Oben und unten, drunter und drüber – „Das Ungeheuer“ von Terézia Mora

Darius Kopp war „der einzige Mann auf dem Kontinent“, die Hauptfigur in Terézia Moras vorangegangenem Roman. Liest man nun die Fortsetzung „Das Ungeheuer“, so wünscht man sich inständig, er wäre – zumindest in der Fiktion – einfach der einzige Mann geblieben und niemand müsse sich die Mühe machen, ihn auf seinen weiteren, von Selbstmitleid geprägten Wegen zu begleiten.

Im „einzigen Mann“ beginnt die komplizierte Liebe zwischen dem IT-Experten Darius und der dolmetschenden Gelegenheitskellnerin Flora, einer gebürtigen Ungarin. „Das Ungeheuer“ nun beginnt mit einem Schock. Flora hat Selbstmord begangen. Darius fühlt sich in dem, was er Trauer nennt, gefangen. Er hat Aufzeichnungen Floras in ihrer Muttersprache gefunden und lässt diese übersetzen. Doch erst nach einem Jahr selbstgewählter Klausur in seiner Wohnung wagt er sich an die Lektüre, während er Flora auf ihren Vergangenheitswegen hinterher reist. Vor sich selbst rechtfertigt er den Aufwand dieser Reise mit dem Vorwand, einen Ort zu finden, an dem er Floras Asche beisetzen kann. Doch ihn treibt eher Unverständnis und ein diffuses Schuldgefühl sowie absolutes Unvermögen, mit seinem Leben weiterzumachen.

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Die Seiten im Roman sind zweigeteilt. Die obere Hälfte erzählt von Darius Kopps rastloser Reise, die untere enthält Floras Aufzeichnungen einer Identitätskrise zwischen Retortenbaby und Hure. Es weist sich, dass Darius die Frau, die er liebte, nie gekannt hat. Nun offenbart sie sich ihm in ihren Aufzeichnungen. So hätte es eine zweite Liebesgeschichte werden können. Hätte. Es wurde nur ein klassischer Fall von „gut gemeint“.

Im oberen Teil kreist also Darius um sich selbst, im unteren lamentiert Flora über ihre Männergeschichten und repetiert Jean Amérys „Hand an sich legen“. Oben teilt Darius Teile seiner Reise mit Zufallsbekanntschaften wie der Tramperin Oda, unten mäandert Flora zwischen anspruchslosen Rezepten für Nudelsoßen und küchenpsychologischen Verhaltensregeln für Panikattacken. So anspruchslos die Rezepte, so anspruchslos sind auch die Regeln. Hauptsache, man kann eine Dose öffnen und gut durchatmen. So nimmt es kaum Wunder, dass Darius so gut wie nie auf das eingeht, was im unteren Teil geschieht. Das zeigt sich schon auf den ersten Seiten, wo Darius sich daran erinnert, wie seine Frau in ihren letzten Monaten mutlos in der Wohnung blieb. Ihn sorgte das nicht, er freute sich darüber, hatte er sie doch so ganz für sich alleine.

Die gebürtige Ungarin Terézia Mora, studierte Theaterwissenschaftlerin und ausgebildete Drehbuchautorin, schreibt seit Ende der neunziger Jahre als freie Autorin. Sie erhielt zahlreiche renommierte Preise und Stipendien, darunter auch den Ingeborg Bachmann Preis. In diesem Jahr erhielt sie für „Das Ungeheuer“ den Buchpreis des deutschen Buchhandels. Man kann sich allerdings ernsthaft fragen: Warum? Das Jury-Mitglied Thomas Böttiger sagte am Abend der Preisverleihung dazu wortwörtlich in den Tagesthemen : „Der Autor, der den Buchpreis bekommt, hat eine sehr hohe Auflage und für die Jury ist die Herausforderung, diese hohe Auflage auch ästhetisch zu rechtfertigen“.

Jaha. Das hätte man schöner nicht formulieren können. Fragte man sich schon während der Berichte über die diesjährige Buchmesse, wie zielführend es sein kann, wenn der Buchhandel Aufregung über File-Sharing und Self-Publishing propagiert und zeitgleich Becker, Katzenberger und Konsorten als Stars des Messe plakatiert. Nun fragt man sich auch noch, ob bloße Ästhetik wirklich das Parameter für einen Buchpreis sein kann. Wie wäre es denn mal mit Lesbarkeit gewesen? Man sieht sie förmlich vor sich, die Möchtegern-Bescheidwisser und Teilzeit-Intellektuellen unter den Kunden der großen Buchhandels-Ketten, wie sie blasiert zum „Ungeheuer“ greifen, es gerne auch verschenken, beweist man doch so literarischen Sachverstand. Wer das Buch nun tatsächlich liest, bleibt dahingestellt.

Auch wenn der Verlag freundlicherweise gleich zwei Lesezeichen-Bändchen implementiert hat, das Buch ist auch für geübte Leser sehr schwer lesbar. Der Lesefluss wird nicht nur durch die ständige Unterbrechung gestört, Mora wechselt auch gerne zwischen Erzählung in der ersten und dritten Person, zwischen Gegenwart und Vergangenheit – und das alles durchaus bevorzugt in nur einem einzigen Satz. Terézia Mora selbst sagte, die Störung des Leseflusses durch die zwei Ebenen sei gewollt. Das beruhigt nur marginal, einen Gefallen tut sie dem Leser und damit sich selbst nicht. Natürlich kann man als Autor den Lesefluss zwischendurch stören, man muss es sogar. Aber so wie hier, das ist des Wildwuchses zuviel. Das sind verquaste, selbstverliebte Manierismen.

Ebenso, wie der Text an sich weniger Reflektion denn larmoyantes Gejammere ist. Terézia Mora kann unbestritten schreiben, sie hat ein großes erzählerisches Talent. Sie hält die Tonlagen, das ausschließlich auf sich selbst Reflektierende hält sie in beiden Ebenen gut durch. Immer wieder gibt es Momente im Buch, da hat sie den Leser gepackt und tief in ihre Geschichte gezogen. Allerdings nur, um ihn sofort wieder herauszureißen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die wenigsten Leser dazu 760 Seiten lang bereit sind.

Zum Schluß des Buches greift die Autorin so richtig in die Symbol-Kiste. Es gibt eine Schlägerei mit rechtslastigen Parolen, Floras Asche im Kofferraum droht in Flammen aufzugehen und dann gibt es auch noch – Achtung! – Gasalarm. Damit dürfte wohl auch dem Letzten klar geworden sein, dass es ohne die Schatten der Vergangenheit keine derart verzweifelte Frau gegeben hätte.

Nun denn, Darius rettet die Asche und beschließt eine Fortführung der Reise nach Sizilien. Nichts kann ihn mehr schrecken, auch nicht die italienische Mafia. Und so lautet der neue Plan: Zu Fuß den Ätna besteigen, die Asche in den Krater kippen – das endlich soll er sein, der Platz , an dem niemand seiner Frau mehr etwas tun kann. Der Leser atmet auf, wünscht Darius Kopp einen erfolgreichen Tanz mit dem Vulkan und anschließend eine veritable Stärkung in einem sizilianischen Restaurant. Am besten mit einem Pastagericht, dessen Zutaten nicht aus der Dose kommen.

Terézia Mora: „Das Ungeheuer“. Roman. Luchterhand Verlag, 760 (zum Teil nur halb bedruckte) Seiten, € 22,99.




Alles verlieren, um eine Zukunft zu haben – Peter Stamms Roman „Nacht ist der Tag“

Als Gillian, eine erfolgreiche Fernsehmoderatorin und attraktive Enddreißigerin, nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus erwacht, ist ihr Leben aus den Fugen geraten. Ihr Mann ist beim Unfall ums Leben gekommen, und in ihrem Gesicht klafft ein großes, hässliches Loch.

Doch seltsamerweise kann Gillian nicht richtig um ihren Mann trauern, und dass ihre Nase abhanden gekommen ist, quittiert sie mit gleichgültigem Trotz. Die Wunder der modernen plastischen Chirurgie werden es schon wieder richten! Was sie viel mehr beunruhigt, ist das Gefühl, dass ihr ganzes Leben, ihr Job, ihre Ehe nur Lügen waren, eine bröckelnde Fassade, die jetzt endgültig zum Einsturz gekommen ist. Dieses Leben, weiß Gillian, ist nun unwiederbringlich vorbei: „Ich bin weg“.

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Aber wie soll es weitergehen? Die Bücher des Schweizer Autors Peter Stamm drehen sich stets um Lebenskrisen, immer entsteht da, wo eben noch eine Idylle war, ein tiefer Riss, den sich weder die Roman-Figuren noch der Erzähler recht erklären können. Auch im neuen Roman, „Nacht ist der Tag“, sind vermeintliche Sicherheiten nur Täuschung: alles Schminke, um der Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen.

Doch was ist die Wahrheit? Das weiß auch Gillian nicht, aber sie spürt plötzlich, dass Erfolg und Anerkennung ihr nichts mehr bedeuten und sie erst alles verlieren muss, um sich wieder neu zu finden. Die Katastrophe als Chance. Das klingt arg nach billigem Ratgeber. Zum Glück aber ist Peter Stamm ein gewiefter Erzähler, der die leisen Töne liebt und sich zwar für die Psychologie seiner Figuren interessiert, aber niemals auf die Idee kommen würde, die Misere zu erklären und gültige Auswege aufzuzeigen.

Stamm ist eine Meister der Möglichkeiten, des schwebenden Vielleicht, der hingetupften Andeutungen, der verdrängten Utopien. Dazu gehört auch der Künstler Hubert Amrhein. Er hat mit seiner emotionalen Ruppigkeit und seinen eigenwilligen Fotos, auf denen nackte Menschen bei ihren alltäglichen Verrichtungen zu sehen sind, bei Gillian etwas ausgelöst. Sie sieht sich plötzlich als eine fremde, ganz andere Frau.

Die Bilder, die Amrhein von der nackten Gillian macht, tragen nicht nur eine Mitschuld am Unfall (weil ihr Mann, als er die Fotos findet, sich heillos betrinkt und sich trotzdem ans Steuer des Wagen setzt), sie führen auch dazu, dass Gillian eine obsessive Beziehung zum Künstler entwickelt. Auch nachdem sie eine neue Nase bekommen und sich ein neues Leben zugelegt hat, wird sie ihn wieder treffen. Sie sucht nach Erlösung und Freiheit und wird beides nur bekommen, wenn sie alles, was mit ihrer Vergangenheit zusammengehört, überwindet.

Am Ende dieses eindringlichen und melancholischen Buches ahnt der Leser, dass man auch ohne Happyend ein bisschen Glück finden kann.

Peter Stamm: „Nacht ist der Tag“. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main. 253 S., 19,99 Euro.




Eine schonungslose Lebensbilanz – Paul Austers „Winterjournal“

Im „Winterjournal“ zieht Paul Auster eine Bilanz seines Lebens. Der Autor, er ist jetzt Mitte 60, spürt, dass sein Körper allmählich schwächer wird. Dass all die Krankheiten, Unfälle und Panikattacken, die ihn sein ganzes Leben heimgesucht haben, nicht spurlos an ihm vorbei gegangen sind.

Es wird Zeit, ehrlich und schonungslos zurückzublicken, sich ein paar vielleicht unangenehme Wahrheiten einzugestehen und – anders als in all seinen Romanen, in denen er mit autobiografischen Facetten fintenreich spielt – sein wahres Ich zu offenbaren: „Sprich jetzt, bevor es zu spät, und hoffentlich kannst du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist. Schließlich verrinnt die Zeit.“

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Paul Auster gehört zu den bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Ob mit der „New-York-Trilogie“ oder der „Brooklyn-Revue“, ob mit „Der Mann im Dunkel“ oder „Sunset Park“: Immer wieder hat Auster die Möglichkeiten der Literatur neu vermessen und furios mit Erzählweisen jongliert. Jetzt lässt der 1947 in Newark/New Jersey geborene Autor Stationen seines Lebens Revue passieren, sucht nach Fixpunkten und zentralen Motiven, die sein Leben und sein Werk geprägt haben. Er lässt Kindheit und Studienjahre, gescheiterte Liebesbeziehungen und Auslandsreisen aufleben, seine Gedanken drehen sich um Todes-Erfahrungen, gefährliche Stürze und lebensbedrohliche Krankheiten, plötzliche Herzattacken und seltsame Unfälle.

Es geht um den allmählichen Verfall, die Nöte des Alters, die Schicksalhaftigkeit des Lebens und um den Zufall, der so oft darüber entscheidet, ob und wie wir weiterleben dürfen. Auster sagt „Du“, spricht mit sich wie mit einem Fremden, sucht zugleich Nähe und Distanz zu den Geheimnissen und Abgründen seines Lebens: Das „Winterjournal“ ist keine konventionelle Autobiografie, sondern eine kunstvolle Collage aus philosophischen Betrachtungen, poetischen Impressionen und intimen Bekenntnissen, ein emotional mitreißendes, gedanklich vertracktes und literarisch subtiles Buch.

Nach der Lektüre des „Winterjournals“ liest man die Romane Austers vielleicht nicht neu und anders, aber man versteht jetzt viel besser, wie tief seine Bücher im Autobiografischen wurzeln, dass er all die Zufälle, Unfälle und Todes-Ängste, die seine Protagonisten erleiden, auch selbst erlebt hat. Aber während er das Autobiografische im Roman literarisch kunstvoll tarnt und vernebelt, entblößt er im „Winterjournal“ wirklich sein Ich: Er beschreibt sich als einen „verwundeten Menschen“ mit einem „verkrüppelten Ich“, der sich bei existenziellen Gefahren in Krankheiten flüchtet.

Auster gesteht, dass er ein „Sklave des Eros“ ist, dass er zu viel Alkohol trinkt und zu viele Zigarillos raucht: eine schonungslose Reise zu sich selbst und zugleich eine zärtliche Liebeserklärung an seine Frau, die Schriftstellerin Siri Hustvedt, mit der er jetzt schon seit 30 Jahren glücklich verheiratet ist.

Auster erinnert sich, wie er als Kind nur knapp dem Tod entkam, als ein Blitz direkt neben ihm einschlug und seinen Freund tötete; er erzählt, wie er als junger Schriftsteller in Paris herumlungert und bei einer Prostituierten landet, die Baudelaire-Gedichte auswendig rezitieren kann; er denkt daran, wie seine erste Ehe kläglich scheitert und wie er das Leben seiner zweiten Frau bei einem von ihm verschuldeten Autounfall fast aufs Spiel setzt.

Während Auster berichtet, wie oft er dem Tod schon knapp entkommen ist, haben draußen, vor seinem Haus in Brooklyn, Nebel, Schnee und Eis New York fest im Griff. Er schaut auf seinen Körper und fragt sich, „wie viele Morgen“ ihm noch bleiben, jetzt, wo er „in den Winter seines Lebens eingetreten“ ist.

Paul Auster: Winterjournal. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reineck 2013, 254 S., 19,95 Euro.
(Auch als Hörbuch: Gelesen von Burghart Klaußner. Der Audio Verlag, 6 CDs).




Kindheit und Pubertät in der hessischen Provinz: Andreas Maiers Roman „Die Straße“

Wie macht Andreas Maier das bloß? Von ihm geschildert, erscheint der ganz normale Alltag, wie ihn viele von uns früher erlebt haben, auf einmal so anders und befremdlich, doch plötzlich auch so ungeahnt kenntlich.

„Die Straße“, der gewiss stark autobiographisch geprägte Roman (über die Gattungsbezeichnung für diese Abhandlung ließe sich trefflich streiten) des 1967 in Bad Nauheim geborenen Autors, führt abermals in die hessische Provinzkindheit und in die Pubertät eines Jungen in den 1970er und frühen 80er Jahren. Die Wetterau rund um Friedberg/Taunus wird bei diesem breit angelegten Projekt (bisher u. a.: „Wäldchestag“, „Onkel J“, „Das Zimmer“, „Das Haus“) zum literarischen Gelände besonderer Güte. Und wieder einmal zeigt sich, wie sehr die Provinz auch die Welt bedeuten kann.

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Auch diesmal handelt es sich um eine langsame Einkreisung der Verhältnisse. Es beginnt just mit der Straße und dem anfangs angstvollen Gang aus dem elterlichen Haus in andere Häuser. Dort ist zunächst alles bestürzend fremd, obwohl doch eigentlich so furchtbar ähnlich wie in den täglich vertrauten Zimmern der eigenen Familie.

Heikle Berührungen

Nach und nach werden familiäre und darüber hinaus reichende Netzwerke sichtbar, die vor allem aus (vorwiegend heiklen, verbotenen oder verweigerten) Berührungen bestehen. Wie die Väter damals die Freundinnen ihrer kleinen Töchter auf den Schoß genommen haben. Wie sich die zu kurz gekommenen Mütter mit den kindlichen Söhnen mittäglich ins Bett begeben haben, um ach so harmlose Zärtlichkeiten auszutauschen, wenn die Männer zur Arbeit waren. Wie etwas später die Mädchen untereinander – so auch die Schwester des Erzählers mit ihrer Clique – Körperspiele rund um die sexuelle Initiation vollführt haben. Wie dieser Erzähler damals noch gar keine Begriffe hatte für all das, was sich da ringsum abspielte…

Die Beobachtungen fügen sich zu einer streckenweise aufregend dichten Studie zwischen Kindheit und Adoleszenz, zwar zeitbedingt getönt, doch auch darüber hinaus gültig.

Das Ausmaß der Verdrängung

Und weiter, mit zunehmendem Alter hinaus auf die Plätze und in die Gassen der Altstadt, wo ganze Kohorten schmieriger alter Männer nicht nur Blicke auf die blühende Jugend erhaschen, sondern am liebsten zugreifen wollen. Zugleich bildet sich in der Siedlung eine Bürgerwehr, als von einem Unhold und Exhibitionisten geraunt wird. Welch eine enge Spießerwelt, welches Ausmaß an Verdrängung und Verlogenheit! Da wird manche Erinnerung für viele Jahre verhüllt – und kommt vielleicht eines Tages unversehens wieder hoch.

Von Normalität kann rundum nicht die Rede sein, allenfalls vom nicht in Frage gestellten Sosein einer buchstäblich erdrückenden Mehrheit. Da wagt sich auch die erwachende Lust der Jungen eher als Angstlust, als Gemisch aus Ekel und Gier hervor.

Anleitungen zur Sehnsucht

In diese verkorkste Gemütslage stieß alsdann die „Bravo“ mit ihren abgezirkelten Sexualtipps, dargebracht in dürrer Doktorsprache. Es war, so heißt es hier sinngemäß, wie ein starrer Plan der Sehnsucht und des Begehrens, den die Jugendlichen in allen westdeutschen Gegenden getreulich nach Text- und Gefühls-Bausteinen ausführen sollten. Und so haben denn alle mehr oder weniger dieselben Sätze in ihre Tagebücher geschrieben. Später werden Nackthefte oder auch harte Pornographie solche gemeinsamen Strukturen vorzeichnen. Wie denn überhaupt und andererseits das bloße Leben, das sich über alle Individuen erhebt und sprachlich kaum zu fassen ist, zentrales Thema und Triebkraft dieses Buches ist.

Sodann die eigentliche Jugendzeit, mithin die großen Verheißungen von Freiheit. Die schier unverwundbaren Gruppen auf dem Marktplatz, die in der Hierarchie obenan stehenden „Königspaare“, von allen bewundert. Solche Beobachtungen gipfeln in Sätzen, die die wundersame Aura nicht nur jener Jahre, sondern wohl aller Jugendzeiten erfassen: „Für viele wird es später ihre größte Zeit gewesen sein, als sei das Sein genau einmal gewesen, nämlich da. Einmal ganz und gar wirklich. Und sie mittendrin. Und alles eigentlich für sie.“

Traum von Amerika

Maier verwendet zumeist eine recht einfache, gleichwohl nicht ungeschliffene Sprache, die sich dem Alltäglichen anschmiegt und sich der Realität Schritt für Schritt nähert, zögerlich, vorsichtig, jedoch umso zielsicherer. Wie zum Ausgleich verstören dann aber jene kurzen Passagen, die die Beschreibung unterbrechen und überwölben; reflektierende Einsprengsel, die aufgeladen sind mit elaborierter Begrifflichkeit wie aus einer soziologischen Studie. Sie wirken demgemäß wie Fremdkörper.

Den vagen, ungefähren Traum von Amerika, dem sich die Mädchen der Wetterau überließen, die an Deutschland zu ersticken meinten, greift Maier ebenfalls auf. Es war wohl die massenhaft befolgte Regel, dass die zahlreich im Hessischen stationierten GIs zum Zuge kamen. In diesem Zusammenhang erzählt Maier die vordergründig groteske, im Grunde aber zutiefst betrübliche Geschichte eines amerikanischen Austauschschülers und kommt damit zurück auf die abgründige, noch unbegriffene Traurigkeit, die schon so manchen Kindheitstag verdunkelt hatte.

Andreas Maier: „Die Straße“. Roman. Suhrkamp Verlag. 194 Seiten. 17,95 Euro.




Ansichten eines Hörbuchjunkies (7): München tut dem Franz Eberhofer gar nicht gut

Tja, nun hat es auch Franz Eberhofer aus Niederkaltenkirchen bei Landshut d‘erwischt. Der bodenverhaftete Kriminale, der mit dem dörflichen Freundeskreis in engstem Kontakt und dem Birkenberger, Rudi in schier Ehepaar ähnlicher Beziehung komplizierte Fälle löst, die sich Autorin Rita Falk ausgedacht hat, er hat einen klaren Durchhänger. „Sauerkrautkoma“ heißt der fünfte Eberhofer-Krimi, und in ein solches verfiel der Plot des Romans zeitweilig. Kurz: Hätte ich keinen seiner Vorgänger gehört, fände ich das Hörbuch recht unterhaltsam. Da ich aber alle vier dieser Niederkaltenkirchen-bei-Landshut-Saga genussvoll zu mir nahm und mich bisweilen tränenlachend bei meiner gesellschaftlichen Umgebung zum Deppen machte, ist mein heuriges Urteil: Ganz nett, aber diesmal wie alle anderen auch.

Franz Eberhofer, der ja mittlerweile als die Allzweckgeheimwaffe Bayerns im Kampf gegen vor lauter Dummheit nachgerade geniale Rechtsbrecher gilt, wird von der übergeordneten Behörde versetzt. Im heimatlichen Niederkaltenkirchen bei Landshut ist er den hohen Damen und Herren zu schade, er soll München mit seinen ermittlungstechnischen Alleingängen (natürlich gemeinsam mit dem Rudi) zur Gauner freien Zone machen. Daheim wird’s derweil von dem Simmerl (weltbester Metzger und Leberkäs-Bäcker) sein Bub‘ gerichtet.

Und kaum an der Isar, da landet unverhofft eine weibliche Leiche im Kofferraum von dem Papa sein Auto, das zuvor beim Familienbesuch in der Landeshauptstadt vom Parkplatz geklaut worden war. Rätsel über Rätsel, die natürlich vom Franz in gewohnter Weise gelöst werden.

In gewohnter Weise? Na, eben nicht. Der Franz passt nicht nach München. Der kann so was nur in Niederkaltenkirchen bei Landshut. Zu wenig Schrulliges vom kiffenden Papa, zu wenig Köstliches aus der Küche der Oma, die immer nur dann was hört, wenn sie beschlossen hat, das auch zu wollen. Zu wenig vom Freundeskreis (Metzger Simmerl, Wirt Wolfi, Klempner Flötzinger), dafür etwas zuviel von der Susi, die zu ehelichen sich der Franz nun doch entschlossen hat. Na, vielleicht nicht von der Susi, aber von den ganzen Hochzeitsvorbereitungen. Es fehlt dem „Koma“ eindeutig an der Authentizität des bayerischen Dorfes und seiner verrückten Gemeinschaft. Es fehlt dem Münchner Eberhofer eindeutig am anarchischen Ermittlungsgeschehen. Und es fehlt dem Krimi-Plot vollkommen die schräge Note und der „Och-Effekt“, den seine Vorgänger  auszeichneten.

Was ist nur aus der fröhlichen Gesellschaft geworden, die einst die Susi aus Italien zurück holte. Wo sind die verbalen Sticheleien zwischen dem Franz und seinem unfehlbaren Bruder Leopold, dem nun auch noch Eheweib Panida nebst Töchterchen abhanden zu kommen drohen. Wo bleiben die unvergleichlichien Szenen, in denen Franz seine Oma durch die Weltgeschichte kutschieren muss, weil die doch dringend die Sonderangebote des wohnortnahen Einzelhandels einsammeln muss.

Rita Falk ist diesmal arg in den Trott der handelsüblichen Krimi-Autoren gestolpert, was dem fünften Fall nicht gut tat. Aber, ich gebe ja die Hoffnung nicht auf. Der sechste wird hoffentlich kommen, dann erfahre ich sicher, was auch dem kurz vor knapp nun doch nicht verheiratetem Paar geworden ist, das der Lamborghini-Fahrer mit der von ihm entführten Susi anstellt, was Oma zum Trost ihrem Enkel zubereiten wird und woran der Birkenberger Rudi sich beim ermitteln diesmal den Magen verdirbt.

Und vielleicht hat’s den Franz dann auch wieder nach Niederkaltenkirchen bei Landshut zurück verschlagen, denn er ist und bleibt kein rechter Großstadtermittler.




Lizenz zur Wiederbelebung: William Boyds James-Bond-Roman „Solo“

James Bond, und das kommt selten vor, ist ein wenig ratlos. Der Auftrag, den er von M, seinem Pfeife schmauchenden Vorgesetzten, erhalten hat, klingt dem Geheimagenten mit der Lizenz zum Töten allzu vage. Wie er es bewerkstelligen könnte, den im afrikanischen (Fantasie)-Staat Zanzarim ausgebrochenen Bürgerkrieg zu beenden, ist dem britischen Agenten ein völliges Rätsel.

Keinen Schimmer hat er, wie er die gefährlichen Frontverläufe überwinden und in die abtrünnige Region des Landes gelangen soll, um dort den einflussreichen Stammesführer und militärischen Kopf des Aufstandes zu kontaktieren und, wenn nötig, auszuschalten.

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Bond hat weder eine Waffe dabei noch Verbündete, die ihm zur Hilfe eilen könnten. Er besitzt keine Informationen über die Hintergründe des Blutvergießens und weiß nicht, welche Interessen Großbritannien in dem Konflikt vertritt. Aber gerade dann, wenn alles ziemlich verwirrend und aussichtslos erscheint, läuft 007, der Agent, der bekanntlich gern Wodka Martini (geschüttelt, nicht gerührt) trinkt, noch stets zur Hochform auf.

Gut in Form ist auch der Autor William Boyd. Das ist vonnöten. Denn wer, sechzig Jahre nach der Veröffentlichung des ersten James-Bond-Romans, von den Nachlass-Verwaltern des verstorbenen Ian Fleming auserkoren wird, die legendäre Buchreihe um einen weitere offizielle Folge zu erweitern, muss mit allen kriminalistischen Tricks und literarischen Wassern gewaschen sein. Dass William Boyd in „Solo“ mit einer gehörigen Portion Selbstironie an die Machart und die Klischees der Ian-Fleming-Thriller anknüpft und doch einen eigenen, literarisch raffinierten Ton und eine ausgeklügelte, politisch aufgeladene Story findet, ist kein geringes Verdienst.

Bond und Boyd: das passt. Denn Boyd hat einen Hang zum Fintieren. Mit einer Ausstellung und einer Biografie über den frei erfundenen Maler „Nat Tate“ hielt er viele zum Narren; in „Ruhelos“, „Einfache Gewitter“ und „Eine große Zeit“ spielte er furios mit Elementen der Spionageliteratur. Dass der in Ghana geborene Brite, der heute in London und Südfrankreich lebt, für seinen James-Bond-Roman nach Afrika zurückkehrt, liegt auf der Hand: Mit dem permanenten Chaos der postkolonialen Revolutionen kennt er sich bestens aus; auch damit, dass der von Stammesfehden geschundene Kontinent immer wieder für Stellvertreterkriege herhalten muss und zum Spielball wirtschaftlicher Interessen der Großmächte wird.

Wir schreiben das Jahr 1969: Der Mensch hat den Mond betreten, in den westlichen Metropolen rebellieren die Studenten, die Dritte Welt kämpf um ihre Freiheit, in England herrscht der Bombenterror der IRA. Und um den Hunger nach Öl – als Schmiermittel des Fortschritts – zu befriedigen, sind alle Mittel recht. Nicht einfach für den passionierten Frauenhelden und notorischen Zyniker Bond, sich in der politisch aufgeladenen Gemengelage zurechtzufinden. Um in dieser heute fast schon archaisch anmutenden, internetfreien Kampfzone Erfolg zu haben, braucht Bond viel Glück und Verstand, ein paar seltsame Zufälle und natürlich das eine oder andere willige Bond-Girl.

Boyd lacht sich geradezu ins Fäustchen, wenn er die alten Macho-Klischees aufwärmt und Bond durch ein Gewitter aus Sex und Gewalt taumeln lässt. Doch irgendwann verliert der schwer verletzte Agent den Überblick und wirft alle Regeln über Bord: Was ihm in Afrika an Verrat widerfährt, weckt Rachegefühle. Und so macht er sich auf, um – solo – ein paar offene Rechnungen zu begleichen. Einige überraschende Wendungen warten auf ihn – und die Erkenntnis, dass sich hinter schönen Fassaden oft hässliche Menschen verbergen. Das ist wahrlich nicht neu, aber immer wieder spannend.

William Boyd: „Solo“. Ein James-Bond-Roman. Aus dem Englischen von Patrizia Klobusiczky. Berlin Verlag, 365 Seiten, 19,99 Euro.

(Das Hörbuch ist bei Osterwold-Audio erschienen, als ungekürzte Lesung von Dietmar Wunder: 8 CDs, 19,99 Euro)




Viel Steine gab‘s – Georg Kleins Roman „Die Zukunft des Mars“

Wenn neben dem literarischen Hochgenuss ein zweiter Grund genannt werden müsste, warum sich die Lektüre von Georg Kleins neuem Roman „Die Zukunft des Mars“ unbedingt lohnt, dann vielleicht, weil wir durch ihn die „Gute Alte Zeit“, in der wir heute leben, neu schätzen lernen könnten.

Vladimir Nabokov hatte in Stadtführer Berlin einen Sinn schöpferischer Literatur darin gesehen, „alltägliche Dinge so zu schildern, wie sie sich in den freundlichen Spiegeln künftiger Zeiten darbieten werden.“ Georg Klein verfügt über diesen besonderen Blick auf das kuriose, später sicher einmal museumswürdige Spielzeug, mit dem wir uns heute vergnügen. Oder auf das Stückchen Weihnachts-Geschenkpapier, das sich in einem unzugänglichen Gebiet der Marsoberfläche verliert. In „Die Zukunft des Mars“ ist unsere Gegenwart längst Geschichte geworden, und wir Menschen von heute sind die Bewohner einer legendären, einer untergegangenen Welt.

978-3-498-03534-1.jpg.666368Anstatt aber wie die Rezensentin im Feuilleton einer überregionalen Tageszeitung von einem „friedfertig pessimistischen Zukunfts-Thriller“ zu sprechen, könnte ebenso gut der Optimismus hervorgehoben werden, der in der kriegerisch verwickelten Lage eines postdesaströsen Europas den Alltag der Romanfiguren durchwirkt, bis hin zur kindlichen Vorfreude auf das Weihnachtsfest.

Pessimistisch bzw. dystopisch ist der Roman allerdings, was den Fortbestand von Nationalstaaten und Demokratien betrifft, ebenso im Hinblick auf intakte Telefonverbindungen, die Erwartung von mehr Fernsehkanälen als täglich zwei Stunden Regierungsprogramm, das nur gemeinschaftlich an wenigen Empfängern geschaut werden kann, oder die Zukunft von Kaffeekultur. Dafür werden die noch verbliebenen Alt-Alkoholika wie das Danziger Goldwasser oder die mehr schlecht als recht funktionierenden elektronischen Geräte, die den „Ewigen Winter“ überstanden haben, hoch gehandelt. Was in Georg Kleins Roman die Gegenwart der Zukunft ist, dürfte nur sehr spezielle Typen erwartungsfroh stimmen, etwa Elektrobastler, wie „Opa“ Spirthoffer einer ist, oder Charaktere mit Alleinherrscher-Phantasien wie Don Dorokin, der sich das Freigebiet Germania mit zwei Rivalen aufgeteilt hat.

Die Welt nach einer großen Umwälzung

In dieser Robinsonade nach einer politischen, wirtschaftlichen und offenbar auch klimatischen Umwälzung, die die ehemals deutsche Hauptstadt an den westlichen Rand der chinesischen Protektorate gerückt hat, versucht sich die mit ihrer Tochter Alide aus dem sibirischen Novonovosibirsk eingewanderte Lehrerin Elussa unter (aus unserem Wohlstandsdeutschland betrachtet) eher armseligen Bedingungen durchzuschlagen – nicht zuletzt, indem sie die Russischkenntnisse des hundertjährigen Herrn Spirthoffer aufzufrischen hilft.

Doch auch die Überlebenskämpfe im Nachkriegs-Germania spielen sich im Vergleich zu den Sorgen der Mars-Bewohner unter privilegierten Bedingungen ab. Allein schon die Artenvielfalt, die auf der „blauen Mutterkugel“ weiterhin existiert, wäre auf dem roten Planeten unvorstellbar. Von den Tieren im Freigebiet Germania seien hier nur zwei genannt: der aus Sibirien eingewanderte Marderhund und der aus dem untergegangenen Amerika herübergeschwommene Waschbär, die sich im Erkennen ihrer physiognomischen Ähnlichkeit tödlich ineinander verbeißen – eine zutreffende, vielseitig anwendbare Metapher. An solchen und anderen Einfällen ist der Roman reich.

Auf dem Mars gibt es fast nichts als Steine, diese aber in allen Farben und Formen. Mit einfachsten Werkzeugen, jedoch spezialisierten handwerklichen Fertigkeiten, werden Steine zu Mehlen zermörsert, aus denen zum Beispiel der als Arznei taugliche Blausteinbrei angerührt wird. Aus demselben Blaustein kann unter größten Sicherheitsvorkehrungen aber auch verbotenerweise Tinte gebraut werden. Steinschmalz wird für die Produktion von Kerzen verwandt. Glanzsteine dienen als Spiegel. Aus bräunlichem Steinglas werden Guckfenster geformt. Und orangener Warmstein heilt fast alles.

Allesmacher, Neubastler, Nothelfer

Neben den Steinbrechern und Glasmachern gibt es Altfinder, die nach verwertbaren Resten aus der Siedlerzeit graben, und Berufe wie Allesmacher, Neubastler, Nothelfer oder – eine besonders hoch angesehene Gruppe – Mockmock-Beobachter. Das in der Tiefe des Bodens beheimatete Wesen namens Mockmock, über das hier nichts weiter verraten werden soll, trägt außer den Steinen und seltenen Funden aus der Zeit der Erstbesiedlung entscheidend zum Überleben der Marsianer bei.

Jeder hat seinen festen Platz in der Gesellschaft, der ähnlich vorbestimmt zu sein scheint wie in Platons Staatsideal. Ab einer bestimmten Anzahl grauer bis weißer Haare kann man in den Panik-Rat aufgenommen werden und sich aktiv am „Großen Palaver“ beteiligen, das man sich als eine Tradition nicht-kodifizierter Gesetze und Handlungsrichtlinien vorstellen kann. Denn lesen und schreiben können nur zwei der Marsbewohner, und die müssen ihr Geheimwissen sorgsam vor den Anderen verbergen. Die sechsundfünfzig „Heiligen Bücher“, die noch von der Erde stammen, gelten als unlesbar, genießen jedoch kultische Verehrung.

Der Schreibfertigkeit des Marsbewohners Porrporr verdanken wir im ersten von vier Romanteilen erkenntnisreiche Einblicke in den Alltag der postkolonialen Marsmenschen. Er schreibt zum Beispiel über die Freude, wenn die Herstellung einer in ihrer Transparenz auch noch so getrübten Glasscheibe gelingt, oder über die notwendigen, aber mitunter lustvollen Fahrten mit dem Doppeltretroller über glatte Lavafelder. Der Berichterstatter wertschätzt die einfachen Dinge und gibt uns Erdenmenschen beim Blick in die Ferne das Staunen aus den Anfängen von Zivilisationen zurück.

„Schändliche Unlust“ als gefürchtete Krankheit

In der lebensfeindlichen Steinwüste tauchen aber auch Krankheiten auf, wie man sie auf der Erde nicht kennt. Eine der gefürchtetsten ist die „Schändliche Unlust“. Wer davon in einem fortgeschrittenen, unheilbaren Stadium befallen ist, wird, egal ob er sich noch bewegen kann oder nicht mehr, in den Purpurspalt entsorgt. Jedoch breitet Georg Klein kein Schreckensszenario aus. Vielmehr wird in aller Selbstverständlichkeit und ohne unnötige Erklärungen von der Mühsal wie von den Freuden des Marsdaseins erzählt. Ebenso wie es auch auf unserer guten alten Erde nicht verwundert, wenn der Partner im Bett von einem fremden Planeten stammt.

Im ironischen Spiel mit einem Genre, in dem sonst munter hin und her teleportiert wird, muss auch die Überbrückung der Distanz nicht im technischen Sinne erklärt werden. Gleichwohl lässt der Autor uns die „Höllenkälte“ mitempfinden, wenn etwa Elussa auf dem Weg durch den Weltraum die Fingernägel in den Rücken eines mitreisenden Buches presst. Neben ihr ist es die fürwitzige Tochter Alide, die den oftmals tödlichen Transfer nicht nur unbeschadet überlebt, sondern sich mit den Marsbewohnern – die aus plausiblen Gründen russisch sprechen – auch gleich unbekümmert unterhält.

Ina Hartwig hat in der „Zeit“ auf die Anspielungen auf Alexej Tolstois Roman „Aëlita“ hingewiesen, aus dem Georg Klein ein Zitat als Motto dem vierten Teil seines Romans voranstellt. Zukünftige Forscher – auf welchem Planeten auch immer – werden aus den vielen im Roman versteckten Hinweisen gewiss alle sechsundfünfzig Bücher zu identifizieren wissen, die auf dem roten Planeten als heilig gelten, sowie das siebenundfünfzigste, an dem sich Elussa auf ihrem Weg durch den frostigen Raum festklammert. Nicht auszuschließen, dass auch der schöne Gegenstand aus dem Rowohlt Verlag eines Tages unter die „Heiligen Bücher“ eingereiht werden wird. Bis dahin sei jedem, der noch zu lesen versteht, eine vergnügliche Lektüre gewünscht.

Georg Klein: “Die Zukunft des Mars”. Roman. Rowohlt Verlag, 384 Seiten, 22,95 €




Die Magie des Doppellebens – Jo Lendles Roman „Was wir Liebe nennen“

Was wir Liebe nennen von Jo LendleLambert kommt aus Osnabrück und ist ein Zauberkünstler. Die Kunst der Magie hat ihn schon als Kind fasziniert und er ist dabei geblieben, schon weil er nie dazu gekommen ist, etwas Anderes zu lernen. Er meint zu wissen, was er Liebe nennt, aber er gehört auch zu denen, die „immer genau wissen, was ihnen fehlt“. Aufbruch und Mut zur Veränderung sind seine Dinge nicht.

Erstmals begibt es sich, dass das alljährliche Magier-Treffen auf einem anderen Kontinent stattfindet und so besteigt der bekennende Provinzler ebenfalls erstmals ein Flugzeug. Bisher hat das Schicksal ihn immer wohlwollend behandelt, viel ist ihm in seinem Leben nicht geschehen. „Wäre er eine Adventskerze, er wäre die Vierte„. Der Flug, ein neuer Kontinent ist ihm schon Aufregung genug. Doch bevor er überhaupt an seinen Zielort Montreal gelangt, muss sein Flugzeug notlanden und beschert ihm eine eigenartige Nacht mit zufälligen Leidensgenossen. Nach Irrungen endlich in Kanada angekommen, sich völlig aus der Zeit geworfen fühlend, lernt er die junge Biologin Fe (Felicitas) kennen, die gerade dabei ist, fast ausgestorbenen Wildpferden die Freiheit wiederzugeben. Die ungestüme junge Frau fasziniert ihn ungemein.

Mit Fe traut er sich, Träume von Freiheit, Weite und Wildheit zu träumen. Doch so einfach ist das nicht: „Sein bisheriges Dasein hatte ihn auf so etwas nicht vorbereitet: Die Frau seines Lebens zu treffen, obwohl man die Frau seines Lebens bereits getroffen hatte.“ Die Liebe, die daheim auf ihn wartet, begann ebenfalls romantisch. Und es ist auch nicht so, dass er diese Frau nicht liebt. Allerdings stehen in dieser Liebe Entscheidungen an, wie man den Alltag künftig zu leben gedenkt. In Kanada erlebt er mit Fe magische, verzauberte Momente, ganz ohne Trickkiste. Doch auch hier fühlt er sich außerstande, eine wie auch immer geartete Entscheidung zu treffen.

Das Schicksal in Form eines überbuchten Fluges gibt ihm eine Chance. Die gemeinsame Zeit mit Fe ist verlängert, der Augenblick der Entscheidung verzögert. Vor die Wahl zwischen zwei Realitäten gestellt, flüchtet er sich in die Magie. Dieses Ich-mach-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt-Spiel beherrscht er gut. Passt ihm ein Glückskeks-Spruch nicht, knackt er solange Kekse, bis der rechte Spruch kommt. Es ist Zeit für den Zauberer, Zeit für den Autor in seine Trickkiste zu greifen und Lambert ein zweites Leben im Ersten zu geben. Lambert eins trifft auf Lambert zwei. Der eine bemüht die Vernunft, der andere die Sehnsucht. Die bis dahin recht ruhige Geschichte entwickelt sich zu einem rasanten surrealen Roadmovie durch die Wildnis Kanadas, an dessen Ende die Entscheidung steht, welcher der beiden Lamberts die Oberhand behält.

Mit dieser Geschichte einer Liebe und eines Aufbruchs hat Jo Lendle ein nicht alltägliches Buch vorgelegt. Zunächst mutet „Was wir Liebe nennen“ wie eine ganz einfache Geschichte an, doch so einfach ist es mit der Liebe und dem Leben nicht. Liegt eine mögliche Lösung in einem Doppelleben? Es drängt sich der Gedanke auf, dass Jo Lendle in diesem Buch Lösungsmöglichkeiten mit sich selber diskutiert. Schließlich führt auch Lendle so etwas wie ein Doppelleben. Nach langen Jahren verlegerischer Geschäftsführertätigkeit beim DuMont-Verlag wird er nach einem Sabbatical ab Januar den traditionsreichen Hanser Verlag führen. Daneben reüssiert er aber auch schon seit Jahren erfolgreich als Autor. „Was wir Liebe nennen“ ist sein vierter Roman. Sicher kein Zufall, dass er vor der großen Veränderung in seinem Leben einen Roman schreibt, in dem er als Autor leichten Herzens den Job des Zauberers übernehmen kann. In der Verlagswelt hilft kein Zauber und kein Trick, Lendle weiß das. Er ist bekannt dafür, sich den Veränderungen und Herausforderungen der Verlagswelt sehr bewusst zu sein.

Ob er auch beim Hanser Verlag für magische Momente sorgen kann, wird sich weisen. Doch mit seinem vierten Roman tut Lendle genau das. Er schenkt dem Leser Sätze von einfacher Klarheit und anrührender Poesie. Mal beschwört er eine leichtfüßige Stimmung, mal eine ungestüme, gelenkt von der Sehnsucht nach ungezähmter Wildheit. Gut zeigt sich seine enorme Stilsicherheit in der kleinen Nebengeschichte um Viola und Sascha, seine Gefährten beim Flugzeugabsturz. Auf nur wenigen Seiten transportiert er da wuchtige Emotionen. Das Buch liest sich, als wäre es dem Autor von seiner Eingebung diktiert worden, doch sicher ist es sorgfältig konstruiert und formuliert. Schließlich ist nichts schwerer, als etwas leicht erscheinen zu lassen. Das weiß der Zauberer, das weiß auch der Autor. Schaut man einem Zauberer zu, weiß man nie, wann genau der Moment der Magie stattfand. So ist es auch im Buch, die magischen Momente sind versteckt. Oft erkennt man sie erst im Nachhinein.

Mitten im Buch wechselt das Buch in eine Art surrealen Realismus und spielt auf mehreren Ebenen. Spielt mit der Zeit und den Protagonisten, welche Lendle durchgehend mit warmer Zuneigung beschreibt. Die zwei Seelen-in-meiner-Brust-Thematik ist nicht neu, neu ist der abrupte Wechsel, der nicht eines gewissen Reizes entbehrt, zumal die Handlung etwa in der Mitte dahinzuplätschern beginnt. Mit dem Stilwechsel nimmt sie aber schnell Fahrt auf. Den Kreis schließt er gekonnt, indem er Bilder aus dem ersten Teil wieder aufgreift und ihnen im Nachhinein Symbolik verleiht. Lambert bleibt der zaudernde Zauberer, letztlich entscheidet sein Unglaube an „die Folklore der Freiheit“. Eine ganz und gar nicht faustische Entscheidung, sondern eher eine, die zwischen Ironie und Resignation mäandert.

Ich finde es mutig, sich als bekannte Persönlichkeit des Literaturbetriebes an eine Liebesgeschichte, an Gefühlswelten zu wagen. In dieser bisweilen überintellektuellen Welt ist das ein schmaler Grat. Aber Lendle hält die Balance sehr gut, bis zur Grenze des Kitsches ist bequem viel Platz. Für den Leser ist es schön, sich auch einmal in eine märchenhafte Geschichte fallen lassen zu dürfen.

Damit ist Lendle und seinem Lambert ein Trick gut gelungen. Der Leser ist bezaubert und entführt in eine Welt voller Möglichkeiten, die an die Macht der Liebe, aber auch an die der Zufälle glauben lässt. Jeder wird die Frage nach dem, was wir Liebe nennen, auf seine eigene Weise beantworten. Auch wenn Lambert manchmal mit einem Augenzwinkern auf die Möglichkeit hinweist, die Antwort wäre ganz leicht auf chemische Reaktionen zu reduzieren, Lendle beantwortet sie mit diesem Buch für sich. Was er Liebe nennt, ist ganz sicher auch Liebe zu Geschichten, zur Phantasie, zur Sprache, zum Wort.

Jo Lendle: „Was wir Liebe nennen“. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, 248 Seiten, €19,99




Der Mann mit den wuchtigen Meinungen – Zum Tode von Marcel Reich-Ranicki

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (Foto: Dirk Vogel / http://www.vogelgrafie.blogspot.de)

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (Foto: Dirk Vogel / http://www.vogelgrafie.blogspot.de)

Prägnante Szene bei einer schon länger zurückliegenden Frankfurter Buchmesse: Am Stand der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) wird Marcel Reich-Ranicki von Bewunderern umlagert wie ein Popstar. Einer ruft ihm die (wahrhaft müßige) Frage zu, wer denn wohl der größte russische Autor aller Zeiten sei. Von ihm hat man eben literarische Urteile wie von einer höchstrichterlichen Instanz erwartet.

Jetzt wird diese Instanz für immer fehlen. Marcel Reich-Ranicki, der mit Abstand prominenteste Literaturkritiker deutscher Zunge, der sogar vielen Banausen ein flüchtiger Begriff war, ist heute im Alter von 93 Jahren gestorben.

Der „Großkritiker“ ließ sich damals in Frankfurt – wie üblich – nicht lange bitten, mochte sich freilich in jenem Falle nicht so recht festlegen: Tolstoi sei ein ganz Großer gewesen, aber auch Gogol, Puschkin und Dostojewski hätten „sehr gut geschrieben“. Aha! Aus derlei Frage- und Antwort-Spielchen hat er zuletzt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Rubrik bestritten, bei deren Lektüre man sich zuweilen an den Kopf fasste.

Entweder herrlich oder grrrrrrässlich

Bei Licht betrachtet, waren die Maßstäbe des höchst belesenen, im Literaturbetrieb ungemein beschlagenen Reich-Ranicki recht simpel: Entweder gefiel ihm ein Buch – oder es langweilte ihn „grrrrrässlich“; zuweilen schon dann, wenn es im „falschen“ Land spielte, zu umfangreich geraten oder zu unkonventionell erzählt war. Manchmal hat man sich schon gewundert, wie es jemand mit einem solchen Raster so weit hat bringen können. Doch natürlich war er auch in der Lage, differenzierte Rezensionen zu schreiben, an denen man seine helle Freude haben konnte; besonders dann, wenn er Autoren hoch schätzte, wie etwa den ewigen Leitstern Thomas Mann. Mit seinen Verrissen war Reich-Ranicki allerdings oftmals ungerecht schnell bei der Hand.

Marcel Reich-Ranicki hat seine stets glasklaren, selten von Selbstzweifeln angekränkelten Meinungen mit solcher Wucht und Verve vertreten, dass man schwerlich dagegen ankommen konnte. Er war bestens „vernetzt“ und verstand es wie kein Zweiter, die Klaviatur der literarischen Einflussnahme zu bedienen. Auch stillte er wohl eine gewisse Sehnsucht nach eindeutigen, leidenschaftlichen, zuweilen auch etwas groben Stellungnahmen. Welt und Literatur waren ansonsten unübersichtlich genug. Da sollte mal einer Schneisen schlagen – notfalls mit der Machete. Den Beinamen „Literaturpapst“ wurde er jedenfalls nicht mehr los, auch wenn er auf seine älteren Tage schon mal unumwunden zugegeben hat, nicht „unfehlbar“ zu sein.

Bewegende Biographie

Rund 1,2 Millionen Exemplare wurden von seiner bewegenden Autobiographie „Mein Leben“ verkauft. Eindringlich schilderte Reich-Ranicki seine Kinderheit in Polen und Berlin, sein unvorstellbar schwieriges Leben in der NS-Zeit, von dem er 2012 auch in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag Zeugnis abgelegt hat. Reich-Ranickis Eltern wurden im KZ umgebracht, er selbst musste sich vor den Nazi-Schergen versteckt halten. Wer wollte es ihm da ernsthaft verübeln, dass er später vorübergehend dem polnischen Geheimdienst angehörte und der KP beitrat? Bald aber wandte er sich ab und wurde wegen „ideologischer Fremdheit“ aus der Partei ausgeschlossen.

1958 kam er wieder nach Deutschland. Ab 1960 schrieb er für die „Zeit“, von 1973 bis 1988 war er Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Doch erst „Das Literarische Quartett“ (1988 bis 2001) im ZDF hat Reich-Ranickis Entertainer-Qualitäten vollends zur Entfaltung kommen lassen. Nach den Sendungen mussten die Bestsellerlisten immer flugs umgeschrieben werden. Man möchte lieber gar nicht wissen, was die Verlage angestellt haben, um dort besprochen zu werden. Jedenfalls musste ein Mann wie Reich-Ranicki einfachs ins Fernsehen, wo er so manche schwankende Seele für die Literatur gewonnen haben dürfte. Wie hat man sich seinerzeit amüsiert, als er seine öffentlich-rechtlichen Bücherstreits mit Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Jürgen Busche ausfocht. Manchmal war’s herrliches Kasperltheater mit anderen Mitteln…

Grass und Walser haderten mit ihm

Deutschlands bekannteste Schriftsteller wendeten sich freilich vielfach mit Grausen – mit Ausnahme von Siegfried Lenz. Literaturnobelpreisträger Günter Grass war Reich-Ranicki gram, seit der den Roman „Ein weites Feld“ (1995) verrissen und auf dem legendären „Spiegel“-Titelbild regelrecht zerfetzt hatte. Als Reich-Ranicki die Hand zur Versöhnung reichen wollte, schlug Grass sie aus. Und damals wusste man noch nichts von Grass’ Waffen-SS-Vergangenheit in den finsteren Zeiten…

Auch Martin Walser (umstrittener Schlüsselroman: „Tod eines Kritikers“) gehörte beileibe nicht zu Reich-Ranickis Verehrern. Selbst mit dem langjährigen Freund Walter Jens war Reich-Ranicki zwischenzeitlich heillos zerstritten. Die Einsamkeit des Kritikers, allen Mitstreitern und Medienmächten zum Trotz.

Heimat Literatur, Zuflucht Teofila

In mehr als einer Hinsicht war dies tragisch, hat Reich-Ranicki doch bekannt, wie er sich seit den schrecklichen Erlebnissen im Warschauer Ghetto ohnehin stets als Außenseiter gefühlt hat – selbst in den Redaktionen von „Zeit“ und FAZ. Als wahre Heimat hat er hingegen immer die (deutschsprachige) Literatur begriffen.

Und es gab noch eine sehr dauerhafte Zuflucht: Über 70 Jahre lang lebte er mit (der 2011 verstorbenen) Teofila zusammen, die er unter schlimmsten Umständen im Ghetto kennen gelernt hatte. Auch wenn er gelegentlich damit kokettierte, auf erotische Nebenwege erpicht zu sein – nehmt alles nur in allem, so ist er wohl sicherlich treu gewesen. Und jetzt, wer weiß, kann sie vielleicht „dort droben“ seine harmlosen kleinen Eskapaden mit jenem weisen, wissenden Lächeln quittieren, das ihr zu eigen war.




Dieses übliche Leben im Mittelmaß – Daniel Kehlmanns Roman „F“

978-3-498-03544-0.jpg.661869„Sehen Sie der Wahrheit ins Gesicht. Sie werden nie glücklich sein. Aber das macht nichts. Man kann auch so leben.“ Solche Sätze hören sich ähnlich ernüchtert an wie der alte Begrüßungs-Klassiker: „Wie geht’s? – Muss. – Hauptsache.“

Aber wir wollen uns nicht belustigen. In Daniel Kehlmanns neuen Roman mit dem fauchend kurzen Buchstabentitel „F“ müssen praktisch alle Figuren damit zurechtkommen, dass sie auf ihrem Gebiet allenfalls Mittelmaß darstellen. Da stellt einer schon zeitig fest: „Was bedeutet es, mittelmäßig zu sein – plötzlich ließ die Frage mich nicht mehr los.“ Nun mal ehrlich: Ist das nicht, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, unser aller Lebensthema?

„Mein Name sei Niemand“

Gewiss, sie wehren sich hin und wieder gegen die Erkenntnis, dass sie nicht allzu besonders sind: Arthur, der auf seine mittleren Jahre mit Titeln wie „Mein Name sei Niemand“ ein paar Erfolge als Schriftsteller hat, jedoch alsbald wieder literarisch verstummt; seine Zwillingssöhne Eric (windiger Spekulant, der ein paar Milliönchen macht, dann aber in der Krise scheitert) und Iwan, der in perfider Personalunion als Künstler, Kunsthändler, Kunstkritiker und Kunstfälscher agiert.

Aber was heißt schon „Fälschung“, wo doch Iwans Geliebter, der alternde Künstler Eulenböck, durchaus damit einverstanden ist, dass Iwans Schöpfungen unter seinem Namen auf den Markt kommen und zeitgeistig reüssieren. Und außerdem ist da noch Martin, der linkische Halbbruder von Erik und Iwan, der Priester wird, obwohl er partout nicht an Gott glauben kann und sein bisschen Selbstbewusstsein vornehmlich aus der virtuosen Handhabung des Rubik-Würfels bezieht.

Hypnotische Einflüsse

Dieses durchs Leben schlingernde Quartett haben wir anfangs, als die Söhne noch Kinder waren, im Publikum eines Hypnotiseurs erlebt. Dieser persönlich verstörte, auf der Bühne aber weit über sich hinaus wachsende Lindemann hat damals den Vater Arthur auf die Bühne geholt und mit seinen Suggestionen wohl den Anstoß für alles Folgende gegeben. Die geradezu lachhaft läppische Verwechslung einer Sekretärin, die den falschen Bruder (nämlich Martin statt Iwan) zum beratenden Krisengespräch bei Erik bittet, sorgt schließlich für eine gewaltsam tragische Verkettung.

Das Geschehen schwankt zwischen extremen Polen, die durch Kern- und Schlüsselsätze markiert werden: Einerseits heißt es, niemand könne irgend etwas Genaues über einen anderen Menschen wissen. Also müsste schrankenlose Freiheit des Denkens und Tuns herrschen. Andererseits heißt es: „Jeder kann jeden dazu bringen, sein Leben zu ändern.“ Ganz so, als wäre man ein Spielball, in eigener Sache vollkommen machtlos, jedem Einfluss ausgesetzt. Ein weiterer Haupt- und Merksatz besagt, „dass jeder Mensch tun muss, was ihn rettet (…)“ Wie in Stein gehauen stehen solche Sentenzen da.

Es waltet der Zufall

Kehlmann stellt die uralte Frage: Haben wir ein fremd- oder vorherbestimmtes Schicksal, oder sind wir in der Lage, unsere Wege selbst zu wählen? Und so steht denn auch das große „F“ nicht nur für Friedland, den Familiennamen der genannten Hauptfiguren, sondern vor allem fürs Fatum, also das Schicksal und Verhängnis. Über einige Seiten hinweg wird der Familienstammbaum der Friedlands rückwärts aufgeblättert und man ahnt, welch eine traurig-absurde Häufung von Zufällen eine Rolle gespielt hat, bis die Heutigen zur Welt kamen. Da fragt sich abermals, was der Einzelne überhaupt vermag.

Doch so konstruiert, wie das vielleicht anmuten mag, ist Kehlmanns Roman keineswegs. Die Handlung wird spannungsreich, ja oft geradezu süffig erzählt, der Auto zieht so manche Register. In den besten Passagen ist es, als erzähle sich das Geschehen von selbst, gleichsam ohne spezielle Urheberschaft.

Perspektivensprünge

Doch natürlich hält Kehlmann die meisten Fäden in der Hand – zuweilen auch als allwissender Erzähler. Ab und zu wechselt er die Perspektiven, springt von der Ich-Erzählung in die Distanz und wieder zurück. Die Wechselhaftigkeit entspricht dem Flirren der Identitäten. So ist Eric im eigenen, unwirklich wattierten Leben nicht zu Hause, Sex und Geld sind ihm gleichermaßen öde und uneigentlich. Derweil maskiert Iwan sein ganzes Dasein als Künstler. Um einen alten Buchtitel von Hans Magnus Enzensberger aufzugreifen, stecken die Figuren just zwischen „Mittelmaß und Wahn“ fest.

Gepriesen sei Kehlmanns Kunstfertigkeit. Der Mann ist drauf und dran, einer der ganz großen deutschsprachigen Schriftsteller zu werden. Die Bühnenshow des Hypnotisieurs – atemberaubend geschildert. Die unstillbaren Glaubenszweifel während des Vollzugs der Liturgie und des Beichtsakraments – herrlich in Szene gesetzt. Und so weiter, bis zum Schluss. Dieser Roman ist einfach gut gemacht und das ist nicht etwa relativierend gemeint, sondern aus vollem Herzen lobend, quasi im angelsächsischen Sinne eines „well made“. Und wer da glaubt, derlei Unterhaltsamkeit müsse auf Kosten des deutschen „Tiefgangs“ gehen, der lese und staune doch selbst!

Daniel Kehlmann: „F“. Roman. Rowohlt. 380 Seiten.




„Der Parasit“: Komödie zum Saisonauftakt am Düsseldorfer Schauspielhaus

Die Büromöbel stehen noch halbausgepackt auf Plastikfolie, das Vorzimmer des Ministers sieht in prekärer Pressspanoptik aus wie die neuen Räumlichkeiten eines IT-Startups: Ach, und da wird auch schon der erste gefeuert. Buchstäblich auf die Straße geworfen wird der arme Teufel mit der Nerd-Brille, weil sein Kindheitsfreund Selicour (Florian Jahr) ihn ganz übel ausgebootet hat. Doch La Roche (Christian Ehrich) ist nicht das einzige Opfer des „Parasiten“, im Laufe der nächsten anderthalb Stunden bringt der eiskalte Karrierist Selicour noch einige Kollegen zu Fall – bis er selber stürzt.

Foto: Kurt Michel/pixelio

Foto: Kurt Michel/pixelio

Zum Saisonauftakt zeigt das Düsseldorfer Schauspielhaus die von Friedrich Schiller übersetzte französische Komödie „Der Parasit“ im kleinen Haus. Regisseur Nurkan Erpulat hat die Schillersche Bearbeitung von 1803 in die Gegenwart geholt und inszeniert Bürotypen von heute beim Mobben und Gemobbtwerden. Das allerdings mit pointensicherem Rhythmusgefühl, exzellenten Schauspielern und treffendem Witz, so dass ein fluffiger Abend von leichter Hand dabei herauskommt. Als wäre noch Sommer.

Der smarte Selicour im feingestreiften Anzug mit rosa Innenfutter ist zunächst einmal ein Kommunikationsgenie und verkörpert das Klischee eines Marketing-Fritzen, wie sie heutzutage in Wirtschaft, Kultur und Politik sphärenübergreifend herumhampeln. Er quatscht mit jedem, kann mit der Mutter des Ministers (Verena Reichhardt) ebensogut wie mit jenem selbst und empfindet das durchaus als seinen Verdienst: Networking muss man eben beherrschen, wenn man Karriere machen will und wer die richtige Performance nicht drauf hat, bleibt halt auf der Strecke, das ist ja nicht sein Problem.

Außerdem ist der Parasit ziemlich gut im Delegieren, auch das muss ein Manager können. So luchst er dem braven, langgedienten Beamten Firmin (Dirk Ossig) das Memorandum ab, das er abends abliefern muss und gibt es als seines aus. Mal ehrlich, machen Chefs das nicht immer? Da ihm fürs Songschreiben das Gefühl fehlt, bequatscht er den scheuen Retro-Hippie Karl (Marian Kindermann), sein Liedchen abzutreten, mit dem die Tochter des Ministers (Patrizia Wapinska) bezirzt werden soll. Na, und? Er bringt ihn ja auch groß raus auf der Party und Copyright ist sowieso passé.

In dieser Lesart wird die Rache, auf die die Betrogenen sinnen, fast schon unverständlich, da das ganze System das Parasitentum ohnehin zur Norm erhoben hat. Wer soll sich noch moralisch über Schleimerei und üble Tricks entrüsten, wenn das sowieso alle machen (sollen)? Zumal auch der Bling Bling-Minister Narbonne (Moritz Führmann), mal im Tennis-Dress, mal in Reiterkluft, mehr an sportlichen Events als an irgendwelchen Regierungsgeschäften interessiert ist. Klar, hat er lieber Leute um sich, die seinen Lebensstil kopieren als solche Aktenfresser, die ihn an die eigene Pflichtvergessenheit gemahnen. Da stinkt der Fisch vom Kopfe her.

Foto: Sassi/pixelio

Foto: Sassi/pixelio

Für alle Sozialromantiker, die die Gesetze des Marktes und ihrer (verantwortungslosen) Akteure noch nicht begriffen haben, gibt’s aber im Schauspielhaus den guten alten Schiller-Schluss. Mittels List der rechtschaffenen Leute wird der Parasit überführt und der gerechten Strafe zugeführt. Die Welt hat einen Smartie weniger. Blöd nur, dass die immer so bunt nachwachsen.

Infos und Karten:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Das Begehren in den Zeiten der Krise – Uwe Timms Roman „Vogelweide“

Auf der deutschen Nordsee-Insel Scharhörn lebt nur ein einziger Mensch, nämlich ein Vogelwart. Genau auf diesen Außenposten hat sich Eschenbach zurückgezogen, die männliche Hauptfigur in Uwe Timms neuem Roman „Vogelweide“. Von hier aus wird weitschweifig rückblickend erzählt.

Durch wirtschaftliche Wechselfälle hat der Mittfünfziger Eschenbach ein paar Jahre zuvor seine einst gut gehende Berliner Softwarefirma verloren, in der man alle denkbaren Abläufe hat beschleunigen und optimieren wollen. Das Ende einer solchen Unternehmung ist schon per se vielsagend. Da platzt sozusagen eine neoliberale Blase, wenn nicht gleich eine ganze Weltanschauung.

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Die Krise vertieft sich ins Existenzielle, als Eschenbach (von Haus aus eigentlich Theologe!) seine große Leidenschaft verliert. Jene Kunstlehrerin Anna war zuvor mit dem Architekten Ewald liiert, Eschenbach selbst mit der Silberschmiedin Selma. Man traf sich zu viert. Beide Paare lebten in gutsituierter Zufriedenheit, ja Sättigung. Als erst einmal das maßlose, unabweisbare Begehren entfacht war, konnten Eschenbach und Anna für eine Zeit nicht mehr voneinander lassen – bis Annas Schuldgefühle als Ehefrau und Mutter überwogen. Schnitt.

Wenn man diese Vorgaben hintereinander liest, so hört sich das ebenso altbekannt wie angestrengt ausgedacht an, wie aus dem Baukasten gefügt. Gar zu umständlich, durchreflektiert und druckreif gezurrt klingen denn auch manche Dialogpassagen in diesem Buch, dessen Autor sich immer wieder kleine Abschweifungen gestattet, als sei er zwischendurch das lineare Erzählen leid. Insgesamt ist dies aber ein konventionell konstruierter Roman.

Geld weg, Job weg, Frau weg. Der alte Blues. Sodann die Flucht von Berlin auf die einsamste deutsche Insel: der alte Mann und das Meer. Auch sinnreiche Lebensentwürfe für ein würdiges Alter (Eschenbachs linksgerichtete Eltern sind in einen Alten-WG gezogen) bilden einen Themenstrang des Romans. Man muss ja nicht gerade als Hippie-Veteran enden.

Im Kern geht es darum, das schiere Begehren gegen alle Berechnungen zu bewahren. So will eine Meinungsforscherin (seltsam herbeigezerrte Persiflage auf die Altvordere Elisabeth Noelle-Neumann) den Software-Fachmann Eschenbach gewinnen, um im Sinne von Internet-Partnerbörsen die Glückschancen algorithmisch auszuloten. Alsbald steigt er aus dem Projekt aus. Überhaupt hat er begonnen, zielgerichtete Planungen zu verabscheuen, die nach seinem Empfinden doch eines Tages im Chaos enden werden. Und also ist vieles im Schwinden begriffen. Von Sprachverlusten ist vielfach die Rede, von bedrohten Völkern und Idiomen. Und überhaupt. Was hat Bestand?

Nun also das karge Eremitendasein auf Scharhörn. Ringsum die rauhe Meeresnatur. Abstand von allem. Inventur. Die Menschen seines Lebens spuken manchmal nachts durchs Eschenbachs Kopf und Kammer. Am Schluss des Romans darf ihn ausnahmsweise Anna noch einmal über Nacht besuchen, die ansonsten längst als Galeristin in Kalifornien lebt. Es wird ein betrüblicher Abschied, für immer.

Wir haben es hier übrigens mit anspielungsreichen Namen zu tun. Eschenbach erinnert – besonders im Hinblick auf dem Titel des Romans – an den mittelhochdeutschen „Parzival“-Dichter Wolfram von Eschenbach. Und der Name „Vogelweide“ führt uns vollends in die Zeiten der Minne. Weit weg jedenfalls aus unserer formlos rasenden, leerlaufenden Zeit.

Uwe Timm: „Vogelweide“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 336 Seiten. 19,99 €.




Wenn New York in den Fluten versinkt – Nathaniel Richs Roman „Schlechte Aussichten“

9783608980035.jpg.18936Während das Gros der Menschen vor Katastrophen zurückschreckt, lebt Mitchell Zukor geradewegs auf, wenn er die Wahrscheinlichkeit von Untergangsszenarien berechnen und kalkulieren kann. Er, die Hauptfigur in Nathaniel Richs Buch „Schlechte Aussichten“, bändigt damit nicht nur seine eigene Angst vor den Unwägbarkeiten des Lebens. Seine Faszination hat vor allem auch finanzielle Gründe, arbeitet doch der studierte Mathematiker für eine Firma, die mit solchen Prophezeiungen ihr Geld verdient.

Futureworld heißt die Versicherungsgesellschaft, und der Name ist ähnlich perfide wie ihr Treiben. Die Zukunft dürfte nämlich für ein Unternehmen längst beendet sein, wenn es als Kunde die Dienstleistungen in Anspruch nehmen muss. Futureworld verspricht, die Firmen im Falle schlimmster Naturereignisse finanziell schützen zu wollen. Nun ist Mitchell kein Versicherungsagent, der sich mit der Akquise herumplagen muss, er vergräbt sich lieber in Zahlen, Daten und Fakten, um die Wahrscheinlichkeit von Leid, Unglücken und Widrigkeiten zu berechnen. Mitunter ist er auch gefordert, seine Rechenexempel noch weiter zu treiben, um beispielsweise den Wert eines menschlichen Lebens in Geldsummen exakt zu taxieren. Die Ergebnisse haben übrigens wenig mit dem Prinzip von der Gleichheit der Menschen zu tun.

Mitchell führt nun also sein Eigenleben, als eigenbrötlerisch lässt es sich durchaus charakterisieren. Während er sich ungemein darüber freut, einen solchen Job bekommen zu haben, der auch mit einem beruflichen Aufstieg verbunden ist, soll es ihm gelingen, sich als Prophet zu beweisen. Dank seiner exakten Analysen kann er eine Überschwemmung für weite Teile von New York vorhersagen. Mit seinen Visionen macht er sich nicht unbedingt beliebt, manch einer schenkt ihm auch keinen Glauben, doch es kommt, wie es Mitchell beschrieben hat. Big Apple versinkt in den Fluten, wenn auch nicht komplett.

Gerade weil Autor Nathaniel Rich keine Apokalypse heraufbeschwört, sondern vielmehr den Leser die Folgen eines verheerenden Tsunamis vor Augen führt, wirkt die gesamte Szenerie zwar beängstigend, aber auch ungemein real. Es gehört zweifellos zu den ganz starken Kapiteln des Buches, wenn US-Amerikaner Rich den Leser quasi mit ins Boot nimmt, um ihm das untergegangene New York zu zeigen. Mitchell steigt nämlich mit einer Kollegin in ein kleines Bötchen und schaut sich mit ihr gemeinsam die Wassermassen an. Vorlage für seine Schilderungen bekam der Autor in den vergangenen Jahren oft genug geliefert, New Orleans, Mozambique oder Sri Lanka sind da nur drei von vielen Beispielen.

Die Geschichte dieses Mitchells wäre aber noch nicht ganz zu Ende erzählt, würde man auf Elsa Brunner verzichten. Sie ist eine Kommilitonin und leidet an dem Brugada-Syndrom, läuft also Gefahr, jeden Moment tödlich umzufallen. Für einen Mann, der eine Vorliebe für Risiken und Unbill hat, geht von einer solchen Frau eine ungeheure Faszination aus. Und es drängt sich die Frage auf, ob ihre Psyche mitspielt, wenn New York in den Fluten versinkt. Die Antwort gestaltet sich zu einer der spannenden Stellen des Bandes.

Nathaniel Richs erstes Buch in deutscher Übersetzung lebt an vielen Stellen von sanfter Ironie, die entsteht, wenn der Mensch versucht, die Unwägbarkeiten des Lebens in den Griff zu bekommen. Seichte Kritik am Umgang mit der Umwelt lässt sich ebenso herausfiltern.

Nathaniel Rich: „Schlechte Aussichten“. Roman. Klett-Cotta, 352 Seiten, 21,95 Euro.




Einen Autor mehr und mehr für sich entdecken: Bücher von Walter Kappacher

Nicht nur in (und am) Mattsee g e l e s e n habe ich unlängst die zwei neuesten Bücher des Büchnerpreisträgers von 2009, des seit Jahren in dem Mattsee benachbarten Ort Obertrum lebenden Walter Kappacher, sondern sehr wahrscheinlich habe ich ihn als Person dort sogar selber mehrmals g e s e h e n .

Mindestens viermal kam in der besonders heißen ersten Augustwoche ein seinem Bilde, dem möglicherweise heute nicht mehr ganz aktuellen Buchklappenseitenbilde, sehr ähnlicher Mann ins „See- und Strandbad Mattsee“. Jeweils vom frühen Morgen bis zum späten Vormittag blieb er da und setzte sich buchlesend an eine noch ruhige Stelle in den Schatten, auch – wie vereinbarungsgemäß – nicht gestört von seiner Frau, die ihn gelegentlich ins Bad begleitete und selber etwas las. Beide sah ich, als zufällig auch wir gerade gingen, um die Mittagszeit mit den Fahrrädernwieder wegfahren. Vermutlich kamen sie auch sonst jeweils mit dem Rad. Einmal sah ich ihn über ein Typoskript mit großen Zeilenabständen gebeugt, in das er gelegentlich sei’s Ergänzendes, sei’s Korrigierendes mit einem Stift hineinschrieb.

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Natürlich hätte ich sehr gerne gewusst, ob mein Gespür mich nicht trog und ob es sich bei diesem Mann wirklich um den Schriftsteller Kappacher handelte, aber ich bin in der Regel nicht aufdringlich oder gar zudringlich und wollte auch nicht weniger zurückhaltend und scheu sein, als er selber seinem eigenen Zeugnis nach es früher gegenüber Oskar Werner, Peter Handke oder Thomas Bernhard und anderen gegenüber gewesen ist. Und als ich mich nach einer Woche schließlich doch dazu entschlossen hatte, ihn höflich anzusprechen, zumal nach meiner frischen Buchlektüre, war er ausgerechnet von diesem Tage an nicht mehr zu sehen.

Halten wir uns also an seine Bücher.

Am 30. Juli kamen wir an unserem Urlaubsort Mattsee an, am 31. waren wir im nur 20 Kilometer entfernten Salzburg. In einer Buchhandlung dort fielen mir zwei Bücher auf, die ich sogleich kaufte.

Die Lust an der Lektüre hat nicht nachgelassen

Zunächst die Kindheitserinnerungen von Karl-Markus Gauß mit dem Titel „Das Erste, was ich sah“, ein Buch, das ich in den nächsten beiden Tagen las, und schließlich den auch äußerlich sehr handlich und geschmackvoll edierten Band „die amseln von parsch / und andere prosa“ von Walter Kappacher, den ich – wie gesagt – höchstwahrscheinlich als Person gleich am nächsten Tag im Strandbad sah. Vom 3. August an las ich im Wechsel mit anderer von zu Hause mitgebrachter Lektüre mehr und mehr diesen Kappacher-Band, wobei ich die Reihenfolge der (ohnehin gut auch isoliert, ohne Rücksicht auf die im Band vorgegebene Reihenfolge lesbaren) Texte selbst bestimmte. Aber gelesen habe ich sie dann alle. Die Lust an ihnen ließ nicht nach.

Begonnen habe ich mit den beiden letzten Beiträgen des Bandes, die mich auf Anhieb am meisten interessierten. Ich las nacheinander die beiden Textfolgen „Ich erinnere mich / Aus den autobiografischen Notizen“ (S. 157ff.) und „Eigenes und Angeeignetes“ (S. 185ff.). Wie unmittelbar vorher schon bei Gauß konnte ich nun auch bei Kappacher mit den jeweiligen Erinnerungen meine eigenen Salzburger Kindheitserinnerungen reflexionsfördernd vergleichen; nur: in dem ersten Fall war ich der 11 Jahre Ältere und in dem zweiten Fall der um fünf Jahre Jüngere; aber gerade das leicht Zeitversetzte war für mich interessant, umso verblüffender so manche dennoch vorhandene Übereinstimmung. Aber abgesehen davon, auch für Nicht-Salzburger dürften diese uneitel als Fragmentfolge konzipierten Erinnerungen Kappachers von großem Lektüreinteresse sein. Der Schriftsteller Walter Kappacher ist – wiewohl seine Herkunft nicht verleugnend – niemals und nirgends provinziell.

Der Schlusstext „Eigenes und Angeeignetes“ bietet in einer gemischten Folge sich zu eigen gemachte Zitate (oft Aphorismen) anderer Autoren und eigene Notate. Ich bin versucht, hier laufend und immer wieder zu zitieren, verzichte aber darauf und gebe lieber eine Stelle aus den vorgeordneten „autobiografischen Notizen“ wieder, die mich aufhorchen ließ. Auf Seite 173 ist nämlich zu lesen: „Wie ich Ende der sechziger Jahre auf das Bändchen „Stille“ der Edition Suhrkamp von Antonio Di Benedetto aufmerksam wurde. Die Stimme dieses Autors schien zu mir zu sprechen wie wenige. Wahrscheinlich war es diese Stimme, die mich wünschen machte, Schriftsteller zu werden.“

Hand aufs Herz. Wer kennt den Autor Antonio Di Benedetto durch eigene Lektüre? – Ich kenne ihn auch nur zufällig, weil ich mich seit etwa vier Jahrzehnten für lateinamerikanische Literatur interessiere und weil ich vor einiger Zeit eine Rezension über den 2009 bei Manesse neu herausgegebenen Roman „Zama wartet“ geschrieben habe. Nur dadurch bin ich auch selber auf das von Kappacher so stark hervorgehobene Bändchen „Stille“ gestoßen, das ich aber zu diesem Zeitpunkt (trotz des damaligen Argentinienschwerpunktes der Frankfurter Buchmesse) nur mehr noch antiquarisch erwerben konnte. Dass aber dieser von 1922 bis 1986 lebende, bei uns bis heute nicht allzu bekannte argentinische Autor für Kappacher einst so bedeutsam geworden ist, sollte für uns ein wichtiger Hinweis sein.

In anderen Essays seines Bandes eröffnet uns Kappacher persönliche Ausblicke auf ältere und jüngere Schriftstellerkollegen, denen er zu verschiedenen Zeiten ab und an begegnete. So schreibt er unter dem Titel „Der Außenseiter vom Mönchsberg“ etwas über seine Begegnungen mit Gerhard Amanshauser und ergänzt dies chinesisch verfremdet durch den Text „Zusammenkunft mit Meister Mu“. Der Essay „Woher sollte er mich kennen?“ rückt Peter Handke und seine Begegnungen mit Walter Kappacher in unseren Blick.

Sehr gerne gelesen habe ich auch Kappachers sehr lebendig geschriebene „Erinnerungen an Erwin Chargaff“: „Es wird kein Platz für uns sein“. Auch für die Lektüreanregungen, die ich darin fand, bin ich dankbar.

In seinen in sehr unterschiedlichen Textsorten gefassten weiteren Beiträgen befasst sich Kappacher unter anderem mit Thomas Bernhard („Der Maulwurf / Träume mit Thomas Bernhard“) und mit James Joyce und mit Jean Paul, mit Alexander von Villers und mit Jane Austen. Aber auch einem „rätselhaften Bild“, „Hans Burgkmair und seiner Frau Anna Allerlai“, widmet er sich in einem Essay in interessanter Weise. Recht Persönliches erfahren wir in seinem Vaterporträt „Mein Vater“ und im kurzen Text „Hochkönig“.

Lesenswerte, wenn auch nicht sehr herausragende Erzählungen eröffnen den Band. Die erste Erzählung „Abschied von Cerreto“ wird vor allem für jene interessant sein und an Bedeutsamkeit zulegen, die Kappachers Roman „Selina“ aus dem Jahre 2004 bereits gelesen haben und das damals gestrichene, hier nachträglich zugänglich gemachte Kapitel auf diese Weise zuordnen können.

Ein Roman, der durch mehrmaliges Lesen gewinnt

Insgesamt hat mir das sehr anregende Bändchen Kappachers recht gut gefallen, so gut, dass ich mir anderthalb Wochen später seinen schon im Jahr 2012 erschienen Roman „Land der roten Steine“ auch noch kaufte und in meiner Sommerfrische ebenfalls sofort las. Während der Lektüre des langen Mittelteils „De vita beata“ stellte ich mir Leser(innen) vor, die sich bei der ausführlichen Wiedergabe dieser viertägigen Reise ins „Land der roten Steine“ in den Südwesten der USA vielleicht etwas langweilen könnten, und mir wurde bewusst, dass es wesentlich darauf ankommt, dies alles in der besonderen, erst einzufangenden Perspektive der Hauptfigur, des inzwischen im Ruhestand befindlichen Bad Gasteiner Arztes Wessely, zu sehen. Wer indessen diesen Mittelteil mit langem Atem durchsteht, wird im weit kürzeren dritten Teil („La vita breve“) diese Perspektive überzeugend nachgeliefert bekommen und bemerken, dass er sie auf Grund behutsamer Andeutungen schon mit dem ersten Teil („Vita nuova“) hätte einnehmen können. Kurzum: Hat man den ganzen Roman mit Geduld gelesen, werden die Innenspannungen deutlicher, und man bekommt Lust, ihn insgesamt gleich noch einmal zu lesen.

Es handelt sich zweifellos um einen Roman, der durch mehrmaliges Lesen gewinnt. Er ist so womöglich gegen unsere Zeit geschrieben. Wobei der wache Blick auf das, wovon unsere Zeit gezeichnet ist, der in diesem Roman dennoch waltet, nicht übersehen werden kann.

Walter Kappacher: „Die Amseln von Parsch“. Verlag Müry Salzmann , Salzburg – Wien 2013. 216 Seiten / 19,00 €

Walter Kappacher: „Land der roten Steine“. Carl Hanser Verlag, München 2012. 160 Seiten / 17,90 €




Der Avatar und die Toilette – Volker Königs Erzählung „Varn“

Was für eine Welt schaffen sich Menschen, denen die Möglichkeit gegeben ist, ein Leben nach ihren Wünschen und Vorstellungen einzurichten? Das Ergebnis – wie wir aus Volker Königs Erzählung „Varn“ erfahren – ähnelt nur allzu sehr unserer vertrauten Alltagswelt, es sieht nur ein bisschen perfekter aus. „Hatte ich nicht gehofft, eine Welt vorzufinden, die sich von der vor meinem Fenster in allem unterschied?“, fragt sich der Erzähler, der mit Hilfe seines Avatars namens Varn die Welt des „Second Life“ erkundet.

Bei seinen Gängen und Flügen durch die virtuelle Welt verfolgt Varn eine profane, zugleich verständliche Absicht: Er möchte die gut besuchte Internet-Plattform nutzen, um möglichst viele Bücher zu verkaufen, die sein Schöpfer in der ersten, nicht-virtuellen Welt geschrieben hat. Ob das funktioniert?

Cover. Volker König: VARNFoto: Latos-Verlag

Cover. Volker König: VARN
Foto: Latos-Verlag

Die Second-Life-Bewohner kann man sich größtenteils als Variationen der Barbiepuppe und ihres Freundes Ken vorstellen. Varn dagegen wurde vom Erzähler mit „Metzgerarmen und monströs fettem Bauch“ ausgestattet, „dazu einem fransig herabhängenden grau-weißen Haarkranz, einer dicken schwarzen Hornbrille vor einem einfältigen Gesicht mit großen Augen und Unterbiss“. Als Ausnahme unter den Avataren läuft, schwebt, fliegt, teleportiert er durch die Kunstwelt, soweit ihm die Mitspielenden Zutritt zu ihren aus Katalog-Versatzstücken zusammengesetzten Ressorts gewähren. Er beobachtet Avatare, wie sie Tütenmilch, Brot und Produkte aus der Kühltheke kaufen. Ihre Villen sind mit Betten, Stühlen, Küchen, ja Toiletten ausgestattet, was den Erzähler schmunzeln lässt.

In den humorvoll wiedergegebenen Details offenbart sich unaufdringlich der philosophische Tiefgang von Volker Königs Erzählung. Der alte Dualismus von Körper und Geist – was fängt ein Wesen, das aller körperlichen Bedürfnisse enthoben ist, mit dem langen Tag an? Jemand, der nicht einkaufen, kochen, essen, verdauen muss. Der weder Schlaf noch das schöne Auto benötigt, weil das Teleportieren schneller ist. Die Sinnfrage berührt den Kern des Spielens überhaupt. Manche der gelangweilten Second-Life-Bewohner sind Varn geradezu dankbar, dass er ein definiertes Ziel verfolgt – das Buch seines Schöpfers zu verkaufen.

Es bleibt nicht beim Anpreisen von Büchern. Varn findet mehr und mehr Geschmack an der Kunstwelt, als er mit der verführerischen Alida zu flirten beginnt. Alles Mögliche mag im Second Life schöner sein, das Wetter, das Eigenheim, die Fortbewegung… Aber der Sex? Der wird in seinem Suchtpotenzial nicht ganz nachvollziehbar beschrieben, als merkwürdige Bewegungen auf der Grundlage von Bällen.

Zur Anbahnung des erotischen Abenteuers ist Varn jedenfalls erleichtert, dass die Avatare dieser Parallelwelt in schriftlicher Form miteinander kommunizieren. Durch die Entschleunigung des Schreibens, meint er, ließen sich Fehler und Missverständnisse vermeiden. Bevor es allerdings zum Pixelsex kommen kann, muss der als voll bekleidetes Wesen erschaffene Varn beim Entkleiden mit Schrecken und Scham feststellen, dass er nicht mit dem zur Kopulation nützlichen Accessoire ausgestattet wurde (hatte Ken einen Penis?). Doch Alida kann ihm mit einem prächtigen Teil aushelfen.

Scheinbar spielerisch wirft Volker König die großen Fragen der Identität auf. Wie sich Menschen definieren, wenn sie die freie Wahl haben. Was die Persönlichkeit ihrer Ansicht nach ausmacht. Welche nicht nur kriminellen Möglichkeiten sich jemandem eröffnen, der sich anonym, hinter der Maske eines Avatars, durch die Welt bewegt. Welche Instanzen ein Interesse daran haben, dass jeder von uns sein Leben lang mit eindeutigen Identifikationsmerkmalen ausgestattet bleibt, mit einem Namen, den wir uns nicht aussuchen konnten, einem invariablen Geburtsdatum und einer Ausweisnummer. Und woran es liegen könnte, dass wir uns nicht auch im First Life öfter mal neu erfinden.

Mit der Frage der charakterlichen Konstituierung eng verbunden erscheint das Fragwürdige der sogenannten Realität; die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der immer wieder auftauchenden „Welt vor meinem Fenster“ und der virtuellen Welt. Mit der Entwicklung der Handlung werden die Beziehungen zwischen Varn und Alida, Varns Schöpfer und dem Menschen, der sich Alida ausgedacht hat, zunehmend verwickelter. In der Vermischung beider Sphären könnte man sich an das Liebesgeständnis erinnert fühlen, das 2011 Barbies Toy-Boy Ken seiner Idealfrau in New York von Plakatwänden aus zugerufen hat: „Barbie, we may be plastic but our love is real.“

Volker König, der in Essen lebende gebürtige Dortmunder, legt mit „Varn“ seine vierte Buchveröffentlichung vor – bei der bereits aus früheren Werken gewohnten Vergnüglichkeit seine bislang ernsthafteste. Wir freuen uns auf „In Zukunft Chillingham“, das nächste Buch, das der Latos-Verlag noch für dieses Jahr ankündigt, und wünschen beiden im ersten wie im zweiten Leben hohe Verkaufszahlen.

Volker König: „Varn“. Latos-Verlag, Calbe/Saale, 2012 (ISBN 978-3-943308-10-5). 8,50 Euro




Vom Verlust der Heimat – Annika Scheffels Roman „Bevor alles verschwindet“

A.Scheffel, bevor alles verschwindet In letzter Zeit befassen sich offenbar auffällig viele Werke mit der Frage nach Heimat. Zufall oder deutliches Zeichen unserer rastlosen Zeit, in der Mobilität oft genug als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird? „Heimat ist auch keine Lösung“ lautete unlängst der Titel eines großartigen Theaterstücks im Bochumer Schauspielhaus. Unweigerlich musste ich diesen Satz denken, als ich den neuen Roman von Annika Scheffel „Bevor alles verschwindet“ gelesen habe.

Annika Scheffel erzählt vom letzten halben Jahr eines Dorfes, welches auf die Flutung wartet. Einem Staudammprojekt muss das Dorf weichen, ein Naherholungsgebiet soll entstehen. Die meisten Dorfbewohner sind schon weg, im neuen Ort, der bald einen großartigen Blick auf einen See zu bieten hat. Den See, der dann ihre einstige Heimat verschluckt haben wird. Im alten Dorf selbst harren Jahre nach der Ankündigung nur noch wenige Bewohner aus, die „Realitätsverweigerer“, wie die Verantwortlichen sie nennen. Die Verantwortlichen, das sind die fahlen Herren der Staudamm-Gesellschaft, die den bevorstehenden Untergang mit roter Sprühfarbe auf den abzureißenden Häusern markieren.

Die verbliebenen Bewohner haben „Angst bis zum Himmel und darüber hinaus“. Sie wissen, dass sie sich in der neuen Heimat fremd fühlen werden, sie sich ein neues Leben in der Heimatlosigkeit aufbauen müssen. Für einige von ihnen ist Heimat da, wo sie Freunde und Angehörige begraben haben, wo sie selbst dereinst begraben sein wollten. Nicht von ungefähr spielt im Roman der Friedhof, der auf seine Einbetonierung wartet, eine bedeutende Rolle.

Sie schmieden unbestimmte Pläne für finale Protestaktionen, doch über mehr als Halbherzigkeit kommen sie nicht hinaus. Dafür sind sie selbst zu sehr mit ihren eigenen Dämonen beschäftigt. Was sie eint, ist auch das Schweigen über vergangene Sünden, das Wissen übereinander, aber keiner von ihnen hat die Kraft, diese Gemeinsamkeiten in einen echten Protest zu lenken. So muss das ein Tier übernehmen, der blaue Fuchs, den nicht alle sehen können, der dafür aber die Verantwortlichen beißt. Die Rolle des stoisch Ertragenden spielt Milo, den auch nicht alle sehen können, der aber immer da auftaucht, wo ein Mensch alleine seine Last nicht mehr tragen kann.

Das Jahrhundertfest lässt man die Verbliebenen noch feiern. Außer den letzten Bewohnern kommen nur Gaffer und Dokumentarfilmer. Von denen, die schon am neuen Ort leben, lässt sich keiner blicken. „Wer einmal geht, so sagen sie, kehrt nicht mehr zurück“. Die halbherzig geplanten Protestaktionen sind ein letzter vergeblicher Aufschrei, der wirkungslos verpufft, die – auch tödlichen – Opfer, die gebracht wurden, sie waren umsonst. Die Flut kommt, das Wasser stürzt, der Ort ist Vergangenheit.

Im Roman wie auch so oft im Leben sind diejenigen die Verlierer, die an einer Heimat im Sinne eines unveränderlichen Wohnorts festhalten. Vordergründige Gewinner sind die fahlen Herren, die Verantwortlichen. Unwillkürlich denkt man bei diesen Herren an die grauen Herren aus Michael Endes „Momo“. Damals stahlen sie die Zeit, heute direkt die Welt. Dennoch ist „Bevor alles verschwindet“ weder Märchen, noch Gleichnis, noch politisches Statement. Was Annika Scheffel liefert, ist trotz des Auftretens eigener Fabelwesen, trotz des zwischenzeitlichen Versuches eines magischen Realismus eher eine Zustandsbeschreibung des äußeren Geschehens und eine Erkundung des Inneren der letzten verbliebenen Bewohner. Weil diese nicht wissen, was sie bekommen werden, halten sie an dem fest, was sie haben. Auch wenn dies lange nicht mehr das ist, was es mal war.

Die Autorin nähert sich ihrem Thema mit großem Respekt. Ihre Sprache ist flüssig, angenehm zu lesen, aber nicht einfach. Sie erzählt ganz ruhig, lässt Entwicklungen zu und überfrachtet ihren Roman nicht mit den mystischen Anspielungen, das dosiert sie sehr genau. „Bevor alles verschwindet“ weckt viele Emotionen. Stimmungen erzeugen – das ist etwas, was die Autorin sehr gut kann.

Dennoch leidet der Roman immer wieder an Längen. Ab und an denkt man schon, dass man es so genau jetzt auch wieder nicht wissen wollte. Gerade, wenn es um David geht, den Sohn des Bürgermeisters, der von seinem verzweifelten Vater in den Wahnsinn getrieben wird, führen diese Längen zu Desinteresse. Manchmal erzählt Annika Scheffel allzu ruhig und rutscht dadurch ins Unbeteiligte ab. Es gibt einige Stellen im Buch, die von Eltern erzählen, die ihren Kindern zuviel zumuten und ihnen die Zukunft verbauen. Hier wird soviel Fatalismus impliziert, dass man auf die Idee kommen könnte, diese Haltung wäre eben einfach so und nicht zu ändern.

Der Roman lässt seinen Leser traurig zurück, aber nicht ratlos. Und genau das ist es, was das Buch lesenswert macht. Was bleibt, ist zwar die Erkenntnis, dass manches unwiederbringlich verloren geht und man einfach nichts dagegen machen kann. Doch es bleibt noch eine zweite Erkenntnis: Die, die vorwärts schauen, die bereit sind, den Begriff Heimat für sich neu zu definieren, sie haben eine Zukunft, eine Chance. Prolog und Epilog des Buches gehören Jula. Jula zählt zu den Jüngeren der letzten Bewohner, sie hatte nicht nur den Verlust ihrer Heimat, sondern auch den ihres Zwillingsbruders zu beklagen. Jula zumindest scheint Jahre später ihren Platz, ihre Heimat gefunden zu haben. In sich selbst und an der Seite eines Mannes, den sie liebt. Und das ist doch gar keine so schlechte Lösung.

Annika Scheffel: „Bevor alles verschwindet“. Roman. Suhrkamp Verlag, 411 Seiten, € 19,95




Das pralle Leben der Pröllmanns: Ein Sozialarbeiter gibt hintersinnige Einblicke

Nabelschau (und das durchaus im eigentlichen Sinn des Wortes) können Leser betreiben, die sich an der Seite eines Sozialarbeiters aus dem Ruhrgebiet Zugang zu einer speziellen gesellschaftlichen Spezies verschaffen. Die Wege werden ihnen in dem Buch „Schantall, tu ma die Oma winken“ geebnet.

Der Titel lässt erahnen, welche Zeitgenossen hier observiert werden. Der Band hätte auch genauso gut die Überschrift „Mach dem Mä mal Ei“ vertragen. Schantall Pröllmann, die vor allem in knalligen Farben auftritt, würde an solch einem Satz nichts Falsches oder Verstörendes finden, ihr kleiner Schastin, also Justin, wüsste auf Anhieb, was gemeint ist.

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Willkommen also in einer Familie, die zu betreuen dem Jochen wohl nie in den Sinn gekommen wäre, hätte es da nicht im Rathaus des Städtchens Bochtrop-Rauxel diesen Frauentausch, pardon Rollentausch gegeben. Jochen ist eigentlich für die Kulturbehörde tätig, soll aber – wie übrigens auch andere aus der Verwaltung – mal Tapetenwechsel betreiben und andere Ämter kennenlernen. So kommt er schnurstracks in den Bereich Soziales und von dort – ohne über Los zu gehen – als Betreuer zu den Pröllmanns samt Anhang.

Jochen findet sich wieder in einem Land, das die Kevinisten regieren, das seinen Bewohnern unendlich viele Freiheiten gewährt, beispielsweise sprachlich schon längst alle grammatikalischen Einfriedungen beseitigt hat, Jobsuche und finanzielle Grenzen als unerbetene Einmischung in innere Angelegenheiten betrachtet. Da werden dann halt an der Kirmesbude 197 Euro gelassen, Hauptsache man kann eine Grünpflanze sein Eigen nennen. Wenn’s Geld nicht reicht, zeigt Vater Pröllmann eben, was seine Fäuste noch können. Dumm nur, dass die 200 Euro Gewinn ausbleiben, weil der Gegner ein routinierter Kirmesboxer ist und der „Vadder“ der Familie sich eine blutige Nase holt. Mit seinem Gewinn, einer Küchenrolle, zum Abtupfen gedacht, lässt sich das Grünzeug vielleicht noch nett einwickeln.

Apropos einwickeln: Männer umgarnen ist wohl so etwas wie der Breitensport der Weibchen in diesen Kreisen. Ob im Fitness-Studio, zu Karneval oder in Lloret de Mar, Austragungsort der Urlaubssommerspiele mit Sohn und Freundin Cheyenne, wie auch immer dieser Name ausgesprochen werden will: Der Jagdtrieb bestimmt Sein und Bewusstsein. Natürlich funktioniert das Prinzip auch in gegensätzlicher Richtung. Die Männer sind auf der Suche nach paarungswilligen Geschöpfen für den Augenblick. So ist auch Schastin das Ergebnis einer Liaison, deren andere Hälfte längst wieder in Ostdeutschland untergetaucht ist.

Aber das ist nun mal das Schöne an dieser Klientel. Es gibt ja noch Familie, die gefallene Engel auffängt, und angesichts des Verhältnisses von „Quotientenkurve des Intellekts“ und „Anzahl der in die Welt gesetzten Kinder“ nimmt sich die Keimzelle der Gesellschaft nicht gerade klein aus. Entsprechend sind auch die Wohnungen gestaltet, den Begriff Dekoration würde hier – nach Jochens Erfahrungen – wohl niemand verstehen. Gelsenkirchener Barock hat dagegen glatt noch Stil, wobei die Verantwortung für wahllos vollgepfropfte Wohnzimmer eindeutig bei der Industrie liegt, wie der Sozialarbeiter erkennen muss. Ihren Verheißungen, sei es in Prospekten oder Werbespots, kann sich kaum einer und schon keiner vom Schlage Pröllmann entziehen.

Kaufen gehört ohnehin zu den Lieblingsbeschäftigungen von Schantall und ihrer Cheyenne, bei der die Bezeichnung Busenfreundin eine gesonderte Berechtigung hat. Shoppen, wie man auch sagen könnte, rangiert mit wenig Abstand hinter dem Begehren, einen Mann zu kaschen. Die Freude an den Konsumtempeln wird auch durch Anglizismen wie Sale nicht getrübt, sondern eher noch angeheizt, selbst schrille Musik wirkt antörnend. Wenn es mal zu geschmälertem Amüsement kommt, dann schon eher aufgrund der Komplexität von Sonderangeboten wie „Drei für zwei“. Wie soll man sich nur entscheiden, wenn es nicht drei, sondern vier T-Shirts sein sollen?

Bei den Kerlen wiederum belässt es Schantall (vorübergehend) bei einem Exemplar, Cedrik sein Name. Wie man es aus Film und Fernsehen kennt, darf ein Happyend nicht fehlen. Da das Traumpaar schon drei Monate zusammen ist, wird es höchste Zeit, den Bund fürs Leben zu schließen. Getreu dem Motto, „Wenn man schon kein Geld hat, lässt sich doch das am besten ausgeben“, ehelichen die beiden in einem Etablissement, in dem an diesem Tag mal der übliche Betrieb ruht, das Personal aber fröhlich mitfeiert.

Mögen manche Szenen am Ende auch ein wenig überzeichnet wirken, der Autor, der sich in die Rolle des Sozialarbeiters versetzt, beschreibt gesellschaftliche Wirklichkeiten, mal bissig, mal ironisch, oftmals aber auch mit ganz ernsthaftem Ton. Ihm ergeht es so wie vielen Lesern: Erstaunen und Sprachlosigkeit machen sich breit. Letzteres würde man sich auch bei den beschriebenen Kreisen vorstellen können. Hat da jemand von wünschen gesprochen?

Kai Twilfer: „Schantall, tu ma die Oma winken“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 219 Seiten, 9,95 Euro




„Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein“ – Gerhard Amanshausers Tagebücher

Was bleibt mir von einem solchen, 400 Seiten starken Buch im Gedächtnis, das ich vor etwa 5 Monaten aufmerksam, mit großem Interesse und – entgegen dem sicher wohlmeinenden Rat des Vorwortschreibers Daniel Kehlmann – kontinuierlich von Anfang bis zum Ende gelesen habe? Vor allem das Gefühl, dass sich diese Lektüre Seite für Seite gelohnt hat.

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Das Ende 2012 im Residenz Verlag posthum herausgegebene Buch der diarischen Aufzeichnungen des inzwischen schon 7 Jahre toten, aber noch immer als „Geheimtipp“ gehandelten österreichischen Schriftstellers Gerhard Amanshauser bietet neben bestechender Wahrnehmungstreue die facettenreiche Innenansicht eines intellektuell redlichen Autors, bei dessen Ausführungen man nie das Gefühl hat, der Autor habe bei diesen Tagebuchaufzeichnungen in erster Linie auf ihre spätere Veröffentlichung hin geschielt.

Sind seine Werke noch greifbar?

Man prüfe doch bitte einmal nach, ob auch nur eines der Bücher des von 1928 bis 2006 vorwiegend in Salzburg lebenden Schriftstellers G. Amanshauser auch nur in einer der Buchhandlungen Essens, Oberhausens, Bottrops, Duisburgs, Dortmunds oder Bochums (vielleicht dort?) griffbereit vorrätig ist. Man prüfe ebenso nach, ob in den Stadtbüchereien des Ruhrgebiets irgendwelche von seinen Büchern sofort ausleihbar und somit noch zugänglich sind. Meine Stichproben in Essen und Bottrop jedenfalls verliefen ergebnislos. Auch das hier vorgestellte Buch wird und wurde in den einschlägigen deutschen Buchhandlungen nicht beworben, nicht hervorgehoben, von gelegentlichen Besprechungen in der Süddeutschen Zeitung oder jüngst im Deutschlandfunk mal abgesehen.

Verlockender Titel?

Zugegeben, der Titel des Buches ist – wenn auch aus dem Zusammenhang gerissen – ein wörtliches Zitat von Amanshauser selber. Man findet den Satz irgendwo unter den Aufzeichnungen dieses Bandes. Ich glaube, es war noch vor der erreichten Hälfte des Buches. Wenn man Amanshauser als Schriftsteller schon etwas kennt oder sich vielleicht dabei an Nietzsches Selbstaussage „Nur Narr, nur Dichter!“ erinnert, ist der Titel in Ordnung. Vermag er aber auch jene, die Amanshauser überhaupt noch nicht kennen, dazu anzuregen, irgendeines seiner lesenswerten Bücher – wie z. B. „Als Barbar im Prater / Autobiographie einer Jugend“, „Mansardenbuch“, „Terrassenbuch“ oder „Sondierungen und Resonanzen“ endlich einmal aufzuspüren und zu lesen? Ich fürchte: Nein.

Der eine oder andere könnte sich bei diesem gewählten Titel doch vielleicht fragen: Warum sollte ich etwas von einem Schriftsteller lesen, dessen ausdrücklicher Herzenswunsch es offenbar gewesen ist, „kein Schriftsteller zu sein“? Oder sollten wir uns wie von ungefähr an das seltsame Phänomen erinnern, dass es wohl auch Propheten gegeben hat (vgl. das AT), die sich vehement der Zumutung zu entziehen suchten, Propheten zu sein, und ihr dennoch auf Dauer nicht zu entgehen vermochten.

Undogmatisch und diagnostisch

Mit undogmatisch diagnostischem Blick auf die Gegenwart hat Amanshauser nun tatsächlich und ziemlich illusionlos Zukünftiges mit im Visier. Auch wenn er von sich selber her ein „Schriftsteller wider Willen“ genannt sein mag, ein beachtlicher, ernst zu nehmender Schriftsteller ist er trotz kritischer Selbsteinschätzung zweifellos. Es fällt allerdings auf, dass in all seinen Tagebuchaufzeichnungen, insbesondere wenn sie sich auf das Schriftstellermilieu oder auf ihn selber beziehen, es nicht einen einzigen zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftsteller von Rang für Amanshauser gibt, den er für literarisch herausragend und wirklich über alle Maßen hervorhebenswert halten würde.

Einigermaßen gut kommen immerhin Ilse Aichinger, Walter Kappacher, Franz Fühmann, Nicolas Born, H. C. Artmann, Arno Schmidt, Sarah Kirsch und Gerhard Meier weg. Über Thomas Bernhard weiß er allerdings recht Bedenkliches, das haften bleibt, zu vermerken (vgl. insbesondere S. 271). Indessen: Mich hat, auf bildende Künstler bezogen (und den Tagebüchern ebenfalls zu entnehmen), z. B. sehr gefreut, dass Gerhard Amanshauser offenbar mit dem schätzenswerten Rudolf Hradil sehr gut bekannt, gar befreundet, gewesen ist und ihn und seine Bilder ebenfalls recht hoch geschätzt hat.

Botschaft des Umschlags

Im Übrigen: Ich gebe es ja gerne zu: Die Umschlagsbildbotschaft des Buches im Verein mit dem gelb herausgehobenen Autorennamen und dem vollen schwarz und weiß gefassten Titel ist bei näherem Hinsehen eine andere, eine erkennbar ironisch gebrochene. Die nur etwas erhöht aufgestellte Dichterkopfskulptur seines scheinbar schon bei Lebzeiten verbürgten Nachruhms begegnet dem noch lebenden Menschen Amanshauser, dem fragenden Aufblick seiner geschlossenen Augen wie dem stummen Halblächeln seiner geschlossenen Lippen. Blickt hier das Konterfei als Artefakt herab auf das Leben oder das Leben ironisch hinauf auf die Kunst?

Auf Buchseite 10 heißt es innerhalb eines längeren, den eigentlichen Tagebuchaufzeichnungen vorangestellten Amanshauser-Zitats: „Wichtig war, dass ich als Dichter völlig unbekannt war und kaum jemals etwas dem Druck übergab; denn später als der Ruf des Schriftstellers sich verbreitete, nahm meine Lebensfreude wieder ab, so dass ich zu der Überzeugung kam, das Ansehen als Dichter könne in unseren Tagen nur widrige und fatale Folgen haben.“

Nicht systematisierbar

Kosmischer Maßstab, Astronomie, Himmelsbeobachtungen, Wetterwahrnehmungen, jahreszeitliche Natureindrücke, Leben mit dem Garten, Sehnsucht nach dem Süden (insbes. Italien), periodischer Italienaufenthalt und seltene, andere Kurzreisen, das pauschal-symbolische Nördliche (das politisch und auch atmosphärisch und vom Lebensstil her Bedenkliche nördlich der Alpen), konsequente Religions- und Ideologiefixierungsverweigerung, entschiedene Distanz zu jeglicher geschichtsphilosophischen Spielart, die grundlegend antinazistische Haltung, das anziehend-abstoßende alljährliche Ritual verlagsgebundener Autorentreffen unter scharfer Beobachtung, Symptome unaufhaltsam scheinenden Kulturzerfalls und fortgesetzt andauernder Naturzerstörung, schonungslos klare Beobachtungen, treffende Formulierungen, Pessimismus gepaart mit Ironie und Humor, bis zuletzt: völliges Fehlen jeglicher Weinerlichkeit in Anbetracht der eigenen schweren Parkinson-Erkrankung; im Gegenteil, nahezu Aussparung des Reden davon…

(Zwischengedanke: Hatten Kierkegaard und Thomas Mann recht, wenn sie meinten, dass mit Bewusstsein Kranke bessere Voraussetzungen für Erkenntnis(se) böten als naiv Gesunde?)

Ein gewichtiges Thema ist auch der unselige Nazismus des eigenen biologischen Vaters und das Gegengewicht des einerseits geistigen Vaters und Mentors und andererseits als Lyriker (nicht als Essayist und Aphoristiker) von Amanshauser keineswegs unkritisch gesehenen Hermann Hakel.

Übrigens: Zahllose, en passant bei seinem freien diarischen Schreiben entstandene eigene Aphorismen Amanshausers, die er selber nicht nachträglich aus ihrem Zusammenhang gelöst und so als Aphorismen gekennzeichnet hat, ließen sich den für diesen Band chronologisch ausgewählten Tagebuchaufzeichnungen Amanshausers aus den Jahren 1964-1999 entnehmen und neu zusammenstellen.

Gerhard Amanshauser: „Es wäre schön, kein Schriftsteller zu sein“. Tagebücher. Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien, 2012, 400 Seiten. 26,90 €




Ansichten eines Hörbuchjunkies (6): Willst du boxen, Känguru?

Eines Tages steht ein Känguru vor der Wohnungstür. Artig fistelt es eine Begrüßung und stellt sich vor als neuer Nachbar. Und los geht’s.

Marc-Uwe Kling, der Pickel bekommt, wenn ihn jemand Kai-Uwe (nach: von Hassel, Minister im Kabinett Adenauer) ruft, abenteuert mit dem neuen Gefährten durch eine Umwelt, die wenig bis nichts mit den beiden Anarchisten anfangen kann, die weder Herrn Klings Weltsicht („Mein Vater hatte immer die helle Freude daran, ,Kling Glöckchen, klingelingeling …‘ Weihnachten zu spielen!“) versteht, geschweige denn teilt, die aber ebenso wenig an den schnodderig vorgetragenen Einsichten des namenlosen Kängurus erkennen kann, dass es als Alter Ego von Marc-Uwe selbst aus seinen angeblichen Vietcong-Erfahrungen noch Lehren für die Gegenwart zieht. Marc-Uwe skeptisch: „Kängurus werden doch höchsten 15 Jahre alt.“

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Die „Känguru-Chroniken“ des Kreuzberger Kiez-Kenners sind ein Fest, für die Zuhörer, die live mitmachten (es handelt sich um eine mitgeschnittene Lesung) wie für Buchhörer. „Das Känguru-Manifest“ ist ebenfalls ein Fest. Und auch bei dessen Mitschnitt gab es hörbar faszinierte Menschen im Publikum, die den Raum mit Tränen des schallenden Lachens fluteten und teilweise auch schon mehrfach Marc-Uwe Klings skurrilen Begebenheiten zuhörten, denn manche brüllen lachend los, obwohl der Gag erst im letzten Satz der Szene aufgeblättert wird. Kurz: Känguru und Kling rocken jeden Raum.

Der Autor, dessen Beute an überflüssigem Wissen bisher schon enorm ist, studierte Philosophie, gewann nachhaltige Erkenntnisse dadurch, dass er das Studium mehrfach abbrach und wieder aufnahm, legte noch Theaterwissenschaften dazu und sorgte dafür, dass die Freie Universität Berlin sich selbst nicht zu ernst nahm. Die Stories um seine Bekanntschaft mit dem Känguru entstammen einem Podcast, der wöchentlich über „Radio Fritz“ läuft. Man staunt, was dem Mann so alles einfällt, das man lieber dem Beuteltier in den Mund legt, damit es Klartext spricht, während Marc-Uwe selbst noch versucht, gesellschaftfähig zu bleiben.

Je absurder, desto besser; je unwahrscheinlicher, desto lautstärker; je irrealer, desto eindringlicher – Känguru kann sich eben alles leisten, weil es wie „Harvey“ (der weiße Hase in Mary Chase’s Bühnenstück) nur ganz auserlesenen Zeitgenossen leibhaftig werden kann – genauer gesagt: ausschließlich Marc-Uwe Kling. Oder so völlig abgedrehten Zuhörern wie mir, die mitleidig belächelt werden, weil sie mal wieder auf dem Bahnsteig warten und glucksend in sich hinein lachen, ohne dass den Nebenstehenden einsichtig wäre, warum diese Person sich vor Lachen gerade wegwirft.

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Kängurus boxen gern, so der Volksglaube. Marc-Uwe Klings Känguru auch. Die roten Boxhandschuhe findet es blitzschnell, wenn es darum geht, pöbelnden Nazis, gröhlenden Fußballfans in bierseliger Patriotenlaune oder nervigen Vertretern uniformierter Staatsmacht auf die Nasen zu hauen. Wenn es aber gezielt nach einem speziellen Beutelinhalt sucht, dann gärt die Vermutung, dass es sich bei Känguru um ein Weibchen handeln könnte, mindestens aber um ein Tier mit einseitigem Hormon-Überschuss. Dann findet es eine komplette Lkw-Umzugsladung, bis es zum begehrten Kern gelangt. Gerne auch mal Gegenstände, die ihm von Marc-Uwe, mit dem es längst eine Wohnung teilt, geliehen worden waren.

Eigentlich wollte das Känguru ja nur Eierkuchen machen, als es da so überraschend vor der Türe stand und sich als neuer Nachbar vorstellte, doch ihm fehlten die Eier. Wenig später stellte es fest, dass Mangel an Mehl herrsche, klar, gerade erst umgezogen. Dann sollten es noch ein paar Tropfen Milch sein und später etwas Butter oder so. Schließlich öffnet Marc-Uwe die Türe und deutet wortlos in die Küche zum Gasherd. Känguru hat nur ein knappes „Danke“ übrig und beginnt zu braten. Kurze Zeit darauf balgen die beiden schon energisch darum, wer die Lufthoheit über die TV-Fernbedienung hat. Es ist der Beginn einer festen Beziehung, einer andauernden Freundschaft.

Ach ja, hoffentlich geht das noch weiter, denn der dritte Teil, „Die Känguru-Offenbarung“, steht noch an. Sollte dann etwa Schluss sein?

Marc-Uwe Kling (Autor und Vorleser): “Die Känguru-Chroniken” (4 CDs), „Das Känguru-Manifest“ (4 CDs). Hörbucher (erschienen bei Hörbuch Hamburg/Downtwon), je 14,99 €.




Fußballkrimi vor brisantem Hintergrund: „Nach Abpfiff Mord“ von Heinrich Peuckmann

Peuckmann_nach_Abpfiff_MordNicht für jeden ist Fußball nur die zweitschönste Nebensache der Welt. Für manche, leider für immer mehr ist der Fußballplatz auch der Ort, an dem sie ihre Aggressionen ausleben können.

Fußball ist für sie ein Ventil. Rassismus, Beschimpfungen, Polemik bis hin zu Schlägereien, immer mehr Vereine aller Ligen können ein leidvolles Lied davon singen. Diese brisante Thematik bildet den Hintergrund für den Plot des neuesten Krimis von Heinrich Peuckmann: Nach Abpfiff Mord.

In seinem dritten Fall ermittelt Peuckmanns Kommissar Völkel in Leipzig. Dort kämpft ein Verein mit dem Problem andauernder Randale. Eine Zeitlang wurde das Problem totgeschwiegen, stillschweigend geduldet. Denn mehr Zuschauer bedeuten auch mehr Sponsorengelder, so einfach ist die Rechnung, die auch dieser Verein aufmacht. Ben Rossmann, ein junges Nachwuchstalent aus Dortmund, spielt dort – und rein karrieretechnisch sieht es gut für ihn aus. Von der Randele aber hat er schnell genug, energisch spricht er sich dagegen aus. Doch „es sind nur wenige wirklich mutig“ und er steht alleine auf verlorenem Posten mit dieser Haltung. Die meisten Fans zeigen ihm die rote Karte, er wird anonym bedroht und schließlich erschlagen in einem Park neben dem Stadion aufgefunden.

Von Dortmund nach Leipzig

Völkels Sohn Rolf war mit Ben Rossmann befreundet, als beide noch in der Jugend des BVB in Dortmund trainierten. Er bittet seinen Vater, nach Leipzig zu fahren, um dort auf eigene Faust zu ermitteln. Eigentlich hatte Völkel solchen Abenteuern abgeschworen, doch das Verhältnis zu Rolf ist nicht das Beste und er sieht eine Chance, dieses zu verbessern. Völkel macht sich auf nach Leipzig, auf eine abenteuerliche und nicht ungefährliche Suche nach dem Mörder.

Nach Abpfiff Mord ist ein Krimi, der sich bei aller Spannung seinem brisanten Thema behutsam nähert. Weder der Krimi noch das Thema Rassismus und Randale als mittlerweile allgegenwärtige Begleiterscheinungen des Fußballs sind dabei Mittel zum Zweck. Die Gesellschaftskritik ist gut dosiert, sie kommt nicht von oben herab. Bei aller Zeitkritik und der Sorge um Fairness im Sport ist Peuckmanns Liebe zum Fußball, zu seinen Schauplätzen Dortmund und Leipzig sowie nicht zuletzt zu seinen eigenen Protagonisten gut zu spüren.

Peuckmann nimmt kein Blatt vor den Mund, tut dies aber sachkundig und sorgfältig. Die Unterschiede zwischen Ultras, Hooligans und Neonazis arbeitet er sorgsam heraus. Kann ja auch nicht schaden, das wird ja gerne mal alles in einen Pott geworfen. Ein echter Zugewinn an Wissen für diejenigen unter den Lesern, die sich bisher nicht so eingehend mit der Thematik beschäftigt haben.

Der Kommissar als Optimist

Peuckmann schreibt flüssig, aber nicht glatt. Bei aller Brisanz und Bedrückung ist immer noch Platz für eine humorvolle Bemerkung am Rande und eine Rahmenhandlung um den Kommissar. Dieser kommt nach einem bewährten Muster daher: Kommissar im Ruhestand, schwierige Familienverhältnisse zu seinen Kindern, kann sich noch nicht so ganz mit seinem Ruhestand abfinden – aber das ist es auch an Gemeinsamkeiten mit den einsamen Wölfen aus bekannten, beliebten skandinavischen Krimis. Peuckmanns Völkel ist ein Optimist, er rafft sich immer wieder auf, hat Spaß am Genuss und einen offenen Blick für seine Umwelt.

Der Krimi als solcher ist handwerklich sorgfältig gemacht. Dankenswerterweise spart der Autor sich epische Charakterstudien, die handelnden Personen sind dennoch gut vorstellbar und bleiben dem Leser nicht fremd. So ist der Krimi auch für nicht so fußballaffine Leser gut lesbar und spannend. Im Erzählfluss bleibt Peuckmann nahe an seinem Kommissar, so dass sich der Leser immer auf gleichem Stand wie der Kommissar befindet und wohl auch eher geneigt ist, sich auch mit dem brisanten Hintergrundthema auseinanderzusetzen. In Summe ist Nach Abpfiff Mord eine solide, aufrichtige Erzählung, die mit Zeitkritik nicht hinter dem Berg hält, aber gut zeigt, dass die ehrlichen Fans sich die Liebe zum Fußball auch nicht so schnell nehmen lassen.

Heinrich Peuckmann war lange Jahre als Lehrer am städtischen Gymnaisum in Bergkamen tätig. Als Schriftsteller hat er Gedichte, Erzählungen, Romane, Essays, Reportagen, Theaterstücke, Hörspiele, Kinderbücher und Krimis veröffentlicht. Unter anderem ist er auch Mitglied des Pen-Zentrums-Deutschland und in der Krimiautorenvereinigung „Das Syndikat“. Mehr über den Autor erfahren kann man auf seiner Internetseite heinrich-peuckmann.de

Heinrich Peuckmann: „Nach Abpfiff Mord“. Lychatz Verlag, Leipzig. 241 Seiten, €9,95




Der Kinder- und Drehbuchautor Justus Pfaue wurde 70 – ein arg verspäteter Glückwunsch

Ich bin ja hier so einer, der sich gern mal bei Todestagen wirklich wichtiger Menschen in dieser Republik zu Wort meldet, der aber noch viel lieber aufzeigt, wenn solche Menschen Jahrestage haben, Geburtstage zum Beispiel. Da ist mir im vergangenen Jahr doch einer durchgegangen. 2012 wurde Justus Pfaue 70 Jahre alt.

Wie? Etwa vergessen? Das ist der kluge Mensch, aus dessen Feder so vieles stammt: „Timm Thaler“, „Patrik Pacard – Entscheidung im Fjord“, „Oliver Maass – Das Spiel mit der Zaubergeige“, „Bas-Boris Bode – Der Junge, den es zweimal gibt“, „Teufels Großmutter oder der Himmel auf Erden“, „Anna“ und noch vieles andere. Justus Pfaue hat viele Kinderbücher, sehr viele Drehbücher und aus diesem Fachbereich seiner rastlosen Arbeit das eine oder andere auch für sehr, sehr bekannte Filme geschrieben, er ist einer der bedeutendsten seiner Zunft in Europa, lebt wahlweise in München und Positano (Campagna, Italien), ein Ort, von dem John Steinbeck mal schrieb, dass er der einzig senkrechte auf der Welt sei. Und – Justus Pfaue kommt aus Unna.

Vor Jahrzehnten hatte ich mal das Glück und das Vergnügen, mit dem Mann, in dessen Geschichten bis heute gern die besten deutschen Schauspieler auftreten, zu telefonieren, obwohl der eine grundständige Abneigung gegen alles hegt, was mit Journalismus zu tun hat. Beinahe eine halbe Stunde dauerte das Gespräch, was gemessen daran, dass er ansonsten eher zweisilbig bis einsilbig daher kommt, geradezu inflationär anmutet. Ich gestehe, ich habe jede Sekunde genossen, weil ich um seine verschlossen-freundliche Art wusste.

Daher bewahre ich an dieser Stelle auch mein Herrschaftswissen über Justus Pfaues Geburtsnamen, den anscheinend nicht einmal das allwissende Wikipedia kennt. Nur ein paar Handverlesene in Unna wissen von ihm … und das ist auch gut so.

Er ist Jurist, forensischer Psychologe und gestochen scharf Beobachtender des menschlichen Alltags, woraus er sich bereits in Studienzeiten Material für seine späteren Produkte holte und für die „ZEIT“ und den Hörfunk Berichte oder glossierende Geschichten schrieb.

Brigitte Horney, Peter Pasetti, Gerd Baltus, Loni von Friedl, Eberhard Feik, Elfriede Kuzmany, in neuerer Zeit Jürgen Vogel – alles Namen, die in den Rängen der Großen deutscher Schauspielerei zu siedeln sind. Sie alle rissen sich darum, in einer Serie oder einem Fernsehfilm mitzuspielen, dessen Grundidee von Justus Pfaue entwickelt worden war.

Bevor er so begehrt und offensichtlich auch von Fachleuten zu Recht bewundert wurde, zog es ihn durch viele Bereiche Unnas und immer mal wieder mit seinen Freunden ins Café Jokisch (ungefähr da, wo heute ein überflüssiger Balkon die Unnaer Marktatmosphäre stört). Da half die „Kleine Jokisch“ gern mal dem Vater und bediente die Kundschaft. Der junge Justus und seine Freunde hatten es besonders gern, wenn gerade sie ihnen den Kaffee servierte, weil die „Kleine Jokisch“ ein sehr apartes Wesen war (und sie ist das auch heute noch).

Dann aber zog es ihn in Richtung des deutschen Südens und er wählte München zu seiner Hauptresidenz. Zu den Unnaer Freunden hat er nur vereinzelte Kontakt, und da er auf seine Privatsphäre damals wie heute empfindlich achtete, behalte ich auch in dieser Hinsicht mein Wissen für mich.

Nun kann ich ja auch nur noch nachträglich zum 80. gratulieren, worauf der Landsmann vom Hellweg, der richtig gebürtig eigentlich aus Ballenstedt (Sachsen-Anhalt) stammt, wohl aber keine nennenswerten Reaktionen zeigen wird. Ich tu’s trotzdem.




Auschwitz auf der Opernbühne: „Die Passagierin“ als DVD-Edition

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Dies ist eine nachdrückliche Empfehlung: Die DVD der Bregenzer Aufführung von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ überzeugt durch präzise Inszenierung, durchdachtes Bühnenbild, spannungsvollen Handlungsablauf, die Figurenzeichnung und -verkörperung, die Rezitative sowie den Einzel- und Chorgesang und durch die orchestrale Musik.

Nie hätte ich vorher gedacht, dass es möglich wäre, noch dazu überzeugend möglich wäre, ein derartiges Thema ins Zentrum einer Oper zu stellen. Zwar, dass man sich auch an diesem Thema mal vergreifen können würde, habe ich schon vor 30 Jahren geargwöhnt, als ich mal gesprächsweise prognostizierte, dass der Tag nicht fern sei, dass man auch aus Auschwitz noch ein Musical machen werde.

Was ich damals noch nicht wusste, was fast jeder nicht wissen konnte, war dies, dass eine Oper zu diesem Thema schon seit dem Jahre 1968 existierte. Eine Oper übrigens, die auch ihr Komponist, ein russischer Komponist mit polnisch-jüdischen Wurzeln, den ich vor drei Jahren noch nicht einmal namentlich kannte, zeitlebens nie in einer Aufführung hören konnte, nämlich weil sie nie aufgeführt wurde, in der UdSSR nicht aufgeführt werden durfte.

„Als er in den letzten Jahren seines Lebens gefragt wurde, welches Werk er für sein wichtigstes halte, antwortete Weinberg ohne Zögern: D i e P a s s a g i e r i n. Noch zwei Tage vor seinem Tod 1996 klagte er gegenüber Alexander Medwedjew, dem Librettisten des Werkes und bedeutenden Musikwissenschaftler, dass er das Werk nie gehört habe. Um ihn zu trösten, versprach Medwedjew, ,doppelt‘ genau zu hören, falls die Uraufführung jemals stattfinden würde: einmal für den Komponisten und einmal für sich selbst. Medwedjew konnte sein Versprechen am 25. Dezember 2006 bei der konzertanten Aufführung des Werkes im Swetlanow-Saal des Moskauer Hauses der Komponisten einlösen.“ (Zitat aus David Fanning: Mieczysław Weinberg / Auf der Suche nach Freiheit“ / aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Wolke Verlag, Hofheim 2010, S. 131)

Im Sommer 2010 hatte ich zwar in einem sehr positiven Bericht der Sendung „Kulturzeit“ in 3sat mitbekommen, dass Weinbergs Oper im Rahmen der Bregenzer Festspiele aufgeführt worden sei, ohne dass ich diesen Hinweis damals mehr als zur Kenntnis nahm. Erst in diesem Jahr wurde ich wieder auf Weinberg aufmerksam, zunächst durch die ganz hervorragenden, brandaktuellen Aufnahmen seiner sämtlichen Violinwerke auf 3 CDs mit Linus Roth, Violine, und José Gallardo, Klavier, dann durch 4 (inzwischen 6) CDs mit den von dem Quatuor Danel dargebotenen Streichquartetten Weinbergs, und schließlich, nachdem ich endlich gemerkt hatte, welch großartigen Komponisten ich bislang noch nicht gekannt hatte, die Opern-DVD „The Passenger“ (op. 97), von der hier vor allem die Rede ist.

Fürs Fach Deutsch war in der gymnasialen Oberstufe in NRW vor nicht allzulanger Zeit noch Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ als Kurs-Lektüre verbindlich vorgeschrieben. Dieser Roman kam (trotz aller kritischen Vorbehalte, die man haben könnte; vgl. etwa die Rezension von Jeremy Adler) bei den Schülern in der Regel gut bis sehr gut an. Dies habe ich in meiner allerletzten aktiven Zeit als Lehrer noch mitbekommen. Heute würde ich ganz entschieden diesen Roman mit der zunächst ganz ähnlich in deutscher Nach-Auschwitz-Zeit ansetzenden Oper konfrontieren: als Ergänzung und Kontrast für eine mit ziemlicher Sicherheit noch ergiebigere Besprechung.

Wer Opern immer noch vorurteilsvoll grundsätzlich meidet, könnte sich zumindest die der Oper zugrundeliegende Romanvorlage der polnischen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz aus dem Jahre 1962 etwas genauer ansehen. Dieser Roman mit dem gleichen Titel „Die Passagierin“ erschien auf deutsch erstmals 1969 in der Übersetzung von Peter Ball und ist inzwischen wieder neu aufgelegt worden.

Die Opern-DVD überrascht übrigens auch durch eine außergewöhnlich gute Kameraführung und durch exzellente, sehr aufschlussreiche Extras, so mit einem Documentary unter dem Titel „In der Fremde“. (Je nach dem, wo man diese DVD der Firma NEOS erwirbt, kostet sie zwischen 30 und 40 Euro.)




Ein Kaufhaus erfüllt nicht alle Wünsche – der neue Roman von Judith Kuckart

Silvester im Bungalow. Jazz-Produzent Karatsch lädt ein. Seine Frau Vera hat Geburtstag. Wie in jedem Jahr werden Mettbrötchen geschmiert und der Videorecorder wird programmiert. Wie in jedem Jahr werden sich die immer gleichen Gäste einfinden, um den immer gleichen Film anzuschauen.

Einen Film, in dem Hausherrin Vera als junges Mädchen gemeinsam mit Jugendfreund Friedrich die Hauptrolle spielte. Auch Friedrich wird wieder unter den Gästen sein. Friedrich, der den schönen Nachnamen Wünsche trägt, hat gemeinsam mit seiner exzentrischen Schwester Meret das gleichnamige Kaufhaus geerbt. Er will im neuen Jahr alles daransetzen, dass das Kaufhaus Wünsche seinem Namen wieder gerecht wird. Vera indes hat andere Wünsche. Wünsche, die sie sich nicht einfach in der Damenabteilung des Kaufhauses erfüllen kann. Es ist ihr Leben, das ihr nicht mehr passt, das ihr zu eng geworden ist.

Unter falschem Namen nach London

Einer Eingebung folgend geht sie an diesem Silvester ins örtliche Hallenbad, sie hat die vage Hoffnung, sich dort freischwimmen zu können. Sie hilft dem Zufall nach und „findet“ den Ausweis einer fremden Frau. Kurz entschlossen nimmt sie deren Identität an und kehrt nicht nach Hause zurück. In das Zuhause mit den Mettbrötchen, dem Film und dem Ehemann, der früher ihr Pflegevater war.

Wünsche, Judith Kuckart

Stattdessen nimmt sie den nächsten Flug nach London. Seit sie dort einmal mit Meret Wünsche war, ist London ihr Sehnsuchtsort. Doch so wie die Freundschaft mit Meret eher eine gelebte Rivalität war, ist auch London und der Versuch eines ganz anderen Lebens nur eine Illusion. Zunächst fällt sie in frühere schlechte Angewohnheiten zurück, wird zur Kurzzeit-Kleptomanin und betätigt sich schließlich als Hilfskrankenschwester. Zumindest die Dementen, die sie dort gepflegt hat, „werden sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen“. Vera erhält selten Lob, auch dieses ist eher fragwürdig.

Aus dem bisherigen Leben aussteigen

Desillusioniert erkennt Vera schließlich ihre Lebenslüge: „Richtig Schauspielerin zu sein, hätte bedeutet, mich anstrengen zu müssen, eine ganz andere zu sein.“ Sie kehrt resigniert nach Hause zurück. Sie kann keine andere sein, sie „kann nur als die leben, die alle kennen“. Vielleicht war sie auch einfach nur zu lange zu vorsichtig mit ihren Wünschen.

Die Geschichte von Vera steht im Mittelpunkt des Romans „Wünsche“. Doch auch die Daheimgebliebenen suchen einen Neuanfang nach etlichen, vorher auf unterschiedlichste Art gescheiterten Versuchen. Friedrich Wünsche will aus seinem zwar erfolgreichen, aber ihn langweilenden Manager-Leben aussteigen. Er will das Kaufhaus wieder den Wünschen seiner Käufer und den Traditionen der Familie Wünsche zuführen. Sein bemühtes Credo: „Neue Zeiten brechen an, indem wir die Zeit zurückdrehen.“ Meret Wünsche ist die auffälligste Figur im Roman, Agent Provocateur unter den mutlosen und angepassten Bürgern der Stadt. In ihrem bisherigen Leben hat sie zwischen Dekadenz und Verwahrlosung geschwankt, noch immer weiß sie nicht, wo sie hin will. Allenfalls hat sie eine leise Ahnung, wie sie das ihr gegebene Talent nutzen könnte.

Zufrieden mit den Mettbrötchen

Veras Ehemann und Ex-Pflegevater Karatsch hingegen ist eigentlich ganz zufrieden mit den Mettbrötchen und dem Leben im Bungalow. Große Sorgen macht er sich nicht um seine verschwundene Ehefrau. Er ist sich sicher, dass sie noch lebt, aber er versteht sie nicht. Zufällig findet er ihre Spur und macht sich samt Sohn Jo und Friedrich auf nach London, just in dem Moment, als Vera schon fast wieder zuhause ist. Auf dem Rückweg erleidet er einen Schlaganfall. Anstatt wie geplant in Dünkirchen Muscheln zu kaufen, lernt der zu spät gekommene Suchtrupp die dortige Notaufnahme kennen. So ist ironischerweise derjenige, der am wenigsten Veränderung wünschte, am Schluss der, der die größte Veränderung hinnehmen muss.

Die Autorin Judith Kuckart ist in Schwelm geboren. Auch wenn der Schauplatz ihres neuen Romans nicht namentlich genannt wird, einige Hinweise deuten daraufhin, dass man ihn wie den Geburtsort der Autorin am Rande des Ruhrgebiets ansiedeln darf. Auf jeden Fall spielt die Enge einer Kleinstadt, in der jeder jeden schon seit der Kindheit kennt, eine entscheidende Rolle im Buch. Es geht zwar um die ganz großen Themen: die Sinnkrise auf halber Strecke des Lebens, den Unterschied zwischen Wunsch und Sehnsucht und die Frage nach Heimat. Doch die Protagonisten sind zu gefangen in der erlernten Provinzialität. Ihnen gelingt kein großer Befreiungsschlag, es sind eher halbherzige Versuche, der vorgezeichneten Tristesse zu entkommen.

All die verpassten Chancen

„Wünsche“ spiegelt das Leben als Summe der nicht ergriffenen Chancen, für die es jetzt zu spät ist. Das Kaufhaus Wünsche ist das auffälligste Sinnbild im Roman. Das Leben gleicht in der Regel keinem Warenhaus, so schnell findet man keinen Bon, der zum Umtausch berechtigt.

Zum Ende hin finden sich alle Figuren in der Provinz wieder, um einige Illusionen ärmer. Es bleibt offen, wie sehr die Geschehnisse in diesem Jahr die Protagonisten verändert haben und ob dies überhaupt der Fall ist. Nur der Weg derjenigen, die den größten Ausbruchsversuch gewagt hat, ist vorgezeichnet. Vera wird ihren Mann pflegen müssen. Das hat sie ja in London bereits geübt. So fesselt genau das, was sie in diesem Jahr versucht hat, sie noch enger an ihr altes Leben.

Judith Kuckart lebt heute in Zürich und Berlin. Von 1986 bis 1998 leitete sie das von ihr gegründete Tanztheater Skoronel, konzentriert sich aber heute erfolgreich auf ihre Arbeit als Regisseurin und Autorin. Ihre Sprache ist melodisch und rhythmisch, am Beginn des Romans wird der Leser sehr schnell in einen eigenartigen Sog gezogen, der sich leider irgendwann einfach verflüchtigt. Viel zu schnell kommt ein Moment, in dem die Geduld überstrapaziert wird. Es sind der Zufälle zu viele, die schicksalhaften Begegnungen im Roman sind zu konstruiert, als dass sie noch glaubwürdig erscheinen mögen. Auch die Tragik in den Nebenschauplätzen wird zuviel, zumal der Eindruck entsteht, sie würden nur als Stimmungswerte benutzt.

Metaphern wie aus dem Sonderangebot

Zu Beginn gefallen die Bilder, die Judith Kuckart erzeugt, aber schnell ist man ihrer überdrüssig. Man hat fast den Eindruck, Metaphern wie das flüsternde Universum oder die hörbar glitzernden Augen habe es im Sonderangebot gegeben. Dazu kommt, dass manche Sätze einfach wie die Ausformulierung bekannter Sinnsprüche anmuten. Ganz großen Wert legt Vera auf ihr Credo: „Wenn man glücklich ist, weiß man oft nicht, dass man glücklich ist. Aber hinterher weiß man es. Wenn man traurig ist, weiß man immer genau, wie traurig man ist.“ Richtiggehend stolz ist sie auf diese Erkenntnis. Dumm nur, dass dies schon lange vor ihr Colette etwas prägnanter formulierte: „Was für ein herrliches Leben hatte ich. Ich wünschte nur, ich hätte es früher bemerkt.“

Insofern gleicht die Erzählung durchaus einem Rundgang durch das Kaufhaus Wünsche. Nach dem Rundgang ist die Rechnung zu zahlen, dem Glücksrausch beim Kauf folgt die Ernüchterung. Am Anfang hat man noch eine gewisse Sympathie für Vera, doch am Ende findet man sie und ihre Manierismen einfach nur unsympathisch und wird ihrer überdrüssig. Als Leser wird man sich bis zum Schluß auch nicht klar darüber, ob man die handelnden Personen überhaupt mag. Zumindest in dem Punkt hat man sich dann ganz gut in den Roman eingefühlt, denn auch in der Erzählung wissen die miteinander auf Gedeih und Verderb verwobenen Protagonisten nicht recht, ob sie einander mögen. Es sind schon oft eher Verwünschungen als Glückwünsche, die sie miteinander verbinden – entgegen den hehren Absichten des Herrn Wünsche. Vielleicht sollten sie alle auf Epikur hören: „Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinem Reichtum hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen.“

Judith Kuckart: „Wünsche“. Roman. DuMont Buchverlag. 301 Seiten, €19,99




Ein fremdes Organ im Leib: David Wagners Krankheitsgeschichte „Leben“

Es beginnt damit, dass der Ich-Erzähler Blut erbricht.

Alsdann sehen wir diesen Menschen zunächst einmal als reine Physis, als Bündelung biochemischer Vorgänge, zurückgeworfen auf grundlegende Körperfunktionen, aufs kleine bisschen Leben, das da noch pulsiert.

Schon beim Zwölfjährigen hatte man damals eine Autoimmunkrankheit festgestellt. Jetzt ist nach vielen Jahren dringend eine Leber-Transplantation nötig. Der Erzähler hängt nun an dem und jenem Tropf, muss viele Untersuchungen über sich ergehen lassen. Beim Warten auf eine Spenderleber (wird das Organ überhaupt rechtzeitig eintreffen?) ist da zum einen eine unendliche, sich über alles senkende Müdigkeit. Dennoch – und trotz des medikamentösen Bewusstseins-Schleiers – regen sich auch noch Lebensgeister.

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In dieser Lage drängt alles zur Bilanz. Was liegt in der Waagschale? Einerseits eine seltsame Todessehnsucht. Wozu sich noch wehren oder gar aufbäumen? Andererseits ist die Freude an den Dingen des Lebens nicht erloschen. Es gibt eine Tochter, für die der Vater weiterhin da sein will. Doch selbst dieser innige Wunsch ist nicht ungebrochen.

David Wagner (Jahrgang 1971) hat sein Buch in 277 Kürzest-Abschnitte aufgeteilt, was ungefähr der Seitenzahl entspricht. Soll man argwöhnen, dass hier nur Lesehäppchen verabreicht werden? Unsinn. Die Einteilung passt zum notgedrungen flüchtigen Nachsinnen des Erzählers, das immer wieder erschlafft, wegdriftet und mühsam neu einsetzen muss. Eine solche Geschichte ist nicht mit langem Atem und weit ausholender epischer Geste erzählbar.

Das Buch spielt weit überwiegend in einer Berliner Klinik, allfällige Krankengeschichten der wechselnden Bettnachbarn und sonstige Krankenhaus-„Folklore“ (Klagelitaneien über Ärzte, übers Essen usw.) inbegriffen. Zwar befindet sich der Erzähler neben anderen Patienten, doch lebt oder vegetiert hier letztlich jeder in seiner eigenen Welt vor sich hin. In dieser Beschränkung entsteht eine eigentümliche Wahrnehmung; unerreichbar für Aufregungen des Tages, umso empfänglicher für zarten Anschein, Hauch oder Duft.

Schier endlos dehnt sich das Warten auf die Organspende. Eine dreiviertel Seite wird ausschließlich mit „Ich warte, ich warte, ich warte…“ gefüllt. Der Patient sammelt Wartezeit, noch und noch. Und er sammelt in seiner – gelegentlich galgenhumorig getönten – Vorstellung alle möglichen, auch bizarre Todesarten, wie sie täglich in den bunten Spalten der Zeitungen stehen.

In all diesen leeren Stunden schweifen Gedanken suchend umher, segeln Erinnerungen hinaus. Beispielsweise nach Mexiko, wohin der Kranke einst gereist ist. Oder nach Paris, wo er eine Zeit gelebt hat. Szenen aus verflossenen Frauengeschichten ziehen vorüber. Andrea, Rebecca, Katja, Hanja und wie sie alle geheißen haben. Was war wirklich bedeutsam?

Als die neue Leber schließlich zur Verfügung steht und der Patient sogleich viele Stunden lang operiert werden muss, finden sich an der Schwelle in der Mitte des Bandes einige weiße und graue Seiten ohne Text. Ein gestaltloses Rauschen, eine unsagbare Zeit.

David Wagner hat die Erfahrungen selbst durchlitten, die er hier beschreibt. Sonst könnte er wohl nicht so davon berichten. So umstandslos und schmucklos. Ohne Pathos, Selbstmitleid und jegliche Übertreibung. Ein Roman ist das nicht, auch keine Dokumentation. Aber was ist es dann? Ein Überlebensbericht? Eine Überlebens-Phantasie?

Versehen mit dem neuen Organ eines fremden, gestorbenen Menschen, fragt sich das aus dem narkotischen Dämmerzustand erwachte Ich bald, ob es nun womöglich eine Chimäre sei. Schafft sich die neue Leber nicht auch einen teilweise neuen Geist im ungewohnten Körper? Leib-seelische Grundfragen, über schon Thomas von Aquin umgetrieben haben…

Auf einmal dies: „In einer der Nächte wache ich auf und bin auf einmal glücklich (…) Plötzlich weiß ich wieder: Es gibt noch so viel da draußen. Es gibt das Kind, das mich noch ein paar Jahre braucht, es gibt so viel zu sehen, zu tun, zu lesen, es gibt so viel zu leben. Liegt nicht alles da?“

Doch so einfach ist das nicht. Das Weiterleben ist keine leichte Aufgabe. Die Operation mag glimpflich und mit günstiger Prognose verlaufen sein. Doch hernach muss sich der ganze Mensch neu denken, sich gleichsam neu zusammensetzen. Leben ist ungleich mehr als eine Organfrage.

David Wagner: „Leben“. Rowohlt. 288 Seiten. 19,95 Euro.




„Westfälischer Droste-Sommer 2013“ – und der Eintritt ist durchgehend frei

„Süße Ruh’, süßer Taumel im Gras…“ Unter diesem Titel kann man ab Samstag, 15. Juni, an drei verschiedenen Orten für jeweils vier bis fünf Wochen den „Westfälischen Droste-Sommer 2013“ erleben. Natürlich ist das Motto ein Zitat aus dem lyrischen Werk der berühmten Dichterin aus dem Münsterland.

Annette von Droste-Hülshoff auf der Briefmarke

Annette von Droste-Hülshoff auf der Briefmarke

Die Annette von Droste-Gesellschaft hat zusammen mit der Literaturkommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) einen mobilen, multi-medialen Museums-Pavillon erstellen lassen, in dem man nicht nur Literatur sehen und hören kann, sondern auch erleben soll.

Es geht los am kommenden Samstag um 16 Uhr mit dem Literaturfest auf der Burg Hülshoff in Havixbeck – dort, wo Annette geboren wurde. Als besonderer Gast wird die bekannte Schauspielerin Martina Gedeck eine Auswahl von Droste-Texten rezitieren. Außerdem kann man zur Eröffnung in Havixbeck und an den beiden anderen Orten moderne Droste-Vertonungen des Jazz-Musikers Jan Klare hören, und die drei Schriftsteller Frank Klötgen, Fabian Navarro und Rene Sydow tragen moderne Lyrik mit Droste-Bezug vor. Auf Hülshoff bleibt der Pavillon bis zum 14. Juli.

Die zweite Etappe des Sommerfestes ist ab 20. Juli die Abtei Marienmünster im Weserbergland (bis 25. August), die dritte Etappe kann man ab 31. August bis zum 29. September im Haus Rüschhaus in Münster-Nienberge erleben, wo Annette lange gelebt hat. Die Eröffnungsveranstaltung beginnt an den genannten Samstagen jeweils um 16 Uhr. Der Eintritt zu den Veranstaltungen und zu der Ausstellung ist jeweils frei.

Infos: www.droste-gesellschaft.de




Ödnis im Zeichen der Löschblattwiege: Walter E. Richartz’ „Büroroman“ – wiedergelesen

„Zu jedem Schreibtisch gehört die Schreibgarnitur aus Bakelit. Sie besteht aus Schale, Notizzettelkästchen und Löschblattwiege.“

Das klingt ja allerliebst nostalgisch. Tatsächlich entstammt die knappe Schilderung dem „Büroroman“ von Walter E. Richartz (1927-1980), der 1976 herauskam und heute noch als Taschenbuch greifbar ist.

Welch ein zeitlicher Abstand! Damals wurden gerade die ersten Versuche mit EDV (Elektonische Datenverarbeitung) unternommen. Sie scheinen zunächst nur nebulös am Horizont dieses Romans auf. Doch gegen Schluss kosten sie die ersten Arbeitsplätze. Von Fax, Handys oder gar Internet ganz zu schweigen. Gerade deshalb ist es interessant, dieses Buch wieder einmal hervorzuholen. Welche Signaturen sind seither für immer verschwunden und was zählt womöglich zum Langzeitbestand des bundesdeutschen Bürolebens?

Richartz

Wir lernen vor allem Herrn Kuhlwein, Frau Klatt und Fräulein Mauler (so sagten manche damals noch) kennen, die sich in Frankfurt am Main ein Büro im zehnten Stockwerk teilen. Wir lernen sie genauer kennen, als uns lieb ist. In ihrer Kostenkontroll-Abteilung vollzieht sich höllisch das Immergleiche, ein monotones, erbärmlich reduziertes, quasi kästchenförmiges Leben, ein oft biestiges Schweigen zum Terror der kleinen Geräusche, allenfalls lau gewürzt von kleinen gegenseitigen Bosheiten.

Absoluter Stillstand um 15.10 Uhr

Durch einen mikroskopischen Blick auf die (kaum) verstreichende Zeit – um 15.10 Uhr ist absoluter Stillstand erreicht, der Feierabend scheint ferner denn je – lässt uns Richartz am ungemein zähflüssigen Alltag des Büros teilnehmen. Hin und wieder muss man grinsen, doch wohl ziemlich müde und gequält. Allein zu lesen, wie überaus penibel Herr Kuhlwein eine Orange schält, um sie hernach umständlich zu verzehren, könnte einen schier rasend machen. Wer jemals regelmäßig in einem Büro gearbeitet hat, kennt solche marternden Szenen wahrscheinlich zur Genüge.

Was in der Produktionsabteilungen des Unternehmens namens DRAMAG (soll der Name etwa auf Dramen hindeuten?) überhaupt hergestellt wird, wissen die Büro-Angestellten gar nicht so genau. Sie schmoren, teilweise seit Jahrzehnten, im eigenen Saft.

Willkommener Unglücksfall

Immerhin wird die Ödnis manchmal unterbrochen: Der freilich immergleiche Kantinengang sorgt für scheinbare Bewegung, Hitzewellen oder Regenfluten liefern kurzzeitig Gesprächsstoff, Rituale vor und nach dem Urlaub bringen sogar für Minuten einen Schuss Übermut ins ewiggleiche Getriebe.

Vor solchem Hintergrund wird bereits der Besuch einer Ex-Kollegin, die offenbar glücklich geheiratet hat (soll man’s ihr denn glauben und gönnen?), zum mittelgroßen Ereignis. Und als bei Sturm beinahe ein Fensterputzer von der Hochhausfassade abstürzt, erfasst die ganze Firma endlich ein Hauch von Dramatik, die gleichsam der seelischen Hygiene zugute kommt. Denn nach der kleinen Katastrophe herrscht für kurze Zeit eine ungeahnte Aufgeräumtheit.

In der Äbbelwoi-Hölle

Durch die erwähnte Frau Klatt kommt punktuell jene hessische Mundart ins Spiel, deren Äbbelwoi-Abgründe einen schon seit den Zeiten von „Babba Hesselbach“ oder dem „Blauen Bock“ schaudern lassen. Damals, auf einem ersten Gipfel der RAF-Terrorfahndungen, hörte sich das dann schon mal so an: „Dene geheert der Kopp ab, geheert dene.“

Kurzum: Bis hierhin haben wir einen Roman gelesen, der seine armseligen Gestalten vor allem mit parodistischen Mitteln kenntlich macht. Weder die dynamischen Chefs noch der Gewerkschafter auf der Betriebsversammlung entgehen dem satirisch überzeichnenden Zugriff.

Doch dann vollzieht sich mittendrin ein unerfindlicher Umschwung. Auf einmal wird besonders den drei Figuren im zehnten Stock Verständnis entgegen gebracht. Plötzlich werden sie nicht nur von außen, sondern von innen her betrachtet. Ihre Beweggründe werden nunmehr ernst genommen. Ihre kleinen Träume, ihre legitimen Sehnsüchte, ihre Verletzungen, ihre bestürzende Einsamkeit und ihre Tragik finden Beachtung.

Hatte es vorher den Anschein, als mache sich der Autor durchweg lustig, so werden nun die Lebensgeschichten sorgsam abgewogen und gewürdigt. Nun gut. Menschlicher ist das allemal. Aber wie verträgt es sich mit dem Duktus der ersten Hälfte des Romans? Gar nicht. Das Ganze wirkt leider ziemlich zwittrig.

Bis zur letzten Büroklammer

Den Schluss, der wiederum im nüchternen Gewande daherkommt, bildet eine „Inventur“, in deren Verlauf alle Gegenstände im Büro verzeichnet werden – bis hin zur letzten Büroklammer. Mit all den Dingen und ihren Tücken sind auch so manche Worte verschwunden. Die Akten von damals sind eh längst geschreddert worden. Die letzten Gedankenblitze erhellen auf schwer übertreffliche Art die Phänomenologie der Neonlampe.

Trotz gewisser Schwächen in der Konstruktion kann Richartz’ Roman als markanter Vorläufer gelten. Bis dahin war das Alltagsleben der Angestellten allenfalls ein Nebenthema der Literatur gewesen. Der wunderbare Kritiker Georg Hensel schrieb damals sehr richtig in der FAZ: „Kühn pflanzt Richartz die Fahne des Erstbesteigers in einem Büro-Hochhaus auf.“

Es war sicherlich kein Zufall, sondern ein Zeichen der Zeitreife, dass in den folgenden Jahren 1977, 1978 und 1979 Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie erschien, die das Dasein der Angestellten vollends zum Stoff erhob und in allen Facetten ausleuchtete. Genazino, der die Romanhandlung übrigens ebenfalls in Frankfurt ansiedelte, zählt heute zu den ganz Großen unserer Literatur. Ob er vielleicht anfangs die eine oder andere Anregung aus dem „Büroroman“ des leider so früh verstorbenen Richartz empfangen hat?

Walter E. Richartz: „Büroroman“. Diogenes Taschenbuch. 274 Seiten. 9,90 Euro.




Heute Außenseiter, morgen Hoffnungsträger: Tuomas Kyrös Roman „Bettler und Hase“

Wenn eine Geschichte von einem rumänischen Roma als Hauptfigur handelt, der sein Land verlässt, um in der Ferne sein Glück zu versuchen, dann scheint der Ablauf schon irgendwie programmiert zu sein. Der Emigrant wird sich schwer tun, womöglich scheitern und am Ende auf der Verliererstraße landen.

Doch Vatanescu ist da doch von ganz anderem Schlag, was natürlich daran liegt, dass sein Erschaffer, der finnische Autor Tuomas Kyrö, hintersinnig, ironisch und zugleich humorvoll zu erzählen weiß.

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Schon das Motiv, das den Roma bewegt, sich außer Landes zu begeben, scheint recht schräg zu sein, will er doch Geld verdienen, um seinem Sohn Stollenschuhe kaufen zu können. Ob es denn da wohl nichts Wichtigeres gibt, als ausgerechnet einen solchen Sportartikel, mag man sich als Leser fragen. Zumal der Preis, den Vatanescu schon zu Beginn des Abenteuers zu bezahlen hat, äußerst hoch ist, begibt er sich doch in die Fänge der russischen Mafia. Nur die verspricht ihm, in ein gelobtes Land des Westens zu gelangen.

Der Roma findet sich schließlich in der finnischen Hauptstadt Helsinki wieder und zwar in einer Behausung, die ihm ein Drogen- und Menschenhändler zuweist. Doch Vatanescu wäre nicht Vatanescu, wenn er sich mit seinem Schicksal einfach abfinden würde. Ihm gelingt es auszubüxen. Damit aber noch nicht genug: Jener Igor, der ihn in einem Wohnwagen eingepfercht hatte, soll seines Lebens nicht mehr froh werden, war doch die Flucht eines gewissen Roma aus Rumänien ein Fanal für viele andere, die unter Igors Knute standen, dem Beispiel zu folgen.

Für Vatanescu beginnt eine Zeit des Vagabundierens, in der er Finnland von ganz anderen Seiten kennenlernen soll. Er trifft auf vietnamesische Einwanderer, die ein Restaurant eröffnet haben, auf einen glücklosen Magier und auf einen echten Haudegen, der ihn zum Saunieren einlädt. Doch wie sich Vatanescu auch drehen und wenden mag, seine neue Heimat will ihm doch fremd bleiben – bis er irgendwann zu spüren meint, was den gemeinen Finnen wohl am ehesten antreibt, nämlich die eigene Schaffenskraft, die tägliche Arbeit.

Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf gewinnt er erst das Vertrauen eines Vertrauten des Ministerpräsidenten und schließlich das des Politikers selbst, der längst amtsmüde geworden ist. Und urplötzlich ist dem Einwanderer Vatanescu der Durchmarsch gelungen, gilt er doch fortan als „Thronfolger“ in einer politischen Gruppierung, die den schönen Namen trägt „Partei der gewöhnlichen Menschen“. Einen politischen Hoffnungsträger zeichnet vor allem aus, dass er neu ist und Schläue mit sich bringt, von Wissen oder Sachverstand spricht Autor Tuomas Kyrö eher nicht.

Das Buch lebt von kuriosen Szenen. Zu ihnen gehört der Moment, als der Rumäne seinen Begleiter findet. Er rettet einem Hasen, der von mehreren Jungen gejagt wird, das Leben, indem er ihn in seine Jacke springen lässt. Vatanescu weiß zu dem Zeitpunkt schon, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Von brillanter Situationskomik geprägt ist die Passage, als er einem Arbeitsvermittler gegenübersitzt und plötzlich sein Hase, den er versteckt hält, loshoppeln will. Einem Büromenschen können da schon mal mehr als nur die Gesichtszüge entgleiten.

Gerade in der Debatte um Sinti und Roma kann das Buch von Tuomas Kyrö zu neuen Denkansätzen beitragen, werden doch Klischees und gesellschaftliche Normen amüsant und erfrischend hinterfragt.

Tuomas Kyrö: „Bettler und Hase“. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, 320 Seiten, 19,99 Euro.




Es gibt Tage, da will man nur noch weg !

Das Wetter ist beschissen, auf dem Brocken fällt Schnee                        st_chely

und in Dreis Tiefenbach hagelt es Tennisbälle aus Eis.

Willkommen Ende Mai !

Wollemonat. Tonnenmonat.

Diesen herrlichen Monat, als solches  seit der Wetteraufzeichnung

verehrt, kann man wahrlich in die Tonne kloppen.

Schlittenfahrt durch den Mai!

„Et schickt!“

 

Nein wir sind nicht aus Zucker, auch keine Jammerlappen.

Aber wir leben nun einmal nicht in Grönland und unsere Heimat

heißt auch nicht Spitzbergen.

Und so gibt es dieser Tage reichlich Zwiesprache mit dem Wettergott,

mit Claudia Kleinert, mit Herrn Thiersch und Inge Niedeck.

Sven Plöger überschlägt sich in seinem Wetterstudio,

haut sich auf seinen kahlen Schädel, dem der Morgenfrost das letzte Haar weggefressen hat.

 

Wie nicht anders zu erwarten ist, sind die Leute mies drauf,

was im Siegerland keine Kunst, sondern Alltag ist.

Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die bestätigen eben nicht die Regel.

Man schaut in Gesichter, die an Eisen- und Stahlskulpturen erinnern.

Gemeißeltes Leben mit Schweregarantie.

 

Da kommt es nicht von ungefähr, dass der Autor, der wohl im Siegerland lebt,

aber kein Siegerländer ist, an Frankreich denkt.

Zur linken Seite liegt ein Buch von Robert Louis Stevenson:

„Reise mit dem Esel durch die Cevennen“.

Die Cevennen sind auch ein hartes Pflaster, wird manch einer einwenden.

Das stimmt wohl.

Aber, wenn man sie durchreist hat, landet man am Mittelmeer

und nicht auf dem Westerwald.




Still und stoisch durch den Krieg gehen: „Neue Zeit“ von Hermann Lenz – wiedergelesen

Wie ist das im Zweiten Weltkrieg gewesen, Tag für Tag, bis zum bitteren Ende? Es gibt wahrlich zahllose Bücher über „Ereignisse“ jener Jahre, hin und wieder auch übers Alltägliche. Doch Hermann Lenz’ Roman „Neue Zeit“ ist und bleibt etwas Besonderes.

Erstmals 1975 erschienen, ist das Werk jetzt in einer neuen Ausgabe greifbar. Man kann es wieder und wieder lesen. Als Zeugnis des Nebenher, des Unscheinbaren, das wohl auch damals die meisten Geschehnisse grundiert hat. Als Dokument einer großen Hilflosigkeit angesichts der Zeitläufte. Als Studie darüber, wie man mitten im allergrößten Dreck ein Mindestmaß an Anstand wahren kann. Und dergleichen mehr.

Weder Helden noch Antihelden

Fernab von jeder Versuchung zum Spektakulären oder Heroischen, aber auch nicht mit vollmundiger Antikriegs-Rhetorik, ja überhaupt mit sehr zurückhaltender Wahl der Worte und Stilmittel, erzählt Lenz die Geschichte seines Alter ego Eugen Rapp, eines Studenten der Kunsthistorie, der wie in einer Art Trance durch die Wirren des Krieges geht; zunächst bei militärischen Übungen, dann als Soldat beim vergleichsweise unblutigen Einmarsch in Frankreich, sodann über Jahre hinweg an der Ostfront in Russland und schließlich in amerikanischer Gefangenschaft.

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Die stark autobiographisch geprägte Handlung setzt 1937/38 ein und reicht bis 1945. Zu Beginn trifft der Schwabe Eugen Rapp in München ein, um sich einen neuen Doktorvater für eine Arbeit über Dürer zu suchen, denn die jüdischen Professoren in Heidelberg sind von den Nazis entlassen worden. Rapp hat sich derweil zaghaft mit „Treutlein Hanni“ angefreundet, was sich als zunehmend riskant erweist, denn die junge Frau aus hochkultiviertem Hause, die Hermann Lenz 1946 heiraten wird, ist „Halbjüdin“ (welch eine verquere Begrifflichkeit von allem Anfang an).

Sehnsucht nach gestern

Vor der immer gewaltsamer auftrumpfenden „Neuen Zeit“ und ihren üblen Protagonisten will sich Rapp in andere Epochen fortdenken. Seine innige Sehnsucht richtet sich rückwarts, beispielsweise in die Ära der friedlich verschlafenen deutschen Kleinstaaterei, ins sonst so oft geschmähte oder belächelte Biedermeier zwischen Spitzweg und Mörike. Zustimmend zitiert er einen Professor: „Da nehme ich sogar das Muffige in Kauf…Dagegen das mächtige Deutschland Bismarcks: Sie sehen, was daraus geworden ist.“

Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger Fluchtpunkt ist das Wien früherer Jahrzehnte, die Welt von Schnitzler und Hofmannsthal. Es entwickelt sich also eine tiefe Abneigung gegen alles Gegenwärtige, ein heimwehkranker Hang zum Früheren.

Doch einfach aus dem Jetzt wegstehlen, so die bestürzende Erkenntnis, kann man sich nicht. Und so erlebt dieser Eugen Rapp Jahr um Jahr als überaus befremdliches Vor-sich-Gehen. Warum, so fragt er sich nahezu naiv, wird überhaupt Krieg geführt? „Du aber verstehst nicht, warum ein Russe dein Feind sein soll, wenn er dir nichts getan hat…“

„Zigaretten rauchen und allein sein“

Rapp gehört nirgendwo richtig dazu, er hält sich – so gut es irgend geht – aus dem Gröbsten heraus, macht aber letzten Endes doch zwangsläufig mit: „…dich abseits fühlen, ist dir angemessen“, hält er an einer Stelle fest. Am liebsten sieht er sich so: „Sitzen. Kritzeln. Zigaretten rauchen und allein sein.“ Andererseits: „Du bist jetzt hier hineingestellt; ausweichen kannst du nicht mehr.“ Ja, einmal heißt es sogar: „Laß alles laufen, wie es will. Nur im Krieg nichts ändern wollen…“ Und dann eine solch jähe Einsicht, die einem das Hirn zerreißen müsste: „Denn wozu machst du hier mit? Damit sie hinten ungestört Menschen zu Seife machen können und den Seifemachern nichts passiert…“

Innerlich distanziert bleiben, dennoch genau hinsehen und getreulich aufzeichnen – das kennzeichnet die stoische, zuweilen auch sture Haltung dieser Figur, die wundersam unversehrt, geradezu schlafwandlerisch durch die Hölle wankt.

Die Schilderung der Vorgesetzten und „Kameraden“ schwankt zwischen individuellen Skizzen und Typenkomödie. Fast allen, so wird es hier geschildert, ist die verlorene Sache frühzeitig klar, doch von oben kommen Durchhalteparolen. Die Hierarchien bleiben bestehen. Wer eh schon oben war, bleibt auch im Krieg oben; oft auch darüber hinaus.

Dieser feine und friedliche Ton

Die wahre Sensation dieses Buches ist der durchweg leise und feine Ton. Schon von daher ist der Roman sozusagen Zeile für Zeile ein fortwährender Einspruch gegen alles Kriegerische. Es ist wie die Erprobung einer Sprache, die wieder für kommende Friedenszeiten taugt. Das immer wieder eingestreute schwäbische Idiom steht bei all dem für regionale Verwurzelung im Herkömmlichen, der freilich im Krieg alles fraglos Beschützende abhanden gekommen ist. Einerseits ist die Mundart ein Reservoir des Friedfertigen, dann wieder klingt sie nur noch begütigend. Wenn es etwa heißt, der Krieg sei „kein Schleckhafen“, so mutet das allzu harmlos an. Doch vielleicht hat man ja damals daheim so empfunden. Wenn Rapp auf Fronturlaub nach Schwaben kommt, fängt er auch die dortige, seltsam unwirkliche Lage der Verhältnisse ein.

Mit moralisch sich erhaben dünkendem Halbwissen von heute darf man freilich nicht an diesen Roman herangehen. Natürlich kann man Rapps nur ansatzweise widerspenstige Denkungsart leichthändig verdammen. Ungleich schwerer wäre es schon, dies aus dem Bewusstsein der Zeit heraus zu tun. Und überhaupt: Wer von uns hätte in vergleichbarer Situation den offenen Widerstand gewagt?

Ein gewisses Unbehagen bleibt

Gewiss, an mancher Stelle beschleicht einen Unbehagen. Hat Lenz hier eine Apologie in eigener Sache verfasst? Hat er für Hanni festhalten wollen, dass er im größten Chaos stets an sie gedacht hat, auch in Phasen allgemeiner Auflösung keinen weiblichen Anfechtungen erlegen ist und dass er ihren Ring durch all die finstere Zeit gerettet hat? Ja, das mögen durchaus Antriebe des Schreibens gewesen sein. Und doch weist der Roman weit darüber hinaus. Abermals gepriesen sei das Gespür von Peter Handke, der Lenz einst nachdrücklich empfohlen und somit über eingeweihte Zirkel hinaus bekannt gemacht hat.

Dieser Neuauflage aus Anlass des 100. Geburtstages des Autors (1913-1998) sind einige erstmals publizierte Briefe von Hermann und Hanne Lenz aus der erzählten Zeit des Romans beigegeben. Es sind Auszüge aus einem umfangreicheren Schriftwechsel, dessen Edition noch bevorsteht. Darauf warten wir jetzt.

Hermann Lenz: „Neue Zeit“. Roman. – Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937-1945. Insel Verlag. 432 Seiten, 22,95 Euro.




Ein Künstler- und Lebensroman: Ralph Dutlis Debüt „Soutines letzte Fahrt“

Was haben Ralph Dutli und Theodor Fontane miteinander gemeinsam?
Sie haben beide mit 58 / 59 Jahren ihren ersten Roman veröffentlicht.

Bei Fontane wissen wir, dass auf seinen umfangreichen Erstling „Vor dem Sturm“ noch viele gute, meist kürzere Romane gefolgt sind, bis hin zu seinem späten, wieder etwas umfangreicheren Meisterwerk „Der Stechlin“; bei Dutli wissen wir vorerst nur, dass ihm sein Erstling wirklich gut gelungen ist und dass wir vielleicht noch auf weitere Roman-Überraschungen von ihm gefasst sein dürfen.

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Ralph Dutlis 272 Seiten umfassender Roman „Soutines letzte Fahrt“ scheint sich vom Thema her vorrangig in die gerade auch aus der deutschen Literaturgeschichte her bekannte Gattung „Künstlerroman“ einzureihen.

Denkt man kurz nach, fallen einem auch durchaus einige deutschsprachige Künstlerromane ein, in denen Maler, überhaupt bildende Künstler, mehr oder weniger zu Hauptfiguren bestimmter Romane auserkoren worden sind: „Franz Sternbalds Wanderungen“ (Ludwig Tieck), „Maler Nolten“ (Eduard Mörike), „Goya oder der arge Weg der Erkenntnis“ (Lion Feuchtwanger), „Der Judas des Leonardo“ (Leo Perutz), „Deutschstunde“ (Siegfried Lenz) usf.; auch Erzählungen wie „El Greco malt den Großinquisitor“ (Stefan Andres) und „Barlach in Güstrow“ (Franz Fühmann) sollten nicht unerwähnt bleiben.

Dennoch: Romane von Rang, in denen weltberühmte Maler porträtiert werden, sind ziemlich selten, und wenn es auch Romane über Rembrandt, van Gogh, Michelangelo, Grünewald u.s.w. durchaus gibt, wird man solche nur ganz selten unter den Hauptwerken der Literaturgeschichte finden. So mag es weise gewesen sein, dass Albrecht Dürer bei Tieck und Leonardo da Vinci bei Perutz nur am Rande oder im Hintergrund auftauchen oder aber auf bekannte, allzubekannte Namhaftigkeit auch außerhalb des Romans (vgl. „Maler Nolten“) gleich ganz verzichtet wird.

Ralph Dutli wählt sich für seinen biographisch fundierten Roman einen Maler aus wie Chaim Soutine, der im öffentlichen Bewusstsein vom Bekanntheitsgrad her bei weitem nicht so verankert ist wie etwa Pablo Picasso oder auch Marc Chagall, die übrigens in Dutlis Roman durchaus nicht unerwähnt bleiben und von denen Marc Chagall sogar gelegentlich als Kontrastfigur zu Chaim Soutine dient. Dass Ralph Dutli nun anders als im Falle Ossip Mandelstams keine Biographie schreibt, sondern gleich einen Roman, scheint mir im Fall von Chaim Soutine durchaus angebracht und vermag vor allem im Ergebnis voll zu überzeugen.

Wir begleiten Chaim Soutine für die Zeit vom 6. August 1943 bis zu seinem Tod am 9. August 1943 auf seiner letzten Fahrt von einem Krankenhaus in Chinon zu einem in Paris, zu dem er langwierig und vorsichtig auf Schleichwegen in einem Krankentransportgefährt, das sich als Leichenwagen tarnt, schließlich gebracht wird. Ob diese Fahrt nun genauso stattgefunden hat oder auch nicht, ist nicht sicher verbürgt (wodurch Raum für behutsam und einfühlsam Fiktives entsteht), wohl aber, dass dieser umständliche Transport von Chinon nach Paris mit dem baldigen Tod des Malers geendet hat, da die erhoffte Operation in Paris keine Lebensrettung mehr bringen konnte.

Im Roman nun begegnen wir, auf der Folie seiner von seiner Lebensgefährtin Marie-Berthe Aurenche begleiteten letzten Fahrt, Kapitel für Kapitel (auf so kunstvoll wie plausibel verschlungene Weise) bestimmten früheren Lebenssituationen des ursprünglich aus einem Schtetl bei Minsk herstammenden Malers. Dabei entsteht ein sehr dichtes Bild; ein lebendiges Porträt dieses Malers und seiner Eigenart und seiner Stellung unter den Menschen und ein Bild von der oft recht verworrenen, nicht nur für diesen jüdischen Maler gefährlichen Zeitsituation.

Das rege Interesse an dieser Lektüre ist bei mir nie erlahmt, aber erst mit dem äußerst feinfühligen, ein indirektes, zeitlich versetztes Zwiegespräch zweier einander auch unausgesprochen Liebender montierenden 14. Kapitel („Mademoiselle Garde und das nichtige Glück“, ein Kapitel, das man indes nicht isoliert, sondern im Zusammenhang des Ganzen lesen sollte) habe ich den Roman zu lieben begonnen.

Es steht zu hoffen, dass der Roman Ralph Dutlis den Blick auf die geretteten Bilder Chaim Soutines neu zu beleben vermag bzw. allererst eröffnet.

Ralph Dutli: „Soutines letzte Fahrt“. Roman, Wallstein Verlag Göttingen 2013, 272 Seiten, 19,90 Euro.




Querdenker in einem komischen Land – Harald Marteinsteins gesammelte Kolumnen

Martenstein.CoverWas bitte ist am „Bauhaus“ schön und warum wohnten die Architekten nicht selbst darin? Worin besteht der Unterschied zwischen Berliner, Hamburger und Münchner Star-Friseuren?

Und weiter: Ist der „Kleine Prinz“ nicht doch nur der kleinste gemeinsame Nenner für Diktatoren und Kirchen-Austrittswillige und kann man romantische Nächte wirklich nur noch im Zoo verbringen? Gemeinsam ist diesen Fragen die Antwort: Deutschland ist ein komisches Land. Zwischen Gerstengrund und Osnabrück wohnt nicht nur das Glück, sondern auch die Real-Satire.

Harald Martenstein, bekannter Journalist, Autor und Kolumnist, nimmt sich unbeirrt dieser Fragen an. 34 Betrachtungen und Geschichten aus den Jahren 1999-2012 hat er ausgewählt, überarbeitet und zu einer erstaunlich zeitlos aktuellen Betrachtung unseres Landes zusammengefasst. Alle Artikel aus seiner Sammlung „Romantische Nächte im Zoo“ waren bereits publiziert, einige davon (allen voran der über die Entzauberung des Suhrkamp Verlags) preisgekrönt.

Seine Themen sind breit gefächert und haben auf den ersten Blick nicht sehr viel miteinander zu tun. Da geht es um Milch und die Kuh als Leistungsträger, da werden Kirchentage genau wie die in den Städten um sich greifende Gentrifizierung seziert, Bildungspolitik als letztes Reservat für Ideologen entlarvt und die echten Freuden oder wirklichen Schrecken des deutschen Kleingärtners aufgedröselt.

Auf den zweiten Blick aber erkennt man die Gemeinsamkeit: Martensteins unverdrossenes Plädoyer für Meinungsfreiheit als grundlegendes Recht und für Toleranz – auch für diejenigen, die man nicht sympathisch findet.

Martenstein trifft den Nerv der Zeit und traut sich dafür auf ein sehr dünnes Drahtseil. Er scheut den Populismus nicht, ohne wirklich populistisch zu sein. In Summe und Buchform gelesen wird klar, warum er auf der einen Seite als einer der populärsten, anregendsten Kolumnisten des Landes gilt, auf der anderen Seite aber auch, warum er gleichzeitig auch einer der polarisierendsten Kolumnisten unserer Zeit ist. Kaum ein Kollege, der sich nicht an ihm abarbeitet. Die Lektüre der Beiträge anderer Blogger und Kolumnisten, die sich mit ihm beschäftigen, ist derzeit mindestens so unterhaltsam wie die der Martenstein-Kolumnen selber.

Mich wundert das nicht. Es hat ja auch etwas Frustrierendes, wenn man seine Kolumnen liest. Viele wirken zunächst wie charmant geplauderte Essays, doch in jeder kommt irgendwann der Punkt, an dem Martenstein zielsicher den Finger in die Wunde legt und ihn oft genug auch noch genüsslich umdreht. Was er nicht tut – er zeigt nicht auch noch mit dem Zeigefinder auf die, die er als Verursacher ausmacht. Da nimmt er sich zurück.

Ansonsten ist er unbestritten ein selbsternannter Besserwisser. Natürlich sind da Bescheidwisser aller Couleur genervt. Vor allem, weil man nach jeder Kolumne – gelegentlich zähneknirschend – zugeben muss, dass er recht hat. Und wenn auch manchmal nur mit dem Denkanstoss, den er gibt.

Lustvoll stellt Harald Martenstein gängige Verhaltensweisen und Meinungen auf den Prüfstand und in Frage. Auch wenn er dazu eine Position einnehmen muss, die eigentlich gar nicht die Seine ist – nur um zu sehen, wohin sie ihn führt. Das ist schon ein sehr spezieller Mut zum Vor- und Querdenken, der so manchem, der sich nicht einmal das Nachdenken traut, bitter aufstößt. Es erfüllt aber seinen Zweck. Der Denkanstoß, die Diskussionsgrundlage ist gegeben.

Martensteins erkennbare Allergie gegen Selbstzufriedenheit, Betroffenheitsgeseiere, sowie gegen ausufernden Kontroll-und Vorschriftswahn führt ihn immer wieder zum ganz normalen Surrealismus des Alltags. Man kann ihm natürlich ankreiden, dass es alles Luxusprobleme sind, die er behandelt, noch dazu aus der Sicht eines Menschen, der im weitestgehend katastrophenlosen Deutschland lebt. Man kann sich aber auch die Frage stellen, ob nicht auch der sich schleichend vollziehende bedenkliche gesellschaftliche Wandel unserer Zeit eine Katastrophe ist.

Die Texte der Sammlung sind nicht chronologisch und zeigen gerade dadurch, wie sehr Martenstein seinem Stil über die Jahre treu geblieben ist. Seine Schreibe hat sich nicht geändert, sie war schon vor zwölf Jahren so gezielt pointiert, manchmal provokant, manchmal zurückgenommen lakonisch. Auffällig ist, dass seine Sprache umso schnörkelloser wird, je mehr er sich aufregt.

So ist eine lesenswerte, gleichermaßen unterhaltsame wie kritische Biographie unseres Landes entstanden. „Ein Land, das sich schleichend radikal gewandelt hat.“ Die Quintessenz der Kolumnen findet sich in meiner Lieblingskolumne über die „Tugendrepublik Deutschland“. Eine Kolumne, in der Martenstein ersichtlich immer wütender gegen diese unsere Gesellschaft wettert. Eine Gesellschaft, die wie keine vor und neben ihr so sehr unter Kontrolle steht und trotzdem keine Diktatur ist. Eins weiß man nach der Lektüre auf jeden Fall: Nämlich, wo in Deutschland man auf gar keinen Fall tot überm Zaun hängen möchte.

Harald Martenstein: „Romantische Nächte im Zoo – Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land“. Aufbau Verlag, Berlin, 285 Seiten, € 18,99.




Bleibende Verheerungen – Carsten Kluths Roman-Debüt „Wenn das Land still ist“

„Auch dieser Tag geht irgendwann zu Ende – doch die Verheerungen werden bleiben.“ An einem heißen Tag im August setzt ein Mann seine Ehe und das Leben seiner Kinder aufs Spiel.

Der Berliner Richter Harald Kronauer leidet unter dem Desinteresse seiner Frau Johanna, deshalb sucht er Ablenkung und Bestätigung bei seiner Geliebten Martina. Zudem will Kronauer unbedingt politische Karriere machen und lässt sich in riskante Machenschaften verwickeln, bei denen es – unter anderem – um Aufsehen erregende Klima-Manipulationen geht.

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Sehr spät begreift Kronauer, der schon mit seinem chaotischen Familien-Alltag und seinem anstrengenden Richteramt überfordert ist, dass er von seinen vermeintlichen politischen Freunden nicht zufällig für seine Rolle auf dem politischen Schlachtfeld ausgesucht wurde: Es ist eine unheilvolle, spannende, überraschende Melange aus Emotion und Intellekt, Politthriller, Familienporträt und Gesellschaftsroman, die Carsten Kluth in seinem zupackenden Roman-Debüt anbietet.

Der 1972 geborene, mit seiner Familie in Berlin lebende Carsten Kluth hat politische Wissenschaften studiert und arbeitet – unter anderem für die Europäische Kommission in Brüssel – als Berater für Politik und Wirtschaft. Mit „Wenn das Land still ist“ ist dem eleganten und vielseitigen Erzähler jetzt ein fintenreiches Spiel über Einfluss und Macht gelungen, die großartige Geschichte eines emotional überforderten Jedermann in unsicheren und unübersichtlichen Zeiten.

Wie immer beginnt der Tag für Harald Kronauer um vier Uhr früh. Es ist ein wolkenloser Tag, der unerträglich heiß zu werden verspricht. Dass der Tag auch unendlich lang und gefährlich werden wird, ahnt der sich noch verschlafen im Bett wälzende, von erotischen Träumen und intellektuellen Verwirrungen gepeinigte Richter da noch nicht. Das wird sich sehr bald ändern. Und so wie die Minuten immer schneller zu verrinnen scheinen, werden auch die Verheerungen immer weiter zunehmen.

Kronauer hetzt von einem Termin zum nächsten, wird im Gericht von einem Kollegen erpresst und wird von seiner konservativen Partei als Nachfolger des soeben zurückgetretenen Staatssekretärs um Umweltministerium gehandelt. Dass hinter dem Rücktritt eine gezielte Intrige steht, ahnt Kronauer nicht.

Es dauert sehr lange, bis der Richter, der wegen eines Urteils zur Ausweisung von Klimaflüchtlingen nicht unumstritten ist, die wahren Ausmaße der politischen Kampagne kapiert und sich darauf besinnt, dass ihm die Familie das Wichtigste im Leben ist. Kronauer schafft es gerade noch rechtzeitig, seine Frau und seine Kinder aus der Schusslinie zu bringen. Doch wer glaubt, damit sei alles wieder gut, könnte sich gründlich irren…

Carsten Kluth: „Wenn das Land still ist“. Roman. Piper Verlag, München. 383 Seiten, 19,99 Euro.




Rauchzeichen, später: Andreas Rossmann erkundet das Ruhrgebiet

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Sein Revier beginnt hinter der Ruhrtalbrücke, von auswärts mit dem Auto kommend. Hier fährt der NRW-Feuilletonkorrespondent in einen wichtigen Sektor seines Berichtsgebiets ein. Kunst und Kultur dieser Region sind Gegenstand seiner Reportagen und Rezensionen, die er seit über 20 Jahren für die FAZ verfasst. Nun hat Andreas Rossmann eine Auswahl davon unter dem Titel „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“ als Buch im Verlag der Buchhandlung Walther König herausgebracht.

Der „Reiseführer fürs Handschuhfach“ ist illustriert mit Schwarzweiß-Fotografien aus dem Archiv von Barbara Klemm, entstanden zwischen 1974 und 1999, die dem Paperback einen eigenwilligen Retro-Charme verleihen. Gegliedert ist der Band nach Städten von B wie Bochum bis W wie Waltrop. Selbst versierte Ruhrgebietsbewohner können beim Nachbarn noch Neues entdecken.

„Der Rauch verbindet die Städte“ schrieb Joseph Roth 1926, doch seit er sich zum großen Teil in frische Luft aufgelöst hat, wo ist da das verbindende Element dieser zerklüfteten, postindustriellen und mit zahlreichen Kulturinstitutionen besiedelten Region? Was macht sie aus und wo scheitert sie? Mit großer Sympathie für ihre rauen Seiten und einem Scharfblick, der sich nicht scheut, zwischen Qualität und Kitsch zu unterscheiden, beschreibt Rossmann auf seiner Expedition im Land der aufgegebenen Fördertürme und Industriebrachen die Auswirkungen des vielbemühten Strukturwandels auf die kulturelle Identität des Ruhrgebiets.

Wenn es sein muss, macht sich der Kritiker auch zu Fuß auf den Weg, um auf Halden zu klettern oder Landmarken abzuwandern: „Oben angekommen, sieht der Wanderer sich einem unbekannten Ort ausgesetzt. Doch erst im dialektischen Umschlag vollendet sich die Kunst der Landmarke: Sobald der Besucher dem Hochpunkt, den sie einnimmt, den Rücken kehrt, eröffnet sich ihm ein Panorama des Ruhrgebiets, das auf den nur von hier aus möglichen zweiten Blick seine Zerrissenheit und Unfertigkeit, sein Pathos und seine Grandeur offenbart: Seine ,andere‘ Schönheit“, schreibt Rossmann.

Die Textstelle zeigt, was das Buch ausmacht: Der intellektuell-literarische Blick auf eine Kunst, bei der sich der Ruhrgebietsmensch oft weigert, sie als seine eigene oder für ihn geschaffene wahrzunehmen. Die er mitunter misstrauisch beäugt wie beispielsweise Serge Spitzers Spirale auf dem Kennedyplatz in Essen, die viele Bürger „weg haben“ wollten, weil sie sie hässlich fanden. Nach dem Motto: Das alte Eisen, da haben wir früher mit malocht, das soll jetzt Kunst sein?

So führt denn auch Rossmanns Lesung im Lehmbruck-Museum in Duisburg unweigerlich zu einer Diskussion unter den Zuhörern um das Selbstverständnis des Reviers und seiner Bewohner. Ist es nicht Zeit, endlich mit dem Montanindustrie-Kitsch Schluss zu machen? Ein Zuhörer fragt: Warum werde nicht mal die Architektur der Ruhruniversität Bochum als einem der größten Arbeitgeber der Stadt gewürdigt statt immer Zeche Zollverein, die überall als mediales Wahrzeichen herhalten müsse? So regiere das Klischee, das auf die Vergangenheit verweise und Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Strukturwandel in der Gegenwart verhindere.

„Warum wohnen Sie eigentlich nicht im Ruhrgebiet, sondern in Köln?“, möchte eine andere Zuhörerin von Rossmann wissen. Sie selbst ist gebürtige Kölnerin, die es unfreiwillig ins Revier verschlagen hat. Der Autor begründet dies mit seinen Anfangszeiten als Kultur-Kritiker, als er sich strategisch günstig zum WDR positionieren wollte. Einer seiner ersten Ruhrgebietsbesuche führte ihn allerdings zu einem Bewerbungsgespräch als Dramaturg ans Theater Dortmund. „Die haben mich zum Glück aber nicht genommen“, gibt er selbstironisch zu.

Doch vielleicht ist ja gerade eine Fernbeziehung in diesem Fall nicht das schlechteste: Mit ein wenig Abstand liebt es sich neugieriger, man teilt nicht den langweiligen, zuweilen schäbigen und profanen Alltag. Die angebetete „Metropole“ bleibt interessant, ihre Veränderungen aufregend, ihre Kapriolen energiestiftend – vor allem, wenn man sich schon so lange kennt.

Andreas Rossmann: „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen. Mit Photographien von Barbara Klemm. Verlag der Buchhandlung Walther König, 260 Seiten, 14,80 Euro




Verspielte Chancen, kein Mitleid: Der Roman „Rechnung offen“ von Inger Maria Mahlke

RechnungoffenBerlin, Neukölln. Ein gewachsener Stadtteil, der teils noch als schwierig gilt, sich aber bereits anschickt, das nächste Szeneviertel für junge, erfolgreiche Menschen mit „urbanem Lifestyle“ und „hippen Kinderwagen“ zu werden.  

Ein Mietshaus in Neukölln. Ein Haus mit schönen, aber leicht heruntergekommenen Wohnungen. Begehrtes Sanierungsobjekt in einer Stadt, die offiziell arm und sexy ist, inoffiziell aber längst nicht mehr genug Platz und Raum für ihre Bewohner bietet. Die Mieter dort sind die Protagonisten in „Rechnung offen“, dem neuen Roman der Autorin Inger Maria Mahlke. Oder treffender ausgedrückt: Sie sind ihre Forschungsobjekte, denn wie unter dem Mikroskop beobachtet und seziert Mahlke die verschiedensten Lebensentwürfe. Jeder in sich gescheitert, jede Existenz bedroht. Wahlweise von der Krise, der Entmietung, der Globalisierung, zum allermeisten aber von eigener Unfähigkeit.

Die Menschen scheitern nebeneinander her

Die Menschen in diesem Haus leben und scheitern nebeneinander her, ihre Wege kreuzen sich kaum. Da gibt es die alte, einsame Elsa. Früher hat sie in einer Seidenblumenmanufaktur gearbeitet, daran erinnert sie sich noch genau. Eine Seidenblumenblüte kann sie en détail erklären, aber nicht, wie man mit einer Zitronenpresse umgeht. Beginnende Demenz liegt bereits wie ein dunkler Schatten auf ihr. So weiß sie zwar irgendwie, dass sie keinen Enkel hat, aber dem Hochstapler Nicolai, der sich als solcher ausgibt, öffnet sie gerne die Tür zu einem Stück Kuchen.

Eine andere Wohnung wird bewohnt von Manuela Schrader und ihrem Sohn Lucas. Manuela hat ihre Arbeit in einer Backstube gekündigt. Zur Abwechslung versucht sie sich als Domina, wenn sie nicht gerade ihre Zeit damit verbringt, die Ordnungsversuche ihres Sohnes zu zerstören. Lucas treibt sich gerne in der Spielwarenabteilung von Karstadt herum, zuhause sucht er Trost und Klärung in einer manischen Pedanterie. Zwanghaft ordnet er seine Spielsachen, immer und immer wieder, egal, wie oft die Mutter durch seine Spielzeugautos tobt.

Selbstmitleid und Weltschmerz

Das Haus gehört dem kaufsüchtigen Claas. Nachdem ihn seine Frau Theresa verlassen hat, besetzt er eine leerstehende, besonders vergammelte Wohnung in seinem Haus, welches schon der Zwangsversteigerung harrt. Anders kann er sich nicht mehr behelfen, er hat sich um seine Existenz gekauft und hat längst den Überblick über seine offenen Rechnungen verloren, nicht nur im übertragenen Sinn. Seine äußerst karge Übergangs-Möblierung leiht er sich von Theresas Tochter Ebba, der er eine Wohnung in diesem Haus überlassen hat. Ebba lässt sich gehen, hat ihr Studium geschmissen und verbringt ihre wenige wache Zeit mit Ausreden und Drogen.

So wie diese Menschen nebeneinander her leben, erzählt auch Inger Maria Mahlke von ihnen in ihrem Roman. Fragmentarisch, ungeordnet, nacheinander. Es gibt kaum Berührungspunkte, einen sich schließenden Kreis sucht man vergebens, findet dafür aber erbarmungslos beobachtete Charaktere. Gnadenlos beschreibt Mahlke, wie sich ihre Protagonisten in Selbstmitleid und Weltschmerz suhlen.

„Gib Dir doch ein wenig Mühe“ – immer wieder fleht Theresa ihre Tochter Ebba, die Hohepriesterin des Phlegmatismus, an. „Gib Dir doch ein bisschen Mühe“ – genau das ist es, was der Leser den Figuren zurufen möchte. Das ewige Gejammer, das ewige sich ins Schicksal Ergebende, es macht den Leser ungeduldig. Die Frage nach dem eigenen Verschulden spielt bei allen Mietern eine untergeordnete Rolle. Sie alle hatten ihre Chancen, sie alle haben sie verspielt. Trotzig und kindisch sind ihre Reaktionen, wenn man sie mit nicht beglichenen Rechnungen oder auch nicht eingetriebenen Außenständen konfrontiert. Offene Rechnungen treiben sie alle um – wenn auch auf unterschiedlichen Seiten des buchhalterischen T’s. Nur der kleine Lucas zahlt die Zeche für etwas, was er nicht selbst bestellt hat

Fragmentarisches Erzählen in sperriger Sprache

Inger Maria Mahlke findet eine mitleidlose, sehr eigene Sprache für ihre Erzählung über eine Mittelschicht vor dem schleichenden Untergang. Ihre Sprache ist schwer zu erschließen, sie ist unmelodisch, nicht geschmeidig und nicht gefällig. Oft ist sie abgehackt, dann wieder verstrickt sie sich in endlose Schachtelsätze. Schachtelsätze allerdings ohne jeden Schnörkel. Das alleine ist schon eine Kunst für sich. Ihre Sprache geht weit über gängige Melancholie hinaus, sie transportiert endgültige Hoffnungslosigkeit. Genau, wie die Umwelt gleichgültig bleibt ob der gescheiterten Existenzen, bleibt ihre Sprache gleichgültig. Sie gibt nichts, kein Mitleid, kein Verständnis.

Leider ist es auch dies, was den Zugang zum Roman, zu den Protagonisten schwer macht. Man bleibt eigentümlich außen vor, schon nach wenigen Seiten interessiert das Beschriebene kaum noch. Darin liegt der Zwiespalt des Romans. Denn indem es der Autorin gelingt, die Empfindungen der Leser in ihre Sprache aufzunehmen, stößt sie die Leser gleichermaßen von sich. Zu gut korrespondiert ihre Sprache mit den Empfindungen der Leser. Irgendwann ist genug gejammert, irgendwann weiß man, dass die Welt schlecht ist und immer die anderen schuld sind. Das Buch erzeugt keine Anteilnahme, kein Mitgefühl, der Leser stagniert bei der Kenntnisnahme der offenen Rechnungen. Mahlke zeigt keinen Ausweg, sie belässt es bei ihren gnadenlosen Beobachtungen. Mit dem erzeugten Gefühl von Hoffnungslosigkeit lässt sie ihre Leser alleine, selbst wenn einige Umschuldungen zum Schluß noch gelingen.

Die Autorin lebt in Berlin, ist studierte Rechtswissenschaftlerin und bekam für ihren ersten Roman „Silberfischchen“ mehrere Preise.

Inger Maria Mahlke: „Rechnung offen“. Roman. Berlin Verlag, 284 Seiten, €19,99.




Schönes Gefühl: Sämtliche Gedichte unseres Herrn von Goethe in zeitlicher Abfolge

Manchmal überkommt es mich, dann will mein Bildungsbürgerdasein ans Licht, und so habe ich mir in der Buchhandlung meines Vertrauens das Insel-Taschenbuch mit sämtlichen Gedichten des Herrn Goethe „in zeitlicher Folge“ zugelegt. Das ist natürlich ein interessantes Sammelsurium von wechselnder Qualität, aber immer Goethe.

Goethe

Was ist es doch für  ein schönes Gefühl, einen Dünndruckband mit dem feinen Papier in den Händen zu halten, vorsichtig zu blättern und bei bekannten und unbekannten Textstellen hängen zu bleiben, gar nicht zu vergleichen mit dem Wisch-Computer in der Hand. Neulich habe ich im Fernsehen gesehen, wie ein Kita-Bursche versuchte, mit der typischen Smartphone-Bewegung im gedruckten Bilderbuch die Zeichnung von Rotkäppchen zu vergrößern.

Also Goethe. In zeitlicher Folge heißt natürlich, dass nicht nur Meisterwerke, sondern auch die Schülerreime vertreten sind, ebenso seine anzüglichen Sachen und alle Gelegenheitsverse, die er zu Geburtstagen oder ähnlichen Gelegenheiten verfasst hat. Und immer wieder diese unendliche Weisheit, die alles erklärt, was zum Menschsein gehört. In einem Brief an die Gräfin Auguste zu Stolberg aus der frühen Weimarer Zeit findet Johann Wolfgang Worte, die mir schon je besonders gut gefallen haben und deshalb hier wiedergegeben werden:

„Alles geben die Götter, die unendlichen,

Ihren Lieblingen ganz.

Alle Freuden, die unendlichen,

Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“




„Zügig ins Jenseits“: Kurzkrimis rund ums Bahnfahren

Zügig.CoverDer Dortmunder hat es bekanntermaßen gerne spannend – nicht nur beim Fußball. Der Spannung verschrieben hat sich folgerichtig der in der Stadt des Champions-League-Halbfinalisten ansässige Grafit Verlag, der jetzt mal wieder eine neue Sammlung von Krimi-Kurzgeschichten herausgegeben hat.

„Zügig ins Jenseits“ nimmt sich all jener an, die während des Schienenverkehrs auf die schiefe Bahn geraten sind. Ort der Geschehnisse ist im vorliegenden Band die Deutsche Bahn. Klar, denn das Unternehmen Zukunft Deutsche Bahn ist ja mehr als fahren. Und vom Wetter reden sie auch nicht. Manch einem mögen beim Anblick der bekannten Werbeslogans gelegentlich die Gesichtszüge entgleisen und mörderische Gedanken kommen.

Immer gut für einen Erregungstumult

Der Ärger über verspätete Züge, ausgefallene Klimaanlagen oder besonders uncharmante Zugbegleiter wächst sich hierzulande gerne zu bemerkenswerten Erregungstumulten aus. Fünfzehn in dem Thema bewanderte Krimiautoren sind nun auf diesen Zug aufgesprungen und quer durchs deutsche Schienennetz gereist. Mitgebracht haben sie abgefahrene Geschichten aus den Abgründen des Zugverkehrs. In dieser Anthologie bleibt keiner verschont: nicht die grölenden Fußballfans, nicht die lümmelnden Berufsjugendlichen, nicht die picknickenden Ehepaare. Auch geraten die Piccolöchen der Keglern öfter unter die Räder.

Der Autorin Nicola Förg reicht die schnarrende Stimme einer Zugbegleiterin, um die arme Frau schnellstens zur Endstation Jenseits zu expedieren. Edgar Franzmann bereitet der BO-Ru-SSI-AAA und einem Sheriff im Ruhestand einen großen Bahnhof, Ella Theiss entzündet in Hamburg eine bombige Fontäne und Stephan Hähnel liest im Beschwerdemanagement auch das Kleingedruckte.

Tempo zwischen Bummelzug und ICE

Manche Geschichten entfalten sich mit dem gemächlichen Thema eines Bummelzuges, wieder andere rasen mit dem mörderischen Tempo eines ICE auf ihr kriminelles Ende zu. Roger M. Fiedler stellt die Weichen für seinen „Zeigersprung“ auf gelungene Satire und ihm gelingt es, zu erklären, was wir immer schon wissen wollten: Theorien sind die Ursachen aller Pannen.

Auch ganz Aktuelles kommt nicht zu kurz, Welpenhändler aus Duisburg möchte man nach der Lektüre nicht unbedingt sein. Und dass die sich neu etablierende Gruppe der Samstagspendler, welche sich das Recht, am Samstag vier Mitfahrer auf ihr Monatsticket mitnehmen zu dürfen, regelmäßig versilbern lassen, nicht ungefährlich lebt, dürfte nach der Lektüre von Niklaus Schmidts Geschichte auch klar sein. Klar wird dem Leser auch so einiges Wissenswerte aus dem Streckennetz, denn als kleine Kulanz ist jeder Geschichte eine „Wussten sie schon, dass…“-Frage“ mit Antwort vorgeschaltet.

Noch eine Besonderheit: Nicht alle Geschichten sind verbrecherisch, eine erzählt von der Liebe. Für „Drück mich jetzt!“ erhielt Alexandra Trudslev den Förderpreis des Literaturpreises Ruhr, sowie sicherlich die Zustimmung vieler Leser, die sich gleich ihrer Heldin schon an störrischen Fahrkartenautomaten abgearbeitet haben.

Fazit: Ohne Zugzwang gut geeignet, sich die Zeit auf Reisen angenehm zu vertreiben und so dazu beizutragen, ein vielbeschworenes Versprechen der Deutschen Bahn einzulösen: Urlaub von Anfang an.

„Zügig ins Jenseits. Mörderische Geschichten für Bahnfahrer“. Grafit Verlag, Dortmund. 224 Seiten. 9,99 Euro.




Die zerstörerische Kraft der Familie: Delphine de Vigans Roman „Das Lächeln meiner Mutter“


viganMutterManchmal kann ein Mensch nicht unbegrenzt viel Leid ertragen. Manchmal steht der Nacht eben nichts entgegen. * Um diese Wahrheit, die auszusprechen oft genug noch mit einem Tabu belegt ist, dreht sich ein außergewöhnlicher Roman der Französin Delphine de Vigan. In ihrem Buch „Das Lächeln meiner Mutter“ erzählt sie retrospektiv das Leben ihrer Mutter Lucile. Nach deren Suizid ist dies ihr Weg, diesen zu verarbeiten.

Lucile Poirier wurde 1946 als drittes Kind in eine Familie von neun Geschwistern geboren, von denen drei früh verstarben. Ihre Kindheit ist für de Vigan eine ferne, ungreifbare Zeit. Tonband- und Tagebuchaufzeichnungen der Großeltern sowie Erzählungen der noch lebenden Geschwister helfen ihr, ein Bild jener Zeit zu entwerfen. So entsteht nach und nach das Gemälde einer lärmenden, faszinierenden Großfamilie, die sich an lichtdurchfluteten Sommertagen zu großen fröhlichen Treffen auf dem Lande versammelt. Einer Familie, die jedoch auch gezeichnet ist durch den „Nachhall der Toten und des Widerhalls des Unglücks“; einer Familie, die sich durch ihre demonstrativ zur Schau getragene Einigkeit die für sie wichtige Bewunderung Anderer zu sichern versteht.

Der Flirt mit dem Wahnsinn

Der Widerspruch zwischen Luciles frühem Erfolg als Fotomodell und den Tragödien, die das Familienleben überschatten – der frühe Tod der Geschwister, nie geklärte Inzest-und Missbrauchsvorwürfe, auf jeden Fall aber „die zerstörerische Kraft der Worte und des Schweigens“ – erschweren Luciles Weg in ein erwachsenes, selbstbestimmtes Leben. Früh flirtet sie mit dem Wahnsinn, doch der Weg zur Hölle ist zunächst sanft. Später gleitet sie immer öfter in Psychosen ab. Sie glaubt, das gesamte Pariser Verkehrssystem zu kontrollieren, korrespondiert mit Monet und Kant und wird schließlich zur Gefahr für ihre eigenen Töchter.

Ihr Leben lang wird Lucile ein fragiler Mensch bleiben, der zu zerbrechen droht. Erst spät findet sie einen Weg, ihr Leben zu leben, ihre glücklichste Zeit ist später die mit den Enkelkindern, doch dann muß sie einen neuen Kampf aufnehmen. Den Kampf gegen Krebs, für den sie keine Kraft mehr aufbringen kann. Denn nicht jeder Mensch kann sich dem Leid unbegrenzt entgegen stemmen.

Die zerstörerische Kraft der Familie wirkt über Generationen hinweg, doch das Haus der Großeltern auf dem Land bleibt unverändert Familienmittelpunkt. Dort auf dem Land, in Pierremont, wurde auch das Foto aufgenommen, das Delphine de Vigan als Coverfoto für ihr Buch ausgewählt hat. Ein Foto, auf dem man Lucile so sieht, wie sie war. Wunderschön, aber von geheimnisvoller Traurigkeit, schon von Schwarz umgeben.

Auf vermintem Gelände

Die literarische Aufarbeitung einer Mutter-Tochter-Beziehung ist an sich nicht neu, das schreibt Delphine de Vigan selbst zu Beginn des Romans. Ihr ist klar, wie abgegriffen das Thema ist, wie vermint das Gelände, auf dem sie sich unsicher bewegt. Passend bedient sich der Pressetext zum Buch des berühmten Titels von Angelika Schrobsdorff „Du bist nicht so wie andere Mütter“. In der Tat haben diese Bücher einiges gemein. die schonungslose Offenheit, die um Verständnis ringende Zärtlichkeit, das Annehmen erlittener Kränkungen, Doch der Roman von Delphine de Vigan ist verstörender, das Leid der Mutter unverständlicher, fremder.

De Vigan pendelt zwischen zwei Ansätzen. Sie erzählt die Geschichte der Mutter, eingebettet in die Familienchronik – und sie berichtet von sich selbst. Von ihrer Suche, den Schwierigkeiten, dieses Buch zu schreiben. Vor allem aber von ihrer Zerrissenheit ob der eigenen Verstrickung, von ihrer Angst, die vorsichtige Annäherung könne letzten Endes zur Entfremdung führen. Für die noch lebenden Geschwister Luciles und für de Vigans eigene Schwester Manon ist es nicht immer leicht, sich der Autorin zu öffnen und ihr zu helfen, Dokumente zusammentragen. Zumal einige von ihnen längst beschlossen hatten, nur das Helle zu behalten und das Böse wegzuschließen. Delphine de Vigan weiß, dass ihr diese Erinnerungen zum Geschenk gemacht werden. Umso größer ist die Angst, letzten Endes mit dem Schreiben dieses Buches die Familie zu verraten. Doch trotz dieser Angst vermag sie es nicht, das Buch nicht zu schreiben. Es ist wie ein Zwang. Dennoch kann sie die Zeit nicht erwarten, in der sie von diesem Buch hier erlöst sein wird.

Die Büchse der Pandora

Jeder wird sich diesem Buch anders nähern, doch nur wenige werden dem Sog widerstehen können. Zu vertraut sind die Geschichten, die Dramen. Die einen werden von der Geschichte Luciles tief berührt und mitgenommen sein, die anderen eher von dem Kampf, den die Tochter mit sich selbst um dieses Buch führt. Wieder anderen wird die entstehende Nähe zu nah, der Voyeurismus, den man unwillkürlich empfindet, zu beschämend sein. Aber alle werden auch einen Trost aus diesem Buch mitnehmen können. De Vigan erzählt ohne Pathos, ohne Stilisierung des Elends. Am Ende wird das Buch auch eine Hymne auf die Widerstandskraft sein. In ihrem Abschiedsbrief schreibt Lucile, dass sie lebendig sterben wollte. Indem die Autorin die Worte der Mutter wortwörtlich nimmt, kommt sie zu ihrem ersehnten Verständnis der Mutter.

Sie kann nun hinter den Psychosen der Mutter wieder eine Frau sehen, die eine ungewöhnliche Anziehungskraft ausübte. Lucile war eine Frau von großer Ernsthaftigkeit, aber auch mit einem Hang zum zärtlichen Humor. Einem Humor, den man auch im Buch erkennen kann und der gerade in den dramatischsten Episoden des Buches unterstreicht, was die Autorin von der Mutter geerbt hat. Die Eleganz und die Fähigkeit, Schmerz mit dem Prosaischen zu vermischen, Wesentliches mit Anekdotischen. Die Fähigkeit, Lächerliches und Triviales zu nutzen, um sich über die Verwirrung zu erheben. Denn Weinen kann man immer noch. Genau das ist es, was dieses Buch trägt und was es der Autorin ermöglicht hat, ihre Büchse der Pandora zu öffnen. Gleich einer antiken Tragödie öffnete sie diese in drei Akten und gleich vielen antiken Tragödien ist „Das Lächeln meiner Mutter“ nicht nur traurig, es ist auch belebend und Mut machend.

Die Toten ruhen lassen

Einen großen Trost nimmt der Leser aus der Liebeserklärung mit, die Luciles Enkel ihr nach ihrem Tod machen. Die Enkel räumen die Wohnung von Grand-Mère Lucile und bringen aus der Wohnanlage das Schild „Rasen betreten“ mit – weil Lucile es immer klauen wollte, aber nicht mehr geschafft hat. Eine traurig-schöne Geste, die zeigt, dass die Familie nach vorne blicken kann, die Toten ruhen lassen und die Schmerzen begraben kann.

Delphine de Vigan lebt mit ihren Kindern in Paris und arbeitet neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit in einem soziologischen Forschungsinstitut. „Das Lächeln meiner Mutter“ war in Frankreich ein unerwartet großer Erfolg. Bereits vorher hatte die Autorin sich mit autobiografisch geprägten Romanen einen Namen gemacht. So mit dem Buch „Jours sans faim“ (Tage ohne Hunger), einem Buch über ihre Magersucht.

Delphine de Vigan: „Das Lächeln meiner Mutter“. Droemer Verlag. Aus dem Französischen von Doris Heinemann, 381 Seiten, € 19,99.

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* Der Originaltitel  des Romans lautet „Rien ne s’oppose à la nuit“ (Nichts stellt sich der Nacht entgegen) und ist dem Song „Osez Joséphine“ von Alain Bashung und Jean Fauques entnommen.




Erleuchtung in der Besenkammer: Enzensbergers lyrischer Ausflug „Blauwärts“

„Hinter der Nebelwand im Gehirn / gibt es noch andere Gegenden, / die blauer sind, als du denkst“, heißt es in einem Gedicht des Autors, über den im biografischen Anhang des Lyrikbandes „Blauwärts“ behauptet wird, er sei „vor langer Zeit im Innern des Landes zur Welt gebracht und polizeilich gemeldet“ worden.

Und weiter im Zitat: „Bald lernte er Gehen, Lesen und Schreiben. Anfangs machte er von sich reden, schimpfte und ließ sich beschimpfen. Heute rühmt er sich seiner gusseisernen Gutmütigkeit“.

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Hans Magnus Enzensberger war schon immer ein ironischer Flaneur, ein sanft lächelnder Beobachter politischer Aufgeregtheit und ein bissiger, unversöhnlicher Kommentator eines modischen Zeitgeistes, der sich stets genauso schnell wieder verflüchtigt, wie er aus dem Nebel der Mittelmäßigkeit aufgetaucht war. Doch jetzt, mit zunehmendem Alter, ist Enzensberger nicht nur mit enzyklopädischem Wissen und Weisheit gesegnet, sondern auch mit einer Gelassenheit, die ihn zu einem Buddha der Beharrlichkeit im unförmigen Brei der allgemeinen Banalität macht.

Der 83jährige Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer, Lyriker, Essayist und Erzähler ist seit Jahrzehnten einer der bedeutendsten Intellektuellen Deutschlands. Während anderen im Alter langsam die Worte ausgehen, läuft Enzensberger noch einmal zu ganz großer Form auf. Der Autor, der in den wirtschaftswunderlichen Jahren mit seinen politischen Gedichten die restaurativen deutschen Verhältnisse zum Tanzen brachte und zum Wortführer einer undogmatischen Studentenrebellion wurde, hat zuletzt mit einem poetischen „Album“ und mit satirischen „Lieblingsflops“, mit einer Polemik auf das „sanfte Monster Brüssel“ und kulturkritischen „Zwanzig-Minuten-Essays“ von sich Reden gemacht.

Jetzt also folgt ein furioser „Ausflug zu dritt“: Denn seine neuen Gedichte lässt Enzensberger vom Maler Jan Peter Tripp künstlerisch kommentieren. Wort und Bild kongenial kombiniert hat Gestalterin Justine Landat, die Textur und Bildsprache auf eigenwillige Weise miteinander ins Gespräch bringt. Tripps Bilder sind unabhängig von Enzensbergers Gedichten entstanden, sie illustrieren nicht, sondern durchdringen und übermalen den Text.

Sprechweise und Rhythmus variieren ständig, von kleinen, Haiku-artigen Gemeinplätzen bis zum großen Parlando des Langgedichts spielt Enzensberger mit allen Formen und Inhalten. Der Dichter spricht von unscheinbaren Nachbarn und ungebetenen Gästen, erinnert sich an tote Freunde und an seine Kindheit im Nationalsozialismus, er steht staunend vor einem „Dämonischen Enzephalogramm“, bekommt eine „Erleuchtung in der Besenkammer“, schaut der Seife dabei zu, wie sie immer weniger wird und schließlich „vollkommen verschwunden“ ist. In einem Gedicht über das „Gottesteilchen“ fragt er: „Warum wiegt etwas etwas / und nicht vielmehr nichts?“ Um das herauszubekommen, müssen wir mit Enzensberger „Blauwärts“ ziehen, denn in anderen Gegenden sieht die Geschichte anders aus: „von oben gesehen. Kühl und hell / schwerelos ginge dein Atem dort, / wo dein Ich nichts wiegt.“

Hans Magnus Enzensberger (mit Jan Peter Tripp und Justine Landat): „Blauwärts. Ein Ausflug zu dritt.“ Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 136 Seiten, 32 Euro.




Von Goethe bis zum Groschenheft: Dem Schriftsteller Georg Klein zum 60. Geburtstag

„Eigentlich bin ich der Meinung, dass alle, die mit dem Wort arbeiten, irgendwie vom selben Fleisch sind“, antwortete der Autor während der diesjährigen Leipziger Buchmesse seinem Interviewpartner am Stand der Leipziger Volkszeitung. Georg Klein wird heute (29. März) sechzig Jahre alt. Sein Verlag, Rowohlt, hat zu diesem Anlass einen Band mit 77 seiner Texte publiziert, die zuvor größtenteils in Tageszeitungen erschienen waren.

Angesichts der in „Schund & Segen“ versammelten Textsorten lag die Frage des Ressortleiters Kultur der LVZ, Peter Korfmacher, nach dem Verhältnis von Journalismus und Schriftstellerei nahe. Georg Klein reicht dem Journalisten die Hand, indem er über den jeweiligen Redakteur, der ihn um einen Beitrag für sein Blatt bittet, laut denkt: „Das ist auch so einer wie ich; bloß ich habe mehr Freiheit. Dafür hat er ’ne feste Stelle – also, es gleicht sich auch wieder ein bisschen aus.“

Zu den einfacheren, nicht allzu viel Mut erfordernden Freiheiten Georg Kleins gehört es, in einem Zeitungsartikel auch mal „ich“ sagen zu dürfen, was angehenden Journalisten meistens schon im Praktikum oder Volontariat ausgetrieben wird. Der Journalist im Dienst sei zur Sachlichkeit und zur emotionalen Auskühlung verpflichtet; er als Schriftsteller könne auch schon mal auf die emotionale Tube drücken, so Klein.

Die 77 von ungefähr 360 über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren entstandenen „abverlangten“ Texte, die für das Buch ausgewählt wurden, haben so unterschiedliche Gegenstände und Personen zum Thema wie Rolf Dieter Brinkmann, Raymond Chandler, Daphne du Maurier, Umberto Eco, Michael Ende, William Gaddis, Heinrich Heine, Robert A. Heinlein, Franz Kafka, Michael Jackson, Mick Jagger, Stephen King, Wolfgang Koeppen, Ursula Le Guin, Udo Lindenberg, Stanlisław Lem, Jonathan Littell, die Biene Maja, Märklin-Modelleisenbahnen, Josefine Mutzenbacher, Edgar Allan Poe, Gerhard Schröder, Gustav Schwab, Robert Louis Stevenson, Jules Verne oder das alte Kinderspiel „Der Kaiser schickt seine Lakaien hinaus!“

Manche der Artikel waren bereits auf einer älteren, weiterhin verfügbaren Website des Autors veröffentlicht; der hohe Anteil an Science-Fiction-Autoren verdankt sich unter anderem einer Serie der Neuen Zürcher Zeitung. Aber wie kam es dazu, dass Klein auf diese unterschiedlichen Themen von den Zeitungen angesprochen wurde? Weiterhin am LVZ-Stand gibt der Autor Auskunft: „Es entsteht auf der anderen Seite, also bei den Redakteuren, ein Bild davon, wofür man Spezialist sein könnte. Ich wehre mich mit Händen und Füßen dagegen; ich will überhaupt kein Spezialist sein. Aber es hat sich irgendwie herauskristallisiert, dass ich der Spezialist für das Zwielichtige oder für das nicht so ganz Koschere oder für das Schundige oder Trashige bin. Das bin ich schon auch, aber ich schreibe auch gern über Goethe, und nicht nur über Udo Lindenberg.“

Verlage, Medien und der Buchhandel benötigen Schubladen, doch Georg Klein wäre nicht er selbst, erfüllte er lediglich die in ihn gesetzten Erwartungen und hätte er nicht auch mit größeren Überraschungen aufzuwarten. Der Volkssänger Heino etwa sei, wie Georg Klein und sein Interviewer am Messestand der Leipziger Volkszeitung übereinstimmend feststellen, „vermintes Gelände“. Man könne nur entweder Heinos treue Anhängerschaft verprellen oder sich unter Intellektuellen und solchen, die sich dafür halten, lächerlich machen. Dass es etwas Drittes gibt, ohne kompromisslerisch zu werden, beweist der Artikel „Die Sehnsucht der Anderen“, der, ohne sich billig über „die Stimme der Heimat“ zu mokieren, den Geschmack der Menschen ernst nimmt, „die wir brauchen und schätzen“. Rumhacken wäre schäbig.

Der gleichermaßen an Arno Schmidt wie an Groschenheften geschulte Schriftsteller wagt den jeweils frischen Ansatz oder eine Perspektivenverschiebung; oft findet er einen unverbrauchten Zugang zu seinem Thema. Die vom Markt vorgegebenen Formate, wie Ehrungen zum sechzigsten, siebzigsten, achtzigsten Geburtstag oder auch Nachrufe, füllt er kreativ, mitunter geradezu experimentell aus, wie etwa im Vergleich des toten Stanlisław Lem mit dem Aussterben der Mammuts. Die „Pietätsstarre auflösen“ nennt Georg Klein das im Interview mit Tina Mendelsohn im 3sat-Forum am Leipziger Buchmesse-Freitag.

Als Antwort auf die Literaturkanon-Debatte verteidigt er „das wilde Lesen, das uns das richtige Buch im richtigen Moment in den Schoß wirft.“ Er glaube, dass er schlechten Büchern oder dem Fernsehen, das ja auch nicht immer den Ruf der Hochkultur habe, unglaublich viel verdanke, sagt Georg Klein in dem vom Sender 3sat aufgezeichneten Gespräch. Als Beispiel nennt er Hildegard Knefs Schicksalsroman „Das Urteil“, der ihn als sechzehnjährigen, noch weichen Leser damals mit aller Vehemenz getroffen habe. „Warum sollte ich hochnäsig verspotten, was mir viel gegeben hat?“, fragt er in einem Interview in der letzten Ausgabe der Zeitung für Literatur „Volltext“ (Nr. 1/2013).

Eine Sympathiebekundung für eine Politikerin mag den Leser von „Schund & Segen“ gleichermaßen wie die Redaktion der „Berliner Zeitung“ überrascht haben. „Wir kennen Angela Merkel nicht; aber wir zweifeln nicht an ihrem Humor“, heißt es in seinem Artikel über die „Schutzpatronin der Verdrossenen“. Humor? Angela Merkel? „Ich habe mir gedacht: ich verkläre sie. Ich verkläre sie zu dem, was sie vielleicht bestenfalls ist“, sagt Georg Klein in seinem dritten öffentlichen Interview am Buchmesse-Freitag, diesmal im ARD-Forum im Gespräch mit Jörg Schieke.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Artikels im September 2009 hatte Georg Klein die Gelegenheit, die Kanzlerin abseits des Medienzirkus in kleinem Kreis kennenzulernen, und fand, wie er bekennt, den vermuteten Humor mehr als bestätigt: „Die Frau ist hinreißend witzig.“ Geistreich, humorvoll – „Es ist ein Glück, Zeit mit ihr zu verbringen.“

Neben ihrem Humor sind es vor allem Ausdauer und Redlichkeit, was Georg Klein an der Kanzlerin schätzt – Tugenden, die auch die seinen sind.
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Georg Klein am Buchmesse-Stand von 3sat am 15.03.2013; Foto: W. Cz.

Georg Klein am Buchmesse-Stand von 3sat am 15.03.2013; Foto: W. Cz.

Seinen Lesern gegenüber verhält er sich ebenso fair, wie er den von ihm porträtierten Personen gerecht zu werden versucht. Georg Klein fordert die Leser oft heraus; seine Sprache verlangt meistens eine langsame, genaue Lektüre. Doch mag auch die Handlung mancher seiner Romane rätselhaft sein, sie ist nicht kryptisch in dem Sinne, dass ein Leser zum Verständnis auf Spezial- oder Geheimwissen, das nur außerhalb der Buchdeckel durch aufwendige Recherchen zu entdecken wäre, angewiesen ist.

Dieses Irgendwie-vom-selben-Fleisch-Sein in der eingangs zitierten mündlichen Antwort vor der laufenden LVZ-Kamera ist etwas, was Georg Klein auch erfolgloseren Kollegen vermitteln kann. Er, der zunächst zwanzig Jahre lang unbeachtet schrieb, bevor er „entdeckt“ und spätestens durch die Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises 2000 einem größeren Publikum bekannt wurde, musste zunächst auch Ablehnung erfahren. Verständnisvolle kollegiale Verbindlichkeit hat auch die von ihm geleitete Schreibwerkstatt geprägt, an der teilzunehmen ich das Glück hatte, damals im Mai 2004, als Georg Klein als Poet in Residence an der Universität Essen gastierte.

Georg Kleins Kunst erschöpft sich freilich nicht in Fairness und Verbindlichkeit, was auf Dauer bloß Langeweile produzieren würde. Allen seinen Romanen unterliegt etwas Geheimnisvolles, dem nicht so leicht auf die Spur zu kommen ist.

Das Bild bei den Zeitungsredaktionen, wofür Georg Klein ein Spezialist sein könnte, ist ja nicht zuletzt durch seine Romanveröffentlichungen entstanden. Der oft gelesene Hinweis auf das „Spielen mit unterschiedlichen Genres“ wie Agentenroman („Libidissi“, 1998), Detektivgeschichte („Barbar Rosa“, 2001), Horror- („Die Sonne scheint uns“, 2004) oder Ärzteroman („Sünde Güte Blitz“, 2007) allein erklärt nicht das Faszinosum seiner Prosa.

Einer der engsten Geistesverwandten könnte der Filmemacher und Fotograf David Lynch sein, mit dem auch der Band „Schund & Segen“ eröffnet wird. Das Unerklärliche und Phantastische durchwirkt sogar Georg Kleins autobiographischstes Werk, den preisgekrönten „Roman unserer Kindheit“.

In seinen Dankesworten zum Preis der Leipziger Buchmesse 2010 bezog der Autor nicht nur Jurorinnen, Juroren, Verleger, Schriftsteller-Gattin und die üblicherweise Genannten ein, sondern er gedachte auch mit Dankbarkeit der Verstorbenen. Einen Moment schien so etwas wie Sokrates‘ Daimonion spürbar zu sein, eine Ahnung, dass die „Erste Wirklichkeit“, wie Georg Klein sie in einem seiner Texte nennt und an die wir alle „gnadenlos zu glauben haben“, nicht die einzige sein könnte.

Aber sei es eine Art Schutzgeist wie das koboldartige Wesen, das in „Sünde Güte Blitz“ in die Geschicke der Romanfiguren eingreift; seien es die Gesetze des Traums; sei es ein undurchschaubarer Freak wie der, der sich in dem „poetologischen Versuch“ – ein gleichermaßen ironisch wie ernsthaft wirkender Untertitel – dem Erzähler in „Die Hölle der Autoren“ aufdrängt und der den Eindruck erweckt, die Erzählstoffe suchten sich ihren Autor, und nicht umgekehrt (nachzulesen auf Georg Kleins älterer Website); oder die Ahnung von etwas Vorformuliertem, in seiner Form bereits Feststehenden, wie es im Text „Esperanza“, abgedruckt in der in Münster erscheinenden Literaturzeitschrift „Am Erker“ (Nr. 50), durchscheint; sei es schließlich auch eine Substanz wie die, an deren Einnahme Georg Klein sich in dem kurzen Text „Mein asiatisches Gesicht“ erinnert, der 2005 in der von Thomas Böhm herausgegebenen Anthologie „Weltempfang“ erschienen ist – der heute zu ehrende Autor schreibt nie so, dass er von Esoterikern und Phantasten leicht vereinnahmt werden könnte.

Bis im Herbst 2013 der angekündigte Roman „Die Zukunft des Mars“ erscheint, gibt es auch an abgelegenen Eckchen unseres Literaturplaneten noch viel von Georg Klein zu entdecken.

Georg Klein: „Schund & Segen. 77 abverlangte Texte.“ Rowohlt Verlag, 432 Seiten; 22,95 Euro.




Museum für westfälische Literatur: Haus Nottbeck im Münsterland lohnt einen Besuch

Man kann ja bei diesem Wetter kaum ins Freibad gehen, und das Herumtollen auf Wiesen macht bei dem knochenharten Boden auch keinen Spaß. Da bietet sich ja eher etwas Kulturelles am – zum Beispiel das Haus Nottbeck im südlichen Münsterland. „Kulturgut“ nennt sich das westfälische Wasserschloss offiziell, und es ist wirklich einen Ausflug wert.

Das Haupthaus mit dem Museum.Foto: LWL

Das Haupthaus mit dem Museum.
Foto: LWL

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat sich vor Jahren zusammen mit dem Kreis Warendorf des alten Herrensitzes im Oelder Stadtteil Stromberg angenommen. Entstanden sind nicht nur ein Tagungszentrum und ein „Kultur-Café“, sondern als Kernstück findet man im Haupthaus das Museum für westfälische Literatur. Von den Anfängen der Lesekultur bis in die Gegenwart wird hier das Leben und Werk von Schriftstellern und Schriftstellerinnen aus Westfalen liebevoll dargestellt, mit Dokumenten und Original-Gegenständen, aber auch mit Hör- und Video-Beispielen und mit ausführlichen Lebensläufen und Werkbeschreibungen. Dabei kamen nicht nur in Westfalen geborene Dichter ins Programm, sondern auch Literaten, die nur zeitweise in Westfalen oder Lippe gelebt und Spuren hinterlassen haben.

Das Kulturgut bietet aber auch ein wechselndes Programm. Zum Beispiel am 13. April Poetry-Slam unter dem Titel „Dead or Alive Poetry-Slam: Die besten Slam-Poeten gegen Legenden der Literatur“ oder (bis zum 12. Mai) eine Ausstellung des Graphikers und Buchkünstlers H. D. Gölzenleuchter. Am Sonntag, 7. April, kann man den Künstler im Museum in seinem „offenen Atelier“ besuchen.

Das Haus Nottbeck besticht auch durch seine beschauliche Lage im dort leicht hügeligen Südmünsterland. Im Park des Kulturguts kann man sich in der Nähe von drei „Hör-Inseln“ entspannen.

Kulturgut Haus Nottbeck. Museum für Westfälische Literatur. Landrat-Predeick-Allee 1, 59302 Oelde, Tel: 02529 / 94 55 90. www.kulturgut-nottbeck.de. Öffnungszeiten Literaturmuseum: Dienstag bis Freitag 14 bis 18 Uhr, samstags, sonntags und an Feiertagen 11 bis 18 Uhr. Freier Eintritt.