Sechs Hinweise zum Fest: Was man ganz früher einmal „Das gute Buch für den Gabentisch“ genannt hat

Hui, hier kommen in jahreszeitlich üblicher Eile noch ein paar Hinweise auf Bücher, die sich (auch) als Weihnachtsgeschenke eignen. Den gereckten Daumen oder alberne Punktwertungen schenken wir uns – wie immer. Und überhaupt…

Unsterbliche Verse
Wenn man Ströme und Strömungen der europäischen Lyrik zurückverfolgt, so gelangt man früher oder später auch an diese ewig frische Quelle: Francesco Petrarcas Gedichtsammlung „Canzoniere“. Jetzt ist eine neue Auswahl der unsterblichen Verse erschienen, die um die zwischen Hoffen und Bangen geliebte Laura kreisen. Karlheinz Stierle hat in seiner Übersetzung versucht, den Reimen so gut zu folgen, wie es im Deutschen nur irgend geht. Eine Herkulesaufgabe, deren Resultat freilich leichthändig wirken muss. Die zweisprachige Ausgabe ziert jede gute Bibliothek. (Insel Verlag, 274 Seiten, 24,90 Euro).

Ins Gelingen verliebt
Wir bleiben in den Gefilden der Sehnsucht. Hanns-Josef Ortheil ist ein Schriftsteller, der ein Projekt verfolgt, mit dem man nur zu gern sympathisiert: Unermüdlich versucht er, glückhaft ausgehende Geschichten erzählbar zu machen, also nicht an den Klippen von Kitsch, Kolportage und Konvention zu scheitern. Man weiß ja: Negatives lässt sich in aller Regel süffiger vortragen und gilt unserem auf Abstürze versessenen Zeitgeist als glaubwürdiger. Mit „Liebesnähe“ unternimmt Ortheil den nächsten Anlauf in gegenläufiger Richtung. Ein Mann und eine Frau treffen sich per Zufall im Hotel – und es entspinnt sich etwas. Ortheil zieht virtuos an den Fäden dieser Verstrickung. Und in den schönsten Passagen klingt seine Sprache nahezu musikalisch. (Luchterhand, 394 Seiten, 21,99 Euro)

Zeiten der Trauer
Ein ungeheuerliches Buch an den Grenzen menschlicher Kraft. Der Niederländer A. F. Th. van der Hejden unternimmt es, den Unfalltod seines einzigen Kindes literarisch zu fassen. Das ist natürlich letztens unmöglich, doch kann man den Heroismus nur bewundern, mit dem dieser großartige Autor dem Tod sozusagen Hoheitsgebiete abtrotzt, wie er die Stirn erhebt gegen das Leiden, das nie mehr aufhören wird. Der 21jährige Tonio (der Vorname ist auch der Romantitel) wurde im Mai 2010 auf seinem Fahrrad tödlich von einem Auto erfasst. Dass der Roman schon vorliegt, lässt darauf schließen, dass van der Hejden von Anfang an keine andere Wahl hatte: Er musste wie besessen versuchen, das Unglück schreibend – nein, nicht zu bewältigen oder mit ihm „fertig“ zu werden, sondern es überhaupt zu ermessen, auszuloten. Die Lektüre ist schmerzlich, erschütternd, ja niederschmetternd, birgt aber auch Trost weit über den Tag hinaus. (Suhrkamp, 672 Seiten, 26,90 Euro)

Held des Scheiterns
Auf Italo Svevo kann man schwören. Seine (und ein paar andere) Bücher würde ich ohne Zögern auf jene einsame Insel mitnehmen. Jetzt ist sein epochaler Roman „Zenos Gewissen“ in neuer Übersetzung (von Barbara Kleiner) erschienen. Es gibt in der Weltliteratur schwerlich einen grandioseren Helden des Scheiterns als diesen Zeno, der zudem die Kunst des ziselierten Selbstbetrugs zur Perfektion erhebt. Allein seine hochkomischen Versuche, das Rauchen aufzugeben, gehören in jede Anthologie zum Tabaklaster. Auch in erotischen Angelegenheiten stellt er sich kaum geschickter an. Eine überaus subtile Neurosenbeschau. Ein Klassiker sondergleichen. Bloß nicht versäumen! (Manesse, 798 Seiten, 24,95 Euro)

Illustrierte Liederschätze
Zum 80. Geburtstag des famosen Künstlers Tomi Ungerer wurde kürzlich ein Standardwerk neu aufgelegt. „Das große Liederbuch“ verdient diesen Namen wahrhaftig. Hier werden reichlich Schätze verwahrt: 204 deutsche Volks- und Kinderlieder sind mit Texten und Noten versammelt. Ungerers herrliche Illustrationen machen den bemerkenswert preisgünstigen Band vollends zum Genuss. Und nein: Es ist in keiner Faser ein deutschtümelndes Buch, sondern die liebevolle Aufbereitung kulturellen Erbes. (Diogenes, 273 Seiten, 19,90 Euro)

Nachkriegs-Krimi
Schließlich ein Krimitipp: Der seit langem in Herne lebende Jan Zweyer hat seinen Hauptkommissar Peter Goldstein unter drei Regimes ermitteln lassen – in der Weimarer Republik (Buchtitel „Franzosenliebchen“), zur NS-Zeit („Goldfasan“) und nun in der deutschen Nachkriegszeit. „Persilschein“ spielt im Ruhrgebiet des Jahres 1950. Wie der Titel ahnen lässt, führt die Handlung in Abgründe der Nazi-Vergangenheit. Dass Zweyer seine spannenden Fälle vor akribisch recherchiertem Geschichtshintergrund ausbreitet, verleiht seinen Krimis zusätzliche Tiefenschärfe. Die nunmehr abgeschlossene Trilogie ist ein achtbares Stück Ruhrgebiets-Literatur. (Grafit Verlag, 320 Seiten Paperback, 11 Euro)




Kleine Stadt und große Namen

Dieser Blog heißt ja im Untertitel „Kultur und mehr im Ruhrgebiet“, und deshalb soll hier einmal auf eine erstaunliche Einrichtung am Rande des Reviers hingewiesen werden: In der Kleinstadt Ennepetal im Süden des Ruhrgebiets, fast schon im Sauerland, gibt es eine „Kulturgemeinde“, die mit fast 2.000 Mitgliedern und einer fünfstelligen Besucherzahl im Jahr in einem ungewohnten Verhältnis zur Größe der Stadt steht.

Auch Lew Kopelew war zu Gast. (Foto: Steidl Verlag)

Der inzwischen pensionierte Lehrer Hartmut Köhler hat die einst kleine Gruppe groß gemacht, indem er meist prominente Referenten oder Musiker in seine „Gemeinde“ holte und dort bei freiem Eintritt auftreten ließ. Nur von Mitgliedsbeiträgen und Spenden an den Ausgangstüren wird diese Arbeit finanziert.

Lew Kopelew und Gerd Ruge, Martin Walser und die Schwestern Labeque, Arved Fuchs und Christian Quadflieg, Heiko Engelkes, Wolf Biermann, Frank Plasberg und Max Raabe, Justus Frantz oder das Leipziger Gewandhaus-Orchester und demnächst wieder Reinhold Messner stehen unter anderem auf der langen Gästeliste. Manche Beobachter rümpfen die Nase: Populärkultur und reine Konsumabende seien das, aber auch das ist Kultur im Ruhrgebiet. 50 bis 60 Veranstaltungen organisiert die Kulturgemeinde im Jahr, und dazu gehören auch Besuche in den Schauspiel- und Opernhäusern der umliegenden Großstädte.

Manche Referenten kommen übrigens gern immer wieder, und das liegt auch daran, dass sie im Privathaus der Köhlers wie Freunde begrüßt und bewirtet werden.

Hartmut Köhler (rechts) mit Christian Quadflieg. (Foto: Jo Schöler)




„Grau“ von Jasper Fforde: Ansichten einer künftigen Diktatur

Ein Mann sieht rot.  Das ist auch gut so, denn Eddie Russett lebt in einer Welt, in der Farbe zu einer Ware geworden ist, welche die soziale Hackordnung bestimmt. Eine Welt, in der Machtbefugnisse alleine darauf basieren, welche Farbe man wie gut sehen kann.

Der walisische Autor Jasper Fforde (weltbekannt geworden mit „Der Fall Jane Eyre“ und weiteren „Thursday next“-Romanen) baut in seinem neuen Roman „Grau“ eine perfekt entworfene fiktionale Welt, überbordend vor Ideenreichtum und Phantasie. In seiner Anti-Utopie veranschaulicht er erschreckend, wie eine Diktatur funktioniert, was sie sympathisch macht und was angreifbar. Zum Beispiel die unüberschätzbare Macht der Neugier und der Wahrheit.

Vor kurzem machte das Bochumer Literaturmagazin Macondo sich selbst und zahlreich erschienenen Zuhörern in der Bochumer Rotunde die Freude einer ganz besonderen Lust am Hören. Jasper Fforde, den Macondo seit Anfang begleitet, inszenierte gemeinsam mit dem Schauspieler und Sprecher Oliver Rohrbeck eine bilinguale Lesereise. Fforde las aus der englischen Originalfassung „Shades of grey“ , Rohrbeck aus der von Thomas Stegers klug übersetzten deutschsprachigen Version.

Fforde erzählte eingangs von einem Hamlet-Experiment der besonderen Art. Vor etlichen Jahren habe es ein Treffen zahlreicher Hamlet-Darsteller aus etlichen Ländern gegeben, die jeder in ihrer eigenen Sprache Teile der berühmten Monologe darboten und trotz des babylonischen Sprachgewirrs sich in ihrer Darbietung blind verstanden. In Bochum erlebten wir die Premiere eines ähnlichen Experiments, in dem Fforde und Rohrbeck  einen Dialog aus „Grau“ zweisprachig vortrugen – was in der Tat erstaunlich gut funktionierte. Oliver Rohrbeck – bekannt als deutsche Synchronstimme Ben Stillers und vor allem durch seine Rolle des Detektivs Justus Jonas in der Hörspielserie „die drei ???“ – hat auch das Hörbuch zu „Grau“ eingelesen. Wie sehr ihm der widerspenstige Eddie Russett ans Herz gewachsen ist, zeigte seine wirklich Spaß machende Darbietung, die für mich ruhig hätte länger sein dürfen.

Dafür gab Fforde über die Lesung der grauen Kapitel hinaus spannende Einblicke in sein Schaffen. Die Tatsache, dass das Publikum trotz der Sprachbarriere wie gebannt an seinen Lippen hing, unterstrich eindrucksvoll, dass dieser Mann wahrhaft ein geborener Erzähler ist. So erzählte er von seiner Freude an ausgefallenen Gedankenspielen mit der „cold logic of the nonsense of the world“. In seinen bisherigen Werken habe er immer mit etwas gespielt, was bereits im Kopf der Leser sei und dabei versucht, die Vergangenheit zu ändern. Mit der Trilogie um Eddie Russett versucht er nun erstmals, eine Zukunft zu formen. Erschreckend einfach sei es gewesen, eine Hierarchie zu erfinden. Auf die Farbwahrnehmung als Grundlage für eine neue Gesellschaftsordnung kam er, weil Farben im Grunde nutzlos sind. Nichts als ein gutes Beispiel für „the way, we make a sense of the world“.

So ganz lässt ihn die Vergangenheit jedoch nicht los. Auch in „Grau“ findet man Anspielungen auf frühere Werke, so mit dem „red room/ green room“ auf Jane Eyre. Fforde ist ein Autor , der nicht nur in seinem Romanen gerne zwischen Welten gratwandert. Die vorgeblichen Grenzen zwischen „U“- und „E “ Literatur interessieren ihn nicht,  ein Autor von seiner Belesenheit und seiner Sprachmächtigkeit lässt sich davon nicht im Geringsten beeindrucken. Satz des Abends: „I love silly things. Silly! Not stupid.“

„Grau“ ist ein Buch, welches den Leser zwar so manches Mal in seiner Abstrusität befremdet, in seiner Konsequenz und vor allem in seinem Wiedererkennungswert fast schon genial ist. Darüberhinaus ist Fforde definitiv „einer der Glücksfälle, in denen gute Literatur und sympathischer Autor zusammentreffen.“ (Zitat Macondo).

Stimmungsvolle Bilder des Abends, welche unter anderem auch zeigen,  welche Konzentration unsere  „Revierpassagen“ bei der Widmung erforderten, bei Macondo.

Jasper Fforde: „Grau“. Roman. Eichborn Verlag, 490 Seiten, €19,95

 




Was Georg Kreisler über Gelsenkirchen sang

Der famose,
unvergleichliche
Liederdichter,
Chansonnier,
Schriftsteller,
Vortragskünstler,
Kabarettist etc. etc.
Georg Kreisler ist mit 89 Jahren gestorben.

Am liebsten würde man sich weigern, diese Tatsache zu akzeptieren. Immer und immerzu diese Zumutungen des Todes, in diesem Falle eine monströse Zumutung. Können die höheren Mächte denn nicht mal über andere Maßnahmen nachdenken?

Wir wollen nicht sagen, er habe ein gesegnetes Alter erreicht, denn das hätte er selbst nicht hören mögen und wahrscheinlich sarkastisch beiseite gefegt. Auch ein schlichtes „Ruhe in Frieden“ hätte ihm wohl nicht gefallen. Überhaupt wollen wir nicht das Offenkundige nachbeten: dass er einer der ganz Großen gewesen ist. Stattdessen hier sein grandioses Lied über Gelsenkirchen.

P. S.: Sehe soeben, dass Stefan Laurin von den Ruhrbaronen auf die (für ein Revierblog) nicht eben fern liegende Idee mit diesem Lied gekommen ist. Manchmal laufen gedankliche Wege eben parallel, dann wieder gar nicht.

Eine von vielen hörenswerten Kreisler-Platten versammelt "Die alten, bösen Lieder" (Kip Records)

Eine von vielen hörenswerten Kreisler-Platten versammelt „Die alten, bösen Lieder“ (Kip Records)




Endlich im Museum: Blaubär, Arschloch und der Föhrer

Käpt’n Blaubär, dieser behäbig-gutmütige Lügenbär aus der „Sendung mit der Maus“?

Ist von ihm, Walter Moers.

Dann das Kleine Arschloch, diese respektlose Comic-Figur, ein Elfjähriger mit großer Nase und baumelndem Schniedelwutz?

Von ihm, Moers.

„Adolf, die kleine Nazi-Sau“, die scheiternde Witzfigur aus dem Clip „Der Bonker“?

Moers’ Idee.

Der Kontinent Zamonien, ein düster-sagenhafter Schauplatz einer ganzen Roman-Reihe – von Käpt’n Blaubärs Abenteuern für Erwachsene über Rumo bis zu einäugigen Buchlingen, die tief unter der Erde leben?

Eine grafische und wortgewaltige Schöpfung von: Moers.

Endlich darf Moers ins Museum

„7 ½ Leben“ hat Walter Moers schon hinter sich gebraucht – zumindest legt die gleichnamige Ausstellung in der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen das nahe.

Zum ersten Mal darf das Gesamtwerk des Zeichners, Grafikers, Autors ins Museum. Skizzen und Vorab-Collagen sind zu sehen, Storyboards und fertige Clips, Tuschezeichnungen, Objekte und Bücher.

Richtig: Bücher. An den Bänken sind Moers’ Romane befestigt. Wer viel Zeit mitbringt, kann so auch in der zamonischen Welt versinken, die Moers seit 1999 erschafft. Aus Text, besonderer Typografie und eingefügten Zeichnungen.

Bedrückend. Und heiter

Für seine Romane schafft Moers mit Tusche Szenen, die beides sind: bedrückend und heiter. Viele Figuren wirken lächerlich und verbreiten doch Angst und Schrecken. Das ist die Kunst seiner Fantasie: Alles kann jederzeit ins Gegenteil umschlagen – in die schrecklichsten Höllenqualen oder in ein rauschendes Fest.

Viele der Original-Zeichnungen sind auch in Oberhausen zu sehen. Und stellen den Betrachter vor eben dieses Rätsel: Sind das nun Endzeit-Visionen wie bei Pieter Bruegel? Angsteinflößende Kreaturen im Stil eines Gustave Doré? Oder spielt Moers nur wieder mit den Vorlagen?

Respektlosigkeit gegenüber da Vinci? Gerne doch!

Moers liebt die Persiflage. Ein paar Respektlosigkeiten gegenüber da Vinci, Rembrandt, Picasso, Munch und Miró? Sind immer drin. Moers imitiert die Werke, kopiert sich durch all die Stile der Kunstgeschichte und setzt immer sein Kleines Arschloch in die Mitte.

Auf die vermeintlich antike Vase, als goldverzierte Ikone, als Mona Lisa, als Schrei, als Warhol’sche Campbell-Dose – selbst als Snoopy-Ersatz auf der Hundehütte. Über dem letzten Bild schwebt die Denkblase: „Hier sollte eine heiter-besinnliche Schlusspointe stehen, aber mir fällt keine ein.“ Treffender und gemeiner kann man Charles M. Schulz’ Comics nicht entlarven.

Ein kotzender „Bürger von Calais“

Andererseits: Selbst bei Werken, die ihrerseits Tabus brachen, dreht Moers die Schraube noch etwas weiter. Bei Jeff Koons „Made in Heaven“ hockt das Kleine Arschloch in eindeutiger Pose vor der Frau, die sich auf dem Gras räkelt. Wenige Meter weiter würgt eine großnasige Steinfigur ihren Magen-Inhalt heraus, Moers‘ Version von Auguste Rodins „Bürger von Calais“.

Nicht umsonst warnt ein Schild: Dieser Teil der Ausstellung ist nur für Besucher ab 16 geeignet.

Harmlose Blaubär- und Hein-Blöd-Puppen

Harmlos dagegen geht es in einem anderen Gebäudeteil zu. Die Puppen von Käpt’n Blaubär und Hein Blöd sind ausgestellt. Ein Film zeigt, wie die Puppenspieler arbeiten, wie es hinter den Kulissen aussieht. So wird ganz nebenbei deutlich, wie Moers’ Ideen eben auch funktionieren: mit dem Kern erfolgreich sein, dann vermarkten – vom Musical bis zur Kuschelpuppe.

Es wäre allerdings unfair, Walter Moers auf den breiten Merchandising-Aspekt zu reduzieren. Zumal der personenscheue Künstler eher das neue Ufer sucht, als am alten Ausverkauf zu betreiben.

Was Moers in den 80ern schon konnte

Die „7 ½ Leben“ zeigen seine Entwicklung. Moers hatte zwar schon immer Talent im Zeichnen, im detaillieren Umsetzen und im textlichen Verdichten. Viele Ideen aus den späteren Romanen hatte Moers schon in den 80ern. Es brauchte allerdings Jahre, bis er den exakten Einsatz von Illustrationen und pseudo-wissenschaftlichen Grafiken dosieren konnte.

Harte Arbeit war das, davon zeugt das Tipp-Ex auf einigen Entwürfen, die in Oberhausen zu sehen sind. Am Ende jedoch kommt so etwas heraus wie das „Tratschwellen-Alphabet“. Das dem Betrachter einfach ein Lächeln abverlangen muss.
Mindestens.

Walter Moers‘ 7 1/2 Leben sind noch bis zum 15. Januar 2012 zu sehen. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46, geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Katalog 29 Euro.

 

(Eine ähnliche Version dieses Textes ist im Westfälischen Anzeiger erschienen).




Beckett, Bienen, inszenierte Archive – Martin Pages Künstlernovelle „Bienenzucht nach Samuel Beckett“

Jener Moran aus Becketts Roman „Molloy“, der den Auftrag hat, den Titelhelden ausfindig zu machen, betrachtet fasziniert den Flug der Bienen und ist „bestürzt über das verwickelte Gebilde dieses mannigfaltigen Tanzes.“ Im Verkehr der Insekten, die „keineswegs wie Menschen tanzen, um sich zu vergnügen, sondern auf andere Art“, entdeckt er „ein System von Zeichen“; er ordnet die „vielen verschiedenen Figuren und Rhythmen“ nach Klassen und interpretiert die Klangfarben ihres Gesummes, in welchem er „drei oder vier Höhenlagen“ ausmacht. „Das ist etwas, was ich mein Leben lang studieren kann, ohne es jemals zu ergründen.“

Literaturwissenschaftler mögen das Bienen-Motiv – außer in dem Roman „Molloy“ – auch an einigen weiteren Stellen in Samuel Becketts Werk entdeckt haben. Einer breiten Öffentlichkeit ist der Nobelpreisträger für Literatur (1969) jedoch nicht als Bienenzüchter bekannt. Auch in der soeben erschienenen Künstlernovelle „Bienenzucht nach Samuel Beckett“ von Martin Page bilden der weiße Overall und die Imkermaske nur eine von mehreren Kostümierungen, in denen der Schriftsteller auftritt. Bei der ersten Begegnung steht dem Ich-Erzähler folgender Beckett gegenüber: „Er hatte lange Haare und einen Bart. Er trug ein geblümtes Seidenhemd, eine schwarze Baumwollhose, Hausschuhe mit Schottenkaros und eine Schiffermütze“ – eindeutig nicht der Beckett, den wir von den Umschlagfotos unserer Suhrkamp-Taschenbücher kennen. Wir ahnen, dass der fiktionale Anteil in dem Tagebuch des Doktoranden, der kurzzeitig als Mitarbeiter des berühmten Samuel Beckett sein Geld verdient, beträchtlich sein muss.

Um Fiktion, genauer gesagt, um die Inszenierung des Lebens und des Nachlebens geht es auch bei dem, was Beckett und sein Helfer gemeinsam unternehmen. Forschungsinstitute an Universitäten in England, Irland und den USA sammeln Becketts Nachlass bereits zu dessen Lebzeiten. Beckett und sein neuer Mitarbeiter versorgen sie mit Informationen und Fehlinformationen. Ausgerechnet einen angehenden Anthropologen, der angibt, von Beckett neben „Warten auf Godot“ nur „Molloy“ gelesen zu haben, setzt Martin Page als Ich-Erzähler ein – ist es doch gerade Molloy in Becketts Roman, der rückblickend auf die Zeit seiner wissenschaftlichen Studien sagt, er habe sich „kurze Zeit mit der Anthropologie zu Tode gelangweilt.“

Langweilig wird es jedoch weder dem zwischen ausgelassenen Späßen und Resignation oszillierenden Beckett, noch seinem jungen Helfer, noch dem Leser von Martin Pages Novelle – woran auch der deutsche Übersetzer Gernot Krämer entscheidenden Anteil hat, dem es stets gelingt, die Leichtigkeit des Originals zu wahren, ohne bei seiner Wortwahl in Banalität abzugleiten, wozu das Erzählte manchmal verleiten könnte. Beispiel: Beckett beim Bowling. „Beckett warf seine Kugel mit Bestimmtheit. Seine Bewegungen waren geschmeidig, sein Fuß hielt genau an der Linie. Er war geschickt. Man sah, dass es ihm Spaß machte, die Kegel umzuwerfen.“

Etwas von der solipsistischen Behaglichkeit, die uns bei der Beckett-Lektüre berühren mag, überträgt sich auch durch Martin Pages Novelle. Beckett und sein Helfer mischen in die Pakete an die Forschungsinstitute einen Dildo aus dem Sexshop, falsche Schnurrbärte, nie benutzte Fahrkarten zu unsinnigen Reisezielen, und sie räsonieren dabei über Fetische oder die Verlässlichkeit wissenschaftlicher Forschung.

Das Umschlagen von Heiterkeit in Melancholie wird auch am Beispiel einer Theateraufführung von „Warten auf Godot“ im Gefängnis des schwedischen Städtchens Kumla im Jahr 1984 (der Gegenwart von Martin Pages Novelle) deutlich.

„Also? Wir gehen?“ – „Gehen wir!“ Auf der Bühne bewegen sich Vladimir und Estragon nach ihren berühmten Schlussworten nicht von der Stelle. Vier der fünf Gefängnisinsassen in Kumla jedoch, die nach dem großen Erfolg mit Becketts Stück auf Tournee gehen durften, fühlten sich ermuntert, nicht auf Godot zu warten, sondern zwischen einer Pressekonferenz und der Aufführung in Göteborg tatsächlich das Weite zu suchen. Als Beckett über den Regisseur Jan Jönson davon erfuhr, soll er in lautes Lachen ausgebrochen sein. So auch in Martin Pages Novelle, um allerdings gleich darauf die Chancenlosigkeit der Entflohenen zu beklagen. Ihr Ausbruchversuch werde alles noch schlimmer machen.

Während seiner beschwerlichen und unergiebigen Suche nach dem rätselhaften Molloy tröstet sich Becketts Romanfigur Moran mit Gedanken an die sonnenbeschienenen Bienenkörbe in seinem Garten. Jedoch scheitert er am Ende nicht allein in seinem Auftrag, Molloy aufzuspüren – bei seiner Rückkehr findet er auch im Bienenstock nur noch „ein Staubhäufchen von Flügeln und Ringen“ vor: „Man hatte sie den ganzen Winter hindurch draußen stehengelassen, ihnen den Honig genommen und ihnen keinen Zucker gegeben.“

Das ist nicht der Beckett, der Hawaiihemden, Kimonos, Cowboystiefel, exotische Hüte und Perlenkolliers trägt. Das ist der Beckett, der sich mit dem ersten Satz seines ersten Romans, „Murphy“, 1938 in die literarische Welt einschrieb. The sun shone, having no alternative, on the nothing new.

Für seine Studien über den Schwänzeltanz der Bienen als Sprachelement erhielt im tatsächlichen Leben der Verhaltensforscher Karl von Frisch 1973 den Nobelpreis für Physiologie / Medizin.

Martin Page: Bienenzucht nach Samuel Beckett. Aus dem Französischen übersetzt von Gernot Krämer. merz & solitude, Reihe Literatur. Stuttgart, Oktober 2011. Kartoniert, 80 Seiten, 15 Euro

Martin Page schrieb die Novelle 2009/2010 während eines Stipendienaufenthalts in der Akademie Schloss Solitude bei Stuttgart.

Erschienen ist der schöne Band im Oktober 2011 im Verlag merz & solitude, einer Kooperation der Akademie Schloss Solitude mit der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung Stuttgart.




Ernst Meister: An den Grenzen des Daseins

Aus der Münsteraner Ausstellung (siehe Hinweis am Ende des Beitrags): Ernst Meister, Selbstporträt o. J., Pastell ung Kohle auf Papier (Foto: LWL)

Aus der Münsteraner Ausstellung (siehe Hinweis am Ende des Beitrags): Ernst Meister, Selbstporträt o. J., Pastell ung Kohle auf Papier (Foto: LWL)

„Abend erscheint.
Rauchig ist die Stadt
meiner Mutter, rauchig
die Stadt meines Vaters
von den Eisenöfen.“

Was haben wir da? Ruhrgebietsliteratur der bodenständigen, realistischen Art? Eigentlich ganz und gar nicht, obwohl sich die Verse auf Hagen beziehen. Es handelt sich um den Anfang eines Gedichts von Ernst Meister (1911-1979), der dieser Stadt sein Lebtag treu geblieben ist – wie der Maler Emil Schumacher. Da könnte man fragen: Was hatte Hagen, was andere Ruhrgebiets-Kommunen nicht hatten? Aus all den weiteren Revierstädten haben sich die Größen doch zeitig verabschiedet.

So fassbar konkret wie im anfänglichen Zitat klingt es im gesamten Auswahlband der Gedichte (Bibliothek Suhrkamp) kaum noch einmal. Statt dessen geht es um Ganze der flüchtigen Existenz – vor dem allgegenwärtigen, übermächtigen Horizont des Todes.

Die von Peter Handke getroffene Auswahl ist zur 100. Wiederkehr des Geburtstages von Ernst Meister erschienen. Vorlage war die 17-bändige (!) Ausgabe sämtlicher Gedichte Meisters (Rimbaud-Verlag, Aachen).

Handke schreibt im knappen Vorwort, er habe sich „spontan für die Gedichte in diesem Buch entschieden“. In Meister, so steht zu vermuten, verehrt er einen Vorläufer. Apropos: Zu den wichtigsten und fruchtbarsten Einflusslinien der gesamten Literatur im Ruhrgebiet zählt sicherlich, dass der junge Nicolas Born (aus Duisburg stammend) sich an den bereits etablierten Hagener Meister wandte, um vom Älteren zu lernen.

Meister ist allerdings unvergleichlich. Er steuert immer aufs Wesentliche zu. Jeder Zeile merkt man an, wie lang sie bedacht sein muss. Also muss man ihr gleichfalls lang nachhorchen, nachsinnen.

Auch ahnt man, wie viele mögliche andere Zeilen im Verlauf des Dichtens entfallen sein müssen, bis die Essenz übrig blieb. Diese ungemein komprimierte Lyrik bewegt sich nah und näher am Saum des Schweigens. Vielfach werden pflanzliche Kreatur oder Steine zu Zeugen des Daseins aufgerufen.

Wie ein Schock wirkt es, wenn in diesen Kontext unversehens Alltäglichkeit drängt:

GUTE NACHT

Gute Nacht
sagen sie abends um sechs
im Sägewerk.

Und ein Mann geht heute,
grau von sprühendem Holz,
satt die kreischenden Blätter,

nach Haus,

wo sein Kind schreit,
weil es Grimmen hat
und nicht
schlafen kann.“

Sonst aber geht es gleich bis zu den Grenzlinien des Lebens. Als Leser mag man sich vorkommen wie der Passagier eines Fährmanns, der sich weit, weit hinaus gewagt hat. Doch man kann ihm dort draußen vertrauen, auch wenn seine Stimme – im Höchsten und Tiefsten der Sprache – gelegentlich stammelt, stockt und strauchelt. Wer könnte denn geläufig reden, wenn es um die letzten Dinge geht?

Noch lebend, glaubt das lyrische Ich, schon die Totenschuhe anzuhaben („Anderer Aufenthalt“), „Ein lebend Tödliches“ lautet der bezeichnende Titel eines anderem Gedichts, wobei solche Überschriften stets in Versalien (Großbuchstaben) gesetzt erscheinen.

So rasch rauscht hier das Leben vorüber, dass es immer schon fast vorbei ist, der Jahreslauf eilt so:

„Daß man sah
des Jahres Zeiten,
die Blume geöffnet,
das Tropfen der Früchte,
der Äste Starrn.“

Die Totenwelt ragt unabweisbar in die lebende hinein. Und doch bleibt diese Lyrik vollkommen irdisch und diesseitig, sie wirft ihre Worte nichts leichtfertig ins Jenseits, will nicht visionär übers hiesige Leben hinaus reichen. Auch das Gedenken an die verstorbenen Eltern bescheidet sich so:

„…Vater und Mutter zum Beispiel,

grabsäuberlich,
Leben beglichen.
Ach, der Gedankensohn.“

Zeilen, die interpretierend schwerlich zu erschöpfen sein werden. Meister ist in Zonen gesegelt, in denen Genie an Scharlatanerie grenzen und unversehens parodierbar werden könnte. Es scheint jedoch, als hätte er solche Klippen samt und sonders umschifft.

Man sollte ihn von Mal zu Mal, man sollte ihn wieder und wieder lesen.

Ernst Meister: „Gedichte“. Ausgewählt und mit einem Vorwort versehen von Peter Handke. Bibliothek Suhrkamp. 150 Seiten. 13,90 Euro.

Bildnerische Ergänzung: Das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte zu Münster zeigt noch bis zum 27. November 2011 eine Studio-Ausstellung mit Aquarellen und Zeichnungen von Ernst Meister (geöffnet Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr, Katalog mit Bestandsverzeichnis auf CD 19 Euro). Infos: http://lwl-landesmuseum-muenster.de




Nicht nur Vulkanasche – Die Lesenation Island war Ehrengast der Frankfurter Buchmesse

Riesige Leinwände mit den Porträts Lesender vor gut bestückten Bücherregalen geben Einblicke in isländische Wohnzimmer. Und wie da gelesen wird! Island ist das Land mit den meisten Büchern pro Einwohner. Die Projektionen im Island-Pavillon auf der Frankfurter Buchmesse, die man auf den ersten Blick für Dias hätte halten können, bewegen sich. So viel oder so wenig sich jemand bewegt, wenn die Lektüre ihn fesselt.
„Wir wollen das Wohnzimmer der Messe sein“, hatte sich Thomas Böhm, Literatur-Programmleiter des diesjährigen Buchmesse-Ehrengasts, vorgenommen. Das ist ihm gelungen. Der Island-Pavillon, eine komplette Etage des weitläufigen Forums, wurde mit Sesseln, Sofas, Perserteppichen, Kronleuchtern, einem Café und natürlich mit jeder Menge Bücherregalen ausgestattet, in denen die zahlreichen Neuerscheinungen isländischer Literatur bereitstehen – darunter 230 Übersetzungen, die in 111 deutschsprachigen Verlagen allein in diesem Jahr erschienen sind.
Island beweist der Welt, dass es auch anderes produzieren kann als Wolken von Vulkanasche. Das Land des höchsten Bücherkonsums pro Kopf bildet nicht nur eine Kultur von Lesenden, Island ist auch eine Nation produktiver Schriftsteller. Sehr viele von ihnen sind am Freitagabend zur großen Party im Island-Pavillon erschienen: Kristof Magnusson, Hallgrímur Helgasson, Steinunn Sigurdadottir, Sjón, Steinar Bragi standen im Gespräch mit deutschen Autoren wie Martin Mosebach oder dem Schauspieler Joachim Król, mit nationalen und internationalen Verlegern, Übersetzern, mit den Kritikern Denis Scheck, der Kritikerin Sigrid Löffler oder einem anderen der zahlreich erschienenen Medienvertreter.

Das Wohnzimmer der Buchmesse – der Island-Pavillon

Ab 17 Uhr, wenn sich die Frankfurter Buchmesse zur Partymeile wandelt, war der Island-Pavillon am Freitag das größte Ereignis. Ohne dabei zu protzen oder in staatlich verordneten Ritualen zu erstarren wie beispielsweise der Ehrengast China vor zwei Jahren. Man fühlte sich behaglich in der ungezwungenen Atmosphäre des Pavillons, der unaufdringlich für die Vorzüge des Gastlands zu werben verstand. Mit Fischsuppe, die Islands bekanntester Fernsehkoch auftischte, mit dem Schnaps, den Thomas Böhm verteilte, mit der Jazzband in einer Unterhaltungen eher fördernden als unterbindenden Lautstärke. Wer sich dennoch zum Chillen zurückziehen wollte, konnte in einem großen Kubus die isländische Landschaft von fünf Seiten auf sich einwirken lassen, konnte über Vulkankegel fliegen, zwischen Fischschwärmen im sicherlich eiskalten Wasser tauchen, um gleich darauf in heißen Quellen zu baden oder bei Streicherklängen im Licht der Mitternachtssonne durch Rejkyavík zu flanieren.

Infos und Schnaps teilt Thomas Böhm (rotes Jackett) freigiebig aus

Gegen 21 Uhr verlagerte sich die Party in den legendären „Sinkkasten“, eine Uraltdisko nahe der Zeil, wo die Independent-Verlage ihr Fest feierten. Nachdem dort Charlotte Roche (souverän) und Jakob Augstein (schlecht vorbereitet) die Preisverleihung der Hotlist moderiert hatten – den Hauptpreis erhielt die Frankfurter Verlagsanstalt für ein Buch von Nino Haratischwili; den Melusine-Huss-Preis bekam Stroemfeld für Peter Kurzecks neuestes Buch –, ging es auch im „Sinkkasten“ mit Island weiter. Der DJ, der die Gäste bis halb sechs morgens am Tanzen hielt, kam aus Rejkyavík.




Fiktive Bedrohung – Kettenreaktion im Ruhrgebiet

Einmal angenommen, in Nordrhein-Westfalen stünde ein Kernkraftwerk, welches tatsächlich ans Netz gegangen wäre. Angenommen, dieses Kernkraftwerk würde besetzt und das ganze Ruhrgebiet wäre von der Auslöschung bedroht, weil ein Superschurke und ein von Greenpeace gemobbter ehemaliger Schichtleiter die Finger am Knopf haben? Angenommen, die Krefelder Polizei hätte zeitgleich einen Mordfall, von dem ihnen nur ihr Bauchgefühl sagt, dass es ein Mordfall ist. Denn das Opfer ist zwar tot, es gibt nur dummerweise keine ersichtliche Todesursache.

Dies alles mal angenommen, haben wir die „Kettenreaktion“, den neuen Krimi von Sebastian Stammsen. Stammsen reihte sich im vergangen Jahr mit dem Computerspiel-Krimi „Gegen jede Regel“ in die Riege der erfolgreichen Ruhrpott-Krimi-Autoren ein. Er ist studierter Psychologe und war einige Jahre im baden-württembergischen Exil in der Kernenergieaufsicht tätig. Eine Kombination, die es ihm nahe legte, einen Krimi aus dem Umfeld der so genannten „Atommafia“ zu schreiben. Stammsen begann mit seinem Krimi im letzten Jahr, war Anfang 2011 im Groben „durch“ und ganz besonders stolz auf die eigentlich absurde Idee, auch noch einen Tsunami mit einzubauen. Dann passierte Fukushima und die Wirklichkeit übertraf seinen Roman um einiges. Also setzte er sich hin, strich als erstes den Tsunami, baute die Handlung um – noch realitätsnaher als im ersten Entwurf – und bezog sich in seinen Ausführungen zur Gefährlichkeit und zum latent schwebenden Risiko der Kernenergie auf den japanischen GAU.

Dann gab  es noch die Demonstrationen, es gab die Ausstiegsdebatte und schließlich sogar den Beschluss zum Ausstieg – all dies nunmehr brandaktuell in seinem Roman verarbeitet. Dabei hebt Stammsen nicht den Zeigefinger. Im Gegenteil – er lässt seinen Kommissar Wegener den Fall aus der Ich-Perspektive erzählen und nimmt sich als Autor so alle Freiheiten, die Geschichte in zuweilen erfrischend schnoddrigem Ton zu erzählen. Der eigentliche Plot gerät dadurch manchmal in den Hintergrund, auch regiert bei der Auflösung sehr der Kommissar Zufall. Allerdings wird schon aus dem Klappentext ersichtlich, dass es nicht Stammsens erklärte Absicht war, nur ein Genre einzuhalten.  Die wenigsten Leser wird dies stören. Auch wenn der Blutfaktor gegen Null geht – ob der gezeichneten Bedrohungsszenarien ist dem Leser gruselig und beklommen genug zumute. Umso dankbarer ist man, wenn Stammsen schmerzfrei und ohne falschen Respekt die Gelegenheit zu satirischen Seitenhieben nutzt. Sei es zur Kernenergie, „die seiner Einschätzung nach im Landtag ungefähr so viele Freunde hat wie die Hauptschule – gar keine“ oder sei es zu den Imageproblemen der Kanzlerin. Auf den Punkt gebracht und wirklich gelungen böse. So gekonnt, dass etliche seiner Anmerkungen jede Satire-Sendung aufwerten würden. Seine Charaktere sind alle gut gezeichnet, man hat den Ministerialbeamten ebenso vor Augen wie den prolligen anfänglichen Hauptverdächtigen, der „allerdings kein richtiger Mann war, sondern eher ein gealterter Halbstarker mit zerrissener Hose, Muskelshirt, verbrannten, aber muskulösen Oberarmen, jedoch ohne Deo“.

Markus Wegener ist ein Kommissar, den man gerne begleitet. Einer, in dessen Gegenwart man sich genauso sicher fühlen würde wie er sich unsicher beim Besuch des (fiktiven) Kernkraftwerks Neustadt unweit von Dortmund. Auch seine Partnerin Nina, sein Chef Reinhold, wie das ganze Team allsamt Protagonisten, mit denen der Leser gerne weitere Fälle löst.

Sebastian Stammsen, Kettenreaktion, Grafit-Verlag Dortmund 2011, 345 Seiten, 9,99 Euro.

 

 

 

 




Deutscher Buchpreis 2011 für ostdeutschen Familienroman

Es ist amtlich. Der vorher als haushoher Favorit gehandelte Eugen Ruge ist der Gewinner des  diesjährigen deutschen Buchpreises. Er gewann den angesehenen Preis für seinen Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Die Jury des Börsenvereins des deutschen Buchhandels begründete: „Es gelingt ihm, die Erfahrungen von vier Generationen über fünfzig Jahre hinweg in einer dramaturgisch raffinierten Komposition zu bändigen.“

„In Zeiten des abnehmenden Lichts“ erzählt Ruge anhand einer sich über 4 Generationen erstreckenden ostdeutschen Familiengeschichte das Epos vom allmählichen Untergang der DDR und der sozialistischen Ideologie. Kaleidoskopartig erzählt er in wechselnden Perspektiven von bröckelnden Mauern sowie vom bröckelnden Familienzusammenhalt. Mit der Geschichte des Powileit/Umnitzer-Clans bewahrt Ruge weite Teile der Geschichte seiner eigenen Familie. Einer Familie, die zum mit der Mauer untergegangenen intellektuellen DDR- Establishment gehörte, dem heutzutage keine größere historische Relevanz mehr zugebilligt wird.

Ist der Preis nun auch aus der Sicht der Zielgruppe, des Lesers gerechtfertigt? Zunächst ist heutzutage sicher jede Preisvergabe an einen Autor gerechtfertigt, der sich seinem Thema mit Herzblut verschrieben hat und nicht nur auf den schnellen Bestsellererfolg schielt. Ob die Preisvergabe diesem Buch und seinem Anliegen nun aber mehr schadet als nützt? Schon vorab wurde das Buch mit Vorschusslorbeeren überhäuft. Den Alfred-Döblin-Preis für das beste Manuskript erhielt Ruge bereits 2009, die Besprechungen in den Feuilletons waren hymnisch,  euphorisch wurden gar die ostdeutschen Buddenbrooks begrüßt.

Das Buch ist keine leichte Kost und verlangt dem Leser ob der ungeordneten Zeitsprünge und Perspektivwechsel ungeteilte Aufmerksamkeit ab. Ruge setzt in seiner Erzählung ganz auf präzise Beobachtung, es ist ihm wichtig, seinen Figuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Obwohl von einem melancholischen Unterton getragen, kommt seine Sprache unprätentiös, fast nüchtern daher. Der Leser bleibt während der Lektüre seltsam distanziert. Natürlich werden nur wenige dieses Buch emotionslos lesen, sind die historischen Ereignisse doch bei fast allen auch mit privaten Erinnerungen oder Familiengeschichten verknüpft. Umso mehr hätte man sich als Leser wenigstens eine Figur gewünscht, mit der man empathisch diese Geschichte hätte miterleben und miterleiden können. Die Zeit war sicher mehr als reif für einen unverstellten Blick auf die DDR, die Nöte aber auch die Freuden des Lebens dort. Dies literarisch bewahrt zu haben, ist das große Verdienst Eugen Ruges und macht „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ sicher zu einem der wichtigsten Bücher des Jahres. Definitiv kann der Autor für sich verbuchen, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar gemacht und dem wiedervereinigten Land ein umfassendes ostdeutsches Panorama geboten zu haben.

Dennoch bleibt die Befürchtung, dass nun viele dieses Buch kaufen oder verschenken, um es als „must have“ des Bücherherbstes demonstrativ ins Regal zu stellen. Nach der Lektüre bleibt man mit der Frage zurück: Wäre die Familie in einem anderen System glücklicher geworden? Nach der Vergabe des Buchpreises fragt man sich: Wäre Ruge ohne die Lobeshymnen mit seinem Werk glücklicher? Ich bezweifele, dass es seine Intention war, das ostdeutsche Komplementärwerk zu Thomas Manns Meisterstück vorzulegen. Was er vorgelegt hat, ist der derzeit gültige Roman zur deutschen Einheit aus ostdeutscher Sicht. Möglicherweise war dies der Konsens, der die Jury zur Vergabe des Preises an Ruge bewog.

Der Autor: Eugen Ruge kam 1958 mit seiner Familie zusammen nach Ost-Berlin. Sein Vater ist der bekannte Alt-Kommunist Wolfgang Ruge, der seinerzeit von den Sowjets in ein sibirisches Lager deportiert wurde. Eugen Ruge arbeitete zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1986 arbeitet er schriftstellerisch und wirkt seit 1989 hauptsächlich als Autor für Theater, Funk und Film. „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist sein Debütroman.

Eugen Ruge: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Roman. Rowohlt. 432 Seiten, €19,95




Serientäter in Bochum – der neue Krimi von Theo Pointner

Vier Jahre haben treue Leser warten müssen, bis Kommissarin Katharina Thalbach und ihre Kollegen von der Bochumer Kripo zum zehnten Mal ermitteln. Band 9 „Highscore“ endete mit einem Cliffhanger erster Güte. Die Frage, ob Ex-Mann und Sohn der smarten Kommissarin ein Attentat überlebt haben, blieb offen.

Autor Theo Pointner hatte ob dieser langen Wartezeit ein Einsehen und spannt seine Leser in Band 10  „Abgesang“ nicht allzu lange auf die Folter. Schon auf den ersten Seiten wird die drängende offene Frage aufgelöst. Doch viel Zeit haben Katharina Thalbach, ihr – zur Überraschung aller – neuer Chef Berthold Hofmann und das Team nicht, sich um ihr Privatleben zu kümmern. Eine widerwärtige Mordserie hält Bochum in Atem. Ein Psychopath von äußerst brutalen Ausmaßen mordet erst das Kind und dann die Mutter. Ein 15jähriges Mädchen wird erstochen, bei der Mutter fand eine fast schon rituelle Tötung statt.

Ausgerechnet die Thalbach, sonst bei jeder Ermittlung ruhe- und rastlos getrieben, engagiert sich diesmal nur halbherzig. Zu sehr nehmen drängende Fragen ihres Privatlebens sie in Beschlag und lassen sie fast schon verzweifeln an der von ihr gewählten Art der Lebensführung. Als dann ein fünfjähriger Junge verschwindet, muss alles Private zurückstehen, denn nun ist klar: Die Bochumer Kripo hat es mit einem Serientäter zu tun und ihr läuft die Zeit davon.

„Abgesang“ ist ein handwerklich gut gemachter Krimi. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Es steht Krimi drauf, es ist Krimi drin und keine Mogelpackung. Solide und ehrlich, so wie man es auch den Menschen im Ruhrgebiet nachsagt. Glücklicherweise gehört „Abgesang“ jedoch nicht zu den Ruhrpott-Krimis, die nur vom Lokalkolorit leben. Für den heimischen Leser ist es sicher schön,  ihm wohlbekannte Schauplätze liebevoll gezeichnet im Roman beschrieben zu bekommen. Die Handlung könnte jedoch auch überall sonst in Deutschland angesiedelt sein, was Pointner und den Krimiprofis vom Dortmunder Grafit Verlag wünschenswerterweise eine Leserschaft über die Grenzen des Reviers hinaus erschließen könnte.

Pointner hält im Roman die Spannung und ein gutes sprachliches Niveau. Gelegentlich fällt ihm das Umgangssprachliche schwer, aber in der Regel schaut er sehr genau hin. Seine Figuren – ob Bildungsbürger oder angelernte Hilfskraft – überzeugen. Die privaten Probleme, mit denen die sympathische Kommissarin hadert, sind stets nachvollziehbar und mit ihrem drohendem Burnout auch auf der Höhe der Zeit.  Dem Aufbau des Plots tut es gut, den Mörder selbst zwischendurch immer wieder als Ich-Erzähler zu Wort kommen zu lassen, ohne überflüssige Hinweise auf seine Identität zu geben.. Die verquere Gedankenwelt des Täters wird dadurch ein wenig nachvollziehbarer für den Leser. Dessen Identität kommt die Thalbach noch vor dem ausgesprochen blutigen Finale – welches die Meßlatte von Slaughters Belladonna locker überspringt – auf die Schliche. Nach der Entlarvung ist die Versuchung groß, zurückzublättern, um nachzusehen, an welcher Stelle genau er sich schon verraten hat.

Der gebürtige Bochumer Theo Pointner ist studierter Betriebswissenschaftler und als solcher Leiter des Medizin-Controllings eines Krankenhauses im Ruhrgebiet. Als Autor ist auch er ein Serientäter. Mit nunmehr zehn Bänden um Katharina Thalbach hat er sich eine treue Fangemeinde erschrieben. So nett er allerdings eingangs zu seinen Lesern war, den offenen Plot aus dem Vorgänger-Buch aufzulösen, so sehr wird er die Fans von Katharina Thalbach mit dem wiederum offenen Ende von „Abgesang“ verstören. Es bleibt nur zu hoffen, dass der Titel des Buches nicht schon das Programm für die Zukunft ist.

Theo Pointner: „Abgesang“. Kriminalroman, Grafit-Verlag, Dortmund, 313 Seiten, 9,99 Euro.

 




Löwenhaftes oder: Mitteilbarkeit des Nicht-Mitteilbaren

Zwei, drei Tage lang hat mich „Blumenberg“ begleitet, dieses neue Buch der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, wodurch und weswegen ich fortan dankbar dafür bin, dass es sie und ihre Sprache, ihre Art des Schreibens, gibt. Lewitscharoffs Roman hat mich begleitet und begleitet mich noch, fast so wie im Buch der Löwe den Blumenberg.

Sehr gut hat mir schon das kräftige, das atmende erste Kapitel gefallen, so gut, dass ich spontan innehalten, den Romanfortgang in der Schwebe lassen wollte, um den eröffneten Spielraum des Möglichen durch zwangsläufig immer größer werdende Bestimmtheit nicht allzu schnell antasten zu lassen. Andererseits wollte ich meiner Neugier zugestehen noch etwas mehr zu erfahren und geriet sogleich verlockt ins 2. Kapitel.

Und so hatte ich alsbald beides vor dem inneren Auge: a) den hier durchweg vornamenslos bleibenden Philosophen (Hans) Blumenberg, dem laut Roman von einem genau bestimmten Zeitpunkt ab unversehens und unverfügbar – und fortan weiter, vor allem des Nachts – ein Löwe „habhaft, fellhaft, gelb“ und untrüglich erschien, weder bloß halluziniert noch bloß geträumt, und b) vier seiner studentischen Schüler… , also Richard, Gerhard, Hansi, Isa, deren je eigene Geschichte innerhalb eines eigens für sie eingeflochtenen, eigenen Gegenwarts-Erzählstranges dem gesamten, keineswegs zu umfangreichen Roman eine noch größere Dichte, Komplexität und auch Schauplatzvielfalt verleihen hilft.

Den Lewitscharoffschen Grundeinfall, den mit dem Löwen, empfand ich (vielleicht merkwürdigerweise) zu keinem Zeitpunkt als befremdlich; wohl auch wegen der zahlreichen Löwengeschichten, die mir sogleich selbst in den Sinn schossen, noch bevor einige davon und noch andere als die von mir assoziierten im Roman selbst erwähnt wurden; vor allem aber auch, weil ich von Kindheit an, genauer von meinem 9. Lebensjahr an, Erich Kästners Roman „Der 35. Mai“ besonders hoch schätze und bis heute sehr gerne habe. Da nämlich taucht sehr bald am Anfang ein arbeitslos gewordenes, überraschenderweise sprechendes Zirkuspferd auf Rollschuhen, namens Negro Kaballo, auf, in der oberen Etagenwohnung des Apothekers Ringelhuth, der gerade seinen Neffen Konrad – im Nebenertrag auch zu dessen Schulaufgabenhilfe – zu Besuch hat, und weicht nicht mehr von deren Seite; begleitet beide vielmehr auf ihrer phantastischen, wirksam Schulaufgabennöte beheben sollenden Reise durch den Kleiderschrank hindurch in die Südsee.

Etwa im gleichen Lebensalter, dem neunten also, las ich in einem mir zum Geburtstag geschenkten Band, „Die schönsten Sagen des Mittelalters“, unter anderem auch eine Nacherzählung von Hartmann von Aues „Iwein, der Ritter mit dem Löwen“, die mich sehr gefesselt hat, lange bevor ich den mittelhochdeutschen Text Hartmanns erstmals zu Gesicht bekam. (Wie sehr freute ich mich noch vor einigen Jahren, als diese Kindheitsvorliebe durch die Schriftstellerin Felicitas Hoppe bei mir ganz wunderbar aufgefrischt wurde durch ihr ganz wundervolles Buch „Iwein Löwenritter“!) Schließlich wurde ich durch Lewitscharoffs Buchthema erinnert an eine ganz andere Philosophengeschichte eines anderen zeitgenössischen, nach seinem relativ frühem Tod uns heute leider nicht mehr ganz so gegenwärtigen Schriftsteller, an Gert Hofmanns Romanerzählung „Veilchenfeld“. Und – erst nachträglich – fand ich heraus, dass auch Hans Blumenberg selber ein (unfertiges?) Buch hinterlassen hat, das unter dem Titel „Löwen“ als Band der Bibliothek Suhrkamp herausgegeben worden ist.

All dies und noch mehr – z. B. meine Erinnerung an von mir bereits gelesene Blumenberg-Bücher und an Mitteilungen über Blumenberg, die ich von zweien, ehedem bei ihm Studierenden bzw. in einem Fall über Georg Simmel bei ihm Promovierenden, einst beiläufig bekommen habe – schoss so spontan zusammen.

Und so oder doch so ähnlich mag es jedem und jeder gehen, die jeweils ein neues Buch lesen. Wir lesen uns immer selber mit und jede(r) nachgerade ein anderes Buch.

Was es mit dem auf einmal in seinem nächtlichen Arbeitszimmer auftauchenden Löwen für eine Bewandtnis habe, fragt sich detailliert spürsinnig, indem er von der einen selbstgegebenen, meist vorläufigen, nie endgültigen Antwort zur nächsten übergeht, Blumenberg schon im ersten Kapitel. Hier platt und plan das Ergebnis zu benennen, bei dem er sich dennoch nach und nach beruhigt, brächte nicht wirklich etwas, da das Suchen nach einer Antwort zu jener weitestgehend umfassenden Antwort hinzugehört, die nur die ganze Erzählung zu geben vermag. Fast nur Blumenberg – und das in wenigen Abständen immer wieder – nimmt diesen für ihn selber unverkennbar empirisch erfahrbaren und doch gewissermaßen aus metaphysischen, wenn nicht aus phantastischen Spären herrührenden Löwen sinnlich wahr. Nur eine einzige weitere Person, eine hochbetagte Nonne namens Käthe Mehliss bekommt an einem anderen Ort, den Blumenberg eines alten erkrankten Freundes wegen besucht, unversehens Blumenberg u n d seinen sonst für andere unsichtbaren Löwen spontan existenzbeglaubigend zu Gesicht. Nur diese Nonne, sonst niemand. Blumenberg hat sonst keinen, – weder in seinem engsten, noch in seinem weitesten Umkreis -, dem er arglos, ohne arg missverstanden zu werden, auch nur irgendetwas über diese mirakulöse Erscheinung, die vielleicht am zulässigsten als Epiphanie zu bezeichnen wäre, mitteilen könnte. Bei einem, wie er meint, ihm längst vertrauten Journalisten versucht er es zumindest ansatzweise dennoch, aber, wie sich bald zeigt, völlig vergebens.

„Der Einbruch des Absoluten war nicht mitteilbar. Er hätte nur Ratlosigkeit erzeugt.“, heißt es auf der Seite 146 des Romans, indirekt damit wohl auch ein resignatives Eingeständnis der fiktiv-realen Blumenbergfigur hinsichtlich möglicher Mitteilbarkeit dokumentierend. Zugleich jedoch mag dies eine tendenziell verallgemeinerbare, allgemeingültige Aussage über die religiöse und metaphy-sische Situation unserer Zeit insgesamt darstellen.

Dennoch: Lewitscharoff (bzw. der Erzähler in Lewitscharoffs Roman) gibt sich mit dieser Situation der Zeit, der als Faktum unterstellten gegenwärtigen Situation von Philosophie und Religion erzählerisch nicht zufrieden. Wo der diskursiv argumentative Weg (allgemein und nicht nur für einen immerhin agnostischen Philosophen à la Blumenberg) versperrt ist, bleibt der erzählerische Weg allein noch offen; eine besondere Art der i n d i r e k t e n Mitteilung sonach.

So etwas schwingt auch dann mit, abermals indirekt, wenn erstmals im Roman von Blumenbergs gezieltem Auflegen einer ganz bestimmten Schallplatte die Rede ist: von einer von Arturo Bene-detti Michelangeli eingespielten Schubert-Klaviersonate nämlich (wahrscheinlich der dreisätzigen in a-moll, was aber nicht direkt gesagt wird). Da heißt es unter anderem: „Das Zucken in Benedetti Michelangelis Mönchsgesicht war wieder präsent, das er einmal in einer Aufzeichnung gesehen hatte, auch dessen Äußerung, jeder wirkliche Ton sei noch unendlich weit vom möglichen entfernt, und es tue weh, mit dem Mangel auszukommen.“ (S.86)

Heißt das nicht umgekehrt auch, dass in jedem wirklichen Ton das Mögliche, das absolut gesehen Mögliche, das mit höchstem Anspruch Mögliche zumindest aufscheint, selbst wenn es sich als vollends Gegenwärtiges, als allenfalls visionär schon Mitgehörtes, auch noch so sehr und zwar scheinbar unabdingbar entzieht? Vor allem hier im Bereich der ernstgenommenen Musik, vielleicht sogar in Entsprechung dazu überhaupt in den heiter-ernsten Künsten, auch den erzählenden, und z. T. auch in der Philosophie, ist mitunter noch immer – gleichsam g e g e n die Zeit, die längst auch schon die Philosophie und die Künste zeitgeistig erfasst hat bzw. infiziert haben mag – vom durchscheinend Metaphysischen die Rede, und sei’s auch nur eher beiläufig und wie nebenbei. Rein spielerisch – könnte man meinen.

In Lewitscharoffs Roman bricht nicht nur symbolisch bzw. in exklusiver fragmentarischer Realität – da den allermeisten im Roman nach wie vor verborgen – d a s  A b s o l u t e durch, sondern meldet sich erschreckend häufig und durchaus verstörend in seiner antiidyllischen Gegenläufigkeit immer wieder auch d e r  T o d, zumal in den dem Erzählungshauptstrang hinzugesellten, z. T. sehr spannungsvoll und pointiert erzählten Geschichten von den unterschiedlichen Schicksalen der vier jungen als Blumenbergianer oder Blumenberg-Fans apostrophierbaren Blumenbergstudent…en Isa, Richard, Hansi und Gerhard.

„Blumenberg“ ist unverkennbar ein Roman, in dem es ganz entschieden um die letzten Dinge, also ganz entscheidend um Leben und um Tod geht. Erstaunlich nur, wie leicht und fast schwerelos er sich dennoch lesen lässt. Und wie stark und manchmal sogar bis ins Komische hinein lebendig sein Realitätsbezug bleibt.

Ein gängiger, üblicher und geläufiger Roman könnte auf der Seite 202 schon aufhören. Nicht aber ein Lewitscharoffscher. Sibylle Lewitscharoff bleibt ihrem mit dem ersten Kapitel einsetzenden Thema treu und schreibt so doch noch ein allerletztes Kapitel n a c h dem Schlusskapitel mental gängiger Art und macht dieses zunächst naheliegend letzte Kapitel zu einem nur vorläufig letzten. In dem nun allerletzten Kapitel mit dem an Platon und Hieronymus gemahnenden Titel „Im Inneren der Höhle“ (S. 203 – S. 216) kommt es bezeichnenderweise wiederum vor allem auf die allerletzten Passagen an und dann schließlich auf den allerletzten Satz; der sich allerdings nur aus dem Zusammenhang des Ganzen erschließt und so auf das Ganze zurückweist.

Der Genuss der Lektüre ist noch nicht zu Ende, wir können wieder von vorne beginnen.

Sibylle Lewitscharoff: „Blumenberg“. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin. 220 Seiten, 21,90 Euro.




„Der Seiltänzer“: Ein Priester in Westfalen

Die Abschaffung des Zölibats und Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – das sind die Kernforderungen einer Aufsehen erregenden Predigt, die der Priester Andreas Wingert in seiner Gemeinde hält. Wochen später sieht er sich selbst mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert und steht unvermutet vor einem Scherbenhaufen. Klugen Rat und Hilfe erhofft er sich – wie so oft in seinem Leben – von seinem besten Freund Thomas. Doch dieser liegt ausgerechnet jetzt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus.

Nach einem Besuch bei Thomas begibt sich Andreas auf eine Autofahrt kreuz und quer durch Westfalen, von Münster bis ins tiefste Sauerland. Diese Fahrtwird insgesamt 5 Stunden dauern. In diesen 5 Stunden erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, an die seitdem bestehende Lebensfreundschaft mit Thomas, an die gemeinsamen Erlebnisse ihrer Studienjahre in Berlin, Köln und Bonn, Wales und München. Danach schlagen die Freunde sehr unterschiedliche Wege ein. Thomas heiratet, gründet in Münster eine Familie und macht als Geisteswissenschaftler Karriere. Andreas hingegen geht ins Paderborner Priesterseminar und wählt die Kirche als Lebenspartnerin, „viel zickiger, viel strenger, viel unberechenbarer“, als ein Ehepartner sein könnte, wohl wissend „dass es kein ungefährlicher Bund für ihn“ ist. Schon immer fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche, ist er sich sicher, dass der Glaube sein Sicherheitsnetz sein kann, „über dem das Seil aufgespannt ist“.

Mit „Der Seiltänzer“ legt Michael Göring ein mutiges Buch zu einem brandaktuellen Thema vor. Auf zwei Zeitebenen vermittelt er in einer klaren, fast nüchternen Sprache ein  eindringliches Bild der Probleme und Anfechtungen, welche in unserer Zeit ungut in das Leben einzelner als auch der Gemeinschaft eingreifen. Die Missbrauchsvorwürfe sind zwar das vordergründige Thema, doch Michael Göring zeigt anhand des Konfliktes anschaulich, zu welch vergifteter Atmosphäre und zu welch verhärteten Fronten übereifriges Denunziantentum, Kollektivschuld-Vermutung und Generalverdacht führen können. Göring selbst betont, dass er einen Entwicklungsroman habe schreiben wollen und keine theologische Streitschrift. Dennoch erzählt er eben nicht nur von Wendepunkten und Anfechtungen des Alltags, sondern auch von religiöser Berufung und der Gratwanderung eines Priesters. Nicht zuletzt die Deutschland-Visite des Papstes hat gezeigt, wie viele Menschen sich nach religiöser Orientierung sehnen, sich aber auch an den Dogmen der katholischen Kirche reiben. Schon deshalb ist diesem Buch nicht nur Erfolg, sondern auch Diskussion zu wünschen.

Als Dreingabe neben all diesen „schweren“ Themen macht der Autor sich aber auch noch um etwas anderes verdient. Auch wenn die Hauptschauplätze des Romans fiktive Namen tragen, Göring zeichnet mit wenigen Worten ein Bild der alten BRD und fängt die Atmosphäre des zweigeteilten Landes unverfälscht ein. Vor allem die in Westfalen und im Sauerland spielenden Passagen werden auch für viele Revierbürger einen hohen Wiedererkennungswert haben.

Zum Schluss verliert der Roman etwas von seinem Schwung, nicht nur die Dialoge wirken auf einmal zu bemüht. Um es westfälisch zu sagen, das Ende war mir zu verschwurbelt und passte nicht zur klaren Sprache des Buches.

INFO:

Der Autor Michael Göring leitet als Vorsitzender des Vorstandes die ZEIT Stiftung Ebelin und Bucerius in Hamburg. Darüber hinaus ist er Honorarprofessor am Institut für Kultur und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Der Mitte September erschienene Seiltänzer ist – nach vielen Fachpublikationen – sein erster Roman.

Michael Göring: „Der Seiltänzer“. Verlag Hoffmann und Campe, 352 Seiten, 19,99 Euro.

Verlagsseite zum Buch: http://www.hoffmann-und-campe.de/go/der-seiltaenzer

 

 




Zweierlei Spiel

Der im Jahr 2010 bei Anagrama in Barcelona posthum veröffentlichte Roman „Das Dritte Reich“ von Roberto Bolaño ist jetzt bei Hanser in gediegener, auch rein äußerlich ansprechender Ausgabe in der Übersetzung Christian Hansens erstmals auf Deutsch erschienen. Schon 1989 wurde dieser Roman von Roberto Bolaño vorläufig abgeschlossen; in seinem Nachlass fand sich die maßgebliche Schreibmaschinenfassung, auf der die jeweiligen Bucheditionen auf Spanisch und Deutsch, in Original- wie Übersetzungssprache, fußen.

Der über 300 Seiten starke, tagebuchartig geschriebene Roman liest sich übrigens ganz anders als der nur zunächst missverständliche und dann doch zutreffende Titel „Das Dritte Reich“ es uns erwarten lässt. Schnell drin ist man in dieser Lektüre; und sie gelingt auch weiterhin mühelos.

Zwei Paare aus Deutschland, Udo und Ingeborg aus Stuttgart sowie Hanna und Charly aus Oberhausen, verbringen ihren Sommerurlaub in zwei verschiedenen Hotels eines vom Tourismus geprägten Ortes an der spanischen Küste in der Nähe von Barcelona, kennen sich vorher nicht, lernen sich im Urlaub mehr oder weniger kennen.

Eine Urlaubsgeschichte also? Ja und nein.

Man sollte sie nicht unbedingt schon im Urlaub lesen, lieber erst danach.

Udo Berger, 25 Jahre alt, macht mit seiner Freundin Ingeborg nicht den Urlaub, den man – zumal für den ersten gemeinsamen Urlaub – erwarten könnte: Er ist nur ganz selten am Strand, meistens hält er sich allein in seinem Hotelzimmer auf und beschäftigt sich vordringlich und geradezu arbeitsmäßig mit einem wochenlang andauernden Brettspiel, einem Kriegsspiel, des Namens „Das Dritte Reich“. Er, der Landesmeister in diesem Sport genannten Spiel, will nämlich unter anderem einen Artikel für eine Fachzeitschrift über neue zielführende Varianten dieses Spiels schreiben. Ehe Charly, der versierte Surfer, beim Windsurfen im Meer plötzlich unauffindbar verloren geht, ehe Hanna nach Oberhausen abreist und ehe auch Ingeborg den spanischen Küstenort wieder in Richtung Heimat verlässt, während Udo – vorgeblich zur etwaigen Identifizierung des verschollenen, wahrscheinlich zu Tode gekommenen, noch immer nicht aufgefundenen Charly – am Ort allein zurückbleibt, erfahren wir nicht allzu viele Details zum Spiel, das den Verlauf des 2. Weltkrieges in Europa imaginär je nach Spielerglück und strategischer Fähigkeit des jeweiligen Spielers (und Udo ist der amtierende Landesmeister) neu zu gestalten vermag.
Ein Tretbootsverleiher am Strand, der wegen seiner erschreckenden körperlichen Entstellung immer nur „der Verbrannte“ genannt wird, entwickelt sich zwischendurch – gleichsam aus dem Stand – zu einem Mit- und Gegenspieler des Udoschen Spiels. Zu einem zunächst harmlos erscheinenden, lange unterschätzten, schließlich übermächtig werdenden Gegner. Vielleicht zu einem Feind?

Erwähnt sei, dass noch einige andere geheimnisvolle und wichtige Personen in diesem Roman vorkommen und die Figurenkonstellation noch etwas dichter machen, abgesehen von dem Zimmermädchen Clarita und dem Nachtportier vor allem noch fünf weitere: die attraktive 35jährige Hotelchefin Frau Else und ihr geheimnisvoll im Hintergrund bleibender todkranker Mann, des weiteren die beiden spanischen Gelegenheitsbekannten des deutschen Urlaubsquartetts, El Lobo und El Cordero, sowie Conrad, der daheimgebliebene Freund und Telephonpartner Udos in Stuttgart.

Udo ergeht es wegen seines Spiels übrigens manchmal genauso wie vielleicht dem Buch Bolaños bei noch uneingeweihten, immerhin potentiellen Leser…n wegen seines Titels: Er wird des öfteren irrigerweise für einen Nazi gehalten, der den verlorenen Weltkrieg im Spiel nachträglich gewinnen will. Und wirklich hat er im Spiel die Position der Deutschen eingenommen und sein schließlicher Gegenspieler, der Entstellte, spielt den Part der Alliierten. Und es sieht so aus, als könnte der aus der Geschichte des 2. Weltkriegs bekannte Verlauf des Krieges auf Grund der strategischen und taktischen Fähigkeiten des professionellen Spielers entscheidend verändert werden und der Kriegsausgang schließlich ein anderer sein. Es ist aber der Verbrannte, der außenseiterische Anfänger, der schließlich überraschend doch gewinnt und so zu einem den geschichtlichen Resultaten ähnlichem Ergebnis gelangt, mit spezifisch der Figurenkonstellation des Romans geschuldeten Implikationen.

Mindestens zweierlei, wenn nicht dreierlei scheint mir in diesem interessanten und gut lesbaren Roman besonders wichtig zu sein. a) RB entwickelt in diesem relativen Frühwerk schon eine bestimmte Version seines Spiels mit Erzählschlüssen. Im Verlauf des Erzählens wird ein ganz bestimmter Schluss (bzw. ganz bestimmte Schlüsse) plausibel, fast zwingend nahegelegt; selbst wenn diese Schlüsse nun, wie es schließlich der Fall ist, nicht faktisch die des Romans sind, werden sie von uns Leser…n dennoch nicht vergessen und wirken gedanklich und atmosphärisch nach. b) Am Ende des Romans scheint Udo Berger, der auf den ersten Blick Gescheiterte, kein Spieler mehr zu sein; wir erinnern uns aber, dass er ja der Schreiber dieses Tagebuchromans ist und zwischendurch einen – bei Interpreten oft auf Unverständnis stoßenden, wie ich jedoch meine, durchaus verräterisch aufschlussreichen – Vergleich von deutschen Generälen als Militärstrategen mit ganz bestimmten deutschsprachigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gewagt hat. Man versuche doch einmal daraufhin das Kapitel „Meine Lieblingsgeneräle“ (S.248ff) ansatzweise parabolisch zu lesen. Was hier über die Verfahrensweisen beim Spielen dieses Kriegsspiels gesagt wird, wäre in Parallele zu setzen zu den Verfahren der genannten Schriftsteller. Auch die Romane, die RB fortan (also nach 1989) selber noch zu schreiben gedenkt, unterliegen den hier auf den Seiten 248f. angedeuteten vielfältigen Verfahrensweisen des Spiels. In diesem Sinne ist auch schon „Die Naziliteratur in Amerika“ und nicht erst „Die wilden Detektive“ und „2666“ ein großes Spiel, das die Offenheit für Varianten kennt. Wir erinnern uns, dass schon Cortázars großer „Rayuela“-Roman sich als ein Spiel gegeben hat, das an das uns meistens aus der Kindheit bekannte Hüpfspiel „Himmel und Hölle“ anknüpft.

Man wird es mir wohl kaum verargen, dass ich während der Schilderungen des Duells zwischen Udo Berger und dem Verbrannten im Roman mich auch an berühmte Schach-Duelle in Prosaerzählung (Zweigs „Schachnovelle“) und Film (Ingmar Bergmans „Das Siebente Siegel“) erinnert gefühlt habe; zumal die Ähnlichkeit des Kriegspiels „Das Dritte Reich“ mit dem allbekannten Schachspiel – in der Art nämlich, dass es dieses an Komplexität sogar noch weit übersteige – eigens und ausdrücklich im Roman selbst genannt wird.

Keine schlechte Pointe dieses ersten Bolaño-Romans scheint mir die zu sein, dass der Spieler A (der Kriegsspiel-Spieler) sich im Prozess fortlaufenden Tagebuchschreibens zuguterletzt in Spieler B (den Schriftsteller) verwandelt hat; und dass diese Verwandlung Bolaño, der A und B in Personalunion in sich vereinte, bereits mit seinem allerersten Roman und nicht erst beträchtlich später überzeugend gelungen ist.

Roberto Bolaño: „Das Dritte Reich“. Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen. Hanser Verlag, München. 320 Seiten, 21,90 €.




Mensch, werde nebensächlich!

Gerade an den Rändern des Alltags, im Unscheinbaren, kann sich unvermittelt das Wesentliche zeigen. Diese Erfahrung lässt sich, Zeile für Zeile, vielleicht bei keinem anderen Autor so verdichtet erleben wie bei Wilhelm Genazino. Hinter jeder Wegbiegung kann bei ihm schier alles geschehen. Doch weit ausgreifende Weltentwürfe sind hier nicht zu haben. Warum denn auch?

Genazinos neuer Roman „Wenn wir Tiere wären“ erkundet abermals rätselvolle Vorfälle im undeutlichen Weichbild der Stadt und in den Untiefen der Beziehungen mit gewohnter Diskretion, ja sogar Scheu, hinter der sich freilich scharfe Präzision verbirgt. Mit sanftmütiger, fast schon phlegmatisch erschlaffender Ruhe wird hier auch das Ungeheuerliche gesagt.

Wieder einmal hatte ich mir vorgenommen, mit möglichst wenigen Notizen und Anstreichungen auszukommen, doch bei Genazino drängt es einen immer wieder, dies und das und auch noch jenes für sich festzuhalten – und schon ist man erneut im Bleistiftgebiet angelangt.

Ich-Erzähler ist diesmal ein freischaffender Architekt, dem kein Name zugeschrieben wird. Die „Handlung“ setzt ein, als dessen Kollege Michael Autz mit 42 Jahren am Infarkt gestorben ist. Der Mann hatte ihm den einen oder anderen Auftrag vermittelt. Die aus dem etwaigen Ausbleiben solcher Vergünstigungen resultierende Unsicherheit bildet einen Grundakkord des Buches. Alles begibt sich auf schwankendem Boden. Der Erzähler stellt ernüchtert fest: „Noch dazu war ich in ein Alter vorgestoßen, in dem das Leben keine nennenswert neuen Fakten mehr hervorbrachte.“

Trug einst ein Genazino-Buch den Titel „Die Liebesblödigkeit“, so ist diesmal von „Liebesgenügsamkeit“ die Rede, die keine Pläne mehr, sondern nur noch kraftlose Befürchtungen hegt: „Eine meiner heftigsten Ängste bestand darin, dass die Liebe mehr und mehr in die Versorgung abwanderte.“

Am liebsten keine Arbeit u n d keinen Urlaub mehr. Am liebsten fast gar nichts mehr erleben – oder nur noch karg dosiert: „Gab es auch eine Zeitung für Erlebnisüberdrüssige? Die hätte ich mir sofort gekauft. Ich musste mich hüten vor zu viel überflüssigen Erlebnissen. Die Hälfte dessen, was ich erlebte, wäre für mich ausreichend gewesen (…) Mein Hauptanliegen war die allgemeine Lebensersparnis.“

Dreifach offenbart sich das Ungenügen in weiblicher Gestalt: Da ist die Ex-Ehefrau Thea, die den Architekten aufs Peinlichste anpumpt, um ihren Zahnersatz bezahlen zu können. Da ist die gegenwärtige Gefährtin Maria, eine heimliche Alkoholikerin, die auf spießigen Luxus aus ist und nach kläglichen Gelegenheiten schielt wie jener, preiswert Austern im Hertie-Tiefgeschoss zu schlürfen. Und da ist Autz‘ anlehnungsbedürftige Witwe Karin, die sich geneigt zeigt, dem Überlebenden anzugehören…

In größter Unentschiedenheit tapert, trudelt und taumelt der Erzähler durch die (Vor)-Stadt. Sein Blick gleitet über scheinbar nebensächliche Dinge. Ringsum zeigen sich Signale des Vergehens, des Verschleißes, der Verwahrlosung, der Verirrung, der Verlassenheit, des Verzagens. „Der Wunsch nach Flucht war vermutlich der beständigste Impuls meines Lebens. Es gab so gut wie nichts, wovor ich nicht hätte fliehen wollen…“

Inmitten der tagtäglichen Zumutungen, des Erduldens allgegenwärtiger Hässlichkeit, scheinen immer wieder für Momente Bilder der Tierwelt auf. Krähenkrallen werden unversehens zum „Sinnbild für das ewige Sich-herumschleppen aller Lebewesen“, ein andermal registriert der Erzähler dankbar die unverhoffte Erscheinung zweier Schwäne, die die Autobahn überfliegen. Oder er sinniert: „Mir gefiel der lauernd-vorsichtige Lebensstil der Parkplatztiere. Ein Eichhörnchen hielt nach drei, vier Sprüngen inne und lauschte in die Umgebung. Zwei Elstern setzten sich auf die Spitze einer Bogenlampe und sahen auf den Parkplatz herunter.“

Es sind dies vielleicht Momente einer möglichen Deutlichkeit, einer Verheißung von Schönheit gar, mit der man der allgemeinen „Lebensunklarheit“ und Überforderung begegnen könnte.

Als ritte ihn der Teufel, ahmt der Erzähler einen Coup des verstorbenen Kollegen Autz nach, um den Kreislauf zu durchbrechen: Mit den Daten eines gefundenen Ausweises Waren bestellen und postlagernd abholen. Doch im Gegensatz zu Autz wird er gestellt und kommt für kurze Zeit ins Gefängnis.

Die Schilderung dieses Freiheitsentzuges ist einerseits niederschmetternd: „Plötzlich hatte ich Kontakt mit meinem Tod. Er roch nach Gefängnis und ältlichem Sperma.“ Andererseits bedeutet das Gefangensein Entlastung: „E i n Vorteil des Alleinlebens im Gefängnis war: man wurde nicht gefragt, wo man tagsüber gewesen war.“

Wegen Geringfügigkeit wird das Verfahren eingestellt. Wegen Geringfügigkeit!

Doch halt! Enthält nicht gerade das Geringfügige Spuren von Hoffnung? Ein letztes Zitat: „…dass Menschen (wie ich) deswegen zufrieden (glücklich) sind, weil sie lächerliche Details im Kopf ausbauen und dadurch die Nebensachen zu inneren Hauptsachen machen konnten. Es war eine Haupttätigkeit des Glücks, die ihm gemäßen Nebensachen zu finden.“ Zum Beispiel: Schamhaarausfall. Man lese nach und finde nichts mehr lächerlich, sondern nahezu alles rührend komisch.

Nach Lektüre dieses sonder- und wunderbaren Buches möchte man fast glauben, dass dies ein Ausweg wäre.

Wilhelm Genazino: „Wenn wir Tiere wären“. Roman. Hanser Verlag. 159 Seiten. 17,90 Euro.




Auf Beutezug im Revier – neue Kurzkrimis aus dem Ruhrgebiet

In der Reihe Mordlandschaften des KBV-Verlags ist der zweite Band mit Kurzkrimis aus dem Ruhrgebiet erschienen. Nach der erfolgreichen Anthologie „Hängen im Schacht“ hat Krimi-Experte H. P. Karr erneut ausgewiesene Krimi-Experten auf einen Streifzug durch das mörderische Ruhrgebiet geschickt. Betitelt ist das Buch mit dem leicht abgenutzten Ruhrgebiets-Kalauer  „Schicht im Schacht“.

24 Autoren haben das Revier von Dortmund bis Duisburg nach literarischen Verbrechen durchsucht und reichlichst Beute gemacht. Es gibt Krimis über Malocher und Macker, unter und über Tage. Das Verbrechen blüht im Landschaftspark Duisburg genau wie in der Hattinger Altstadt und selbstverständlich auch auf dem „Ruhrschleichweg“ A 40. Vielfach ausgezeichnete Autoren haben sich in den kriminellen Untergrund unseres Reviers begeben: Jörg Juretzka, Horst Bieber, Peter Schmidt und der Gründer des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ Herbert Knorr, um nur einige der bekannteren zu nennen.

Der Leser bekommt, was er erwartet. Zwar soll das Ruhrgebiet zwischen gestern und heute gezeigt werden, doch man scheut sich auch nicht, Ruhrgebiets-Klischees zu bedienen. Vielfach wird immer noch ein düsteres und schmuddeliges Bild der Region gezeichnet.

Einige Geschichten sind durchaus spannend, unterhaltsam auch durch skurril-komische Überzeichung. Hervorzuheben wären da „ZEN in der Kunst des Absahnens“ von Gerd Herholz sowie mein persönlicher Favorit, die Rotlichtballade „On the Road to hell oder als Herr Simanjec einmal tot war“ von Nina George. Andere wiederum haben selbst in der Kürze erhebliche Längen oder kommen einem sehr bekannt vor.

Das Buch steht unter dem Motto „Wenn nix mehr geht, dann iss Schicht im Schacht“.  Es ist anzunehmen, dass es eine Fortsetzung über kurz oder lang geben wird. Eine Extraschicht Aktualität wäre wünschenswert. Für kurzweilige Unterhaltung – häppchenweise genossen – ist die Anthologie dennoch gut geeignet.

Zum Buch gibt es einen Blog, in welchem Hintergründe zur Entstehung, zu den Krimis und zu den Autoren sorgfältig zusammengestellt sind. Weniger gelungen fand ich jedoch die dortige Einleitung, man möchte mit dieser Anthologie nunmehr im Jahr eins nach der Kulturhauptstadt die kriminelle Bilanz ziehen. Vor dem Hintergrund der tragischen Ereignisse bei der Loveparade hinterlässt diese Formulierung ein mehr als ungutes Gefühl und ist sicher überdenkenswert.

Herausgegeben wurde die Anthologie im KBV Verlag vom Autor und WDR-Krimi-Experten H. P. Karr, der in den Neunzigern mit seiner Figur Gonzo Gonschorekt einige lokale Berühmtheit erlangte.

„Schicht im Schacht“ (Hrsg. H. P. Karr). KBV Verlags-und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim. 278 Seiten, € 9,90




Eine Liebe im Schatten der Ideologie

Das erste, was der Leser des neuen Buches von Barbara Honigmann wahrnimmt, ist das Bild eines schlanken und großen Radfahrers. Im Hintergrund scheint sich, der Wolkenbildung nach zu urteilen, ein Gewitter anzukündigen. Die rechte Hand hält der direkt auf den Betrachter zuradelnde Mann an die Stirn. Wahrscheinlich hat er, wie die Autorin später im Buch mutmaßen wird, wieder einmal Kopfschmerzen.

Vor allem daran erinnert sich Barbara Honigmann, die das von ihr selbst gemalte Bild ihres früheren Geliebten auf dem Cover ihres Buches zeigt: dass der Mann so dürr und lang war, oft Migräne hatte und sich schnell aus dem Staub machte, wenn es ernst wurde und die Frauen, die ihn umschwirrten wie Motten das Licht, seine intellektuelle Abkapselung durchdringen wollten. „Wenn ich an A. denke“, schreibt Honigmann, „bin ich verletzt, beleidigt, fühle mich abgewiesen und ausgenutzt, er ist mir fern, fremd, unverständlich, und ich liebe ihn. Wir sind, wie man so sagt, im Bösen auseinander gegangen. Unversöhnt. A. ist jetzt tot.“

„Bilder von A.“ heißt das Buch. Es ist, wie alle Bücher der jüdischen Autorin, die 1984 die DDR verließ und ins französische Straßburg zog, ein auf das Nötigste komprimiertes Bändchen. Es gibt kein überflüssiges Wort, keine erklärenden Umschreibungen. Nur die flüchtigen Erinnerungen, die Bilder und Briefe, die sie noch von jenem Mann hat, den sie A. nennt, spielen eine Rolle.

A., das ist nicht allzu schwer zu dechiffrieren, ist Adolf Dresen, der im Jahre 2001 verstorbene Theater- und Opern-Regisseur, Vater von Filmregisseur Andreas Dresen. Die beiden, was Temperament und Alter angeht, völlig verschiedenen Künstler lernten sich bei einem Kleist-Projekt kennen. Barbara Honigmann war damals eine junge, unbekannte Dramaturgin, Dresen ein in der DDR hoch angesehener Bühnenguru. Zusammen entwickelten sie Ideen für mehrere Kleist-Inszenierungen, Text-Abende und Konzerte. Doch während die von Dresen arrangierten Inszenierungen („Prinz von Homburg“, „Der zerbrochene Krug“) den Beifall der Zensoren fanden und noch jahrelang auf dem Programm standen, wurden die von Honigmann eingeübten Aufführungen (ein Kinder-Kleist-Stück und ein musikalisch-kritischer Kleist-Abend) nach den ersten Vorstellungen abgesagt. Die aufmüpfige Jung-Regisseurin wurde gefeuert. Damit war zwar die Theater-Karriere von Honigmann beendet, die Liebesaffäre mit dem verheirateten Dresen aber noch lange nicht.

Ausführlich und ungeschminkt von den Schwierigkeiten und Verletzungen dieser Liebesgeschichte zu erzählen, würde vielleicht voyeuristische Neugier wecken. Doch das interessiert Barbara Honigmann keinen Moment. Ihr geht es darum, das exemplarische Scheitern einer Liebe vor dem Hintergrund der ideologischen Katastrophen und religiösen Widersprüche zu zeigen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben.

Barbara Honigmann hat schon mehrfach („Damals, dann und danach“, „Roman von einem Kinde“, „Eine Liebe aus nichts“, „Alles, alles Liebe!“) ihre Lebensgeschichte für fiktive Verwirrspiele benutzt, hat davon erzählt, wie ihre kommunistischen Eltern aus dem englischen Exil in die DDR kamen, um den Sozialismus aufzubauen – und dafür ihre jüdischen Geschichte über Bord warfen und verdrängten. Honigmann hat berichtet, wie sie ihr Judentum wiederentdeckte, antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war und schließlich nach Frankreich auswanderte. Seitdem blickt sie von dort, kritisch und mahnend, auf Deutschland.

Wer die Zukunft gestalten will, muss die Vergangenheit verstehen. Für die Autorin heißt das: sich vergegenwärtigen, warum der Kommunist Dresen seiner Geliebten das Judentum ausreden wollte, warum er ihr, damals in Ostberlin genauso wie später in unzähligen Briefen, unterstellte, sie hätte sich nur aus Unzufriedenheit mit dem realen Sozialismus der DDR, quasi als antisozialistische Attitüde zum Judentum bekannt. „Warum reitest Du immer auf den jüdischen Dingen herum“, hat A. in einem Brief gefragt. Doch da war die Liebe zwischen den beiden schon längst zerbrochen, hatte sich die junge Frau längst aus den Fängen der intellektuellen Bevormundung befreit und auf den Weg in ein eigenes Leben gemacht. Spätestens da wusste Barbara Honigmann auch, dass die Deutschen und die Juden noch lange brauchen würden, bis sie den anderen verstehen.

Barbara Honigmann: „Bilder von A.“ Hanser Verlag, München. 137 Seiten, 16,90 Euro.




KAUM Gedicht

K a u m

Als ich vierzehn war
sagte mein Vater
er habe Furcht
ich hätte kein Gefühl
da ich
außer Balladen
erkennbar
kaum Gedichte mochte.

Als ich achtzehn war
bedeuteten mir Trakls
Schwermut und Sprachklang
viel
und Hölderlins
heilige Nüchternheit
kaum weniger.

Als ich zwanzig war
drängte ich mich
selber verwegen ins Gedicht
und verstummte
kaum ehe ich begann.

Heute mit fünfzig und mehr
f i n d e ich noch immer –
Gesuchtes
und Ungesuchtes.




Geschichten vom Herrn Kaum (5)

Herr Kaum und Roberto Bolaños neueste posthume Bücher

Dass sich Herr Kaum seit „2666“ für die Bücher von Roberto Bolaño interessiert, ist längst kein Geheimnis mehr. So kam, als er im August gerade in Salzburg war, die deutsche Übersetzung des frühen, nachgelassenen Bolaño-Romans „Das Dritte Reich“ soeben neu heraus und lag in stattlicher Anzahl und in Form einer schon äußerlich ansprechenden Ausgabe des Hanser Verlags deutlich sichtbar in der Rupertus-Buchhandlung und auch bei Höllriegel aus.

Anfang September in Florenz nun fand Herr Kaum überraschend eine 2011 bei Anagrama in Barcelona erschienene, insofern also originalsprachige Ausgabe von „Los sinsabores del verdadero policía“ vor, bedauerlicherweise zum stolzen Preis von 23,00 €. Da es sich aber um das einzige in der sehr großen Florentiner Buchhandlung zur Verfügung stehende Exemplar handelte und da ein trotz behutsam gewaltiger Beseitigungsanstrengungen des Verkäufers offenbar unentfernbarer Hässlichkeitsfleck über die Seiten 153 bis 266 hinweg auf der inneren Außenseite des Buches (wie heißt doch gleich der Fachausdruck?) bleibend zu sehen war, dachte Herr Kaum, das Buch vielleicht etwas billiger bekommen zu können. Der Verkäufer jedoch beharrte auf dem vollen Preis.

Stunden später ging Herr Kaum nochmals in dieses Schatzhaus der Bücher hinein, griff sich den Band aus dem Regal – der Verkäufer vom Vormittag war nicht mehr da – , ging schnurstracks aus dem ersten Stock zur Kasse im Erdgeschoss, verwies stumm, aber erkennbar zahlen wollend auf den bösen Fleck und bekam sofort von der Kassiererin 3,45 € Preisnachlass.




Perry Rhodan wird 50 (plus dreitausendirgendwas)

Gibt es in der Literaturgeschichte ein größeres Prosawerk? Rund 150.000 Seiten sind es inzwischen (wobei die zweispaltig gedruckte Perry-Rhodan-Seite redliche 4.320 Zeichen enthält – ca. dreimal so viel wie die Standardseiten der meisten Buchverlage). Der Roman, der längst schon gigantische Dimensionen angenommen hat, wächst wöchentlich weiter.

Doch nicht allein in seinem Umfang sticht das Werk aus allem Bekannten hervor. Die erzählte Zeit der Perry-Rhodan-Heftserie reicht vom Jahr 1971 unserer vertrauten Zeitrechnung bis „gegenwärtig“ ins Jahr 1469 NGZ. Die Abkürzung steht für die Neue Galaktische Zeitrechnung, die im Jahr 3588 beginnen wird, weil nicht alle Völker des vereinten Galaktikums mit „Christus“ etwas anfangen können. Mehr als dreitausend Jahre an der Seite Perry Rhodans konnte der treue Leser seit 1961 live mitverfolgen. Hinzu kommen Zeitreisen bis ins Jahr 20.059.813 v. Chr. Da kann keine episch noch so breit angelegte Familiensaga des 19. oder 20. Jahrhunderts mithalten.

Und die Handlungsschauplätze? Die Milchstraße, ferne Galaxien, das versteht sich in einer SF-Serie von selbst. Daneben aber geraten die Kosmonauten immer wieder in Paralleluniversen im Sinne der Viele-Welten-Interpretation. Also auch als Weltroman dürfte Perry Rhodan kaum zu überbieten sein. Tausende verschiedener Völker sind mit ihren physiologischen, sprachlichen und kulturellen Besonderheiten zum Teil sehr phantasievoll beschrieben.

Die Romanfiguren? Neben dem relativ unsterblichen Perry Rhodan und seinen im Lauf der dreitausend Jahre leider nicht immer unsterblichen Frauen taucht in der Heftserie durchgängig ein Arsenal nicht nur terranischer Hauptpersonen auf, wie Atlan, Gucky, Icho Tolot, Alaska Saedelaere, Reginald Bull (um nur wenige zu nennen). Aber auch von den zahlreichen Nebenfiguren (11.199 Personen insgesamt listet derzeit die Internet-Enzyklopädie „Perrypedia“ auf) werden in einzelnen Heften immer wieder einige zu Protagonisten erhoben.

Wie bescheiden im Vergleich zu Perry Rhodan nimmt sich dagegen Balzacs Projekt aus, in 137 Romanen und Erzählungen seiner Comédie humaine (von denen der Balzac 91 fertigstellen konnte), ein Gesamtbild der Gesellschaft im Frankreich seiner Zeit zu entwerfen. Aber Balzac arbeitete allein. An den bis heute 2.612 Heften der Perry Rhodan-Hauptreihe, die am 8. September 2011 ihren 50. Geburtstag feiert, haben mehr als vierzig Autoren geschrieben (Nebenreihen wie „Atlan“ oder „PR-Action“ sowie PR- und Atlan-Taschenbücher mitgerechnet, sind es mehr als siebzig).

Im Unterschied zu anderen Heftserien wie Jerry Cotton oder Geisterjäger John Sinclair handelt es sich bei Perry Rhodan nicht um eine Reihung isolierter Abenteuer, die der Held zu bestehen hat, sondern um eine seit nunmehr fünfzig Jahren kontinuierlich fortgeschriebene Handlung, wenn auch mit verschiedenen Handlungssträngen. Ein solches Großunternehmen kann es sich gut und gern erlauben, die Hauptfigur auch mal über fünf Wochen (300 Seiten) aus den Augen zu verlieren oder nur beiläufig daran zu

Perry-Rhodan Clubausweis von 1968

erinnern, dass wir Perry Rhodan lesen; in dem Stil: Was macht eigentlich Perry, während wir hier Sol – die heimische Sonne – und ihre besiedelten Planeten und Monde verteidigen? Perry ist dann mit weit universelleren Aufgaben beschäftigt. Er sorgt zum Beispiel dafür, dass das Raum-Zeit-Kontinuum nicht den mehrdimensionalen Bach runtergeht. Er sichert die Naturgesetze des Einstein-Universums und rettet Milliarden von Völkern aus Millionen Galaxien davor, spurlos im Hyperraum zu verwehen. Meistens mit Erfolg.

Mit Hilfe einer Zeitreise startet er das vorwitzige Unternehmen, die Negasphäre zu verhindern, die von den Chaosmächten in der Lokalen Gruppe implantiert werden soll. „Ich sehe zerschundene Raumzeit, höre das Heulen der Schwerkraft und den Schrei der Materie, die niederfährt in die Kluft.“ (Wim Vandemaan, Heft 2490, S. 10)

Der Raum selbst ist krank, und ein Geradeaus-Fliegen unmöglich. „Alles hier verschwimmt, als ob das Licht auf irrwitzigen Umwegen zu uns kommen müsste“ … „als schlüge ihm eine Front aus gebeugtem Licht in irren Wellen entgegen.“ (Horst Hoffmann, Heft 2428, S. 9)

Chaotarchen und Kosmokraten liegen seit Jahrmilliarden im Clinch. Perry und die Seinen agieren dazwischen. Letztlich geht es bei dem Dauerkampf nicht um „Gut“ gegen „Böse“, da sowohl Ordnung als auch Chaos in ihrer Radikalität „das Leben an sich“ gefährden. „Savoire wunderte sich wieder einmal, wie wenig sich Chaos und Ordnung im Prinzip voneinander unterschieden.“ (Uwe Anton, Heft 2480, S. 48)

Natürlich findet auch der größte aller Romanzyklen seine Kritiker, die ganz unverschämt die Frage aufwerfen: Ist das überhaupt Literatur? Na, sicher! Was denn sonst! Um den literarischen Status der Serie zu legitimieren, bedarf es nicht erst des Hinweises, dass auch namhafte, in der „Hochliteratur“ verankerte Autoren wie Andreas Eschbach oder Gisbert Haefs gelegentlich am großen Perry-Rhodan-Epos mitschreiben.
Paraflimmern, Schwingenraumer, Schwerkraftverwirbelungen, Dimensionenschwund, Karrenschleicher, psychoparasitärer Befall, Gravitationsweiden, Proto-Negasphäre, Matten-Willy, Energietaucher, Metaläufer, Gestaltwandler, Mosaikintelligenz, Schwebepolster, Drangwäsche, mentales Wasserzeichen, Vital-Signaturen, donnerblau, pseudomaterielle Objekte oder ein Leichengleiter, der als futuristischer Leichenwagen unseren Weg kreuzt, sind nur einige der allpräsenten Wortneuschöpfungen aus der Serie. Viele Begriffe erklären sich wie Formenergie anschaulich auch ohne Translatoren. Bei der Terminalen Kolonne TRAITOR, bei der Frequenz-Monarchie oder den Qualnäer Keretzen leiten wir schon aus dem Klang ihres Namens ab, dass sie unbequeme Gegner sein werden. Dürfen wir hingegen – mag man sich fragen – „Halbspur-Changeur“ als Schimpfwort benutzen, ohne uns in unserem Standarduniversum eine Beleidigungsklage einzuhandeln?

Viele Völker des Universums beherrschen die galaktische Verkehrssprache, das Interkosmo. Manche Wesen aber kommunizieren auf keine uns bekannte Weise: „Millionen und Abermillionen Nanosekunden später vernahm es einen fernen Widerhall, zart und schwebend. Es setzte sich auf seine Spur. Oh, sie hatten sich bestens verkappt, diese Signale. Sie kamen in den irrwitzigsten Tarnungen daher. Sie wisperten wie Quantenschaum, sie lärmten wie Jetströme, sie waren solarer Wind und das Rieseln aus feinsten Rissen in den Membranen zum Dakkarraum, und sie waren alles dies zugleich.“ (Wim Vandemaan, Heft 2433, S. 48).

Immer wieder geraten Akteure in andere Dimensionen, Zeitebenen, parallele Welten: „Die stoffliche Welt war, von diesem versetzten Energieniveau aus erfahren, nur ein schemenhaftes Lichterspiel. Umrisse verschwammen, alles war wie von einer überschäumenden Glorie umgeben. Dennoch fiel es ihm nicht schwer, sich hinter dem Schleier zu orientieren. Er war es gewohnt.“ (Wim Vandemaan, Heft 2433, S. 49)
Nicht zuletzt sind die Hefte ein wöchentlicher Seelentrip oder bewirken zumindest „eine leichte, metareale Touchierung“ (2533, S. 39). Um es mit dem Weisen Davin Abangy zu sagen: „Hier erfahren Interessierte, was sie sind und wer sie sind. Es mag ein paar Jahrhunderte intensivster Verinnerlichung dauern – aber es funktioniert.“ (Michael Marcus Thurner, Heft 2435, S. 47)

Der Aufbruch mancher Sternenreisender mündet jedoch oft auch in der Feststellung, wie universal manche terranischen Eigenarten sind. Alte deutsche Spruchweisheiten findet man Millionen von Lichtjahren entfernt – den kulturellen oder physiognomischen Besonderheiten der Fremden angepasst – wieder. Es werden in Variationen und mehr Dimensionen überall die gleichen Spiele gespielt, und viele Völker haben ihre Schlagerbarden oder holografierten Fernsehtanten, die einen irgendwie an ein irdisches Vorbild erinnern. Auch Chefs, Enthüllungsjournalisten, Sektenführer und Militärs ähneln sich in allen Sternhaufen und zu allen Zeiten. Und wenn sich die Abgeordneten der galaktischen Völker zu einem Kongress versammeln, könnte eine EU-Ratssitzung als Vorbild gedient haben.




Ins Herz der juristischen Finsternis

Zunächst scheint alles ganz klar: Der seit Jahren in Deutschland lebende und arbeitende Italiener Fabrizio Collini erschießt in einem Berliner Luxushotel den Großindustriellen Hans Meyer. Der Mörder ruft selbst die Polizei und gesteht die Tat.

Danach aber verfällt er in tiefes Schweigen. Vor allem zum Motiv seiner Mordtat will er sich nicht äußern. Wenn Anwalt Caspar Leinen, dem die Pflichtverteidigung des vermeintlichen Mörders zugewiesen wird, gehofft haben könnte, „Der Fall Collini“ sei ein leicht abzuwickelnder juristischer Selbstläufer, sieht er sich schnell getäuscht. Doch nicht nur, dass die Motive der Tat im Dunkeln liegen, macht ihm zu schaffen. Auch dass der Anwalt das Mordopfer kannte und Hans Meyer in seiner Jugend verehrt hat wie einen Vater, wird für Caspar Leinen zu einer schweren Belastung. Denn er ahnt bald, dass ihm im Fall Collini einige unangenehme Wahrheiten bevorstehen, die ihn in die Abgründe der eigenen Biografie und der deutschen Geschichte führen werden.

Natürlich sind die Romanfigur Caspar Leinen und der Autor Ferdinand von Schirach nicht identisch. Aber sie haben doch einiges gemein. Der 1964 in München geborene von Schirach arbeitet seit 1994 als Strafverteidiger in Berlin, verteidigt Mörder und Drogendealer, kleine und große Wirtschafts- und Polit-Kriminelle. Dass von Schirach genauso akribisch an der Wahrheitsfindung interessiert ist wie seine literarischen Figuren, davon zeugen die Erzählbände „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010), mit denen der schreibende Anwalt die Bestseller-Listen stürmte, den angesehenen Kleist-Preis erhielt und sich schlagartig in die erste Reihe deutscher Literaten katapultierte. Der lakonische Ton, die kühle Distanz und die Genauigkeit seiner wie mit einem Seziermesser aufs Papier geritzten Erzählungen erinnern an die Short-Stories von Raymond Chandler. Gespannt durfte man sein, wie er sein literarisches Besteck auf der Langstrecke eines Romans beherrscht. Und in welche juristischen und menschlichen Labyrinthe er sich wohl diesmal begibt.

Dass sich der Autor auf ein Gebiet wagt, das ihm wie ein biografischer Klotz am Bein hängt und über das er öffentlich nur ungern spricht, ehrt ihn. Es muss ihm zugleich wie eine Befreiung vorgekommen sein. Denn mit dem „Fall Collini“ taucht nicht nur die literarische Figur Caspar Leinen, sondern auch der schreibende Enkel des verurteilten NS-Verbrechers Baldur von Schirach in die Zeit des Nationalsozialismus, des Hitler-Krieges und des Massenmordes ein. Der von Fabrizio Collini erschossene Hans Meyer war nämlich, wie Caspar Leinen nach beschwerlichen Recherchen und staubigen Exkursionen in deutschen Archiven herausfindet, nicht nur der von ihm geliebte gutmütige alte Mann und der in Wirtschaftskreisen hoch angesehene Industrielle. Er hatte auch eine mörderische Nazi-Vergangenheit. Als „SS-Sturmbannführer“ hatte Meyer in Italien Erschießungen veranlasst und Schuld auf sich geladen. Aber er hatte, obwohl Collini ihn schon vor Jahrzehnten als Mörder seiner Familie angezeigt hatte, nie dafür büßen müssen. Die Tat galt als verjährt, die Schuld als unerheblich. Dafür hatten die von ehemaligen Nazis ins bundesdeutsche Gesetzbuch geschmuggelten Bestimmungen gesorgt.

Ferdinand von Schirach nimmt den Leser mit auf eine Reise ins Herz der juristischen Finsternis. Denn seinem Alter Ego Caspar Leinen geht es darum, die Mordmotive aufzuklären und die Schwere der Schuld seines Mandanten zu eruieren. Wenn es um die Beschreibung der juristischen Fallstricke und die Aufklärung der Nazi-Verbrechen geht, ist der Autor in seinem Element. Doch so präzise er hier ist, so klischeehaft geraten ihm die menschelnden Einschübe in seine Mord- und Rache-Geschichte. Caspar Leinen erinnert sich an seine unbeschwerten Kindertage mit Philipp, seinem früh verstorbenen Freund und Enkel von Hans Meyer. Und daran, wie er sich in Philipps Schwester Johanna verliebte, dieselbe Johanna, die jetzt nicht verstehen kann, warum Caspar den Mörder ihres Großvaters verteidigt, die ihm schwere Vorwürfe macht – und dann doch mit ihm ins Bett geht. Der Leser könnte gut auf diese banalen Erinnerungssequenzen und erotischen Gemeinplätze verzichten. Aber dann wäre aus dem Roman vielleicht doch nur wieder eine Erzählung geworden.

Ferdinand von Schirach: „Der Fall Collini“. Roman. Piper, München, 2011, 197 S., 16,99 Euro.

Als Hörbuch: Ungekürzte Lesung von Burghard Klaußner. Osterwold, 3 CD, 19,99 Euro.

Infos:
+ Ferdinand von Schirach, geboren 1964 in München, Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach.
+ Seit 1994 Strafverteidiger in Berlin.
+ Betrat mit den Erzählbänden „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) die literarische Bühne.
+ „Der Fall Collini“ ist der erste Roman des Autors.
+ Kleist-Preis für „Verbrechen“ 2010.
+ Doris Dörrie arbeitet an der Verfilmung einer Geschichte aus „Verbrechen“.
+ Das ZDF plant eine Serie mit Filmversionen der Erzählungen.
+ Unter dem Titel „Einspruch“ schreibt von Schirach regelmäßig Kolumnen im „Spiegel“.




Feridun Zaimoglus Roman „Ruß“: Tristesse im Ruhrgebiet

Auf den ersten Seiten betätigt sich die Hauptfigur namens Renz als Ikonenmaler. Man wähnt sich schon in einer Fälschungsgeschichte. Doch darum geht es nicht.

Die halb schäbig, halb kostbar anmutende Ikonen-Mischung aus Ruß und Goldblatt ist eigentlich schon das edelste, was uns in diesem Roman unterkommt. Der spielt überwiegend in einem gar düsteren, desolaten Ruhrgebiet, noch dazu in winterkalter Trübsal. Man lese nur ab Seite 95 die deprimierende Typenparade aus der Duisburger Fußgängerzone. Vergesst alles Gold, hier bleibt nur Ruß.

Renz ist Arzt gewesen, doch er ist längst ein gebrochener Mann und hilft nur noch seinem Schwiegervater im Kiosk aus. Da treffen sich die Abgehalfterten, die Säufer. Der Handlungsort Duisburg muss abermals für gesteigerte Tristesse herhalten, doch wir wollen gerecht sein: Wenn sich das Geschehen zwischendurch nach Polen und gegen Ende nach Salzburg und Umgebung („Plumpe Bürger…Himmel wie Dreck“) verlagert, nehmen Finsternis und Alkoholismus keineswegs ab. Die ganze Welt ist unerleuchtet. An allen Orten lauert der Abgrund. Und die Menschen gehen einher wie Hinterbliebene des Lebens.

Feridun Zaimoglu schildert in seinem Roman „Ruß“ ein weitgehend abgewracktes Revier mit künstlich aufgepfropften und daher verhassten Schickimicki-Inseln. Zitat gegen jede kulturhauptstädtische Zukunftshoffnung: „Hörense auf, rief der Alte, wenn ich sterb, werd ich wissen, dass Duisburg vor mir verreckt ist. Hörense auf mit dem Tourismus.“

Wie von Geisterstimmen erklingt es in vielfach eingestreuten Fettsatz-Passagen, die aus alter, abgelebter Zeit vor dem „Strukturwandel“ künden. Da ist es, als könne jeden Moment Kommissar Schimanski um die Ecke biegen und ein Lamento übers verfallende Ruhrgebiet anstimmen.

Kriminell geht es auch hier zu, das dürre Handlungsgerüst ist schnell erzählt: Dem Renz haben sie seine Ehefrau Stella ermordet, jetzt kommt der vermeintliche Täter aus dem Knast frei – und ein paar höchst undurchsichtige Gestalten wollen dem Witwer zur tödlichen Rache verhelfen. Oder soll und wird er dabei selbst mit draufgehen? Es ist eine durchweg unheilschwangere Geschichte auf stets schwankendem Boden. Nichts scheint verlässlich. Der unerbittlich rauhe Karl und der übergeschnappte Josef, die Renz alsbald wie Schatten begleiten, könnten ein Zweigespann aus dem Geiste Kafkas sein.

Überwiegend lakonisch, doch insgesamt sehr breit und ausgiebig, mit geradezu manischer Lust am sprachlichen Detail malt Zaimoglu die Atmosphäre der Schauplätze und des zwischenmenschlichen Frostes aus. Der schnoddrige Tonfall klingt „hardboiled“ und transportiert nicht etwa die reale Ruhrgebiets-Mundart, sondern destilliert daraus eine hie und da bis zu Manier vorangetriebene Kunstsprache.

Zaimoglu ist spürbar vom Stilwillen beseelt, große deutsche Literatur zu schreiben. Natürlich ist es ein Gewinn, dass sich der 1964 in der Türkei geborene Schriftsteller seit rund 35 Jahren mit solcher Inbrunst ins Deutsche hineinbegeben hat. Anders als so mancher „Eingeborene“ ruht er nicht eher, als bis er das treffende Wort auch für vermeintliche Nichtigkeiten gefunden hat.

Die Lektüre des neuen Romans bringt allerdings auch Mühsal mit sich. Alle Figuren scheinen aus ähnlichen Hölzern geschnitzt zu sein. Alle sind sie zutiefst desillusioniert, alle reden sie in verwandten Zungen. Hart, abweisend, aggressionsbereit. Auch die Barfrau Marja, in die sich Renz auf seine Weise zu verlieben scheint, passt in diese eintönig schmutzige Männerwelt.

Nicht nur unterschwellig wird hier der Mythos des früheren Ruhrgebiets notdürftig aufrecht erhalten, in dem es noch geradeaus und aufrichtig zuging. Zitat:

„Ein Schwein erkennt man hier ganz schnell…Und dann zeigt man dem Schwein, wo es langgeht. Die Arbeiterkeule.“

Am Schluss, ausgerechnet im österreichischen Ort mit dem schreienden Namen Heiligenblut, nimmt die Geschichte noch eine ungeahnte Wendung. Doch in diesem Leben, in diesem Jammertal wird es keine Erlösung mehr geben…

Feridun Zaimoglu: „Ruß“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 272 Seiten, 18,99 Euro.

Video: Der Autor liest aus seinem Buch.




Helga am Küchentisch in bester Wohnlage…

43-jährige Bibliothekarin sucht Mann und veranstaltet deshalb ganz gezielt Literaturlesungen, auf denen der Richtige auftauchen möge. Bringt nichts. Schließlich gibt sie eine Annonce unter „Bekanntschaften“ auf und trifft einen Programmierer. Doch beim ersten Kino-Date taucht dummerweise auch eine Freundin aus der Frauengruppe im Lichtspielhaus auf.

Nun gut. Kann sein, dass so etwas vorkommt. Warum denn nicht?

Im vorliegenden Buch wird daraus eine strenge Versuchsanordnung, die Lage wird mit allem Für und Wider umständlich erörtert; feministisch grundiert, mit langjähriger (Selbst)erfahrenheit unterfüttert, schließlich kolumnenhaft zubereitet wie für eine halbwegs gediegene Zeitschrift. Nur: Ist das eigentlich Literatur?

Es sind meistenteils nur Vorüberlegungen, denen eine literarische Verarbeitung erst folgen müsste.

Im neuen Erzählband der vor allem als Filmemacherin bekannten Helke Sander (täuschend knackiger Buchtitel: „Der letzte Geschlechtsverkehr“) wird leider kaum erzählt, sondern fast immer nur erwogen, bedacht, durchgekaut und geschwätzig verplaudert. So gut wie nichts bleibt ausgespart in dieser ungelenken Erklär- und Erläuterungsprosa. Man betrachte nur einmal solche Anfangssätze: „Helga am Küchentisch in einer Wohnung bester Hamburger Lage hebt horchend den Kopf von einem Artikel in der ZEIT…“ Natürlich erfährt man auch, welchen Artikel diese Helga gelesen hat. Es bleiben keine Fragen offen. Der Leser sieht sich rundum informiert oder auch – bösartig gesagt – „zugetextet“. So erschlafft nahezu jeder Spannungsbogen.

Die Geschichten handeln von Frauen jenseits der Lebensmitte – bis hinauf ins hohe Alter. Gegen Ende wird ein 95. Geburtstag begangen (Figur einer renitenten Greisin), es wird eine Goldhochzeit gefeiert (Bilanz einer Ehe als stetiger Unglücks-Quell, der aber immerhin halbwegs verlässlich sprudelt) – und schließlich tratscht ein gewiefter Damenkreis über eine vor Jahren Verstorbene, die es zu Lebzeiten offenbar wüst und egozentrisch getrieben hat. Überhaupt liest sich vieles wie der Ausfluss einer intellektuell angehauchten Damenrunde im besseren Lokal.

Gewiss: Da wird manche Leserin ausrufen „Das kenne ich doch!“ Denn da wird ja etlicher Lebensstoff ausgebreitet, da werden einige Modellbiographien der Mittelschicht beäugt. So etwa aus jener Alt-Achtundsechziger-Senioren-WG, in der peinlich laute Geräusche auf wilden Sex hindeuten. Auch hören wir von einer auf- und abgeklärten Frau, die mit fast 60 seit zehn Jahren mönchisch allein lebt, während – wie gallig konstatiert wird – viele Männer ihres Alters sich eine Jüngere nehmen.

Welch ein wiederkehrender Jammer: Die alten Fesseln aus der Vor-68er-Zeit sind gesprengt, doch adäquate neue Formen noch nicht gefunden. Keine Generation hat den Frauen von heute vorgelebt, wie das Altern unter jetzigen Bedingungen noch gelingen könnte… Beiseite gefragt: Haben es frühere Generationen in dieser Hinsicht wirklich besser getroffen?

Egal. Aus solchem Befund ließe sich bestimmt etwas Erzählerisches formen, es hört sich im Ansatz ja wirklich interessant an. Doch das Gros der Geschichten wird zunichte durch den eklatanten Mangel an erzählerischen Mitteln. Hier muss mal ein etwas längeres Zitat her. Typischer Duktus eines Abschnitts über Frauen „mit Migrationshintergrund“:

„Vom Grundsatz her schien diese Trennung der Bereiche jedenfalls eine bedenkenswerte Möglichkeit, das Leben zu organisieren, wenn sie nur vollkommen freiwillig wäre. Aber wie sollten die in ihrer Mehrheit hier lebenden ungebildeten, analphabetischen und häufig in Rechtlosigkeit gehaltenen Frauen mit ihren Männern ein Bewusstsein über die Vorteile ihrer eigenen gewachsenen Kultur entwickeln.“

So staubtrocken reflektiert kann man vielleicht durch einen Aufsatz staksen, wenn man auf sprachliche Geschmeidigkeit keinen Wert legt. Doch mit Belletristik hat das wenig zu tun, sondern allenfalls mit sang- und klanglosem Zergliedern.

Helke Sander: „Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern“. Verlag Antje Kunstmann, München. 160 Seiten. 16,90 Euro.




Abschied von Loriot

Es darf doch nicht wahr sein. Es soll doch bitte nicht stimmen!

Die Nachricht vom Tode Loriots macht sehr, sehr traurig. Doch sie macht die meisten nicht sprachlos. Denn nun lassen alle die Loriot-Sprüche oder sonstigen Werkpartikel vom Stapel, die ihnen ans Herz oder gleichsam ans Zwerchfell gewachsen sind. Auch das Netz vibriert heute vor lauter Hoppenstedt, Müller-Lüdenscheidt, Die Ente bleibt draußen, Heinzelmann und allem anderen. Wie wohltuend und entlastend, wenn man die Trauer ins kollektive Lachen kleiden kann – oder wenigstens in eine wehmütige Erinnerung an einstigen Frohsinn. Möge man ihn nur nicht irgendwann auf den „Hausschatz des goldenen Humors“ reduzieren. Er steht für ganz andere Dimensionen.

Das weithin presseübliche Verfahren, einen alten Artikel (etwa zum 80. oder 85. Geburtstag) „wiederzubeleben“, indem man ihn beinahe wortgleich wiederholt, um Geschehnisse der letzten Jahre sowie ein paar Trauerformeln ergänzt (und an den richtigen Stellen in die Vergangenheitsform setzt), das alles wollen wir uns hier ersparen.

Wir setzen nur noch schnell einen Link.

Dann sind wir endlich still und blättern abends leise in seinen wundervollen Büchern.




Der „Simplicissimus“ im Ruhrgebiet

Im berühmten Schelmenroman vom „Simplicissimus“ über den Dreißigjährigen Krieg erwähnt der Autor Grimmelshausen auch den kaiserlichen General Melchior von Hatzfeld. Dieser General hinterließ seine Spur aber nicht nur in der Literatur, sondern auch im heutigen Ruhrgebiet, genauer an dessen Rand, in Hagen und in der heutigen EN-Kreishauptstadt Schwelm.

Der Dreißigjährige Krieg, in dem es vordergründig um die Religionsausübung ging, hatte 1618 begonnen. In den Jahren ab 1622 war auch der Raum südlich der Ruhr zunächst durch die Besetzung mit katholischen (spanischen) Truppen betroffen. In der Stadt Schwelm hielt jedoch die protestantische Bevölkerung auch nach dem Abzug der Spanier an ihrer reformierten Konfession fest.

Titel des "Simplicissimus"

Darüber ärgerten sich die verbliebenen Katholiken so sehr, dass sie 1630 die kaiserlichen Soldaten aus dem bergischen Radevormwald und aus Lennep herbeiriefen, die dann „die Stadt ganz und gahr ausplünderten“, wie der Historiker Gerd Helbeck in seinem lokalgeschichtlichen Werk zitiert. Der Erbkirchrat der Schwelmer Kirche, Junker Georg von Vaerst, wurde gefangen genommen, sein Wohnhaus total verwüstet.

Erst 1631 gab der Droste von Wetter der lutherischen Gemeinde Schwelm ihre Kirche zurück, denn inzwischen hatten die protestantischen Schweden in den Krieg eingegriffen und die Position des hier in der Grafschaft Mark herrschenden Kurfürsten von Brandenburg gestärkt. Unter anderem erlebten die Schwelmer 1632 den Einzug eines Finnischen Regiments.

Nicht nur Schwelm, auch viele andere Städte mussten in diesem Krieg immer wieder Plünderungen und Brandstiftungen hinnehmen oder sich durch Zahlungen an die Soldaten und ihre Anführer frei kaufen. Dann gab es einen Schutzbrief, von denen mehrere in Schwelm erhalten geblieben sind.

Zu den Schutzmaßnahmen der Stadtbürger gehörten auch die Ausgaben für Boten und Kundschafter, damit man frühzeitig von der heranziehenden Soldateska oder von marodierenden Freibeutern erfuhr. Die Bürger suchten dann Fluchtorte aus, zum Beispiel in der Kluterthöhle in Altenvoerde (heute Ennepetal), und sie versteckten ihre Wertgegenstände. So ist zu erklären, dass sich immer wieder Münzen und Gegenstände aus dieser Kriegszeit in Verstecken oder im Boden finden.

Im September 1640 zog der zu Beginn erwähnte General von Hatzfeld in Schwelm ein. Mit seiner Einheit wollte er weiter nach Hagen, und um den Weg zu finden, musste ihn ein Schwelmer Bürger begleiten. Dieser Dienst wurde entlohnt, und über das Entgelt ist ein Eintrag in der Schwelmer Stadtrechnung erhalten. Insgesamt hat die Stadt Schwelm in den Jahren 1640/41 für Erpressungen, Kontributionen und sonstige kriegsbedingte Zahlungen fast 1700 Reichtaler ausgegeben.

Mit dem Friedensvertrag von Münster und Osnabrück endet 1648 der Dreißigjährige Krieg. Für den Bekenntnisstand wurde darin als Stichjahr 1624 festgelegt, und für Städte mit gemischten Konfessionen wurde die Gleichheit der Bekenntnisse hergestellt. Daher gab es auch in Schwelm nach Kriegsende weiter eine reformierte und eine katholische Gemeinde.




Im Nebel

Da lagen sie vor einem, die Richtungen,

himmlisch, teuflisch, weit & nah.

Es ging links ab, es ging rechts ab.

Aber es ging auch durch die Mitte.

Manches schien fern, anderes zum Greifen nah.

Wieviel Illusionen lagen im Nebel?

Manchmal sah man die Hand vor Augen nicht.

Was sah man denn überhaupt?

Es war still.

Die Dächer schwiegen,

und selbst die Geister schienen noch nicht erwacht,

aber schliefen sie überhaupt?

Was konnte man eigentlich über den Nebel sagen?

Und was konnte man über sich im Nebel sagen?

Dass man auf einen Leuchtturm hoffte?

Dass man diesen schwülen, dunstigen Regenwald satt hatte?

Auf das kleinste Geräusch hörte man.

Schon ein Lichtschimmer hätte genügt.

Ein Pfiff, ein Ruf.

Alles im Nebel.

Man konnte sich hinhocken.

Man konnte warten.

Aber wie lange wollte man warten?

Foto / Text: Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Kaffeebohnen-Leserei

Man(n) wollte es, man(n) wollte es nicht,
man(n) tat es, man(n) tat es nicht.

Derweil lagen die Bohnen auf dem Tisch.

man(n) schaute sie an, man(n) schwieg.

Es tat gut zu schweigen, nach all der Aufregung.

Ja, es war sogar notwendig.

Da waren also diese Bohnen, wie aus heiterem Himmel,

plötzlich auf den Tisch geregnet und natürlich auch gefallen.

Man(n) hatte noch den Klang in den Ohren.

Und auch der Duft war ihm wohlvertraut.

Immer mit der Nase nochmal daran, wer kennt das nicht?

Aber nun war es still.

Es hatte sich ausgeregnet.

Alles lag vor einem, ohne, dass man(n) begriffen hätte..

Man(n) möchte es trotzdem….

Und vielleicht lag sogar eine Notwendigkeit darin?

Aber wer wollte das behaupten?

Vor dem Behaupten, das Verstehen.

Aber wer legt sich schon gerne mit tausend Kaffeebohnen an?

Versuchen Sie mal 1000 Kaffeebohnen zu verstehen.

Da hat man(n) was am Hals.

So dann die Frage, ob man(n) es nicht besser lässt?

Gut, man(n) könnte auch einige einfach in ein Säckchen packen,

dann hätte man(n) einen besseren Überblick.

Aber verstünde man(n) dann mehr?

Foto / Text: Stefan Dernbach (LiteraTour)




Völlerei

Völlerei ist eine der Todsünden.

Ich will mich vollsaugen jeden Tag. Bis ich nicht mehr kann.
Ich will morgens das Zwitschern der Vögel aufsaugen.
Ich will die Sonnenstrahlen wie Goldstaub auf meine Haut legen.
Ich will das kostbarste Frühstück einnehmen, ein Ei, dessen Eigelb das Gelb überhaupt ist, das Gelb der Sonne. Ich will die teuerste Marmelade aller Zeiten auf das edelste Brot streichen.
Jeder Ton, den mir die Natur schickt, will ich in feinsten Nuancen erkennen und verinnerlichen.
Ich will das Wetter als meinen Freund bezeichnen, wie immer es auch spielt.
Der Regen soll so weich an mir herunter tropfen, ohne dass er den Klang verliert.
Ich will die kühnsten Leckereien über meine Lippen schieben, hinunterschlucken und verdauen. Das Verdauen soll in einem Wohlgefühl stattfinden, wie es nur das Verdauen hervorbringen kann.

Ich will ein Gemälde in mich aufsaugen, das so schön ist, dass es mich betört bis zur Taumelei. Ich will mich an ein Kunstwerk anlehnen, dessen Ausstrahlung Glücklichsein bedeutet. An einem Theaterabend will ich die betörende Schauspielerin und den königlichen Schauspieler in meiner Nähe haben und spüren, wie das Atmen das der gespielten Charaktere ist. Ich will in der Oper sitzen und wahnsinnig werden – für einen Augenblick.

Das Abendessen soll mich in einen Zustand versetzen, der für die meisten unerreichbar ist. Die Soße soll mir aus den Mundwinkeln laufen und auf den Teller zurück tropfen, wo sie von Dir mit den Fingern abgewischt wird, um diese in den Mund zu schieben, so dass die Soße ein zweites Mal den Gaumen trifft.

All das will ich, will der totalen, allumfassenden Völlerei ergeben sein.

(aus meinem Text „Bratkartoffeln mit Speck – Erinnerung an Ernährung“)




Als Brecht bei Feuchtwanger klingelte – Klaus Modicks Roman „Sunset“

Winter 1918. Der Krieg geht zu Ende, in München wird die Räterepublik ausgerufen. Das lässt auch den Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der sich bisher eher für buddhistische Weisheiten und historische Themen interessierte, nicht kalt.

Gerade arbeitet er an seinem Theaterstück „Thomas Wendt“, einem „dramatischen Roman“ über einen Künstler, der sich zum politischen Engagement bekennt und sich in die Revolution einmischt. Da klingelt es an der Hautür und ein abgerissen wirkender junger Mann mit Stoppelbart, Schiebermütze und abgewetzter Lederjacke begehrt Einlass in die Wohnung des arrivierten Schriftstellers. Er habe ein Stück geschrieben und hoffe, dass der über beste Bühnen-Kontakten verfügende Feuchtwanger in der Lage sei, eine Aufführung zu erwirken, „weil ein Stück“, so der selbstbewusste Jungdichter, „das nicht aufgeführt wird, nichts wert ist.“

Das Drama, das der freche Dichter dem älteren Kollegen auf den Schreibtisch pfeffert, trägt den Titel „Spartakus“. Ein Geniestreich, einer, der Feuchtwanger fast das Leben kostet. Denn als die konterrevolutionären Freikorps seine Wohnung plündern und das Manuskript finden, vermuten sie, nicht ganz zu Unrecht, Feuchtwanger würde mit der Räterepublik sympathisieren. Nur durch einen Zufall entgeht Feuchtwanger dem Erschießungskommando. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine, die vielleicht ein andermal etwas genauer erzählt und zu einer Novelle ausgeschmückt werden sollte.

In Klaus Modicks Roman „Sunset“ hat der süffisante Hinweis auf das lebensbedrohliche „Spartakus“-Manuskript eine andere Funktion: er soll zeigen, dass die Freundschaft, die in jenem Revolutionswinter zwischen Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht entstand und sich im Berlin der 20er genauso fortsetzte wie im kalifornischen Exil der 30er und 40er Jahre, von vornherein nicht frei war von bizarren Umgangsformen und kuriosen Streitereien. Wie sollte es auch anders sein, begegneten sich doch hier zwei Schriftsteller, die unterschiedlicher nicht sein konnten und doch zeitlebens miteinander aufs Innigste verbunden waren: Hier der bürgerliche Erfolgsautor, der mit seinen historischen Romanen gigantische Auflagen erzielte und selbst im Exil eine riesige Villa bewohnte. Dort der marxistische Intellektelle, der zwar stets viele Frauen um sich scharte, aber ständig am Hungertuch nagte und dessen Stücke in Amerika niemand spielen wollte. Ohne Feuchtwangers finanzielle Hilfe, das kann man ruhig einmal laut sagen, wäre Brecht in Hollywood vor die Hunde gegangen.

Klaus Modick weiß das natürlich alles. Schließlich hat er vor über 30 Jahren bei Hans-Albert Walter, den Mentor der Exil-Literatur-Forschung in Deutschland studiert und über Feuchtwangers Leben und Literatur promoviert. Durch die Romane Modicks spukt seither ein von Feuchtwanger inspirierter, historisch fundierter, von Aufklärung und Humanismus geprägter Erzählgestus. Eigentlich war es längst überfällig, dass Modick seinen Lieblingsautor zur Romanfigur macht. Ein schwieriges Unterfangen, musste er doch die sich in seinem Kopf angehäuften Fakten zu einer fiktiven Geschichte komponieren. Es ist ihm wunderbar gelungen.

Denn Modick verdichtet die Handlung auf einen einzigen Tag im August 1956: Feuchtwanger ist einer der letzten im kalifornischen Exil verbliebenen deutschen Dichter. Selbst die Kommunistenhysterie der McCarthy-Ära konnte ihn nicht vertreiben. Feuchtwanger ist allein in seiner „Villa Aurora“, es ist heiß, Gattin Marta macht auswärtige Besorgungen, die Sekretärin ist verreist. Da erreicht ihn ein von Johannes R. Becher geschicktes Telegramm aus Ost-Berlin: „Bertolt Brecht gestorben.“ Natürlich kann er der Einladung Bechers zum bereits am nächsten Tag angesetzten Staatsakt im Berliner Ensemble nicht nachkommen. Statt sich über den stalinistischen Kulturminister zu ärgern, erinnert sich Feuchtwanger lieber an seine Zeit mit Brecht. Wie er sich als väterlicher Freund und Ruhepol des jüngeren, aufbrausenden Kollegen empfand. Wie sie zusammen an Feuchtwangers „Warren Hastings“-Drama arbeiteten oder am „Spartakus“-Manuskript von Brecht, das unter dem Titel „Trommeln in der Nacht“ Bühnengeschichte schrieb.

Wenn der Tag zu Ende geht und die Sonne im Stillen Ozean versinkt, hat der von Magenkrämpfen gequälte Feuchtwanger nicht nur wichtige Stationen seiner Freundschaft mit Brecht abgeschritten, er hat auch eine Lebensbilanz gezogen. Modick hat dabei vieles frei erfunden. Aber eine gut erfundene Geschichte, das wusste niemand besser als Feuchtwanger, ist allemal besser als Langeweile in der Wirklichkeit.

Klaus Modick: „Sunset“. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt, 192 S., 18,95 Euro.




Als Heinrich Heine von den Franziskanern lernte

Mitten im Trubel der Düsseldorfer Altstadt gibt es seit etwa fünf Jahren einen sehr ungewöhnlichen Ort der Ruhe – das „Max-Haus“.

Es ist katholisches Stadthaus, Veranstaltungszentrum, Kunstgalerie, Gebetsstätte, Cafe und Konzerthaus in einem. Ungewöhnlich wirkt es nicht nur durch die Ausstrahlung, sondern vor allem durch seine preiswürdige Architektur, seine Offenheit für jedermann und seine Geschichte.

In der Nähe des früheren Hafens hatten Franziskaner auf den Resten der alten Citadelle 1661 ein Kloster errichtet, eine Kirche gebaut und ab 1695 eine Lateinschule eingerichtet, die Vorläuferin der heute noch bestehenden Max-Schule. Die Kirche war ursprünglich dem heiligen Antonius von Padua gewidmet. Als jedoch 1803 durch den Beschluss zur Säkularisation auch Kirche und Kloster abgerissen werden sollten, benannten die Mönche ihren Komplex schnell um nach dem heiligen Maximilian – dem Namenspatron des Kurfürsten. Durch diesen schmeichlerischen Trick (man ist eben in Düsseldorf) konnten die Gebäude erhalten werden, die Franziskaner gingen als Pfarrer in die Gemeinden und die Schule wurde im Sinne der französischen Besatzung als „Lyceum“ weiter betrieben.

Diese Schule nun bekam durch den späteren Dichter Heinrich Heine ein literarisches Denkmal. Der jüdische Junge hieß zu der Zeit noch Harry und besuchte die katholische Einrichtung von 1807 bis 1814. Er erinnert sich an mehreren Stellen seines Werkes, zum Beispiel in den „Reisebildern“, an diese für ihn meist angenehme Zeit, er führt einzelne Lehrer an und klagt über die Schwierigkeiten des Sprachenlernens. Im „Buch Le Grand“ schreibt er unter anderem über seine Probleme mit dem Lateinischen: „In den dumpfen Bogengängen des Franziskanerklosters, unfern der Schulstube, hing damals ein großer, gekreuzigter Christus von grauem Holze, ein wüstes Bild, das noch jetzt zuweilen durch meine Träume schreitet und mich traurig ansieht mit starren blutigen Augen – und vor diesem Bilde stand ich oft und betete: O du armer, ebenfalls gequälter Gott, wenn es dir nur irgend möglich ist, so sieh doch zu, dass ich die verba irregularia im Kopfe behalte.“ Dieses Kreuz hängt übrigens immer noch im Kreuzgang des ehemaligen Klosters.

Nachdem die Franziskaner vor drei Jahrzehnten das Kloster aufgegeben hatten, drohte es zu verfallen oder kommerziell genutzt zu werden. Weil die Düsseldorfer Katholiken und das Erzbistum Köln jedoch auf der Suche nach einem geeigneten Zentrum waren, wurde der Komplex nach einem Architektenwettbewerb renoviert und modernisiert. Der ehemalige Kreuzgang blieb erhalten, und durch ein großes quadratisches Glasdach entstand im Innenhof ein wetterfester, lichtdurchfluteter Veranstaltungsraum, der unter anderem für die „Mittwochsgespräche“, aber auch für Konzertreihen wie „Bach beflügelt“ genutzt wird. Besucher können das Haus jederzeit betreten, lesen, Kaffee trinken oder in einem „Raum der Stille“ meditieren oder beten. Außerdem gibt es im ehemaligen Kreuzgang ständig Ausstellungen verschiedener Künstler. Zur Zeit läuft noch bis zum 20. August 2011 eine Gemeinschaftsausstellung von fünf Künstlern unter dem Titel „Graffiti im Kreuzgang“. Kurator für diesen Teil des Zentrums ist der Düsseldorfer Künstler Christoph Pöggeler, dem man im Stadtbild überall begegnet: Er schuf die lebensgroßen und lebensechten Figuren, die man in der Düsseldorfer Innenstadt an vielen Stellen auf Litfasssäulen stehen sieht.

Zur Straße hin wurde die Fassade des ehemaligen Klosters unverändert gelassen. Auch das bronzene Erinnerungsschild an den berühmten Schüler Heinrich Heine hat man gelassen. Nebenbei: Weil der Umbau des Klosters zum „Katholischen Stadthaus“ so gelungen sei, hat der Düsseldorfer Architekten- und Ingenieursverein 2010 dem Max-Haus die jährliche Auszeichnung „Bauwerk des Jahres“ verliehen.

Ein Besuch in diesem Ensemble lohnt sich also, auch wenn man als Atheist oder Protestant oder sonst etwas keinen Bezug zum Katholizismus hat.




Es glitzert das Meer, es funkelt die Seele – Eduard von Keyserlings famoser Roman „Wellen“

Bereits das Baudelaire-Motto, das Eduard von Keyserling (1855-1918) seinem Roman „Wellen“ vorangestellt hat, lässt keinen Zweifel: Das Meer und die Menschenseele, so heißt es da sinngemäß, sind so tief, dass sie ihre Geheimnisse letztlich niemals preisgeben.

Immer wieder spiegeln sich in diesem Roman seelische Regungen in den wechselhaften Erscheinungen des Meeres. Sozusagen jede Farbstufe und jeder neue Lichteinfall werden da sprachlich zum Funkeln gebracht – soweit und so genau, wie es irgend geht. Dieses Werk um des Meeres und der Liebe Wellen darf als Zeugnis des literarischen Impressionismus gelten. In etlichen Passagen fühlt man sich an flirrende Gemälde jener Stilrichtung erinnert. Doch es ist beileibe kein unvermischtes Schwelgen. Schon auf Seite 8 heißt es vielsagend: „Das kränkliche Knabengesicht verzog sich, als täte all dieses Licht ihm weh.“ Tatsächlich wächst der Roman vor allem im höchst individuell geschilderten Leiden seiner Figuren weit über Stil-Attitüden hinaus.

Das bloße Gerüst der Geschichte sieht, flüchtig von heute aus betrachtet, zunächst nach Klischee aus. Aber da täuscht man sich gründlich, so nuanciert und fein schattiert wird hier erzählt, durchaus auf den literarischen Höhen etwa eines Theodor Fontane.

Da ist die ätherisch schöne Doralice, Gattin eines weitaus älteren Mannes von Adel. Als der seine „Erwerbung“ zur Ausschmückung der kostbaren Gemächer malen lässt, bricht sie mit dem Künstler namens Hans Grill aus dem Goldenen Käfig aus und zieht zu ihm. Für damalige Zeiten eine Ungeheuerlichkeit. Der Roman stammt aus dem Jahre 1911.

Die gesellschaftliche Empörung über den Fehltritt wird am Beispiel einer vermeintlich hochwohlanständigen Familie von Rang dargestellt, die sich in Gestalt der präsidierenden Generalin von Palikow als Festung der Moral begreift, deren männliche Vertreter freilich auch insgeheim von jener Doralice doppelmoralisch entzückt sind. Die halbwüchsigen Töchter überlassen sich derweil, wenn sie Doralice nur von fern am Strande wandeln sehen, ebenso unbegriffenen wie verbotenen Träumen von sündhafter Übertretung. Da lodert Gefahr.

Zudem gibt es einige grandios skizzierte Nebenfiguren, die das Geschehen aus der Mittelachse rücken. Im ironischen Sinne besorgt dies mit spitzen kleinen Bemerkungen Fräulein Malwine, die Gesellschafterin der Generalin. Den eher diabolischen Part spielt ein gewisser Herr Knospelius, der nahezu allgegenwärtig das anschwellende Unglück begleitet.

Als die Handlung einsetzt, ist Doralice schon vom einfachen Leben enerviert, das der Maler in flammenden Worten als das einzig wahrhaftige preist. In der Fischerhütte ist es für eine Dame ihrer Herkunft nun einmal nicht bequem, in dieser Kartoffelsuppen-Zweisamkeit hilft kein ideologischer Überbau. Der Sprung in die Freiheit hat ihre Kräfte aufgezehrt. Quälend ist es zu lesen, wie die beiden bereits wieder auseinander driften, Satz für Satz, Wort für Wort. Noch dazu wird sie alsbald von einem feschen Leutnant bestürmt…

Über der Handlung, die zur Sommerfrischenzeit an der Ostsee spielt, liegen eine lastende, somnambule Schwüle, vorgewittrige Stimmung, seelische Überspanntheit und Migräne. Die Zeit erscheint hochsommerlich träge, fast wie angehalten. In diesem Zwischenreich des Ennui könnte schier alles geschehen, die Grundfesten der Gesellschaft könnten erschüttert werden. Könnten. Doch das ist wohl nur glitzernde Sinnestrübung. Auch in solcher Hinsicht bleibt Keyserling, grad zwischen Hoffen und Bangen, Resignation und Heiterkeit, völlig illusionslos.

Eduard von Keyserling: „Wellen“. Roman. Nachwort von Florian Illies. Manesse Verlag, Zürich. 254 Seiten, 19,95 Euro.




Griechischer Finanz-Krimi: Weiße Rosen waren gestern

Faule Kredite
In die Zeit, in der um die Verabschiedung des zweiten Griechenland-Hilfspaketes gerungen wird, Finanzmärkte stündlich die Farbe wechseln, Anleihen keine Option mehr sind, genau in diese Zeit fällt die deutschsprachige Veröffentlichung von Petros Markaris sechstem „Kostas Charitos“-Roman. In „Faule Kredite“ schickt der Autor seinen Kommissar mitten in die Athener Bankenwelt.

Die griechische Finanzwelt steckt in einer der schlimmsten denkbaren Krisen. Die Stimmung in Athen ist aufgeheizt. Täglich wird auf den großen Plätzen demonstriert, Aufrufe zum Bankenboykott werden in der ganzen Stadt plakatiert. Als ob das nicht Bewährungsprobe genug wäre, erschüttert eine Mordserie an Bankern und Finanziers die Stadt. Vier ranghohe Manager, allesamt Symbolfiguren für Korruption und Mißwirtschaft, werden nacheinander mit einem Säbel enthauptet. Charitos glaubt an einen persönlichen Rachefeldzug. Der Tod in Athen kommt heutzutage auf Kredit und bringt keine mythologisch verklärten Märtyrer mehr hervor. Mit dieser Meinung steht der Herr Kommissar zunächst einmal recht alleine da. So darf er sich zu allem Überfluss auch noch mit der Terrorabwehr mehrerer Staaten, diversen Ministerien und Botschaften herumschlagen. Darüberhinaus ist auch sein Privatleben nicht gerade von Spannungen frei. Die Krise hinterlässt auch hier ihre Spuren.

„Nur die ersten 80 Jahre sind hart. Ab dann hast Du für immer Deine Ruhe“ – sagt Charitos‘ lebenskluge Gattin Adriani. Sein Kollege greift zu noch drastischerem Trost “ ….wir zählen doch zu den PIIGS Staaten. Aber im Schweinestall lebt es sich immer noch besser als im Haifischbecken. Bislang haben wir versucht, dort mitzuschwimmen, aber wir sind kläglich abgesoffen. Schweine können eben nicht schwimmen.“ So kann man die aktuelle griechische Tragödie natürlich auch kurzfassen. Mit diesen und ähnlich schicken Wortbildern läßt Markaris seine Protagonisten über die aktuelle Krise diskutieren und an ihr leiden.

Markaris – intellektueller Weltbürger, einer der wichtigsten Autoren zeitgenössischer griechischer Literatur, als Übersetzer von Goethe und Brecht der deutschen Sprache fließend mächtig – ist durch seine Kostas-Charitos-Krimis europaweit bekannt geworden. Wie kein anderer ist er gerade hierzulande als Interviewpartner gefragt, wenn es darum geht, den Deutschen zu erläutern, wie die Griechen ticken. Nur folgerichtig, dass der Diogenes Verlag die deutschsprachige Veröffentlichung dieses allerersten Romans überhaupt zur Krise auf Anfang Juli vorgezogen hat. Die Zeit, die deutsche Fassung höchstpersönlich gemeinsam mit der sorgsamen Übersetzerin Michaela Prinzinger durchzusehen, hat der Autor sich dennoch genommen. Faule Kredite ist erst der Auftakt. Wie Markaris in mehreren Interviews ankündigte, arbeitet er an einer Trilogie der Krise, welche diese als Alltagsphänomen betrachtet wissen will. Da passt es gut, dass bereits in Teil eins das Renteneintrittsalter für hellenische Polizisten um fünf Jahre heraufgesetzt wurde. Nun hat er also noch genug Zeit, der Brunetti Griechenlands, für die Herkules-Aufgabe, die Krise zu beschreiben und zu reflektieren.

Der Roman ist im Präsens geschrieben. Somit ist klar – an eine Reflexion wagt Markaris sich (noch) nicht. Vielmehr serviert er dem Leser eine kriminaltechnisch aufbereitete Bestandsaufnahme neugriechischer Befindlichkeiten. Markaris erzählt unaufgeregt lakonisch, ohne larmoyant zu sein. Mit einem leichten Augenzwinkern blickt er auf sein Land. Der Zeigefinger ist manchmal mahnend, aber immer charmant erhoben. Sein Resümee ist eher humorvoll satirisch als zynisch resigniert. „Ob Krise oder nicht, die Griechen konsumieren gerne im Voraus, leben gerne von Vorschüssen und Vorauszahlungen. Ein Kredit ist nichts als eine übliche Einnahmequelle.“

Die kriminelle Rahmenhandlung jedoch ist ihm eher Mittel zum Zweck. Die eigentliche Handlung ist streckenweise hölzern konstruiert, Ausflüge in die Halbwelten dopingverdächtiger Leistungssportler und illegaler Migranten erzeugen Längen und erschweren die Abrundung des Plots. Der entlarvte Drahtzieher erweist sich zum Schluß als – wer hätte das gedacht – moralisch bewegter Täter. Nur sein Motiv ist arg weit hergeholt. Nicht umsonst schickt er der Erläuterung seines Motivs den Zusatz „Ich will es Ihnen erklären, obwohl Sie mich möglicherweise nicht verstehen werden“ voraus. Gut verständlich aufbereitet hingegen die sorgfältig recherchierten wirtschafts- und finanzpolitischen Hintergründe.

Das letzte Wort im Roman hat Gattin Adriani: „Da kann die Troika sagen, was sie will. In Athen kann kann Dir Vitamin B das Leben retten“. Ja, so ist das wohl. Weiße Rosen waren gestern.

Petros Markaris: „Faule Kredite“. Diogenes Verlag, Zürich. 397 Seiten. € 22,90




Georg Stefan Troller: „Tagebuch mit Menschen“

„Tagebuch mit Menschen“ –

unvergessen ein Artikel in einem der deutschen Eliteblätter – sei es nun
FAZ oder SZ oder, oder … zum „Buch der Tagebücher“,
also zum Tagebuch überhaupt.

Wofür braucht der Leser ein Tagebuch,
wofür möchte er darin lesen?

Private Schnulzenschau, oder darf es doch etwas mehr sein?

Dann irgendwie glitt der Autor ab in einen Rundumschlag,
warum auch immer.
Ach, diese Tagebücher, diese Rotzerei, dieses ewige Zurschaustellen.

An der Stelle mochte ich dem Journalisten nicht mehr folgen,
war er wohl Opfer seiner angedachten, phantasierten,
verinnerlichten Vorstellung von Objektivität geworden.

Vielleicht hatte er auch für jenen Artikel, dem das „Buch der Tagebücher“
zugrunde lag, sich mit einer Auswahl beschäftigen müssen,
die ihn einfach nicht begeisterte.

Vielleicht war er aber auch ein nicht begeisterungsfähiger Mensch?

Diesen Eindruck kann man häufig bei Journalisten antreffen.
Warum das so ist, bleibt zunächst dahin gestellt.

Ich erinnerte mich an das „Tagebuch mit Menschen“ – also
Georg Stefan Trollers Buch „Personenbeschreibung“ –
welches man durchaus als Sternstunde des deutschsprachigen
Journalismus bezeichnen kann und es auch tun sollte.

So wohltuend sich abhebend von journalistischer Überheblichkeit,
von den alltäglich niedergeschriebenen Gedankenfürzen
bis hin zu intellektuellen Akrobatiken,
denen kaum ein Mensch noch folgen kann, noch will,
außer der Journalist selbst,
der einen hohen Wert auf Selbstbefriedigung legt.

Bei Troller ticken die Uhren anders, weil sie in seinem Leben
schon immer anders getickt haben,
als es der Mainstream hergibt, verlangt, predigt und feiert.

Aufgrund biografischer Erfahrungen mit deutscher Überheblichkeit
und Arroganz, ihnen gegenüber kritisch eingestellt und sich dennoch dem
deutschsprachigem Raum heimatlich verbunden gefühlt,
hatte er, hat er Vergleichswerte, die der gemeine Journalist
so in der Regel nicht hat.
Und das merkt man beim Lesen…

Hier also – in seinen Personenbeschreibungen zu finden –
eine Art Zusammenfließen von subjektiven und objektiven
Wahrnehmungen, die miteinander auf vielfältige Art und Weise
verbunden werden,
also eben nicht jene gern praktizierte Aufspaltung
zwischen Individualität und scheinbar objektivierbaren Fakten,
die der Darstellung komplizierter, komplexer Vorgänge nicht würdig ist.

Da der Durchschnittsjournalismus,​ der bis in höchsten Etagen reicht,
mit einer zweifelhaften Geistes- und Fingerfertigkeit solche Probleme
im Handumdrehen erledigt, ist die Lektüre von Georg Stefan Troller
eine wohltuende Abwechslung, kurativ, aber eben keine leichte Kost.
Dennoch nie unterschlagend, mit einer guten Prise Humor versehen,
inklusive Selbstironie, eine erhellende wie erheiternde Reise
durch ein reichhaltiges Leben.

So musste man eben entdecken wollen,
dann würde man auch entdecken…

Und an manchen Stellen dieser Reise würde man einfach
nur schweigen, weil das Dargestellte es so verlangt.

Aber dieser Forderung nachzukommen, erscheint in heutigen Zeiten
ungefähr so unmöglich, wie die Abschaffung des Privatfernsehens,
sofern es sich nicht selbst abschafft,
indem es immer mehr Verrückte produziert,
die eben nicht ihre Klappe halten können,
sondern sich berufen fühlen und vor allem berufen werden,
sich öffentlich – und das alltäglich – auszukotzen,
ohne kurativen Wert.

So dann auch die Frage an die vermeintlich Intellektuellen gestellt,
was sie gedenken zu tun,
angesichts dieser Lage, die man ohne zu übertreiben als
dramatisch bezeichnen darf, aber eben auf eine andere Art als
schon bekannt.

Man müsste also hineingehen ins Desaster, was nie schön ist.
Aber genau da gehört der Journalist hin,
wenn er oder sie – Aussagekraft entwickeln möchte.
An dieser Wegkreuzung kann sich kein Journalist vorbeimogeln,
ohne Schaden zu nehmen und Schaden zu verursachen.

Foto / Text: Stefan Dernbach ( LiteraTour )

http://www.stefandernbach.​kulturserver-nrw.de/




Das wandernde Tagebuch

Wie man dazu kam, wer weiß das schon?

Im Nachhinein kann man viel behaupten,

tut es dann vielleicht auch,

weil es mit der Erinnerung nicht soweit her ist.

Kurze Erinnerung.

Kleine Festplatte, auch genannt Hirn.

Aber immer behaupten, man wüsste es.

Ach, Frau Koch-Mehrin, damals bei Plasberg.

Und was kam noch alles danach,

vom Davor ganz zu schweigen.

Koch-Mehrin, was für ein Name !

Plötzlich tauchte die auf.

Blond und langbeinig, kein Mutter-Typ wie U.v.d.L. –

hier gemeint der Mutter-Typ des neuen Jahrtausends,

also nicht: Mütter aller Länder vereingt euch! –

das ist längst Vergangenheit.

 

In der Vergangenheit sitzt auch Camus und ruht.

Der gute Albert.

Oh Tipasa.

„Hochzeit des Lichts“

Und dabei ist es so finster…

Eine erschreckende Dunkelheit herrscht in deutschen Talkshow-Studios.

Und nicht nur dort.

Die UNTHINK-TANKS und ihre Truppen, haben ganze Arbeit geleistet.

So wie Mütter andere geworden sind,

so hat sich auch die Kriegsführung verändert.

Nur Guido Knopp will es nicht wahrhaben. Der tapfere Guido.

Der scheint jeden Morgen in der Sowjetunion aufzuwachen.

Und was macht eigentlich Guido II ?

Darf der noch?

Nach all dieser politischen Dekadenz.

Es war schon schwer das Maß zu überschreiten,

aber Guido hat es geschafft.

Und andere auch, aber nicht so wie Guido.

Zauberlehrlinge, die sich als Zauberer ausgeben.

Blond und langweilig, wollte in den Forschungsausschuss der Europäischen Union.

Da wachte manche Schnarchnase auf, spät, aber immerhin.

Man konnte ja mal was sagen, es half zwar nicht unbedingt,

aber man war für ein paar Minuten wenigstens mal wach.

Selbst der eine oder andere deutsche Literat hegte kurz

den Gedanken, die Seichtgebiete zu verlassen,

verwarf ihn dann aber wieder,

als er auf seinen Gehaltsstreifen schaute.

Dafür reicht es und dafür reicht es nicht.

Das ist ein gängiger Abwägungsprozess,

ob im Sport, in der Literatur, in der Politik, im Journalismus –

ja selbst in der Küche spielen sich solche Prozesse ab.

Es ist frühmorgens und man wägt ab,

ob der Kaffee noch reicht…

Man denkt an Camus und Algerien.

Ach, Algerien. Da sind die Tassen kleiner.

Wenn man also das algerische Maß zugrunde legen würde,

dann reichte auch der Kaffee.

Demzufolge ging es auch um Maßeinheiten, aber nicht vor allem.

 

„Das Maß ist voll!“ – dieser Satz und seine Bedingungen,

sind andere geworden.

Auch wenn Guido Knopp jeden Morgen in der Sowjetunion aufwacht,

heißt das nicht, dass Griechenland, Portugal und Spanien nicht

existieren Und wenn Frau Koch-Mehrin ihre Rechentheorien

so hart, aber nicht fair – in die Kameras verteidigt und vereidigt,

heißt es eben noch längst nicht,

dass das so ist.

Aber es wird durchgewunken.

Lange Zeit wird es durchgewunken.

Gleis frei für den ICE Guido, Gleis frei für den

Europa-Express Blondi.

Die Bediensteten des deutschen Journalismus stehen am Bahnsteig und staunen.

Manchmal sind sie auch ratlos.

Aber dann rauscht wieder so ein ICE an ihnen vorbei

und er ist schon weg, bevor sie ihr Laptop ausgepackt haben.




Wie Erinnerungen anderer uns in den Spiegel blicken lassen

Gestern habe ich endlich einmal auf einen Sitz Hans Keilsons, des unlängst im Alter von 101 Jahren Verstorbenen, „Erinnerungen“ gelesen, die kürzlich unter dem Titel „Da steht mein Haus“ bei S. Fischer erschienen sind. Ein schmaler, gut lesbarer Band mit einem abschließenden, sinnvoll beigefügten Gespräch zwischen dem Autor und dem Herausgeber Heinrich Detering.

Wenn es hier bei unseren Texten jeweils und grundsätzlich um ausgewiesene Ruhrgebietsnähe ginge (aber um die geht es generell ja gar nicht, da wir für unsere Texte als ohnehin im Ruhrrevier Schreibende keine derartigen Aufhänger benötigen), ließe sich ein Anknüpfungspunkt auch dieser Art bei Keilson unschwer finden. Auf Seite 93, zu Beginn des 19. Kapitels, ist zu lesen: „In Rekken erlebte ich die ersten Luftangriffe auf das benachbarte Ruhrgebiet.“ Aber ansonsten ist vom Ruhrgebiet nirgends mehr deutlich die Rede.

Doch mich hier beschäftigt ohnehin anderes. Mir ist in diesen behutsam und hellsichtig geschriebenen Erinnerungen, die Unangenehmes und Schlimmstes nicht verschweigen, aber auch um die Fehl- und Verführbarkeit von uns Menschen wissen, wieder einmal aufgefallen, wie sehr ich mich doch in solchen Erinnerungsbüchern immer auch vergleichend mitlese: Die eigene Geschichte und Vorgeschichte wird immer wieder copräsent, mitgegenwärtig, in der Lektüre vom Leben vermeintlich ganz anderer, uns zunächst fremder Menschen. Und es stimmt schon: vor allem drei Generationen, die eigene und die Eltern- und die Großeltern-Generation, spielen bei diesen hinzutretenden Lese-Spiegelungen eine ganz beträchtliche Rolle, also die Privatgeschichte und die große allgemeine Geschichte der letzten 100 Jahre in ihrem zu Recht kaum aufdröselbarem Verbund.

Biographien, Autobiographien, Erinnerungen, Briefe, Tagebücher haben für uns Leser… immer auch diese Funktion, unsere eigenen Erinnerungen vergleichend wachzurufen, und je älter wir werden, umso mehr. Und doch, wenn solche Erinnerungsbücher nicht sprachlich gut und menschlich ansprechend geschrieben sind, interessieren sie zumindest mich nicht, lese ich sie nicht weiter, mögen sie noch so viele faktisch interessante Details enthalten. Ich bin zum Glück kein Soziologe oder Historiker, der sich manchmal auch durch Wust hindurcharbeiten müsste; ich kann mir meine Lektüren aussuchen. Und zum Glück gibt es so gut geschriebene wie die von Hans Keilson eben auch.

Hans Keilson: „Da steht mein Haus“. S. Fischer Verlag. 141 Seiten. 16,95 Euro




Lesefreuden: Pawel Huelle, Fontane, Thomas Mann

(1) Was ist für Sie der mit Blick auf das Ruhrgebiet wohl wichtigste Roman? Stammt der von Erik Reger? Oder von Max von der Grün? Oder von Ralf Rothmann? –

Gesetzt den Fall, ein bedeutender Autor wäre ehedem oder unlängst auf die Idee gekommen, eine wiederholte Behauptung des manchmal bei uns heute noch als ehemaliger Expressionist bekannten Exilautors Paul Zech, er habe als junger Mann zwei, drei bzw. mehrere Jahre lang in den Kohlegruben von Herne, Bottrop, Charleroi und Mans gearbeitet, entschieden aufzugreifen, wir hätten vielleicht einen bedeutenden Revierroman um Zech oder Zechs expressionistische Generation herum.

Vorausgesetzt, dieser Autor wäre dabei ähnlich vorgegangen, wie es der polnische Autor Paweł Huelle mit einem Thomas-Mann-Zitat aus dem „Zauberberg“ getan hat. Dieses Zitat ist der deutschen Ausgabe des Romans „Castorp“ (nicht der originalen polnischen!) noch vor dem Kierkegaard-Motto (des Originals UND der Übersetzung) als Einstiegsmotto eigens vorangestellt: „Damals hatte er vier Semester Studienzeit am Danziger Polytechnikum hinter sich (…)“. Aus diesem in Thomas Manns Roman eher beiläufigen Satz hat Paweł Huelle nun sein ganzes, weit darüber hinausgehendes Erzählprojekt entwickelt. Mit einem für mich als Leser sehr überzeugenden Ergebnis.

(2) Als wir am Pfingstsamstag von Bottrop über Essen und Hamburg-Harburg und Stralsund mit dem Zug zu unserer ersten größeren Reisestation Swinemünde, wie Świnoujście einst hieß, fuhren, und noch ehe die zwei abschließenden Reisetage in Danzig (Gdánsk) 9 Tage später gekommen waren, war die Zeit für dieses von mir bisher dummerweise immer nur angelesene Buch endgültig gekommen. Im Zug beschränkte ich mich, weil es ab Hamburg-Harburg so viel Neues für mich zu sehen gab, wohlweislich auf die beiden ersten Kapitel. Doch an den drei, vier nächsten Tagen begann ich jeweils (und sehr gerne) meinen frühen Tag mit ihm, bis ich es ausgelesen hatte. Und kaum hatte ich das Buch ausgelesen, fand ich es wert, noch einmal gelesen zu werden. Und in der Tat: Das erste Kapitel wurde bei erneuter Lektüre nach der Lektüre des gesamten Romans noch plastischer und um vieles sprechender als beim ersten Mal.

(3) Wer einen Einstieg in Thomas Manns „Der Zauberberg“ sucht oder eine Wiederanknüpfung, der greife zu diesem leichtfüßigen und en passant tiefsinnigen Buch. Nach der Lektüre wird man durch Huelles dezentes Präludieren und unplumpes Variieren erneut Lust auf Thomas Manns „Zauberberg“ bekommen, und ganz sicher wohl auch auf weitere Werke Paweł Huelles, zumal die, die – nicht unbeträchtlich – bereits vorliegen.

(4) Auf unserer literarisch akzentuierten Reise nach Pommern hatten wir Swinemünde natürlich auch als Fontane-Stadt wahrgenommen: Vgl. Fontanes „Meine Kinderjahre“ und Fontanes an Swinemünde und Umkreis gemahnende Kessin in „Effi Briest“. Nachdem wir uns auf unserer Wanderung am Sonntag unter anderem auch die Duell-Szene aus „Effi Briest“ in einer dem Romanschauplatz vergleichbaren Gegend bewusst gemacht hatten, stieß ich ausgerechnet am nächsten Morgen bei meiner allmorgendlich fortlaufenden Huelle-Lektüre auf jene Stelle, in der Hans Castorp – erst nachträglich über sich selbst erschreckend – ein zufällig in seine unmittelbare Nähe geratenes Geschenkpäckchen entwendet, das eigentlich dem weiblichen Part eines von ihm nach Ersterblickung beharrlich beobachteten Paars zugedacht gewesen war. Als er nach seinem ersten Erschrecken über sich selbst als eines spontanen Diebes seine Neugier nicht mehr zu zügeln vermag, öffnet er das Päckchen und findet darin ein sorgfältig eingepacktes Buch, das sich schließlich als eine deutsche Ausgabe von Fontanes „Effi Briest“ herausstellt; da es sich um ein miteinander verstohlen französisch sprechendes Paar (sie eine junge Polin, er ein Russe) handelt, das sich wohl heimlich in Danzig getroffen hat, ein nicht unbedingt gleich erwartbares Buch. Diesen Fontane-Roman nun, den Hans Castorp vor seinem Abitur schon einmal zu lesen begonnen hatte, der ihn damals aber schrecklich langweilig vorkam, liest er nun in dieser spezifischen Situation (er hat sich – ohne es sich gleich einzugestehen – längst in diese Fremde verliebt) auf einmal ganz anders, er kommt die ganze Nacht nicht mehr von diesem Roman los und liest ihn ganz aus und später immer wieder. Fortan wird in Huelles Roman nicht mehr nur das Thomas-Mann-Thema, sondern auch das Fontane-Thema eine bedeutsame Rolle spielen, aber niemals plump und lastend, immer grazil und liebevoll und manchmal leise ironisch.

(5) Als eine See- und Mordgeschichte, wie ein Zeitgenosse Theodor Fontanes einen seiner eigenen wichtigen Romane – etwas irreführend, aber auch nicht ganz falsch – untertitelt, könnte Huelles Roman „Castorp“ bei understatementhaft wohl bewusst ausgesparter Kriminalästhetik durchaus auch gelesen werden: Ziemlich am Anfang steht so Castorps Seereise von Hamburg nach Danzig, wo er für einige Semester Schiffbau zu studieren gedenkt und von Mord und Totschlag und anderen Verbrechen ist im Gesamtverlauf durchaus nicht nur die Rede, es wird vielmehr Ernst damit; auch mindestens ein Detektiv und Geheimdienstliches spielen eine wichtige Rolle. Am Ende, auf der allerletzten Seite des Romans, weitet der Erzähler in einer nun ganz direkt an den Protagonisten Hans Castorp gerichteten Anrede den Zeithorizont aus und macht bewusst, was alles zwischen dieser im Jahr 1904 angesiedelten Geschichte und uns heute liegt.

(2004 ist dieser Roman auf Polnisch, 2005 auf Deutsch erschienen; eine polnische Ausgabe habe ich noch am letzten Dienstag in einer Danziger Buchhandlung gesehen und auch ein wenig angeblättert.)

Das Foto zeigt Pawel Huelle (Aufnahme: Slawek)




Nostalgisches Kino: „Wasser für die Elefanten“

Jacob Jankowski ist irgendwas über die Neunzig, so ganz genau weiß er das nicht mehr. Eben noch mitten im turbulenten Trubel seines Familienlebens steckend, findet er sich in den Niederungen eines Seniorenheimes wieder. Hauptsächlich damit beschäftigt, etwas für seine Würde zu tun. Als ein Wanderzirkus seine Zelte auf dem Parkplatz vor dem Seniorenheim aufschlägt, träumt er sich in seine Vergangenheit zurück. In die Zeit, welche die schönste und zugleich auch die schlimmste seines Lebens war. Im Amerika der 30er-Jahre-Depression steht er – Student einer Elite-Universität – nach einem Schicksalschlag plötzlich vor dem Nichts und findet sich unvermutet wieder als Tierarzt bei „Benzinis spektakulärster Show der Welt“ , einem der legendären Eisenbahn-Zirkusse jener Zeit. Die Autorin Sara Gruen erzählt in ihrem Roman Jacobs Geschichte auf zwei Zeitebenen so zart und liebevoll wie leidenschaftlich und bildgewaltig. Das Buch (Rowohlt-TB) lag all jenen am Herzen, die sich nach einer seelenvollen Geschichte sehnten. Einer Geschichte mit einem ebenso überraschenden wie befriedigendem Ende.

Nun also der Film. Es heißt, Sara Gruen sei begeistert gewesen. Ihre Leser werden ihr größtenteils zustimmen. Der Film folgt der vorgegebenen bescheidenen Linie, verzichtet auf Effekthascherei und Sensationsgier. Darstellerisch überzeugte er mich nur bedingt. Es fragt sich, ob Robert Pattinson mehr als zwei Gesichtsausdrücke zu bieten hat, Reese Witherspoon kann eigentlich auch anders als nur unterkühlt. Ihre Marlena ist in der Buchvorlage nur vordergründig kühl, ihre besondere Gabe zur Zärtlichkeit kommt deutlich zum Tragen. Böse Zungen behaupten, der Elefant sei der beste Darsteller gewesen, aber es gab ja auch noch Christoph Waltz. Seine Rolle ist eine ambivalente, was ihm bekanntermaßen liegt. Folgerichtig ist sein August die Rolle, welche dem Zuschauer am endrucksvollsten in Erinnerung bleibt.

Die Film-Adaption erinnert an das gefühlige Kino  der 80er Jahre. Heute wirkt sie altmodisch. Im guten Sinne. Die nostalgische Atmosphäre des Films, seine wehmütige Dichte bieten Kino zum Träumen und zum Eintauchen in eine fremde Welt.

„Wasser für die Elefanten“ läuft – noch – in den großen Multiplex-Kinos in Essen, Bochum und Dortmund.




Apollinaire im Nachgang: „Flaneur in Paris“ auf Deutsch

Wie konnten Guillaume Apollinaires literarische Streifzüge durch Paris über mehr als neunzig Jahre unübersetzt bleiben? In Frankreich ist das vergnügliche kleine Buch bereits 1919 unter dem Titel „Le Flâneur des deux rives“ erschienen.

Apollinaire führt seine Leser durch Viertel wie das damals noch ruhige Auteuil (heute ein Quartier des 16. Arrondissements). Oder in die zum Rive Gauche gehörenden Straßen Saint-André-des-Arts und die Rue de Buci. Das unbekannte, vom Verschwinden bedrohte Paris und seine Geschichten, aber auch das Paris der großen Boulevards und Künstlertreffpunkte wie das Café Napolitain sind in dem Buch vertreten. Vor allem geht es um die Menschen, die diese Schauplätze belebten: Bohemiens, eigenwillige Buchhändler, Kleinverleger und verschiedenste Originale.

Ein Bilderrätsel, das dem Flaneur scheinbar zufällig vor die Füße flattert, führt zum Kontakt mit einem Maskierten und am nächsten Morgen zum Besuch bei dem durch die Auflösung des Rebus‘ identifizierten Schriftstellerkollegen. Das Hotelzimmer, das der exzentrische Ernest la Jeunesse, Autor inzwischen vergessener Romane, bewohnt, erweist sich als vollgestopftes Kuriositätenkabinett.

Freude an Mystifikationen, Überblendungen von Realität und Fiktion, Klatsch und ausgelassene Späße begegnen uns fast auf jeder Seite – Späße wie der fiktive Antiquariatskatalog (mit authentischen Buchtiteln) im Kapitel „Die Quais und die Bibliotheken“, dessen Einträge zum Beispiel lauten:
„BOISGOBEY (F. de). Enthauptet. In 2 Teilen, Kopf beschnitten, stockfleckig“ oder
„GRAVE (Th. De). Der Hochstapler. Mit falschem Titel“.

Ein staubiges Kellergewölbe in der Rue Laffitte Nr. 8, in dem sich Bilder zeitgenössischer Maler stapelten und Künstler wie Picasso, Redon, Bonnard und Derain sich zu exotisch gewürzten Speisen mit schönen Frauen trafen, nimmt Apollinaire als Ausgangspunkt, um sich an Léon Dierx, den Prince des Poètes aus dem Kreis der Parnassiens zu erinnern, dessen Ruhm inzwischen verblasst sein dürfte. So sind es im Buch weniger die noch heute großen Namen unter seinen Freunden – Pablo Picasso, Max Jacob, Robert Delaunay, Marcel Duchamp, Blaise Cendrars, Alfred Jarry u. v. a. –, denen Apollinaire mit seinen „Chroniques“ ein Denkmal setzt. Stattdessen wird der dichtende Garkoch Michel Pons porträtiert. Oder das private Napoleon-Museum eines zehnjährigen Schülers. Oder ein sich offenbar aus verschiedenen Informanten zusammensetzender Gesprächspartner, der die Bibliotheken der Welt bereist.

Der Erste Weltkrieg bildet einen Einschnitt in der Welt der Pariser Bohème. Die meisten Kolumnen waren zwar vor 1914 erschienen, größtenteils im Mercure de France. Für die Buchform hat Apollinaire sie sich 1918, kurz vor seinem Tod, noch einmal vorgenommen. Gegenüberstellungen mit der verlorenen Vorkriegszeit finden wir fast in jedem Kapitel. So trägt das Buch erheblich dazu bei, nicht nur einzelne Zeitgenossen, sondern eine ganze Epoche, die Welt, in der Flaneure noch exquisite Spazierstocksammlungen besaßen, vor dem Vergessen zu bewahren.

Walter Benjamin reihte „Le Flâneur des deux rives“ bereits 1929 unter die „Bücher, die übersetzt werden sollten“ ein. Nun ist es dem Übersetzer und Herausgeber Gernot Krämer sowie der Friedenauer Presse zu verdanken, dass wir Apollinaires Wonnen der flânerie erstmals auf Deutsch lesen können. Neben der gelungenen Übertragung des sicherlich nicht leicht zu übersetzenden Autors überzeugt die Publikation durch die editorische Sorgfalt und das kenntnisreiche Nachwort. Den Anmerkungsapparat der 1993 in den Editions Gallimard erschienenen Pléiade-Ausgabe hat Gernot Krämer durch eigene Recherchen bereichert und geht vielen interessanten Spuren nach, die die Herausgeber der französischen Ausgabe vernachlässigt haben.

Die Lektüre verlockt, die Wege Apollinaires über Satellitenbilder und Stadtpläne zu verfolgen. Oder gleich nach Paris zu fahren und dem „Flaneur in Paris“ an beiden Ufern der Seine nachzuwandern.

Guillaume Apollinaire: „Flaneur in Paris“. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, Berlin 2011, 136 Seiten, 16 Euro




Zu Fuß durch Amerika

Eine seltsame Art zu reisen kündigt bereits der Untertitel an: „Zu Fuß durch Amerika“. Ausgerechnet durch das Land der Autofahrer. Doch dann erinnert man sich an den Namen des Autors. Wolfgang Büscher, das war doch der Journalist, der vor acht Jahren in seinem Buch „Berlin-Moskau“ einen ähnlichen Fußmarsch durch die östliche Pampa beschrieben und damit einen Bestseller gelandet hatte.

„Hartland“ lautet der Titel seines neuen Reisebuches, und da zögere ich bereits, denn Büscher ist weit mehr als ein Reiseschriftsteller. Hartland ist ein einfühlsamer, poetischer Zugriff auf das riesige, vertraute und doch so fremde Land auf der anderen Seite des Meeres.
Büscher kannte Amerika nicht, bevor er sich mit großem Rucksack und ausreichend Geld von Kanada aus zu Fuß auf den Weg von Nord nach Süd durch den Mittleren Westen der USA macht, von der kanadischen Grenze bis nach Mexiko.

Er lässt sich auf die Menschen ein, sieht Vorurteile bestätigt oder widerlegt und wird überrascht durch Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und echte Offenheit vieler Amerikaner. Er folgt teilweise den Spuren der Zerstörung, die wir europäischen Eroberer auf dem Weg nach Westen hinterließen. Er spricht mit Indianern und modernen Cowboys, lässt sich streckenweise in Pick-Ups mitnehmen und kommt so auch in Familien und fromme Christengruppen. Ratlos hört er den durchweg konservativen Meinungsäußerungen der Leute im amerikanischen Herzland zu – denn darauf bezieht sich auch der doppeldeutige Titel: Hartland heißt der erste Ort, den Büscher in den USA betritt, und dieser Name leitet sich von „Heartland“ ab. Aber Büscher lässt bei seiner Wegbeschreibung keinen Zweifel, dass er auch die deutsche Bedeutung von „Hartland“ meint, wenn er den endlosen Marsch durch die Prärie beschreibt oder den Spuren der unglückseligen Geschichte der amerikanischen Ureinwohner folgt. Zum Schluss verliert er zwar noch sein Gepäck, aber auch dem kann er erfrischende Gedankengänge abgewinnen.

Wer sich von Büschers weicher Prosa mitziehen lässt, und das ging auch schon bei „Berlin-Moskau“ so, der versteht sofort, warum der Autor bereits vor Jahren den Tucholsky- und den Ludwig-Börne-Preis erhielt.

Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika. Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 19,90 Euro




Die Fassade bröckelt

Eigentlich kreisen alle seine Bücher seit vier Jahrzehnten um die Lust auf Sex, Rausch und Drogen, den Hang zu kernigen Typen und rauflustigen Boxern. Wolf Wondratschek (Jahrgang 1943) ist vielleicht der letzte Macho der deutschen Literatur.

Doch jetzt, immerhin sind die besten Jahre vorbei und die Lebensuhr rückt unbeirrbar weiter, bröckelt die selbst gezimmerte Fassade. Der harte Kerl wird nostalgisch, lässt sein Leben Revue passieren und wird, wenigstens ein bisschen, gefühlig. Das liegt vor allem daran, dass Chuck, sein literarisches Alter Ego, in späten Jahren Vater eines Sohnes geworden ist und nun, mit Mitte 60, schwer ins Grübeln kommt. Zwar liebt Chuck seinen pubertierenden Sohn abgöttisch, aber er erreicht ihn nicht. Und verstehen kann er ihn schon gar nicht. Wie sollte er auch, ist der Sohn doch das Ebenbild seines Vaters als junger Mann: ein aufmüpfiger Mensch, der von den autoritären Erziehungsmethoden der Alten nichts hält und seine eigenen Erfahrungen machen will.

In „Chuck´s Zimmer“, einer 1974 im Alternativverlag „Zweitausendeins“ erschienenenen Sammlung mit Gedichten und Liedern, hatte Wondratschek sich zu einem drogen- und sexsüchtigen Intellektuellen stilisiert, der gegen alle politischen Ideologien und festen Beziehungen rebelliert. Das Gedicht „Warum Gefühle zeigen?“ endete mit den Zeilen: „Chuck, der sein Kind liebt, / das nie zur Welt kommen wird.“ Das wäre wohl auch zeitlebens so geblieben. Doch irgendwann hat der Zufall zugeschlagen. Weil Chuck mal wieder pleite war und kein Geld hatte, um in die Suchtklinik zu fahren, ging er in eine Bar und lernte eine Frau kennen, die ihm „Das Geschenk“ eines Sohnes machte.

Nun hockt Chuck alias Wondratschek am Schreibtisch und weiß nicht recht, was er mit diesem Geschenk anfangen soll. Weil Chuck seinen bei der Mutter lebenden Sohn selten sieht und sich zwischen ihnen emotionale Abgründe auftun, möchte der Vater sich dem Sohn durch Erzählen nähern. Er greift tief in die Erinnerungskiste, gräbt verschüttete Erlebnisse aus, versucht dem Sohn zu zeigen, dass auch der strenge Vater nicht immer nur ein alter Sack, sondern einmal ein junger Spund war. Dabei entstehen ein paar wunderbar witzige literarische Miniaturen. Der Besuch bei einer attraktiven Urologin: eine kabarettistische Glanznummer. Das Ansinnen, bei einem Treffen der Pharmaindustrie als Dichter aufzutreten: ein Abgesang auf die Rolle des Schriftstellers als Weltveränderer. Der Exkurs über Donald Duck als Genie des Scheiterns: eine an Samuel Beckett anknüpfende, absurde Kapriole.

Doch den hintergründig-humorvollen Sentenzen und aufgekratzten Selbstbespiegelungen haftet auch etwas Trauriges und Melancholisches an: ein eitler Pfau spreizt sich noch einmal und mutiert vom Macho zum nostalgischen Rentner. Der merkt denn auch gar nicht, dass ihm der Sohn als Zuhörer schon längst entflohen ist. Chuck spricht eigentlich nur noch mit sich selbst und benutzt den Sohn als Projektionsfläche seiner Reminiszenzen. Kein großes Buch, aber auch kein schlechtes.

Wolf Wondratschek: „Das Geschenk“. Hanser Verlag, München. 173 S., 17,90 Euro.