Im 100. „Schreibheft“: Vergessene, verkannte, verschollene Autorinnen und Autoren

Kürzlich ist die einhundertste Ausgabe der Literaturzeitschrift Schreibheft erschienen. Zu diesem Anlass hat der Schriftsteller Frank Witzel einen umfangreichen Essay verfasst, mit dem Titel „Von aufgegebenen Autoren – 100 Vergessene, Verkannte, Verschollene“.

Mit einigen der darin auftauchenden Namen erinnert der Autor an die inzwischen 46-jährige Geschichte der Zeitschrift. An Ernst Müller beispielsweise, der nicht nur in der legendären Rowohlt-Reihe das neue buch, sondern auch in den Schreibheft-Ausgaben 18 und 19 (beide aus dem Jahr 1982) veröffentlicht wurde, oder auch an den in ganz frühen Heften mehrfach vertretenen Uli Becker. Ein Wiedersehen mit Emil Szittya gibt es, dessen Buch Das Kuriositäten-Kabinett von 1923 in einer schönen Ausgabe 1979 im Verlag Clemens Zerling neu aufgelegt wurde, von dem sonst aber wenig auf dem deutschen Markt zu haben ist.

Manche Nennungen fordern unser Gedächtnis heraus; an viele aber dürften auch die langjährig Lesenden sich nicht erinnern, soweit sie die Namen überhaupt jemals gehört haben. Das sind keineswegs solche Autorinnen und Autoren, die sich mit ihren Texten zeitlebens bei einer Vielzahl von Verlagen erfolglos beworben haben; keine dritte, vierte oder noch niedrigere Liga aus der Schar der kreativ Schreibenden. Frank Witzel nennt ausschließlich einzigartige Autorinnen und Autoren, die aus verschiedensten oder aber aus unersichtlichen Gründen nicht zum verdienten Erfolg gelangten, beziehungsweise nach einer kurzen Zeit relativer Bekanntheit wieder in Vergessenheit gerieten. Gleichwohl bleibt die Frage nach dem Warum beim Autor wie bei uns staunend Lesenden im Raum.

Größenwahn oder falsche Bescheidenheit

Einige der hier vorgestellten Autorinnen und Autoren dürften an den eigenen Ansprüchen gescheitert sein. Sei es, dass die gefühlte Größe nicht mit den sichtbaren literarischen Hervorbringungen korrespondierte; oder sei es, dass es schlicht an Durchsetzungswillen haperte, der für den erfolgreichen Kunstschaffenden ebenso wichtig ist wie sein schriftstellerisches Talent. Gigantomanie und falsche Bescheidenheit können gleichermaßen dem Erfolg im Wege stehen.

Manchen der im Dossier Genannten mochte das Realistische immer einige Nummern zu klein erschienen sein. Die bei Verlegern beliebte Ablehnungsbegründung – „genial, aber leider völlig unverkäuflich“ – könnten einige dieser Hundert als durchgehendes Thema in verschiedenen Variationen zu hören bekommen haben. Wenn ihnen nicht gar offenes Misstrauen entgegenschlug, wie im Fall von Jaron Kohler, dessen konzeptionell angewandtes Schreiben in den frühen 1990er Jahren in 25 „Selbstauskünften“ darin bestand, vermeintlich eigene Werke zu beschreiben und zu analysieren, die als solche nicht existierten. Mit Anschuldigungen konfrontiert, wollte er den Beweis der Echtheit seiner Werke nachreichen, was dann aber zu dauerhaftem Verstummen führte.

Selbstaussagen zur eigenen Erfolglosigkeit

„Die Dunkelziffer derer, die schreiben oder einmal geschrieben haben, ohne je etwas zu veröffentlichen, und von denen nie jemand etwas erfahren wird, weil sie ihre Werke niemandem zeigen und rechtzeitig für deren Vernichtung sorgen, ist groß“, vermutet Frank Witzel und weist auf den Versuch einer wissenschaftlichen Ursachenforschung hin. Der Herausgeber der Untersuchung Abfertigung – Was die Umsetzung von Ideen verhindert (2014), Jan Hettinger, gibt sich selbst als „gescheiterter Romancier“ zu erkennen und interviewt siebzehn Personen, bei denen er eine ähnliche Problematik annimmt. Zwei seiner Interviews aus dem Band werden im Schreibheft gekürzt wiedergegeben. Die 37-jährige Germanistin Carol Meyerhuth aus Düsseldorf sagt über sich aus, dass es ihr nicht an Arbeitseifer mangele, sie vermute vielmehr, „dass es dieser Arbeitseifer ist, der den Abschluss eines Werks verhindert.“ Dabei scheint sie es ohne Verbitterung ertragen zu können, wenn ihr größere öffentliche Anerkennung versagt bleibt.

Kunst und Gesellschaft

„Vielleicht hat Kunst nie etwas mit Gesellschaft zu tun gehabt; vielleicht war sie immer nur Ausdruck der Panik, daß man es immer nur mit sich selber zu tun hat“, notierte Wilhelm Genazino am 8. September 1985 (nachzulesen in: Wilhelm Genazino „Der Traum des Beobachters. Aufzeichnungen 1972–2018“; Hanser München 2023). Unter den in Frank Witzels Essay mit ausführlichen Leseproben wiedergegeben Autorinnen und Autoren sind einige, die weder den Hallraum eines großen Publikums suchen noch sich in Konkurrenzsituation begeben möchten. „Der Geist entwickelt sich nur allein, nur dort, wo er sich nicht ständig messen muss“, schreibt der 1927 in Hannover geborene Friedrich Ellmenbeck, einer der 100 ausgewählten Autoren.

Manche ziehen sich bewusst und willentlich zurück, denn die Aussicht auf Erfolg kann auch Ängste hervorrufen. So mutmaßt Frank Witzel etwa im Zusammenhang mit dem ihm aus frühen Jahren bekannten „genialischen Dichter“ Erwin Kliffa, mit dem er ein gemeinsames Projekt begonnen und der sich trotz einer realen Publikationsmöglichkeit daraus zurückgezogen hat, dass dieser den letzten Schritt der Veröffentlichung scheute – „Nicht allein aus der Angst heraus, dass nun die eigene Arbeit bewertet wird, sondern im Bewusstsein, dass die Unschuld des Für-sich-Schreibens und damit auch des Vor-sich-Hinschreibens ein für alle Mal verloren ist.“

Vertraue Innen- und kritische Außenwelt

Unter den im 100. Schreibheft auftauchenden Unbekannten sind einige, denen die Notwendigkeit täglichen Schreibens vertrauter gewesen sein dürfte als das Bedürfnis, etwas davon vorzuzeigen. Was nicht bedeutet, dass sie ihr Schreiben als ein bloßes Steckenpferd ansahen. Es sind Autorinnen und Autoren, die eher in eine Literaturgeschichte gehören als auf den Markt. Damit sind sie im Schreibheft an einem guten Platz, fügen sich doch die bisher erschienenen hundert Hefte zu einer besonderen Geschichte der Gegenwartsliteratur zusammen.

In guter Gesellschaft

Große Namen, die keineswegs vergessen sind, blinken – nicht unter den Hundert, aber in den Erklärungsversuchen – als Leuchtfeuer auf: Wolfgang Koeppen, der mit seinem über vierzig Jahre hinweg immer wieder angekündigten letzten Werk nicht fertig wurde, Wolfgang Hildesheimer, der mit dem Schreiben aufhörte (ergänzt werden könnte auch Reinhard Jirgl), der lange Zeit unterschätzte Ludwig Hohl, und nicht zuletzt Samuel Beckett, der so gekonnt zu scheitern verstand, dass er dafür die höchste Auszeichnung erhielt, die für Literatur vergeben wird, den Nobelpreis, was aus seiner subjektiven Sicht wiederum die schlimmstmögliche Katastrophe war.

In einem Interview sagte Wolfgang Koeppen: „Das Schreiben, um das es hier geht, ist keine Frage der Erwägung, der Marktanalyse, der Berechnung, der Erfolgsaussicht. Dieser Schriftsteller kann nur sein, was er ist, er selbst, er kann nur schreiben, wie er schreibt, das ist ein Zustand, keine Wahl…“ (nach: Wolfgang Koeppen – Gespräche und Interviews. Werke, Band 16; hrsg. Von Hans-Ulrich Treichel; Suhrkamp Verlag; vgl. auch Revierpassagen am 12.04.2019).

Der Zufall möglicherweise

Frank Witzel weist darauf hin, wie subjektiv seine Zusammenstellung geraten ist und dass es zu anderen Zeiten auch andere Namen hätten sein können. Jedem fallen wohl Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein, die man selbst gern zu den Vergessenen rechnen würde. Keine „Gegengeschichte“ der Literatur strebt Witzel mit seinem fast 130-seitigen Essay an: „Mit meiner rein subjektiven Sammlung möchte ich meinem Erstaunen Ausdruck geben, von wie vielen Zufällen, seien sie persönlich oder zeithistorisch, es abhängig ist, ob ein Werk bekannt und rezipiert wird.“ Sein Essay „will deshalb auch nichts anderes sein als ein mit einhundert Beispielen unterstützter Hinweis auf eine literarische Welt, von der wir wenig wissen und manchmal noch nicht einmal etwas ahnen.“

So gerät das Schreibheft-Dossier vielleicht zu einer Art Trost-Büchlein für die weit mehr als hundert Vergessenen, Verkannten und Verschollenen, die auch in diesem verdienstvollen Beitrag nicht auftauchen und die gegenüber den Anerkannten und hinreichend Gewürdigten in der Überzahl sein dürften. Doch Vorsicht: Es gilt zu unterscheiden zwischen denen, die verkannt oder vergessen wurden, und denen, die literarisch wirklich schlecht sind. Aber solche findet man schon sehr, sehr lange nicht mehr im Schreibheft.

Eine Typologie bedeutender Unbekannter

Subtil zeichnet sich in Frank Witzels kluger Zusammenstellung so etwas wie eine Typologie verschiedener großer Unbekannter ab. Manche der Topoi tauchen bei ganz unterschiedlichen Schriftsteller-Persönlichkeiten auf: Das stille Wirken abseits des Marktes etwa, oder die Vermeidung von Rivalität; die Einsicht, dass das Schreiben nie an ein Ende gelangt, verbunden mit einem Hang zum offenen, sich stets verändernden und prinzipiell nicht abschließbaren Lebenswerk.

Viele der Selbstaussagen und Charakteristiken der 100 im Dossier vorgestellten Autorinnen und Autoren passen perfekt zum Schreibheft. „Kommerzielles bitte an einen Publikumserfolgsverlag einsenden!!!“, stand bereits in der ersten Ausgabe, die im März 1977 erschienen ist. Über die Jahrzehnte hinweg widmete sich die Zeitschrift solcher im Grunde unverkäuflichen Literatur. Was nicht heißen soll, dass sich nicht auch das Schreibheft erfolgreich in der deutschsprachigen Literaturlandschaft behauptet hätte. Selbstverständlich kann man die einzelnen Ausgaben kaufen und besser noch das Schreibheft als Ganzes abonnieren. Etwa ab dem Heft 18 mit Norbert Wehr als alleinigem Herausgeber nähert sich das Periodikum der Form an, die es spätestens mit Heft 22 (1983) gefunden hat (die Hefte 22–50 sind 1998 auch im Reprint bei Zweitausendeins erschienen). Ein Kosmos für sich, mit einem stets sich erweiternden Kreis von Autorinnen und Autoren, stellt die Zeitschrift in ihrer Gesamtheit gleichsam ein Kompendium der anspruchsvollen und innovativen Gegenwartsliteratur dar, ihre frühen Wegbereiter eingeschlossen.

Singuläre Autorin: Marianne Fritz

Traditionell stellt jedes Schreibheft eine sorgfältig ausgetüftelte Komposition aus zwei oder drei Themenschwerpunkten und einigen weiteren passenden Texten dar. So auch das 100. Heft. Frank Witzels langer Essay stimmt uns gut auf das in derselben Ausgabe folgende Dossier zu der österreichischen Extremautorin Marianne Fritz (1948–2007) ein. Nach literarischen Großprojekten, wie das mit dem Arbeitstitel Die Festung, oder der zwölfbändige Roman Dessen Sprache du nicht verstehst (1985), mit dem sie, ausgehend vom Jahre 1914, hunderten ausschließlich dem Proletariat zugeordneten Haupt- und Nebenfiguren eine eigene Sprache gibt und sich von der „offiziellen“ Geschichtsschreibung absetzt – und erst recht durch ihre in den folgenden Jahren entstandenen Arbeiten „Naturgemäß I, II und III“ ließe sich die Autorin gut in die im vorausgegangen Dossier beschriebenen Schriftstellerbiographien einreihen.

Schon die Einzeltitel des 1996 in fünf Bänden erschienenen Werkes Naturgemäß I: Entweder Angstschweiß / Ohnend / Oder Pluralhaft lassen eine Lektüre fernab der Bestsellerlisten erwarten. Doch Marianne Fritz, deren Bücher ab 1978 im Verlag S. Fischer und ab 1985 bis zu ihrem Tod bei Suhrkamp erschienen sind, kann man schwerlich als eine vom Literaturbetrieb Verkannte bezeichnen; gleichwohl droht ihr das Vergessenwerden, würde nicht eine Zeitschrift wie das Schreibheft – nun über einen längeren Zeitraum bereits zum dritten Male – an sie erinnern. In den 1990er-Jahren wurden die ersten beiden Teile der auf drei Abteilungen angelegten Riesenarbeit „Naturgemäß I, II und III“ als Faksimile des Typoskripts veröffentlicht, das die wechselnden Schriftbilder, Karten, Formeln und Randnotate wiedergibt, sodass der dem Satiremagazin Titanic nahestehende Schriftsteller Gerhard Henschel urteilte: „Wer ‚Naturgemäß II‘ lesen möchte, muß die Bände drehen wie ein Lenkrad.“

Erstaunliche Materialfülle

Naturgemäß III, ein Werk, das Marianne Fritz nicht mehr beenden konnte, gibt es seit 2011 auf der Seite www.mariannefritz.at in einer Online-Fassung. Im zweiten Dossier des 100. Schreibheft setzen sich Kennerinnen und Kenner ihres Werkes mit der singulären Wiener Autorin auseinander. Lesenswert! Ebenso wie zwei Beiträge am Ende des Heftes, die angesichts der Materialfülle fast unterzugehen drohen: Esther Kinskys Rede zum Kleist-Preis und Hervé Le Telliers Text zu drei „Begegnungen“ mit Italo Calvino, dem zum Autorenkreis Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle) gehörenden Klassiker der Postmoderne. Vielleicht enthält jedes Schreibheft einfach zu viel des Guten.

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Veranstaltungshinweis:

SCHREIBHEFT, ZEITSCHRIFT FÜR LITERATUR – DIE 100. AUSGABE. Ingo Schulze im Gespräch mit Frank Witzel und Norbert Wehr über 100 vergessene, verkannte und verschollene Autoren; Donnerstag, 16. März 2023, 19.30 Uhr, im LeseRaum in der Akazienallee, Essen (gegenüber Akazienallee 8-10).




Mit bösem Blick die feine Gesellschaft sezieren – aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt

Diese Texte sind 1989 schon einmal in Hans Magnus Enzensbergers „Anderer Bibliothek“ erschienen. Na und? Wenn bislang vergriffene Bücher das Entdecken oder (Wieder)-Lesen lohnen, dann solche. Kurz und gut: Der Verlag Galiani hat mit der Neuausgabe der „Blitzlichter“ einen Glücksgriff getan.

Es handelt sich um Auszüge aus den phänomenalen Tagebüchern der Brüder Goncourt, mit denen man so recht ins glanzvolle Paris des 19. Jahrhunderts samt all seinen exzentrischen Dichtern und Künstlern, den Salons und Soiréen, Kurtisanen und Kokotten „eintauchen“ kann.

„…sind mir diese Dirnen gar nicht so unangenehm“

Doch schon der Prolog der von Anita Albus glänzend übertragenen Aufzeichnungen zeigt, dass es nicht ums bewundernde Schwelgen geht – im Gegenteil. Edmond und Jules de Goncourt hatten den bösen Blick, mit dem sie die damalige „feine Gesellschaft“ nach Belieben sezierten und allerlei Sottisen noch über die vermeintlich erlauchtesten Geister zu Papier brachten; ja, das Wort Sottisen könnte geradewegs für solche literarischen Kabinettsstücke erfunden worden sein.

Dass es dabei selbst für heutige Begriffe sehr freizügig zugeht und immer wieder das frivole, oft genug auch bizarre Treiben der offenbar zahllosen Huren und ihrer ach so „edlen“ Klientel geschildert wird, versteht sich beinahe von selbst. Irgendwoher muss das Paris von einst seinen Ruf ja haben… Die Übersetzerin wählte übrigens mit Bedacht den Ausdruck „vögeln“ und nicht das derbe F-Wort. Die Goncourts goutierten finanziell „ausgehaltene“ Frauen: „Alles in allem sind mir diese Dirnen gar nicht so unangenehm. Sie heben sich ab von der Eintönigkeit, der Rechtschaffenheit, der gesellschaftlichen Ordnung (…) Sie bringen ein bißchen Tollheit in die Welt.“

Der Band ist alphabetisch nach beschriebenen Personen geordnet. Das Verzeichnis klingt wahrlich imposant. Die Brüder haben – aus mehr oder weniger regelmäßigem Umgang – Berühmtheiten gekannt wie: Charles Baudelaire, Daudet, Degas, Flaubert, Gautier, Victor Hugo, Huysmans, Maupassant, Rimbaud, Rodin, George Sand, Turgenjew, Verlaine und Zola – um nur eine erlesene Auswahl zu nennen.

Monsieur Flaubert und sein „Büffel-Frohsinn“

Selbst vor einem literarischen Genie wie Gustave Flaubert knieten sie keineswegs nieder. Gewiss haben sie spürbar gern mit dem Arbeits-Berserker geplaudert, doch bezeichnen sie den Monsieur aus dem normannischen Rouen als Grobian und provinziellen Effekthascher. Zitat: „Er ist ein maßloser Tolpatsch, schwerfällig in allen Dingen, im Scherz, in der Übertreibung (…) Seinem Büffel-Frohsinn geht jeglicher Charme ab.“

Mit Kaiser Napoleon III. und der wohl recht schwatzhaften Kaiserin Eugénie haben die Brüder Goncourt gleichfalls gesellschaftlich verkehrt. Auch über sie belustigen sie sich, so dass man durchaus nachvollziehen kann, dass die Aufzeichnungen erst im Jahr 1956 unzensiert erscheinen konnten. Der Kaiser, so erfahren wir, habe sich aus den Opernkulissen gern willige junge Frauen kommen lassen, die er in seiner blickdicht vergitterten Loge während der Aufführungen „vernaschte“. Operngenuss mal anders.

Wenn die Duse auf der Bühne Trauben aß

Vom Theater kennen die Goncourts beiläufig Legenden wie Sarah Bernhardt und Eleonora Duse, späterhin Inbegriffe der Divenhaftigkeit. Von der Duse heißt es, sie spiele nur Szenen, „die ihrem Talent entsprechen, während sie in allen anderen, die ihr mißfallen, Trauben ißt oder sich sonst irgendwelchen Zerstreuungen überläßt.“ Das muss man sich mal bildlich vorstellen. Bei der Bernhardt wiederum lebten, inmitten all der überbordenden orientalisch-japanischen Dekorationen, ein Affe und ein Papagei en famille, wobei der Affe den armen Vogel marterte und peinigte. Doch als man ihn deswegen wegnahm, starb der Papagei fast vor Kummer. Offenkundig eine amour fou, die vielleicht einem Marquis de Sade gefallen hätte, welch Letzterer nur namentlich vorkommt, weil just Flaubert von dessen sexuellen Verstiegenheiten besessen gewesen sei, wie die Goncourts genüsslich mitteilen.

Nicht nur Literaten und Künstler kommen vor, sondern vereinzelt auch Menschen der „niederen Stände“ bis hinab zur Gosse. Als seltsames Zwischenwesen tritt die verkrachte Schauspielerin Suzanne Lagier in Erscheinung, die ständig obszöne Reden schwingt und – um ein Wort von früher zu verwenden –  dermaßen „mannstoll“ ist, dass sie sich auch klaglos schlagen lässt und sich allenfalls selbst diverser Verfehlungen bezichtigt, so dass die Herren sie eben rechtmäßig züchtigen dürfen…

Ganz anders bewegend sodann die Passagen, die von Rose handeln, dem langjährigen und mit all ihren Gepflogenheiten vertrauten Dienstmädchen der Brüder. Sie starb einen qualvollen Tod. Erst danach stellte sich heraus, dass sie ein überaus wüstes Doppelleben geführt hatte. Mit heimlich abgezweigtem Geld der Goncourts kaufte sie sich Liebhaber und verfiel aus Kummer dem Suff. Hier hat es ein Ende mit den vielfach sarkastischen Betrachtungsweisen, die Brüder reden von einem Riss in ihrem Leben, von tiefer Trauer. Gleichwohl hat Alain Claude Sulzer in seinem mehrdeutig betitelten Roman „Doppelleben“ (erschienen im August 2022, ebenfalls bei Galiani) die Brüder Goncourt mit dem Schicksal von Rose konfrontiert und den Schluss nahegelegt, sie hätten nicht einmal bemerkt, wie neben ihnen eine Frau jämmerlich zugrunde ging, die sie seit Kindertagen betreut und bedient hatte. Das hört sich nach einem Filmstoff par excellence an.

Ihre Notizen waren gefürchtet

Edmond (1822-1896) und Jules (1830-1870) de Goncourt gelten als Mitbegründer eines eher mitleidlosen, scharf beobachtenden Naturalismus. Sie haben, nach allem, was überliefert ist, wie zuweilen verwechselbare Zwillinge über Jahrzehnte zusammen gelebt und nicht nur ihr Journal, sondern gar ihre Mätressen geteilt. Als charmante Plauderer nahmen sie die Menschen für sich ein, um sich hernach Notizen zu machen und selbige mit diabolischer Könnerschaft auszuformulieren. Manch eine(r) mied sie dann doch, um lieber nicht in ihren Bemerkungen vorzukommen und womöglich zum Gespött der Metropole zu werden. Auch Théophile Gautier argwöhnte: „Sobald man sie nicht anschaut, müssen sie wohl auf ihre Manschetten schreiben.“

Wie auch immer. Amüsante und verblüffende, vielfach auch degoutante Details finden sich in diesem Buch zuhauf. Eine äußerst kurzweilige Klatsch- und Tratsch-Lektüre, die Aspekte einer ganzen Epoche aufschließt. Sinnlichere Geschichts-Exkursionen lassen sich kaum denken.

Edmond und Jules de Goncourt: „Blitzlichter“. Aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Anita Albus. Mit bibliographischem Anhang und Register. Galiani Berlin, 352 Seiten. 25 Euro.

 




F. C. Delius: „Erinnerungen mit großem A“ (und ein paar anderen Buchstaben)

Na, da hat Friedrich Christian Delius – häufig gekürzelt als F. C. Delius – aber ein bisschen geschummelt. Die selbstgesetzte Vorgabe für seine „Erinnerungen mit großem A“ (Untertitel) lautete, dass die Bruchstücke aus seiner Biografie allesamt, quasi-lexikalisch, just mit dem Anfangsbuchstaben A überschrieben sein sollten.

Doch einer wie Delius hat sich nicht in ein derartiges Schreibkorsett gezwängt, er ließ mit Freuden fünfe gerade sein. Will er etwas über den Beatle Paul McCartney mitteilen, so läuft das eben unter A wie Abbey Road, geht es um den großen Georg Christoph Lichtenberg, so lautet das Stichwort „Agamemnon“ (weil L. diesen Namen in einem berühmten Aphorismus verwendet hat). Und so weiter, über zahllose Einträge hinweg. Viele stimmen jedoch auch bruchlos überein, was das A anbelangt. Beispiel: Adorf, Mario. Ein grundsympathischer Mensch, dessen Heiterkeit in wohltuender Weise ansteckend gewesen sei. Auch das glauben wir gern.

Delius, am 30. Mai 2022 verstorben, würde am 13. Februar 80 Jahre alt werden. Er ist eines von etlichen Pastorenkindern der deutschen Literatur, sein Vater war zeitweise Pfarrer an der Deutschen Evangelischen Kirche in Rom, deswegen ist F. C. Delius dort geboren, dann freilich in der hessischen Provinz (genauer: Wehrda bei Marburg) aufgewachsen, die es literarisch ebenfalls „in sich“ hat.

Ein erbärmlich schlechter Schüler – sogar in Deutsch

Tatsächlich zieht Delius hier, aller Fragmenthaftigkeit zum Trotz (das Leben besteht ja eh aus Bruchstücken), eine biographische und vielfach auch literarische Bilanz (wer will das bei ihm voneinander trennen?), die durch das Auswahlprinzip kleinteilig, kurzweilig und kristallin funkelnd geraten ist. Ein Leitsatz dazu stammt von Annie Ernaux, derzufolge es keine zweitrangigen Erlebnisse gibt. Man muss sie halt „nur“ zu schildern wissen. Bei Rilke wiederum holte sich Delius ein ergänzendes Motto, das da sinngemäß heißt, bloße Erinnerung reiche nicht aus, es müsse ein Gärungsprozess hinzukommen. Delius war stets klug und vorsichtig genug, derlei Entwicklungen abzuwarten, bevor er geschrieben hat. Gleichwohl haben seine Prosa und die Gedichte auch einen entschieden spontanen, erfrischenden Anteil.

Unter dem Zensuren-Schlagwort „Ausreichend“ berichtet Delius, dass er – selbst im Fach Deutsch – ein erbärmlich schlechter Schüler gewesen sei und lange Zeit heftig gestottert habe. Auch mit sportlichen oder musikalischen Taten habe er die Defizite bei weitem nicht ausgleichen können. Drum hat er oft lieber geschwiegen und sich den sprachlichen Innenwelten zugewandt. Gut denkbar, dass „1968″ mit seinen Vorläufern (Delius bezeichnete sich lieber als „66er“) für ihn als Befreiung gerade recht kam. Später hat er sich couragiert in mancherlei Debatten eingemischt und Reden vor hunderten Zuhörern gehalten. Erstaunlich genug und Hoffnung für viele verheißend.

Als sich Autoren ums „richtige“ Schreiben prügelten

Eine gewisse Schüchternheit muss dennoch nachgewirkt haben, hat er doch nach eigenem Bekunden eher befremdet und etwas ängstlich verfolgt, wie sich Autorenkollegen in den zuweilen so rigorosen Meinungskämpfen der 1970er Jahre über die richtige Art des Schreibens lauthals gestritten haben. Nach langem, immer wieder an der Beleidigungsgrenze fortgesetztem Disput, hatte sich zwischen Yaak Karsunke und Hans Christoph Buch so viel Wut aufgestaut, dass sich diese beiden Schriftsteller um die wahre Lehre geprügelt haben. Ja, auch solche anekdotisch getönten Innenansichten aus dem Literaturbetrieb zumal der 60er bis 80er Jahre enthält dieses Buch reichlich. Somit ist es eine Zeugenschafts-Quelle ersten Ranges.

Und wen hat er nicht alles gekannt! Mehr oder weniger alle wichtigen Protagonisten der Nachkriegsliteratur seit den Tagen der „Gruppe 47″, auch war er ein Wanderer und Mittler zwischen dem östlichen und dem westlichen Deutschland. Hier kommt er abermals auf seinen zermürbenden und kostspieligen juristischen Streit mit dem Siemens-Konzern (über das Buch „Unsere Siemens-Welt“) zurück; zudem greift er noch einmal die bewegten Verlagsjahre als Lektor bei Wagenbach auf, wo harsche ideologische Frontstellungen (vor allem die Haltung zum RAF-Terrorismus betreffend) zur Spaltung und zur Gründung des Rotbuch-Verlages führten, wo sogleich Peter Schneiders exemplarische Erzählung „Lenz“ Furore machte. Schneider forderte – sicherlich auch in Delius‘ Sinn – im literarischen Gewand mehr lebendige Dimensionen von den „Achtundsechzigern“ ein, die übers rein Politische hinausweisen sollten. Eine Diskussion, die damals praktisch alle linken Gemüter bewegte, sofern sie nicht in Rechthaberei erstarrt waren.

Ein undogmatischer Linker, dessen Stimme fehlt

Mit Klaus Wagenbach hat sich Delius nie wieder so richtig aussöhnen können, obwohl er es „beim Italiener“ versucht hat. Aber dazu hätten zwei gehört. F. C. Delius war ein durch und durch undogmatischer, geistig beweglicher Linker, dem die Orthodoxie vieler Richtungen und Splittergruppen fremd war. Gerade in den heutigen Zeiten vermisst man eine solche Stimme schmerzlich. Auch in diesem Buch benennt er das ein- und nachdrückliche Festhalten von Augenblicken als Wesen der Literatur, statt dass sie Gesinnungsprosa gleich welcher Couleur liefere.

Das Buch ist eine Fundgrube, so recht zum Stöbern, auch hin und her, vorwärts und rückwärts ist es lesbar, immer mit Gewinn. Gar manche Erfahrung lässt sich nur zu gut nachvollziehen, so etwa unterm Stichwort „Ahnung“ Delius‘ vage Frühzeit-Erinnerung an die Sechsjährige mit Erstklässler-Schulranzen, in die er sich als Fünfjähriger „verguckt“ hat. Bemerkenswert die ängstliche Regung des längst arrivierten Autors, vom hellsichtigen Großdenker Alexander (mit A) Kluge als „mittelmäßig“ durchschaut zu werden. Auch der einstige „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki kommt vor. Wohl kein Kritiker seiner Generation habe mit seinen Urteilen so oft danebengelegen wie MRR. Dennoch zollt Delius ihm milden Respekt. Auch seine Kritik am Kultautor Rolf Dieter Brinkmann hat etwas für sich. Über Brinkmanns „Rom, Blicke“ heißt es: „…teils geniale, teils banale Tiraden, aber sein Hass, seine Ego-Sicht machen ihn blind für die Widersprüche der Stadt und ihrer Bewohner…“

Was die junge Japanerin filmen wollte

Und dann ist da noch die Story unter dem Etikett „Ärsche“ – mit den beiden jungen Frauen, darunter eine Japanerin, die ihn und einen Freund 1967 in London bei einem Rockkonzert angesprochen haben, weil sie ihrer beider nackte Hinterteile filmen wollten. Holla! Nach etwas Hin und Her lehnten die Deutschen ab. Später erfuhren sie, dass es sich bei der Asiatin um die seinerzeit noch nicht so bekannte Yoko Ono handelte, die wahrhaftig zu ihrem Karrierestart einen solchen Film gedreht hat. Delius fragt sich nachträglich: Wäre die Rockgeschichte anders verlaufen, wenn sie zugesagt hätten? Hätte Yoko Ono dann eventuell John Lennon nicht oder erst später kennengelernt? Delius‘ Freund galt schließlich als ausgemachter Womanizer. Dabei kann man anderswo nachlesen, dass John und Yoko sich zum fraglichen Zeitpunkt bereits gekannt haben. Egal. Trotzdem eine nette Was-wäre-wenn-Geschichte.

So weit ein paar willkürlich gewählte Beispiele. Den ganzen großen „Rest“ möge jede(r) für sich erschließen. Bliebe lediglich noch zu klären, warum das Buch so heißt, wie es heißt: „Darling, it’s Dilius“ war der Ausruf mit angloamerikanischem Zungenschlag am anderen Ende der Leitung, wenn Delius bestimmte Freunde in den USA angerufen hat. Auch eine hübsche Idee, daraus den Titel zu basteln.

Friedrich Christian Delius: „Darling, it’s Dilius!“ Erinnerungen mit großem A. Rowohlt Berlin, 320 Seiten. 24 Euro.

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Gewissermaßen eine Vorläufer-Publikation war der 2012 erschienene Delius-Band „Als die Bücher noch geholfen haben“ – unsere damalige Besprechung findet sich hier.




Brücken dringend benötigt – „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban

Einst studierten Theresa und Stefan Germanistik in Münster, redeten ununterbrochen und tranken nächtelang, wollten die Welt retten oder doch wenigstens die deutsche Literatur. Sie waren wie unzertrennliche Geschwister und haben alles geteilt, nur nicht das Bett. Dann, von einem Tag auf den anderen, trennten sich ihre Wege.

Theresa brach Hals über Kopf ihr Studium ab, flüchtete wie von Furien gehetzt zurück nach Brandenburg, um nach dem Tod ihres Vaters den Bio-Milchhof zu retten und in eine ökologische Zukunft zu führen. Längst ist sie verheiratet und hat zwei Kinder, plagt sich mit einer Bürokratie, die keine Rücksicht nimmt auf den alltäglichen Überlebenskampf von Bauern in Zeiten des Klimawandels, wo die mickrige Ernte auf ausgelaugten Böden verdorrt oder von sintflutartigen Regenfällen weggeschwemmt wird.

Er wurde Starjournalist, sie Bäuerin

Solche schnöden analogen Probleme kennt Stefan nicht. Er hat in Hamburg als Journalist Karriere gemacht, lebt im coolen Schanzenviertel in einer schicken Altbauwohnung, ist stellvertretender Chefredakteur des „Boten“, der meinungsführenden Wochenzeitung der Republik. Während er im globalen Netz recherchiert, über MeToo, Black Lives Matter und Social-Justice-Bewegungen in einer gendergerechten Sprache schreibt, blickt er von seinem Schreibtisch aus über die Elbe hinüber zur Elbphilharmonie. Es scheint, als lebten Stefan und Theresa auf zwei verschiedenen Planeten, doch wohnen sie nur zwei Autostunden voneinander entfernt.

Abgründe tun sich auf zwischen dem Hashtag-Guru und Follower-Junkie Stefan, der den Tag gern mit einem guten Glas Rotwein ausklingen lässt, und der Bäuerin Theresa, die morgens um fünf mit Gummistiefeln im Stall steht und ihre Kühe versorgt, bevor sie ins Büro wankt und nachsieht, ob sie wieder auf Anordnung der Behörden ihre Weiden einzäunen und Äcker stilllegen muss, weil ein totes Wildschwein gefunden wurde, das mit einer Krankheit infiziert ist.

Lässt sich der Riss überhaupt noch kitten?

Lässt sich der Riss noch kitten, der zwischen den Welten dieser beiden Mittvierziger existiert und symbolisch steht für den Gegensatz sozialer Gruppen, deren Lebensweisen nicht kompatibel sind, die keine gemeinsame Sprache mehr haben?

Folgt man Juli Zeh und Simon Urban in ihrem Roman „Zwischen Welten“, sind die Brücken zwischen den sozialen Gruppen nur noch begehbar, wenn man sich aus besseren Tagen kennt und auf einen Fundus von alten Sympathien und (wackligen) Übereinkünften zurückgreifen kann. So wie Stefan und Theresa. Sie treffen sich zufällig nach 20 Jahren wieder und kommen sofort ins Gespräch, führen einen von alter Liebe und neuen Hoffnungen getragenen Streit. Per E-Mail und WhatsApp verhaken sie sich in einen Dauer-Diskurs, der nur unterbrochen wird, wenn Theresa ihren eifersüchtigen Ehemann beruhigen muss oder sich über agrarpolitischen Unsinn erregt, in Aktionen und Prostete versteigt und dabei in die Nähe von Wutbürgern und Rechtspopulisten gerät.

„Das interessiert nur die Akademiker-Blase“

Wenn Stefan seiner Freundin im Oberlehrer-Ton Fortschritt und Gerechtigkeit der digitalen Welt predigt, antwortet sie pampig: „Die Welt wird nicht gerechter, wenn man an der Sprache rumschraubt und alles auf der Meta-Ebene behandelt. Das interessiert nur die Akademikerblase. Außerhalb deiner Welt sind Menschen entsetzt, dass ihre Probleme ignoriert werden, während man Kunstwerke mit Sternchen benennt. Ich würde die Kunst in Ruhe lassen und lieber gucken, was farbige Menschen wirklich für Probleme haben.“ Seine Antwort: „,Farbig‘ sagt man nicht mehr, die Leute sind ja nicht blau oder grün.“

Juli Zeh, die in einem Brandenburger Dorf lebt, hat schon in ihrem Bestseller „Über Menschen“ eine Berlinerin auf der Flucht vor Corona aufs Land geschickt und dort mit den dumpfen Phrasen völkischer Menschenfischer konfrontiert. Weil sie das Gefühl hat, dass große Teile der Gesellschaft sich nicht mehr zu Wort melden, will Zeh ihnen eine Stimme geben. Sie hat sich während der Pandemie gegen die Einschränkung von Grundrechten und gegen eine Impfpflicht ausgesprochen, seit der Beginn der russischen Invasion auch gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und für Verhandlungen mit Putin.

Als soziale Bestandsaufnahme von Belang – nicht als Literatur

Auch in „Zwischen Welten“ lässt Juli Zeh kein Debatten-Thema aus, schreibt sich mit Simon Urban den Frust über Radikalisierung und Orientierungslosigkeit sozialer Gruppen von der Seele. Dass ein Hamburger Star-Journalist und eine brandenburgische Bäuerin monatelang digital über Populismus und Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg und Energiewende, Digital-Wahn und Gender-Fetischismus kommunizieren, ist eine abwegige, aber charmante Idee.

Irgendwann kommt auch die Erotik ins Spiel und der Wunsch, Versäumtes miteinander nachzuholen. Weil wir aber in einer Welt leben, in der das Wünschen nicht mehr hilft, werden die Träume von der Realität heimgesucht. Stefans E-Mails werden gehackt, seine intimen Bekenntnisse öffentlich und von der digitalen Gemeinde mit Hasstiraden verfolgt. Bei der Neuausrichtung seiner Zeitung zu einer diversen und gendergerechten „Bot*in“ wird er zur Marionette degradiert.

Auf der Titelseite des von Onliner*innen gekaperten Blattes prangt das Foto einer Frau, es zeigt, wie eine wütende Theresa dem Landwirtschaftsminister, der Agrar-Demonstranten mit den üblichen Floskeln abspeisen will, eine schallende Ohrfeige verpasst. Ein Bild für die Ewigkeit, denn das Internet vergisst nicht. Der Riss: nicht mehr zu kitten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt: im freien Fall. Adieu, Demokratie!

Literarisch ist der Roman nicht von Belang, aber als sozialpsychologische und demokratie-theoretische Bestandsaufnahme von erschreckender Aktualität und bedrückender Relevanz.

Juli Zeh / Simon Urban: „Zwischen Welten“. Roman. Luchterhand, München 2023, 446 Seiten, 24 Euro.

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Infos:

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, lebt seit Jahren in einem Dorf in Brandenburg. Ihre Romane sind in 35 Sprachen übersetzt. „Über Menschen“ war das meistverkaufte belletristische Hardcover-Buch des Jahres 2021. Im Jahr 2018 erhielt die promovierte Juristin das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Am Literaturinstitut Leipzig war sie als Gast-Dozentin tätig. Einer ihrer Studenten: Simon Urban, geboren 1975 in Hagen/Westfalen, der mit dem Werbefilm „#heimkommen“ für Aufsehen sorgte und für seinen Roman „Wie alles begann und wer dabei umkam“ den Hamburger Literaturpreis erhielt. (FD)




Der große unbekannte Literat – Lesung zu Wolfgang Welt im Bochumer Schauspielhaus

Eine tragische Person. Eigentlich hat er’s schon draufgehabt, das Schreiben: Lapidar und pointensicher, souverän strukturierte und rhythmisierte Prosa, der zuzuhören Freude macht. Einiges davon war jetzt zu hören, live, bei so etwas wie einer nachträglichen Geburtstagsfeier (bzw. –lesung), die das Bochumer Schauspielhaus anläßlich des 70. Geburtstags Wolfgang Welts ausrichtete.

Jele Brückner und Konstantin Bühler aus dem Ensemble lasen zusammen mit Frank Goosen Texte des früh Verstorbenen vor. Und wenn das erst am 3. Februar geschah, ist das zumindest auch dem Umstand geschuldet, daß ein 31.12. – der tatsächliche Geburtstag Welts – kein guter Termin für Lesungen aller Art gewesen wäre. Wolfgang Welt übrigens starb schon 2016, mit 64 Jahren.

Rock und Pop

Wolfgang Welt schrieb literarische, oft autobiographische Texte, er schrieb aber auch Rezensionen für Szene-Blätter wie „Marabo“ oder „Guckloch“, die in den 70er Jahren, gerade im studentisch geprägten Bochumer Raum, einen kräftigen Höhenflug erlebten. Welt hatte ein stupendes Fachwissen zu Rock- und Pop-Musik, war, was er gerne und wiederholt betonte, ein großer Buddy-Holly-Fan. Ein Literat war er zudem, hatte als Autor im Bochumer Intendanten Leander Haußmann, dem Literaturkritiker Willi Winkler, dem Suhrkamp-Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe sowie Peter Handke oder auch Hermann Lenz potente Fürsprecher.

Eigentlich waren die Achtziger eine gute Zeit für Pop-Literaten, zu denen man mit gebührendem Vorbehalt Wolfgang Welt vielleicht doch zählen könnte; warum also blieb der große (oder wenigstens mittlere) Durchbruch aus, war der Bochumer Dichter zeitlebens gezwungen, seinen Lebensunterhalt als Schallplattenverkäufer, später als Nachtwächter, zu verdienen?

Psychiatrische Erkrankung

Zu erwähnen sind die psychische Erkrankung, die Welt zwang, seine journalistische Arbeit einzustellen und ab 1982 als Wachmann zu arbeiten – ab 1991 übrigens im Schauspielhaus Bochum, wo sein fester Platz hinter der Glasscheibe im Künstlereingang war. Außerdem war er in geschäftlichen Dingen wohl nicht sehr geschmeidig, hielt mit Antipathien nicht hinter dem Berge, schätzte (in seinen Pressetexten) auch die üble Beschimpfung, etwa Heinz-Rudolf Kunzes, dessen Klassifizierung als „singender Erhard Eppler“ noch zu den feineren Formulierungen eines gnadenlosen Verrisses zählte. Vielleicht war es die rote Wut, vielleicht die Wut des Unbeachteten – es gab Korrespondenzen mit den Granden des bundesdeutschen Feuilletons, Karasek zum Beispiel, die sich schön lesen, aber zu nichts führten. Gerade einmal die Tageszeitung „taz“ hat Wolfgang Welt, ein bißchen jedenfalls, entdeckt und druckt nun manchmal Texte von ihm.

Aus armen Verhältnissen

Die eigentümlich ereignisarmen Biographien Annie Ernaux’ gehen einem durch den Sinn, die die Theater derzeit so gerne auf die Bühnen stellen (wie z.B. in Dortmund „Der Platz“). Eine zentrale Botschaft lautet: Kinder aus ärmlichen Verhältnissen, wie erstaunlich, haben es schwer, nach oben zu kommen; und an unverarbeiteten Minderwertigkeitsempfindungen leiden sie häufig auch dann noch, wenn sie im Leben erfolgreich waren.

Wie es damals eben so war

Ob die Herkunft aus einfachen Verhältnissen auch für Wolfgang Welts relative Erfolglosigkeit (zu Lebzeiten) eine Rolle spielt? Kann sein, muß aber nicht. Welts Verhältnis zur Mutter war liebevoll, in den Kindergarten kam er nicht, weil Mutter ihn gerne bei sich behalten wollte, was, wie wir vermuten, dem frühkindlichen Spracherwerb durchaus zuträglich gewesen sein könnte. Der Vater war zwar oft besoffen, aber wenigstens nicht übergriffig, den Kindern gegenüber nicht und auch wohl nicht gegenüber seiner Frau. Es war nur manchmal schwierig, ihn noch ins Bett zu kriegen, wenn er aus der Kneipe kam. Nun denn.

Zu erdig

Aus den autobiographischen Texten grinst dich das Ruhrgebiet der Fünfziger an, wo die Briketts noch tief flogen, aber Depression und Hoffnungslosigkeit keineswegs Leitmotive waren. Goosen erzählt recht ähnliche klingende Geschichten, ähnlich gerade auch dann, wenn es um Fußball geht. (Es geht oft um Fußball.) Vielleicht, aber das ist natürlich schon hoch spekulativ, waren Wolfgang Welts autobiographische Erzählungen einfach zu erdig für das oft recht eskapistische Repertoire der sogenannten Pop-Literatur. Denn ist der Stil auch leicht und locker, so sind die Geschichten doch existentiell, ist die psychische Erkrankung letztlich nicht verwunderlich.

Eine späte Entdeckung

Nach dieser schönen Geburtstagslesung tut es dem Verfasser dieser Zeilen jedenfalls leid, so spät auf den Schriftsteller Wolfgang Welt gestoßen zu sein. Erst als er starb, was in dem Medien ein gewisses Echo fand, wurde ich aufmerksam auf ihn. Früher hatte ich, in den guten alten analogen Zeitungszeiten, lediglich ab und zu die Pressefotos bei ihm abgeholt, die das Schauspielhaus von Premieren zur Verfügung stellte. Denn das gehörte zu seinem Job, Presseunterlagen aushändigen. Als Nachtwächter im Schauspielhaus.

Nachlaß liegt in Düsseldorf

Es gibt eine Reihe von Buchveröffentlichungen Wolfgang Welts, im Internet wird man fündig. Der ausführliche Wikipedia-Eintrag ist ganz aktuell. Sein Nachlaß übrigens, Berge von Schallplatten und eine üppige Bibliothek, ging an das Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut.




Lauter Sonderlinge – Hanns-Josef Ortheils „Charaktere in meiner Nähe“

Hanns-Josef Ortheil zählt zu den ganz wenigen deutschsprachigen Autoren dieser Zeit, die Milde walten lassen, die Hoffnung und Sympathie für ihr Romanpersonal hegen, aber dennoch nicht ins Seichte geraten. Damit nimmt Ortheil eine gewisse Sonderstellung in der ernstzunehmenden Literatur ein, in der allerlei Dystopien deutlich höher im Kurs stehen.

Ein ausgemachter Freund des Gelingens und Genießens, erkundet Ortheil in seinem neuesten Buch „Charaktere in meiner Nähe“ (Titel) einige Aspekte je besonderen Menschseins, die freilich ins Allgemeine der Gattung weisen. In 50 Miniaturen, jeweils nur ein bis drei Seiten umfassend, erkundet er ein Gebiet der Marotten, Spleens und Besessenheiten. Es ist kein leichtes Unterfangen, könnte der Schreibende doch geneigt sein, sich derlei Charaktere „zurechtzubiegen“, auf dass sie so recht ins typisierende Schema passen.

Alle leben in ihrer eigenen Welt

Wir begegnen jedenfalls lauter Leuten, denen eine „wesentliche Prägung“ eigen ist. Da sind zum Exempel: die „Aber-Sagerin“, die sich stets unter Vorbehalt äußert und Gegenreden parat hat; der „Appetitor“, den immerzu etwas Essbares lockt; das „Familientier“, das alles und jedes auf Kinder bezieht. Und so geht es fort und fort: Der „Hedomat“ ist allzeit auf die kleinen Freuden aus. Der „Codaist“ lebt im Bann permanenter Abschiede. Die „Ausreden-Virtuosin“ weicht in jeder Gesprächs- und Lebenslage aus. Der Neutrale entscheidet sich niemals eindeutig, der Kultivierte lässt nur das Erlesene gelten. Die Eilfertige ist allen Gelegenheiten und Gefahren voraus, sie hat immer schon „gegoogelt“, bevor es ernst wird. Die Italiensüchtige kennt eigentlich (nur) alles Italienische, die „Waldgängerin“ ist eine Puristin der Stämme, Äste, Zweige und Blätter. Ergo: Auf einem Felde sind sie alle unschlagbar, auf vielen anderen recht begrenzt. Jede(r) lebt in einer eigenen Welt.

Genug der Beispiele. Anhand der Worte wie „niemals“, „alles“, „immer“, „stets“ und „nur“ lässt sich schon ahnen, dass die Protagonisten samt und sonders von einer Passion (oder Abneigung) beherrscht werden, die sie am vollen Leben hindert. Auch ein Sprachkünstler und Könner wie Ortheil kann es nicht gänzlich vermeiden, dass solche stark geprägten Charaktere mitunter beinahe zur Karikatur geraten. So ergeht es auch Zeichnern, die das Typische hervorkehren wollen. Ortheil aber möchte gerade vermeiden, dass sich Verzerrungen ergeben.

Blinde Flecken, tote Winkel

Seine Figuren schildert der Autor freundlich, teilnehmend, manchmal sanft kopfschüttelnd, niemals jedoch verurteilend. Er breitet ein wahres Panoptikum, wenn nicht gar einen Zoo der Sonderlinge vor uns aus. Er skizziert, wie sich die Probanden in bestimmten Situationen gebärden. Seltsame, merkwürdige Wesen sind sie allemal. Alsbald keimt der Verdacht, dass ihre Eigenheiten zutiefst mit der allgemeinen Conditio humana zu tun haben. So darf man sich fragen, ob nicht alle Menschen an etwas hängen, was ihnen selbst nicht so sehr auffällt, wohl aber der Mitwelt, sofern sie aufmerksam und empfänglich ist. Die Sonderlinge bemerken oft weder blinde Flecken noch tote Winkel.

Ein wenig vermisst habe ich die an und für sich gängige Unterscheidung zwischen vorherrschenden, halbwegs fluiden Verhaltensweisen und ziemlich fest betoniertem „Charakter“. Es will mir scheinen, als spräche „man“ heute nicht mehr so über psychische Befindlichkeiten. Aber vielleicht irre ich mich auch gründlich und Ortheil belebt eine alte Schule der Menschenbetrachtung wieder, die nicht vernachlässigt werden sollte. Außerdem dürfte die Vermutung stimmen, dass sich in diesen 50 Kurzporträts Ansätze zu ungleich differenzierteren Erzählungen oder Romanen verbergen. Wir harren der Weiterungen, die da hoffentlich kommen werden.

Hanns-Josef Ortheil: „Charaktere in meiner Nähe“. Reclam. 128 S., 18 Euro.

 

 




Gehen, gehen, gehen – aufschlussreiche Einblicke in Tagebücher von Peter Handke

Im Frühjahr 1978 bricht Peter Handke zu einer längeren Reise auf. Der Schriftsteller war mit der „Publikumsbeschimpfung“ in die Pose des rebellischen Wüterichs geschlüpft, hatte den arrivierten Autoren der „Gruppe 47“ wortwörtlich „Beschreibungsimpotenz“ attestiert und sich in den „Elfenbeinturm der Literatur“ zurückgezogen, um die Welt mit Hilfe von Sprache neu zu erfinden.

Von seinem Geburtsort Griffen in Kärnten war Handke hinausgezogen ins Offene, lebte in Salzburg, Berlin und Paris und eckte überall mit immer neuen sprachlichen Fantasiegebilden und literarischen Rüpeleien an. Jetzt kehrt er in seine Heimat zurück, versichert sich seiner Herkunft aus prekären sozialen Verhältnissen und der kulturell umkämpften Region, in der österreichische, slowenische und italienische Einflüsse sich durchmischen.

Nach kurzer Heimkehr bricht Handke auf, durchstreift vom 24. April bis 26. August zu Fuß, mit der Bahn und mit dem Bus das Dreiländereck, wandert durch verlassene Orte, schläft in abgelegenen Gasthöfen, badet in kalten Gebirgsbächen, erkundet den Karst bei Triest. In seiner Hosentasche hat er ein Notizbuch, in dem er seine Gedanken und Empfindungen, Eindrücke und Erlebnisse festhält. Ein wüstes Durcheinander aus Worten und Sätzen, angereichert mit Zeichnungen, die er am Wegesrand anfertigt. Eine Fundgrube für Ideen und Geschichten.

Handke, der sich in die Rolle des Odysseus hineinfantasiert, Zeiten und Räume wahllos ineinander fließen lässt, auf beschwerlichen Umwegen zu sich selbst finden und eine neue Form der Literatur erproben will, wird die Notizen brauchen und benutzen. Viele Einträge wird er, manchmal wortwörtlich, in seine nächsten Romane übernehmen: „Langsame Heimkehr“ und „Die Wiederholung“ basieren in weiten Teilen auf den realen Erlebnissen und literarischen Imaginationen der großen Wanderung.

Wie stark die „Langsame Heimkehr“ des Valentin Sorger von Amerika nach Europa und „Die Wiederholung“ der Kindheitstraumata und Sprachverwirrungen des von Kärnten nach Slowenien aufbrechenden Filip Kobal von Handkes eigener Reise beeinflusst sind, kann man erst jetzt richtig ermessen. Zum 80. Geburtstag gewährt Handke einen Einblick in seine Notizbücher, die er stets bei sich trägt. Das Konvolut umfasst über 35.000 Seiten, es ist das umfangreichste Werk, das er je geschaffen hat.

Handke würde wohl den Begriff „Werk“ dafür nicht gelten lassen, es sind ja „nur“ ein paar lose Gedanken, durcheinander gewürfelte Wörter, angefangene Geschichten, schnell hingeworfene Zeichnungen. Aber darin zu blättern, ist doch für jeden Handke-Leser ein Gewinn, erklärt es doch vieles, was bisher unverständlich war und zu Missverständnissen über Handkes Literatur- und Welt-Verständnis führte.

Wünschenswert wäre es, dass „Die Zeit und die Räume“, in dem alle Einträge und Zeichnungen der Reise von 1978 durchs Dreiländereck abgedruckt sind, den Auftakt zu einer Edition sämtlicher Notizbücher darstellt. Schon jetzt aber begreift man, dass Handke kein Tagebuch im klassischen Sinne führt, sondern das Gehen und Schreiben zu einer literarischen Symbiose verbindet; dass Wahrnehmung und Traum, Reflexion und Fantasie, Innen- und Außenwelt, Zeit und Raum sich auflösen.

Alles kann Gegenstand ästhetischer Formfindung werden, Licht und Schatten, Wind und Mond, Kaffeetasse, Tisch und Jukebox, alles kann eine poetische Form annehmen, alles dient der Spracherkundung und dem Weltverständnis. Handke geht es um ein zeitloses Raumgefühl: Das Gehen durch verschiedene Räume wird zur Poetik der Freiheit. Der Gehende befreit sich von sprachlichen Automatismen, biografischen und nationalen Begrenzungen: Ziel ist das Unterwegs-Sein, das Aufsammeln von Gedanken und Sprachsplittern wie „Allmählich wurde aus dem Nachdenken Sehnsucht“, „Endlich wieder einen ganzen Tag mit einem Traum der Nacht bestreiten“, „In der mondlosen Zeit“, „Totenblass erwachen“,„Endlich allein mit der Ordentlichkeit der Dinge“, „Durch das Gehen: ein Raumgefühl, von überall überall hin zu können.“

Ohne das Gehen, das Räume vermisst und Zeiten durchstreift, ist Handkes Werk kaum vorstellbar. Wenn er „Die Obstdiebin“ sucht, wandert er durch Frankreich, für seinen „Versuche über die Müdigkeit“ durch Spanien, „Die Morawische Nacht“ findet er in den Wäldern und Dörfern des Balkans. Dass er bei seinen Fußmärschen auch durch historisch vermintes Gelände kommt und zu politischen Fehlschlüssen neigt, kümmert ihn kaum.  Als Jugoslawien nach Titos Tod in Gewalt und Bürgerkrieg versinkt, will er sich ein Bild der Ereignisse machen und sich nicht auf die Berichte von Journalisten verlassen, die in Berlin, Paris und anderswo am Schreibtisch sitzen und aus der Ferne die fürchterlichen Massaker beschreiben.

Sein Buch „Die winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morowa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ bringt Handke den Vorwurf ein, ein Freund und Handlanger des blutrünstigen Serben-Führers Milosevic zu sein. Später wird Handke zum Begräbnis des Diktators anreisen und mit politischen wirren Statements auffallen. Ein Makel, der Handke bis heute begleitet und den Blick auf das schillernde Werk des Literatur-Nobelpreisträgers eintrübt. Vielleicht können seine Notizbücher, seine Reflexionen über „Die Zeit und die Räume“ dazu beitragen, Handkes Welt, die aus Sprache besteht und mit ihr erst geschaffen wird, ein bisschen besser zu verstehen.

Peter Handke: „Die Zeit und die Räume“. Notizbuch. 24. April – 26. August 1978). Hrsg: Ulrich von Bülow u.a., Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 312 S., 34 Euro.




Heimkehr von den Irrfahrten – Christoph Ransmayr und Anselm Kiefer schufen ein Buch, das überdauern wird

Odysseus ist müde und ausgelaugt, viel zu lange war er unterwegs, hat unzählige blutige Schlachten geschlagen, sich auf der Suche nach der verlorenen Heimat heillos verzettelt und ist durch das Labyrinth der Menschheitsgeschichte geirrt. Die sich um ihn und seine endlose Reise rankenden Mythen und Märchen sind ihm nur noch schnuppe und können seine Sehnsucht nicht mehr stillen.

Ausgezehrt liegt der listenreiche Städteverwüster in irgendeinem Krankenhaus, lässt seine Blutwerte noch einmal checken, wartet auf seine Entlassungspapiere und seinen Pass, sieht bereits das Meer wieder vor sich „und auf seinem Spiegel / ein gleißendes Gespinst möglicher Routen, / ein Knäuel von Routen der Heimkehr, / die am Ende vielleicht / alle zurückführen / in die Ruinen von Troja.“

Mit einem durch Zeit und Raum, Realität und Utopie irrlichternden „Odysseus“ eröffnet Christoph Ransmayr seinen neuen Band mit Gedichten und Balladen, in dem Schönheit und Schrecken, Poesie und Politik, Dichtung und Malerei sich vermählen und zu einem göttlichen Kunstwerk vereinen. „Unter einem Zuckerhimmel“ lautet der fast idyllische Titel dieses schillernden Crossover-Projekts, zu dem der renommierte Künstler Anselm Kiefer zahllose Aquarelle beigesteuert hat.

Mit Tusche, Bleistift und Kohle hat Kiefer, dessen Werk schon oft um blutige Abgründe, verdrängte Kriege und vergessene Mythen kreiste, seine Farb-Fantasien den poetischen Visionen gegenübergestellt. Was Kiefer auf Gips und Karton getupft und gespritzt hat, bebildert und kommentiert nicht die Balladen und Gedichte, sondern spricht eine eigene künstlerische Sprache, lässt mal eisig blaue, mal blutig rote Farbe auf einen Malgrund tropfen, zieht schwarze Linien und kindlich gekritzelte Buchstaben durch die erdig und steinig wirkende Landschaft.

Christoph Ransmayr lebte Jahrzehnte aus dem Koffer, machte das Unterwegs-Sein zur Lebens-Philosophie, war stets auf der Suche nach einem überraschenden Gedanken und schönen Gedicht, durchquerte Wüsten, stieg auf hohe Berge und reiste zum Nordpol, war immer ein Reisender und Suchender, der „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ und „Die letzte Welt“ besang, „Eine kurze Geschichte vom Töten“ und den „Atlas eines ängstlichen Mannes“ beschwor.

Jetzt scheint Ransmayr zur Ruhe gekommen und lebt wieder in Wien. Doch umso dringlicher erinnert er an den ruhelos durch die Geschichte irrenden „Odysseus“, sendet uns „Nachrichten aus der Höhe“ und erzählt vom „Trost des Steinschleifers“, der sich oft stundenlang verliert in den Tiefen kristalliner Strukturen und in ihnen „ein geheimnisvolles, laut- und zeitloses Bild der Welt“ sieht, „das ihn alle Sensationen und Schrecken / der Geschichte des organischen Lebens / vergessen lässt / und ihm verspricht: / Etwas von dieser Arbeit / wird überdauern. / Nicht für immer, aber länger, / viel länger als alles, / was welken, faulen / und schmerzen kann.“

Der Dichter als Steinschleifer: Auch die Balladen und Gedichte des heimatlos durch Gedankenwelten reisenden Poeten werden überdauern, noch lange weiter leben und uns den Weg dahin zeigen, wohin wir doch alle immer wieder zurück kehren wollen: nach Hause. In der „Ballade von der glücklichen Rückkehr“ ist der ziellos um den Globus reisende Dichter das Unterwegssein leid:

„Genug! Genug. Eines Tages ist es genug. // So weit sind wir gegangen, / so hoch sind wir hinaufgestiegen, immer höher, / bis uns der nächste Schritt ins Blaue geführt hätte, / in die Wolken, nur noch ins Leere“.  Erduldet hat er „Orkan. Hunger. Wunden. / Höhenwahn. Fieber. Angst. / Die Erschöpfung oder das Heimweh.“

Doch jetzt reicht es: „Eines Tages kehren wir unseren Träumen / den Rücken / und machen uns auf den Weg in die Tiefe, / zurück zu den Menschen“, wollen nur noch „nichts wie weg. / Wir wollen nach Hause!“ Doch das Zuhause muss kein Ort, kann auch eine Erinnerung sein: an die „Buchstabensuppe, deren Lettern auf dem Tellerrand von meiner Mutter zu Zeilen angeordnet wurden“, den Gedanken, dass „Verse und gesungene Strophen die vollendete Form einer Geschichte“ sein und Balladen den Krieg besingen, aber nicht bannen können:

„Wir spielen / unter einem Zuckerhimmel / Krieg, // nennen flackernde / Strohfeuer / Ewigkeit // und jede Katastrophe / einen Sieg. // Was immer auf uns niederfährt: / Wir nehmen es gelassen, / heiter // und spielen / und spielen weiter / unter einem Zuckerhimmel Krieg.“

Dass Autor und Maler sich lange schon kennen und schätzen, Ransmayr dem Freund ein literarisches Denkmal setzte („Der Ungeborene oder Die Himmelsareale des Anselm Kiefer“), der sich jetzt sich mit zeitlos-schönen Bildern revanchierte, darf man getrost einen Glücksfall nennen. Ein Prachtband zum Verweilen und Träumen, ein Buch, das man immer wieder neu lesen und anders betrachten kann. Ein Buch, das überdauern wird.

Christoph Ransmayr: „Unter einem Zuckerhimmel. Balladen und Gedichte“, illustriert von Anselm Kiefer. S. Fischer Verlag, 208 S., 58 Euro.

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Infos:

Christoph Ransmayr, geboren 1954, lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Für seine Romane „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die Letzte Welt“, „Morbus Kitahara“, „Der fliegende Berg“, „Cox oder Der Lauf der Zeit“, „Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“ und „Atlas eines ängstlichen Mannes“ erhielt der Autor zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen. „Unter einem Zuckerhimmel“ ist der zwölfte Band seiner Buch-Reihe „Spielformen des Erzählens“. (FD)

Anselm Kiefer, geboren 1945, zählt zu den bedeutendsten und innovativsten Künstlern der Gegenwart. Mit Malerei, Bildhauerei, Fotografie, Film und Installation versucht er immer wieder, sich der jüngeren deutschen Geschichte zu stellen, das „Nichtdarstellbare“ zu erfassen und Motive und Themen aus Philosophie und Literatur, Wissenschaft und Religion in Bilder zu verwandeln. 2008 erhielt er (als erster bildender Künstler) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. (FD)




„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ – Daniela Kriens Roman jetzt endlich auf der größeren Bühne

Das Alte ist in sich zusammengebrochen, das Neue hat noch keine feste Form. In Stein gemeißelte Gewissheiten und Ideologien sind zerbröselt. Wo eben noch alles klar war und die Zukunft rosig schien, herrschen jetzt chaotische Unübersichtlichkeit und nervöse Angst. Manche lecken ihre Wunden, andere wissen nicht, wie es weitergeht.

Maria, die bald 17 wird, die Liebe entdeckt und vor einem kurzen Sommer der Anarchie steht, ist hin und her gerissen zwischen heller Euphorie und dunkler Depression, lautem Aufbruch zu neuen Ufern und schmerzlichem Verlust von Heimat und Herkunft. Ihr Vater hat sich vor Jahren in die Sowjetunion abgesetzt und wird den Kollaps des Kommunismus gut verdauen. Die volkseigene Fabrik ihrer Mutter hat den Fall der Mauer nicht überstanden. Seitdem döst sie im Gartenstuhl vor sich hin und will nur noch weg von hier. Raus aus dem Leipziger Allerlei, wo die Zukunft schon vorbei ist, bevor sie richtig begonnen hat.

Was soll Maria jetzt machen? Weiter zur Schule zu gehen, dazu hat sie keine Lust. Lieber zieht sie zu ihrem Freund Johannes, einem Bauern-Sohn, der noch auf dem Hof der Eltern lebt, aber ständig mit einer Foto-Kamera in der Gegend herum läuft und lieber Künstler werden möchte als Kuhställe auszumisten. Maria mag den sensiblen Johannes. Aber auf dem Hof gegenüber, da haust Henner, ein Eigenbrötler und Außenseiter, notorischer Trinker und begnadeter Büchernarr. Die großen Epen der russischen Dichter kennt er auswendig, natürlich auch Dostojewskijs „Brüder Karamasow“, den Roman, in den Maria gerade eintaucht, um die Irrungen des Lebens, die Verwirrungen der Liebe und ihre von geheimnisvollen Bedürfnissen und dunklen Ahnungen begleitete Selbstfindung in Zeiten der gesellschaftlichen Verwerfungen besser zu verstehen.

„Unbedingt werden wir auferstehen, unbedingt werden wir uns wiedersehen und heiter, freudig einander alles erzählen“, sagt Alexej, der jüngste der Karamasows, zum Schluss. Daran muss Maria oft denken, später, nachdem sie durch einen Tunnel der Ekstase und Erkenntnis getaumelt ist. Dann ist es Zeit für die Wahrheit, denn: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen.“

Als die in Leipzig lebende Daniela Krien mit dem Roman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ 2011 in einem Kleinverlag debütierte, bescherte ihr das einen Achtungserfolg bei der Kritik. Dass die aufwühlende Geschichte der Maria, die im Sommer 1990 vom jungen Mädchen zur erwachsenen Frau wird und (während um sie herum der Staat und alle Gewissheiten zerfallen) existenzielle Erfahrungen macht, zu den wichtigsten literarischen Verarbeitungen der Wendezeit gehört, wurde von den Lesern aber nicht hinreichend gewürdigt

Inzwischen wird die Autorin von einem großen Verlag betreut und ist mit „Die Liebe im Ernstfall“ und „Der Brand“ zur Bestseller-Autorin avanciert. Wenn jetzt der Roman noch einmal neu erscheint, wird ihm das wohl die Aufmerksamkeit bescheren, die er verdient.

Maria kämpft mit ihren widerstreitenden Gefühlen genauso wie mit den Ungereimtheiten der Sprache und den Abgründen ekstatischer Liebe. Die erotischen Experimente, die Maria mit dem doppelt so alten Henner vollführt, gleichen einem sexuellen Schlachtfeld. Das geht bisweilen an die Grenze des Erträglichen. Maria wird den Rausch bis zur bitteren Neige auskosten, den Wahnsinn dann aber abwerfen wie eine alte Haut und endlich bereit sein, sich nicht mehr zu belügen – und uns alles zu erzählen.

Daniela Krien: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen.“ Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 260 S., 25 Euro.




Zornige Suada – längst nicht nur gegen die Finanzbehörden: Elfriede Jelineks „Angabe der Person“

Seit Elfriede Jelinek den Literaturnobelpreis erhielt, hat sie sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Es schien, als sei sie in ihrem Werk verschwunden und sie lebe nur noch in ihren Texten. Umso überraschender, dass es Claudia Müller gelang, die scheue Autorin mit der Kamera zu begleiten und das filmische Porträt „Die Sprache von der Leine lassen“ zu realisieren. Kaum ist der Film in den Kinos, legt Elfriede Jelinek nach und veröffentlicht einen neuen Text: „Angabe der Person“. Der Verlag kündigt an, das Buch sei die „Lebensbilanz“ der Autorin. Stimmt das?

Tatsächlich benutzt Jelinek einmal das Wort „Bilanz“ und schreibt: „Ich ziehe Bilanz, obwohl es dafür zu früh ist.“ Sie meint aber damit nicht, dass sie ihr Leben bilanzieren will. Dann müsste sie vieles thematisieren, ihre schwierigen Beziehung zu den Eltern, ihre Nervenzusammenbrüche, ihre zeitweilige Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Österreichs, ihre zornigen Dramen und wütenden Romane, die oft für Skandale sorgten.

Es geht Jelinek um etwas anderes: um den Staat, der willkürlich in das Leben einzelner eingreift, unkontrollierte Steuerbehörden, die sich aus unerfindlichen Gründen an einzelnen Personen festbeißen. Der Satz lautet denn auch vollständig: „Ich ziehe Bilanz, obwohl es dafür zu früh ist, ich zahle also das, was des Staates ist, ich zahle meine Steuern, das wird Ihnen jeder nachweisen können, der Ziffern voneinander unterscheiden kann.“

Es macht sie rasend, dass die Steuer-Behörden sie regelrecht verfolgen und zermürben. Die Autorin pendelt seit Jahrzehnten zwischen Deutschland und Österreich, sie hat zwei Wohnsitze, einen in München, wo ihr kürzlich verstorbener Ehemann lebte, und einen in Wien, wo sie sich zumeist aufhält und in ihre Schreib-Einsamkeit zurückzieht. Die Finanzbehörden unterstellen offenbar, sie habe ihre Einnahmen nicht ordentlich versteuert und eröffnen ein Ermittlungsverfahren gegen sie, beschlagnahmen private Unterlagen, sichten sämtliche Konten, machen eine Hausdurchsuchung bei ihr, schnüffeln sich durch intime E-Mails.

Sie fühlt sich gedemütigt und zur Verbrecherin abgestempelt, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst ist und alle Schulden längst beglichen hat: „Schuld“ und „Schulden“, ihr Lebens-Thema. Es geht ihr nicht um ihre eigenen Geldsorgen oder Steuer-Probleme, sondern um die historische „Schuld“ einer von Nazis verseuchten Gesellschaft, um die „Schulden“ von Steuer-Sündern, die ihre Geschäfte in Steuer-Oasen verlagern, es geht um Sparmodelle, Betrugsskandale, Cum-Ex-Geschäfte. Das macht sie wütend, so wird aus ihrem Zorn über die gegen sie laufenden Ermittlungen ein Nachdenken über globale Kapitalströme und über einen Kapitalismus, der keine Moral kennt, sondern nur den Imperativ des Profits: Wie sehr, fragt sich Jelinek, profitieren bis heute Staaten von enteigneten jüdischen Vermögen? Wie viele Nazi-Größen wurden anstandslos entschädigt, während die Opfer von Terror und Enteignung bis heute vergeblich auf Wiedergutmachung warten?

Elfriede Jelinek hat noch nie so offen und einfühlsam über die Geschichte des jüdischen Teils ihrer Familie gesprochen: Jetzt schreibt sie zum ersten mal über eine in Auschwitz ermordete Tante, einen Onkel, der nach Dachau deportiert wurde und, kaum wieder freigelassen, Selbstmord beging. Sie spricht vom Vater, der im Nazi-Jargon als „Halbjude“ galt und der Vernichtung nur entging, weil er als Ingenieur für die Kriegsindustrie gebraucht wurde: „Hätte das deutsche Land, das damals einfach überall war, noch länger, tausend Jahre mindestens, sich breiter aufgestellt, als meine Eltern es aushalten konnten, dann gäbe es mich nicht. Hätte das Land länger, als es mußte, auf garantiert rassereinem Nachwuchs bestanden, gäbe es mich nicht, meine Rasse ist unrein, ich weiß, ich gehöre nirgends dazu.“

Pandemie, Flüchtlinge, Religion, Philosophie, Kunst, Heidegger, Nietzsche, Freud und Camus. Nichts wird geordnet. Der 190-seitige Text ist eine unaufhörliche Suada der Empörung, ein unablässiger Gedankenstrom. Er öffnet die Tür in surreal anmutende Wirklichkeiten. Vieles klingt grotesk und ist doch fürchterlich wahr, vermischt sich zu einer absurden Collage und einem vielstimmigen Chor. Oft weiß man nicht, wer spricht, die Autorin oder der Geist des toten Vaters, ein Cum-Ex-Betrüger oder ein Jungspund aus der Polit-Riege um Österreichs Ex-Kanzler Kurz. Man weiß nur: Es ist ein schwer lesbarer und schwer verdaulicher, aber ungemein wichtiger und unverzichtbarer Text.

Elfriede Jelinek: „Angabe der Person“. Rowohlt Verlag, 190 S., 24 Euro.

Nachspann:

Elfriede Jelinek, geboren 1946, aufgewachsen in Wien, hat für ihr Werk viele Auszeichnungen erhalten, u. a. 1998 den Georg-Büchner-Preis und 2004 den Literaturnobelpreis. Zu ihren bekanntesten Werken zählen die Romane „Die Klavierspielerin“ (1983), „Lust“ (1989) und „Gier“ (2000) sowie ihre Theatertexte „Raststätte“ (1994), „Ein Sportstück“ (1998) und „Ulrike Maria Stuart“ (2006). Ihr Ehemann, Gottfried Hüngsberg, der früher für R. W. Fassbinder Filmmusiken schrieb und seit Mitte der 1970er Jahre als Informatiker tätig war, verstarb vor wenigen Wochen. (FD)




„Nicht dich habe ich verloren, sondern die Welt“ – Ingeborg Bachmann und Max Frisch, der Briefwechsel

Bis zum Sommer 1958 sind sich Ingeborg Bachmann und Max Frisch nie begegnet. Plötzlich schreibt Frisch der jungen Autorin, die mit ihren Gedichten für Furore gesorgt und in die von Männern dominierte Nachkriegsliteratur die starke Stimme einer auf Emanzipation bestehenden modernen Frau eingefügt hat, einen Brief.

Er ist von einem ihrer neuen Hörspiele so begeistert, dass er ihr schreibt, wie gut es sei, „wie wichtig, dass die andere Seite, die Frau, sich ausdrückt“. Gönnerhaft fügt er hinzu: „Wir brauchen die Darstellung des Mannes durch die Frau, die Selbstdarstellung der Frau.“

Ingeborg Bachmann, die gerade dabei ist, sich aus der unglücklichen Liebe zu Paul Celan zu befreien, lässt sich vom leicht herablassenden Ton Frischs nicht beirren, fühlt sich geschmeichelt: „Verehrter, lieber Max Frisch“, antwortet sie, „Ihr Brief ist mir schon vieles gewesen in dieser Zeit, die schönste Überraschung, ein beklemmender Zuspruch und zuletzt noch Trost nach den kargen Kritiken, die dieses Stück bekommen hat.“ Die Antwort (vom 9. Juni 1958) ist Auftakt zur Jahrhundertliebe eines der berühmtesten Paare der deutschsprachigen Literatur.

Die Liebe beginnt förmlich, nimmt aber schnell leidenschaftliche Fahrt auf und findet schließlich nach wenigen Jahren ein ziemlich unrühmliches Ende: Frisch und Bachmann werden sich nicht nur um die Möbel in ihrer gemeinsamen römischen Wohnung streiten, sondern auch über die Deutungshoheit ihrer Liebe: Frisch wird seine Geliebte in „Mein Name sei Gantenbein“ als kapriziöse Diva porträtieren, Bachmann wird in ihrem Roman „Malina“ ihren Geliebten zum Urbild männlicher Überheblichkeit und Gewalt verzerren.

Viel ist darüber spekuliert worden, was die beiden Liebenden vereinte und warum ihre Leidenschaft so gnadenlos unter die Räder des Alltags kam. Genauere Auskünfte erhoffte man sich von den rund 300 Briefen, die in den Archiven lagerten und eigentlich niemals hätten publiziert werden dürfen. Zwar hatte Frisch in seinem letzten Testament verfügt, dass seine privaten Dokumente 20 Jahre nach seinem Ableben veröffentlicht werden können (also ab 2011). Doch Bachmann hatte es kategorisch abgelehnt, ihre Liebe dem Voyeurismus des Publikums auszuliefern. „Ich will alle meine Briefe zurückhaben“, schrieb sie. „Es ist selbstverständlich, dass ich nichts aufbewahren werde.“ Weil Frisch sich weigerte („Deine Briefe gehören mir, so wie meine Briefe dir gehören“), bat sie, die Briefe zu verbrennen, „damit niemand ein Schauspiel hat eines Tages, denn wir wissen ja nicht, wie lange wir im Besitz von Dingen bleiben, die Dich und mich allein etwas angehen.“

Dass der lückenhafte, oft von Phasen des Schweigens begleitete Briefwechsel der Vernichtung entging und jetzt das Licht der Öffentlichkeit erblickt, ist den Erben Bachmanns zu verdanken. Sie haben recht gehandelt. Denn die Briefschaft legt Zeugnis davon ab, wie sich Leben in Literatur verwandelt, Bewunderung in Rivalität umschlägt, aus reiner Liebe quälende Eifersucht wird, Verlustängste und Fluchtimpulse das Miteinander vergiften.

Kaum haben sich die beiden endlich in Paris getroffen und das erste Mal miteinander geschlafen, notiert Frisch: „Ich bin nicht verliebt, Ingeborg, aber erfüllt von Dir, Du bist ein Meertier, das nur im Wasser seine Farben zeigt, Du bist schön, wenn mann Dich liebt, und ich liebe Dich. Das weiss ich – alles andere ist ungewiss.“ Die zu Undine stilisierte Bachmann seufzt: „Ich will Liebe, eine Unmasse Liebe, sonst kann ich nicht mit Dir leben, sonst bin ich lieber allein.“

Die beiden notorischen Einzelgänger, die von einer Liebesaffäre in die nächste taumeln und schwanken zwischen dem Wunsch nach einem gemeinsamen Heim und der absoluten Freiheit des kreativen Geistes, können im Alltag nicht mit, aber auch nicht ohne einander sein. Gemeinsam in einer Wohnung zu arbeiten, ist ihnen ein Graus. Nach vier Jahren trennen sich (1963) ihre Wege, der 51-jährige Frisch verliebt sich in die 23-jährige Studentin Marianne Oellers und mit reist ihr nach New York, um die Premiere eines seiner Stücke zu sehen.

Bachmann bleibt allein und krank zurück, muss sich in einem Zürcher Krankenhaus die Gebärmutter entfernen lassen: „Ich habe kein Geschlecht mehr, keines mehr, man hat es mir herausgerissen.“ Frisch ist betroffen, bittet um Verzeihung: „Wir haben es nicht gut gemacht“, resümiert er. „Es ist mir das Herz gebrochen“, antwortet sie, unversöhnlich und untröstlich.

Nach einigen Jahren des Schweigens meldet sich Frisch noch einmal bei Bachmann, bittet sie für eine Anthologie um Zusendung einiger Gedichte. Sie schickt ihm fünf Texte, darunter „Eine Art Verlust“, das mit den Worten schließt: „Nicht dich habe ich verloren, / sondern die Welt.“ Die Briefe, versehen mit klugen Kommentaren und seltenen Fotos, sind ein poetisches und erschütterndes Literatur-Dokument. Das Werk der beiden, deren Beziehung ein Verhängnis war, muss man fortan mit anderen Augen betrachten.

Ingeborg Bachmann / Max Frisch: „Wir haben es nicht gut gemacht.“ Der Briefwechsel. Hrsg. von Hans Höller u. a., Piper & Suhrkamp Verlag, 2022, 1040 S., 40 Euro.




Funkelnder Geist, fröhlich voraus – zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

Hans Magnus Enzensberger, am 20. Mai 2006 in Warschau (Polen). (Wikimedia Commons / Own work of © Mariusz Kubik, editor of Polish Wikipedia). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/deed.en

Eine erfreulich lange Lebenszeit war ihm vergönnt. Nun aber trauert die literarische Welt: Hans Magnus Enzensberger, der wohl brillanteste Intellektuelle seit den frühen Jahren der Bundesrepublik, ist mit 93 Jahren in München gestorben. Unter den Lebenden fällt einem allenfalls noch jemand wie der ebenso vielseitige Alexander Kluge ein, wenn es um derart funkelnden Verstand geht, der sich aus gutem Grund an alle Themen wagt.

Enzensberger war alles andere als ein Schriftsteller aus dem Elfenbeinturm, wusste er doch auch die Klaviatur der Medien zu bespielen wie kaum ein anderer. Sehr früh und beispielhaft hat er die Sprache von Augsteins „Spiegel“ analysiert und später das deutsche Fernsehen fachgerecht seziert. Sein ganzer Habitus und sein geradezu elegantes Denken waren eine Absage ans alte Deutschland, sie schienen einer luftigen übernationalen Sphäre anzugehören.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit hat der 1929 in Kaufbeuren geborene und dann in Nürnberg aufgewachsene Mann sich u. a. als Schwarzhändler und Barmann verdingt, was durchaus nach wertvoller Lebenserfahrung klingt. Später hat er edlere Berufungen mit Leben erfüllt, er war Rundfunkredakteur beim Schriftstellerkollegen Alfred Andersch und Lektor im Suhrkamp-Verlag.

Der weltläufige Enzensberger blickte zeitig weit über Deutschland hinaus: 1960  hat der polyglotte Sprachkünstler den wunderbaren Gedichtband „Museum der modernen Poesie“ herausgegeben, mit dem er herausragende Lyrik aus aller Welt einsammelte und den poetischen Stand der Dinge als sinnliche Bestandsaufnahme reflektierte. Mit dem Band „Ach Europa“ (1987) hat er zudem seine Vision für diesen unseren vielfältigen Kontinent entworfen. Er dürfte denn auch – neben Böll und Grass – durch all die Nachkriegs-Jahrzehnte der international bekannteste deutsche Autor gewesen sein.

Enzensberger hat auch kaum zu überschätzende Verdienste als Herausgeber und Anreger. So publizierte er nach dem „Museum der modernen Poesie“ das um 1968 ungemein wichtige „Kursbuch“, gegen Ende der 70er Jahre die ambitionierte Kulturzeitschrift „TransAtlantik“ (gemeinsam mit Gaston Salvatore) und von 1985 bis 2004 die von Franz Greno herrlich gestaltete bibliophile Reihe „Die andere Bibliothek“. Eine Spezialität: Enzensberger war überdies ein Liebhaber der Mathematik, von deren Schönheit er auch andere gern überzeugen wollte – nachzulesen in „Der Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben“.

Bereits 1957 und 1960 waren Enzensbergers frühe Lyrikbände „Landessprache“ und „Verteidigung der Wölfe“ erschienen, mit denen ein unerhört neuer, geradezu „frech“ auftrumpfender, sogleich einnehmender Tonfall in die deutschsprachige Literatur kam, nein: Einzug hielt. Kleiner Schwenk ins Persönliche: Wir hatten eine recht junge Deutschlehrerin, die uns Mitte der 60er Jahre zumal auf Enzensberger und Ingeborg Bachmann aufmerksam machte, wofür man noch heute dankbar sein darf. Den furiosen Debüts folgten Dutzende weiterer Bücher, die wir hier nicht aufzählen wollen. Entsprechende Listen finden sich vielfach in Druckwerken und im Netz. Auf dem Foto sind ebenfalls ein paar Titel zu erkennen.

Je nun, im heimischen Billy-Regal befinden sich auch ein paar Bücher von Enzensberger. Ehrensache. (Foto: BB)

Enzensberger betätigte sich praktisch auf allen Feldern des Schreibens und Debattierens. Auch und gerade als Essayist setzte er neue Maßstäbe, wobei er stets wundersam wandelbar blieb und sich nie auf eine starre Meinung festnageln ließ. Sein luzider Duktus konnte an Größen wie die Freigeister Montaigne oder Lichtenberg erinnern. Ja, auf solchen Höhen war er unterwegs, immerzu formvollendet.

Dem allgemeinen Stand der Diskussionen war Hans Magnus Enzensberger in aller Regel weit voraus. Wer immer geglaubt haben mag, er habe ihn bei der oder jener festgelegten Denkfigur „erwischt“, dem war dieser höchst bewegliche, niemals dogmatische Geist schon wieder frisch und fröhlich enteilt. Bei ihm wusste man nie im Voraus, wie er sich zu einer Sache stellen und wie er argumentieren würde. Deshalb waren seine Texte eigentlich immer überraschend und spannend.

Mehr noch: Oft ertappte man sich bei der dringlichen Frage, was wohl Enzensberger zu dieser oder jener Wendung der Zeitläufte sage? Um maßlos zu untertreiben: Es gibt heute nicht mehr so furchtbar viele Schriftsteller und Intellektuelle, auf die derlei Wünsche gleichfalls zuträfen. Heißt im Umkehrschluss: Hans Magnus Enzensberger wird uns fehlen. Sehr.




Wie ein Fluss ohne Ufer: Ulrike Anna Bleiers Roman „Spukhafte Fernwirkung“

Ulrike Anna Bleiers Roman Spukhafte Fernwirkung entfaltet ein Panorama der gegenwärtigen Gesellschaft. Es können zweihundert Personen sein, von denen wir etwas erfahren, vielleicht sind es mehr, vielleicht weniger. Ungeheuerliches wird erzählt, ein Amoklauf in einem Einkaufszentrum, eine fragwürdige, aber medienwirksame Geiselnahme in einer Zeitungsredaktion, es werden Pistolen und MPs herumgetragen und benutzt, eine Frau begegnet ihrem Stalker wieder, der ihr die Karriere als Schauspielerin versaut hat, eine Schiffskatastrophe mit Todesopfern wird geschildert, Auto- und Bahnunfälle und anderes von großer Tragweite.

Menschen in alltäglichen Berufen und ohne Beruf, Menschen am Rande der Gesellschaft wie Silvana, die keine Beine hat, auf der Straße sitzt und hyperbolische Räume häkelt; ein Mensch wie Erika, die beim Fernsehen kluge Gedanken zum Verhältnis von Dingen und Menschen in Werbespots und Vorabendfilmen anstellt; oder Irma, die um ihre Weiterbeschäftigung in der Redaktion einer Lokalzeitung bangt und Angst vor Konferenzen hat. Aber manchmal geht es auch um eine Katze, einen Hund mit gelben Augen, zwei Esel oder einen Fuchs.

Unhierarchisches Nebeneinander

Ein Roman des Nebeneinander; es sind Einzelschicksale, aus denen sich unsere Gesellschaft zusammensetzt, deutlich mehr als die wenigen exemplarischen Protagonisten, mit denen Romane normalerweise aufwarten. In Spukhafte Fernwirkung gibt es keine Heldinnen und Helden; es ist ein Anspruch der Autorin, so zu erzählen, dass keine Hierarchien entstehen, keine Person, keine Handlung wichtiger als eine andere ist. So erscheint das Außerordentliche unspektakulär, während andererseits Alltägliches zu einem staunenswerten Ereignis werden kann. Mathildas Interesse an Kernphysik nimmt ihren Ausgang in einer Shopping Mall, durch den eher zufälligen und etwas ratlosen Kauf einer Tasse, deren Dekor ein Atommodell aufweist. Die mit einem Gutschein erworbene „Thementasse“ wird Mathilda später zum Anlass nehmen, nach Genf zu fahren, um das CERN zu besichtigen.

Nicht-Orte und das Dazwischen

Mit der Figur der Mathilda, aber nicht nur durch sie, kommen zwei der bevorzugten Schauplatzarten des Romans zusammen, Einkaufszentren und Verkehrswege – „Nicht-Orte“ und das Dazwischen. In ihrem Blog WHEREAMiNOW hat sich die Autorin mit dem kanadischen Geographen Edward Relph beschäftigt, der in seinem 1976 erschienenen Buch Place and Placelessness die Frage erörtert, was Orte (places) und Räume (spaces) sind, und was Ortlosigkeit (placelessness) bedeutet; ebenso mit Marc Augés Begriff der Nicht-Orte (non-lieux; 1992), der auf die bereits von Michel Foucault formulierte „Heterotopie“ zurückgreifen konnte. Shopping Malls, Autobahnen, Busbahnhöfe oder Krankenhäuser sind auch bevorzugte Schauplätze und Themen in Ulrike Bleiers Roman.

Rätselhafte Verschränkungen

In Jim Jarmuschs Film Only Lovers Left Alive (2013) sagt die von Tilda Swinton verkörperte Vampirin zu ihrem Mit-Vampir Adam: „Erzähl mir von der Verschränkung und von Einsteins spukhafter Fernwirkung.“ Ulrike Anna Bleier kommt diesem Wunsch auf ihre Weise nach. Freilich kann auch sie das von Albert Einstein entdeckte Rätsel der „Spukhaften Fernwirkung“, der Verschränkung von nicht kausal erklärbaren und somit wissenschaftlich überhaupt unerklärlichen Phänomenen, nicht begründen. Einstein, der den Begriff prägte, schrieb in einem Brief an Max Born vom 3. März 1947, er könne an eine solche spukhafte Fernwirkung nicht ernsthaft glauben. Immerhin wurde für Experimente mit verschränkten Photonen in diesem Jahr (2022) der Nobelpreis vergeben – für Physik, nicht für Literatur. Ohne esoterisch daherzukommen, gibt es in Ulrike Bleiers Roman immer wieder Momente, die eine solch spukhafte Fernwirkung nahelegen. Wird in Bleiers Roman aber Physik verhandelt, Teilchenphysik, Astrophysik, ist sie stets so geerdet wie Mathilda mit ihrer Teetasse oder Silvana mit den gehäkelten hyperbolischen Räumen.

Raum und Zeit

Der Roman ist in acht Teile gegliedert, deren Namen wie „Mit der Zeit“, „Bahnen“, „Gegen den Raum“, „Weltlinien“ oder „Freie Weglängen“ andeuten, dass Raum und Zeit hier große Themen sind. Im ersten Teil („Mit der Zeit“) ist die Angabe der Uhrzeit über die einzelnen, meist kurzen Texte gesetzt, sie sind jedoch nicht streng chronologisch angeordnet. In einem Liveticker aus der Zeitungsredaktion, in der Irma arbeitet, lesen wir – dem Gesetz solch eines Tickers gemäß – die neueste Meldung zuerst und erfahren dann erst nach und nach ihre Vorgeschichte.

Im Kapitel „Bahnen“ befinden sich Kilometerangaben über den einzelnen Texten, aber auch diese Zahlen sind nicht fortschreitend angeordnet. Als bildete die gegen die „Lokalität“ – der Grundannahme der klassischen Physik, nach der Vorgänge unmittelbare Auswirkungen nur auf ihre direkte räumliche Umgebung haben – verstoßende Quantenmechanik eine Art Hintergrundstrahlung. Im Umgang mit der Zeit könnte die Autorin ein anderes bekanntes Zitat Albert Einsteins illustrieren wollen: „Der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist für uns Wissenschaftler eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige.“

Ohne äußeres Ordnungsgerüst

Mit dem äußeren Gerüst der Einteilung des Romans in Kapitel (oder Teile) und Überschriften zu den kurzen Texten scheint die Autorin mit dem Bedürfnis der Welt nach Ordnung ihr Spiel zu treiben. So sind beispielsweise im Teil 2 („Reset“) über die Texte mathematische oder physikalische Formeln und kryptische Zeichen gesetzt, die teilweise dem Nicht-Experten unmittelbar einleuchten, zum Teil aber auch physikalische Kenntnisse oder aber eine Liebe zu pataphysischen Scheinlösungen voraussetzen. Wie zum Beweis, dass sie auch ohne ein äußeres Ordnungsgerüst auskommt, fügt die Autorin zwei Teile ohne Zwischenüberschriften ein, die ebenfalls sehr gut funktionieren: Teil 4, der „Gegen den Raum“ bezeichnet ist, und den achten Teil, dem das mathematische Unendlichzeichen, die „liegenden Acht“ voransteht.

Doch alle acht Teile – ob mit oder ohne Überschriften – beweisen die innere Harmonie des gesamten Romans, wunderbare Wechselspiele, verblüffende Korrespondenzen; sie zeigen, wie sehr die Autorin ihren Figuren und der Kraft ihrer eigenen Sprache vertrauen darf. Erscheint die Anordnung der einzelnen Geschichten mitunter willkürlich – sie gehören doch zusammen wie die Wörter auf einem Zettel, der in einem Einkaufswagen im Supermarkt liegen geblieben ist. Mögen die Leserinnen oder Leser ein Kochrezept daraus ableiten. Bei Spukhafte Fernwirkung lohnt sich detektivisches Lesen ganz besonders; es gibt in dem Buch viel zu entdecken.

Einordnung

Auch wenn der Roman den Wunsch nach Festlegung immer wieder lustvoll zu hintertreiben scheint, soll hier eine kurze Einordnung versucht werden, mit was für einer Art Roman wir es zu tun haben. Vorweggenommen: Das Buch ist unvergleichlich und ihre Autorin sehr erfinderisch. Andere Romane mögen ihre Wirkung daraus beziehen, dass die Lesenden einer Romanfigur über eine längere Strecke folgen, Empathie empfinden oder sich gar teilweise mit ihr identifizieren. Bei U. A. Bleiers Figuren ist Identifikation gar nicht nötig, um das Interesse über 410 Seiten wachzuhalten. Das schafft die Autorin mit ihrer Sprache. Die Figuren werden von außen betrachtet; es gibt keine Erzählerin, die sich in ihre Gedanken einschleichen würde, es wird nicht personal erzählt. Zeitweise nimmt die Erzählerin eine geradezu olympische Position ein, etwa wenn sie in die Zukunft blickt und weiß, wie lang eine Person eine andere überleben wird. Die Figuren sind kaum durch eigene Sprechweisen unterschieden – außer vielleicht Irma.

Es ist kein psychologisierender Roman; ist es ein soziologischer Roman, ein Gesellschaftsroman? Vielleicht, jedoch fern des Naturalismus; keine Studien prekärer Lebensverhältnisse, wenngleich manche der Figuren sich in solchen befinden. Wo hätten wir in der Literaturgeschichte schon einmal Vergleichbares gelesen? In John Dos Passos‘ Manhattan Transfer (1925) vielleicht, der ebenfalls ein breites gesellschaftliches Panorama entwickelt – in diesem Fall der Großstadt New York? Ulrike Anna Bleier hat im Vergleich dazu die Figurenvielfalt bei weitem gesteigert und fokussiert weniger einzelne Schicksale; außerdem lässt sie sich keineswegs auf ein Generalthema festlegen – wie bei Dos Passos etwa das Leiden seiner Figuren unter dem Moloch Manhattan. Bleiers Ort Lasslingen ist universell, und das Dazwischen, die Wegstrecken, die „Nicht-Orte“, sind mindestens ebenso wichtig.

Keine bekannten Muster

Was andere Autorinnen und Autoren als dramatische Höhepunkte präsentiert hätten, passiert bei U. A. Bleier fast nebenbei, als ginge es weniger um die Geschichten als um das Universum, in dem sie spielen. Keine Romanhandlung, die zielgerichtet wäre, keine Spannungsbögen, keine plot points wie in einem Drehbuch; man kann die Stories weder als „character driven“ noch als „plot driven“ bezeichnen; sie sind so ganz ohne die gängigen Konstruktionsanleitungen für einen „verdammt guten“ Roman geschrieben und fügen sich dabei doch zu einem verdammt guten Roman zusammen, ja, zu einem Ausnahmewerk. In der Epoche des Sturm und Drang hielt man für Autoren, die sich über jegliche Regelpoetik hinwegsetzten und dabei Außerordentliches zustande brachten, den Begriff des Originalgenies bereit. Den dürfte die Autorin Ulrike Anna Bleier allerdings nicht auf sich beziehen wollen, schon aus Skepsis gegenüber (meist maskulin konnotierter) Selbstherrlichkeit. Überhaupt müsste man auf Pathos verzichten, um der Autorin gerecht zu werden, denn Pathos passt nicht zur Sprache ihrer bisher erschienenen drei Romane. Der Modus, in dem hier erzählt wird, ist nüchtern, ohne langweilig, lakonisch, ohne zynisch zu sein, und erzeugt dabei einen Sog, der die Lesenden in das Buch hineinzieht.

Kühne Sätze klingen nach Freiheit

Aber lassen wir doch die Autorin endlich selbst zu Wort kommen. Welches der zahlreichen Beispiele ihres Stils sollte man da wählen? Vielleicht gleich eines aus den ersten Seiten: Einmal sagt Marius, was wolltest du eigentlich sagen heute Morgen, wieso was, sagt Irma, und Marius, vorhin in der Konfi, meine ich, ich meine, hattest du einen Vorschlag, war nicht, sagt Irma dann, so wichtig, und Marius schaut sie komisch an, von der Seite her, und Irma registriert es, aber tut so, als habe sie es nicht, auch für sich selber hakt sie es ab, und auch das registriert sie. (S. 19/20)

Bei Ulrike Bleier klingen grammatisch kühne Sätze nach Freiheit und nach Emanzipation von vorgegebenen Ausdrucksmitteln. Missachtung guter Ratschläge zum Verfassen verdammt guter Romane, wie sie die Schreibschulen im Dutzendpack liefern, ist aber noch lange kein Garant für ein außergewöhnliches Werk. Etwas Wesentliches muss hinzukommen. Aber was? „Wenn manche mystische Kunstliebhaber, welche jede Kritik für Zergliederung, und jede Zergliederung für Zerstörung des Genusses halten, konsequent dächten: so wäre Potztausend das beste Kunsturteil über das würdigste Werk. Auch gibts Kritiken, die nichts mehr sagen, nur viel weitläuftiger“, schrieb Friedrich Schlegel im 57. seiner Kritischen Fragmente.

Über einen Platz in der Literaturgeschichte entscheiden weder Kritiker noch hohe Verkaufszahlen (die der Autorin und dem mutigen lichtung verlag aus Viechtach allerdings zu wünschen wären). Literaturwissenschaftler erkennen den Rang eines Werkes meistens erst mit jahrzehntelanger Verspätung. Sollte Spukhafte Fernwirkung aber vergessen oder übersehen werden – umso bedauerlicher für die Literaturgeschichte.

Der Roman ist ein Fluss ohne Ufer, der in alle Richtungen weiterlaufen könnte; ein Anschreiben gegen jede Festlegung und eine Feier des fließenden Lebens. Die Texte könnten ohne die Buchdeckel (Hardcover), die es begrenzen, fortgesetzt werden. Ein offenes, endloses Schreiben. Potztausend ist so überhaupt kein Wort, das auf Ulrike Anna Bleiers Roman passen würde. Aber mit einem modischen „Wow!“ möchte man ihn ebenso wenig abspeisen. In ihrer Sprache ist Ulrike Anna Bleier auf der Höhe der Zeit. Wäre doch nur unsere Zeit auch auf ihrer Höhe.

Ulrike Anna Bleier: Spukhafte Fernwirkung. Roman, lichtung Verlag, Viechtach, 2022, Hardcover, 416 S., 24 Euro.




„Nun zähl auf, was es gibt“: Durs Grünbeins Gedichtband „Äquidistanz“

Speziell durch Berlin lässt es sich nicht einfach so arglos gehen oder gar unbeschwert flanieren. Viel zu groß ist die Geschichtslast, die hier eigentlich alle Wege beschwerlich macht. Mit diesem (hernach vielfach variierten und verdichteten) Befund beginnt Durs Grünbeins neuer Gedichtband „Äquidistanz“.

Da heißt es etwa im ersten Zyklus:

Schattiger Waldweg, sprich:
zu welchem KL,
Außenlager, Nebenlager,
Arbeitsdienstlager,
Waffendepot, Folterkastell führst du mich?

In der folgenden Strophe, ganz bündig:

und immer kreuzt
eine Vergangenheit den Weg.

Kriege, Diktatur und Teilung haben tiefe Spuren hinterlassen, die hier überall zu finden und kaum zu verwischen sind. Auch die heutige Stadtlandschaft erweist sich – im Gedicht „Der Ort“ – als unwirtliches Brachland:

Keine Heimat: Für die Ausgestoßenen
bloß eine Anhäufung von Steinen.

Das Vergangene ist eben nicht vergangen, es ist zuweilen schrecklich gegenwärtig. Beispielsweise am Landwehrkanal, wo Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet wurden. Oder am Wannsee, wo der industrialisierte Massenmord beschlossen wurde und wo der Dichter Georg Heym im Eis einbrach und mit 24 Jahren jämmerlich starb. Ja, selbst Flohmärkte können bedrückend sein: Dort sind ja lauter Zeugnisse von Gestorbenen versammelt. Oder dies: Mitten in eine Berliner Party bricht die Nachricht vom Terror-Attentat auf dem Breitscheidplatz ein.

Das Kapitel II besteht aus Momentaufnahmen der 1930er Jahre, die wie Grußkarten hingeblättert werden: Berlin, Dresden, Norderney, Hamburg oder Weimar am „Vorabend“ des Zweiten Weltkrieges; letzte Alltagsfreuden, letzte Sommertage in Friedenszeiten, doch schon mit Unheil getränkt. Dann die Feldpost. Harmlos erscheinende, doch verräterische Sätze. Grotesk genug ein Gedicht mit dem Titel „Die Liebe im Dritten Reich“:

Die violette Briefmarke zeigt ihn
im Profil, den Führer der Deutschen.
Der Gedanke: Millionen Zungen
haben ihn damals abgeleckt,
natürlich von hinten nur, unbewußt.

Gewiss: Manche Zusammenhänge oder Details wollen erst einmal erschlossen werden, insofern sind es Gedichte für Wissende. Doch Grünbein gibt sich keineswegs gewollt kryptisch, sondern setzt durchaus oft bei nachvollziehbaren, ja alltäglichen Zuständen und Situationen an. Gelegentlich scheut er nicht einmal Wortspiel-Kalauer (so mit Eid und Eidechse, mit den magnetischen Polen der Erde und dem Land Polen).

Und doch dringt er immer wieder auf neues Gelände vor. Grünbein vermag es auf unnachahmliche Weise, die großen Linien der Historie und das ureigenste Empfinden zu verknüpfen – auch in einem Gedicht auf sein Geburtsjahr 1962, wo von Kubakrise über die Anfänge der Beatles bis hin zur Hamburger Sturmflut so manches eingesammelt wird. Dieses Gedicht endet mit der Aufrufung eines Kunstwerks, das als Nummer 1 am Anfang eines großen Werkverzeichnisses steht. Der Maler wird nicht genannt, es handelt sich aber zweifellos um Gerhard Richter und sein Bild „Tisch“ (just von 1962). Hat es etwas zu bedeuten, dass Richter (Jahrgang 1932) und Grünbein gebürtige Dresdner sind?

Neben Berlin ist Rom Grünbeins zweiter Lebensmittelpunkt. Ein Gedichtreigen speist sich denn auch aus italienischen Erfahrungen und hat ganz andere Valeurs als die Berliner Szenerien. Im Süden geht es beispielsweise um die geradezu malerisch aufgefassten Stillstände zur Mittagszeit (Siesta) oder in der Nachsaison, wenn die Touristen nicht mehr da sind. Zudem werden große Bögen in die Antike geschlagen. Auch hier: jede Menge Geschichte, seit Jahrtausenden. Die römische U-Bahn fährt gleichsam durch antike Schlafzimmer. Mit „Prähistorischer Sommer“ kommt Grünbein sogar aufs Unvordenkliche zurück.

Dieser höchst dekorierte Lyriker (u. a. Büchner-, Nietzsche-, Hölderlin-, Pasolini- und Tranströmer-Preis) entwirft hinreißende Reisebilder, er erweist sich abermals als zeitgemäßer Natur- und Landschaftsdichter von Rang, der auch die real existierende Tierwelt einbezieht – bis hin zum „Schriftbarsch“, dessen bloßer Name bereits die Phantasie anregt.

Als typische Zeile in dem ganzen Kraftfeld könnte wohl die folgende gelten (aus dem Gedicht „Matisse“), gleichermaßen unscheinbar und weit ausgreifend:

Nun zähl auf, was es gibt.

Ja, diese Gedichte sind allemal „welthaltig“, sie lassen sozusagen nichts Wesentliches aus. Sie zu lesen gleicht mitunter einer Entdeckungsfahrt, die jedoch nicht ins Ungefähre führt.

Was aber hat es mit dem Titel „Äquidistanz“ auf sich? Nun, das allerletzte Gedicht des Bandes heißt gleichfalls so und bezieht sich offenbar auf eine autobiographische Konstante. Immer wieder ward dem Autor gesagt, er sei „so weit weg“, stets in Gedanken. Dabei sieht er sich in Äquidistanz, also im gleichen Abstand zu den Dingen und den Worten, „Innen wie außen, gleich nah und fern“. In diesem Niemandsland, im Dazwischensein, buchstäblich „nicht ganz bei der Sache“, sind wahrscheinlich die wertvollsten Einsichten zu gewinnen.

Durs Grünbein: „Äquidistanz“. Gedichte. Suhrkamp. 188 Seiten, 24 Euro.




Die „Hitlerwerdung“ Adolf Hitlers – Feridun Zaimoglus riskanter Roman „Bewältigung“

Als Romangestalt bleibt der Autor namenlos. Zunehmend scheint es so, als hätte eine fremde Macht von ihm Besitz ergriffen, so dass er gar kein Individuum mehr sein kann; als hätte er sich selbst verloren. Dahinter steht ein furchtbar monströses Projekt: Er hat sich vorgenommen, einen Roman zu schreiben, dessen Hauptperson Adolf Hitler ist. Genauer: Es geht um die frühen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, sozusagen um die „Hitlerwerdung“ Hitlers.

Besagter Autor hat Dutzende von Büchern durchgearbeitet, die das „Phänomen“ Hitler erschließen sollen. Er hat sich auf Recherche-Reise begeben – nach Bayreuth, wo Winifred Wagner den späteren „Führer“ angehimmelt hat; nach München, wo er einige Lieblingsorte Hitlers aufsucht; nach Dachau; zum Obersalzberg.

Mehr und mehr muss der Autor sich Hitler als glaubhafte Romanfigur anverwandeln, sonst hätte das Schreiben ja gar keinen Zweck. Hitler steckt in seinem Kopf, in seiner Psyche. Es sieht so aus, als käme der Schreibende aus dieser Zwangslage nicht mehr heraus. Lässt sich – bei aller schmerzlichen Anstrengung – überhaupt etwas wesentlich „Neues“ über Hitler herausfinden? Wie war das noch mit dem Diktum „Zu Hitler fällt mir nichts mehr ein“, das fälschlicherweise Karl Kraus zugeschrieben wird?

Feridun Zaimoglu, zwar 1964 in der Türkei geboren, aber seit seinem sechsten Lebensmonat in der Wahlheimat Kiel „ein deutsches Leben“ führend, wie er es selbst nennt, hat sich mit seinem Roman „Bewältigung“ ein denkbar belastendes Thema vorgenommen. Sein Buch enthält zahllose Passagen, in denen der fiktive Autor (und mit ihm Zaimoglu selbst) gedanklich und sprachlich beängstigend nahe an Hitler herangeführt wird. Wer immer sich in diesen Massenmörder dermaßen hineinversetzt, kann nicht einfach „normal“ weiterleben. Nicht nur nebenbei sei’s gesagt: Es gibt hierzulande gewiss nicht viele Autoren, die sprachmächtig genug sind, um solch ein Unterfangen zu beginnen. Da muss manches aus dem zeitgeschichtlichen Urschlamm hervorgeholt und gesagt werden, was eigentlich nicht sagbar ist. Zaimoglu und sein Autor taumeln auf schmalem Grat. Praktisch alle, die vom Hitler-Projekt erfahren, sind zutiefst befremdet.

Es stellt sich die Frage, ob solch ein Projekt auszuhalten ist. Eine irgendwie fassbare Romanfigur muss – so verbrecherisch sie sei – auch menschliche Eigenschaften haben, womöglich Traumata, die aus der biographischen Frühzeit herrühren. Um sie aufzuspüren, muss man sich tief ins Innere begeben. Daraus geht man nicht schadlos hervor, denn diese Figur ist ja recht eigentlich unfassbar. Je konsequenter man Hitlers Wesen nachzeichnen will, umso mehr ist es zum Verrücktwerden. Da hilft es auch nicht, sich in einen Opferstatus hineinzuversetzen, indem man sich eine KZ-Nummer in die Haut ritzt. Ist nicht jede „Bewältigung“ nur Beschönigung?

Seltsam genug, dass der Autor Hitler zumeist „den Österreicher“ oder „Menschenschwein“ nennt. Im Verlauf seiner Untersuchungen stößt dieser Schriftsteller auf mancherlei Vorlieben und Abneigungen Hitlers, er erwägt dessen Verhältnis zu Frauen, zu seiner Mutter und zu Hunden, geht zu den Quellen seiner rassistischen Raserei, untersucht sein verkorkstes Verhältnis zur Kunst. Gar manches klingt plausibel (sofern man es überhaupt so sagen kann) und trifft den schnarrenden Tonfall jener Zeiten, anderes streift beinahe zwangsläufig die läppische Kolportage. Was soll es besagen, dass Hitler als Achtjähriger angeblich einem Ziegenbock ins Maul gepisst hat? Dass er für gewöhnlich sieben Stück Zucker in seinen Tee rührte? Was für lachhafte Exzesse!

Aus vielen, vielen Notizen schält sich ein Kernsatz heraus, mit dem der Autor seinen Roman beginnen lassen will. Er bezieht sich auf eine Verwundung Hitlers durch britisches Gas in Ersten Weltkrieg. Damals in Flandern wäre Hitler fast dauerhaft erblindet, seither sei er von Gas besessen gewesen. Welch ein Ansatz, wenn man die späteren Vernichtungslager mitdenkt…

Hitler wird, aller Annäherung zum Trotz, nicht nur als Einzelmensch geschildert. Immer wieder geraten auch die willfährigen Helfer in den Blick, die ihn erst möglich gemacht haben. Doch auch darin geht die Geschichte nicht auf. Noch immer ist nicht bis ins Letzte ergründet, warum so viele Menschen Hitlers Wahn geradezu rauschhaft gefolgt sind.

Eine weitere Ebene zieht  Zaimoglu in den Roman ein, indem er seinen Autor Sprach- und Integrations-Unterricht für Geflüchtete aus dem arabischen Sprachraum erteilen lässt. Da stellt sich auf noch einmal ganz andere Weise die Frage nach dem Deutschsein an sich. Es zeigt sich, dass das Thema keineswegs „erledigt“ ist. Wohl jede Generation hat hierin eine Herkulesaufgabe. Das betrifft auch jene Menschen, die dauerhaft in dieses Land kommen. Sollte sich da ein Hoffnungsschimmer verbergen?

Feridun Zaimoglu: „Bewältigung“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 268 Seiten. 24 Euro.




Im Haifischbecken der Berliner Politszene – Christoph Peters‘ Roman „Der Sandkasten“

Lang ist’s her: Anno 1953 erschien Wolfgang Koeppens legendärer Roman „Das Treibhaus“, der den Politbetrieb der frühen Bonner Bundesrepublik famos zur Sprache brachte. Großer Zeitsprung: 2018 erhielt der Schriftsteller Christoph Peters just den Wolfgang-Koeppen-Preis. Jetzt legt Peters‘ seinen Roman „Der Sandkasten“ vor, in dem er sich (in bewusster Anknüpfung an den großen Vorläufer) anschickt, aus dem Maschinenraum des jetzigen Berliner Polit- und Medienbetriebs zu plaudern.

Peters‘ Protagonist heißt Kurt Siebenstädter und gilt mit seinen 51 Jahren als einflussreichster Hörfunkjournalist Deutschlands, gleichermaßen geachtet und gefürchtet wegen seiner zupackenden, entlarvenden Art der Gesprächsführung, die schon manchen Gast in Verlegenheit gebracht hat. Siebenstädter ist Skeptiker durch und durch, er vertritt keinerlei parteinahe Überzeugung und traut sich gerade deshalb, von solcher Warte aus Prominente jeder Couleur herzhaft bloßzustellen. Dennoch drängeln sich Politiker in sein Morgenmagazin, wenn sie Botschaften lancieren wollen. Fast wirkt es tatsächlich wie ein Sandkastenspiel. Aber Vorsicht!

Klima einer neuen Ernsthaftigkeit

Das gesellschaftliche Klima hat sich gewandelt, so dass weder Politiker noch bekannte Medienleute sicher im Sattel sitzen. Die Zeit der lässigen Ironie ist vorbei, eine neue Ernsthaftigkeit und ein „woker“ Puritanismus haben Einzug gehalten. Figuren wie Siebenstädter sind vor diesem Hintergrund längst nicht mehr unumstritten. Es mehren sich die Zeichen: Gerade jetzt sieht es so aus, als dürfe er sich keinen Schnitzer mehr erlauben. Ausgerechnet er, der altgediente Zyniker, der selbst schon so manchen peinlichen Skandal aufgedeckt oder „ausgeschlachtet“ hat. In dieser wackligen Situation bekommt er einen Hinweis auf mögliche Verfehlungen eines Spitzenpolitikers. Wie wird er mit dem riskanten Tipp umgehen? Wird’s ein Befreiungsschlag – oder kommt etwas Selbstzerstörerisches ins Spiel?

Viel Freude beim Figurenraten

Wie es sich aus den Zeitläuften so ergibt, spielt die Geschichte im November 2020 vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und erweist sich als Schlüsselroman, in dem u.a. Statthalter von Jens Spahn, Karl Lauterbach und Christian Lindner aufzutreten scheinen. Den Namen Garbsen darf man überdies wohl mit Drosten kurzschließen. Na, und so weiter. Viel Freude beim Enträtseln. Christoph Peters dementiert im Vorspruch freilich jede Nachbildung lebender Personen.

Tiefere Einblicke in den intriganten Berliner Betrieb halten sich allerdings in Grenzen, die Befunde entsprechen weitgehend den Vorstellungen, die sich weite Kreise der Bevölkerung eh schon davon machen. Stichwort Haifischbecken. Stichwort lauter furchtbar wichtige Leute. Stichwort Jahrmarkt der Eitelkeiten. Nebenbei: Dass man heutzutage Bilder elektronisch manipulieren kann, erweist sich als überflüssiger Exkurs. Und noch mehr nebenbei, mit Gruß ans Lektorat: Es heißt korrekt „krakeelen“, nicht „krakelen“.

Unverhoffte Bedeutung des Hörfunks

Verwunderlich, dass hier der Hörfunk noch einmal als Leitmedium fungiert. Schön wär’s ja vielleicht. In Wahrheit dominiert doch das Audiovisuelle seit vielen Jahren. Oder ist’s ein von Peters bewusst gesetzter Anachronismus, der auf die Zeiten von Wolfgang Koeppen zurückverweist? Ein Effekt scheint immerhin zu sein, dass sich praktisch alle Hörfunk-Feuilletons sogleich auf das Buch gestürzt haben.

Erwartbarer Standard sind die Passagen, in denen von allerlei kriselnden Ehen im Polit- und Medienzirkus die Rede ist. Siebenstädter selbst hat sich mit der Deutsch- und Geschichtslehrerin Irene gründlich auseinandergelebt, auch ist ihm die Tochter Nora herzlich gleichgültig, was wiederum auf Gegenseitigkeit beruht. Was bliebe denn, wenn jetzt noch der berufliche Abstieg folgen sollte? Eröffnet sich etwa gerade noch rechtzeitig die Chance auf einen lukrativen Parteijob?

Man lauscht ja recht gerne in diese Promi-Szene hinein. Also liest sich der routinierte Roman recht zügig und munter, er verlangt kompositorisch und stilistisch nicht allzu viel ab. Mit derlei grundsolider Unterhaltung jedoch den Vergleich mit Wolfgang Koeppen zu suchen und geradezu herauszufordern, könnte ein gewagtes Unterfangen sein.

Christoph Peters: „Der Sandkasten“. Roman. Luchterhand. 256 Seiten, 22 Euro.




Was vor sich geht und wie – Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte“

Misslicher Vorfall mit Nachwirkung: Inmitten der Lektüre diesen grandiosen Sammelbandes bin ich erkrankt und habe wochenlang unterbrechen müssen. Ich will das alles nachholen, Stück für Stück. Das ist ja immerhin das Gute daran: Das (Wieder)-Lesen liegt größtenteils noch voraus.

Wir haben hier nichts weniger als ein Lebenswerk in seinem stetigen Fortgang, ein wahres Monument, das freilich keines sein will. Es ragt aus den Zeiten von unvergesslichen Autoren wie Nicolas Born und Rolf Dieter Brinkmann, angloamerikanischern Anregern (W. C. Williams u. a.) oder auch bildenden Künstlern wie Wolf Vostell zu uns herüber, in all seiner Fragmentierung und all seinem angewachsenen  Zusammenhang. Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte“ zählen unbedingt zu den Hauptwerken der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Man möchte geradezu hymnisch werden, doch käme kritiklose Verehrung so gar nicht mit diesen Sprachkunstwerken überein.

Spuren und Fährten finden

Der in jeglichem Sinne umfassende Band enthält sämtliche Gedichtzyklen Jürgen Beckers (geboren am 10. Juli 1932), die seit „Schnee“ (1971) und „Das Ende der Landschaftsmalerei“ (1974) entstanden sind. Das Ganze reicht bis zu „Graugänse über Toronto“ (2017) und „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ (2022). Mit Nachwort, erläuternden Texten und diversen Verzeichnissen bringt es das Buch auf 1120 Seiten. Weiter und weiter lesend, kann man sich bald nicht mehr vorstellen, dass auch nur ein einziges Gedicht weniger bedeutsam sei und fehlen dürfe. Jedes gehört hinein, jedes hat seinen Platz. Gar vieles baut aufeinander auf. Was allerdings nicht heißen soll, dass man schon „verstanden“ oder gar durchdrungen hätte. Wie denn auch? Aber man spürt wohl, sofern empfänglich, die errungene Würde des Werks in jeder Faser. Auch wird man immer mehr Spuren und Fährten finden.

Diesen oft genug weit ausgreifenden, mäandernden, dennoch vorsichtig-demutsvoll sich fortsetzenden Sprachschöpfungen ist der Gestus des abgeklärten Feststellens ebenso eigen, wie sie schier Ungreifbares und Flüchtiges dennoch menschenmöglich registrieren. Auch stellt sich solcherlei  Dialektik ein: Das „Private“ scheint durchs wechselhafte Weltgeschehen hindurch, welches wiederum durchs Private blinzelt. Atemberaubend etwa, wie der langjährige Rundfunkredakteur Jürgen Becker (u. a. Leiter der Hörspielabteilung beim Deutschlandfunk) den Nachrichtenstoff mit dem beruflichen Alltag verwebt („Zum Programmschluß die Nationalhymne“). Dabei hat er doch noch die besseren Zeiten des Mediums erlebt…

Vor- und rückwärts durch die Zeit

Beckers Gedichte schließen vieles auf, weit übers wortwörtlich Gesagte hinaus. Lakonische, oft melancholische Sätze in bieg- und schmiegsamer Sprache. Was Sprache überhaupt vermag – und was nicht. Der Moment und die Geschichten, denen stets zu misstrauen ist. Das Unwiederbringliche. Zeitschichten. Sich verändernde Orte und Landschaften. Nüchterne Selbstzitate. Zeile für Zeile einzig, mit größter Sorgfalt herausgearbeitet. Genau hier und genau dies. Immer wieder zeitlich eingefrorene Inbilder wie „Sommer in den Fünfzigern“ oder „Sommer, siebziger Jahre“. Insgesamt das große Journal, die Chronik der laufenden Ereignisse; all die Inventuren, auf dass nichts verloren gehe. Die Anrufung der einfachen Dinge (oft wiederkehrende Signaturen: Pappeln, Forsythien, aber auch anschwellende Verkehrsströme und Klimaanlagen). Leise und doch mit großem Atem verzeichnete Stimmungslagen der ganzen Gesellschaft, Klima-Verläufe in jeder Hinsicht.

Kurzum: ein Buch für Lieblingsplätze in den heimischen Regalen; eines, dessen Fluss man sich getrost  anvertrauen kann.

Jürgen Becker: „Gesammelte Gedichte“. Mit Bildern und Collagen von Rango Bohne und Fotos von Boris Becker (Sohn von Jürgen Becker). Mit einem Nachwort von Marion Poschmann. Suhrkamp Verlag. 1120 Seiten. 78 Euro.

 




Unergründlich zu allen Zeiten – Mariette Navarros Meeres-Roman „Über die See“

„Einverstanden“ hat sie gesagt. Zu ihrer eigenen Überraschung.

Wozu die namenlose Übersee-Kapitänin ihr Plazet gegeben hat, erfahren wir nach einer Spannungsphase: Die tatsächlich ausnahmslos maskuline Mannschaft ihres Frachtschiffs darf – bei abgeschaltetem Motor und deaktiviertem Radar – mitten im Ozean, weit hinter den Azoren, schwimmen gehen; nackt, wie die Natur sie schuf.

Was zunächst wie ein unschuldiges Quietschvergnügen erscheint, erweist sich als existentielles Erlebnis nach Art einer zweiten Geburt mitsamt kollektiven Urschreien – und schließlich als unheimliches Ausgeliefertsein. Werden die Kräfte zur Rückkehr reichen?

Mariette Navarros Roman „Über die See“ (französischer Originaltitel: „Ultramarins“) lesend, möchte man zwischenzeitlich nicht allzu viel aufs Überleben der Crew verwetten. Auch in dieser Lektüre kann man sich gleichsam ausgesetzt fühlen. Einzig und allein die Kapitänin bleibt an Bord und bekommt seltsame Anwandlungen. Die ungemein erfahrene und souveräne Fachfrau wird doch nicht etwa ihre Leute im Stich lassen wollen?

Es ist eine zeitgenössische Geschichte, was den sachlichen Hintergrund (globaler Container-Handel) angeht. Doch weit darüber hinaus ist es, als sei die Zeit der Meeres- und Seefahrts-Mythen noch längst nicht vorbei, ja, als beginne sie mit Macht erneut. Der Ozean scheint so unergründlich wie eh und je, allen technischen Vorkehrungen zum Trotz.

Eine durchaus rätselhafte Wetterlage kommt auf, die auch noch die bislang hellsten Hirne zu vernebeln droht. Und warum ist da plötzlich ein überzähliger Mann an Bord, an dessen Gegenwart sich niemand erinnern kann? Welcher Sphäre ist er zuzurechnen? Im Vorspann dieses Romans heißt es ja:
„Es gibt drei Arten von Menschen:
die Lebenden, die Toten und die Seefahrer“.

Mehr noch: Was hat es mit dem Schiff auf sich, das sich offenbar zunehmend selbständig macht und immer langsamer wird, ohne dass eine zweifelsfreie Ursache gefunden wird? Ist es ein eigenwillig stampfendes „Tier-Schiff“, wie die gar nicht mehr so rationale Kapitänin glaubt, oder handelt es sich um eine ungeahnte Form „autonomer Fortbewegung“, als sei auf geheimnisvolle Weise Künstliche Intelligenz im Spiel? Auch hier also wieder die Überblendung von Urzeiten und neuester Technik.

Und was hat einst dem Vater der Kapitänin, auch er schon ehrenwerter Schiffsführer, eines Tages für den Rest seines Lebens die Sprache verschlagen?

Ein streckenweise beängstigender, dann aber auch wundersam entlastender Versuch über Ohnmacht und Selbstbehauptung des Menschen. Leinen los und lesen!

Mariette Navarro: „Über die See“. Roman. Aus dem Französischen von Sophie Beese. Verlag Antje Kunstmann. 160 Seiten. 20 Euro (ab 24. August im Buchhandel).

 

 




„Auf dem Meer der Verwunderung“ – Kapitel 3: Blicke zurück

Großvater Fritz, Kradfahrer auch er. – Foto privat

Skript, das gutes Buch werden möchte, sucht VerlegerIn und LektorIn!

Das 220 Seiten lange „Auf dem Meer der Verwunderung“ erzählt Momente einer Lebens- und Familiengeschichte im Kontext gesellschaftlicher Zusammenhänge, regionaler Industrie und literarischer Bezüge, ist ebenso Polemik, Essay, Bildungsroman wie Schelmenstück, Poesie, ein Text über Liebesversuche und Emanzipationswirren.

Erzählt wird von vergiftetem Alltag, von schmerzhaftem Erwachsenwerden, von Gelingen und Scheitern unter den Bedingungen des Zerfalls maroder gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Ruhrgebiet (1952 bis 2022) bildet den Hintergrund für alles Erzählte, wobei insbesondere Duisburg einen Großteil des Handelns und Behandeltwerdens prägt, aber keinesfalls bloß Kulisse ist, sondern eher eine weitere Haut der Protagonisten.
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Kapitel 3: Blicke zurück

2022, im verfluchten Jahr Drei des Virus, stehe ich erneut auf dem Magic Mountain, früh Vergifteter auf lang vergiftetem Grund, Sars-CoV-2, seinen Mutanten und Varianten als vierfach Geimpfter bisher glücklich entkommen, so scheint es, in ferner Nähe Putins blutiger Krieg gegen die Ukraine. Von hier oben aus sehe ich, jetzt da Frühjahrsstürme letzte Blätter von den jungen Erlen und Birken, Eschen und Pappeln gerissen haben, schaue ich durch alle äußerliche Veränderung hindurch auf das nur scheinbar Unveränderliche meiner Erinnerung: auf die Kolonie in der Ferdinandstraße. In der Nr. 13 wohnten wir bis Mitte der 50er-Jahre. Bis vor Kurzem aber fehlten sie in diesem Sträßchen, die Häuser mit den Hausnummern 9 bis 13, irgendwann abgerissen (oder bloß neu nummeriert?), so, als ob alles nur ein Traum gewesen wäre oder ein Schwarz-Weiß-Film des Neorealismo, in dem man mich als Balg eines Sklaven der Schlotbarone mitzuspielen gezwungen hätte.

Doch hat es uns da wirklich gegeben. Zwischen den Häuschen auf der Ferdinand- und der Berzeliusstraße lagen kleine Schuppen für die Mieter, die meisten von ihnen arbeiteten auf der Hütte. In einem dieser Schuppen stand sie, die nach einem Unfall gekaufte, vom Vater instand gesetzte Zündapp KS 601, ein Motorrad mit Beiwagen. Einmal nahm er mich mit, ganz in seinen schwarzen Ledermantel gekleidet, mit Fliegerhaube aus Leder und Motorradbrille. Ich wurde in eine dicke Jacke und Decke gepackt, eine zweite zu große Brille mir am kleinen Kopf festgezurrt. So brausten wir über Kopfsteinpflaster und Schlaglöcher zu den Großeltern in den Hochfelder Valenkamp, um ihnen heißen Eintopf zu bringen. Der erhitzte mir im Beiwagen den Schoß, dessen Haut sich für Stunden rötlich einfärbte, fast so rot wie die kleine verstaubte, nahe der Kupferhütte gelegene Straße, in der die Eltern des Vaters wohnten. Doch echte Kradfahrer, zwei wie wir, kannten keinen Schmerz, wir waren schließlich Männer, Kämpfer, dahinrasend, unbesiegbar wie Batman und Robin, die damals hier noch keiner kannte. Nie wieder sind wir zusammen so gefahren.

Quintaner auf der Kaiserswerther – gegenüber die Kläranlage. – Foto privat

Von hier oben sehe ich auch die Kaiserswerther Straße, die Erdgeschosswohnung links in der Haushälfte mit der Nummer 201, hier wuchs ich auf, sehe sechzig Quadratmeter, zähe Jahre des Unheils und Stunden des Glücks, sehe das unheilvolle Kinderzimmer, darin vielleicht vier Quadratmeter für jedes der vier. Zieht man den Stellplatz für die Möbel ab, bleibt kaum mehr als eine Schweinebucht für jedes Kind. Ich sehe den Bruder, die Schwestern, die Eltern, die Nachbarn; kleine Welt, nicht nur von hier oben. Schwenke langsam nach rechts, sehe das längst abgerissene Kompostwerk, mit der Kläranlage daneben, dem Klärbecken darin. Was für ein Wort: KLÄRANLAGE – nichts hatte sich je geklärt für uns mit deren Hilfe, nichts wurde gefiltert, nichts je gereinigt. Besonders an schwülen Sommertagen stanken Faulturm und Becken, stank alles um sie herum, also auch wir, wie nach Tausenden schwefliger Soleier und gärenden Exkrementen.

Auch dieser Vater (ganz oben links): ein Mann seiner Klasse. – Foto privat

Ich sehe die Tennisplätze, schon in Hüttenheim liegend, höre als Balljunge wie vor Jahrzehnten das Ächzen, das Rutschen der Schuhe auf roter Asche, die Aufschläge des angetrunkenen Kleingeldadels in Weiß. Nicht weit davon ahne ich hinter den Häuserzeilen an der Heinrich-Bierwes-Straße die Gemeinschaftsschule II für Kinder katholischer wie evangelischer Eltern. Mädchen und Jungen nebeneinander, in früher vergeblicher Koedukation. Auch einem jüdischen Kind, das sich nie zu erkennen gab, sollen dort Lektionen erteilt worden sein. Kilometerweit sehe ich – mich weiter um die eigene Achse drehend – die lückenlos ineinander übergehenden großen Werke, sehe nur da und dort den Rhein durchschimmern, jenen angeblich so mächtigen Strom, sehe von Bäumen verborgen den Evangelischen Friedhof, auf dem der Vater zur Ruhe kommen will, aber nie kommen wird, sehe den von Brennnesselfeldern umgebenen Alten Angerbach, sehe den riesigen Starkstrommast, auf dessen Eisenstreben der Bruder kunstvoll in ungeahnte Höhen kletterte, von der kleinen Schwester und mir ängstlich bewundert, sehe Richtung Biegerhof die Ziegeleiruine mit dem maroden Dach, rieche die Kartoffelfelder und -feuer, da, wo heute ein Schulzentrum steht, darin auch das Gymnasium, das ich besuchte. Weiß um die Straßenbahnhaltestelle am Mühlenkamp, von dort aus schaukelte mich die Linie 9 in die Innenstadt zum Heiratsmarkt, dem großzügig überdachten Eingang des Karstadt-Kaufhauses, zu den nach und nach wechselnden Freundinnen, zur samstäglichen Tanzschul-Disko, Knutschbude mit Cola, oder ins Bistro California. In der Ferne weiß ich die Sechs-Seen-Platte, die Flutlichtmasten des Wedaustadions, auf dessen Rasen dem fußballernden MSV Abstieg um Abstieg gelingt, rechts davon höre ich von Weitem, als klänge es aus einem Roman Stephen Kings herüber, wie unheilfroh das Jauchzen aus dem Großenbaumer Freibad an heißen Sommertagen lärmte.

Der Autor, ganz rechts außen, versucht, auch aufs Bild zu kommen. – Foto privat

Nicht weit entfernt wohnte D., zweiter bester Freund meines Lebens, Klassenkamerad, guter Hundertmeterläufer, Leidensgenosse. Ihm brachen sie das Herz, als die Eltern seiner Freundin beschlossen, wegzuziehen aus Duisburg, weit weg, die Tochter hatte zu gehorchen. Ende einer Oberstufen-Liebe. D., der später Psychologie in Bochum studierte, Diplom-Psychologe, Therapeut werden wollte, angeknackst wie er war, aber eigene Prüfungsängste nicht überwinden konnte, deshalb erst gelegentlich Taxi fuhr, dann nur noch das und nichts anderes tat. Und wegschaute, wenn er sah, wie ich mit dem Zug aus Gladbeck, von der Arbeit kommend, den Hauptbahnhof Duisburg durch den Ostausgang verließ, an der Taxischlange vorbei. Einmal, als sich unsere Blicke dennoch unausweichlich kreuzten, verabredeten wir ein Treffen bei mir in der Zanderstraße, zu dem er – womit ich nicht mehr gerechnet hatte – tatsächlich erschien. Er nahm sich Zeit, erzählte endlich von sich, sogar von seiner Therapie gegen eine Angststörung. Doch war bei all dem ein Unterton herauszuhören, etwas, das er nicht sagen konnte oder wollte, nämlich: dass er mir nicht mehr gern begegne. Er, inwendig Arbeiterjunge geblieben wie ich selbst, Randfigur, Außenseiter, Paria irgendwie, voller Klassenscham, beschämt davon, es sichtlich nicht geschafft, die Hoffnungen, die in ihn gesetzt worden waren, die er in sich selbst gesetzt hatte, vorerst oder vielleicht für immer enttäuscht zu haben.

Ich dagegen schien ihm davongekommen, glücklich assimiliert, hatte Examen gemacht, das Lehramts-Referendariat abgeschlossen. In einer Kurznachricht der Westdeutschen Allgemeinen hatte D. gelesen, dass ich wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Literaturbüros geworden war. Doch vertraute ich mich ihm an, gestand, dass mir dieser Mief- und Mittelstadt-Aufstieg ins armselig ausgestattete Poesie-Kontor wie fauler Zauber vor Pappmaché erscheine, dass ich, um es nur bis dahin zu schaffen, viel zu viel hatte zahlen müssen, bereits während des Referendariats das erste Mal abrupt lebensuntüchtig geworden, zusammengeklappt sei, mein verzweifeltes Perfektionsstreben nicht mehr habe durchhalten können, nach Kontrollverlust und Angstattacke in eine Depression gefallen sei, aus der ich mich nur selbst und Frisium, ein Benzodiazepin, die Haut, die Wärme B.s und ein wohlwollender Mentor Schritt für Schritt retten konnten.

Doch trotz solcher Beichten auf dem Küchenstuhl blieben D. und ich uns fremd. Obwohl ich ihm mehr noch ähnelte, als er ahnte, ich selbst mich kurze Zeit später über zwei Jahre hinweg aus dem Büro stehlen, über Mittag zur Gesprächstherapie ins Kölner Meister Eckehart Haus fahren sollte, erst wöchentlich, dann mit kleinen Pausen zwischen den Sitzungen. Eines Dienstags traf mich dort ein Gedanke ins Mark, scheinbar eher lapidare Worte des einst zwischen Nazi-Diplomatie und Satori mäandernden, zum Zen-Lehrer und Begründer der Initiatischen Therapie gereiften Karlfried Graf Dürckheim, jener Satz, der sinngemäß lautete: Man muss erst einmal ein Ich haben, das man überwinden kann! Mit dieser als Kalauer verkleideten Weisheit hätte ich vielleicht auch D. ein wenig erheitern, ermutigen können, denn wir hatten sie kaum, diese Chance, mehr als nur ein Kleine-Leute-Ich zu entwickeln, es zu vertiefen, personare, eine eigene Stimme hören zu lassen, geschweige denn irgendein Ego zu überwinden. Tief drinnen fühlte sich jeder von uns nur wie ein Muster ohne Wert, invalide beide, nicht einmal annähernd erleuchtet, also keinesfalls – wie im Zen – gelegentlich eins mit allem, sondern nur andauernd dunkel keins von allem, jedes lebendige Wachstum ins Wesentliche verhindert.

Mitte der 60er-Jahre hatte D. ebenso wie ich profitiert von sozialdemokratischer Bildungs- als gesellschaftlicher Öffnungspolitik. Jungs wie wir, mit prekärer Herkunft, psychischer Labilität und dem dunklen Drange, dem Arbeitermilieu zu entkommen, wären in früheren Zeiten ohne Ganztagsgymnasium vollkommen sang- und klanglos untergegangen. Doch auch jetzt schickte man Malocherblagen wie uns nur armselig ausgerüstet als Kanonenfutter an die bildungspolitische Front. Jovial schürte man die Illusion, jeder und jede könne gymnasial aufbereitet, durch kompensatorische Erziehung zum artigen Studienrat, willigen Ingenieur, scheinheiligen Priester oder andersgearteten Vollzugsbeamten geschliffen werden, aber selbst für diese Abrichtung ins Bruder Eichmann-Dasein einer dumpfen Kleinbürger- und Arbeitswelt verteilte man die Chancen, die materiellen Ressourcen und persönliche Zuwendung nur äußerst spärlich. So taumelten viele von uns auf ihrem Lebensweg in einen bizarren Superlativ: gescheit – gescheiter – gescheitert.




Rückzug in die Vorhölle – Heinz Strunks Roman „Ein Sommer in Niendorf“

Vom Leben enttäuschter Mann, gestandener Jurist in seinen Fünfzigern, zieht sich für einige Zeit nach Niendorf/Ostsee zurück, um nach Bandaufzeichnungen eine Abrechnung mit seiner Familiengeschichte aufzuschreiben. Ist solch ein Plot, oftmals gehabt, nicht gewöhnlich und langweilig? Halt! Nicht, wenn sich einer wie Heinz Strunk („Fleisch ist mein Gemüse“, „Der goldene Handschuh“) der Sache annimmt.

Vor allem die (zahlreichen) Passagen, in denen Strunk sozusagen kanisterweise Unmut abfüllt und ausgießt, haben es mal wieder in sich. Just aus der kapitalen Ödnis des überwiegend von urlaubenden Senioren bevölkerten Ortes lassen sich herrlich ergiebige Szenen destillieren. Wenn man es kann…

So zieht der misanthropische Ich-Erzähler Roth vor allem mit Tiraden gegen das schmierig-saufsüchtige Faktotum namens Breda vom Leder, dessen Zugriff er sich freilich nicht entziehen kann. Dieser verkommene Trunkenbold verwaltet mehr schlecht als recht einige Ferienwohnungen, betreut Strandkörbe und betreibt ein Schnapslädchen, in dem er selbst bester Kunde ist. Dazu noch Bredas adipöse Freundin Simone. Bizarr, bizarr…

Doch bringt ihn wenigstens Melanie, jenes „späte Mädchen“ vom einstigen One-Night-Stand, das sich eines Tages wieder meldet, wieder auf andere Gedanken? Im Gegenteil, er versucht ihr auf jede erdenkliche Art auszuweichen. Als sie dann noch Fischbrötchen vertilgt, ist die Schwelle des Widerwillens vollends überschritten. Dennoch wird der missliebige Geschlechtsakt vollzogen. Lustloser geht’s nimmer.

Aber seine Tochter, die wird dieser Roth doch gern haben? Nichts da! Selten eine so hasserfüllte Suada gegen parasitäre eigene Brut gelesen. Ja, ist diesem Mann denn gar nichts recht, gar nichts lieb und wert?

Er schlingert so durch seine Tage, die doch im Sinne eines Abstands von sich selbst auch erholsam hätten sein sollen. Einzige Lichtblicke sind ein rührend bemühtes Rentnerpaar, mit dem er schon mal einträchtig zu Tische sitzt – und eine Imbiss-Bedienung, die er sich als schärfste aller Bräute zurechtphantasiert. Doch sind diese geisterhaften Erscheinungen nicht überhaupt bloße Einbildung?

Kurzum: Heinz Strunks neuer Roman spielt – vielfach mit Wiederholungen des Immergleichen gespickt – in der Vorhölle. Wer hätte vom vermeintlich harmlosen Niendorf gedacht, dass es dort so diabolisch zugehen kann? Eine Folie, die Strunk unterlegt, ist eine Tagung der legendären „Gruppe 47″, die im Mai 1952 wirklich und wahrhaftig in Niendorf stattgefunden hat. Von einem Genius Loci indes keine Spur. Denn es muss unter den Skribenten schon damals streckenweise hochnotpeinlich zugegangen sein. Noch so ein gefundenes Fressen für Strunk und seine Hauptfigur.

Während ihn der Alkoholismus Bredas und die Begleiterscheinungen körperlich-seelischen Verfalls zunehmend anekeln, gleitet Roth ganz allmählich selbst ins notorische Trinken hinein. Im Rausch widerfährt ihm dann auch etwas letztlich Unerklärliches, das starr, steil und quer zum sonstigen Fast-nicht-Geschehen steht: Er begeht auf geradezu viehische Weise Fahrerflucht und weiß nicht, was aus dem Opfer geworden ist. Ist der zudringliche Mann mit leichten Blessuren davongekommen? Ist er gar tot? Wahnwitzig genug, dass sich nach all dem überhaupt noch die Frage stellt: Kann der Aufenthalt in Niendorf einfach so weitergehen? Zwar ist es kein Krimi, doch soll hier nicht mehr verraten werden. Zwischen all dem Irrsinn kann es doch wohl keinen Platz für „Normalität“ geben, oder?

Heinz Strunk ist ein Schriftsteller, dem vielleicht mancher einiges nachmachen zu können glaubt. Er bewegt sich ja auf mittlerer Flughöhe und macht nicht viel Aufhebens von seinem eher groben, schmucklosen, auf eigene Art bestsellertauglichen Stil, der hie und da vor brachialen Sprüchen überquillt. Insofern ist schwer nachvollziehbar, dass man ihn öfter ausgerechnet mit Thomas Mann vergleicht. Stimmt, er zitiert den berühmten Lübecker (Nähe Niendorf, hehe) ja gelegentlich selbst. Doch was heißt das schon? „Zauberberg“? „Tod in Venedig“? Es lässt sich notfalls alles herbeizerren.

Aber Vorsicht! Strunk trägt weitaus mehr im Gepäck, als man zunächst meinen könnte. Kaum merklich, dass und wie er aufs Ganze zielt, allem schnoddrigen Gehabe zum Trotz.

Heinz Strunk: „Ein Sommer in Niendorf“. Rowohlt Verlag, 240 Seiten, 22 Euro.




Die Landkarte der Liebe neu vermessen – Nicole Krauss‘ Storys „Ein Mann sein“

Es ist Sommer. Ein Mann liegt träge am Strand, beobachtet seine spielenden Kinder und seinen alten Vater. Während die Hitze ihn schläfrig macht, lässt er sein Leben Revue passieren, denkt er an das unmerkliche Älterwerden, all die kleinen Veränderungen, die sich ständig ereignen, an das Leben, „das sich immer auf so vielen Ebenen abspielt, alles zur gleichen Zeit.“

Die Gedanken zerfließen, zerrinnen, sind nicht greifbar. Vielleicht ahnt er, dass gerade jetzt, während er mit seinen Kindern Ferien am Meer macht, seine Frau ihren Liebhaber in Berlin trifft und dabei nicht nur beglückende, sondern auch zutiefst beklemmende Erfahrungen macht.

Ein scharfer Cut. Die Perspektive wechselt, wir hören die freimütigen Bekenntnisse der Frau. Lauschen ihren Worten, mit denen sie den hemmungslosen Sex beschreibt, den sie mit ihrem Liebhaber hat, einem Journalisten und passionierten Amateurboxer. Ein großer, starker Mann mit einem emotionalen Handicap. Er kann es nicht ertragen, neben einer Frau einzuschlafen, sie die ganze Nacht in den Armen zu halten. Nach dem Liebesakt muss er das Bett verlassen und in seinem eigenen Bett zur Ruhe kommen. Seine Frau hat sich deshalb von ihm scheiden lassen. Die Liebhaberin, eine Jüdin aus New York, hat dafür Verständnis. Viel verstörender findet sie, dass der deutsche Mann ihr bei einem Spaziergang durch den Grunewald beichtet, er wäre damals bestimmt ein Nazi gewesen: „Ich bin genau der Typ, den sie für die Napola rekrutiert hätten“, sagt er mit Bezug auf die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, in denen die Nazis die Elite der starken und gehorsamen Jugend zu SS-Führern herangezüchtet haben. Dass er eine Schwäche für Ruhm und Ehre hat, lässt die Frau noch durchgehen. Aber dass der Mann glaubt, in ihm schlummere ein willfähriger Massenmörder? „Sie würde lieber glauben, dass der Mann, mit dem sie schläft, niemals, unter keinen Umständen, ein Nazi hätte sein können.“

„Ein Mann sein“, heißt diese verstörende Story, sie ist zugleich der Titel des Erzählbands, in dem die US-amerikanische Autorin Nicole Krauss vom Kampf der Geschlechter und den Zumutungen des Zusammenlebens berichtet. Immer geht es um das Wechselspiel von Macht und Sex, Liebe und Gewalt und den Versuch, die Landkarte der Beziehungen neu zu vermessen und zu beschriften. Einmal erzählt sie, wie eine aus New York nach Tel Aviv gereiste Frau in der Wohnung ihres verstorbenen Vaters einen fremden Mann antrifft. Er hat einen Schlüssel, geht hier ein und aus. Wer ist dieser Unbekannte und warum drängt er sich in den Leben der Frau, die irgendwann glaubt, in einem seltsamen Traum gefangen zu sein? Ein anderes Mal erinnert sie sich an eine Mitschülerin, die eine von Gewalt-Lust und Unterwerfungs-Fantasien dominierte Beziehung zu einem älteren, reichen Mann unterhielt. Was wohl aus ihr geworden ist? Und was mag aus dem jungen Mann geworden sein, in dessen Leben die Erzählerin hineinschlüpft: Viele Jahre war er der Sekretär eines bedeutenden Landschafts-Architekten in Südamerika. Hat erlebt, wie die Generäle der Junta ihn zwangen, in einem seiner prächtigen Parks unzählige Leichen zu verscharren. Warum hat der jüdische Architekt, der vor den Nazis aus Deutschland nach Südamerika geflohen war, das still ertragen und erduldet?

Ein rätselvolles, großes Buch einer großen Autorin.

Nicole Krauss: „Ein Mann sein.“ Storys. Aus dem Englischen von Grete Osterfeld. Rowohlt, Hamburg 2022, 256 Seiten, 24 Euro.




Zwischen Seelentrost und Menschheitsdämmerung – sechs Bücher über beinahe alles

Hier ein Schwung neuerer Bücher, in aller Kürze vorgestellt. Es muss ja nicht immer ein „Riemen“ (sprich: eine ausufernde Rezension) sein. Auf geht’s:

Lebensgeschichten am Sorgentelefon

Mit dieser Idee lassen sich allerlei Themen und Charaktere recht elegant unter ein Roman-Dach bringen: Judith Kuckarts Roman „Café der Unsichtbaren“ (Dumont, 206 Seiten, 23 Euro) spielt in der Ausbildungsgruppe für ein Sorgentelefon. Da lernen wir beispielsweise eine Theologie-Studentin und eine Sammlerin von Gegenständen aus der DDR kennen, aber auch einen Mann vom Bau, eine Buchhalterin, einen Radioredakteur im Ruhestand – und eine 80-jährige, die als Ich-Erzählerin fungiert. Nicht ganz zu vergessen die Anruferinnen und Anrufer, die sich ans Sorgentelefon wenden. Mit anderen Worten: Der Roman versammelt etliche Biografien, Wirklichkeiten und Perspektiven, sorgsam arrangiert und entfaltet von der Autorin, die hierzulande schlichtweg zu den Besten gehört. Die Lektüre dürfte auch auf ungeahnte Zusammenhänge der eigenen Lebengeschichte verweisen, sofern Lesende es zu nutzen wissen. Nebenbei gesagt: Speziell in Dortmund erinnert man sich gern an die Zeit, in der Judith Kuckart hier die erste „Stadtbeschreiberin“ gewesen ist. Die Lektüre ihres Romans ist in dieser Hinsicht eine angenehme und bereichernde „Pflicht“.

Die Tiere schlagen zurück

Etwas dürr und eindimensional mutet hingegen die Idee an, die diesem Buch zugrunde liegt: Nadja Niemeyer „Gegenangriff. Ein Pamphlet“ (Diogenes, 172 Seiten, 18 Euro) verdient sich den gattungsbezeichnenden Untertitel redlich. Die Handlung ist in der Zukunft angesiedelt, sie setzt im Jahr 2034 ein. Die Dystopie (wie man derart finster wuchernde Phantasien zu nennen beliebt) geht davon aus, dass die Tierwelt der menschlichen Gattung endgültig überdrüssig geworden ist und den zerstörerischen Homo sapiens vom Erdball tilgen will. Der „Gegenangriff“ gelingt total, und die Tiere können danach endlich im naturgerechten Frieden leben. So einfach ist das also. Von Seite 47 bis 54 werden, Zeile für Zeile, lauter Spezies aufgezählt, die der Mensch ausgerottet hat. Auch sonst ähnelt der arg gedehnt wirkende Text zuweilen eher einem aktivistischen Manifest bzw. einer Chronik der Schrecklichkeiten. Geradezu genüsslich werden die finalen Leiden der Menschheit registriert, es rattert die Mechanik der Vernichtung. Ein zorniges Buch, in dem alles Elend der Welt aus einem Punkt kuriert wird. Die Autorin heißt in Wirklichkeit übrigens anders, sie hat ein Pseudonym gewählt, „um nicht an Debatten teilnehmen zu müssen“. Sagen Sie jetzt nichts.

Musiktheorie auf Gipfel-Niveau

Schwere, kaum auszuschöpfende Kost für musikalische „Normalverbraucher“, wahrscheinlich wertvolle Anregung für Spezialisten: Ludwig Wittgenstein behandelt in den „Betrachtungen zur Musik“ (Bibliothek Suhrkamp, 254 Seiten, 25 Euro) musiktheoretische und kompositorische Fragen auf Gipfel-Niveau. Wohl denen, die da in allen Punkten folgen können! Jedenfalls sollte man sich in den Gefilden der E-Musik bestens auskennen, auch sollte das Partituren-Lesen leicht von der Hand gehen. Die aus dem Nachlass zusammengestellten und nach Themen-Alphabet geordneten Texte (Stichworte z. B.: Gesang, Grammophon, Harmonik, Instrumente, Komponisten, Melodie, Stille, Takt, Thema) sind in Satz und Typographie aufwendig aufbereitet, damit man Wittgensteins Arbeitsweise möglichst gut nachvollziehen kann. Ein Buch, das erstmals in solcher Fülle und Breite einen besonderen Werkaspekt des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) erschließt. Die Fachwelt wird’s gewiss zu schätzen wissen.

Ein „Ossi“ in Gelsenkirchen

Der mittlerweile bei manchen nicht mehr so wohlgelittene Richard David Precht (in Sachen Corona und Ukraine nicht so recht im Bilde) erzählte einst seine Kindheit bei linken Eltern unter dem Titel „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“. Beim 1968 in Schwerin geborenen Gregor Sander taucht der russische Revolutionär abermals imaginär in Nordrhein-Westfalen auf, noch dazu mitten im Revier: „Lenin auf Schalke“ (Penguin Verlag, 188 Seiten, 20 Euro) heißt Sanders Roman. Auch so ein „Gegenangriff“, nein, bedeutend einlässlicher: eine Gegen-Beobachtung. Sonst erkühnt sich meist der Westen, den Osten zu schildern und zu deuten. Hier versucht also ein „Ossi“, sich in Gelsenkirchen, also weit im deutschen Westen, zurechtzufinden, was natürlich nicht ohne Komik abgehen kann. Sogar die legendäre „Zonen-Gabi“ feiert Urständ. Gelsenkirchen liegt in allen Wohlstands-Statistiken weit hinten, auch Schalke 04 ist (zum Zeitpunkt der Romanhandlung) zweitklassig. Der Westen im Zustand des Scheiterns. Alles fast so wie im Osten. Aber auch nur fast. Und doch: Gibt es da nicht gewisse Verbindungslinien? Ein Ruhrgebietsroman aus einer etwas anderen Perspektive. Das war doch mal fällig.

So nah am gelebten Moment

Zeit für die „Wiederentdeckung“ einer modernen Klassikerin: Clarice Lispector (1920-1977) wird mit 30 gesammelten Erzählungen unter dem Titel „Ich und Jimmy“ (Manesse, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby, 416 Seiten, 24 Euro) nachdrücklich in Erinnerung gerufen. Die gebürtige Ukrainerin, Tochter russisch-jüdischer Eltern, flüchtete mit ihrer Familie vor sowjetischen Pogromen über mehrere Stationen nach Brasilien. Ihre Geschichten bewegen sich ungemein nah am gelebten oder auch versäumten Augenblick. Aspekte des Frauenlebens in allen Altersphasen bilden den Themenkreis. Phänomenal etwa, wie Clarice Lispector quälend Unausgesprochenes im Raum stehen und wirken lässt. Eine der allerstärksten Storys heißt „Kostbarkeit“ und folgt auf Schritt und Tritt den täglichen Wegen einer 15-Jährigen, die sich in jeder Sekunde mühsam behaupten muss. Es ist, als werde man beim Lesen tief ins Innere ihrer Angst geführt. Eine Art Gegenstück ist die peinliche familiäre Versammlung zum 89. Geburtstag einer Altvorderen, die all die Nachgeborenen abgründig verachtet. Andere Texte künden von unbändigem Lebensdurst. Ob er jemals gestillt werden kann?

Atemberaubende Balance

Wenn ein Buch von Yasmina Reza erscheint, ist dies eigentlich schon ein „Selbstläufer“. Auch ihr Roman „Serge“ (Hanser, aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, 208 Seiten, 22 Euro) hat es schnell zur Spitze der Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Es gibt nur ganz wenige Autorinnen, die die Erinnerungs-Reise einer jüdischen Familie nach Auschwitz in solch einer atemberaubenden, nie und nimmer abstürzenden Balance zwischen Tragik und Komik halten können. Besonders Yasmina Rezas Dialogführung ist immer wieder bewundernswert. Auch im Hinblick auf neueste Ungeheuerlichkeiten bei gewissen Weltkunstschauen erweist sich dieser Roman als höchst wirksames Antidot. Dabei übt die Autorin sogar deutliche Kritik an Gedenkritualen zum Holocaust. Aber auf das „Wie“ kommt es an. Denn wir reden über Literatur, nicht über Polit-Gehampel.




Alles bergen, was nicht vergessen werden soll: „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“

Als Marcus Antonius in Ägypten ankam, war Rom zwar das Zentrum des größten Reiches im Mittelmeerraum. Aber eigentlich war es nur ein Labyrinth aus schlammigen Gassen. In Alexandria gab es hingegen Paläste, Tempel, Denkmäler – und eine Bibliothek, in der das Wissen der Welt gespeichert und dem Vergessen entrissen wurde.

Marcus Antonius, vom Wunsch beseelt, seiner Geliebten Kleopatra, die Sinnlichkeit und Kultur auf einzigartige Weise verkörperte, ein besonderes Geschenk zu machen, entschied sich für etwas, was die ägyptische Herrscherin nicht mit gelangweilter Mine zur Kenntnis nehmen konnte: Er ließ ihr 200.000 Bände für die Bibliothek zu Füßen legen, denn: „In Alexandria waren Bücher Treibstoff für Leidenschaften.“

Auch das Internet ist eine Bibliothek

Die spanische Autorin Irene Vallejo kennt viele solcher Legenden und Anekdoten, Mythen und Märchen, die sich um Politik und Sex, Geschichte und Literatur drehen, die eine Hymne auf das Buch singen und eine „Geschichte der Welt in Büchern“ erzählen. Das Buch, das viele Formen annehmen und aus Stein und Ton, Schilf und Seide, Leder und Holz gefertigt sein kann, ist zu einem Artefakt der Verständigung und einem Hort des Wissens geworden, hat sich im Laufe der Jahrtausende bewährt, ist unser „Verbündeter in einem Krieg, der in keinem Geschichtsbuch steht“: dem „Kampf um die Bewahrung unserer wertvollsten Schöpfung: der Worte, die kaum mehr als nur ein Lufthauch sind; der Fiktionen, die wir erfinden, um dem Chaos einen Sinn zu geben und in ihm zu überleben.“

Das Gerede vom Aussterben der Bücher, die durch elektronische Geräte ersetzt werden, entlockt Irene Vallejo nur ein müdes Gähnen. In „Papyrus“, ihrer abenteuerliche Reise durch das Universum der Bücher und Bibliotheken, in der Homer und Seneca, Sappho und Aristophanes genauso ihren Platz finden wie Paul Auster und Stefan Zweig, Mary Shelley und Annie Ernaux, sagt sie mit mildem Lächeln, dass das Internet auch nichts anderes ist als eine große Bibliothek, in der sich nur zurechtfindet, wer die Pfade kennt und die Zeichen deuten kann.

Eine Erfindung, die sich nicht mehr verbessern lässt

Eine Bibliothek ist für Vallejo der „Zufluchtsort, an dem wir all das bergen, was wir zu vergessen fürchten. Die Erinnerung der Welt. Ein Damm gegen den Tsunami der Zeit.“ Sie hält es mit Umberto Eco, der meinte, das Buch sei „ein technisch vollendetes Meisterwerk (wie der Hammer, das Fahrrad oder die Schere), das sich, soviel man auch erfinden mag, nicht mehr verbessern lässt.“ Seit die alten Ägypter entdeckten, dass sich aus den am Nilufer wachsenden Schilfhalmen Material zur Beschriftung fertigen ließ und sich die Papyrus-Rolle wunderbar eignete, um mit Feder und Tinte Gedanken zu fixieren (und nicht mehr umständlich in Stein oder Ton zu ritzen), war der Siegeszug des Buches nicht mehr aufzuhalten.

Alexander, der von Makedonien auszog, die Welt zu erobern, schlief stets mit einer Ausgabe von Homers „Ilias“ und einem Dolch unterm Kissen. Sein Verlangen nach dem Abwesenden und Unerreichbaren trieb ihn von einer Schlacht und einer eroberten Region zur nächsten. An Ägyptens Küste, wo sich Sand und Meer trafen und nichts außer Ödnis war, entschied er, eine neue Stadt zu bauen und eine Bibliothek, in der das Wissen der Welt vereint werden sollte. Dass heute niemand mit Gewissheit sagen kann, wie sie gebaut war und was sie beherbergt hat, ist eine andere Geschichte. Auch davon handelt Vallejos Buch. Eine Hommage, so spannend wie ein Abenteuerroman.

Irene Vallejo: „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“. Aus dem Spanischen von Maria Meinen und Luis Ruby. Diogenes Verlag, Zürich, 746 Seiten, 28 Euro.




Ein gelungener Pass ist wie ein gelungener Satz – Was Fußball und Literatur verbindet

Was lösen Fußball und Literatur gleichermaßen aus? Vielleicht Emotionen? Das natürlich auch. In erster Linie aber haben beide das Spielerische gemeinsam, sodass eine gelungene Pass-Stafette einer dito Satzreihe ähneln kann. Das meint jedenfalls der Schriftsteller Ariel Magnus. Zu finden sind derlei Mutmaßungen in einem schmalen Buch, das auf einem Gespräch im Deutschen Fußballmuseum zu Dortmund basiert.

Im Dialog: Manuel Neukirchner, Direktor des Museums, und Ariel Magnus, argentinisch-deutscher Schriftsteller mit spezieller Fußball-Leidenschaft, der 2021 als „Metropolenschreiber Ruhr“ – leider zu Zeiten des Lockdowns – ins Revier kam und das Dortmunder Institut nicht auslassen mochte. Etwas Derartiges, so Magnus, gebe es im fußballverrückten Argentinien nicht. Im Ruhrgebiet hat er sich nicht zuletzt mit der Rivalität zwischen BVB und Schalke befasst. Überdies hält er dafür, das Revier auch mit kennzeichnenden Klischees zu beschreiben – vom Kumpel bis zur Currywurst. Klischees müssten eben sein. Sie dienen der Orientierung und halten sozusagen den Laden zusammen.

Hat Maradona auch die Sprache bereichert?

Neukirchner führt Magnus zu ausgewählten Stationen des Fußballmuseums – vom „Wunder von Bern“ (deutscher WM-Sieg 1954) bis hin zur „Hall of Fame“. Die Exponate und Installationen regen das Gespräch über Fußball und Literatur an, wobei sich Neukirchner eher zurücknimmt, indem er vorwiegend Magnus das Wort überlässt.

Was den Fußball angeht, ist Ariel Magnus von ganzem Herzen Argentinier. Das Stadion von River Plate in Buenos Aires gilt ihm als Tempel, Diego Armando Maradona (1960-2020) als wohl größter Spieler aller Zeiten, was man weit über Argentinien hinaus, wenn nicht global bejahen kann (jedoch nicht in Brasilien, wo Pelé höher rangiert). Auf dem Cover des Buches ist zu sehen, wie Maradona gleich sechs belgische Gegenspieler in Atem hält. Apropos Spielzüge und Sätze: Maradona habe nicht nur in den Stadien begeistert, sondern auch immer wieder mit genialen Äußerungen und Wortspielen die spanische Sprache bereichert. Auf diesem Felde glänze ein anderer argentinischer Weltfußballer überhaupt nicht, behauptet Magnus: „Du wirst nie einen guten Satz von Messi finden.“

Jammerschade, dass Borges den Fußball verabscheute

Der Spielzug-Satz-Vergleich gibt dem Band auch den Titel. Magnus bekennt, den Satzbau bei Thomas Mann besonders zu lieben, so etwas vermisse er im Spanischen. In den besten Phasen deutscher Mannschaften habe es entsprechend hinreißende Passfolgen gegeben. Geradezu tragisch findet es Magnus, dass Argentiniens ruhmreichster Autor, Jorge Luis Borges (1899-1986), ein ausgemachter Fußball-Verächter war. Die deutschsprachige Literatur habe immerhin Größen wie Peter Handke und Günter Grass hervorgebracht, die mit Fußball etwas anfangen konnten. Freilich blieb auch bei ihnen der Sport literarische Episode. Ansonsten fallen noch Namen wie Ror Wolf und F. C. Delius, nicht aber Nick Hornby oder Frank Goosen. Sollte sich da eine Hierarchie andeuten?

Gottfried Fuchs, Lotte Specht und all die anderen

Magnus stellt sich vor, wie der furchtbare SS-Obersturmbannführer und KZ-Organisator Adolf Eichmann, der sich bis 1960 in Argentinien versteckte, 1954 über das „Wunder von Bern“, also den Sieg des (vermeintlich) „neuen“ Deutschland, geflucht haben muss. Ariel Magnus wurde als Kind jüdischer Einwanderer, die vor dem NS-Staat geflüchtet waren, in Argentinien geboren. Er plädiert dafür, die Geschichte deutscher Fußballer jüdischer Herkunft im Museum nicht als isoliertes Kapitel darzustellen, sondern mit dem großen Ganzen zu verknüpfen. Beispielsweise die Geschichte des Gottfried Fuchs, der 1912 bei den Olympischen Spielen einen heute noch gültigen Rekord für eine deutsche Nationalelf aufstellte: Beim 16:0 gegen Russland erzielte er 10 Tore. Menschen wie er, Julius Hirsch, Lotte Specht (1930 in Frankfurt eine Pionierin des Frauenfußballs) und viele andere wurden nach 1933 aus der (Sport)-Historie entfernt. Schreckliche Kontinuität: Noch in den 1980er Jahren fehlten sie in einem neu aufgelegten Album über jene Zeiten.

Sind Kurzgeschichten besser geeignet als Romane?

Wiederholt wird im Gespräch die Frage erwogen, ob es einen großen Fußball-Roman geben könne, der wesentlich über die Anhängerschaft dieses Sports hinauswirkt. Wohl kaum, glaubt Magnus. Wahrscheinlich eigne sich eher die Form der Kurzgeschichte. Oder halt doch die Sprache der Bilder. Womit wir wieder beim Fußballmuseum wären: Zwar haben sie dort ein Original-Maradona-Trikot von der WM 1990 (gestiftet vom einstigen BVB-Stürmer Frank Mill), doch empört sich Ariel Magnus – halb scherzhaft – darüber, dass der argentinische WM-Triumph von 1986 (3:2-Finalsieg gegen Deutschland) hier praktisch nicht stattfinde. Ob das Museum jetzt wohl nach einschlägigen Ausstellungsstücken fahndet?

Ariel Magnus / Manuel Neukirchner: „Wie ein langer Satz. Ein Gespräch über Fußball und Literatur“. Wallstein Verlag. 72 Seiten. 14 Euro.

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…und schon ist (just seit 17. Juni) Manuel Neukirchners nächstes Buch auf dem Markt, es handelt vom legendären WM-Halbfinale 1982 zwischen Deutschland und Frankreich: „Die Nacht von Sevilla. Fußballdrama in fünf Akten“, 152 Seiten, Verlag Delius Klasing, 29,90 Euro.

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Tätääää!

P. S.: Dies ist übrigens ungelogen der 5000. Beitrag in den Revierpassagen.

 




Predigt und Pathos – Amanda Gormans Gedichtband „Was wir mit uns tragen“

„Dieses Buch ist eine Flaschenpost“, schreibt Amanda Gorman im Gedicht  „Schiffsmanifest“, das ihren ersten großen Lyrikband einleitet, und fährt dann fort: „Dieses Buch ist ein Brief. / Dies Buch lässt nicht locker. / Dieses Buch ist wachsam. / Dieses Buch weckt auf.“

Dieses Buch, möchte man vorsichtig einwenden gegen das Übermaß an poetisch-politischem Pathos, ist vieles, aber vor allem eines: ein großes lyrisches Missverständnis. Denn „Was wir mit uns tragen“ legt Zeugnis ab von der literarischen Überforderung einer jungen Dichterin, die mit einem einzigen Auftritt die ganze (westliche) politische Welt verzauberte und zur Ikone des Aufbruchs in eine neue Zeit wurde: Als sie am 20. Januar 2021 zur Amtseinführung von Joe Biden die traurige und zugleich stolze Geschichte ihres von Rassismus gepeinigten Landes in eine poetische Predigt formte, schwer bepackt „Hügel hinauf“ kletterte („The Hill We Climb“) und stellvertretend für alle Gemarterten und Geschundenen, Vergessenen und Verlorenen das von Trump zerrissene Land wieder vereinen und heilen wollte, waren ihre Worte „Balsam für unsere Seelen“, wie Talkshow-Diva Oprah Winfrey begeistert ausrief.

Als Stil-Ikone vereinnahmt

Amanda Gorman ist die Verkörperung des neuen schwarzen Selbstbewusstseins. Wann immer sie öffentlich auftritt: Stets geht es um Gleichheit und Gerechtigkeit und darum, Rassismus und Unterdrückung ein für alle Mal in den Orkus der Geschichte zu verbannen. Dass sie nicht nur religiöse und politische Verheißungen verkünden will, sondern auch ein literarisches Anliegen hat und moderne Lyrik schreiben möchte, geriet ein bisschen in Vergessenheit. Vielleicht auch, weil sie vom Kapitalismus sofort vereinnahmt und mit ihrem gelben Mantel und roten Haarband (die sie bei der Inauguration trug) zur Stil-Ikone avancierte und sich profitträchtig vermarkten ließ.

Natürlich fehlt das coole Outfit auch nicht auf dem Cover des Buchs, das zahllose Texte enthält, aber eigentlich kaum ein Gedicht, das mehr ist als eine religiöse Litanei und politische Variation der immer gleichen Gedanken. Immer spricht aus ihrem Mund ein nicht näher definiertes „Wir“, immer fühlt sie sich als Sprachrohr einer von Leid und Schmerz befallenen Gruppe, die die Hoffnung auf ein besseres Morgen nicht aufgeben will.

Überall findet sich das „Wir“

Welche Seite man auch aufschlägt, welches Gedicht man auch liest, überall findet man solche Zeilen: „Wir haben geweint“, „Wir verschliefen die Tage“, „Wir waren schon tausende / von Toten in diesem Jahr“, „Wir hatten Zuhause satt“, „Wir strebten nach neuen Muskeln“, „Wir mussten uns erst selbst verlieren, / um zu verstehen, wir brauchen kein Königreich“, „Was sind wir, / wenn nicht der Kurs des Lichts“, „Wir gehen in ein Morgen / & tragen nichts / als die Welt.“

Mit Verlaub: das ist nicht Poesie, sondern Kitsch. Keine von sprachlicher Schönheit und gedanklicher Kraft erzwungene Literatur, sondern banales Geschwurbel und billiges Klischee. Kein widerborstiger Einfall, keine aufreizende Fantasie, nur Predigten einer jungen Frau, die jeden aufgeschriebenen Gedanken für ein gelungenes Gedicht hält: „Ein Gedicht hat kein Ende, / nur eine Stelle, wo die Seite / offen & erwartungshungrig glüht, / wie eine erhobene Hand, / gerüstet & gelassen.“

Übersetzung mit Sternchen

Ganz gelassen bemerken wir: Auch hübsch gemalte Kurven und fein gezogene Striche oder ein Gedicht in Form eines Wals (weil es auf Melvilles „Moby Dick“ anspielt), sind noch keine Lyrik, die einen bewegt oder berührt. Dass die deutschen Übersetzerinnen oft ein Gendersternchen (das es im amerikanischen Original nicht gibt) einfügen, versteht sich von selbst.

Amanda Gorman: „Was wir mit uns tragen / Call Us What We Carry“. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft und Daniela Seel. Hoffmann & Campe, Hamburg 2022, 432 Seiten, 28 Euro.




Als die Revolte noch ganz jung war – Rückblick auf ein Gespräch mit F. C. Delius

Friedrich Christian Delius am 16. März 2012 bei einer Podiumsdiskussion auf der Leipziger Buchmesse. (Foto: © Wikimedia Commons: Amrei-Marie – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius ist am 30. Mai mit 79 Jahren in Berlin gestorben. Aus diesem Anlass noch einmal die Wiedergabe eines kurzen Gesprächs, das ich auf der Frankfurter Buchmesse 1997 mit ihm führen durfte:

Die Werkliste des Friedrich Christian Delius (54) ist lang. Das Spektrum reicht von herzhaften Attacken auf Konzerne („Unsere Siemens-Welt“, 1972) bis zum Romanzyklus über den „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977. In „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) schilderte Delius die Gefühle eines kleinen Jungen zur Zeit der Fußball-WM 1954. Sein Roman „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ (Rowohlt-Verlag) spielt 1966, im Vorfeld der 68er Studenten-Rebellion. Ein Gespräch mit F. C. Delius auf der Frankfurter Buchmesse:

Warum die Revolte der 60er Jahre als Romanthema? Aus Nostalgie?

F. C. Delius: Ich bin im Grunde kein „68er“, sondern ein „66er“. 1966 fing die enorme geistige und kulturelle Bewegung an und erweiterte sich dann aufs Gebiet der Politik. Demonstrationen hatten noch einen ganz schlichten moralischen Impuls. Und eine dieser allerersten Demonstrationen – im Februar 1966 vor dem Amerikahaus in Berlin – versuche ich zu beschreiben. 1968 gab es bereits eine Verengung. Da waren viele schon überzeugt bis zur Selbstüberschätzung und sprachen von Revolution. Der Aufbruch ist eine Sache von 1966. Das war noch frei von Dogmatismus und Ideologie, es war die Erweiterung des Horizonts. Der erste Blick nach Vietnam…

Ihre Trilogie zum „Deutschen Herbst“ und das „Weltmeister“-Buch liegen vor. Jetzt also 1966. Haben Sie eine komplette Roman-Chronik der Republik im Sinn?

Delius: Den Ehrgeiz habe ich nicht. All diese Bücher haben sich aus ganz persönlichen Fragestellungen entwickelt. Mit den Romanen zum „Deutschen Herbst“ wollte ich meine Lähmung und meine Hilflosigkeit erkunden. Das „Weltmeister“-Buch hat mit meiner Kindheit zu tun.

Sie verknüpfen in Ihrem neuen Roman die politischen Vorgänge mit den sexuellen Problemen Ihrer Hauptfigur. Dieser Martin ist überaus schüchtern und kommt nicht recht an die Mädchen heran.

Delius: Es geht mir nicht nur in politischer Hinsicht um das Öffnen des Blicks, das Öffnen der Person. Ich finde, daß immer ein Zusammenhang besteht zwischen dem Sexualleben und den politischen Gefühlen und Gedanken.

Im „Literarischen Quartett“ ist das Buch vor ein paar Tagen recht gut weggekommen. Aber die „Frankfurter Allgemeine“ hat Ihnen vorgehalten, Sie hätten „Ich war dabei“-Literatur geschrieben.

Delius: Das finde ich eher amüsant. Meine Figur ist ja gerade kein Held, sondern ein relativ schwacher Mensch mit einigen Macken. Er entspricht nicht dem Klischee, das sich von den 68ern gebildet hat. Damals waren viele arme Würstchen dabei, die trotzdem was bewegt haben und was Richtiges gedacht haben.

Für wen haben Sie das Buch in erster Linie geschrieben: Für die Apo-Generation – oder eher für jüngere Leute?

Delius: Ich denke beim Schreiben zunächst mal nicht ans Publikum. Ich muß erst gucken, daß das, was ich mir vorgenommen habe, auf die Reihe kommt. Erst dann kann es auf andere wirken. Aber gerade jüngere Leute finden das Buch glaubwürdig, weil ich nicht das Heldenepos eines fertigen Jung-Revoluzzers geschrieben habe, sondern von einem erzähle, der skeptisch beobachtet, der Angst hat und Scham kennt.

Was sagen Sie zu den landläufigen Vorwürfen, die deutsche Gegenwartsliteratur sei nicht welthaltig genug?

Delius: Das ewige Gejammer ist dumm. Die deutsche Literatur ist stärker, als man allgemein denkt.




Im Schnee auf den Spuren von Rimbaud – Jon Fosses grandioser Roman „Ich ist ein anderer“

Asle wohnt irgendwo an einem abgelegenen Fjord und blickt jeden Tag über die Nebel verhangene Landschaft. Seine Frau, Alse, ist längst gestorben. Manchmal kommt ein Nachbar vorbei und sorgt dafür, dass Asle etwas isst, den Kamin befeuert und den Hund füttert.

Ein Sessel im Wohnzimmer ist noch immer für Alse reserviert. Denn in Asles Gedanken lebt sie weiter. Er spricht unablässig mit ihr. Vielleicht ist sie es (und nicht die atemlos lauschenden Leser dieses sich in dunklen Erinnerungen verlierenden und in unzähligen Wiederholungen träge dahin fließenden Gedankenstroms), der er sein Leben beichtet.

Immer wieder erzählt er, wie seine Schwester urplötzlich verstarb, die Mutter an allem herummäkelte, der Vater dumpf vor sich hin brütete; wie er seine erste Zigarette rauchte, in einer Band Gitarre spielte, die Musik dann aufgab, um sich der Malerei zu widmen. Jetzt ist er Anfang sechzig. Er ist müde und weiß nicht, ob er noch jemals ein Bild malen kann. Er hat alles, was in ihm verborgen liegt, die Träume und Alpträume, die Verabredung mit dem Tod, den Glauben an Gott und das Gefühl, im Spiegel der Zeit nicht sich selbst, sondern einen anderen Menschen zu erblicken, auf die Leinwand gebracht:

Beredtes Schweigen, rasender Stillstand

„Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den beiden Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, sie kreuzen sich in der Mitte und ich denke, es ist so kalt in der Stube und es ist zu früh zum Aufstehen, also warum bin ich aufgestanden?“

Mit diesen Worten beginnt „Ich ist ein anderer“, der neue Roman von Jon Fosse, der im Titel die Sentenz von Rimbaud aufgreift, mit der die literarische Moderne ihr Verwirrspiel mit der erzählerischen Verunsicherung und der multiperspektivischen Sicht auf eine zerfaserte Welt begann. Fosse, ein Meister des beredten Schweigens und des rasenden Stillstands, wird oft als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Jetzt stapft er mit Rimbaud im literarischen Rucksack durch den norwegischen Schnee und die Gedanken eines Malers, der sich selbst immer fremder wird und in mehreren Versionen zu existieren scheint.

Derselbe Name, dasselbe Gesicht

Immer wieder muss Asle an den anderen Künstler denken, der denselben Namen trägt, genauso aussieht, ähnliche Bilder malt und den er gerade gestern in der Stadt getroffen hat. Da lag „der andere Asle“ betrunken auf der Straße und musste in die Notaufnahme gebracht werden. Aber nicht nur um den anderen, den alkoholsüchtigen Doppelgänger im Krankenhaus zum besuchen, fährt Asle heute wieder in die Stadt. Er will auch seinem Galeristen, mit dem er schon seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, seine neuen Bilder bringen. Doch erst einmal muss er es schaffen, aufzustehen, sich das Bild mit den beiden Strichen anzuschauen, das vielleicht sein letztes sein wird. Dann erst wird er sich ins Auto setzen und während der Fahrt sein Leben Revue passieren lassen. An seine tote Schwester, seine unfähigen Eltern, seine schmerzlich vermisste Frau denken. Immer wieder. Die Zeit steht still, verliert sich in einer Endlosschleife aus Erinnerungen.

Bisher eröffnete die dreiteilige (und in sieben Abschnitte unterteilte) Roman-Serie immer wieder mit der gleichen, nur minimal veränderten Szene. Immer wieder drohte der Maler im eigenen Gedankenfluss zu ertrinken. Nirgendwo fand er einen rettenden Punkt. Jeder Satz und jedes Buch blieb ein offenes Rätsel. Nur zum Schluss eines jeden Teils und jeden Romans fand er Halt, nahm seinem Rosenkranz und betete das Vaterunser. Was mit „Der andere Name“ begann, mit „Ich ist ein anderer“ weitergeführt wird und mit „Ein neuer Name“ beendet sein soll will, ist eine literarische Meditation, eine zeitlose Reise durch die literarische Nacht. Verwirrend. Grandios. Einzigartig.

Jon Fosse: „Ich ist ein anderer“. Heptalogie III-V, Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Verlag, Hamburg, 368 Seiten, 30 Euro.

 




Von Natur aus glücklich – „Katzen und der Sinn des Lebens“

Meiner Treu! Noch nie habe ich ein Buch gelesen, das dermaßen angefüllt ist mit Katzenlobpreisungen aller Art und Güte. Der britische Philosoph John Gray, Jahrgang 1948 und in olympischen Gefilden der Wissenschaften tätig (Oxford, Yale, London School of Economics), hat Dichtung und Geistesgeschichte auf katzenaffine Inhalte durchsucht und ist vielfach fündig geworden. Wir Menschen kommen in seinem Buch „Katzen und der Sinn des Lebens“ (Originaltitel: „Feline Philosophy“) weniger gut davon.

Einige Befunde, aus denen sich alles Weitere herleitet: Katzen sind offenbar prinzipiell zufrieden mit ihrem Leben, das Glück ist ihnen gleichsam angeboren, weil sie niemals an den Tod denken und nichts anderes sein wollen, als sie sind; weil sie schlicht und einfach ihrer Natur folgen und im Einklang mit den Instinkten leben, die ihnen nun mal gegeben sind. Nicht einmal Meister des Buddhismus oder Daoismus kommen ihnen an Gelassenheit auch nur annähernd gleich. Wer je eine Katze in ihren allfälligen Mußestunden länger beobachtet hat, wird dies kaum bezweifeln. Insofern führt das Buchcover in die Irre, auf dem eine grübelnde Katze dargestellt ist.

Gray zitiert Denker wie Pyrrhon von Elis und Michel de Montaigne (Seelenruhe als für den Menschen kaum dauerhaft erreichbares Lebensziel), er befragt Epikur und die Stoiker nach ihren Glücksvorstellungen, stellt uns die grundsätzliche Unruhe des Menschseins vor Augen, die Blaise Pascal im berühmten Diktum zusammenfasste, das Unglück der Gattung rühre daher, dass sie nicht ruhig in den Zimmern bleiben könne. Schlimmer noch: Der Mensch kann – nicht nur im Krieg – seine Menschlichkeit verlieren, die Katze bleibt jedoch immer eine Katze, mit allen Attributen.

Einbildung und Zerstreuung seien die flüchtigen Elemente, in denen die allermeisten Menschen sich bewegen. Auch die Philosophie, so Gray, weise letztlich keine Auswege aus unserer existenziellen Lage. Denken könne das Unglück nicht lindern, befand beispielsweise auch Samuel Johnson. Und weiter: Immerzu versuchten die Menschen, ihr Leben zur Geschichte zu machen, sich auf ein Ziel hin zu entwerfen. Daraus, aus der Angst vor dem Tod und aus der fortwährenden Sinnsuche entstehe ihr Leiden. Auch könne daraus Lebensfeindlichkeit nach Art eines Seneca erwachsen, der völlig ungebrochen den Selbstmord empfahl: „Es macht überhaupt nichts aus, an welcher Stelle Du aufhörst.“

Ganz anders die Katzen! Niemals käme es ihnen in den Sinn, für Ideen zu sterben. Wenn wir es nur vernehmen wollten, könnten sie uns Einblicke in ein anderes Sein geben, in ein Leben vor dem Sündenfall. Nun gut, das mag auf Tiere generell zutreffen, doch leben die wenigsten von uns mit einem Specht, Luchs oder Ameisenbär zusammen, viele hingegen mit Katzen, jenen Wesen also, die sich – im Gegensatz zu Hunden – niemandem unterordnen. Ihre Ethik (wenn man es denn so nennen will) sei – so paradox es klingen mag – eine des „selbstlosen Egoismus“. Sie haben kein „ungelebtes Leben“, nach dem sie sich in Sehnsucht verzehren könnten, auch werde ihre Seele nicht „vom Tod berührt“, den sie bejahend erwarteten, wenn sie sein Kommen fühlen. Woher John Gray das nur alles so genau wissen will? Sind es nicht auch wieder Zuschreibungen aus menschlicher Perspektive?

Auch grausame Details erspart uns der Autor nicht, so etwa die fürchterlichen Rituale von Katzenhassern früherer Jahrhunderte, die in Ausläufern beispielsweise bis zu René Descartes (Zitier-Hit: „Ich denke, also bin ich“) reichen, der fiese Experimente mit Katzen anstellte, um zu beweisen, dass sie keine richtigen Individuen seien. Weit gefehlt, ruft Gray aus, sie seien wahrscheinlich individueller als wir.

Der weit überwiegende Teil des Buches ist denn auch der Katzenverehrung und Katzenbewunderung gewidmet. Den alten Ägyptern galten diese Tiere als gottähnlich, ihnen wurden ganze Tempel gewidmet. Von Geschichte und Philosophie geht Gray sodann zur Literatur über und führt Texte vor allem von Autorinnen (Colette, Patricia Highsmith, Mary Gaitskill und Doris Lessing) auf, in denen Katzen den Menschen eindeutig überlegen sind. Den Katzen sei – bei allem Talent zur Ruhe – höchste Wachheit eigen, wenn es darauf ankommt, ihre Erfahrung sei intensiver als unsere, just weil sie ganz und gar sie selbst sind. Dagegen wir: so fragmentiert…

Wenn man das Buch nach der Lektüre sanft zuklappt, wird man versucht sein, sich vor der schnurrenden Spezies zu verneigen. Katzen machen uns vor, wie zu leben wäre. Doch wir können es nicht begreifen. Aber eins können wir auf jeden Fall tun: Unser Kater Freddy kriegt jetzt erst einmal eine Extraportion Futter!

John Gray: „Katzen und der Sinn des Lebens. Philosophische Betrachtungen“. Aus dem Englischen von Jens Hagestedt. Aufbau Verlag, 160 Seiten, 20 Euro.




„Wir haben kein Recht auf Ruhe“ – Peter Handke und seine traurigen Engel erzählen weiter

„Genug jetzt ins Leere geschaut“, murmelt der eine. Doch von Leere kann keine Rede mehr sein. Alles hat sich inzwischen bevölkert, die Unsichtbaren wurden sichtbar, die Engel verwandelten sich in Erdlinge.

Doch die Träumer, die einst durch den „Himmel über Berlin“ schwebten und die Wünsche und Hoffnungen der Menschen lenkten, wollen weiter spielen, sich immer wieder aufs Neue eine Welt aus Sprache bauen und eine Wirklichkeit aus Fantasie. „Wahr gesagt, alter Freund: Zwei besondere Narren sind wir, ein jeder auf seine Weise.“ Also beschließen die beiden untoten Mimen, die noch immer die Gedankenwelt ihres Schöpfers bewohnen: „Auf, spielen wir weiter die Narren“, erzählen wir uns und allen, die zuhören, was wir erlebt und erlitten, gesehen und erfunden haben.

Peter Handke schrieb einst das Drehbuch für „Der Himmel über Berlin“: ein Kult-Film, mit dem die Welt-Karriere von Wim Wenders Fahrt aufnahm. Bruno Ganz und Otto Sander taumelten als traurige Engel durch eine damals noch von der Mauer getrennte Stadt, spendeten Trost, verschenkten Liebe, stiegen hinab in die Abgründe des Vergessens.

In diesem literarischen Kosmos muss man sich auskennen

Jetzt sind sie wieder da. Literaturnobelpreisträger Peter Handke hat ihnen sein „Zwiegespräch“ gewidmet und sie als Mit-Erzähler ins Geschehen verwickelt. Aber was geschieht eigentlich? Wovon berichten die beiden reanimieren Engel? Schwer zu sagen, kaum zu entschlüsseln. Jedenfalls nicht für Leser, die sich nicht auskennen im weit verzweigten Handke-Universum. All die Erinnerungen und Bilder, die kurz aufscheinen und wieder verglühen, all die Reminiszenzen an ein vernebeltes Früher, all das Rumoren über literarische Kunstgriffe und filmische Tricks, schauspielerische Finessen und erzählerische Finten: nur zu verstehen, wenn man mit Handke das „Wunschlose Unglück“ ertragen, in der „Niemandsbucht“ geschlafen, das „Gewicht der Welt“ gestemmt, „Die „morawische Nacht“ erkundet, das Summen der „Hornissen“ vernommen, den „kurzen Brief zum langen Abschied“ studiert, die „Obstdiebin“ auf ihrem Weg ins Landesinnere begleitet hat.

Des Dichters Wanderung durchs eigene Gesamtwerk

Handke erinnert sich an ein Theaterbesuch in der Kindheit, nicht an das Stück, sondern nur an Dekor, Kulisse und die „Stunde der wahren Empfindung“, die das Schauspiel in ihm ausgelöst hat. Jetzt wandert er zusammen mit seinen beiden alten Weggefährten noch einmal durch sein Gesamtwerk, führt ein „Zwiegespräch“ mit all den Menschen, die er in Literatur verwandelt hat. Denkt an die Mutter und den Großvater, an die Kindheit als Kärntner Slowene, fantasiert noch einmal „Die winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“.

Die schnatternden, spielenden Narren sind immer dabei, reden dazwischen, verschieben die Kulissen, halten alles für „Blödsinn“ und „Hirngespinste“. Hört man da etwa so etwas wie Selbstkritik heraus? Man weiß es nicht. Eigentlich weiß man gar nichts. Nur dass Handke und seine zwei zum Leben wieder erweckten Spießgesellen einfach nicht mit dem Spiel der Fragen und des Zweifelns aufhören wollen: „Wir haben kein Recht auf Ruhe. Unsereiner hat auf Ruhe kein Recht.“

Peter Handke: „Zwiegespräch“. Suhrkamp, Berlin 2022, 68 S., 18 Euro.




Wie man dem Ruhrgebiet (nicht) entkommt – Hilmar Klutes Roman „Die schweigsamen Affen der Dinge“

Hilmar Klute hat’s mit Europas Top-Metropolen. Sein vorheriger Roman „Oberkampf“ spielte überwiegend in Paris, der neue heißt „Die schweigsamen Affen der Dinge“ und fängt ebenso weltläufig, wenn auch etwas überdrüssig in Rom an. Zwischendurch schweift die Erinnerung nach München und findet sich schließlich wieder in der jetzigen Wahlheimat Berlin ein. Eine Korsika-Phantasie gibt’s hinzu.

Doch o Schreck! Der Autor und sein Roman-Protagonist mit dem hübschhässlichen Namen Henning Amelott stammen aus dem – horribile dictu – Ruhrgebiet! Es scheint ganz so, als müsse man sich daran lebenslang oder gar „lebenslänglich“ abarbeiten. Schlimmer Befund, bevor es auf der Schiene endlich heim nach Berlin geht: „Auf dem Bahnsteig wartete Henning eine halbe Stunde auf den Zug nach Dortmund, wo er umstieg und sich langsam herausschälte aus der Provinz der Sterbenden und der Toten.“ Da möchte man als Revier-Bewohner am liebsten mit Frank Goosens Klassiker der „Dagebliebenen“ (eine Horror-Vorstellung für Henning) antworten: „Woanders is‘ auch scheiße.“ Ach so, übrigens: Die Hörbuchfassung des Klute-Romans wird just von Goosen gelesen. Sinniger Gag.

Eine heillose Vater-Sohn-Beziehung

Klute, brotberuflich Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, wurde 1967 in Bochum geboren, seiner Hauptfigur Henning, einem bundesweit gefragten Feuilleton-Journalisten, schreibt er die Herkunft Recklinghausen zu. Beide haben das (hier zumeist als piefig bis prollig etikettierte) Revier längst weit hinter sich gelassen, doch gelegentlich plagen Henning noch gewisse Phantomschmerzen. So ganz lässt ihn die Gegend nicht los; erst recht sieht er sich wieder darauf verwiesen, als sein Vater Walter dort elendiglich an Krebs stirbt. Der Sohn empfindet keine rechte Trauer, sondern eher Mattigkeit. Dennoch beginnt nun die schmerzliche Erinnerungsarbeit.

Es war eine heillose familiäre Beziehung, die mit dem Tod des Vaters ihr äußerliches Ende gefunden hat, doch innerlich weiter und weiter wirkt. Die Kindheit mit diesem Vater war sterbenslangweilig und gefühlsfrei, die Ehe mündete in Dauerkrach und Scheidung. Der Vater war auf rein gar nichts aus, schon gar nicht auf Höheres. Dumpfe Kneipenhockerei und dito Fußball-Wochenenden waren seine einzigen Freizeitbeschäftigungen. Das alles soll’s geben. Hier kommt erschwerend hinzu: Der Sohn hat sich nie empört oder revoltiert, sondern sich immer nur mit dem Altvorderen abgequält und für ihn geschämt.

Auf den Spuren des Lyrikers Oskar Loerke

Heute aber kennt Henning, der sich aus der Provinz zunächst eifrigst „herausgelesen“ und sie dann tatsächlich verlassen hat, Leute wie jenen dandyhaften Bonvivant Ulrich, der als begüterter Erbe nicht arbeiten muss und rundum auf perfekten Stil Wert legt. Gewiss, Henning fremdelt zuweilen immer noch mit jenen, die schon als Kinder in kultivierte Verhältnisse hineingewachsen sind, doch ist er ihnen geistig zumindest ebenbürtig.

Weiterer Handlungsstrang ist der Schreibauftrag eines „Ideenmagazins“. Als Thema sucht sich Henning den nahezu vergessenen Lyriker Oskar Loerke aus, der sich schon bei ersten Textrecherchen als wortmächtiger Schriftsteller in düsteren NS-Zeiten erweist. Die Sache mit seinem Vater macht Henning allerdings so zu schaffen, dass er mit dem Loerke-Stoff partout nicht vorankommt und die Lieferung wiederholt angemahnt wird. Fruchtlos bleiben auch Besuche in Loerkes früherem Haus und an seinem Grab. Immerhin stammt der kryptische Buchtitel aus einem Loerke-Gedicht namens „Gebirg“:

„Die Schatten werden länger,
Die schweigsamen Affen der Dinge.“

Noch einmal nach Korsika

Und dann ist da noch Jochen, der sympathische Freund des Vaters seit Jugendtagen. Ihm will Henning ablauschen, was er über seinen Vater zu dessen Lebzeiten womöglich nie erfahren hat. Ansatzpunkt: 1959 waren Jochen und Walter als Jungspunde mit Vespa-Rollern auf Korsika unterwegs, nichts als blühenden Unsinn und Mädchen im Kopf. Just diese ungeahnt jugendfrische Reise, so Hennings seltsamer Einfall, möchte er mit Jochen gleichsam nachstellen – er selbst vielleicht gar in der Rolle seines Vaters. Die neuerliche Tour durchs südliche Leben wird uns in vielen Einzelheiten und Erinnerungs-Bruchstücken mitsamt allerlei Abschweifungen geschildert. Doch irgend etwas scheint da gar zu passgenau, um wahr zu sein. Mehr wird hier nicht verraten.

Und dann? In Berlin? Sieht er Annette wieder, seine langjährige Gefährtin. Doch warum empfängt sie ihn so verhalten? Was ist da geschehen? Auch dies möge der Romanlektüre vorbehalten bleiben.

Wieviel Wirklichkeit schafft das Erzählen?

An etlichen Hinterhalten des Buches lauert die Frage: Wird des Vaters Leben durch Erzähltwerden erst wirklich oder gar wahrhaftig – oder wird es im Gegenteil zunehmend unwirklich? Dabei geht es letztlich auch mal wieder darum, ob die Romanform überhaupt zur Lebensbeschreibung taugt. Die alte Wahrheit lautet wohl weiterhin so: Sie scheitert und triumphiert immer wieder. Bis ans Ende der Tage.

Mal abgesehen vom gelinden Ärger über manche Ruhrgebiets-Passagen (mein Problem, aber irgendwie auch das des Autors), habe ich diesen durchaus geschickt gebauten Roman doch mit einiger Spannung gelesen. Vielleicht auch, weil sich doch die eine oder andere Erfahrung ähnelt. Und weil ich schlicht und einfach wissen wollte, was diesem Henning widerfährt. Warum auch sonst sollte man Romanfiguren Stunde um Stunde auf ihren Wegen verfolgen?

Hilmar Klute: „Die schweigsamen Affen der Dinge“. Roman. Galiani Berlin. 282 Seiten, 22 Euro.

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P. S.: Schönen Gruß ans Berliner Lektorat – mit bescheidenem Hinweis für kommende Auflagen: Eine Berliner „Leibnitzstraße“ gibt es nicht, sondern „nur“ eine Leibnizstraße. Sie ist n i c h t nach dem Kekshersteller benannt.

 

 




Verheißung und Grenzen der Freiheit – Andreas Stichmanns Roman „Eine Liebe in Pjöngjang“

Ist es nicht reizvoll, einen Roman zu lesen, der in Nordkorea spielt – obwohl ihn ein gebürtiger Bonner und Wahlberliner verfasst hat? Immerhin ist der 1983 geborene Andreas Stichmann 2017 im maximal abgeschotteten Lande gewesen und legt nun „Eine Liebe in Pjöngjang“ vor.

Zwei Frauen stehen im Zentrum des seltsamen Geschehens. Die eine heißt Claudia Aebischer, ist 50 Jahre alt und in der früheren DDR aufgewachsen, also mit Freiheitsbeschränkungen vertraut. Jetzt ist sie Präsidentin des Verbandes europäischer Bibliotheken. Klingt hochveredelt. Doch sie will den Posten aufgeben, um künftig selbst Literatur zu verfassen. Oder hat die Intellektuelle nicht das Zeug dazu?

Starker Hang zur deutschen Romantik

So will es die Fiktion: Claudia schickt sich nach mancherlei Nordkorea-Terminen an, in ihrer letzten Amtshandlung eine deutsche Bibliothek in Pjöngjang aufzubauen und zu eröffnen, selbstverständlich rundum betreut von eifrigem Überwachungspersonal; darunter eine noch sehr junge Frau namens Sunmi, die ganz anders zu sein scheint als ihre Landsleute. Hochbegabt und wissbegierig, als Germanistin mit Stipendien versehen und über deutsche Romantik promoviert. Novalis, Tieck, das ganze Programm. Als Fremdenführerin spricht sie ein Deutsch mit dem Einschlag von damals – mitten im heutigen Nordkorea. Die belesene Claudia findet das bezaubernd. Der ganze deutsche Journalismus-Tross, der sie anfangs begleitet, mutet demgegenüber furchtbar oberflächlich an.

Freilich hat das nordkoreanische Regime diese Sunmi, die mit abenteuerlicher Vorgeschichte als Waisenkind großgeworden ist, „fürsorglich“ einem weitaus älteren Ehemann, dem einflussreichen General Wi überantwortet. Widerspruch zwecklos, ja nicht einmal denkbar. Die beiden haben nichts, aber auch gar nichts miteinander gemein. Eine große emotionale Leere also. Man ahnt, was daraus entstehen kann. Sogar in Pjöngjang.

Die Möglichkeit einer Flucht

Ringsum geht es ziemlich gespenstisch zu. Immerhin dürfen die Westler gern dem Ginseng-Schnaps zusprechen. Zwischen bizarren Veranstaltungen, bei denen die beispiellosen Errungenschaften der Kim-Diktatur nach genauestens abgezirkelten Regeln zelebriert und gepriesen werden, wächst die gegenseitige Zuneigung der beiden Frauen, in geistiger und erotischer Hinsicht. Zusehends vertrauen sie sich einander an – bis Sunmi gar die Möglichkeit einer Flucht andeutet. Alsbald erträumt sich Claudia ein gemeinsames Leben in Berlin-Charlottenburg. Wie sich das anhört…

Doch überall tut sich verbal und gestisch vermintes Gelände auf. Selbst die Asien-erfahrene Claudia verfällt in ihrer Verliebtheit auf törichte Gedanken und droht gegenüber den empfindlichen Gastgebern unverzeihliche Fehler zu begehen, die Sunmis Flucht gefährden könnten. Auch mag sich Sunmi der westlichen Denk- und Lebensart, so wie sie sie wahrnimmt, letztlich doch nicht so recht anbequemen; allen Verheißungen einer unbekannten Freiheit zum Trotz. Ihr deutsches Lieblingswort lautet übrigens „emsig“ – und das passende Pflichtbewusstsein ist ihr zutiefst eigen. Die Westler sorgen sich hingegen stets nur um ihr „wertes Befinden“, wie es Sunmi ausdrückt.

Zwischen Saunadampf und Schnapsdunst

Derweil befindet sich offenbar vieles im unentschiedenen Schwebezustand. Das rigide Nordkorea, mit dem verglichen selbst die chinesischen Grenzlande bunt und lebendig erscheinen, ist wie von haarfeinen Rissen durchzogen. Selbst hier wirken offenbar untergründige Gegenkräfte, die eines Tages… In den besten Passagen des Romans glaubt man zu spüren, was es mit Nordkorea jetzt und in der Zukunft auf sich haben könnte.

Abgesehen von der Rollenprosa, mit der er Sunmis Romantik-Affinität vergegenwärtigt, pflegt Andreas Stichmann selbst einen eigenwilligen Duktus – mit knappen Sätzen wie „Kaum Betrieb herrschte.“ Oder: „Sie sah sich gesehen.“ Deutlich schmerzhafter schon die „denglische“ Stilblüte auf Seite 111: „Eine scharfe Egalness lag darin.“ So etwas gehört doch redigiert, oder etwa nicht?

Stellenweise hat der Autor seine liebe Not, wenn er drohenden Kitsch umschiffen will. Da wabert auch schon mal der Saunadampf oder eben der Schnapsdunst, damit die Dinge gnädig umhüllt werden. Vor allem aber lebt dieser Roman tatsächlich sehr vom Schauplatz. Eine ähnliche Handlung würde wohl an jedem anderen Ort der Welt weitaus weniger verfangen und wohl auch nirgendwo sonst auf diese Weise möglich sein. Hiermit dürfte sich Nordkorea als Pflaster für deutschsprachige Romane erst einmal erledigt haben. Wer widerlegt diese Prognose?

Andreas Stichmann: „Eine Liebe in Pjöngjang“. Roman. Rowohlt Verlag. 156 Seiten, 20 €.

 




Psychische Krankheit und Kreativität: Westfälisches Projekt nimmt „Outsider“-Literatur in den Blick

Eher eine Verlegenheitslösung, um das Thema zu bebildern: Szene aus der zum Projekt gehörenden Inszenierung von „Outsider“-Texten durch das theater en face unter dem Titel „Im Strom“. (Foto: Xenia Multmeier/Franziska v. Schmeling)

Zusammenhänge zwischen Künsten und psychischen Erkrankungen, krasser gesagt zwischen Genie und Wahnsinn, sind ein weites Feld. Ist nicht eine gewisse „Verrückt-heit“ gar Antriebskraft jeglicher Kreativität, weil sie ungeahnt neue Perspektiven eröffnen kann? Anders gewendet: Können Künste heilsam oder lindernd wirken? Oder geht dabei schöpferische Energie verloren? Uralte Fragen, die gelegentlich neu gestellt werden müssen. Um all das und noch mehr kreist jetzt ein westfälisches Kulturprojekt, das sich mit etlichen Veranstaltungen bis zum Ende des nächsten Jahres erstreckt.

Logo des „Outsider“-Projekts. (LWL)

Oft gezeigt und teilweise hoch gehandelt wurden Bilder von psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen. Nun geht es beim vielteiligen Reigen mit dem etwas sperrigen Titel „outside | inside | outside“ um literarische Äußerungen, die sich weniger offensichtlich, sondern gleichsam diskreter und intimer zeigen. Gleichwohl gehen solche Schöpfungen beim Lesen oftmals „unter die Haut“.

Ein Akzent liegt vor allem auf westfälischen Autorinnen und Autoren, allen voran Annette von Droste-Hülshoff, die keineswegs den gefälligen literarischen Mittelweg beschritten hat. Zeitlich reicht der Rahmen bis zur aktuellen Poetry-Slam-Szene, die zumal im Paderborner Lektora-Verlag eine Heimstatt für gedruckte Texte gefunden hat.

Inklusion als Leitgedanke

Federführend beim gesamten Projekt ist die Literaturkommission des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) unter Leitung von Prof. Walter Gödden. Ein Leitgedanke ist die Inklusion, sprich: Was psychisch erkrankte Menschen schreiben, soll eben nicht als womöglich bizarres Außenseiter-Phänomen behandelt werden, sondern man will diese Literatur möglichst ans Licht und in die Gesellschaft holen – in aller Behutsamkeit, denn die Erfahrung zeigt, dass zwar manche Autorinnen und Autoren sich bereitwillig öffnen, andere sich jedoch behelligt fühlen, wenn eine größere, als zudringlich empfundene Öffentlichkeit ins Spiel kommt.

Die bisherigen Kooperations-Partnerschaften des Projekts konzentrieren sich vor allem am zentralen Standort des LWL, also in Münster. Dabei sind u. a. das Kunsthaus Kannen, die Akademie Franz Hitze Haus, die black box im kuba, das Cinema – und der historische Erbdrostenhof, Schauplatz der Auftakt-Veranstaltung, einem einleitenden Symposium am 25. und 26. März (siehe Programm-Link am Schluss dieses Beitrags).

Beispielhafte Reihe an der LWL-Klinik in Dortmund

Das Ganze versteht sich als „work in progress“, es können jederzeit noch neue Punkte hinzukommen. Neben einschlägigen Lesungen und Fachgesprächen soll es auch Theater- und Performance-Darbietungen sowie Filmvorführungen geben. Im Laufe der Zeit dürften die Veranstaltungen ganz Westfalen erfassen. Tatsächlich wäre zu hoffen, dass man sich noch etwas entschiedener über Münster hinaus bewegt. Immerhin sind schon jetzt u. a. das Netzwerk Literaturland Westfalen (koordiniert vom Westfälischen Literaturbüro in Unna), das Literaturbüro OWL (Detmold) oder auch das Kulturgut Haus Nottbeck (Oelde) mit an Bord. Im Projekt-Flyer werden weitere Kulturträger „herzlich zur Teilnahme eingeladen“. Vielleicht sind im Vorfeld ja noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden.

Bei der Online-Pressekonferenz zum baldigen Projekt-Start meldete sich auch der Psychiater Hans Joachim Thimm zu Wort, der an der LWL-Klinik in Dortmund-Aplerbeck arbeitet und seit Jahren Lesungen mit psychisch Kranken oder zum Themenkreis veranstaltet. Peter Wawerzinek („Rabenliebe“, „Schluckspecht“) war schon da, ebenso Joe Bausch (Gerichtsmediziner in Kölner „Tatort“ und zeitweise wirklicher Gefängnisarzt) oder der Fußballer Uli Borowka, der in dem Buch „Volle Pulle“ seine Alkoholabhängigkeit thematisierte. Erstaunlich der wachsende Zuspruch. Thimm: „Anfangs kamen manchmal nur zwölf oder dreizehn Zuhörerinnen und Zuhörer, inzwischen sind es bis zu 450.“ Man könnte darin einen Vorläufer zum westfälischen Projekt sehen. Eine Zusammenarbeit würde sich jedenfalls anbieten.

Überschneidungen mit der „Hochliteratur“

Überhaupt scheint Dortmund ein weiteres Zentrum des Geschehens zu sein. Das hier ansässige Fritz-Hüser-Institut gehört zu den Projektpartnern. Außerdem fallen im Zusammenhang Autorennamen aus der Stadt, nämlich der des in Hamm geborenen Tobi Katze („Morgen ist leider auch noch ein Tag: irgendwie hatte ich von meiner Depression mehr erwartet“) und der des prominenten Comedians Torsten Sträter, der sich auf seiner Homepage als Autor, Vorleser und Poetry Slammer bezeichnet und seine depressive Erkrankung in den 1990er Jahren öffentlich gemacht hat.

Umschlag der Textsammlung „Traumata“ (© Aisthesis Verlag)

Um den Themenhorizont zu erweitern: Just Walter Gödden von der erwähnten LWL-Literaturkommission hat die Sammlung „Traumata. Psychische Krisen in Texten von Annette von Droste-Hülshoff bis Jan Christoph Zymny“ (Aisthesis Verlag, 24 Euro) herausgegeben, in der rund 40 einschlägige Titel „quer durch die literarischen Gattungen“ vorgestellt werden.

Tatsächlich gibt es immer wieder aufschlussreiche Überschneidungen zwischen arrivierter, kanonischer Literatur und den Werken von „Outsidern“, zu denen hier auch Schreibversuche von Laien oder z. B. von Gefängnisinsassen gezählt werden. Man denke auf dem Gebiet der Hoch-, ja sozusagen Höchstliteratur nur an Genies wie den für Jahrzehnte „umnachteten“ (oder schlichtweg unverstandenen?) Friedrich Hölderlin oder an Robert Walser, der sich selbst in eine psychiatrische Klinik eingewiesen hat. Ein Quantum an geistig-seelischem Außenseitertum gehört wohl zu den meisten großen Oeuvres. Insofern handelt das Projekt nicht von einem randständigen Thema.

„outside | inside | outside – Literatur und Psychiatrie“. Projekt bis Herbst 2023, unterstützt von der Kulturstiftung des LWL und dem Land NRW.

Programm-Übersicht und Buchungsmöglichkeiten:

http://www.literatur-und-psychiatrie.lwl.org

 




„Das andere Geschlecht“ – Bundeskunsthalle erinnert an Simone de Beauvoirs Klassiker der Frauenbewegung

Simone de Beauvoir an ihrem Schreibtisch in Paris im Jahr 1945. (Foto: akg images, Denise Bellon / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Ein rundes Datum gibt es nicht, es ist auf jeden Fall schon lange her. 1949, vor 73 Jahren mithin, erschien Simone de Beauvoirs bahnbrechendes Werk „Le deuxième sexe“, dessen Titel im Deutschen zwei Jahre später nicht ganz exakt mit „Das andere Geschlecht“ übersetzt wurde. Genau genommen eben das zweite, nicht das andere.

Die Ordnungszahl Zwei verweist schon auf die Rangfolge, die „den Mann“ seit ewigen Zeiten auf Platz eins stellt, was Beauvoirs Buch „als eine sozialwissenschaftliche und existentialistische Studie“, so die Pressemitteilung, ausgiebig referiert. Jetzt widmet die Bundeskunsthalle dem Buch und seiner Autorin eine durchaus ansprechende Ausstellung, die Katharina Chrubasik kuratiert hat.

Das intellektuelle Paris

Wie die meisten Literaturausstellungen mangelt es auch dieser naturgemäß an Exponaten. Herausragend ist deshalb ein wenige Zentimeter hoher Giacometti-Kopf, den der berühmte Skulpteur von Simone de Beauvoir fertigte. Erläuterungen und Zitate, gefällig auf die Wände appliziert, prägen den Gesamteindruck stark. Viele Fotos im zeittypischen Schwarzweiß lassen jedoch auch ein Gefühl entstehen für das wilde, aufbegehrende, intellektuelle Paris der frühen 50er Jahre, wo die Szene Jazz hörte und der Existentialismus zur dominierenden (westlichen) Nachkriegsphilosophie wurde. Eine hübsch nachempfundene Café-Bestuhlung in typischem Thonet lädt zur Rast und zum Blättern in verschiedenen Ausgaben des Buches, Übersetzungen zumal, ein.

Die erste Ausgabe von „Le deuxième sexe“ von 1949 in zwei Bänden. (Foto: Laurin Schmid, 2022 / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Kämpferische Frauen

Trotz moderner Medien wie Video- und Hörstationen ist diese Schau natürlich eine nostalgische Veranstaltung; auch die Schwarzweiß-Fotos kämpferischer Frauen, die in der Bundesrepublik gegen den Paragraphen 218 auf die Straße gingen, sind schon 50 Jahre alt. Das wird erst anders im letzten Raum. Hier laufen Filme mit den Interviews, die Alice Schwarzer seit 1972 regelmäßig mit Simone de Beauvoir führte und die auch heute noch die Wucht spüren lassen, mit der politische Frauenthemen damals ins Öffentliche drängten. Das formale Setting mit Interviewerin und Interviewter kann und will nicht verbergen, daß die beiden Frauen gut und vertrauensvoll befreundet waren. Auch zu Beauvoirs Lebenspartner Jean-Paul Sartre bestand eine enge Freundschaft, an die sich Alice Schwarzer im Pressetermin lebhaft und streckenweise gar humorvoll erinnerte. Die Diskussionskultur des berühmten Intellektuellenpaars sei hoch gewesen, vorbildlich und entwaffnend, Widersprüche hätten sie als Material für produktive Gespräche sehr geschätzt.

Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir bei einem Cuba-Besuch 1960. Mit im Bild: Gastgeber Fidel Castro (stehend). (Foto: ullstein Bild – Pictures from History – Ionary Zeal / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Auf dem Index

„Das andere Geschlecht“ kam bei Gallimard heraus und war ein großer literarischer Erfolg, wurde in der ersten Woche 22.000 Mal verkauft. Die erste deutsche Übersetzung folgte 1951 mit dem irgendwie doch zeittypischen Untertitel „Sitte und Sexus der Frau“. Weitere Ausgaben, so 1953 die englische, waren mitunter stark und auch sinnentstellend gekürzt. Der Vatikan, die Sowjetunion und das zu jener Zeit faschistisch regierte Spanien setzten das Buch auf den Index. Doch seine Wirkmächtigkeit bleibt ungebrochen. Seit den 1990er Jahren, wiederum sei der Pressetext zitiert, „richtet eine neue Generation von Wissenschaftlerinnen einen frischen Blick auf das Buch“ mit der Folge, daß etliche Neuübersetzungen der vollständigen Originalfassung entstanden.

Die Macht der Influencerinnen

Und heute? Den Paragraphen 218, stellt Alice Schwarzer nüchtern fest, gibt es noch immer. Und ungewollt schwangere Frauen finden immer schwerer Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Mit dem Thema „Influencerinnen“ hat sie sich beschäftigt, ist erschrocken über den Gruppendruck, der von ihnen und ihren vorgeblichen Schönheitsidealen auf Mädchen und Frauen ausgeht. Von Equal Pay wäre vielleicht noch zu reden, von der Gläsernen Decke, die weibliche Karrierechancen deckelt, und so fort. An Problemen ist mithin kein Mangel, auch 73 Jahre nach dem Erscheinen von Simone de Beauvoirs „Klassiker der Frauenbewegung“ nicht.

  • Simone de Beauvoir und „Das andere Geschlecht“
  • Bundeskunsthalle, Bonn, Helmut-Kohl-Allee 4
  • Bis 16. Oktober 2022
  • Geöffnet Di 10-19 Uhr, Mi 10-21 Uhr, Do-So und feiertags- 10-19 Uhr
  • Eintritt 5 EUR
  • www.bundeskunsthalle.de

 




Wahrhaftige Nahansichten aus Europa – Historische Fotografien des Dortmunders Erich Grisar auf Zeche Zollern

Erich Grisar: Schuhputzer und Kunde in Barcelona. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

„Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa“ – schon beim bloßen Titel dieser Ausstellung klingelt es neuerdings wieder vernehmlich mahnend und vielleicht bedrohlich in den Ohren. In diesen Tagen hat „Europa“ wieder einen anderen Klang als noch vor kurzer Zeit.

Das LWL-Industriemuseum Zeche Zollern führt uns zurück in die Jahre 1928 bis 1933. Damals gab es große Hoffnungen auf einen engeren Zusammenschluss der Völker. Bald darauf wurden sie bitterlich zunichte. In jenen Jahren hat sich der Dortmunder Schriftsteller, Journalist und Fotograf Erich Grisar auf Reisen durch den Kontinent begeben und vor allem das zumeist entbehrungsreiche Alltagsleben der Menschen festgehalten – auf oft ganz erstaunlichen Fotografien, die so gar nicht „gestellt“ und gewollt, sondern (im Gegensatz zum damals weithin Üblichen) wunderbar spontan und wahrhaftig wirken.

Man merkt es den Bildern an, dass Grisar die verschiedensten Leute für sich und sein fotografisches Vorhaben einzunehmen wusste – von Kriegsversehrten in Flandern über Hafenarbeiter in Marseille bis hin zu Marktfrauen in Polen. Es scheint so, als hätte er sich ihnen allen in solch freundlicher Art genähert, dass sie sich und ihre oft ärmlichen Lebensumstände zeigten, wie sie eben wirklich waren. Daraus erwachsen zuweilen erschütternde, aber auch bezaubernde Momente.

Erich Grisar: Frauen und Kinder suchen verzweifelt nach brauchbarer Kohle – auf einer Schlackehalde in Mons/Charleroi (Belgien). (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

Seltsam, dass Erich Grisar auf sein fotografisches Können wohl selbst keine allzu großen Stücke gehalten hat. Er legte es vielmehr darauf an, sich als Schriftsteller und schreibender Journalist zu beweisen, u. a. war er für den legendären Dortmunder Generalanzeiger tätig, die Vorläufer-Zeitung der Westfälischen Rundschau und seinerzeit das auflagenstärkste deutsche Blatt außerhalb Berlins. Die Handhabung der Kamera war für den Autodidakten demgegenüber eher eine schöne Nebensache. Doch heute wird Grisar als Fotograf (mindestens) ebenso geschätzt wie als Autor.

Erich Grisar: Junge Frau mit Putzeimer in Amsterdam. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

2016/17 waren Grisars Bildern aus Dortmund und dem Ruhrgebiet vielbeachtete Ausstellungen in Essen (RuhrMuseum auf Zeche Zollverein) und just Dortmund (Zeche Zollern) gewidmet. Das hiesige Stadtarchiv verwahrt, wie die Kuratorin Andrea Zupancic berichtet, rund 4200 Grisar-Fotografien. Ein weiterer, noch nicht öffentlich gezeigter Schwerpunkt bezieht sich auf diverse Deutschland-Reisen.

Doch jetzt erst einmal Europa! 255 Aufnahmen sind zu sehen, selbstverständlich schwarzweiß und noch selbstverständlicher analog (vielleicht muss man es aber für Digital Natives allmählich betonen). Erich Grisar hat auch späterhin als touristisch verpönte Motive und Folklore nicht verschmäht, die damals freilich noch längst nicht so „verbraucht“ waren. Beispiele: Käsemarkt in Alkmaar, Markusplatz in Venedig, Stierkampf in Spanien. Doch selbst das sind Ansichten, wie sie sonst nur selten gelingen. Überdies haben sie den nachträglichen Charme, dass sie einen anderen historischen Zustand bekannter Plätze und Zonen erfassen. Es ist unverkennbar: Paris, Barcelona, London oder auch Warschau hatten damals ungleich mehr spezifisches, noch nicht global vereinnahmtes Flair.

Erich Grisar: Straßenszene in Paris. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

Vor allem aber hat der bekennende Sozialist und Pazifist Grisar sich dorthin aufgemacht, wo die Menschen lebten und litten, wo sie ihre täglichen Überlebenskämpfe führten, aber auch ihren kleinen Vergnügungen nachgingen. Hart kam ihn Flandern an, wo Grisar selbst furchtbare Schlachten des Ersten Weltkriegs mitgemacht hatte. Auch um einer „Bewältigung“ willen, hat er diese Stätten in den späten 20er Jahren erneut aufgesucht. Die Bilder von Soldatenfriedhöfen und Versehrten summieren sich zu einem großen „Nie wieder!“ Auch eine Kehrseite blieb Grisar nicht verborgen. So hat er bildlich dokumentiert, wie die traumatischen Erinnerungen schon damals als Schlachtfeld-Tourismus vermarktet wurden.

Vielfach bewegend sind seine Aufnahmen aus den ärmeren und ärmsten Vierteln der Metropolen. Und welche Kontraste! Da sieht man einerseits Quellen des Reichtums (Diamanthandel in Antwerpen), doch weitaus häufiger kläglich zerlumpte Gestalten, denen „das Leben“ (sprich: der Kapitalismus) übelst mitgespielt hat. Armut war damals viel offenkundiger und drastischer als heute.

Erich Grisar: Menschenansammlung in London, offenbar Zuhörer an „Speakers‘ Corner“. (Bild: Stadtarchiv Dortmund)

Zweierlei gibt es noch zur Fotoausstellung hinzu. Zum einen hat das ebenfalls auf Zeche Zollern ansässige, literarisch rührige Fritz-Hüser-Institut in den letzten Jahren fünf Notizbücher durch Europa geschickt, die von Menschen aus etlichen Ländern (darunter Armenien, seinerzeit im Kriegszustand) mit Eindrücken gefüllt wurden und schließlich wieder in Dortmund anlangten. Anstoß war Erich Grisars Gewohnheit, auf seinen Reisen ein solches Büchlein mit sich zu führen und bei allerlei Begegnungen Einträge zu sammeln – so etwa auch von Erich Kästner und Bert Brecht, der ein kurzes Gedicht beisteuerte. Auch dieses historische Originalbuch ist in der Ausstellung zu sehen, während die erwähnten fünf Gegenwarts-Exemplare unter dem Titel „Wanderbuch“ und dem Motto „To cross all frontiers“ in einen Online-Auftritt eingeflossen sind, der sich hier aufrufen lässt: www.wanderbuch.de

Schließlich haben Menschen „zwischen acht und 85 Jahren“ in der Dortmunder Nordstadt am flankierenden Projekt „Mein Europa“ mitgewirkt, das vor allem Migrationsgeschichten erzählt und dabei Dortmund als neue Heimat in den Blick nimmt. Erich Grisar hat, bevor er südwärts ins Kreuzviertel zog, gleichfalls einst im Dortmunder Norden gelebt. Man kann nicht wissen, wohl aber mit Fug annehmen, dass ihm der offenherzige Geist dieses Projektes zugesagt hätte.

Erich Grisar – Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa. 5. März bis 16. Oktober. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund, Grubenweg 5. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr.

zeche-zollern.lwl.org




Gut und teuer eingekauft: Viel Berliner Spitzen-Theater prägt das Programm der Ruhrfestspiele 2022

Großes Vergnügen mit etwas Tragik: Joachim Meyerhoff und Angela Winkler in „Eurotrash“ (Foto: Fabian Schellhorn /Ruhrfestspiele Recklinghausen)

„Haltung und Hoffnung“ lautet das Motto der Ruhrfestspiele 2022. Erfunden wurde es sozusagen für das Leben mit der Pandemie, aber für den Ukraine-Krieg paßt es auch ganz gut. „Gut und teuer“ wäre ebenfalls möglich gewesen. Denn schaut man auf das Programm, das Schauspiel-Programm zumal, dann begegnen einem dort die Erfolgsproduktionen der laufenden Saison, vorzugsweise aus Berlin.

Wir sehen „Eurotrash“ von Christian Kracht, das Jan Bosse an der Berliner Schaubühne mit Angela Winkler und Joachim Meyerhoff unglaublich erheiternd inszeniert hat, „Mein Name sei Gantenbein“ nach dem Roman von Max Frisch als irrwitzigen Einpersonenabend mit Matthias Brandt, Barrie Koskys schrillbunte „Dreigroschenoper“ als Produktion der Komischen Oper, außerdem, vergleichsweise nüchtern gehalten, „Die Pest“ von Albert Camus als Produktion des Deutschen Theaters.

Nicht aus Berlin stammt der Opener, das neue Stück von William Kentridge, das laut Ankündigung aus einem Film mit Livemusik im ersten und der Kammeroper „Waiting for the Sibyl“ im zweiten Teil besteht, bildmächtig sein soll und ursprünglich eine Auftragsarbeit für Häuser in Rom, Luxemburg und Stockholm ist. Vorbild für die Titelfigur war die mythologische Prophetin Sibylle von Cumae, die das Schicksal der Menschen auf Eichenblätter schrieb.

Szene aus „Dreigroschenoper“ von der Komischen Oper Berlin (Foto: JR Berliner Ensemble/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Zweimal Hannover

Zweimal immerhin tritt das Schauspiel Hannover an. In „Annette, ein Heldinnenepos“, entstanden nach einem Roman von Anne Weber, darf sich das Publikum auf die großartige Corinna Harfouch freuen. „Die Tagesordnung“ nach dem Roman von Eric Vuillard kreist, wie dem Programmheft zu entnehmen ist, um die mehr oder minder krummen Geschäfte der deutschen Wirtschaft, die Hitlers Aufstieg beförderten. Das Stück sei ein „beeindruckender Monolog“, den Lukas Holzhausen spricht. Regie führt Oliver Meyer.

Und wieder Castellucci

Wer will, wird bei den diesjährigen Ruhrfestspielen wieder einmal Romeo Castellucci begegnen können, der seit einigen Jahren ein, wie man fast schon sagen könnte, zuverlässiger Lieferant irgendwie provokativen Festivalmaterials ist. Man erinnert sich an ein „Frühlingsopfer“, das bei der Ruhrtriennale mit herabrieselndem Knochenmehl illustriert wurde, oder auch an einen Wanderparcours aus schwankenden Blechplatten. In Recklinghausen nun, in „Bros“, wird er Polizisten auf die Bühne stellen, gewandet in historische Uniformen der legendären Stummfilm-Truppe Keystone-Cops, die auf Geheiß ihre schmutzige Arbeit machen. Das Präsentationsvideo zeigt sie – wenn man es recht erkannt hat, die Szenen spielen in einem gewissen Halbdunkel – beim Waterboarding oder dem Foltern (schwarzer?) Gefangener. Das wirkt brutal, paßt aber gerade deshalb recht gut in die Kategorie von Theaterproduktionen, die sich allerorten mit „Black Lives Matter“, Diversität, Geschlechteridentität und so weiter befassen. Als „Theaterentgrenzer“ (O-Ton Festivalleiter Olaf Kröck) begegnet uns Castellucci hier somit wohl eher nicht. Interessant ist übrigens die große Zahl beteiligter Bühnen, die diese Einrichtung einer Gesellschaft namens „Societas“ koproduziert haben. Neben den Ruhrfestspielen listet das Programmheft mehr als zehn weitere Theater zwischen Brüssel und Taiwan auf.

Szene aus „Tao of Glass“ (Foto: Tristram Kenton/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Philip Glass

Und dann ist da – wieder einmal – Philip Glass. 85 Jahre ist der Minimalmusiker jetzt alt, immer noch hoch produktiv. „Tao of Glass“ hat er zusammen mit Phelim McDermott erarbeitet, der Glasses minimale Tonsetzungen (10 neue, heißt es) in einer Art Tao-Meditation zelebriert. Auch Spielpuppen sind dabei, und wie das ganze aussehen wird, ist jetzt noch schwer zu sagen, denn die Stücke von Glass und Castellucci sind Deutschlandpremieren. Aber die Ankündigungen klingen gut.

Isadora Duncan zu Ehren

Beim Tanz fällt „Isadora Duncan“ ins Auge, weil die Tänzerin dieses Namens ja schon lange tot ist. Gemeint ist eine Choreographie dieser Wegbereiterin des modernen Tanzes, die ihr (noch lebender) Kollege Jérôme Bel für Elizabeth Schwartz aktivierte. In „Colossus“ beschäftigen sich in einer Choreographie von Stephanie Lake 40 Tänzerinnen und Tänzer von der Folkwang-Universität der Künste auf kleiner Bühne mit Körper und Körpermasse. In „Double Murder“ (zu deutsch: Doppelmord) des israelischen Choreographen Hofesh Shechter und seiner Company soll es wohl um Gleichgültigkeit gegenüber alltäglicher Gewalt ebenso gehen wie um Verletzlichkeit und Zärtlichkeit. „Clowns“ und „The Fix“ heißen die beiden Teile der Produktion, und alles in allem soll es auch zur Pandemie passen.

Früher einmal Mord mit Aussicht: Caroline Peters liest in Recklinghausen (Foto: Mirjam Knickriem/ Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Viele Lesungen

Natürlich ist im Programm noch viel mehr zu finden. Da spricht Denis Scheck (an verschiedenen Terminen) mit Edgar Selge, Harald Schmidt, Paul Maar und Antje Rávik Strubel, zu Lesungen reisen Caroline Peters, Fritzi Haberlandt, Charly Hübner und Friederike Becht an. Die Abteilung „Zwischenräume“ bietet Bildende Kunst, einen Audiospaziergang durch Recklinghausen und anderes mehr an, was sich nicht so ohne Weiteres in das traditionelle Schema einsortieren läßt. Übrigens findet hier auch die traditionsreiche Kunsthallen-Ausstellung Erwähnung. Sie wird bestückt von Flo Kasearu, heißt „Flo’s Retrospective“ und bringt es zu unerwarteter Aktualität durch den Umstand, daß die Künstlerin aus Estland stammt. Umwelt und Natur bestimmen das Bild in ihren Arbeiten.

Nicht nur ein Theaterfestival

Musik, Kinderprogramm, Zirkus und Digitales seien als Abteilungen noch erwähnt, vorwiegend eher kleine Veranstaltungen, die aber sicherlich auch ihr Publikum finden werden. Die Ruhrfestspiele sind eben nicht nur ein Theaterfestival, wenngleich Theater und Tanz im Großen Haus mit seinen beiden Bühnen dominieren.

Große Bühnen fehlen

Schauen wir noch einmal auf die Produktionen, so fällt aber auch auf, daß vieles fehlt: kein München, kein Hamburg, kein Zürich, Bern, Basel, vor allem aber auch: kein Wien. Es gibt auch keine traditionelle Sprechtheater-Produktion, die von den Ruhrfestspielen mitfinanziert oder gar beauftragt worden wäre, geschweige denn inszeniert. Das Programm ist schlichtweg zusammengekauft. Trotzdem ist es ein gutes Programm, sofern man die Stücke nicht schon in Berlin gesehen hat, wo sie teilweise ja schon lange laufen. Sprachbildmächtig könnte man sagen, daß für eine persönlichere Handschrift des Intendanten hier noch reichlich Luft nach oben ist.

www.ruhrfestspiele.de

 




„Nervös wie ein Rennpferd in der Startbox“ – Paul Auster umkreist Leben und Werk des fast vergessenen Stephen Crane

Die (post)moderne Literatur hat Paul Auster entscheidend beflügelt. Die „New-York-Trilogie“ hat ihm einen Platz in der Weltliteratur gesichert. Mit „4,3,2,1“ schrieb er sein Opus magnum. „In Flammen“ heißt sein neues Buch, das „Leben und Werk von Stephen Crane“ untersucht: die Biografie eines fast vergessenen Autors, der im Jahr 1900 – mit nur 28 – an Tuberkulose starb. Ein früh gereiftes Genie, das vielen ein Rätsel blieb.

Auster will Crane dem Vergessen entreißen, spiegelt sich im geheimnisvollen Leben und disparaten Werk des Autors, ohne den die US-Literatur und seine eigene nicht denkbar wären. Auster hat sich unter Kollegen und Kritikern umgehört und war verblüfft: Kaum jemand kennt heute noch den Namen des Autors, der wie ein Komet am Literaturhimmel erschien und dem Naturalismus und Realismus neue Dimensionen eröffnete. Kaum jemand hat je einen Roman oder eine Novelle des Autors gelesen, der eine zeitlang im tiefsten Elend in den Slums von New hauste und sich, weil er notorisch pleite war, als Kriegsreporter verdingte und mehrmals in Lebensgefahr geriet.

Im Roman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ hat Stephen Crane den Krieg auf radikal neue Weise beschrieben. Die vom eigenen Schiffsuntergang und Überlebenskampf handelnde Novelle „Das Offene Boot“ hat später Hemingway zu seiner Erzählung „Der alte Mann und das Meer“ inspiriert. Crane ist „Amerikas Antwort auf auf Keats und Shelley, auf Schubert und Mozart“, sein Werk, so Auster, sei nicht gealtert: „Hundertzwanzig Jahre nach seinem Tod leuchtet die Flamme Stephen Cranes noch immer.“

Gealterter Schriftsteller bewundert junges Genie

Auster umzingelt Crane nicht als Wissenschaftler, sondern als alter Schriftsteller, der das Genie eines jungen Schriftstellers bewundert, der fasziniert ist vom widersprüchlichen Leben, den spontanen Wagnissen, der starrsinnigen Hingabe an die Berufung als Schriftsteller, an der Crane festhielt: vom ersten Gedicht, das er als Kind schrieb, über die ersten Zeitungsreportagen, die er als Jugendlicher verfasste, bis zum letzten Atemzug, den Crane in Deutschland tat: Gestorben ist Crane im Kurort Badenweiler, wo er vergeblich hoffte, die Flamme seines Lebens vor dem Verlöschen zu retten, und wo nur eine kleine Zeitungsnotiz von seinem Tod Kenntnis gab.

Als Joseph Conrad, Henry James und H. G. Wells, die Crane bewunderten, von seinem Tod erfuhren, waren sie tief erschüttert. Und Willa Cather, die mit Crane eine wilde, von einem Schneesturm umtoste Nacht verbrachte, meinte: „Er wirkte so nervös wie ein Rennpferd in der Startbox. Er war ein Mann, der mit einer plötzlichen Abreise rechnet. Nie habe ich einen Mann mit so bitterem Herzen gekannt, wie er es mir in dieser Nacht enthüllte. Es war eine Abrechnung mit dem Leben, eine Anrufung des Hasses.“

Unter Tage und in den Slums von New York

Wenn Crane einen Artikel über die Ausbeutung der Bergbauarbeiter schreibt, fährt er mit ihnen in die Schächte hinunter und atmet Staub. Wenn er seinen Roman über „Maggie, das Straßenmädchen“ schreibt, lässt er sich durch New Yorker Slums treiben. Auster zitiert Crane ausführlich, kommentiert jedes Wort und jedes Stilmittel, verbeugt sich vor der Genialität. Wenn Auster ein Foto abdruckt, ist das nicht bloße Illustration, sondern Anlass, sich in das Kind, den Jugendlichen, den Mann hinein zu fantasieren: Warum sind die Augen so düster, warum ist das Gesicht so grimmig? Was hat er gedacht, wie hat er gelebt, als diese Fotos gemacht wurden?

Auster gräbt sich in die Bücher hinein, liest „Die rote Tapferkeitsmedaille“ nicht als Roman über den Krieg, sondern als Studie über die Auswirkungen des Krieges auf einen jungen Mann, als psychologisches Porträt der Angst, die von Feigheit in Hass umschlägt. Alles, was einen Kriegsroman eigentlich ausmacht, lässt Crane weg: Wer warum und gegen wen kämpft, politische Fakten, militärische Ziele, nichts davon wird berichtet. Von Interesse ist nur das Innenleben von Henry Fleming, was in ihm vorgeht, während die Kameraden sterben, warum er die Flucht ergreift und dann doch voller Scham zurück in die Schlacht stolpert, sich nach einer blutenden Wunde sehnt, eben nach einer „roten Tapferkeitsmedaille“. Auster zeigt, wie Crane eine neue Ästhetik in die Literatur einführt, eine reale Schlacht des amerikanischen Bürgerkrieges in ein mythisches Ritual verwandelt, so wie er auch das reale New York in eine mythische Stadt verwandelt, einen fiktiven Ort des Grauens, durch den das Straßenmädchen „Maggie“ bei ihrem Überlebenskampf ziel- und sinnlos taumelt.

Ein atemloses Kapitel über 600 Seiten

Paul Auster rätselt, wie Crane es schafft, vieles gleichzeitig zu machen: reiten, reisen, schreiben, lesen, sich verlieben, rauchen, trinken, sich prügeln, einen Roman und nebenher unzählige Zeitungsartikel und Gedichte schreiben. Auster versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen. Doch dann schreibt auch er alles gleichzeitig und ohne jede Pause: Im Kapitel „Tempo der Jugend“ werden über 600 Seiten atemlos die kreativsten Jahre Cranes und viele seiner Werke abgehandelt. Ohne irgendeine Zwischen-Überschrift. Als Leser versinkt man im Literaturmeer, so wie Crane, als sein Dampfer bei der Überfahrt nach Kuba unterging und er tagelang in einem Rettungsboot übers Meer trieb. Wer mit der Biografie arbeiten, etwas nachschlagen will, hat es nicht leicht. Aber wahrscheinlich will Auster zeigen, dass wir Crane nur verstehen, wenn wir nicht in der Asche herumstochern, sondern die ganze Flamme lodern lassen.

Paul Auster: „In Flammen. Leben und Werk von Stephen Crane.“ Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 1184 Seiten, 34 Euro.

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  • Geboren wurde Paul Auster 1947 in Newark/New Jersey.
  • Seit vielen Jahren lebt der mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratete Auster in New York.
  • Sein preisgekröntes Werk umfasst zahlreiche Romane, Essays, Gedichte und Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik.
  • Bekannt wurde der Autor, der auch als Filmemacher („Smoke“, „Lulu On The Bridge“) arbeitet, mit einer Serie von experimentellen Kriminalromanen („New-York-Trilogie“).
  • Immer wieder umkreist er in seinen vom französischen Strukturalismus beeinflussten Büchern die Rolle des Zufalls, der unser Schicksal bestimmt: In „4,3,2,1“ nimmt das Leben des Helden, je nachdem, wie der Zufall es will, vier verschiedene Richtungen und wird aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt.



„Die Jahre der wahren Empfindung“ – Helmut Böttigers anregendes Buch zur Literatur der 70er

Noch andere Leute hier, die hauptsächlich in den 1970er Jahren literarisch sozialisiert worden sind? Mir wurde es wieder bewusst, als ich jetzt Helmut Böttigers Buch „Die Jahre der wahren Empfindung“ gelesen habe, in dem die 70er laut Untertitel als „wilde Blütezeit der deutschen Literatur“ gelten (wobei es eigentlich „deutschsprachig“ heißen müsste, aber das wäre zu sperrig fürs Cover). Und tatsächlich: Wie reich an lesenswerten, ja aufregenden Büchern ist jenes Jahrzehnt gewesen!

Umschlag des besprochenen Buches: Auf dem rechten Foto sieht man übrigens Nicolas Born und Peter Handke beim gemeinschaftlichen Wassertreten. (Wallstein)

Man könnte jetzt schier endlos Namen und Buchtitel aufzählen. Den Exzess lassen wir mal bleiben. Aber ein paar Beispiele müssen doch genannt sein. Böll, Grass und Siegfried Lenz schienen seinerzeit „irgendwie“ schon ein bisschen vorbei zu sein, Walser noch nicht. Um es mal subjektiv anzugehen: Wahrhaftig habe ich damals vieles von dem gelesen, was Böttiger noch einmal unter die Rückblicks-Lupe nimmt. Peter Schneiders „Lenz“, Karin Strucks „Klassenliebe“, Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy, die Herren Piwitt und Delius, Fritz Zorn („Mars“) und Bernward Vesper („Die Reise“). Ja, sogar eine Verena Stefan („Häutungen“) stand seinerzeit weit oben auf dem Zeitgeist-Zettel. Von diversen Berühmtheiten mal ganz abgesehen. Natürlich einiges von Handke und Bernhard, Enzensberger, Arno Schmidt, Peter Weiss, dann aber auch Gernhardt, der frühe Genazino usw. usw. Jetzt aber Schluss mit dem Namedropping. Die Namen sollen ja nur ungefähr den Rahmen abstecken.

All die kleinen Literaturzeitschriften

Böttiger schreitet mehr oder weniger das ganze Jahrzehnt aus, er vergisst auch nicht zeittypische Phänomene wie die zahllosen hektographierten Literaturzeitschriften und die regen „Szenen“, die sich drumherum entfaltet haben. Selbstverständlich kommt auch die „Vaterfigur“ all dieser Kreise angemessen vor: der begnadete Netzwerker Josef Wintjes aus Bottrop, letztlich einer der literarisch wirksamsten Menschen, die das Ruhrgebiet bislang hervorgebracht hat.

Gewichtiger noch: Spezifische Grundzüge der DDR-Literatur werden ebenso ausführlich erläutert wie die der gleichfalls unverzichtbaren Werke aus der Schweiz und Österreich. Hin und wieder wird’s persönlich, so etwa, wenn harsche Auseinandersetzungen im Literaturbetrieb (Streithähne in der Gruppe 47, später dann der unversöhnliche Konflikt Wagenbach vs. Rotbuch) oder Vorgänge hinter den Kulissen (Marcel Reich-Ranickis unermüdliches Werben um Peter Rühmkorf als FAZ-Mitarbeiter) geschildert werden.

Als die Defizite der Achtundsechziger sichtbar wurden

Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen jedoch vor allem Werke, die die (nicht geringen) Defizite der 68er Polit-Revolte sichtbar gemacht haben. Einen weiteren Hauptstrang bilden verspätete Anknüpfungen deutschsprachiger Literatur bei popkulturellen Entwicklungen. Da gab es, verglichen mit anglophoner Literatur, eine Menge aufzuholen. Nicht nur der wüste Brinkmann, auch Handke hatte hierbei seine Verdienste. Zudem verweist der Buchtitel sowieso auf Handkes „Die Stunde der wahren Empfindung“.

Ab und zu lässt Böttiger diskret durchblicken, dass er manche der literarischen Protagonisten persönlich gekannt hat. Er breitet also nicht nur Bücher-, sondern auch Erfahrungswissen mit Ergänzungen vom Hörensagen aus. Das kann nicht schaden, wenn es so zurückhaltend und nicht auftrumpfend geschieht.

Die „blinden Flecken“ der Wahrnehmung

Man hat damals manches, aber längst nicht alles Wesentliche gelesen. Böttiger macht vielfach Lust darauf, bestimmte Bücher nachzuholen, die nach seinem Dafürhalten auch über ihre Zeit hinaus Gültigkeit besitzen. Nun gut, „Zettels Traum“ von Arno Schmidt werde ich auch jetzt nicht nachträglich durchackern. Doch Uwe Johnsons „Jahrestage“ sollte man sich noch einmal neu vornehmen. Auch habe ich mir speziell diese schmählich versäumten Schriftsteller notiert: Guntram Vesper, Jörg Fauser, Christoph Meckel („Licht“) und Manfred Esser („Ostend“), der mir bislang gar kein Begriff war.

Es gibt eben auch in der literarischen Wahrnehmung sozusagen „tote Winkel“. Übrigens hat Böttiger selbst seine „blinden Flecken“. Dass etwa Wolf Wondratschek nur einmal ganz kurz – wie versehentlich – gestreift wird und Franz Xaver Kroetz überhaupt nicht vorkommt, verwundert denn doch. Und wenn wir schon ein kleines bisschen nörgeln, so soll nicht verschwiegen werden, dass Böttigers absolutes, immer mal wieder verwendetes Lieblingswort offenbar „Suchbewegungen“ lautet. Eine Petitesse? Ja, gewiss. Und noch eins, schon etwas gravierender: Die gelegentlich eingestreuten Fotos sind teilweise hinreißend, aber leider deutlich zu klein geraten. Eine Kostenfrage, schon klar. Das war’s aber auch an Einwänden.

Botho Strauß und seine Abkehr von Adorno

Das Jahrzehnt klingt bei Böttiger mit dem Aufkommen von Botho Strauß und dem Erscheinen seines Bandes „Paare Passanten“ aus. In diesem Buch habe Strauß seine wehmutsvolle Absage an die Dialektik Theodor W. Adornos formuliert. Damit war wohl ein Weg in die so ganz anders gearteten 80er gebahnt. Dazu fällt mir spontan noch ein bezeichnendes Strauß-Zitat ein, es stammt aus seinem damals ebenso gefeierten Stück „Groß und klein“ (Uraufführung 1978, Regie Peter Stein) und lautet schlichtweg: „In den siebziger Jahren finde sich einer zurecht.“ Je nun, sie waren war halt auf ihre Weise so komplex und kompliziert wie jede andere Dekade.

Hinein in die Schlusskurve: Ich erinnere mich mit Befremden an einen Kommilitonen bei den Bochumer Germanisten, der damals mit arroganter Attitüde gesagt hat, bei Thomas Mann (!) höre für ihn die Literatur auf, Gegenwärtiges interessiere ihn nicht. Er ist denn auch ausgerechnet Studienrat für Deutsch geworden. Sagen wir mal so: In Thomas Bernhards Titel „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ würde er zumindest für den ersten Teil einstehen können. Wobei ich gerne zugebe, dass ich hernach nie wieder so entschieden „gegenwärtig“ gelesen habe wie just in der 70ern. Woran es wohl gelegen hat? Wir waren jung und brauchten die Bücher…

Helmut Böttiger: „Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur“. Wallstein Verlag, Göttingen. 473 Seiten, 32 Euro.




Wild wucherndes Roman-Gestrüpp – Hanya Yanagiharas „Zum Paradies“

Berühmt wurde Hanya Yanagihara mit dem Roman „Ein wenig Leben“. Jetzt hat die in New York lebende Autorin mit familiären Wurzeln auf Hawaii, die sich in ihren Büchern mit Missbrauch und Ausbeutung auseinandersetzt, einen 900-seitigen Roman veröffentlicht: „Zum Paradies“, ein wild wucherndes Gestrüpp literarischer Fantasien, eine Reise ins Herz der sozialen Abgründe und sexuellen Tabus.

Die Welt: eine Erfindung, die sich über 200 Jahre (mit Grüßen von Henry James) rund um den New Yorker Washington Square abspielt und drei Romanhandlungen zu einem riesigen Literaturberg aufstapelt. Einige Namen tauchen immer wieder auf, David, Charles, Edward, Bingham, Griffith, Bishop. Ob sie miteinander verwandt sind, bleibt ungewiss.

Die große Freiheit in New York

Der erste Teil spielt im Jahr 1893: New York hat sich von der Union abgespalten, Frauen und Männer, Ethnien und Religionen haben die gleichen Rechte, es ist erwünscht, dass homosexuelle Paare heiraten.

Im Mittelpunkt steht David Bingham, dessen Eltern früh starben und der jetzt bei seinem Großvater Nathaniel lebt, einem Mitbegründer des Freistaats, der für seinen homosexuellen Enkel eine standesgemäße Heirat mit Charles Griffith arrangieren will. Doch David mag den reichen, aufgedunsenen Witwer nicht, er ist verliebt in Edward Bishop, einem mittellosen Klavierlehrer, Luftikus und Lügner, der David überreden will, mit ihm nach Kalifornien zu flüchten, in ein Land, wo Homosexuelle verfolgt werden.

Von 1893 über 1993 bis ins dystopische Jahr 2093

Der zweite Teil spielt im Jahr 1993: Die AIDS-Epidemie fordert in der New Yorker Schwulen-Szene viele Tote: Charles Griffith, ein älterer Rechtsanwalt, lebt mit dem deutlich jüngeren David Bingham zusammen: David kommt aus Hawaii, ist Nachfahre einer verarmten Königsfamilie. Just am selben Tag, als Charles und David eine Abschieds-Party für einen todkranken Freund geben, erhält David einen Brief von seinem Vater, der seit Jahren auf Hawaii in einem Pflegeheim vor sich dämmert und in einem Moment geistiger Klarheit seinem Sohn erklärt, warum er ihn immer lieben wird und es gut heißt, dass er die Familie verlassen und seinen eigenen Weg gegangen ist.

Allgegenwärtige Pandemie, Internet abgeschaltet

Der dritte Teil führt ins Jahr 2093. Pandemien haben die Welt im Würgegriff, Amerika ist ein Überwachungsstaat: Das Internet ist abgeschaltet, es gibt keine Informationen, was in der Welt vor sich geht. Ein junge Frau, Charlie Griffith, berichtet von ihrem Alltag als Angestellte in einem Seuchen-Labor. Ihre Mutter hat die Familie verlassen. Ihr Vater, Mitglied einer Widerstandsgruppe, ist bei einem Anschlag gestorben. Ihr Großvater, Charles Griffith, hat das Regime lange bei der Pandemie-Bekämpfung beraten, bevor er in Ungnade fiel und hingerichtet wurde. Verheiratet ist Charlie mit Edward Bishop, einem Homosexuellen, der die Ehe als Tarnung nutzt, um in dem schwulenfeindlichen Staat nicht verhaftet zu werden. Eines Tages lernt Charlie einen Mann kennen: David, der angeblich von einem Freund ihres getöteten Großvaters geschickt wurde, um sie zu befreien. Alles nur Lüge?

Doch die Hoffnung stirbt zuletzt

Mit überbordender Fantasie führt uns Yanagihara durch einen literarischen Dschungel, beschreibt üppig die Lebensumstände und seelischen Abgründe ihrer Protagonisten, zeigt, wie schmerzlich Einsamkeit ist und Sehnsucht die Menschen auffrisst, dass uns Scham überfällt, wenn wir Familie und Kultur verleugnen und unsere Überzeugungen verraten. Auch wenn (mit Grüßen von Orwell und Huxley) unsere saubere, digitale Welt in einer ärmlichen, verseuchten Dystopie zu enden droht, so könnte doch auch alles ganz anders kommen: Am Ende eines jeden Teils bricht jemand in ein neues, unbekanntes Leben auf, macht einen ersten Schritt hin „zur Freiheit, zur Geborgenheit, zur Erhabenheit – zum Paradies“. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Hanya Yanagihara: „Zum Paradies“. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Claassen, Berlin 2022, 900 Seiten, 30 Euro.




Kultur mit Kick: Martin Suter legt Roman über „Schweinis“ Leben vor

Miteinander einverstanden: Martin Suter (li.) und Bastian Schweinsteiger (Foto: © Marco Grob)

Der in Zürich beheimatete Diogenes-Verlag zählt zu den renommiertesten in deutschsprachigen Landen. Nun aber diese Diogenes-Pressekonferenz in Berlin. Auch und gerade Journalist*innen von Bild, RTL und Radio Schlagerparadies stellen ihre Fragen. Nicht gerade die kultursinnigsten Medien. Was ist denn da los?

Martin Suter, Schweizer Schriftsteller von einigen Graden und Gnaden, hat ein Buch über den weltmeisterlichen Fußballer Bastian Schweinsteiger geschrieben. Da wittert halt auch der Boulevard womöglich knackige „Geschichten“. Ein „Bild“-Mann – schon spürbar gierig auf die Schlagzeile – will gar Näheres zu einer Roman-Sequenz wissen, in der sein Blatt vorkommt. Derlei Begehrlichkeiten mag Martin Suter denn doch nicht bedienen.

Warum hat sich Suter das überhaupt angetan? Sind ihm etwa die fiktionalen Themen ausgegangen? Wohl kaum. Er stellt es so dar: Ein Schriftsteller solle jede Art des Schreibens einmal ausprobiert haben. Also auch einen von der Hauptperson freudig abgenickten und autorisierten biographischen Roman, der sich nach Suters Bekunden eng an der Wirklichkeit orientiert. Nicht das „Was“ habe er erfunden, allenfalls das „Wie“. Und so habe er sich denn präzisionshalber etliche Spielszenen mit „Basti“ Schweinsteiger angesehen, um auch ja im Roman z. B. den Passgeber zum Soundso-Tor korrekt zu benennen oder um nicht einen Volleyschuss mit einem Dropkick zu verwechseln. Damit ihm bloß keine Beschwerden von Fußballfans kommen! Übrigens habe das Buch weitaus mehr Arbeit bereitet als anfangs angenommen. Zweimal musste der Erscheinungstermin verschoben werden. Jetzt ist es am 26. Januar so weit. Die turmhohen Buchstapel dürften dann kaum zu übersehen sein.

„Unmöglich“? Gibt’s nicht!

Wie kam es überhaupt zu diesem Romanprojekt, das offenbar als eine vorwiegend heitere „Heldensage“ gelten darf? Verlag und Autor verbreiten unermüdlich diese Version: Schweinsteiger (heute 37 Jahre alt) habe es lange Zeit abgelehnt, Gegenstand einer Lebensbeschreibung zu werden – bis eines Tages ein guter Freund (den er nicht nennen möchte) meinte, dass eine literarische Biographie doch etwas anderes wäre. Er sagte auch gleich, dass Martin Suter ein idealer Schriftsteller für eine solche Aufgabe wäre. Freilich setzte er hinzu: „Unmöglich, das macht der nicht.“ Darauf Schweinsteiger mit seinem sonnigen Gemüt: „Was ist das, unmöglich?“ Sprach’s, lachte optimistisch und leitete eine entsprechende Anfrage ein. Martin Suter erinnert sich, er habe nur eine Stunde überlegen müssen und sei angetan gewesen. Bastian Schweinsteiger sei einer, der sich nicht für etwas Besonderes halte; ein „Jetzt-Mensch“ und „Moment-Mensch“. Ein erstes Treffen auf dem Zürcher Flughafen habe ihn vollends überzeugt. Man sei einander gleich sympathisch gewesen, habe sich nach ein paar Minuten geduzt und viel gelacht. Ja, man habe einander – es war zu Beginn der Corona-Pandemie – tatsächlich die Hände geschüttelt.

Es beginnt mit einem kuriosen Eigentor

Es folgten viele weitere Gespräche und Nachfragen, vor allem per Videokonferenz. Auch lange Gespräche mit Schweinsteigers Vater gehörten zum Recherche-Pensum. Kindheit und Jugend spielen folglich eine gehörige Rolle in dem Roman, der mit einem kuriosen Eigentor des jungen „Basti“ beginnt. Gleich der erste Entwurf, seinerzeit rund 340 Seiten lang, habe ihm bestens gefallen, sagt Bastian Schweinsteiger. Als „Geschenk für mich“ betrachte er das Buch heute. Und überhaupt: Das Leben und die Freude daran seien ihm stets wichtiger gewesen als der bloße Fußball. Dennoch erfährt man aus dem Buch beispielsweise auch, welche Trainer „Basti“ im Laufe der Karriere weniger gut gefallen haben. Positiv hebt er indes Hitzfeld und Heynckes hervor.

Den Heiratsantrag exklusiv geschildert

Auf der (übrigens vom TV-Kommentator a. D. Marcel Reif moderierten) Pressekonferenz tauschte man heute gar viele Nettigkeiten aus – vor allem, als auch noch Schweinsteigers Frau Ana Ivanovic, die aus Serbien stammende Tennisspielerin und einstige Nummer Eins der Damen-Weltrangliste, aufs Podium gebeten wurde. Da kamen dann auch solche Fragen wie die, was Schweinsteiger von ihr über die Liebe gelernt habe. Hach ja. Wie rührend. Die beiden sind ja auch ein sympathisches Paar. Apropos: Martin Suter ist ein wenig stolz darauf, dass er „Bastis“ originellen Heiratsantrag exklusiv in den Roman einbauen durfte. Sonst gebe es jedoch keine „Enthüllungen“.

Dass allerdings der Buchtitel, um ihn endlich zu nennen, „Einer von euch“ lautet, mutet denn doch etwas merkwürdig an. Mag auch „Basti“, wie der Roman unentwegt nahelegt, ganz normal aufgewachsen sein und die Bodenhaftung nicht verloren haben, so sind er und seine Gattin doch als Multimillionäre in andere Sphären entrückt. Zu hoffen wäre, dass Suter nicht den Mythos befördern möchte, jede(r) von uns könne einen solchen Weg beschreiten. Aber wenn etwa Kinder daraus (gerade in diesen Zeiten) Zuversicht schöpfen, ist es natürlich in Ordnung.

Millionenschweres „Bestseller-Marketing“

Bastian Schweinsteiger, der früher einmal gesagt hat, er lese lieber tausend Spiele als ein Buch und dem die auch Suter-Lektüre über sich selbst („So viele Seiten am Stück“) erklärtermaßen schwergefallen ist, möchte künftig deutlich öfter zur gepflegten Lektüre greifen. Seine Frau sei eine begeisterte Leserin und man habe daheim viele Bücher im Regal. Seinerseits möchte er z. B. den einstigen Bayern- und National-Mitspielern Thomas Müller und Oliver Kahn Exemplare des Suter-Romans zueignen.

Freimütig gebe ich zu, den Roman über „Schweini“ nicht zur Gänze gelesen, sondern nur einige Passagen via pdf-Download überflogen zu haben. Viel mehr Bedarf habe ich auch nicht. Die Seiten lasen sich recht leicht, aber nicht seicht und mögen – wie es zwischendurch aus Schweinsteigers Sicht hieß – durchaus als „Mutmacher“ mit gelegentlichem Tiefgang taugen. Nicht unbedingt das Kerngeschäft eines traditionsreichen, literarisch ausgesprochen ambitionierten Verlages. Aber bitteschön. Vielleicht können sie von den Einnahmen ja ein paar hoffnungsvolle Debütanten fördern.

Diogenes stößt mit diesem Roman in bislang ungekannte Dimensionen vor. Man lasse sich die folgenden Stichworte zum „Bestseller-Marketing“ auf der Zunge zergehen. Wir zitieren auszugsweise:

„Infoscreens und Citylights 5,7 Mio. Kontakte
instagram.com/bastianschweinsteiger 10,5 Mio. Follower
facebook.com/bastianschweinsteiger 8,6 Mio. Fans
Große Online-Kampagne…“

Seid umschlungen, Millionen!

Martin Suter: „Einer von euch. Bastian Schweinsteiger“. Roman. Diogenes-Verlag. 384 Seiten, 22 Euro.

 




Die tiefe Wahrheit der Komödie: Vor 400 Jahren wurde der Dramatiker Jean-Baptiste Molière geboren

Es ist sicher nicht übertrieben, Molières „Tartuffe“ als eine der wichtigsten Komödien der Weltliteratur zu bezeichnen. Bei ihrem Erscheinen 1664 erzeugte sie einen gewaltigen Skandal. Ihr Autor wurde als Jean Baptiste Poquelin am 15. Januar vor 400 Jahren getauft*. In seiner Bedeutung als einer der großen dramatischen Autoren der Literaturgeschichte ist er William Shakespeare an die Seite zu stellen.

Jean Baptiste Molière im Jahr 1664. Stich von Charles Courtry nach einem heute verlorenen Gemälde von Michel Corneille d. J.

„Le Tartuffe“ wird bis heute häufig aufgeführt. Die Geschichte eines gerissenen Betrügers, der sich der Religion bedient, um mit vorgetäuschter Frömmigkeit und demonstrativem Glaubenseifer eine ganze Familie unter Kontrolle zu bringen, ist nach wie vor aktuell. Denn Molière beleuchtet in seinen Figuren die Mechanismen der Manipulation. Er führt die psychologischen Ursachen vor, die Menschen dazu bringen, ihre Einsichtsfähigkeit auszuschalten.

Der wohlhabende Herr Orgon und seine auf religiöse Perfektion fixierte Mutter Madame Pernelle unterwerfen alles, was sie erfahren und erleben, einem auf Tartuffe bezogenen Erklärungsmuster. Die Menschen in ihrem familiären Umfeld entlarven die Täuschung unschwer. Aber ihre Kritik führt dazu, die eigene Anschauung noch hartnäckiger zu verteidigen und sich an ihrer Wahrheit festzuklammern. Das Ende ist ein menschliches Desaster und der Bankrott der bürgerlichen Existenz. Ein Phänomen, das nur allzu bekannt wirkt. Doch in der Realität gibt es, anders als bei Molière, keinen wissenden König, dessen Eingreifen eine Katastrophe verhindern könnte.

Molières „Tartuffe“, eine bissige Abrechnung mit falscher Frömmigkeit und religiöser Heuchelei, wird im Frankreich Ludwigs XIV. als Angriff auf Glauben und Kirche missdeutet. Die Königinmutter Anna erwirkt, ganz im Sinne einer katholischen gegenreformatorischen Geheimgesellschaft, der Compagnie du Saint-Sacrement, ein Aufführungsverbot. Molière wird verdammt als ein „in Fleisch gehüllter, als Mensch verkleideter Dämon“, als „pietätloser Libertin“. Fünf Jahre kämpft er beim König, der ihm eigentlich gewogen ist, für sein Stück, bis es endlich nach der Entmachtung des alten Hofstaats 1669 mit riesigem Erfolg öffentlich in Paris aufgeführt werden kann.

Verblendung und Realitätsverlust

Dass Tartuffe erst im dritten der fünf Akte persönlich auftritt, ist mehr als ein spannungsfördernder Theaterkniff, den schon Goethe bewundert hat. Er gibt Molière den Freiraum, die Unzulänglichkeiten der Charaktere zu entwickeln, die auf ihre eigenen Gedankenkonstruktionen und Illusionen hereinfallen. Er führt dem Zuschauer schmerzlich vor, wie sich Menschen verrennen und von der Realität verabschieden.

Nicht nur in „Tartuffe“ überwindet Molière das possenhafte Unterhaltungstheater seiner Zeit. Seine Komödien haben den Anspruch, in der Deutung der menschlichen Existenz mit der Tragödie gleichzuziehen. Molière nimmt charakterliche Schwächen aufs Korn und kritisiert soziale Verhältnisse seiner Zeit. Ironie und karikierende Verzeichnung sollen die Zuschauer jedoch nicht nur lachen lassen, sondern dienen dazu, den Blick in die menschliche Seele zu vertiefen.

Als Molière 1659 mit seiner Komödie „Der verliebte Arzt“ auf Einladung seines Förderers Herzog Philippe von Orléans in Paris gastiert, gewinnt er das Wohlwollen des jungen Königs. Davor lagen für ihn fast zwei Jahrzehnte Theater in der Provinz. Molière hatte als Zwanzigjähriger darauf verzichtet, das erfolgreiche Geschäft seines Vaters, eines Tapissiers (Raumausstatters) zu übernehmen, und gemeinsam mit seiner langjährigen Gefährtin Madeleine Béjart eine Theatertruppe gegründet. Dieses Unternehmen geht nach zwei Jahren Bankrott und Molière wandert in Schuldhaft.

Komödien für den König

In den folgenden 13 Jahren lernt er das Theater von Grund auf kennen: Er leitet eine Theatertruppe, betätigt sich als Schauspieler und Autor. Mit „Die lächerlichen Preziösen“ karikiert er das exaltierte Verhalten von Pariser Mädchen, die gerne adelig und gebildet wären, und erzielt einen viel beachteten Erfolg, den er mit „Die Schule der Frauen“ fortsetzt. Wie der „Tartuffe“ ist dieses Stück über eine sich selbst bewusst werdende junge Frau und ihr Recht auf Liebe Anlass für eine heftige Kontroverse.

Für den König entwickelt Molière in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Jean-Baptiste Lully unterhaltsame Ballettkomödien, bleibt aber auch dem Genre der Charakterkomödie treu. Bis heute gespielt werden etwa „Der Geizige“, „Der Bürger als Edelmann“ oder „Der eingebildete Kranke“. Die Titelrolle dieses Stücks über naive Medizingläubigkeit und unfähige Quacksalber sollte am 17. Februar 1673 sein letzter Auftritt auf dem Theater werden: Während der Vorstellung attackiert den seit Jahren an Krankheiten laborierenden Molière ein schwerer Hustenanfall. Mit Fieber und Schüttelfrost bringt man ihn nach der Vorstellung nach Hause, wo er einen Blutsturz erleidet und stirbt. Nur auf Drängen des Königs gewährt die Kirche ihrem exkommunizierten Kritiker ein Begräbnis in aller Stille.

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* Geburtsdatum vermutlich einen Tag vor der Taufe, am 14. Januar 1622.

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Von den über 30 Stücken Molières ist in seinem Geburtsjahr an den Theatern in der Region so gut wie nichts zu finden. Lediglich die Burghofbühne Dinslaken spielt den „Tartuffe“  (Premiere war am 10.01.2020) in drei Vorstellungen in Limburg, Goch und Kamp-Lintfort.

Das umfangreiche Werk und die schillernde Persönlichkeit Molières stellt Frank Castorf ab 21. Januar 2022 ins Zentrum eines Abends im Depot 1 des Schauspiels Köln: „Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet“ ist der Titel der Produktion, zu der Aleksandar Denic die Bühne geschaffen hat. Tickets gibt es unter Tel. (0221) 221 28 400.

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