von Venedig aus nach Split und Dubrovnik. Getroffen hatten wir uns in Mailand, im Zuge. Er kam von Zürich, ich kam von hier oben. Ich habe gedacht, wenn ich den jetzt verpasse, dann reist der irgendwohin und ich irgendwohin. Es hat aber alles geklappt. Johannes konnte nicht mit. Wir konnten den Laden nicht so lange zumachen, wir hatten ja nur einen Lehrling. Auf dem Schiff und in Split war es sehr schön, in Pula allerdings ging eine Kompanie Soldaten an Bord. Also, es war unsäglich, die Toiletten konnte man nicht mehr benutzen. Da hat Radecki oben an Deck geschlafen, an Schlaf war aber nicht zu denken, die randalierten auch an Deck. Ich hatte eine Kabine, da kamen noch zwei andere Frauen rein, die sich vor den Soldaten fürchteten, es war höllisch. Der Kapitän und die Stewards hatten überhaupt nichts zu sagen, die Soldaten waren so frech, die haben alles vertrieben, wir mussten uns also verstecken. Schließlich sind wir in der Nacht doch in Split angekommen und die Soldaten gingen von Bord. Später, von Dubrovnik aus, sind wir auf nach Korcula, mit einem kleinen Segelboot. Da hatten wir Glück, denn zunächst war kein Segelboot zu mieten. In den Prospekten, da kann man natürlich alles machen. Es ist immer peinlich für das Reisebüro: Man arrangiert alles, man hat an das Hotel geschrieben, die haben zurückgeschrieben: Alles in Ordnung, Segelboot wird gestellt. Nichts war da. Wir sind ein bisschen rumgelaufen, am Strand des Hotels sahen wir ein kleines Segelboot mit zwei jungen Leuten und die kamen ziemlich nah vorbei, da haben wir gewinkt, und sie legten an, wir hin und gefragt: „Wir möchten so gerne segeln …?“ Das alles musste immer ich machen, er traute sich nicht. Wir haben das dann gemanagt, ich habe sogar ein paar englische Worte rausgekramt, hinterher hat er gesagt: „Sie sprechen ein wunderbares Englisch.“, dabei waren das ungefähr die einzigen Worte, die ich kannte. Wir sind mit diesen jungen Leuten gesegelt. Allein wäre ihm lieber gewesen. Es war trotzdem ganz schön. Wir segelten jeden Tag, bezahlten sie. Sie waren ganz versessen auf D-Mark, das klappte gut, sie waren freundlich, auf diesem Boot blieben wir 14 Tage. Wir haben fotografiert, haben da und dort angelegt und sind gelaufen.

Große Hitze in Gladbeck und Schiffbruch bei Plön
1967 las Radecki hier in Gladbeck, im Sommer, am 12. Juli, es herrschte große Hitze, aber trotzdem sind die Leute gekommen. Am nächsten Tag bin ich mit ihm nach Plön gefahren, nach Schleswig-Holstein. Wir wollten dort mal versuchen zu segeln. Das Hotel, in dem wir wohnten, hieß „Fegetasche“. Tatsächlich haben wir ein Segelboot mieten können. Radecki hat gemeint: „Wir brauchen einen kleinen Außenbordmotor, wenn wir raussegeln und es ist windstill, es war ja im Sommer, dass wir auch wieder gut zurückkommen. Da haben die einen Motor, ein Mordsding, hinten an das kleine Segelboot gehängt, Radecki saß vorne und ich saß hinten am Ruder. Wir sind rausgesegelt, haben den Motor zur Probe angelassen, es ging ganz gut. Es gibt da so kleine Inselchen, sehr schön. Wir haben an einem Steg angelegt. Radecki war ja das Große gewöhnt, da war nie was abgesperrt bei denen, damals als er jung war, die konnten anlegen, wo sie wollten. Hier aber war alles privat, wir wurden weggejagt, sind wieder in See gestochen und wollten nach Hause fahren. Radecki hatte sich noch nicht richtig hingesetzt, da kam aus heiterem Himmel eine Bö und wir sind gekentert. Wir sahen aber das Ufer noch. Ich fand das so komisch, ich dachte, es gibt doch einen Film von Oliver Hardy und Stan Laurel, wo die Schiffbruch erleiden, da schwimmen auch die Sachen von denen so schön ruhig auf den Wellen. Die Bö war weg, meine Handtasche, meine Strickjacke, alles war auf dem schönen glatten Wasser verteilt. Ich habe einen Lachanfall gekriegt und Radecki sah ganz belämmert aus. Er ärgerte sich, dass er so ungeschickt gewesen war. Er hatte Angst, dass ich ihm böse wäre. Ich fand es aber amüsant, uns konnte doch nichts passieren, es war so ein schöner Sommertag. Wenn wirklich meine Strickjacke weg gewesen wäre …, ich fand es irgendwie romantisch, habe herzlich gelacht wie im Kino und gedacht, jetzt versinken wir gemeinsam in der Flut. Aber wir schwammen natürlich, nur das Schiffchen ging immer weiter unter. Blubb-blubb, dann war es weg. Ich habe schnell alles eingesammelt, was noch herumdümpelte. Wir sind Richtung Land, es war nicht weit, 200, 300 Meter, das konnten wir mühelos in dem warmen Wasser schwimmen. Plötzlich tauchte ein großer Schatten auf, eine Riesen-Yacht, die wollten uns helfen, da war ein kleiner Junge oben, der hatte eine Schwimmweste an wie alle Kinder, die auf einem Segelboot geboren sind, die kam so nah ran wie möglich und sie ließen Eimer herab und hatten auch noch ein kleines Beiboot, ein Gummiding. Unser Segelboot war auch noch zu sehen, am Mast haben wir eine Kette befestigt und das Boot sogar ein Stückchen abgeschleppt, bis es auf Sand festlag, nur der Mast ragte noch aus dem Wasser. Dann haben die lange gewürgt, auch der Bootseigner selbst, der hatte Leute, die mithalfen. Alle zogen es dann noch ein Stückchen, bis es schräg am Ufer lag, wir haben es mit Eimern leer geschöppt. So haben wir es wieder manövrierfähig gemacht, waren nass bis auf die Knochen, das Boot war naß und der Motor war natürlich hin.

Das einfache Leben
Mit Johannes habe ich auf Reisen meistens Krach gekriegt. Radecki hat mir mal gesagt, wie schön das ist, auch mit dem Johannes, wir hätten uns noch gar nicht gezankt. Auch zu mir hat er gesagt. „Wir zanken uns gar nicht.“, er hat ja nicht gewusst, dass ich abreisen wollte in Plön. Aber nicht wegen der Panne, das war Pech, sondern wegen seiner komischen Ansichten. Mit Johannes, das war der Alltag, und es war sehr schwer, uns eine Existenz aufzubauen. Wir waren so arm wie die Kirchenmäuse und hatten das Reisebüro mit all dem geschenkten Zeug, einer alten Schreibmaschine, die Wohnverhältnisse war man einfach gewöhnt, und es war so mühselig. Es war gar nichts, Hauptsache, man war trocken. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.
Ich weiß nicht, du wirst merken, wie ärmlich ich hier heute in Gladbeck wohne. Ich habe beschlossen, mich zurückzuversetzen in die Lebensweise der damaligen Zeit. Da lebten wir ruhiger und mussten eben nur sehen, dass wir satt wurden. Dieses ganze Pipapo, dieses Fernsehen und das alles habe ich schon abgeschafft. Ich habe jetzt bewusst aufs einfache Leben umgeschaltet. Das bekommt mir. Ich lebe meist im Schrebergarten mit den Katzen, und Katzen sind wunderbar, ich meine … Hunde auch.

Wir waren alle sehr freundlich, Radecki war sehr höflich, der alte Kavalier schleppte sogar meine Handtasche, manchmal. Der Johannes war so treu und lieb, das war harmonisch. Johannes hat mich auch auf seine Art geliebt, aber die Art, wie mich Radecki geliebt hätte, selbst, wenn sie nicht platonisch geblieben wäre, die hat mich ja nun fasziniert. Diese Geistigkeit, dieser Charme, den Radecki hatte, die Erotik des Geistes, das hat mich fasziniert, da störte mich gar nicht, dass er die letzte Zeit so gebrechlich wurde. Wenn ich jetzt manchmal einen alten Mann von hinten sehe und mit dem schleppenden Gang, wie er nicht mehr so richtig laufen konnte vor Schwäche, und ich sehe manchmal hier so einen alten Mann, mit einer Mütze mit einem Schild drauf, dann denke ich, es wäre Radecki. Ich habe ihn geliebt. Ich wollte immer in seiner Nähe sein. Ich habe mal gesagt, dass ich ihn liebe. Da hat er gesagt: „Nein sie lieben mich nicht.“ Es ist eine ganz verrückte Liebe. Ich weiß gar nicht, was das war bei mir, vielleicht war das, weil ich keinen Papa gehabt habe oder so. Ich fühlte mich geborgen. Mit Johannes musste ich kämpfen, ich musste Schriftsätze machen, ich musste verhandeln, wir hatten den Kartellprozess am Hals, wir wollten ein Vollreisebüro sein und kriegten keine Zulassung. Ich habe mit Johannes immer nur gekämpft, mit ihm gegen diese widrigen Umstände, dass wir nun endlich ein bisschen aus der großen Armut rauskamen. Und bei Radecki fühlte ich mich geborgen.

Pension Persévérance
Wir haben immer unsere Reisen selbst bezahlt, auch wenn wir zu dritt waren. Und er seine. Auch 1965 das Haus, das kleine Chalet im Tessin, alles wurde durch drei geteilt. Erst das Haus und dann der Verbrauch. Am Anfang habe ich gekocht, doch dann hatte ich keine Lust mehr. Radecki liebte mich auch irgendwie als Hausmütterchen. Er fand das faszinierend, wie ich gekocht habe. Meistens hat es ihm geschmeckt, aber einmal hat er gesagt: „Hier an diese Spaghetti, es wäre schön, wenn da ein Ei dabei wäre.“ Wir waren diesen Mangel gewöhnt, wenn es Spaghetti gab und Soße, da gab es kein Ei. Er hat in Zürich gelebt und da hatten die am Essen keinen Mangel. Radecki war nicht arm, nur in der Berliner und in der Wiener Zeit, da war er arm wie eine Kirchenmaus. In Zürich wohnte er in einer Pension, Pension Persévérance in der Neptunstraße, das passte für ihn, er lebte bescheiden. Hatte ein gemütlich eingerichtetes Zimmer, alles alte Klamotten, mit zwei Couchen drin, eine für tags zum Schlafen und eine für nachts, damit er nicht ununterbrochen in derselben Bettcouch liegen musste. Ich habe also nicht mehr kochen wollen, ich kam so gar nicht zur Erholung, und dann hinterher spülen, so ein Ferienhaus, das ist Wahnsinn. Lieber bin ich mit ihm in den „Vier Jahreszeiten“ gewesen in Hamburg, das hat mir besser gefallen. Er hat eingesehen, wenn er in so einem teuren Hotel wohnen wollte, das konnte ich nicht bezahlen, das war fast zum Ende unserer Zeit, so nach acht Jahren etwa, 1968. Da hat er diese hohen Hotelkosten für mich bezahlt, aber die Reisekosten habe ich selbst bezahlt.

svr, ruths handtasche? westfälisches literaturarchiv

 

„Sie sind der gebildetste Mensch, den ich kenne. Neben…“
In Zürich sind wir abends aus dem Kino gekommen, der Film hatte mir gefallen, ich hatte gute Laune. Und er hat sich gefreut, er hatte immer Angst, dass mir ein Film nicht gefiel. Da waren vielleicht Schwarten dabei, das habe ich dann auch gesagt und gedacht, wir könnten hier doch viel lieber am Seeufer sitzen. „Ich möchte aber gerne ins Kino.“, sagte er, wie fast immer.
Wir gingen durch Parkanlagen, die Luft war sommerlich und wunderschön, die Laternen leuchteten durch die Blätter, er wollte mir erklären, was das für Bäume waren, da habe ich gesagt: „Das sind Eschen.“ „Sie wissen ja schon alles“, sagte er, „ich wollte Ihnen das gerade erklären.“ Und dann fügte er hinzu, er konnte nicht anders: „Sie sind der gebildetste Mensch, den ich kenne. Neben Heinrich Fischer, dem Freund von Karl Kraus, Kraus hat Fischer seinen Nachlass vererbt. Mit Heinrich Fischer war ich auch befreundet. Er hat einmal mir das Kompliment gemacht, ich sei der gebildetste Mensch, weil er meinte, ich verstünde von Wirtschaft was, ich hatte so viele Berufe, nicht nur flüchtig, sondern jeden mindestens drei Jahre ausgeübt.“

Durch seine Krankheit kriegte Radecki jede Erkältung mit, er musste husten, hatte sich schon wieder erkältet, obwohl es Sommer war, ich habe ihm ein Glas Wasser gebracht, mit einer Art Aspirin und Vitaminen drin. Ich wohnte gegenüber im Gästehaus Cäcilienheim, er wohnte schräg gegenüber in der Pension Persévérance, Persévérance, das war eine katholische, von Schwestern geleitete Pension. Er hat mir einmal erzählt, er sei morgens immer verkatert. Er hatte Morgendepressionen, immer eine bestimmte Sorte Wein vorrätig, wenn er morgens arbeitete. Um 6 Uhr stand er auf, ging rüber in die Messe, die Kirche lag neben seiner Pension.

Draußen vor dem Tore
Da standen wir also bei ihm kurz vorm Törchen. Ich sage: „Wenn Ihnen nicht gut ist, damit das dann nicht so ausbricht, nehmen Sie doch schon mal eine Tablette, ich habe die oben.“
„Ja, vielleicht hilft das doch, es wäre ja schlimm, wenn ich jetzt krank würde und wir könnten nicht laufen zusammen.“
Ich fragte: „Können Sie hier warten oder da drüben, da ist eine Bank?“
„Nein, nein, ich warte hier am Törchen.“
Es war nur ein Katzensprung, ich fuhr hoch, einen Lift hatten sie ja. Schnell war ich mit den Tabletten wieder unten: „Sie müssen aber viel dazu trinken.“ Wie ich ihn so ein bisschen bemuttert habe, sieht er mich an: „Ich möchte Ihnen aber noch was sagen.“, kurz vor der Verabschiedung. Verabschiedet haben wir uns immer mit so einem Kinderkuss, entweder auf beide Wangen, also französisch, oder einfach so einen leichten Kinderkuss, das war aber schon vorher. Übrigens habe ich das mit vielen meiner Freunde so gemacht.
„Mir fällt es schwer, und ich weiß, es sollte eigentlich ungesagt bleiben“, es sind genau seine Worte, ich habe die im Hirn, ich hab‘ natürlich abgewartet, hab‘ ihn angeguckt, „… ich muss Ihnen sagen, dass ich Sie liebe.“ Da habe ich gestottert: „Ich weiß jetzt nicht, was ich sagen soll.“ „Sagen Sie nichts. Ich sage Ihnen, ich liebe Sie mit meinem Kopf, mit meinem Herz, mit meinem Gefühl und mit meinem Verstand. Ich liebe Sie mit allen Fasern meines Herzens.“ So was hatte ich mir immer gewünscht. Dass er das noch betont. Dann sind wir ein bisschen näher aneinander gerückt. Ich habe es ihm nicht geglaubt, man hat es ihm nicht angemerkt, er war so zurückhaltend. Wir haben noch gescherzt und gesagt, so was wie wir in Plön gesegelt sind, das machen wir nie wieder, und wir sind auch nie wieder aufs Boot gegangen.

„Die Worte, die Worte waren so schön“
Ich hatte mir das so gewünscht, und andererseits habe ich den Johannes vermisst. Es war ganz komisch. Wenn ich Radecki um den Hals gefallen wäre, wäre er vielleicht erstarrt. Später fand ich es auch unfair dem Johannes gegenüber. Es ist nichts passiert, worauf der Johannes eine Ehescheidungsklage hätte einreichen können. Die Worte, die Worte waren so schön. Die Worte und Gesten und Küsse, das war nun wirklich meine letzte Reise nach Zürich. Schon bald wurde er so krank, dass wir ihn zur Behandlung hier ins Barbara-Hospital nach Gladbeck geholt haben. Ein paar Wochen später ist er gestorben.




Eine Herzmanovsky-Verführung

Kaum dass der vor kurzem im Residenz Verlag erschienene Bild- und Textband „Forscher im Zwischenreich / Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“ uns in den Blick gerät, schon nehmen wir ihn in die Hand und ahnen sofort, welch schönes, welch interessantes Buch wir da in Händen halten.

Die Bildreproduktionen sind einladend, eröffnen einen Blick in eine ganz eigene, durch mangelnde große Bekanntheit noch recht unverbrauchte Welt. Druckbild, Farbgebung, etc. alles einwandfrei, ja hervorragend.

Es mag dabei ein beträchtlicher Vorteil sein, dass FHO (= Fritz von Herzmanovsky-Orlando) zum Beispiel in Deutschland noch nicht allzu bekannt ist, aber auch in Österreich dürfte der beeindruckende Zeichner FHO weit weniger bekannt sein als der Schriftsteller. Zwar kamen auch in Deutschland FHOs sämtliche schriftstellerischen Werke erst in der originären Ausgabe des Residenz Verlages heraus, dann vor allem jedoch (allerdings mit mir unbekanntem Erfolg) in der dreibändigen Lizenzausgabe bei Zweitausendundeins. Aber richtig bekannt ist der Schriftsteller in Deutschland nicht geworden, sicher am wenigsten noch nördlich des Mains, also auch nicht im Ruhrgebiet.

Gewiss: In der Reihe des Heyne-Verlags „Das besondere Taschenbuch“ erschien einst in den 80er-Jahren Herzmanovskys wegen seiner Skurrilität wohl berühmtester Roman „Der Gaulschreck im Rosennetz“ mit den vom Autor selber stammenden Illustrationen. In einer Kultsendung wie der vom Hessischen Rundfunk (HR2) ausgestrahlten Ratesendung Peter Härtlings, „Literatur im Kreuzverhör“, kamen mindestens zweimal schon Texte FHOs vor, bei denen nach anonymer Textverlesung der Autor erraten oder gewusst, jedenfalls gefunden werden musste und durch Telephonanrufer auch erraten wurde. Auf den Literaturreisen von „Begegnung mit Böhmen“, eines Reiseunternehmens aus Regensburg, lässt sich u. a. der literaturkundige Reiseleiter Arthur Schnabl wirkungsvoll vorlesbare Texte von FHO wie z. B. den „Wassertrompeter“ wohlweislich auch nicht entgehen.

Aber nach wie vor gilt: So richtig im Bewusstsein durchgesickert und bleibend angekommen ist Fritz von Herzmanovsky-Orlando als Schriftsteller und als Eigenillustrator, gar als eigenartiger und beeindruckend eigenständiger Zeichner zumindest in Deutschland noch nicht.

Das neue Buch des Residenz Verlages kann dem nun durchaus verführerisch Abhilfe schaffen, so es denn wahrgenommen wird. Und das darf man ihm vorbehaltlos wünschen. In diesem wunderbar ausgestatteten Band kann man den großartigen Zeichner FHO entdecken und sich zugleich indirekt einen Zugang zu seinem Werk als Schriftsteller verschaffen; oder umgekehrt, wenn man von FHO schon etwas gelesen hat, kann man in seinen Zeichnungen eine andere, womöglich die originäre Seite von ihm in unverklemmter Offenheit präsentiert bekommen. Und wirklich: Von der chronologischen Abfolge her scheint das reife zeichnerische Werk (das jedoch zeitlebens bei FHO, also auch in seiner stärker schriftstellerisch geprägten Lebensphase) nie ganz aufhört, dem schriftstellerischen voran- bzw. vorauszugehen. Im Haupttext des Buches, im vielgliedrigen Essay von Arnulf Meifert, wird jedenfalls u. a. aufgezeigt, wie sehr auch noch das schriftstellerische Werk FHOs von dem zeichnerischen her gespeist wird, ja sich geradezu aus ihm heraus entwickelt, mental, thematisch, figural.

Fürwahr, eine Herzmanovsky-Verführung ist dieser Band, eine gelungene Verführung zu ihm als Zeichner und von da her alsbald wohl auch zu ihm als Schriftsteller. Meine Anspielung auf Rolf Vollmanns im Dezember des letzten Jahres im Albrecht Knaus Verlag erschienenen Doppelband „DER DÜRER VERFÜHRER oder die Kunst, sich zu vertiefen“ ist dabei ganz bewusst. Zudem: eine klare Überschneidung gibt es auch.

Auf der Seite 31 des FHO-Bandes finden wir eine Wiedergabe von Albrecht Dürers Radierung „Der Spaziergang“ – ein auch bei Vollmann eingehend betrachtetes Bild (vgl. dort die Seiten 33 – 35 des 1. Bandes) – konfrontiert mit FHOs Dürer-Adaption in Form einer Zeichnung.

Gerade der direkte Vergleich verrät sehr viel von der Herzmanovskyschen Eigenart, die weder vor Verknappung und Leichtigkeit noch vor satirisch grotesker Zuspitzung bzw. ironisch-humorvoller Scheinverniedlichung (hier des Todes) zurückschreckt. Wie überhaupt der Bezug auf schon vorhandene Kunstwerke, an denen er sich bewusst schulte und abarbeitete, indem er sich bewusst dagegen abhob, Fritz von Herzmanovsky-Orlando zu seinem Eigenen mitverholfen haben mag.

Arnulf Meifert tut zusätzlich das Seine zur Verdeutlichung von FHOs Eigenständigkeit, indem er ihn wiederholt gezielt und durchaus abweichend von eingeschliffenen Mustern mit Alfred Kubin, vor allem aber mit Paul Klee zusammensieht, mit dem FHO u. a. den Begriff „Zwischenreich“ teilt, wiewohl ganz anders akzentuiert.

Das fast unbekannte, recht liebevoll und höchst ansprechend präsentierte Bildmaterial alleine schon lohnt die Anschaffung dieses Bandes: Freizügig und dezent tabulos sind diese Bilder – und faszinierend merkwürdig, wenn man in ihnen immer wieder eine Verschränkung von weiblich-feenhafter Dominanz mit bis zur Karikatur submissen männlichen Ungestalten wahrnimmt, eine Verschränkung eines paradiesähnlich gemeinten Zustandes also – mag man diesen nun als eine bildgewordene Utopie oder als konzentrierte Privatmythologie auffassen – mit einer das Männliche immer wieder herabstufenden realsatirischen Konkretion.

Der große Essay von Arnulf Meifert vor allem, aber auch die kleineren Beiträge von Peter Assmann, Franziska Meifert und Siegfried de Rachwitz nebst einer den Band abschließenden Übersicht der Werke im Museumsbesitz, vermitteln uns auf wichtig erhellende, durchaus ideologiekritische Weise Zusammenhänge und Hintergründe. Politisch Schlimmes, sehr Schlimmes und in künstlerischer Form weniger Schlimmes, da künstlerisch Gebanntes, so lernen wir, entstammen ein und denselben geistigen bzw. gelegentlich abstrusen Strömungen nach 1900, an denen insbesondere auch FHOs Frau Carmen, ihn stark beeinflussend und zugleich seiner sexuellen Veranlagung maßgeblich entgegenkommend, regsten Anteil nahm.

Es fällt auf, dass Arnulf Meinert Fritz von Herzmanovsky-Orlandos phantasievoller Zeichenkunst vordringlich eine gewisse „Bannbildfunktion“ (S.62) zuzuerkennen bereit ist, ihn im Übrigen gelegentlich auch als Vorwegnehmer der Surrealisten feiert.

Als besondere Bereicherung des Bandes habe ich empfunden, dass Arnulf Meifert an den Beginn eines jeden der sieben Kapitel seines Hauptessays je eine ganze Drittelseite sehr gut ausgesuchter thematischer Aphorismen gestellt hat. Diese (von sehr verschiedenartigen Autoren stammend) sind fast durchweg kaum bekannt, wiewohl von meist hoher bis sehr hoher Qualität.

Arnulf Meifert / Manfred Kopriva (Herausgeber): „Forscher im Zwischenreich. Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“. Residenz Verlag. 256 Seiten, 36 €.




Den eigenen Tod sterben – Gerbrand Bakkers Roman „Der Umweg“

Eine Literaturwissenschaftlerin aus Amsterdam, die wegen einer Affaire mit einem jungen Studenten ihren Arbeitsplatz an der Universität verloren hat und ihre Dissertation über Emily Dickinson auch deswegen nicht mehr vollendet, ist kurz entschlossen aus ihrer gewohnten Umgebung geflohen; sie ist gewillt, fortan in einer ihr fremden, englischsprachigen Umgebung zu leben und wohl auch zu sterben, lässt also – zunächst für die beiden letzten Monate des Jahres (2009) – ihr bisheriges Leben unvermittelt hinter sich. Nicht in Irland, wie von ihr ursprünglich beabsichtigt, kommt sie unter, sondern eher zufällig in Wales. Sie mietet dort auf dem Lande Haus und sporadisch Arbeit erforderlich machenden Landbesitz, die überschaubare Hinterlassenschaft einer Witwe namens Evans. Weder der Ehemann der nunmehr ehemaligen Anglistikdozentin aus Amsterdam noch deren Eltern wissen, wo sie geblieben ist. Sie wissen auch nicht, dass bei ihr überraschend eine tödlich schwere Krankheit diagnostiziert worden ist, herausgefunden im Anschluss an getrennte medizinische Fruchtbarkeitsuntersuchungen bei ihr und ihrem Mann. Im Falle des Ehemannes – sein schließliches Beinahwissen betreffend – zumindest zunächst noch nicht.

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Keines, bislang leider noch keines der bisherigen Bücher des niederländischen Autors Gerbrand Bakker habe ich vor seinem neuesten, in der Übersetzung Andreas Eckes jetzt bei Suhrkamp erschienenen Roman „Der Umweg“ gelesen. Dass ich mir gerade diesen jetzt ausgesucht habe, dürfte ein besonderer Glücksfall sein. Es handelt sich um eine Lektüre, die sich durchweg gelohnt hat, die – aus verschiedenen Gründen – lange nachschwingt. Dass ich endlich auch so richtig aufmerksam geworden bin auf die Gedichte, die Briefe und die Person Emily Dickinsons, von der ich merkwürdigerweise zuvor allenfalls den Namen kannte, ist dabei ein ganz wundervoller, mir sehr willkommener Nebenertrag.

Bakkers Roman stelle ich seinem erzählerischen Rang nach – ohne zu zögern – dem thematisch verwandten Kurzroman Juan Carlos Onettis „Abschiede“ zur Seite. Gemeinsam ist beiden Romanen die von beiden Autoren beeindruckend beherrschte Kunst des Aussparens und Dennoch-Sagens. Im einen Fall (bei Onetti) entsteht in uns das Portrait eines dem baldigen Tode anheimgegebenen Mannes mittleren Alters, im anderen (bei Bakker) das einer zwar noch relativ jungen Frau in ähnlicher Situation und – ein wenig unpräzis dahinter – das Portrait ihrer wortkargen, eben nur bruchstückhaft aufscheinenden Geschichte und Vorgeschichte. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Leser nach erfolgter Lektüre sein spezifisches Bild von dieser Frau und ihrem Leben als Ganzes haben wird, ohne dass im Buch selbst über bloße Andeutungen hinaus in genauerer Weise triftige Details ihrer Lebensgeschichte mitgeteilt worden wären.

Dass Agnes, sich selber als „Emilie aus Rotterdam“ vorstellend (S.91), die so umfangreiche wie geschwätzige Dickinson-Biographie des Dickinson-Forschers Habegger die sie gegen ihre eigene Erwartung doch nach Wales mitgenommen und eben nicht in ihrem „Büro in Amsterdam“ (S.96) zurückgelassen hatte, schließlich in den Abfalleimer wirft (S.164), scheint mir sprechend genug: Auch eine noch so sehr lückenlos sein wollende Biographie kommt an das Leben eines Menschen nicht wirklich heran. Je angestrengter und detailfreudiger sie sich darum bemüht, umso weniger. Ebenfalls bezeichnend mag es durchaus sein, dass Emilie den Band mit den gesammelten Gedichten der Dickinson selber, obwohl sie diese schon im Ansatz ihrer unvollendet gebliebenen Dissertation keineswegs pauschal zu überschätzen bereit gewesen war, entschieden behält und so weiterhin in Ehren hält.

Ein acht Verse umfassendes Zweistrophengedicht in der englischen Originalsprache eröffnet portalartig, gewissermaßen als Motto Emily Dickinsons, den ganzen Roman Gerbrand Bakkers, ehe wir in die Folge der 61 Kapitel eintreten, die im Verhältnis von 25 : 36 auf die zwei Großkapitel „NOVEMBER“ und „DEZEMBER“ verteilt sind. Als 61. Kapitel steht ganz am Ende, damit dem Roman eine ringförmige Gestalt gebend, eine niederländische (bzw. hier in der Suhrkamp-Ausgabe deutsche) Übersetzung dieser beiden Strophen. Das Originalgedicht hatte nach dem Romantitel das erste, die Übersetzung ganz am Schluss das letzte Wort. Sie wirkt emphatisch unvermittelt als wesentliches Vermächtnis der weiblichen Hauptfigur des Romans; zumal diese Übersetzung ins Niederländische die einzige literarische Frucht ihrer letzten beiden Lebensmonate ist, die sie gezielt zuallerletzt in einem dem Vorbild und Vorleben der Dichterin analogen, ihr selber als Städterin und Ausländerin entschieden fremden ländlichen Rückzugsgebiet zugebracht hat. Noch einmal vor ihrem baldigen Ende will sie sich persönlich als sie selbst erproben.

Auf die Entsprechungen und die Unterschiede, auf die bewussten Adaptionen und die bewussten Abgrenzungen zwischen Emily Dickinson und Emilie, der weiblichen Hauptfigur des Romans, müsste eine nochmalige Lektüre besonders achten.
Einiges jedoch fällt schon bei der ersten Lektüre ins Auge. Agnes (aus Amsterdam!) nennt sich in Wales Emilie (aus Rotterdam!). Wohl bewusst und gleichsam symbolisch nennt sie sich nicht Emily, sondern Emilie; womit sie Nähe und Distanz gleichermaßen andeutet, auch wenn sie in Kauf nehmen muss, dass dieser Name von Bradwen Jones, dem walisischen Jungen, ohnehin englisch ausgesprochen wird. Agnes alias Emilie zieht der Sache nach (mehr indirekt als ausdrücklich) eine Parallele zu Emily Dickinsons ungelebtem Leben und ihrem bisherigen eigenen. Die meisten ihrer Aktions- und Reaktionsweisen, ihrer fluchtartigen Verhaltensweisen, die uns der Roman ins Bewusstsein ruft, lassen sich von diesem Kontext her besser verstehen.

Dazu passt, dass das englische Einstiegsgedicht nicht nur sprachlich übersetzt wird (S.182f.), und zwar so, wie wir es dem abschließenden Übersetzungsergebnis entnehmen können. Noch wichtiger für Agnes alias Emilie ist die mehr als sprachliche, die handlungsmäßig praktische Übersetzung dieses Gedichtes, will sagen: die ihr aus eigener Kraft noch mögliche, praktisch-szenische Umsetzung dieses Gedichtes. Dieses Gedicht wird von ihr zuletzt geradezu inszeniert: Es dient Emilie-Agnes zur selbstbestimmten Verlebendigung ihres Endes, zur selbstbestimmten vorzeitigen Herbeiführung des durch ihre schwere Krankheit in nächster Zeit ohnehin unvermeidbaren Lebensendes. Sie will ihren eigenen Tod sterben. Und auch der junge Mann, Bradwen, der im Dezember (!) gekommen ist und ihr im Angesicht ihrer schrittweise zunehmenden Hinfälligkeit so tatkräftig wie selbstverständlich geholfen hat, mit dem sie sich zuallerletzt, obschon auch einen Sohn in ihm erblickend, als Geliebte noch verbunden hat, vielleicht auch, damit er nur ja keinen Verdacht schöpft, gerade auch dieser soll sie erst n a c h ihrem Tode von neuem sehen. Deswegen schließt sie ihn nicht ohne Eigensinn und Hinterlist etwas entfernter von ihrem vorgesehenen Sterbeort ein und so vor ihrer zum Tode führenden Inszenierung optisch aus, die sie zusätzlich mit für sie sonst unüblicher, klassischer Musik teils übertönt, teils feierlich gestaltet. Ihr Mann, der inzwischen über einen Detektiv auf ihre Spur gekommen ist, findet sie mit dem ihn wegen seines Gipsbeines als Fahrer begleitenden Polizisten – erschließbar, aber in zumindest denkbarer Direktheit unerwähnt – nur als Leiche vor. Eine normale Reaktion empathisch-emotionaler Art des Ehemannes wird nicht mitgeteilt; als wenn sie ohnehin nicht zustandegekommen wäre. Dies spricht eine eigene Sprache: In ihrer Ehe bleibt Agnes alias Emilie allem Anschein nach auch n a c h ihrem Tode noch so allein, wie sie es zuvor in ihrem ganzen kinderlosen Ehe- und früherem Familienleben gewesen ist.

Unabhängig davon: Auch der Junge, der junge Bradwen, begibt sich nach seinem „Umweg“ (S. 151, S. 228f.) von diesem wieder weg auf den ursprünglich von ihm beabsichtigten Weg zurück. Wie eine ihr selber unbewusst Verklärte hat er Emilie-Agnes am Vortage nach ihrem ersten und zugleich letzten Zusammensein in geradezu neuer, so noch nie dagewesener Schönheit gesehn (S.226). Ehe er nun, nach ihrem Tod, (merkwürdig klaglos) wieder seiner eigenen Wege geht, schmückt er den von ihm unlängst für sie festlich geschmückten Weihnachtsbaum wieder ab und pflanzt ihn mit seiner noch lebenskräftigen Wurzel erneut ein. (S.228)

Gerbrand Bakker: „Der Umweg“. Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag, 228 Seiten; 19,95 €




Befreiung oder Verhängnis: Oper vs. Ehetrott in Peter Henischs neuem Roman

Der neueste Roman des österreichischen Schriftstellers Peter Henisch, „Großes Finale für Novak“, beginnt, ehe er beginnt, mit einem Bilderrätsel auf dem Schutzumschlag.

Eine requisitenhafte Amsel mit ihrem zu Gesang aufgesperrtem Schnabel, eine wie schussbereit von uns Betrachter…n abgewandte, aber irgendwie zielgerichtete Pistole – und eine Musikkassette, deren Bandaufspulung (fortan unabspielbar) aus dem Gehäuse herausgedröselt worden ist, bilden insgesamt eine Art Girlande, ein kunstvoll arrangiertes schwarzes Gebinde um das Blockbuchstabenzentrum herum, nämlich den Autorennamen, den in große rote Lettern gesetzten Romantitel und die Gattungsbezeichnung Roman, wodurch einerseits eine Inschrift, gleichsam wie auf einem Grabstein, assoziiert werden kann und andererseits in Folge der luftschlangenhaften Umrahmung sich etwas Theaterhaftes, Karnevaleskes, Silvesterscherzartiges anzukündigen scheint.

Was hat es mit der requisitenhaften Amsel und der requisithaften Pistole und dem ausgewickeltem und girlandenhaft unabspielbar gemachten Musikkassettenband aber denn nun auf sich?
Nein, ich gebe jetzt noch keine Antwort. Verfasse auch keine genaue Inhaltsangabe. Sage statt dessen allen potentiellen Leser…n aus voller Überzeugung: Eine lohnende Lektüre wartet! Schon wegen der Schreibweise! Aber nicht nur deswegen!

Auf alle Bilderrätselfragen des Schutzumschlages gibt der so schnell und leicht und so erfreulich unterhaltsam zu lesende und zugleich alles andere als anspruchslose Roman von Peter Henisch zunehmend seine eigene, zum Teil überraschende Antwort.

Peter Henisch: „Großes Finale für Novak“. Roman. Residenz Verlag. 304 Seiten, 22,90 Euro.

Auch wenn das gesamte nacherzählbare Handlungsgeschehen dieses Romans sich eklatant in einem einzigen Satz eines Polizeiberichts zusammenfassen ließe, bliebe dennoch sein Bestes unerwähnt. Das Beste dieses tragikomischen Romans, sein merkwürdiges Ineinander von Ironie, Amüsantheit und Schonungslosigkeit, ist nur der Lektüre selber zugänglich.

Mein eigenes Lektüreinteresse entzündete sich bereits an der Eingangsidee bzw. am Ausgangspunkt dieses Romans. Ein fünfundfünfzigjähriger, vorzeitig in den Ruhestand gehender bzw. in ihn hineingedrängter Postbeamter namens Franz Novak, der ganz ähnlich wie seine 48jährige Frau Herta niemals zuvor mit Opernmusik etwas am Hute gehabt hat, kommt unter ganz bestimmten Bedingungen im Krankenhaus dennoch mit solcher in Berührung, entwickelt so nach und nach Gefallen daran, ja wird mehr und mehr auf Opern versessen. Worüber seine Frau, als er aus dem Krankenhaus zurückgekehrt ist und er sich heimlich neuerworbene CDs anhört, überaus überrascht ist und deshalb etwas anderes dahinter vermutet. Sie wird eifersüchtig auf die junge indonesische Krankenschwester, von der ihr Mann die Opernkassetten samt Köpfhörern leihweise zur Abschirmung gegenüber äußerem Lärm für die Dauer seines Krankenhausaufenthaltes erhalten hatte; argwöhnisch eifersüchtig ist sie fortan, weniger aus Liebe zu ihrem Mann als aus Besitzanspruch und Besitzer…stolz und einem Gefühl eigener Gekränktheit heraus. Sie kämpft um ihn, dumpf entschlossen und rücksichtslos intrigantisch auch da noch, wo er selber es gar nicht merkt, und zerstört in letzter Konsequenz – und auch nachträglich noch in empörender Ungerührtheit – das Leben der Krankenschwester und ihrer kleinen Familie. Kleine Ursache, große Folgen! Überdies auch noch in einem anderen, im weiteren Romanverlauf zu erfahrenden Sinne.

Was mich an diesem Roman besticht, ist seine geschickte Dosierung und seine nur auf den ersten Blick harmlos unterhaltliche Aufdeckung von hinterhältiger Rücksichtslosigkeit. Am Anfang hatte ich mich vordringlich dafür interessiert, wie das wohl ginge, dass aus einem eingefleischten Opernmuffel noch in späten Jahren ein ausgesprochener Opernfreund zu werden vermöchte. Und siehe da: Das erfährt man auch. Wie nebenbei. Und durchaus informativ. Aber wohldosiert. Ohne jegliche Überfrachtung. Ein pädagogischer Zeigefinger, was zu tun sei, um den musikalischen Geschmack „in bildungsfernen Schichten“, also überall in unserer Gesellschaft, zu heben, fehlt völlig. Frühere, erst kürzlich verlassene Phasen des musikalischen Geschmacks (Tina Turner und Joe Cocker) werden nicht verleugnet. Ebenso werden „Heavy Metal“-CDs, die der vor Jahren nach Kanada ausgewanderte gemeinsame Sohn des Ehepaars, Bernd, in seinem Zimmer zurückgelassen hat, gebührend in das Geschehen miteinbezogen, als es für Franz Novak darum geht, den Lärm von Motorsägen und zusätzlichen Pressluftbohrern mit Kopfhörergegenwehr zu übertönen.

Sicher: Die Verfeinerung des Gehörs bei Franz Novak durch sein gezieltes, mehr und mehr interessiertes Opernhören wird ganz nebenbei auch deutlich, aber was der Roman vor allem zeigt, sind Szenen einer betagten Ehe, in der man sich wechselseitig zu kennen meint und doch immer wieder entscheidend verkennt. Insbesondere Herta Novak wird von ihren argwöhnischen Unterstellungen ihrem Mann gegenüber und dem in ihr schlummernden, nun akut virulent werdenden Ausländerhass beherrscht. Aber auch Franz Novak verkennt mitunter die gelegentlich eben auch vorhandenen, besseren Regungen seiner Frau, an die sich vielleicht anknüpfen ließe. Er ist zu zögerlich, schiebt zu vieles auf die lange Bank und unterlässt so heilsam vernünftige Schritte, die er manchmal durchaus ins Auge gefasst hatte. In seiner Ehe, in der die Frau das Sagen hat bzw. das Sagen mehr und mehr erlangt hat, wäre es in einem eher lieblosen Nebeneinander wohl noch länger so weiter gegangen, wenn nicht bei Franz Novak mit plötzlich einsetzender Macht die unerwartete Begegnung mit den Opern (gestuft in Form von Musikkassetten, CDs, Radiosendungen und eines einzigen, auch scheiternden Staatsopernbesuches) dazwischengekommen wäre, die in ungeahnter Konsequenz eine ganze Kettenreaktion in Gang setzt, insbesondere aber eine wichtige Ventilfunktion hat, sofern sie von da an weidlich genutzte, innere Freiräume durchgängig bereitzustellen in der Lage ist.

Fast könnte man auf die Idee kommen, dass durch Peter Henischs Roman „Großes Finale für Novak“ der auf die (im Roman nicht vorkommende) Eheoper „Fidelio“ gemünzte Terminus „Befreiungsoper“ einen veränderten, paradox-ironischen Sinn bekommen hat. Jegliche Oper ist für Franz Novaks inneren Haushalt der Sache und der Funktion nach eine Befreiungsoper. Henischs Roman selber hat gelegentlich ebenfalls diesen Charakter. Bei näherem Hinsehen jedoch ist dieser mit Bedacht tragikomisch grundierte Roman keinesfalls nur Oper im Sinne von Befreiungsoper, auch wenn die das letzte Wort zu haben scheint, sondern mindestens ebensosehr Oper im Sinne von Verhängnis à la „Die Macht des Schicksals“.

Noch eins: Wieso nur kam ich beim Lesen recht bald auf die Idee, die österreichische Gegenwartsliteratur habe in Peter Henisch auch so etwas wie ihren eigenen Wilhelm Genazino gefunden?




Otto ist jetzt die Otto-Waalkes-Coverband

Gitarre her, Finger fliegen, Ulkgesicht, Gag, Gag, Stimme hoch, runter, Zack, Pfiff, Schnalz, Gag, Gag, Gitarre in die Ecke rumpeln und weiter geht’s.

Das war Otto damals – in den 70ern. Es wird Nacht, Señorita, klonk-zisch-kuckuck-pfeif, und ich habe kein Quartier…

Solche Dinge Lacher halt. Rasant, anarchisch, chaotisch. Unerreicht.

 

Die alten Stücke – nur langsamer

Otto 2011 ist anders. Otto 2011 ist: Hollerahitti, schaut mal, wen das kleine Ottili euch mitgebracht hat. Louis Flambé, Harry Hirsch, die Ottifanten und Robin Hood, der Rächer der Enterbten. Puh, war das anstrengend – erst mal ’ne Pause!

Otto Waalkes ist gewissermaßen eine Otto-Waalkes-Coverband geworden. Er spielt die alten Stücke nur an, selten zu Ende, viel langsamer als damals, dafür mit mehr Pausen und viel mehr Publikums-Beteiligung.

Hallo Dooortmund. – Hallo Oootto.

 

Das Publikum singt selbst

Dreist wird es, als sich Otto die Gitarre schnappt, rhythmisch anschlägt und singt: „Weine nicht, wenn der Regen fällt.“ Der Saal antwortet mit „Dam dam“, mit dem ganzen Rest von „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Waalkes treibt das Spiel weiter. „Er gehört zu mir“, „Wahnsinn“, „Das geht ab“, „Ein Stern“ – Otto spielt Gitarre, das Publikum singt minutenlang. Jede Coverband würde sich freuen, so leicht ihr Geld zu verdienen.

Dann hätte ja eigentlich er Eintritt bezahlen müssen, witzelt Otto. Der Saal lacht. Zwei Stunden später denkt manch ein Zuschauer sicherlich: Stimmt, Otto, das hättest du tatsächlich.

 

Imitieren, improvisieren, grimassieren

Otto kann immer noch schnellsprechen, imitieren, grimassieren, die Stimmlage nach Belieben wechseln. Wenn etwas schiefgeht, improvisiert er gekonnt. Er platziert neue Gags punktgenau. Das Handwerkszeug beherrscht er.

Waalkes (63) geht auf Nummer sicher. Mario Barth, Lady Gaga, Satellite-Lena und Unheilig sind bekannt genug, dass er ihnen Platz im Programm gibt. Ansonsten tun’s halt wieder Peter Maffay, Reinhard Mey, Udo Lindenberg.

 

Hingehen? Höchstens deshalb

Also hingehen? Waalkes wählen? Otto onschauen? Höchstens aus zwei Gründen:

  1. die gelungene Zeichensprachen-Nummer. „Schwerte“, „Obercastrop“, „Langendreer“, „Lütgendortmund“ und „Hombruch“ werden anzüglich und mit zwei Fahnen dargestellt.  Wer seinen Ort mal so sehen will – ab an die Restkarten.
  2. Ottos Status. Waalkes Superstar. Er ist nun einmal der Comedy-Urahn in Deutschland. Wer denkt „den muss man doch irgendwann mal live gesehen haben“, der sollte ihn mal live sehen gehen.

 

Allen anderen: www.youtube.com

Oder – noch besser: „Live im Audimax“, am allerbesten aus der alten Plattensammlung.




Schokoladensüße Liebeskomödie

Angélique und Jean-René haben einiges gemeinsam: Sie sind beide sensibel und schüchtern, sie sind romantische Träumer und nicht ganz von dieser Welt, sie haben eine große Leidenschaft für Schokolade – und sie sind Singles. Eigentlich die besten Voraussetzungen, um sich ineinander zu verlieben und endlich den Partner fürs Leben zu finden.

Doch was beide miteinander verbindet, trennt sie zugleich. Angélique und Jean-René können zwar über neue Pralinen-Kreationen und gaumenfreundliche Raffinessen reden, sich auch insgeheim anschmachten. Aber ihre Gefühle können sie einfach nicht offen legen. Da helfen keine Psychologen, und auch die Leidensgenossen, die sich allwöchentlich bei den „Anonymen Romantikern“ treffen, wissen keinen Rat. Es sind also noch einige emotionale Klippen zu meistern und manche Widerstände zu überwinden, bis die schokoladensüße Liebeskomödie ein gutes Ende findet.

Dass es ein Happyend gibt, daran besteht natürlich von vornherein kein Zweifel. Doch was schön ist für Angélique (Isabelle Carré) und Jean-René (Benoit Poelvoorde), bringt den Kinozuschauer eher zum Gähnen. Es gibt einfach keine Überraschungen, alles läuft wie am Schnürchen, sogar die eingebauten Hindernisse sind so klein, dass man sie mit ein bisschen Fantasie leicht überwinden kann. Und so wird der von Regisseur Jean-Pierre Améris mit leichter Hand erzählte und von wunderbaren Komödianten gespielte Film leider zu einem überschaubaren Vergnügen.

Filmplakat (Delphi-Verleih)

Filmplakat (Delphi-Verleih)

Wundert sich jemand, dass die Schokoladenmanufaktur von Jean-René, diesem sympathischen Kauz mit dem dümmlichen Grinsen, kurz vor dem Ruin steht – und dann nur von der kokett lächelnden Angélique und ihren raffinierten neuen Kreationen gerettet werden kann? Bleibt nur noch die Frage zu klären: Was geschieht, wenn die beiden endlich aus dem Kreis der „Anonymen Romantiker“ ausbrechen und sich das Jawort geben wollen? Die Hochzeit, das darf man hier ruhig verraten, verläuft nicht ganz nach Plan. Aber auch das hätte sich der schmunzelnde Zuschauer denken können.

Ein charmanter Film über die amüsanten Verklemmungen empfindsamer Menschen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.




Eine Liebe im Schatten der Ideologie

Das erste, was der Leser des neuen Buches von Barbara Honigmann wahrnimmt, ist das Bild eines schlanken und großen Radfahrers. Im Hintergrund scheint sich, der Wolkenbildung nach zu urteilen, ein Gewitter anzukündigen. Die rechte Hand hält der direkt auf den Betrachter zuradelnde Mann an die Stirn. Wahrscheinlich hat er, wie die Autorin später im Buch mutmaßen wird, wieder einmal Kopfschmerzen.

Vor allem daran erinnert sich Barbara Honigmann, die das von ihr selbst gemalte Bild ihres früheren Geliebten auf dem Cover ihres Buches zeigt: dass der Mann so dürr und lang war, oft Migräne hatte und sich schnell aus dem Staub machte, wenn es ernst wurde und die Frauen, die ihn umschwirrten wie Motten das Licht, seine intellektuelle Abkapselung durchdringen wollten. „Wenn ich an A. denke“, schreibt Honigmann, „bin ich verletzt, beleidigt, fühle mich abgewiesen und ausgenutzt, er ist mir fern, fremd, unverständlich, und ich liebe ihn. Wir sind, wie man so sagt, im Bösen auseinander gegangen. Unversöhnt. A. ist jetzt tot.“

„Bilder von A.“ heißt das Buch. Es ist, wie alle Bücher der jüdischen Autorin, die 1984 die DDR verließ und ins französische Straßburg zog, ein auf das Nötigste komprimiertes Bändchen. Es gibt kein überflüssiges Wort, keine erklärenden Umschreibungen. Nur die flüchtigen Erinnerungen, die Bilder und Briefe, die sie noch von jenem Mann hat, den sie A. nennt, spielen eine Rolle.

A., das ist nicht allzu schwer zu dechiffrieren, ist Adolf Dresen, der im Jahre 2001 verstorbene Theater- und Opern-Regisseur, Vater von Filmregisseur Andreas Dresen. Die beiden, was Temperament und Alter angeht, völlig verschiedenen Künstler lernten sich bei einem Kleist-Projekt kennen. Barbara Honigmann war damals eine junge, unbekannte Dramaturgin, Dresen ein in der DDR hoch angesehener Bühnenguru. Zusammen entwickelten sie Ideen für mehrere Kleist-Inszenierungen, Text-Abende und Konzerte. Doch während die von Dresen arrangierten Inszenierungen („Prinz von Homburg“, „Der zerbrochene Krug“) den Beifall der Zensoren fanden und noch jahrelang auf dem Programm standen, wurden die von Honigmann eingeübten Aufführungen (ein Kinder-Kleist-Stück und ein musikalisch-kritischer Kleist-Abend) nach den ersten Vorstellungen abgesagt. Die aufmüpfige Jung-Regisseurin wurde gefeuert. Damit war zwar die Theater-Karriere von Honigmann beendet, die Liebesaffäre mit dem verheirateten Dresen aber noch lange nicht.

Ausführlich und ungeschminkt von den Schwierigkeiten und Verletzungen dieser Liebesgeschichte zu erzählen, würde vielleicht voyeuristische Neugier wecken. Doch das interessiert Barbara Honigmann keinen Moment. Ihr geht es darum, das exemplarische Scheitern einer Liebe vor dem Hintergrund der ideologischen Katastrophen und religiösen Widersprüche zu zeigen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben.

Barbara Honigmann hat schon mehrfach („Damals, dann und danach“, „Roman von einem Kinde“, „Eine Liebe aus nichts“, „Alles, alles Liebe!“) ihre Lebensgeschichte für fiktive Verwirrspiele benutzt, hat davon erzählt, wie ihre kommunistischen Eltern aus dem englischen Exil in die DDR kamen, um den Sozialismus aufzubauen – und dafür ihre jüdischen Geschichte über Bord warfen und verdrängten. Honigmann hat berichtet, wie sie ihr Judentum wiederentdeckte, antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war und schließlich nach Frankreich auswanderte. Seitdem blickt sie von dort, kritisch und mahnend, auf Deutschland.

Wer die Zukunft gestalten will, muss die Vergangenheit verstehen. Für die Autorin heißt das: sich vergegenwärtigen, warum der Kommunist Dresen seiner Geliebten das Judentum ausreden wollte, warum er ihr, damals in Ostberlin genauso wie später in unzähligen Briefen, unterstellte, sie hätte sich nur aus Unzufriedenheit mit dem realen Sozialismus der DDR, quasi als antisozialistische Attitüde zum Judentum bekannt. „Warum reitest Du immer auf den jüdischen Dingen herum“, hat A. in einem Brief gefragt. Doch da war die Liebe zwischen den beiden schon längst zerbrochen, hatte sich die junge Frau längst aus den Fängen der intellektuellen Bevormundung befreit und auf den Weg in ein eigenes Leben gemacht. Spätestens da wusste Barbara Honigmann auch, dass die Deutschen und die Juden noch lange brauchen würden, bis sie den anderen verstehen.

Barbara Honigmann: „Bilder von A.“ Hanser Verlag, München. 137 Seiten, 16,90 Euro.




Geschichten vom Herrn Kaum (4)

IM SAAL DER VENUS MIT DEM HÜNDCHEN

Eine grazile Italienerin, die wie eine Russin sprach, vielleicht eine Russin war, jedenfalls eine russische Gruppe durch die Uffizien führte, inszenierte vor den Bildern, zumal der Venus von Urbino, sehr gesten-, pausen- und wortreich und doch dosiert, ein höchst wirkungsvolles Frage- und Antwortspiel … mit sich selber. –

Mit geschmeidiger,
mit insinuierend
schmeichelnd
schöner Stimme.

Höchst attraktiv
und anziehend. –

Wer hörte da nicht – wiewohl dieser fremden Sprache kaum mächtig … und doch sie jäh zutiefst verstehend – mit einem Male die Sprache Puschkins in Vollendung? –

Sie hörend
und sehend

wen denn?
die Sprache?
die Stimme?
die Frau?

Sie hörend
und sehend

ward Herr Kaum

– verliebt –

für einen noch so kleinen
Zeitpunkt bloß

zutiefst
zu einem Russen.




Helga am Küchentisch in bester Wohnlage…

43-jährige Bibliothekarin sucht Mann und veranstaltet deshalb ganz gezielt Literaturlesungen, auf denen der Richtige auftauchen möge. Bringt nichts. Schließlich gibt sie eine Annonce unter „Bekanntschaften“ auf und trifft einen Programmierer. Doch beim ersten Kino-Date taucht dummerweise auch eine Freundin aus der Frauengruppe im Lichtspielhaus auf.

Nun gut. Kann sein, dass so etwas vorkommt. Warum denn nicht?

Im vorliegenden Buch wird daraus eine strenge Versuchsanordnung, die Lage wird mit allem Für und Wider umständlich erörtert; feministisch grundiert, mit langjähriger (Selbst)erfahrenheit unterfüttert, schließlich kolumnenhaft zubereitet wie für eine halbwegs gediegene Zeitschrift. Nur: Ist das eigentlich Literatur?

Es sind meistenteils nur Vorüberlegungen, denen eine literarische Verarbeitung erst folgen müsste.

Im neuen Erzählband der vor allem als Filmemacherin bekannten Helke Sander (täuschend knackiger Buchtitel: „Der letzte Geschlechtsverkehr“) wird leider kaum erzählt, sondern fast immer nur erwogen, bedacht, durchgekaut und geschwätzig verplaudert. So gut wie nichts bleibt ausgespart in dieser ungelenken Erklär- und Erläuterungsprosa. Man betrachte nur einmal solche Anfangssätze: „Helga am Küchentisch in einer Wohnung bester Hamburger Lage hebt horchend den Kopf von einem Artikel in der ZEIT…“ Natürlich erfährt man auch, welchen Artikel diese Helga gelesen hat. Es bleiben keine Fragen offen. Der Leser sieht sich rundum informiert oder auch – bösartig gesagt – „zugetextet“. So erschlafft nahezu jeder Spannungsbogen.

Die Geschichten handeln von Frauen jenseits der Lebensmitte – bis hinauf ins hohe Alter. Gegen Ende wird ein 95. Geburtstag begangen (Figur einer renitenten Greisin), es wird eine Goldhochzeit gefeiert (Bilanz einer Ehe als stetiger Unglücks-Quell, der aber immerhin halbwegs verlässlich sprudelt) – und schließlich tratscht ein gewiefter Damenkreis über eine vor Jahren Verstorbene, die es zu Lebzeiten offenbar wüst und egozentrisch getrieben hat. Überhaupt liest sich vieles wie der Ausfluss einer intellektuell angehauchten Damenrunde im besseren Lokal.

Gewiss: Da wird manche Leserin ausrufen „Das kenne ich doch!“ Denn da wird ja etlicher Lebensstoff ausgebreitet, da werden einige Modellbiographien der Mittelschicht beäugt. So etwa aus jener Alt-Achtundsechziger-Senioren-WG, in der peinlich laute Geräusche auf wilden Sex hindeuten. Auch hören wir von einer auf- und abgeklärten Frau, die mit fast 60 seit zehn Jahren mönchisch allein lebt, während – wie gallig konstatiert wird – viele Männer ihres Alters sich eine Jüngere nehmen.

Welch ein wiederkehrender Jammer: Die alten Fesseln aus der Vor-68er-Zeit sind gesprengt, doch adäquate neue Formen noch nicht gefunden. Keine Generation hat den Frauen von heute vorgelebt, wie das Altern unter jetzigen Bedingungen noch gelingen könnte… Beiseite gefragt: Haben es frühere Generationen in dieser Hinsicht wirklich besser getroffen?

Egal. Aus solchem Befund ließe sich bestimmt etwas Erzählerisches formen, es hört sich im Ansatz ja wirklich interessant an. Doch das Gros der Geschichten wird zunichte durch den eklatanten Mangel an erzählerischen Mitteln. Hier muss mal ein etwas längeres Zitat her. Typischer Duktus eines Abschnitts über Frauen „mit Migrationshintergrund“:

„Vom Grundsatz her schien diese Trennung der Bereiche jedenfalls eine bedenkenswerte Möglichkeit, das Leben zu organisieren, wenn sie nur vollkommen freiwillig wäre. Aber wie sollten die in ihrer Mehrheit hier lebenden ungebildeten, analphabetischen und häufig in Rechtlosigkeit gehaltenen Frauen mit ihren Männern ein Bewusstsein über die Vorteile ihrer eigenen gewachsenen Kultur entwickeln.“

So staubtrocken reflektiert kann man vielleicht durch einen Aufsatz staksen, wenn man auf sprachliche Geschmeidigkeit keinen Wert legt. Doch mit Belletristik hat das wenig zu tun, sondern allenfalls mit sang- und klanglosem Zergliedern.

Helke Sander: „Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern“. Verlag Antje Kunstmann, München. 160 Seiten. 16,90 Euro.




„Fliegende Fische müssen ins Meer“: Zauberhafte Kino-Komödie aus der deutschen Provinz

Noch gar nicht lange her, da spielte Meret Becker junge Frauen, die, auf dem Weg zu sich selbst, viele Irrungen und Wirrungen auf sich nehmen und manch emotionalen Umweg gehen mussten. Jetzt, ein paar Jahre später, ist sie zwar zur Leinwandmutter dreier Kinder geworden, aber eigentlich ist sie immer noch so überdreht und verrückt, Probinzunberechenbar und komisch wie ehedem. Irgendwie nicht von dieser Welt. Das ist auch gut so. Denn sonst wäre „Fliegende Fische müssen ins Meer“, der von Güzin Kar (Drehbuch und Regie) in Szene gesetzte Film über Lust und Leid des Lebens einer allein erziehenden Mutter in tiefster deutscher Provinz, wohl kaum zu dem geworden, was er ist: eine wunderbar leichte Komödie darüber, dass das Leben einfach kompliziert ist und doch spannend und schön sein kann.

Szenenbild (Foto: movienet)

Szenenbild (Foto: movienet)

Eine karge Inhaltsangabe (arbeitslose Mutter, drei Kinder von drei verschiedenen Männern, bedrängt von humorlosen Behörden, beäugt von miefigen Nachbarn) würde nach verdrießlichem Sozialdrama klingen. Das Gegenteil ist der Fall. Roberta (Meret Becker) stolziert mit roten Pumps und rotem Kleid durchs graue Dorf, verdreht dickbäuchigen Männern den Kopf und infiziert allmählich sämtliche Frauen mit erotischen Träumen. Das ist nicht weit vom Klischee, aber trotzdem lustig.

Wer etwas mehr Tiefgang möchte und miterleben will, wie sich Jugend und Intelligenz paaren und Wunsch und Wille zu einer praktikablen Lebensstrategie verbinden, sollte sich die junge Elisa Schlott ganz genau ansehen. Sie ist die Sensation des ebenso witzigen wie anrührenden Films. Elisa Schlott ist die 15-jährige Nana, Tochter von Roberta. Sie jobbt als Schleusenwärterin beim Wasserkraftwerk, würde aber gern das Leben und die Liebe erkunden, loslaufen in die Welt und Schiffskapitänin werden. Doch meistens muss sie auf ihre ausgeflippte Mutter aufpassen und ihre kleinen Geschwister versorgen. Und dann verknallt sich Nana auch noch in Eduardo (Barnaby Metschurat), diesen schönen, rätselhaften neuen Arzt, den es aus unerfindlichen Gründen in das abgelegene Dorf am Rhein verschlagen hat. Eduardo ist der halbseidene, geheimnisvolle Zauberer, der direkt aus einem alten Shakespeare-Stück in den neudeutschen Film entsprungen zu sein scheint – und wieder verschwinden wird, wenn seine Arbeit getan ist und jeder bekommt, was er braucht: eine Zukunftsperspektive.

Bilder und Dialoge balancieren gekonnt zwischen satirischer Wirklichkeit und magischem Realismus. Ein kleiner Film mit großer Wirkung. Ein Juwel.

(Kinostart: 25. August)




Kaffeebohnen-Leserei

Man(n) wollte es, man(n) wollte es nicht,
man(n) tat es, man(n) tat es nicht.

Derweil lagen die Bohnen auf dem Tisch.

man(n) schaute sie an, man(n) schwieg.

Es tat gut zu schweigen, nach all der Aufregung.

Ja, es war sogar notwendig.

Da waren also diese Bohnen, wie aus heiterem Himmel,

plötzlich auf den Tisch geregnet und natürlich auch gefallen.

Man(n) hatte noch den Klang in den Ohren.

Und auch der Duft war ihm wohlvertraut.

Immer mit der Nase nochmal daran, wer kennt das nicht?

Aber nun war es still.

Es hatte sich ausgeregnet.

Alles lag vor einem, ohne, dass man(n) begriffen hätte..

Man(n) möchte es trotzdem….

Und vielleicht lag sogar eine Notwendigkeit darin?

Aber wer wollte das behaupten?

Vor dem Behaupten, das Verstehen.

Aber wer legt sich schon gerne mit tausend Kaffeebohnen an?

Versuchen Sie mal 1000 Kaffeebohnen zu verstehen.

Da hat man(n) was am Hals.

So dann die Frage, ob man(n) es nicht besser lässt?

Gut, man(n) könnte auch einige einfach in ein Säckchen packen,

dann hätte man(n) einen besseren Überblick.

Aber verstünde man(n) dann mehr?

Foto / Text: Stefan Dernbach (LiteraTour)




Soziale Miniaturen (10): Am Friedhofstor

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof (Bild: Bernd Berke)

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof (Bild: Bernd Berke)

Vier Rentnerinnen am schmiedeeisernen Tor zum Friedhof. Trautes Tratschen im Vorfeld der letzten Dinge.

Auf einmal kommt Bewegung in das Grüppchen. Schräg gegenüber, nah beim Hospiz, haben sie ein noch älteres Paar erblickt, vielleicht um die 85 Jahre. Es sind zwei, die innig zueinander gehören. Jetzt und für immerdar. Das sieht man sofort, wenn man es sehen will. Sie sind rührend umeinander bemüht. Die Erde wird ihnen daher so leicht, wie es noch irgend geht. Man mag an den Mythos von Philemon und Baucis denken. Aber diese beiden hier machen den Eindruck, als hätten sie sich erst kürzlich kennen gelernt. Etwas Neues, wie frisch Verliebtes ist in ihrem Tun, in ihrer ganzen Haltung, so gebeugt sie auch zwangsläufig sei.

Und die vier am Friedhofstor? „Ach, guckt mal da, unser Pärchen“, zischelt eine. Gelächter. Das steigert sich noch, denn eine andere ergänzt: „Unser Pärchen / wie Hans und Clärchen…“ Falscher Reim aufs Leben.




Im Kino: Udo ist eben doch nicht Kurt Krömer

Mal wieder ins Kino gegangen, weil im WDR ein Interview mit Kurt Krömer über seine Rolle als „Udo“ zu sehen und zu hören war. Hat es sich gelohnt?

Natürlich ist Kurt Krömer im Detail immer ein Hinsehen wert. Im Film „Eine Insel namens Udo“ spielt Krömer aber gar nicht seine Rolle als Kurt Krömer, sondern einen eher schüchternen, etwas zerbechlichen Mann, ohne Krömers markante Brille. Er ist der Kaufhausdetektiv Udo, der von allen übersehen wird – „schwersichtbar“ eben – bis die Managerin Jasmin kommt und ihn wahrnimmt, samt Flecken im Hemd und seiner schrulligen Art. Sie ist auf ihre Weise eben selbst ein wenig kauzig, und so endet diese Komödie dann auch etwas naiv romantisch.

Gelohnt hat sich der Kinobesuch wegen der teils witzigen Dialoge und der schrägen Bilder. Auch die Grundidee, dass Udo unsichtbar sein kann und nur von seinen engen Freunden und eben von Jasmin gesehen wird, hat einen gewissen Reiz. Allerdings habe ich mich in der Mitte auch ein wenig gelangweilt, denn die Geschichte wird doch sehr in die Breite gewalzt. Übrigens waren wir im Kino auch fast allein – „Bad Teacher“ zieht doch mehr Leute an.

Im Abspann konnte man lesen, dass ARTE und der WDR die Mitfinanzierer waren. Also aufgepasst: Demnächst auf Ihrem Bildschirm „Eine Insel namens Udo“. Wahrscheinlich um Mitternacht.




Soziale Miniaturen (7): Herrenrunde

Kleinstädtisches Ausflugslokal, sonntags. Norddeutsche Herrenrunde am späten Nachmittag. Alle in den Sechzigern. Großväter, finanziell arriviert und arrondiert. Sie würden sich als gestandene Männer bezeichnen. Man ist mit dem Bürgermeister per Du.

Die ersten drei, vier Biere haben sie verdrückt. Man muss nicht lauschen, um manches zu hören. Jetzt schlägt einer vor, endlich mal den ersten Schnaps zu nehmen. Ein anderer möchte vorerst beim Bier bleiben. Gejohle am Tisch: „Entweder alle oder keiner!“ Man einigt sich schnell auf „alle“. Als einer im Lokal einen Weißwein trinkt, sind sie geradezu aufgebracht. Weißwein bei uns an der Küste! Unmöglich. Wahrscheinlich ein Pfälzer. Oder ein Schwuler. Hohoho.

Zwei Tische weiter begeht eine Frau den „Fehler“, diskret ihr Baby zu stillen. Die einschlägig geeichten Herren bemerken es trotzdem und rufen halblaut herüber: „Musste den Pullover richtig hochziehen, dann kommt das Kind besser ran.“ Launige Lachsalve der Marke „Nix für ungut“. Besser aber, dass die Frau es nicht vernommen hat oder es geflissentlich ignoriert.

Da kochen sie wieder im eigenen Saft.

Wenig später betritt ein junges Paar die Gaststätte. Die Herren stecken die Köpfe zusammen. Die Frau erinnert sie ohne Umschweife an „eine Professionelle“, wie sie es nennen. Tuschelnd werden Mutmaßungen ausgetauscht. Ach was, keine Vermutungen. Tatsachen! Man kennt sich aus im Leben. Ihnen kann niemand etwas vormachen.

Dann wird es wieder lauter: Im Nu ist man bei Kachelmann, Strauss-Kahn und dem berüchtigten Betriebsausflug der Versicherungsleute nach Ungarn. Man weiß Bescheid. Und man hat seine klaren Ansichten.

Noch bleibt es unausgesprochen, doch es zittert in der Luft: Die Welt ist voller Sex, wie soll man da widerstehen? Und diese jungen Dinger, also bitteschön! Zicken! Biester! Wenn nicht Huren…

Wenn man nur noch besser zurecht wäre, so wie früher. Und wenn die Alte zu Hause nicht wäre. Ja, dann würde man noch einmal durchstarten.

Soweit die Vorglühphase.




Soziale Miniaturen (6): Im Herrenhaus

Die ältere Dame trägt wochentags stets einen schwarzen Kaschmir-Pullover. Sie sagt, sie sei einst Schauspielerin bei einem weltberühmten Regisseur gewesen. Beinahe achtlos lässt sie auch Namen wie Marianne Hoppe oder Will Quadflieg herabtropfen. Sie macht kein Aufhebens davon, sondern handelt es ab, als sei es selbstverständlich, derlei Theaterprominenz gekannt zu haben.

Sie lebt in einem weitläufigen Herrenhaus mit riesigem Park. Nebenher vermietet sie einige Ferienwohnungen auf ihren Latifundien. Weitere Domizile liegen in einer deutschen Metropole und in Übersee.

Früh hatte sie die Schauspielerei aufgegeben und sich in gewisse Formen des Journalismus eingefunden. Anfangs hat sie triviales Geschichten für damals noch florierende Illustrierte geschrieben. Später hat sie – unter Pseudonymen – Unterhaltungsromane mit billigem Lebenstrost verfertigt und schließlich ähnlich gelagerte Stoffe fürs Fernsehen gestrickt. Irgendwann glaubte sie die schaumigen Träume vom jederzeit möglichen Aufstieg der kleinen Leute selbst. So etwas schreibt sich leichten Herzens im Herrenhaus.

Ihre größte Sorge ist ihre Tochter, die einer brotlosen Kunst nachgeht. Das ließe sich ja noch regeln. Doch weitaus schlimmer sei dies: „Sie bringt mir keinen vernünftigen Schwiegersohn“, sagt die Dame über die Tochter, die als Einzelkind gar zu zickig sei. Am liebsten würde die Mutter ihr einen passenden Mann suchen. Der müsste halt mit einem etwas kleineren Busen vorlieb nehmen und den „Wildfang“ bändigen… Dafür gäb’s allerdings ein ansehnliches Erbteil und eine doch recht hübsche Gattin obendrein. „Hier. Schauen Sie. Ich habe ein paar Fotos.“

Tiefer Seufzer. In einigen Jahren werde die Tochter 40 sein, dann werde es immer schwieriger, wenn eine so eigenwillig sei wie sie. Den Besten von allen habe sie verschmäht, vergebens weine sie ihm jetzt nach.

Ach, es ist ein Elend. Geradewegs illustriertenreif.




Soziale Miniaturen (5): Eheliche Lektionen

Sprachkursus bei der VHS. Auch ein Ehepaar im fortgeschrittenen Alter nimmt teil. Sie ist Studienrätin für eine Sprache, die der hier zu lernenden eng verwandt ist. Sie bewegt sich also stets vornan – mit kaum verhohlener, mühsam gebändigter, nur deshalb nicht offen triumphaler Gebärde. Ihre gelebten Jahre sucht sie derweil mit aufgesetzter Jungmädchenhaftigkeit zu überspielen. Es wirkt nicht sonderlich würdig.

Ihr Mann ist Physik-Professor, von spürbar anderer Wesensart als sie. Ein spröder Geselle. Er hat sich offenbar widerwillig „mitschleppen“ lassen. Dementsprechend mürrisch quält er sich durch die Lektionen. Macht er einen Fehler, so kommt die Kursleiterin gar nicht dazu, ihn zu korrigieren. Dafür fühlt sich seine Frau zuständig, die schon auf der Lauer liegt und ihn entweder vernehmlich anzischelt oder ihn gleich vor allen anderen abkanzelt, als wäre er ihr missratenster Schüler.

Es gibt keine Sprache, die man bei ihr würde lernen wollen. Die Redensart „Nichts von jemandem wissen wollen“.




Blutiges Todesmärchen

Theater kann erschüttern, belehren, eine neue Perspektive aufzeigen. Oder für kurze Zeit eine andere Realität auftun, deren Regeln und Bilder uns bisweilen fremd sind, die uns aber gefangen nimmt und verzaubert in ihrer Einzigartigkeit. Federico García Lorca hat mit seiner „Bluthochzeit“ ein solchLeonardo (Björn Gabriel) hat sich seine Braut (Caroline Hanke) geschnappt. Foto: Birgit Hupfeldes Stück geschrieben, für das Paolo Magelli auf der Dortmunder Bühne eine fordernde Übersetzung gefunden hat.

Federico García Lorca war gerade 38 Jahre alt, als er von Handlangern des späteren Diktators Francisco Franco im Bürgerkrieg getötet und in ein Massengrab geworfen wurde. Seine Homosexualität und die linken, gesellschaftskritischen Arbeiten des berühmten spanischen Dichters waren ihnen verhasst.

Der Sohn eines Großbauern jedoch war den Traditionen seiner Heimat eng verbunden, suchte mit einem reisenden Studenten-Theater Kultur und Bildung in die ländlichen Regionen zu bringen und wob Mythen und Märchen seines Volks in seine bildgewaltige Arbeit. Spürbar auch in der „Bluthochzeit“, die früheste seiner großen Frauentragödien und Teil der Bauerntrilogie, die sich mit der Stellung der Frau in der Landbevölkerung auseinandersetzt.

Regisseur Paolo Magelli stürzt seine Zuschauer unmittelbar in Lorcas Welt, ohne Vorhang, ohne Vorbereitung. Eine Welt, deren erdrückende Konventionen und blutgetränkte Geschichte schon von Anfang an auf den Menschen lastet: Unter einem niedrigen Dach liegen und robben der freudige Sohn (Sebastian Graf), der kurz vor der Hochzeit steht, und die misstrauische Mutter (Friederike Tiefenbacher), die Mann und Kind durch eine Familienfehde verlor und den Sohn nun nicht ziehen lassen will. Ihr Gefühl trügt sie nicht: Leonardo (Björn Gabriel), ehemaliger Verlobter der Braut (Caroline Hanke) und jetzt unglücklich verheiratet, gehört zur verfeindeten Sippe. Kurzerhand fliehen die beiden am Tag der Hochzeit – und der gehörnte Bräutigam sucht blutige Vergeltung. Deutlich ist in diesem Liebeschaos von sommernachtsträumerischem Ausmaß die Verehrung Lorcas für Shakespeare zu spüren.

Schon vorab hatten Regisseur Magelli und sein Team erklärt, dass sie Lorcas Stück von Ballast, Schnörkel und Sentimentalitäten befreien wollten. Dieses Herausschälen des Wesentlichen durchdringt alle Aspekte: Die eigens neu angefertigte Übersetzung von Dramaturg Alexander Kerlin, die eine harte, einfache, bildmächtige Sprache offenbart. Die wunderbaren Kostüme von Leo Kulaš, die in dezenten Details gen Spanien entrücken, ohne folkloristisch zu werden. Und auch das extrem reduzierte Bühnenbild von Hans Georg Schäfer in Form eines fahrbaren Dachs an Stahlstreben, das erdrückt und befreit, Spalte zwischen Phantasie und Wirklichkeit sein kann.

Es ist eine Herausforderung, dass nicht alles erklärt wird, manches skurril wirkt – doch es lohnt, sich darauf einzulassen: Der Zuschauer wird hineingezogen in eine fremde und faszinierende Welt voll fantastisch schräger Klänge (mit Musik von Paul Wallfisch) und unbekannter, seltsam schöner Bilder, die Lorcas Nähe zum Surrealismus unterstreichen. Da reitet Leonardo auf einem Gabelstapler, wird eine quietschende Wiege an einem Wollfaden gezogen oder kämpfen die Liebenden wie Stiere, während die Braut über ihnen zu schweben scheint.

Das Ensemble schafft es in einer dichten, konzentrierten Gesamtleistung dieses brutale Todesmärchen zusammen zu spinnen. Heiter erzählen sie von der Sehnsucht nach Freiheit und Gefühl im Kampf gegen eine sittenstrenge Gesellschaft. Ein Abend, der nachwirkt, wie ein schräger, entrückter, packender Traum – vom Publikum aber unterschiedlich aufgenommen wurde.

(Dieser Artikel stammt aus der Westfälischen Rundschau / Foto: Birgit Hupfeld)




Ehebriefwechsel der Tolstojs: „Du schienst mir alt, mager und bedauernswert“

„Nun will ich mich meinem Ideal der guten, vor allem tätigen und zu allem begabten Hausfrau annähern.“ So bereitwillig diente sich Sofja Tolstaja geb. Behrs ihrem weltberühmten Ehemann an, dem russischen Schriftsteller Lew Tolstoj („Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“).

Das Zitat stammt vom 5. Dezember 1864 und steht damit noch ziemlich am Beginn des umfangreichen Briefwechsels, der das beständig wogende Auf und Ab dieser Beziehung nachzeichnet. Das gemeinsame Glück war auf Dauer gleichsam streng bemessen.

Die Briefsammlung wird als Weltpremiere angepriesen: Erstmals sind die Schreiben beider Eheleute im Dialog zu lesen. Erstaunlich nur, dass dies erst jetzt möglich ist. Zur editorischen Vorgeschichte gehört, dass Sofja Tolstaja auf Lews misogyne „Kreutzersonate“ entschieden mit ihrem Kurzroman „Eine Frage der Schuld“ antwortete, der allerdings seinerzeit nicht erschienen ist, sondern erst 75 Jahre nach ihrem Tod. Seither ist sie ein wenig aus seinem Schatten herausgetreten.

Gegen Ende der langen Ehezeit, als ihr Mann sie aus weltanschaulichen Gründen brüsk verlassen hat, fleht sie am 29. Oktober 1910: „Ljowotschka, mein Liebster, kehre nach Hause zurück, Lieber, rette mich vor einem neuerlichen Selbstmordversuch (…) ich werde alles, alles tun, was du willst…“ Es gab keine Gelegenheit mehr: Lew Tolstoj starb wenige Tage später, am 7. November 1910.

Die beiden bisherigen Zitate täuschen. Sofja Tolstaja ist nicht all die Jahre über unterwürfig geblieben, sie hat phasenweise schroffe Kritik an Tolstojs (zunehmend asketischer) Lebensführung geäußert. Sie sorgte sich um die insgesamt 13 (!) Kinder, die sie (unterstützt von Gouvernanten aus Westeuropa) fast ohne tätige Mithilfe ihres Gatten aufzog, falls sie nicht schon früh starben. Zudem kümmerte sie sich in durchwachten Nächten mit Abschriften seiner Werke sowie als Lektorin und Herausgeberin aufopferungsvoll um Lew Tolstojs Ruhm.

Umso entsetzter war sie, als Tolstoj schließlich seine lukrativen Autorenrechte für „frei“ erklärte und damit die eigene Familie quasi enterbte. Die schreckliche, allgegenwärtige Armut in Russland hatte ihn auf einen Weg der christlich motivierten Entsagung gebracht, den er immer radikaler und ohne Rücksicht auf Angehörige beschritt. Hass auf die eigene, privilegierte Klasse bricht sich in etlichen seiner Briefe Bahn: „Das Leben unserer gesamten Schicht ist (…) errichtet auf Stolz, Grausamkeit, Gewalt, Übel…“ Tolstoj betrieb Garküchen zur Armenspeisung, doch überließ er sich andererseits einem Hang zur Esoterik. Er scharte Jünger um sich, die ihm schmeichelten und seiner Frau arg ins editorische Handwerk pfuschten.

Der Briefwechsel konnte sich in oft langen Trennungsphasen entfalten. Auf der Suche nach dem einfachen Leben zog sich Tolstoj immer häufiger nach Jasnaja Poljana und auf andere entlegene Landgüter zurück. Sofja hingegen blieb vor allem den Winter über in Moskau – wegen der ungleich besseren Schulen.

Man muss kein großer Frauenkenner sein, um die Wirkung solcher Zeilen einzuschätzen, mit denen sich Tolstoj 1871 für eine Briefsendung Sofjas bedankte: „Deine Photographie war auch dabei. Sie hat mich sehr gefreut (…), obwohl der erste Eindruck nicht gerade angenehm war. Du schienst mir alt, mager und bedauernswert.“

Immer wieder versichern die beiden einander ihrer bleibenden Liebe, der gegenseitigen Sorge ums leibliche und seelische Wohlbefinden, doch immer greller werden vor allem Gegensätze und Brüche sichtbar. Mühsam geschlossene Kompromisse erweisen sich rasch als bröckelnder Kitt.

Er tadelt ihren angeblichen Hang zum Luxus. Sie beklagt sich über seine Misanthropie. Er wirft ihr Garstigkeit und Streitsucht vor. Sie moniert, er stelle die Liebe zur Menschheit über die Familie. 1883 gelangt sie zum deprimierenden Fazit: „…zu wissen, daß Du mein ganzes Leben und mich als Menschen nicht gutheißt und nicht ernst nimmst.“ Dramatischer ausgedrückt: „Mit der einen Hand liebkost Du mich, während Du mir das Messer zeigst, welches Du in der anderen hältst.“

Als folgenloser Ausbruch erweist sich Tolstojs Zerknirschung: „(…) besonders aber bin ich mir selbst widerwärtig geworden. An allem trage ich die Schuld – ich, das grobe, egoistische Tier!“

Dann wieder sie: „(…) ich bin Deiner Güte nicht würdig, fühle mich um so vieles schlechter als Du…“ Oder auch so: „Du kannst mich nicht einfach fallenlassen, denn meine Bestimmung ist es, Deine Frau zu sein…“

Manche Passagen lesen sich qualvoll. Derlei Selbstaufgabe kann man sich kaum noch begreiflich machen. Ob der andere Zeithorizont zur Erklärung ausreicht? Oder ob hier zwei große, erbittert beharrliche Liebeszerstörer am Lebenswerke waren?

Der Briefwechsel ist zugleich ein fortlaufendes Dokument zur Historie. Das Spektrum reicht von Wohn- und Lebensverhältnissen über den ständigen Kampf mit staatlichen und kirchlichen Zensurbehörden, schließt Wetterunbill (oft bitterste Kälte), Erziehungsfragen und Gesundheitswesen ein, reicht schließlich bis zu gesellschaftlichen Verwerfungen im weiteren Vorfeld der russischen Revolution. Sofja zeigt sich stets besorgt, dass ihr Mann mit seinem Eintreten für die Armen als radikaler Sozialist gelten könnte und mahnt ihn inständig zur politischen Mäßigung. Die Familie stellte sie über alles, auch über den Gang des Weltgeistes.

Lew Tolstoj / Sofja Tolstaja: „Eine Ehe in Briefen“. Herausgegeben und übersetzt von Ursula Keller und Natalja Sharandak. Insel Verlag. 494 Seiten. 22,90 Euro.




Die Berliner Mauer küssen

Die ARD-„Tagesthemen“ schaue ich nur selten an. Umso verblüffter war ich gestern, als am späten Abend ein geradezu launiger Beitrag über Objekt-Sexualität die Sendung beschloss – gleichsam als Überleitung zu Harald Schmidt, der anschließend auftrat.

Objekt-Sexualität? Jawohl. Manche Menschen können keine Menschen lieben, sie verlegen sich auf Dinge. Die „Tagesthemen“ stellten eine Amerikanerin namens Erika Eiffel vor, die einst den Eiffelturm geliebt und sogar geheiratet hat, sich dann aber wieder ihrer Jugendliebe zuwandte: der Berliner Mauer. Beziehungsweise dem, was davon übrig ist.

Gleich in der ersten, künstlich romantisierten Einstellung sah man, wie die Frau die Mauerreste an der Bernauer Straße innig küsste. Versonnen blätterte sie in einem Album mit Mauerbildern und zeigte ihre Tattoos (klar: Eiffelturm und Mauer). Hernach wurde ihre erotische Biographie im Sekundentempo umrissen. Und natürlich kam auch der übliche Psychologe zu Wort, der das Ganze nicht weiter schlimm fand.

Es liegt mir fern, mich über die Frau lustig zu machen. Soll sie auf ihre Weise glücklich werden. Mag man ihre Begierden auch reichlich seltsam finden, so schaden sie doch wohl niemandem.

Allerdings frage ich mich, ob auf der weiten Welt sonst nichts Wesentliches geschehen ist, so dass man in der „Tagesthemen“-Redaktion entschieden hat, die Sendung mit diesem Beitrag ausklingen zu lassen. Bedenkenswert auch die Frage, ob man sie nicht davor hätte bewahren müssen, ihre Neigung vor einem Millionenpublikum derart auszustellen.

Um sich halbwegs ernsthaft mit der Materie auseinanderzusetzen, war die Zeit nämlich viel zu knapp. Statt dessen kam der Beitrag als schiere Bizarrerie daher. Folglich hatte man den unangenehmen Eindruck, dass sich die Moderatorin Caren Miosga im (für die Zuschauer stummen) Nachspann scheckig lachte. Sie hatte Erika Eiffel zuvor mit ironisch gekräuseltem Mund als besonderes „Mauerblümchen“ angekündigt.




Künstlerpaare: Höhenflüge und Abstürze zu zweit

Manches Künstlerpaar ist zur filmreifen Legende geworden: Auguste Rodin und Camille Claudel etwa. Der Kraftmensch, beim Kennenlernen schon 42 – und die fragile 18-Jährige, die nicht nur folgsam von ihm lernte, sondern bildhauerisch zeitweise mindestens ebenbürtig war. Doch als er sie verließ, verfiel sie allmählich dem Wahnsinn.

Nicht immer verlaufen die Paar-Beziehungen unter Künstlern so dramatisch. Und nicht immer liegt der Einfluss so auf der Hand. Camille Claudel machte sich nicht nur Rodins Technik zu eigen, die Oberflächen der Skulpturen schrundig aufzurauen. Auch thematisch orientierte sie sich an ihm.

Worauf die Frauen
verzichtet haben

Gleich 13 aufschlussreiche, in vielen Facetten schillernde, atmosphärisch aufgeladene Paargeschichten der Kunst erkundet, erzählt und „bebildert” das Kölner Wallraf Richartz Museum ausgiebig. Der zum tieferen Verständnis unverzichtbare Katalog dokumentiert noch einige mehr. Es gibt ja so viele leidenschaftliche Kunst- und Paarwelten.

Ungefähr zwischen 1880 und 1970 ereignen sich die Begegnungen, die stets bildnerische Früchte tragen – oft wechselseitig. Mal profitiert eine Schülerin vom erfahrenen Lehrer, dann ist es umgekehrt: Lee Krasner bringt Jackson Pollock wenigstens vorübergehend vom Alkohol ab und hält ihm den Rücken frei. Marianne von Werefkin fördert den vier Jahre jüngeren Alexej Jawlensky und hält sich selbst zurück – bis der sie „zum Dank” mit der Haushälterin hintergeht. Bezeichnend das Werefkin-Gemälde „Tragische Stimmung”, das in erdigen Rotbraun-Tönen vibrierende Zornbild einer gescheiterten Liebschaft.

In derlei Fällen fragt sich nicht nur die Feministin, worauf die Frauen verzichtet haben und was sie andernfalls künstlerisch aus sich hätten machen können. Vielfach wurde den Herren die Frau an ihrer Seite schlichtweg „zu gut”. Paula Modersohn-Becker übertraf ihren einstigen Mentor und späteren Ehemann Otto Modersohn irgendwann an Strahlkraft. Der war zuerst fasziniert, sodann freilich befremdet. Sie entfernte sich ja von ihm!

Historisch sich wandelnde Rollenmuster spielen in solche Verhältnisse hinein. Und gemeinsame Projekte (revolutionäre oder ästhetische Aufbrüche) beflügeln Künstlerpaare, doch stets drohen auch Abstürze zu zweit.

Frida Kahlo und Diego Rivera marterten einander mit anderweitigen Affären. Köln kann einige Leitstücke der Paarkunst aufbieten, darunter Kahlos doppeltes Wunschbildnis mit Rivera. Beide Gesichter verschmelzen da innig miteinander. Ersehnte Harmonie, in der Wirklichkeit niemals ganz einzulösen.

Treue bis über
den Tod hinaus

Innige Zweisamkeit spürt man vor allem in den Arbeiten des Dadaisten-Paares Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp. Hier scheinen kaum erklärliche Phänomene wie der Gefühls- und Gedankenübertragung am Werke zu sein. Noch rund 20 Jahre nach Sophies Tod macht sich Hans (Jean) Arp daran, einen ihrer alten Entwürfe neu zu beleben. Welch eine (eben nicht nur künstlerische) Treue über den Tod hinaus. Wahrlich anrührend.

Mindestens ebenso spannend sind uneindeutige Mischverhältnisse in Beziehungen, zumal in Zeiten, wo die männliche Dominanz längst nicht mehr üblich ist. Beispiel: Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely haben ihre Positionen offenkundig fragil ausbalanciert. Ein gemeinsamer Brunnenentwurf lässt es ahnen. Es ist keine Symbiose, doch es sind in schönster Gleichwertigkeit glückhaft aufeinander eingeschwungene Formen. So soll es sein.

„Künstlerpaare”. Köln, Wallraf-Richartz-Museum (direkt am Rathaus). Bis 8. Februar 2009. Geöffnet Di-Fr 10-18, Do 10-22, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 10 €, Katalog 39 €

  • Neben den erwähnten Paaren werden in der Schau außerdem ausführlich behandelt: Gabriele Münter und Wassily Kandinsky, Sonia und Robert Delaunay, Natalia Gontscharowa und Michail Larionow, Hannah Höch und Raoul Hausmann, Georgia O’Keeffe und Alfred Stieglitz, Ray und Charles Eames.



Hochzeitskultur im deutsch-türkischen Vergleich – die Dortmunder Ausstellung „Evet – Ja, ich will!“

Dortmund. Alte Erfahrung derer, die im größeren Rahmen geheiratet haben: Als Braut oder Bräutigam bekommt man vor lauter Stress von Einzelheiten des Festes wenig mit. Wie passend also, dass einen nun die Dortmunder Hochzeits-Schau „Evet – Ja, ich will!” glücklich verwirrt.

Im Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) geht’s nämlich abwechselnd munter vorwärts und rückwärts in der historischen Zeit, außerdem hin und her zwischen der Türkei und Deutschland, zwischen Stadt und Land. Oft darf man rätseln, von wo und wann einzelne Exponate stammen.

Kleider, Kleider und
nochmals Kleider

Da heißt es eben: ausgiebig die Beschriftungen lesen oder sich mit dem Katalog ausrüsten. Alles ist zweisprachig (deutsch/türkisch) in dieser Ausstellung, die einen Dialog zwischen den Kulturen stiften soll. Und was würde sich dafür besser eignen als jener Tag, den man wohl nie vergisst: die Heirat? Missliche Themen wie Zwangsehe hat man übrigens vorsichtshalber ausgespart bzw. behutsam in den Katalogtext ausgelagert.

Was man zu sehen bekommt? Insgesamt 500 (!) Ausstellungsstücke, je etwa zur Hälfte deutschen und türkischen Ursprungs. Vor allem Kleider, Kleider und nochmals Kleider. Traditionelle Pracht, etwa mit aufwändiger Goldstickerei, aber auch prosaische Gewänder – bis zum schlichten Modell aus VEB-Produktion zu DDR-Zeiten.

Interessant ist es, das „Fremde” nicht nur in der türkischen Hochzeitskultur zu sehen, sondern auch in deutscher Vergangenheit. Auch die ist uns in ihrer regionalen Vielfalt fern gerückt. Eine hessische Tracht des 19. Jahrhunderts wirkt beinahe so exotisch wie eine anatolische. Längst vorbei. Heute haben sich Hochzeitsmoden international angeglichen, wie aktuelle Designer-Entwürfe aus beiden Ländern zeigen.

Mancherlei Accessoires (Schleier, Gürtel, Schmuck, Hochzeitskronen, Kränze, Fächer usw.) ergänzen die Textilienfülle. Übrigens: Eine deutsche Braut, die bereits schwanger war, durfte ehedem nur einen durchbrochenen Kranz ins Haar flechten. So streng waren die Sitten. Mit dem Biedermeier war die betont jungfräuliche Kleiderfarbe Weiß aufgekommen. Bis dahin hatten Bräute oft Schwarz oder Rot getragen.

Nach dem rebellischen Jahr 1968 wurden Eheschließungen oft schmuckloser begangen. Doch seit der fabulösen Heirat von Lady Diana (29. Juli 1981) ging es wieder in die Gegenrichtung. Da darf’s ein wenig mehr Prunk sein. Auch diese Grundströmungen spiegeln sich in der Schau.

Ein Nebenaspekt sind Hochzeitsgaben. Die wurden früher nicht in schnödes Geschenkpapier, sondern mitunter in teures Tuch gehüllt. Beim festlichen türkischen Brautzug wohlhabender Leute gingen einst ganze Trägergruppen mit, um alle Kostbarkeiten vorzuweisen. In der historischen Geschenkabteilung beider Kulturen finden sich Truhen für die Aussteuer – und hölzerne Wiegen, die ein hehres Ziel ehelicher Verbindungen vorgaben. Eine weitere Zielvorstellung steht als Sinnspruch auf einem Geschenkteller: „Wen(n) ich dich hätt / einmal im Bett.” Nun, das Eine ergibt gelegentlich liebevoll das Andere.

Hie und da würde man sich wünschen, dass die Belegstücke weniger kleidungslastig wären. Wenn man etwa die überaus kunstvoll gestalteten Liebesbriefe sieht, die man einst beim Dorfschreiber bestellte, so ahnt man, welche Chancen in größerer Breite der Auswahl gelegen hätten.

Museumsdirektor Wolfgang E. Weick hofft derweil auf rund 20 000 Besucher. Jede Wette, dass dabei Frauen in der Mehrheit sein werden.

„Evet – Ja, ich will! Hochzeitskultur und Mode von 1800 bis heute: eine deutsch-türkische Begegnung”. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Bis 25. Jan. 2009. Di-So 10-18, Do 10-20 Uhr. Eintritt 8 €. Katalog 19,90 €. Begleitprogramm mit Konzerten, Lesungen usw.
Die Schau mit vielen kostbaren Leihgaben aus der Türkei entstand in Kooperation mit den Reiss-Egelhorn-Museen in Mannheim. Dort wird sie ab 1.3.2009 zu sehen sein.




Briefwechsel Bachmann/Celan: Dunkle Leidensgründe

Ich habe eine bedrückende Lektüre hinter mir, die dennoch (oder: gerade deswegen) einen eigenartigen Sog ausübt und mich weiter beschäftigen wird. Der demnächst neu erscheinende Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan ist nichts anderes als qualvoll – und doch nachdrücklich empfehlenswert.

Wie die beiden doch so Sprachmächtigen einander mit ausgesuchtesten, abgewogensten Worten umschlichen haben! Sie konnten (wenigstens brieflich) offenbar nie rundheraus sagen, worum es ihnen wirklich ging. Noch prekärer wurde die Situation dadurch, dass Celan in Paris Frau und Kind hatte. Und ab 1958 lebte Ingeborg Bachmann mit Max Frisch in allzeit problematischer Beziehung. Lauter Störgeräusche.

Zwischen den beiden Briefschreibern türmte sich Rücksichtnahme auf tausenderlei Empfindlichkeiten auf. Das heißt: Vor allem die Bachmann fühlte sich hier in der Bringschuld – vielleicht damals (die Briefe stammen wesentlich aus den Jahren 1948 bis 1961) eine typische Frauenhaltung.

Doch Celan war, aus dunkelsten Leidensgründen, wohl einer, dem auf Erden nicht mehr zu helfen war; auch nicht durch die allergrößte Einfühlung, die man Ingeborg Bachmann wohl attestieren darf. Diese vergebliche Liebesmühe hält man auch als Leser nur dosiert aus.

Vielleicht hätte das eine ganz große Liebe werden können. Doch die höchst unterschiedliche Herkunft, die abgründig verschiedenen Erfahrungen haben es verhindert. Sie war die Tochter eines österreichischen NSDAP-Mitglieds, er ein lange Zeit staatenloser Jude deutscher Sprache aus Czernowitz. Es war und blieb eine Liebe im Schatten von Auschwitz.

Veritable Besprechungen des Buches sollen bis zum 18. August zurückgehalten werden. So bittet der Suhrkamp-Verlag, der den Briefwechsel dann unter dem Titel „Herzzeit“ herausbringt. Deshalb lasse ich’s hiermit gut sein. Aber es liegt mir am Herzen und auf der Seele.

Links zu Leben und Werk der beiden Autoren:

http://www.ingeborg-bachmann-forum.de/
http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Celan




Paarbilder: Das Glück und seine Grenzen

Hamm. Diese Ausstellung beginnt buchstäblich mit Adam und Eva. Warum denn auch nicht? Schließlich geht es um Paare in der Kunst.

Max Beckmanns Radierung von 1917 zeigt das biblische Ur-Paar nach der Vertreibung aus dem Paradies – in schutzloser, gar nicht lustvoller Nacktheit. Es waren Zeiten des Krieges. Auch Peter August Böckstiegels Gemälde „Abschied” (1915) zeugt davon. Der Maler war soeben zum Militär einberufen worden, seine Frau schmiegt sich zum bangen Abschied noch einmal an ihn – geradezu grünlich erbleicht.

„Liebe. Love – Paare” heißt die Schau im Hammer Gustav-Lübcke-Museum; ganz so, als hätte man drei starke Wortsignale zugleich aussenden wollen. Jedenfalls stehen große Namen im Katalog, beispielsweise Emil Nolde, Edvard Munch („Eifersucht”) und Andy Warhol (Siebdruck „The Kiss”, 1963).

Signale der
sexuellen
Verfügbarkeit

Die Streifzüge durch Paarwelten führen durch sehr verschiedene seelische „Klimazonen”. Hie Max Pechsteins ungezwungene, recht freizügig erträumte Südsee-Szenerie (1921), dort Rudolf Schlichters etwas schwüle Impressionen aus der lesbischen Subkultur Berlins („Tanzlokal”, 1920). Hie George Grosz‘ sarkastische Karikaturen fetter Geldsäcke im Bordell, dort die ausgemergelten Proletarier, die ihr allzu kurzes Glück vor dem Fabriktor auskosten wollen. Selbst die größte Liebe ist gesellschaftlich mitgeprägt. Just gegen solche Zustände begehren viele Künstler im Namen der Natur auf.

Alle Fährnisse und Untiefen der (ehelichen) Verbindungen finden ihren bildlichen Ausdruck. Bei Frank Kupka („Der Traum”, 1906/1909) schwebt das Paar in schier grenzenlosen Glücksgefühlen, bei Magnus Zeller („Liebespaar”, 1919) herrscht bereits gemeinsame Alltags-Erschöpfung vor. Im ernüchterten Stil der Neuen Sachlichkeit schuf Jan Oeltjen 1927 sein „Selbstbildnis mit Elsa”. Im grellroten Kleid drängt seine Gefährtin nach vorn, er bleibt mit irritiertem Gesichtsausdruck im Hintergrund. Sie war Bildhauerin, er Maler – und sie konkurrierten beruflich. Es soll eine schwierige Ehe gewesen sein. Wer dieses Bild ansieht, kann es schmerzlich ahnen.

Spätestens seit den 1960er Jahren wachsen grundsätzliche Zweifel an haltbaren „Beziehungen” – zuerst in den seismographischen Künsten. Beim Pop-Artisten Richard Lindner gerinnt das Paar-Universum zur grellen, sexuell aufgeladenen Signalwelt der Fetische – im Zeichen allseitiger Käuflichkeit und Verfügbarkeit in der Warenwelt. Andy Warhol zeigt den Moment vor dem Kino-Kuss als Bildstörung, Roy Lichtenstein das Comic-Klischee vom Liebesweh. Jedes Gefühl ist nur indirekt vorhanden, als medial vermittelter Abklatsch.

Letzte Ausläufer der Auswahl ragen, etwa mit (Foto)-Arbeiten von Anna und Bernhard Blume oder Rosemarie Trockel, bis in die Gegenwart. Es sind vor allem mehr oder weniger ironische Inszenierungen von Zweisamkeit. Doppelbödiges, hintersinniges Spiel der Täuschungen. Aber auch verzweifelte Versuche, zu den Ursprüngen zurückzufinden. Bis dahin herrscht einstweilen viel Verwirrung. Nur eins ist gewiss: Die Sehnsucht höret nimmer auf.

„Liebe. Love – Paare”. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9). Bis 1. Juni. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 6 €, Katalog 29,90 €.




Alter Mann liebt junges Mädchen – Martin Walsers Goethe-Phantasien

Oje, das könnte wieder Vorwürfe hageln! Martin Walser bringe „sabbernde Altmännerphantasien” zu Papier, haben böswillige Kritiker(innen) dem Schriftsteller zuletzt vorgehalten. Und was legt er nun vor? Altmännerphantasien!

In seinem Roman „Ein liebender Mann” geht es um den 73-jährigen Dichterfürsten Goethe, der sich heftig in die 19-jährige Ulrike von Levetzow verguckt. Die Episode ist historisch verbürgt, jedoch bis heute geheimnisumwittert.

Wer will es Walser (80) verübeln, dass er sich tief in eine solche Liebe einfühlt? Und sein Buch hat ja auch so gar nichts Geiferndes, nichts ungebührlich Geiles an sich. Im Kern handelt es von der existenziellen Verunsicherung des Mannes, dem alle Welt „Größe” nachsagt. Doch wie’s da drinnen aussieht . . .

Eine Art Rechtfertigung steht gleich im allerersten Satz: „Bevor er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen.” Diese mädchenhafte Frau mit den engelhaft schwerelosen Bewegungen und dem bannenden Blick hat also buchstäblich selbst ein Auge auf den alten Herrn Goethe geworfen. Drum fühlt er sich zu kleinen Kühnheiten ermutigt.

Und tatsächlich. Wenn die beiden – Arme untergehakt – im traulichen Gespräch miteinander durchs Kurgelände von Marienbad (Böhmen) spazieren, kann ihnen nichts und niemand etwas anhaben. Lachend trotzen sie allen neugierigen Blicken und ignorieren das Tuscheln der Leute. Es gibt Momente, da ist es ihnen, als bestehe gar kein Altersunterschied. Und irgendwann der erste scheue Kuss.

Von Goethes letzter großer Liebe weiß man nicht allzu viel Verlässliches. Walser hat somit genug Freiraum zum sprachmächtigen Fabulieren. Er versetzt sich innig in den betagten Geheimrat hinein, folgt manchen Windungen schwankender Gefühle.

Der Klassiker Goethe tritt gleichsam als sein eigenes Denkmal auf. Gar sehr ist dieser bürgerliche Kleinunternehmer (er beschäftigt Diener, Sekretäre usw.) mit literarischem Adelsanspruch auf sein Selbstbild bedacht. Oft stellt er sich vor, wie ihm etwa Menschen nachschauen, von denen er sich gerade verabschiedet hat. Was halten sie von seinem Gang? Wirkt er genialisch genug?

Doch wenn er die Tür hinter sich schließt und an Ulrike denkt, steigen fiebrige Vorstellungen in ihm auf. Ja, es entfahren ihm sogar Schmerzensschreie. Peinlich. Wie soll er sich zusammenhalten? Zumal etliche kleine Vorfälle ihm bedeuten, dass er nicht nur körperlich, sondern auch geistig ein Mann von gestern ist. Welch ein Zeitenwandel: Die ersten jungen Mädchen träumen schon von künftigen Rechenmaschinen.

Goethes innerer Widerstreit durchzieht den gesamten Roman – ebenso wie die mal jauchzende, mal elegische Schwärmerei für die junge Frau. Sehr ausgiebig malt sich Walser das aus. Es könnte auf Dauer langatmig werden.

Im Sinne der Roman-Ökonomie ist es gut, dass sich Hindernisse aufrichten. Ulrike tritt fast stets im Anstands-Gefolge ihrer verwitweten Mutter und zweier Schwestern auf. Kaum wittert die Mutter Goethes Interesse (das in einem stümperhaft übermittelten Heiratsantrag gipfelt), da entzieht sie ihm Ulrike durch familiäre Abreise. Es bleibt ihm nur das Sehnen – und das Schreiben.

Schlimmer noch: Ein steinreicher, smarter Schmuckhändler will sich an Ulrike heranmachen. Widerlich! Was, wenn sie ihn erhört? Goethe leidet aus der Ferne höllische Eifersuchtsqualen. Er verfasst Briefe an Ulrike, und man weiß nicht recht, ob er sie je abschickt, ob sie von seiner Schwiegertochter Ottilie abgefangen werden – oder ob er sich das alles nur einbildet.

So weit geht die wahnhafte Verwirrung des ehedem so heiter-ausgewogenen Genies, dass er sein bisheriges Werk als lebensferne „Kulturlüge” verachtet und sich in Selbstmordgedanken ergeht – wie einst seine Figur Werther.

Der fast von aller Welt verehrte Dichter als letztlich bestürzend einsamer Mann. Die Liebespein als schiere Notwendigkeit des Lebens. Das ist schon flammender Rede wert. Herzlos, wer sich davon nicht berühren lässt.

Martin Walser: „Ein liebender Mann”. Rowohlt. 285 Seiten. 19,90 Euro.

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INFOS

  • Walser hat den Roman „Ein liebender Mann” in nur acht Wochen geschrieben – in völliger Abgeschiedenheit.
  • Es ist sein erster historischer Roman. Bisher hatte er stets die Angestelltenwelt der Gegenwart im Blick.
  • Nach der „Urlesung” in Anwesenheit des Bundespräsidenten (Mittwoch) las Walser gestern zum Auftakt des Festivals Lit.Cologne.
  • Am Sonntag, 27. April (18 Uhr), wird Martin Walser das Buch im Dortmunder Harenberg City-Center vorstellen – in der Reihe „Kultur im Tortenstück”. Karten: 0231/90 56-166.



Weihnachtliches Familienchaos

Das muss man erst mal wegstecken: Jan will Weihnachten im trauten Kreise der Familie feiern. Just am Heiligabend eröffnet ihm Gattin Sara, dass sie seine drei Ehe-Vorgänger mitsamt deren aktuellem Anhang eingeladen hat. Zwei Minuten später steht die Meute schon vor der Tür.

Schlimmer noch: Sara hat schon mal die neue Sauna vorgeheizt und drängt die Männer, selbige gemeinsam „einzuweihen”. Sogleich führen die nackten Herren frivole Gespräche über Saras erotische Qualitäten. Jan leidet darunter wie ein Hund. Später werden dann auch die Seelenzustände gründlich entblößt. Dass Jan hauptberuflich Psychologe ist, hilft ihm dabei herzlich wenig.

„Meine schöne Bescherung” ist der etwas andere Film zum Fest. Zwischen den Männern lodern noch manche Eifersüchteleien, die nun neu entfacht und boshaft ausgetragen werden. Erst recht, als Sara am reich gedeckten Tisch verkündet, sie erwarte ein Kind. Dumm nur: Von Jan kann es nicht sein, denn der hat sich vor Monaten stillschweigend sterilisieren lassen. Fortan belauert er seine Vorläufer und vermeintlichen Nebenbuhler. Welcher Schmutzbuckel war’s?

Mehr wird hier nicht verraten. Vanessa Jopps Film schlängelt sich jedenfalls flott durch Komödie, Kammerspiel, Klamotte, Gefühlsoper und Slapstick. Ein recht inspiriertes Wechselspiel, in dem unterwegs so manches Problem auf den Tisch kommt – bis hin zur peinlichen Moralfrage bei Adoptionen.

Dass ein linkischer Nachbar (als Weihnachtsmann) und ein Riesenkaktus als Dauergags firmieren und beim Liebesspiel gleich eingangs der Schrank wackelt, nimmt man halt hin. Nicht jede Pointe muss gleich humorhistorische Maßstäbe setzen.

Jan, Sara und ihre Kinder (Töchter ihrer drei Ex-Männer und Jans Sohn aus erster Ehe leben bei ihnen) haben sich wohlig als Puzzle-Familie eingerichtet. Nur Fassade? Derlei mittelständische Zufriedenheit lädt viele Filmemacher seit jeher zur systematischen Verunsicherung ein. Mal sehen, ob sich Liebe und Familie im Chaos der Vorfälle bewähren. Übrigens: Die Kinder haben bei dieser Walpurgisnacht von Weihnachtsfeier ihren eigenen Tisch – und sie benehmen sich längst nicht so kindisch wie die Erwachsenen.

Das mit heimischer Prominenz gespickte Darsteller-Ensemble ist vor allem an der Spitze doppelt stark. Martina Gedeck und Heino Ferch verkörpern Sara und Jan nuancenreich, keineswegs nur komödiantisch. Diese Sara ist stark und unabhängig, sie hat aber auch reichlich egozentrische Züge. Und Jan hat vielfach Recht, ist aber auch rechthaberisch. Dreimal darf man raten: Ob sie sich wohl zusammenraufen werden?




„Geliebte Jane“: Der Wille zur Romanze

Wie wird eine kluge Frau um das Jahr 1795 zur Schriftstellerin? Wie war das beispielsweise bei Jane Austen, die Klassiker wie „Stolz und Vorurteil” verfasst hat? Solche Fragen will der Film „Geliebte Jane” nicht nur stellen, sondern für alle Zeit beantworten.

Die Britin Jane Austen (1775-1817) galt den Biographen lange Zeit als „ältliche Jungfer”. 2003 erschien dann ein Buch von John Spence, der herausgefunden haben wollte, dass es doch eine leidenschaftliche Affäre gab, die Jane für ihr restliches (allzu kurzes) Leben geprägt hat. Ohne diese Episode, so die These, wäre sie eine ganz andere oder womöglich gar keine Autorin geworden.

Diesen Befund nimmt sich Julian Jarrolds Film so sehr zu Herzen, dass er ihr Schaffen fast nur aus diesem amourösen Punkt heraus zu erklären sucht. Es herrscht der Wille zur Romanze. Zu diesem Zweck wird Jane zur unwiderstehlichen Schönheit stilisiert: Die zarte, aparte Anne Hathaway spielt den Part. Schon ist man geneigt, an Liebe zu glauben. Entzückend!

Die Sache ist die: Ihre Eltern wollen Jane in eine Versorgungsehe mit dem furchtbar linkischen, maulfaulen, aber begüterten Mr. Wisley drängen. Jane müht sich, ihm und der Entscheidung aus dem Wege zu gehen. Quasi punktgenau taucht der sprühend intelligente junge Ire Tom Lefroy (James McAvoy) auf. Der macht sich anfangs nur lustig über das Landei Jane. Sie dreht sich im provinziell braven Tanze, er zeigt ihr danach die wüsten Boxbuden auf dem Jahrmarkt. So roh ist das Leben, Verehrteste!

Gegen Toms arrogante Attitüden setzt sie sich empört, dann seufzend zur Wehr. Vergebens! Die beiden verdrehen einander die Köpfe. Das ist nett anzuschauen, weil durchweg pittoresk ins Bild gesetzt und sehr ordentlich gespielt. Ein Kostüm- und Konversationsfilm mit kleinen, feinen Kamera-Seitenblicken für ironiehaltige Momente. Wo Fassung und Formen noch so streng gewahrt werden, gibt’s viel zu grinsen.

Leider ist auch besagter Tom finanziell abhängig – von seinem Onkel, einem „Kopf-ab”-Richter. Der mag die Liaison mit Jane partout nicht billigen, die für seine Begriffe zu frech und eigenständig denkt. Und schon zieht sich der Feigling Tom zurück. Geld frisst Liebe, Patriarchat tötet Gefühle.

Folge: Jane schreibt ihr Leiden fiebrig nieder und wird somit flugs zur großen Schriftstellerin. Diesen vorbestimmten, wundersamen Wandel freilich kann der Film nicht beglaubigen. Nicht jede Frau, die wir im Kino schreiben sehen, geht ohne weiteres als gereifte Schriftstellerin durch. Diese Jane ist einfach zu schön, um wahr zu sein.




„Ein fliehendes Pferd“: Beziehungsstress am Bodensee

Das ist fürwahr ein Alptraum, man stelle sich vor: Alter Schulkollege taucht nach 25 Jahren unverhofft auf – blutjunge Blondine im Schlepptau. Der Kerl gibt sich sturzvital, heftet sich penetrant an deine Fersen und gibt dir immer wieder nassforsch zu verstehen, wie falsch und fade du lebst. Und dann macht er sich flugs an deine Frau heran.

So erleidet’s in Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ (1978) der bedauernswerte Studienrat Halm. Rainer Kaufmann („Die Apothekerin“) bringt den behutsam umgemodelten Stoff jetzt mit prominenten Akteuren ins Kino. Sie holen aus der Tragikomödie tatsächlich etliche komische Nuancen heraus.

Klaus heißt die Kanaille. Mit jedem Wort lässt er den Deutsch- und Geschichtslehrer Halm spüren, dass dessen Alltag in blutleerer Routine erstarrt ist. Und er hat damit gar nicht so unrecht. Selbst im Urlaub löst und lockert sich nichts: Helmut Halm (Ulrich Noethen) und seine Frau Sabine (ihre wohl beste Rolle seit langem: Katja Riemann) verbringen seit vielen Jahren rituelle Ferien am Bodensee. Dort kann – anders als im Buch – der behäbige Halm in aller Frühe und Stille die heimische Vogelwelt beobachten. Der Ruf einer Rohrdommel als Höhepunkt des Tages. Nicht sonderlich aufregend. Der virile „Macher“ Klaus Buch (rasant: Ulrich Tukur) belustigt sich drüber und geht lieber auf Segeltörns – am liebsten bei gehöriger Gischt oder gar mitten im Gewittersturm. Heißa!

Jeder Satz ein Gegen-Satz, jede Tat ein Affront. Klaus drängt Sabine zur Untreue, während Halm sich eher verdattert in dessen Gespielin Helene (Petra Schmidt-Schaller) verguckt. So lädt sich die missliche Konstellation auch noch sexuell auf. Halm wahrt eine Zeit lang krampfhaft die Selbstbeherrschung. Aber dann! In dem bisher so stillen Mann schwellen Todeswünsche an. Ulrich Noethen macht den Zwiespalt erschütternd glaubhaft. Da tun sich Risse auf.

Drehbuch und Darsteller mussten die vielen inneren Monologe der Novelle in Handlung, Gestik und Mimik übertragen. Dem Ensemble-Quartett gelingt dies mit Bravour, auch Martin Walser soll’s gefallen haben.

Hinter all dem Dampf-Geplauder lässt der famose Ulrich Tukur Spuren von Verzweiflung durchscheinen, als nehme dieser Klaus gerade seine letzten Chancen wahr. Wie aus dem Nichts ist er aufgetaucht, wie ein Spuk verschwindet er schließlich. Das Ehepaar Halm ist wieder mit seinen (nunmehr aufgewühlten) Enttäuschungen allein. Gehen sie einander an die Gurgel? Beinahe. Doch dann fassen sie einen geradezu heldenhaften Entschluss . . .




Der Sex von damals ist nur noch ein fader Aufguss – Robert van Ackerens Nachlese „Deutschland privat 2 – Im Land der bunten Träume“

Von Bernd Berke

Ach, wie lang sind sie vorüber: die 60er und 70er Jahre – mitsamt den Super-8-Filmchen, die damals im familiären Kreise oder in zweisamer Verschwiegenheit gedreht wurden.

Als Robert van Ackeren („Die flambierte Frau“) 1980 solche Kostproben unter dem Titel „Deutschland privat“ ins Kino brachte, da hatte man noch den Nachgeschmack jener Jahre auf der Zunge. Es ging einen noch an. Auch deshalb waren die oft neckischen Blicke in Alltag und Intimsphäre der Nation ein Lacherfolg in den Programmkinos. Wer da lauthals geierte, dünkte sich meist weitaus weniger spießig als die Leute auf der Leinwand. Derlei billige Gewissheiten haben sich längst verflüchtigt.

Jetzt gibt’s – aus gehöriger Distanz – den wohl endgültigen Abgesang auf die Ära derSuper-8-Streifen (eine Weltfirma hat kürzlich die Produktion des Materials völlig eingestellt). Der passionierte Super-8-Sammler Van Ackeren zieht jetzt eine späte Fortsetzung ans Licht: „Deutschland privat 2 – Im Land der bunten Träume“.

Wiederum liegt ein Schwerpunkt auf den inzwischen so fern gerückten 70er Jahren. Der Rückgriff ähnelt fast archäologischer Feldforschung. Da schwappt noch die Sexwelle, und die DDR existiert bräsig vor sich hin.

All das Getue und Geschiebe auf Super-8-Filmchen

Gut die Hälfte der 25 Streifen befasst sich explizit mit Sex. Ganz ehrlich: All dies Getue und Geschiebe könnte einem die Freude an der Sache beinahe verleiden. Wir sehen „die“ Deutschen als Exhibitionisten, als heillos enthemmte Nackte. Sexuelle Leistung wird geliefert, gelegentlich bis zum Übersoll. Bloß nicht prüde sein. Von Erotik bleiben höchstens Spurenelemente. Nicht gerade schön, zuweilen trist oder gar abstoßend. Deutschland bizarr.

Das Ganze riecht wie fader Aufguss. Van Ackeren schwört weiterhin auf die Wahrhaftigkeit solcher Amateurfilme. Doch das ist naiv.

Die Auswahl schmort im eigenen Saft

Natürlich waren Formen und Inhalte vielfach anderweitig vorgeprägt – durch Fernsehen, Werbung, kommerzielle Pornos usw. Immerhin: In besseren Momenten werden alteingeführte filmische Mittel als Klischees bloßgestellt. Gleichsam nebenbei. Und rührend unbeholfen.

Zudem erschrickt man über ein paar veritable Fundstücke. Der wohl stärkste Beitrag zeigt, wie sich rebellische DDR-Jugendliche bei ihrem übermütigen Tun gefilmt haben. Vollends abgründig ist die Episode „Ich auf Brautschau“: Ein Mann, der noch bei Mutti wohnt, holt sich gegen Bares blutjunge Frauen aus dem Asien-Katalog ins traute Heim und filmt gierig drauflos. Verklemmt und unverfroren zugleich.

Aufschlussreich wären Vergleiche – mit ähnlichen Filmen etwa aus Frankreich, Italien und England. Oder mit heutigen privaten Hervorbringungen auf DVD und im Internet. Doch Van Ackerens Auswahl schmort im eigenen, schon lange vergorenen Saft.




Ein Amerikaner kollidiert mit französischer Lebensart – Kinofilm „2 Tage Paris“ von und mit Julie Delpy

Von Bernd Berke

Ein Amerikaner in Paris – das ist ein wohlbekanntes Muster der Kinogeschichte. Es gibt ja manche Reibungspunkte der beiden Lebensarten. Und manche Klischees. Julie Delpy greift mit ihrem Film „2 Tage Paris“ beherzt in diese Gemengelage hinein.

Die bezaubernde Französin hat diesmal vieles selbst erledigt: Drehbuch, Regie, Schnitt und Musikauswahl, darunter ein Song der Dortmunder Band „Roughtones“. Natürlich spielt Julie Delpy auch eine Hauptrolle. Und damit’s kuschelig bleibt, wirken ihre Eltern (als Eltern), eine gute Freundin (als Schwester) und ihre Katze mit.

Mit ihrem amerikanischen Freund Jack (Adam Goldberg) lebt Marion (Julie Delpy) seit zwei Jahren in New York. Auf einen gemeinsamen Venedig-Urlaub folgt nun der zweitägige Abstecher in Marions Heimat Paris. Dort bewegt sie sich wie ein Fisch im Wasser, was der des Französischen unkundige Jack zunehmend befremdet erlebt.

Vor allem gibt’s im frivolen Künstlervölkchen eine Phalanx von Ex-Liebhabern, die Marion nach wie vor an die Wäsche wollen. Wie unverblümt sie alle über intimste Details reden, Marions Vater eingeschlossen! Selbst ihre Mutter erinnert sich mit unverhohlenem Sündenstolz, wie sie es anno 1969 mit Jim Morrison von den „Doors“ wüst getrieben hat. Alles Schlampen…

Jacks Kultur- und Beziehungsschocks schwellen an bis zur Hysterie: Die Pariser Taxifahrer sind offenbar allesamt Ferkel oder Rassisten. Schon ein bisschen Schimmel an der Altbau-Wand in Marions Elternhaus regt Jack maßlos auf. Ebenso widern ihn die Schweinsköpfe auf dem Wochenmarkt an. Überall roher Schmutz und Obszönitäten, so kommt es ihm vor. Gern würde er locker bleiben. Doch immer verbissener trottet er neben Marion daher, fast wie eine jungfräulich empörte Gouvernante. Das Gezänk des Paares nimmt zu, im Bett klappt’s auch nicht mehr. Oje! Man leidet mit ihnen.

Sehr nah rückt die Kamera den Figuren zuleibe, sie fängt den Hauch und Sturm des Lebendigen ein. Mitreißend vital verdichtet sich das gar nicht mal so vielschichtige Geschehen. Formal hat sich Julie Delpy ersichtlich an ihren beiden anrührenden Filmauftritten bei Richard Linklater („Before Sunrise“, „Before Sunset“) orientiert, die ähnlich innig ums flüchtige Wohl und Wehe der Liebe kreisten. Mal inständig, mal impressionistisch flirrend.

Was aus dem Paar wird? Es kommt zur unvermeidlichen Aussprache. Und zur Frage, ob Marion nach all ihren Trennungen noch eine weitere verkraften will. Eine seltsame männliche „Fee“ (Daniel Brühl!) hat Jack schon vorher die Dauerhaftigkeit dringlich ans Herz gelegt: Vom Leben bleibe am Ende nichts – bis auf die Menschen, denen man in Liebe zugetan war.

Also, ihr beiden, besinnt euch. Vielleicht sogar auf immer.




„Berliner Orgie“: Im schäbigen Garten der Lüste

Vor seinen Feldforschungen für dieses Buch hat Thomas Brussig nach eigenem Bekunden nie ein Bordell betreten. Das ganze Milieu der käuflichen Sexualität war ihm völlig fremd.

Der Autor wird in „Berliner Orgie” nicht müde zu betonen, wie unwissend und „unschuldig” er sich ans Thema herangepirscht habe. Er bescheinigt sich selbst „die köstliche Freiheit des Naiven” und stellt klar, dass es auch im Verlauf seiner jetzigen Recherchen kein einziges Mal zum Äußersten gekommen ist. Das hatte er vorher seiner Frau versprechen müssen. Ist ja schon gut. Jetzt wissen wir’s: Brussig („Sonnenallee”) ist offenkundig kein Asphaltdichter, sondern ein Gegenbild zu abgebrühten, szenekundigen Poeten wie etwa Wolf Wondratschek.

Brussig hat sich also staunend in diversen Rotlicht-Vierteln und Sexhandels-Bezirken der Hauptstadt umgetan. Seine Wege führen vom miesen Straßenstrich bis zum vermeintlichen Edelpuff, von der schummrigen Kontaktbar über die Escort-Agentur bis zum weitläufigen Swingerclub und in Porno-Kinos.

Die Namen der Stationen lauten branchenüblich verheißungsvoll: „Lustgarten”, „Sexyland”, „Artemis”, „La Folie”, „Tempel-Oase” oder „Villa Venus”. Doch hinter den glitzernden Fassaden sieht’s oft ganz anders aus. Wer hätte das gedacht? Mal ehrlich: Ein guter Journalist hätte mindestens ebenso tragfähige Ergebnisse erzielt. Doch Brussigs Name macht sich natürlich besser auf einem Buchdeckel. Wofür Schriftsteller sich früher allerdings geniert hätten: Er war im Auftrag des Berliner Springer-Boulevardblattes „B. Z.” unterwegs. Der Zeitungsverlag zahlte die Spesen. Problem des Autors: Fast überall war’s schwierig, Quittungsbelege zu bekommen. Jedenfalls erhoffte sich die Zeitung wohl knackige Resultate.

Die liefert Brussig freilich kaum. Vielfach schildert er redlich und nüchtern die schäbige Ödnis der Etablissements, in denen meist routiniertes Abzocken (Nepp mit Schampus & Co.) angesagt ist. Die Metropole Berlin erscheint dabei vielfach als trübes, ja nahezu „totes” Gelände – und das zur angeblich so brünstigen Zeit der Fußball-WM 2006. Vom Weltstadt-Knistern keine Spur. Aus Brussigs Streifzügen erwächst denn auch ein (weitgehend negativer) Stadtführer; stets werden die besuchten Adressen benannt.

Zuweilen gibt sich Brussig geradezu rührend gestrig. Herkömmliches „Anbaggern”, so meint er, bestehe hieraus: „Kreide fressen, Mit-Blumen-Antraben, den Romantiker mimen, Schwüre schwören usw.” Ist das wirklich noch so? Immer erst glühende Schwüre, bevor es lustvoll ins Bett geht?

Beim Sex für Geld hingegen, so Brussig, herrsche allemal Sachlichkeit. Hier hätten die Frauen das Heft in der Hand, sprich: Die Huren bestimmen die Regeln. Klingt fast nach Befreiung – und ist sicherlich nur der kleinere Teil der Wahrheit. Übrigens glaubt Brussig den Mädchen und Damen des Gewerbes auch ihre standardisierten Lebensgeschichten, als könnten es keine Legenden sein.

Nur zweimal lässt sich der literarische Berichterstatter zur Begeisterung hinreißen. Nach einem Stelldichein im Swingerclub sinniert er: „Die Orgien haben starken Eindruck auf mich gemacht.” Über ein anderes Lusthaus (ohne würdeloses Gefeilsche um die Preise) heißt es sogar euphorisch: „Ich habe die Zukunft der Prostitution gesehen.” Ob dieser starke Werbespruch dort wohl bald über dem Eingang prangen wird?

Thomas Brussig: „Berliner Orgie”. Piper Verlag. 205 Seiten. 16,90 Euro.




Solch ein Glück ist einfach goldig

In den 80er Jahren war er ein Pop-Star, seitdem ging’s bergab. Jetzt erinnert sich ein New Yorker TV-Sender an diesen Alex Fletcher.

Doch ihm winkt nicht etwa ein Solo-Auftritt zum Comeback, sondern ein demütigendes Show-Spielchen: Gegen die Konkurrenz von „damals” soll Alex erst mal boxen. Falls er gewinnt, darf er ein Lied vortragen. Ansonsten buchen ihn nur noch billige Vergnügungsparks für lauwarme Nostalgie-Nachmittage.

Dann aber lockt die wirkliche Chance. Die jetzt allseits angesagte Pop-Prinzessin Cora Corman (Haley Bennett) hat als Siebenjährige seine Musik gehört. Nun braucht sie den neuen Superhit und zettelt einen Wettbewerb an. Problem: Alex hat seit Jahren keinen Song mehr geschrieben. Da trifft es sich, dass Sophie, die eigentlich nur seine Zimmerpflanzen versorgen soll, eine ungeahnt lyrische Ader hat. Spontan plappert sie beim Blumengießen inspirierte Zeilen vor sich hin. Nun aber drängt die Zeit. Er sorgt für die Töne, sie soll den Text zum Herzschmerz liefern. Wenn das mal gutgeht . . .

Natürlich geht es gut. „Mitten ins Herz – Ein Song für Dich” heißt der herzlich harmlose Wohlfühl-Film von Marc Lawrence („Ein Chef zum Verlieben”, „Schlaflos in New York”). Nach und nach ergibt sich alles wie im Märchen. Alex und Sophie verlieben sich. Sowieso. Ihr gemeinsamer Song wird zum Welterfolg, obwohl er eigentlich gar nicht zu Coras Image passt. Doch hier findet letztlich alles seinen Platz im harmonischen Gefüge. Ein paar kleine Seitenhiebe aufs manchmal so hohle Pop-Business fallen da kaum auf.

Freilich: Dank gekonnter Charme-Offensive von Hugh Grant (Alex) und Drew Barrymore (Sophie) lässt sich der etwas fadenscheinige Stoff verschmerzen. Die zwei sind miteinander einfach goldig.




Doppelter Kitzel mit Nazi und Porno

Will man öffentliches Ärgernis erregen oder wenigstens Aufmerksamkeit wecken, so bieten sich zwei Zutaten an: Irgendetwas mit Nazis – oder irgendetwas mit Sex. In diesem Sinne ist es günstig, wenn beides sich mischt. Idealtypisch lässt sich das jetzt am Fallbeispiel des Echos auf die Autorin Ariadne von Schirach studieren.

Der doppelte Kitzel ergibt sich hieraus: Die 28-Jährige ist Enkelin des NS-„Reichsjugendführers” Baldur von Schirach und legt nun mit „Der Tanz um die Lust” (Goldmann, 384 Seiten, 14,95 Euro) ein Buch über den pornographischen Blick vor. Nur scheinbar paradox: Sie schreibt pornographisch gegen allgegenwärtige Pornographie an.

Eine Kernthese, ausgebreitet in einer Haltung zwischen Erzählung und Essay: Das Prinzip „Porno” dominiert immer mehr und besetzt unsere Phantasien dermaßen, dass wir kaum noch zu wirklicher, selbstbestimmter Erotik finden. Ein diskussionswürdiger Ansatz. Ariadne von Schirach garniert ihn mit drastischen Passagen etwa rund um „Nippelklammern”, „Wichswettwerbe” und die daseinsfromme Formel „Ficken als Gebet”. Geschenkt. Letzteres gab es im Grunde bereits, biblisch besungen, im „Hohelied der Liebe”.

Die ätherisch attraktive Autorin kann wahrlich nichts dafür, dass sie Enkelin eines NS-Verbrechers ist. Sie hat ihn nie kennengelernt und distanziert sich sehr glaubhaft von ihm. Was der offenkundig klugen Frau ebenfalls bewusst ist: Ob sie will oder nicht – die prekäre Verwandtschaft lenkt so manchen gierigen Blick auf ihr Buch, das sie Ende letzter Woche in Berlin-Mitte vorgestellt hat. Dort also, wo sie ihre diagnostischen Beobachtungen gemacht hat, wo es angeblich so brodelt wie nirgendwo sonst in der Republik – und wo allerhand blasierte Großfeuilletonisten gern die rasch wechselnden Trends für die „digitale Bohème” ansagen. Wieviel davon wohl in Westfalen und anderen Provinzen ankommt – und in welcher Verdünnung?

Bezeichnend ist jedenfalls der zuweilen lechzende Medien-Hype, den „Der Tanz um die Lust” angestoßen hat, sprich: (Nicht nur) der Boulevard stürzt sich auf das Buch, seine Urheberin und ihren schrecklichen Großvater, der auch für Judendeportationen in Wien verantwortlich war.

„Bild” versteigt sich zu der bebenden Familien-Frage: „Was hätte der Opa der Autorin wohl dazu gesagt?” Dazu gibt’s online eine kleine Fotostrecke mit dem „Reichsjugendführer” Baldur von Schirach – mal allein, mal mit seinem Idol Hitler. Fehlt eigentlich nur noch eine hirnrissige Einlassung à la „Wenn das der ,Führer‘ wüsste . . .”

Doch auch die eher gediegene Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung leckt sich gleichsam lüstern die Lippen und steigt so ins Thema ein: „Sie ist jung, blond und die Enkelin eines Großnazis . . .” Alle Achtung, der Satz sitzt. Und steht. Nur: In der „Tageszeitung” (taz) heißt es, dass Braun ihre natürliche Haarfarbe sei. Wie irritierend.

Die Deutsche Presseagentur (dpa) sucht derweil das schaurig geile Geschehen einzuordnen und sichtet eine „Pornodebatte”, die in Berlin schon seit einiger Zeit „kultiviert” werde. Als untrügliche Beweise werden angeführt: ein „intellektuelles Porno-Filmfestival” im letzten Jahr und Thomas Brussigs neues Buch „Berliner Orgien”. Oh, Mann! In der Hauptstadt scheinen sie’s ja heftig zu treiben. Wahrscheinlich ist deswegen der neue Bahnhof schon marode.

Aber das Schlimmste kommt wohl noch: Gar nicht auszudenken, was die britischen Boulevard-Blätter aus all dem machen, wenn sie’s spitz kriegen. Nazi-Themen greifen sie sowieso mit Vorliebe auf. Erst recht (siehe oben) in todsicherer Traum-Kombi mit Porno. Da wäre man lieber des Englischen unkundig.

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INFO

  • Ariadne von Schirach wurde 1978 in München geboren – rund vier Jahre nach dem Tod ihres Nazi-Großvaters.
  • Mit 14 Jahren flog sie wegen diverser jugendlicher Verfehlungen (Blasphemie, Alkohol) aus dem Internat. Das Abi schafft sie später trotzdem.
  • Studium (u. a. Philosophie) zunächst in München, dann in Berlin.
  • Ihr Großvater Baldur von Schirach (1908-1974) war ab 1928 Führer des NS-Studentenbundes, ab 1931 „Reichsjugendführer”, ab 1933 „Jugendführer des Deutschen Reiches”, später Gauleiter in Wien. 1946 bei den Nürnberger Prozessen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt.



Essenzen von Liebe und Abschied – Charles Aznavour in der Essener Philharmonie

Von Bernd Berke

Essen. War es ein Abschied für immer? Man mag es kaum glauben.

Der große französische Chansonnier Charles Aznavour hat am Montag Abend in der ausverkauften Essener Philharmonie eine kurze Deutschland-Toumee triumphal beendet. Angeblich soll es sein letzter Bühnenauftritt in unseren Breiten gewesen sein. Doch schon mehrmals hat er auf ähnliche Weise Adieu gesagt. Warten wir’s ab.

Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd. So existenzialistisch erwartet man es von ihm. Dann seine unvergleichliche Stimme, scharf umrissen und doch zartfühlend. Ganz wie früher. Der Mann soll 81 Jahre alt sein? Auch seine Bewegungen lassen beim zweistündigen Konzert keinerlei Müdigkeit erkennen. Er kann es sich leisten, mit vermeintlicher Vergesslichkeit („Wie hieß noch mal diese Zeile?“) zu kokettieren.

In seinen Chansons (rund 1000 hat er inzwischen verfasst) sind Essenzen von Liebesüberschwang, schmerzlichen Abschieden und vergänglicher Jugend auf höchst kultivierte Weise aufgehoben. Untröstliche Momente und die Feier einer wunderbaren Lebensfülle sind hier keine Widersprüche. Vor allem aber: Die Liebe kann niemals lächerlich sein …

Man traut ihm durchaus zu, dass er selbst noch erotisch entflammt. Wenn er auftritt, fühlt man jedenfalls ein aufregend charmantes Paris, seine Boulevards und Bistros immer mit. Klischees also, doch in Vollendung stilisiert.

Natürlich singt er auch einige seiner größten Erfolge: „Les comédiens“, „Sa jeunesse“, „II faut savoir“, „Tu te laisse aller“ (Du lässt dich geh’n), „She“ und „La bohème“. Er hat keine Scheu vor Pathos, vor den ganz großen Gefühlen, beinahe schon im Kitsch-Bezirk. Auch solche Grenzgänge kann sich einer wie Aznavour erlauben. Bei wem sonst erstrahlt selbst die Melancholie so herrlich und würdevoll?

Mit äußerst sparsamen, doch ungemein wirkungsvollen Gesten lenkt Aznavour den rauschenden Beifall des Publikums – und die Band, die zwischen Jazz, Swing, Chanson und gehobenem Schlager so manche Nuancen beherrscht. Zum musikalischen Begleitpersonal zählt auch seine Tochter Katia, mit der er im Duett „Je voyage“ vorträgt. Die junge Frau kann auf jene entzückend französische Weise naiv klingen – wie einst France Gall oder die frühe Françoise Hardy. Hach!




Sexuelle Lehrjahre in der Provinz – John Updikes erotischer Bildungsroman „Landleben“ bereitet würzige Essenzen auf

Von Bernd Berke

Ach, das wird wohl ein beschauliches Buch sein. wenn es schon „Landleben“ heißt. Sanftes Dasein im Einklang mit der Natur, milde Lüftchen des Lebens. Doch wenn John Updike der Autor ist, sieht die Sache etwas anders aus.

Mit „Landleben“ (Originaltitel „Villages“) legt Updike einen mächtigen Gegenentwurf zur Erotik der Metropolen vor. Statt „Sex and the City“ und dergleichen gibt’s hier würzige Essenzen des geschlechtlichen Treibens in der amerikanischen Provinz.

Der in Kindheit und Jugend (1930er/40er Jahre) arg verklemmte Owen Mackenzie wächst etwas ärmlich aber behütet in einem Nest bei Philadelphia auf. Die bösen Großstädte liegen weit hinterm Horizont, noch ferner dröhnt der Zweite Weltkrieg. Auch Owens weitere Biographie wird von kleinen Orten bestimmt, in denen die Zumutungen der Zeit nur gedämpft ankommen. Dennoch schleicht sich existenzieller Grundschmerz in den Alltag.

Am Beginn des Romans ist der Mann bereits 70 Jahre alt und hält Rückschau. Gleich sechs von 14 Kapiteln tragen den Titel „Kleinstadt-Sex“. Einzelkind Owen entdeckt die saftigen Freuden des Lebens zögerlich, dann aber gründlich. Ausgiebig erfahren wir von seinen ersten Petting-Versuchen in Autos. Als Student in Boston (einzige Großstadt-Episode) himmelt er Phyllis an, die als mathematisch hochbegabte Professorentochter unnahbar über allem zu schweben scheint. Sie wird seine Frau, gibt ihre Karriere auf. Beide haben vier Kinder. Und Owen gründet Computerfirma, die nach der Lochkarten-Ära erste Programme austüftelt.

Seine Qualitäten sprechen sich bei den Frauen herum

In den überschaubaren Zirkeln der Kleinstadt (Gartenpartys, Kinderfeste usw.)sammelt sich allseits Ehefrust. Reihenweise drängen sich vernachlässigte Frauen an Owen heran. Typisch Provinz: Mit jeder Affäre sprechen sich seine Qualitäten hinter vorgehaltener Hand herum, was ihm wiederum neue Damen zuführt.

Er lässt nichts anbrennen, zumal er ein „Forschungsprojekt“ verfolgt: Warum lassen sich Frauen überhaupt mit Männern ein? Nun, jede gibt ihm – ganz sinnlich – ihre ureigene Antwort. Und er begreift: Man muss einander nicht einmal sonderlich mögen, um tollen Sex zu haben. Es triumphiert die Biologie, die einfache Wahrheit der Körper. Kurzum: Owen absolviert in diesem fulminanten erotischen Bildungsroman seine verspäteten Lehrjahre – erst recht, als die freimütigen 1960er sich auch in entlegenen Winkeln auswirken.

So kennt man ihn: Updike schildert sexuelle Praktiken bis zur Neige. Doch als weltweiser Romancier stellt er die kleinen Ausschweifungen in große Zusammenhänge. Der Fraß der Zeit wird spürbar, wenn die Software-Entwicklung über Owens Firma hinwegbraust, oder wenn riesige Malls die Drugstores verdrängen. Melancholie erfasst auch die erotischen Eskapaden – bis Owen mit seiner zweiten Frau Julia illusionslos das sanfte Nachglühen einstiger Begierden genießt.

Noch mehr könnte man schwelgen, wäre das Buch nicht streckenweise so staksig übersetzt. Die Sprachebenen werden mitunter geradezu lachhaft vermengt. Da widmen sich diverse Damen in klinischer Diktion der „Glans“ (Eichel) des Probanden Owen, um sogleich danach nur noch lechzend vom „Ficken“ zu stammeln…

John Updike: „Landleben“. Roman. Rowohlt-Verlag, 414 Seiten, 19,90 Euro.

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  • ZUR PERSON

Kindheit auf einer Farm

  • John Updike wurde am 18. März 1932 in Reading (Pennsylvania / USA) als einziger Sohn eines Lehrers geboren und wuchs auf einer abgelegenen Farm auf.
  • Sein erstes Buch veröffentlichte er 1958. Es war ein Gedichtband.
  • 1959 kam sein erster Roman („Das Fest am Abend“) heraus.
  • Besonders bekannte Werke: „Hasenherz“ (1960), „Bessere Verhältnisse“(1981), „Rabbit in Ruhe“ (1990) und „Such mein Angesicht“ (2002).

 




Die Frau als ewiges Zentralgestirn – Paul Nizons Journal „Das Drehbuch der Liebe“ kündet von einer Lebenskrise

Von Bernd Berke

Wie soll nur ein Mann seiner Ehepartnerin erläutern, dass er häufig Bordelle besucht? Wenn man dem Schriftsteller Paul Nizon folgt, dann etwa auf diese Weise: „Da ist erst mal die Einsamkeit; wenn ich so lange allein bin, muß ich von Zeit zu Zeit eine Frau umarmen, das hält dann eine Weile vor (…) Und dann finde ich immer von neuem dieses Zueinandersteigen, diesen Vorgang des Zusammenliegens wunderbar…“

So pirscht er sich voran – bis die Gattin endlich sagt: „Ich kann es verstehen.“ Ihr Glück. Andernfalls hätte er ihr abermals solche Sünden vorgehalten: „Ihr Husten, Weinen, die ewige Erkältung, ihr trotziges, beleidigtes, aggressives, haltloses und auch haltungsloses Benehmen.“

Moralinsäure beiseite! Doch Nizons „Drehbuch der Liebe“ ergeht sich zuweilen im erstaunlich unreflektierten, selbstmitleidig zerknirschten Machismo. Pathos gehört dazu. Zitat: „Bin ich eine Geißel der Frauen? Der selbstsüchtigste Mensch.“

Mit „Das Jahr der I.iebe‘ (1981) hat der Schweizer einen der vielleicht innigsten erotischen Romane der letzten Jahrzehnte geschrieben, auch das sonstige Werk („Canto“, „Stolz“, „Im Bauch des Wals“) hat Bestand. Sein Tagebuch enthält hingegen rohes Material. Warum hat der Autor dies alles freigegeben? Wollte er zeigen, auf welchem Humus seine Literatur gewachsen ist? Nun ja. Wichtige Bücher haben beileibe nicht nur edle Wurzeln.

Fragile Künstler-Existenz

Die Aufzeichnungen gehören just ins zeitliche Vorfeld des famosen „Liebesjahres“. Sie zeugen von einer Lebens- und Schreibkrise, die Nizon nur ganz allmählich überwunden hat. Der 1929 geborene Schriftsteller hat sich von 1973 bis 1979 zwischen diversen Frauen (Odile, Marianne etc.) aufgerieben. Ein Liebes-Versehrter also, der seinerzeit ein unruhiges, phasenweise ganz aufs Ich konzentriertes Dasein in London, Paris und Zürich führte.

Ein Mann in seinen Vierzigern will sich noch einmal neu ausrichten; aus Angst, das Leben zu verfehlen. Übliche Midlife-Krise? Einesteils ja. Doch hier verquickt sie sich mit dem Ringen um Stoff und Form. Nizon durchlebt seine Tage offenbar immer schon im Hinblick auf künftige Texte. Auch dreht sich vieles um seine Lektüre (z. B. Bücher über Vincent van Gogh, von Robert Walser). Man ahnt: Es geht um die fragile Künstler-Existenz an und für sich.

Gesellschaft wird nur ganz am Rande sichtbar

Ganz anders als bei Peter Rühmkorf, der jüngst ebenfalls Tagebücher aus jenen 70er Jahren vorgelegt hat, ist die Gesellschaft bei Nizon nur indirekt (etwa in Stadtschilderungen) präsent. Oft zieht er sich, mitten in den Metropolen, in eine Art Klausur zurück, die mönchisch wäre, gäbe es da nicht gewisse Frauen und durchzechte Nächte. Sein Kosmos kreist schlingernd ums ewigweibliche Zentralgestirn, um erlösende Vereinigung der Körper.

Literarische Größen kommen eher anekdotisch vor. Mal schreibt Nizon einen (vertröstenden) Brief an den legendären Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, mal trifft er Elias Canetti, mal flaniert und speist er in Paris mit Peter Handke, dessen Ruhm er fast scheu bewundert. Und er bekommt Blitzbesuch vom Dichter H. C. Artmann, der mit einem 17jährigen Groupie-Girl aufkreuzt, was gleichfalls einen Neidreflex auslöst.

Nizon war damals von bitterem Ernst und marternden Zweifeln erfüllt. Für Selbstironie blieb noch kein Raum. Erst gegen Ende leuchten neu gewonnene Heiterkeit und Lust aufs Beginnen auf. Wahrlich: Es war ein dornenreicher Weg zum nächsten Buch.

Paul Nizon: „Das Drehbuch der Liebe. Journal 1973-1979″. Suhrkamp-Verlag. 282 Seiten, 22,80 Euro.




Peter Rühmkorf: „Ich wollte Tag für Tag mein Ich zusammensetzen“

Den „großen Roman“ hat er nie geschrieben, als Dramatiker blieb er glücklos. Doch Peter Rühmkorf gilt vielen als wichtigster lebender Lyriker in Deutschland. Jetzt hat er – mehr als 30 Jahre „danach“ – unter dem Titel „Tabu II“ bei Rowohlt seine Tagebücher von 1970/71 vorgelegt. Es war die Zeit des beginnenden RAF-Terrors, des allmählichen Zerfalls der APO (Außerparlamentarische Opposition) – und eine Zeit, in der Rühmkorf in Hamburg eine heimliche Liebschaft hatte. Ein Gespräch mit Rühmkorf auf der Frankfurter Buchmesse.

Frage: 1970 waren Sie knapp über 40 Jahre alt, und da haben Sie etwas Erschreckendes geschrieben, nämlich dass ein Mann sich ab 40 am besten einbalsamieren lassen soll…

Peter Rühmkorf: Mh. Habe ich das wirklich geschrieben?

Nun, das genaue Wort lautete wohl „mumifizieren“. Aber Sie haben sich damals doch auch ganz schön ins Leben gestürzt: St. Pauli, die Kneipen…

Rühmkorf: Naja, einerseits war ich heimisch wie meine Katze, die in den Aufzeichnungen ja eine große Rolle spielt. Aber sie büxte manchmal aus. Und auch ich habe mich in die Welt begeben. St. Pauli hatte so einen gewissen Hautgout, dass es mich da öfter hingezogen hat. Ich war häufig mit dem Autor Hubert Fichte dort, der damals noch gelebt hat. Er kannte verschwiegenste Winkel auf St. Pauli. Damals ging es dort noch richtig familiär zu.

Jetzt wohl nicht mehr?

Rühmkorf: Heute weht da ein ganz scharfer Wind. Es gibt Bandenkriege.

Sie haben damals ein sehr junges Mädchen kennen gelernt, eine Schülerin, noch dazu Kapitänstochter.

Rühmkorf: Oh, das war eine gefährliche Partie. Mit Lolitas hatte und habe ich nichts im Sinn. Aber junge Mädchen in dem Alter, in dem die Schoten kurz vorm Platzen sind, die haben einen großen Reiz – vor allem dann, wenn man selbst so’n bisschen das Alter in die Knochen steigen fühlt.

Hatten Sie damals kein schlechtes Gewissen gegenüber Ihrer Ehefrau?

Rühmkorf: Doch, doch! Auch das hat mich an den Schreibtisch getrieben. Das wollte mit aufs Papier. Ich dachte kürzlich noch: Wenn das jetzt als Buch `rauskommt – hoffentlich lässt sie sich nicht scheiden! Als Flaneur kannte sie mich ja schon, das hat sie mit dem Mantel der Liebe zugedeckt. Aber ein festes Verhältnis in Hamburg über so lange Zeit, von dem sie absolut nichts wusste… Ich lese zu Hause nie Manuskripte vor, ich zeige immer nur Gedrucktes. Das Buch habe ich ihr mit Bibbern und Zagen in die Hand gedrückt. Aber wenn etwas gut geschrieben ist, dann überwiegt bei ihr das literarische Vergnügen. Es ist ein Pflaster für die Wunden.

Die Episode steht zunächst im Vordergrund, dann aber kommt mehr und mehr das Politische ins Spiel.

Rühmkorf: Die Außerparlamentarische Opposition hat sich damals in Gruppen und kleinste Grüppchen zersplittert. Der Zusammenhalt der Linken ging verloren. Fast wie seinerzeit in der Französischen Revolution. Aber gottseidank hatten sie 1970 keine Guillotine mehr! Man hat mich nur einige Male bei öffentlichen Veranstaltungen von der Bühne gepfiffen. Ich bin an den Rand der Linken gespült worden. Das war auch ein Motiv, dieses Tagebuch zu beginnen. Ich wollte wissen, welchen roten Faden ich in meinem Leben noch verfolgen sollte. Ich wollte mein eigenes Ich wieder zusammensetzen. Tag für Tag, aus dem Moment heraus, mit ganz knappen Skizzen.

Sie beschreiben die Baader-Meinhof-Gruppe als eine Art Tourneetheatergruppe des Terrorismus.

Rühmkorf: Ja. Damals gab es überall Mitmach-Theater, mobiles Theater, das die Menschen einbeziehen wollte. Die Schauspieler kamen von den Bühnen herunter. Alles fauler Zauber! Und Baader-Meinhof passte in die Zeit. Sie erschienen mir als das allermobilste Reise-Theater: gefälschte Pässe, Perücken, immer neue Gewänder, den Colt in der edlen Aigner-Tasche. Ein eigenartiges Spektakel, für das sich die ganze Republik interessierte…

INFO:

Am 25. Oktober 2004 wird der in Dortmund geborene Rühmkorf 75 Jahre alt. Er wird daher in diesem Herbst besonders oft gerühmt und ausgiebig veröffentlicht. Neben seinen Tagebüchern ist jetzt u.a. auch ein bebilderter Band zu seiner Biographie erschienen: „Wenn ich mal richtig ICH sag“ (Steidl Verlag).

Zur Erläuterung, weil sie indirekt im Gespräch vorkommt: Seine Frau Eva Rühmkorf war in jenen frühen 70er Jahren reformfreudige Gefängnisdirektorin und wurde später Kultusministerin von Schleswig-Holstein.

(Das Gespräch führte Bernd Berke / Der Beitrag ist in ähnlicher Form am 23. Oktober 2004 in der „Westfälischen Rundschau“ erschienen)




Die ganze Fülle des Daseins beschwören – Juliette Gréco in der Essener „Lichtburg“

Von Bernd Berke

Essen. Manchmal sind ihre Hände wie kleine weiße Vögel. Sie flattern freudig auf oder sinken verzagt nieder; ganz wie die Gefühle zwischen Glück und Elend der Liebe, Glanz und Last der Freiheit. Juliette Gréco, die große Dame des Chansons, steht auf der Bühne der ausverkauften Essener „Lichtburg“. Ganz in Schwarz gekleidet, natürlich.

Seit über zwei Jahrzehnten ist die jetzt 74-Jährige nicht mehr im Ruhrgebiet aufgetreten. Man kann gar nicht umhin, sich die ganze Geschichte vorzustellen, wenn man sie nun hört und erlebt. Existenzialistische Nachkriegs-Nächte in Pariser Kellern wie dem „Tabou“, wo sie 1949 debütierte. Ihre berühmten Freunde wie Sartre, Camus, Cocteau. Diese speziell stilisierte Essenz französischer Lebensart.

Die Gréco sieht noch so aus wie „damals“. Ihre schlanke, von der Zeit nur ganz leicht gebeugte Silhouette, bleiches Gesicht; vom dunklen Haar umrahmt. Und sie wirkt noch wie ehedem. Freiheitsdurst, Hoffnungs-Glut, flüchtige Lüste und Abstürze der Liebe, der vitale Kosmos von Paris – all das ist präsent, wenn sie die klugen Texte von Jacques Brel, Jean-Claude Carrière oder Serge Gainsbourg vorträgt.

„La chanson des vieux amants“ (Das Lied der alten Liebenden) besingt Höhen und Tiefen eines gemeinsamen Lebens – und schließlich das große „Trotzdem“ der dauerhaften Liebe. „Deshabillez-moi“ (Zieh‘ mich aus) ist eine Miniatur zur erotischen Kultur. „Ne me quitte pas“ beschwört die Bestürzung einer Verlassenen. „Un jour d’été“ (ein Sommertag), dieser verwehende Liebestraum. Wenn Juliette Gréco da „Les yeux bleus“ (die blauen Augen) haucht, enthalten die Silben so viele fragile Sehnsüchte.

Bei aller melancholischen Tönung gerät der Auftritt zur Feier aller Schattierungen des wechselvollen Lebens, zur schmerzlichen Bejahung des Auf und Ab. Um Andre Heller abzuwandeln: Sie will, dass es das alles gibt, was es gibt. Einige Gesten sehen aus, als wolle die Gréco diese Fülle für die Ewigkeit festhalten. In innigen Momenten verkörpert sie jenes „Stirb und Werde“, das Goethe zu rühmen wusste.

Am 25. November tritt Juliette Gréco in der Kölner Philharmonie auf (Tel.: 0221/280 280).