Zum Tod von Herbert Achternbusch: Bayerischer Suff – auch im alten Griechenland

Betrübliche Nachricht: Der Dichter, Filmemacher, versierte Biertrinker, Lebenskünstler usw. usw. Herbert Achternbusch ist mit 83 Jahren gestorben. Und was finde ich dazu in meinem Archiv? Ausgerechnet eine Art „Verriss“ – vom 21. Mai 1996. Aber sei’s drum. Schmeicheleien waren seine Sache eh nicht. Passt scho‘. Hier der Text von damals, gesudelt anlässlich der Mülheimer Theatertage. Nehmt’s halt als Nachruf, sanft möge er ruhen:

Herbert Achternbusch beim 33. Filmfest in München, 2015. (Foto: © Wikimedia Commons/Harald Bischoff) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Nein, der „Nabel der Kultur-Welt“ ist Mülheim gewiß nicht. Dieses (von manchen keck beanspruchte) Prädikat wies auch Hans-Georg Specht, Oberbürgermeister der Stadt, in aller Bescheidenheit zurück, als er jetzt die Mülheimer Theatertage eröffnete. Doch immerhin steht nun gleichsam wieder ein Wanderpokal des deutschen Feuilleton-Betriebs an der Ruhr. Denn zum 21. Mal geht es beim allzeit interessanten Dramatikerwettbewerb ums beste neue deutsche Stück.

Alkoholische Hirnzertrümmerung

Der Aufgalopp der Inszenierungen begann mit A wie Achternbusch, Herbert. Der hat mit seinem Drama „Letzter Gast“ sozusagen bayerische Kneipenatmosphäre ins klassische Griechenland verpflanzt. Treffen sich also ein alter Ägypter, ein Grieche und der Wirt, („zugroaster“ Römer) in einem Lokal zu Hellas. An der ägäischen Bucht ist das Bier grün, es verfehlt aber seine Wirkung nicht. Und wenn hernach der lebensgefährliche „Selbstgebrannte“ zum Einsatz kommt, zucken gar Blitze über die Bühne, die schlagartige alkoholische Hirnzertrümmerung signalisieren.

Und so salbadern sie denn auch, einer nach dem anderen seinen delirierenden Monolog abliefernd. Groteske Parodie auf die altgriechische Kunst der Rede und des Dialogs? Mag sein. Zwölf Lokalrunden werden binnen zwei Stunden Spielzeit geschmissen, und jede wird eingeläutet wie ein Boxkampf.

Wie viele Hügel hat das antike Rom? Ist die Erde eine Scheibe oder eine Kugel? Wie wäre es, wenn die Menschen statt der vielen Götter nur noch einen einzigen verehren? All das und noch vieles mehr wird beredet am promillo-philosophischen Stammtisch, der später – welch sinnfälliger Kommentar zum Stück – im überquellenden Theaterschaum versinkt.

Auftritt der Tierkopf-Götter und des kleinen Krokodils

In Alexander Langs Einrichtung (Münchner Kammerspiele) wird dem verbalen Wirrwarr mit Fez und Karneval Genüge getan. Da defilieren die ägyptischen Tierkopf-Gottheiten (Horus, Anubis & Co.) stumm und gravitätisch durch die Szenerie, da rennen bayerische Polizisten samt Nikolaus hinterdrein, und überm Tresen, der an einen Altarschrein erinnert (schönes Bühnenbild: Caroline Neven Du Mont), reckt auch schon mal ein kleines Spielzeugkrokodil sein Haupt. Tri-Tra-Trullala.

Achternbusch scheint sich stets auf die Gnade des frühesten Einfalls verlassen zu haben. Schreib’s halt gleich hin, ‘s ist sowieso egal. Geradezu verschwenderisch gut muten die schauspielerischen Leistungen an. Thomas Holtzmann als vierschrötiger Wirt, Michael von Au als tuntiger Grieche Semel, Regisseur Alexander Lang selbst als stocksteifer Ägypter Ptah und Jörg Hube als lachender „letzter Gast“ Thukydides – das ist schon ein Ensemble, auch mit Trinksprüchen aller Ehren wert.

Sechs weitere Autoren und ihre Stücke sind noch im Wettbewerb. Man wird sehen, wem am Schluß zugeprostet wird.

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P. S.: 1996 hat Achternbusch den Dramatikerpreis nicht errungen. Allerdings war er in Mülheim 1986 mit „Gust“ und 1994 mit „Der Stiefel und sein Socken“ erfolgreich. Die Fülle seiner weiteren Preise und Ehrungen wollen wir hier nicht aufzählen.

 

 




„…hat es keinen Zweck etwas anzufangen, / nicht einmal einen Satz.“ – „Winterrezepte“ der Nobelpreisträgerin Louise Glück

Die Erinnerung scheint aus einem Traum oder Märchen zu stammen, nicht aus wirklichem Erleben: „Jedes Jahr, wenn der Winter kam, gingen die alten Männer / in den Wald, um Moos zu sammeln, welches / auf der Nordseite mancher Wacholdersträucher wuchs.“

Waren ihre Säcke voll, machten sie sich mühsam auf den Heimweg. Die Frauen fermentierten und präparierten das Moos, bestrichen es „mit wildem Senf und kräftigen Kräutern“, machten daraus ein belebendes Winterbrot. Sie verkauften die „in Wachspapier gewickelten Brote auf dem Marktplatz, / während der Schnee fiel“. Das Buch, in dem sie einst die Zutaten und die Zubereitung der Brote notierten, und das Buch, das die Lyrikerin jetzt mit ihren eigenen Worten nacherzählt, als würde sie einer fernen mythischen Zeit ihre Stimme verleihen, enthält „nur Rezepte für den Winter, wenn das Leben schwer ist. Im Frühling / kann jeder ein feines Mahl zubereiten.“

„Winterrezepte aus dem Kollektiv“ ist das Titel gebende Gedicht der Lyriksammlung, die Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück wie ein sanftes Ruhekissen, gefüllt mit zeitlosen Weisheiten und naturphilosophischen Reflexionen, dem Leser übereignet. Es ist das erste Buch der zurückgezogenen lebenden Dichterin, seitdem sie im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht. In ihrer US-amerikanischen Heimat ist sie längst eine feste literarische Größe, hierzulande aber noch immer ziemlich unbekannt und unverstanden.

Ob sich das jetzt ändern wird, scheint fraglich. Denn die Verse, die Louise Glück mit weltflüchtiger Fantasie und kontemplativer Verdichtung schmiedet, künden von depressiver Verstimmung und existenzieller Verlorenheit, oft nahe am Verstummen. Manchmal verrutschen der Dichterin auf der Suche nach einem Du und einem mitfühlenden Kollektiv auch die Bilder, schrammen nur knapp am Kitsch vorbei. Von Bonsai-Bäumchen („Wir haben sie ihres Ursprungs beraubt, / daher brauchen sie uns jetzt“) ist die Rede, von der untergehenden Sonne, von einer Reisenden, die, als die Freundin sie wortlos verlässt, in einem abgelegenen Hotel strandet und niemals ans Ziel kommt.

Ein „Concierge“ wird zum Zen-Meister des Wartens und der Reise ins eigene Selbst: „Du hast deine eigene Reise begonnen, / nicht in die Welt wie dein Freundin, sondern zu dir und deinen Erinnerungen.“ Als wäre das nicht schon esoterisches Geraune genug, ist die auf Erleuchtung hoffende und sich nach Erlösung sehnende Dichterin vom pseudo-chinesischem Gefasel ihres Meisters regelrecht verzückt: „Alles ist im Wandel, sagte er, und alles ist verbunden. / Auch kommt alles wieder, doch ist, was wiederkommt, nicht, / was ging.“

Immer wieder versucht die Stimme ihre geliebte Schwester und die Gegenwart ihrer verstorbenen Mutter heraufzubeschwören, gräbt aus der verschütteten Kindheit einen Tag im Park aus, hört den Wind rauschen, sieht sich im Blätterhaufen mit der Schwester herumtoben. Doch die Mutter weiß es besser und erinnert sich anders: „Ihr habt nie getobt. / Ihr wart brave Mädchen“. Die Zeit vergeht, die Erinnerung verblasst, die Wahrheit ist nur eine vage Vermutung, das Leben nur ein Warten auf den Tod: „Alles ist zu Ende, sagte ich. / Und ist das der Fall, / hat es keinen Zweck etwas anzufangen, / nicht einmal einen Satz.“

Doch dann beginnt sie wieder von neuem, spricht gegen das langsame Verdämmern an. Oft mit großer poetischer Anstrengung und musikalischem Gespür für den Klang der alltäglichen Sprache. Leider hat Übersetzerin Uta Gosmann kein Gefühl für den Rhythmus des mäandernden Erzähl-Flusses. Steifes Nacherzählen, statt freier Variation sklavische Worttreue. Zum Glück ist die mit chinesischen Schriftzeichen geschmückte Ausgabe zweisprachig. Das englische Original entschädigt für manchen Missgriff der knorrigen deutschen Sprach-Vergeblichkeit.

Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“. Gedichte. Zweisprachig. Aus dem amerikanischen Englisch von Uta Gosmann. Luchterhand, München 2021, 80 Seiten, 16 Euro.

 




Sozialer Aufstieg hat seinen Preis – Theater Dortmund zeigt „Der Platz“ nach dem Roman von Annie Ernaux

Marlena Keil, Antje Prust, Mervan Ürkmez, Linda Elsner, Lola Fuchs, Raphael Westermeier (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Was, so könnte man zu Beginn vielleicht fragen, macht den Wert einer Biographie aus? Bei Herrschern, Künstlern oder Verbrechern, beiderlei Geschlechts sie alle natürlich, fielen uns schnell Antworten ein; stets gilt es von der Lebensleistung zu berichten, von großen Taten oder großen Irrtümern, von Wahnsinn oder tragischer Verstrickung.

Macht und Reichtum begünstigen fraglos die Entstehung von Biographien, doch auch arme Leute können ein interessantes – und somit berichtenswertes – Leben geführt haben. Wenn aber nur ein zu jeder Zeit ausgesprochen durchschnittliches Leben gelebt wurde, es bis zum etwas frühen Tod mit 68 keine dramatischen Brüche und Wendungen gab – ja was soll man da erzählen? Und vor allem: warum?

Musikerin Houaida (links) (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Laden und Kneipe

Annie Ernaux (Jahrgang 1940), französische Schriftstellerin mit starker Neigung zum Autobiographischen, hat es in ihrem Buch „Der Platz“ (1983) getan. Sie erzählt die Geschichte ihres Vaters, der zuerst Knecht auf einem normannischen Bauernhof war, später Industriearbeiter, und sich schließlich mit einem kleinen Laden nebst Kneipe selbstständig machte. Die kleinbürgerliche Selbstständigen-Existenz wird als sozialer Aufstieg gesehen, wenngleich die Einkommensverhältnisse bescheiden bleiben. Der Vater bemüht sich um ein gewandtes Auftreten, um seine vermeintlich bessergestellte Kundschaft zu beeindrucken, doch Minderwertigkeitsgefühle und die Angst vor dem Zurücksinken in eine proletarische Existenz bleiben lebenslang.

Das ist im Grunde die Geschichte. Erzählt wird sie rückblickend von der erwachsenen Tochter, die Gymnasiallehrerin geworden ist und durch ihre Verbeamtung Teil der bewunderten, beneideten, privilegierten Mittelschicht. Vom Vater hat sie sich dadurch entfremdet, beklagt sie.

Und nochmal, von links: Antje Prust, Linda Elsner, Raphael Westermeier, Lola Fuchs, Marlena Keil, Mervan Ürkmez (Foto: Theater Dortmund/Birgit HupfeldEEei

Endlich im Großen Haus

Im Schauspiel Dortmund hat Julia Wissert Annie Ernaux’ Buch „Der Platz“ nun als Stück auf die Bühne gebracht. Es ist dies die erste Inszenierung von Dortmunds immer noch neuer Intendantin im Großen Haus, wenngleich sie schon seit der vergangenen Spielzeit im Amt ist, Corona hat Schuld.

Gleich sechs Darstellerinnen und Darsteller bietet sie für den Monolog der Annie Ernaux auf, um das Leben des Vaters in recht straff geordneten Rückblenden zu erinnern. In etwa, ganz genau ist das nicht immer zuzuordnen, stehen verschiedene Akteure für die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der heranwachsenden, später erwachsenen Tochter. Ihr Leiden unter der Nicht-Intellektualität des Elternhauses, ihre Minderwertigkeitsempfindungen gegenüber Kindern aus dem bürgerlichen Milieu, ihre Trauer um die Förderung, die das eigene Elternhaus ihr trotz gutem Willen nicht geben konnte – das sind, wenn man einmal so sagen darf, wesentliche Befindlichkeiten dieses Vortrags, der die Tochter (oder auch, wenn man so will, die Romanautorin) weitaus gründlicher zum Gegenstand autobiographischer Betrachtung macht als den Herrn Papa: Der schwere Aufstieg aus dem proletarischen Milieu – voilà.

Peinlicher Alter

Noch einmal ketzerisch nachgefragt: Sind solche Biographien es wert erzählt zu werden? Wie gesagt, Besonderes geschieht angeblich nicht. Oder könnte es sein, daß die Tochter an ihrem Vater vieles nicht oder nicht hinreichend wahrgenommen hat? Oder daß sie gar Dinge weggelassen hat, die nicht in das letztlich recht schlichte Konzept von ungebildetem Vater und zu kurz gekommener Tochter paßten? Ein dialektisch grundiertes Verfremdungsgeschehen ist nicht zu erkennen, und das häufige Hantieren mit Zentralbegriffen wie Scham und Entfremdung vermag nicht gänzlich zu überzeugen. Der Alte war ihr peinlich, könnte man respektlos vermuten, auch weit über die Pubertät hinaus. Mehr jedenfalls wird uns nicht berichtet.

Die Frage nach den Ressourcen wird nicht gestellt

Dabei wäre die Frage nach den Ressourcen der erfolgreichen Tochter wichtig gewesen, von denen es ja auch einige gegeben haben muß. Warum zum Beispiel kommt die Mutter mit wenigen kleinen Ausnahmen in all den Lebenserinnerungen nicht vor? Sie dürfte doch auch wichtig gewesen sein für das Kind – und übrigens auch für den gemeinsamen, mutigen Beschluß der Eheleute, eine selbstständige Existenz aufzubauen. Beim Vater wird zumindest deutlich, daß er, wenn er seine Tochter auch nicht intellektuell fördern konnte, doch stolz auf sie war und ihr den sozialen Aufstieg gönnte.

Etwas somnambul und etwas rätselhaft: das Ensemble in steter Bewegung (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Recht ordentlich

Wenn man so schnell bei den inhaltlichen Valeurs eines Stückes anlangt, dann spricht das für die Qualität der Inszenierung. Zwei Männer und vier Frauen tragen in sachlich-engagiertem Ton vor, machen neugierig auf zukünftige Taten des neuen Ensembles: Antje Prust, Linda Elsner, Lola Fuchs, Marlena Keil, Mervan Ürkmez, Raphael Westermeier.

Ihre Körperlichkeit steht dabei in einem gewissen Widerspruch zum nüchternen Textprotokoll. Alle sind sie mehr oder weniger immer in Bewegung, getrieben suchend, schematisch agierend, ein wenig rätselhaft, ein wenig somnambul. Etwas emotionale Aufladung durch feinen Gesang hier und da (Musik: Houaïda) wirkt entspannend. Glücklicherweise widersteht die Inszenierung der Versuchung, Motive von Ausgrenzung, Rassismus, Klassengesellschaft oder ähnlichem einzuflechten. Kluge Theaterbesucher kommen auch von alleine darauf, daß es da Bezüge gibt.

Wenig Publikum

Leider kann nicht unerwähnt bleiben, daß zur fünften Aufführung kaum 30 Zuschauer den Weg ins Dortmunder Theater (Großes Haus!) fanden. Vermutlich war es keine gute Idee, in den letzten Wochen der Spielzeit 2020/2021 nicht mehr zu spielen, als dies bei Beachtung der Hygieneauflagen wieder möglich gewesen wäre. Auch ein abgespecktes Sommerprogramm wäre vorstellbar gewesen, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. In Dortmund aber herrschte zu lange zu viel Ruhe. Zudem haben Intendantenwechsel, wie eben in Dortmund, oft auch den Verlust von Teilen des alten Stammpublikums zur Folge. Und Korona hat seinen Schrecken noch nicht verloren. Heißt: Das Theater Dortmund muß sein Publikum zurückgewinnen. Wünschen wir ihm Glück dabei.

 

 




Woran die geliebte Freundin zerbrochen ist – Roman „Die Unzertrennlichen“ aus dem Nachlass von Simone de Beauvoir

Jean-Paul Sartre fand diesen Text seiner Gefährtin Simone de Beauvoir „zu intim“ für eine Veröffentlichung. Wer weiß, was ihn zu diesem Urteil bewogen hat. Jedenfalls schildert die Beauvoir in „Die Unzertrennlichen“ (Original: „Les inséparables“) ihre erste Liebe – zu einer Schulfreundin, die sie mit neun Jahren kennenlernte und die am 25. November 1929 mit nur 21 Jahren jämmerlich gestorben ist – offiziell an viraler Enzephalitis. Nach Erlaubnis der Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir kam das Manuskript aus dem Nachlass erst 2020 heraus und ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Cover des besprochenen Buches: Freundinnen „Zaza“ (links) und Simone des Beauvoir im Jahr 1928. (© Rowohlt Verlag, Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München – Fotografie: Éditions de L’Herne)

Diese Élisabeth Lacoin, genannt „Zaza“ (im Buch: Andrée) muss schon als Kind ein ausgemachter Freigeist gewesen sein, sehr klar und bestimmt in ihren spontanen Äußerungen. Einerseits scherte sie sich nicht darum, was „die Leute“ (wie Lehrer und Mitschülerinnen) dachten. Doch sie war und blieb eingeschnürt in ein großfamiliäres, erzkatholisches Korsett, aus dem sie sich in jenen starren Zeiten dann doch nicht befreien konnte. An diesem Widerspruch, so könnte, ja müsste eine plausible Lesart lauten, ist sie zerbrochen und schließlich zugrunde gegangen. Weitet sich der Blick übers Individuelle hinaus, so dürfte es sich hierbei um einen – leider arg verspätet vorliegenden – Gründungstext der neueren feministischen Bewegung handeln, in dem Motive anklingen, die Beauvoirs Oeuvre prägen. Immerhin sind ein paar Einzelheiten in ihre „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ eingeflossen.

Simone de Beauvoir (im Buch: Sylvie) hat Zaza auf den ersten Blick bewundert. Mit der Zeit wurde ihr bewusst, dass es wohl nicht nur die übliche Mädchenfreundschaft, sondern eine besondere Art von Liebe sein musste. Inwieweit irgendwann auch sexuelles Begehren hineingespielt hat, wird nicht erwähnt oder erwogen. Ohne Zaza konnte sich Simone ihr Leben jedenfalls nicht mehr vorstellen. Doch die schien über derlei „Gefühlsduseleien“ lange Zeit erhaben zu sein. Schlimmer noch: Als Zaza sich mit 15 Jahren in einen Jungen namens Bernard verliebt (hoffnungslos, weil ihre strenge Mutter den Kontakt unterbindet), ist Simone zutiefst enttäuscht, zeigt sich aber gleichwohl großmütig bereit, der Freundin in seelischer Not zu helfen. Jahrzehnte später hätte man einen solchen Stoff bis hierhin vielleicht als „Coming of Age“-Erzählung bezeichnet. Aber egal. Derlei Zuordnungen führen nicht weit.

Es stellt sich dann auch die „Frauenfrage“

Das zweite Hauptkapitel setzt nach bestandener schulischer Reifeprüfung ein. Zaza trifft Simones philosophisch beschlagenen, doch recht verschrobenen Studienfreund Pascal Blondel (im wahren Leben: Maurice Merleau-Ponty) und scheint an seiner zuversichtlichen Wesensart zu gesunden, woraus sich – wie es so gehen kann – Liebe entfaltet. Simone verspürt nun keine Eifersucht mehr, die Freundin bedeutet ihr nicht mehr alles. Doch immer noch sehr viel. Jener Pascal will seinem alten verwitweten Vater kein weiteres Einsamkeits-Leid bereiten und lehnt vorerst eine Verlobung mit Zaza ab, die eine Perspektive eröffnet hätte. Doch nun soll Zaza nach dem Willen ihrer Eltern für zwei Jahre ins edle englische Cambridge gehen. Zur Probe ihrer Gefühle. In Wartestellung. Vielleicht zur „Abkühlung“. Eine so lange Trennung von Pascal, das will und kann sie nicht aushalten… Als alle Hoffnung schwindet, befällt ein wahnhaftes Fieber Zaza. Ihr ist auf Erden nicht mehr zu helfen.

Nicht nur die genannten „Hauptpersonen“ spielen eine Rolle, skizzenhaft kommen auch andere Frauenleben in den Blick: beispielsweise Zazas ältere Schwester, die partout schnellstens verheiratet werden soll, und zwar mit einem Mann nach Wahl der Eltern; sodann just auch Zazas Mutter und Großmutter. All die gesellschaftlichen Zwänge und Unfreiheiten haben sich ja über Generationen hinweg fortgesetzt. Da stellt sich eben die generelle „Frauenfrage“.

Bedauerlich, dass uns dieser „autofiktionale“ Roman avant la lettre bislang vorenthalten geblieben ist. So überaus lebendig, dialogisch markant aufbereitet, schildert Simone de Beauvoir die betrüblichen Geschehnisse, dass man vor dem inneren Auge gleichsam einen jener französischen (Liebes)-Filme mit tragischem Ausgang ablaufen sieht; wie denn überhaupt dieser Stoff nach kongenialer Verfilmung ruft. An solchen Eindrücken hat sicherlich auch die Übersetzung ihren Anteil.

Die Beauvoir muss in der fraglichen Zeit (1916 bis 1929) ausgiebig Tagebuch geführt haben, so detailreich sind ihre im Roman dargelegten Erinnerungen gefasst. Zweifellos handelt es sich um das Werk einer famosen Schriftstellerin. Da fragt sich abermals, warum Sartre (den Beauvoir im Juli 1929 kennenlernte) von einer Publikation abgeraten hat. Sollten etwa seine höchstpersönlichen Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten…?

Simone de Beauvoir: „Die Unzertrennlichen“. Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Mit einem Vorwort von Sylvie Le Bon de Beauvoir sowie einem Anhang mit Schwarzweiß-Fotografien und ausgewählten Briefen. Rowohlt Verlag, 144 Seiten (plus nicht paginierter Anhang), 22 Euro.

 




Ruhrgebiet, Behörden, Berlin, Humor, Tod und Leben – neue Bücher über (fast) alles

Nicht jedes Buch kann hier ausführlich besprochen, manche können aber empfehlend vorgestellt werden. Also sichten wir mal einen kleinen Stapel:

Wie geht’s weiter im Revier?

Da wäre zunächst die Anthologie „wie weiter – 25 literarische aussichten zum ruhrgebiet“ (eichborn verlag, 222 Seiten, 12 Euro), die freilich nur auf dem Cover die Kleinschreibung pflegt. Der Band enthält satte 25 Beiträge mehr oder weniger prominenter Autorinnen und Autoren, die sich mit dem Revier auskennen und dieser Region einiges abgewinnen. Stellvertretend genannt seien Frank Goosen, Thomas Gsella, Nora Gomringer, Feridun Zaimoglu und Lütfiye Güzel. Die hier nicht Genannten mögen nachsichtig sein, eine komplette Liste läse sich nicht so prickelnd. Die literarischen Zugriffe sind jedenfalls ausgesprochen vielfältig, womit schon eine Stärke des Buches benannt wäre. Prosa steht neben Lyrik, auch das Genre der Graphic Novel kommt in Betracht, wenn es darum geht, wie wir im Sosein des Hier und Jetzt gelandet sind und wie es nun womöglich weitergehen könnte – nicht nur, aber auch „nach Corona“. Zwischen tiefem Ernst, Satire und freischwebendem Jux gibt es hier ebenso viele Spielarten wie Mitwirkende. Ein allemal anregendes, streckenweise auch aufregendes Kaleidoskop von Revier-Phantasien. Allein schon einige Zwischentitel machen Appetit, zum Beispiel: „Das Leben…ein Hinterhof“, „TikTok Meiderich Süd“ oder „Kurze Abhandlung über das Verschwinden der Dinge“. Geradezu unverschämt hoffnungsvoll klingt Frank Goosens Überschrift: „Alles ist gut und es wird noch besser.“ Echt jetzt?

Funktionierende Verwaltung

Um mal einen herzhaften Kontrast zu setzen, wenden wir uns nun einem Buch übers trocken anmutende Thema Verwaltungshandeln zu – aber was für einem! Der ruhmreiche Soziologie-Professor (und studierte Jurist) Niklas Luhmann ist, wie nicht allgemein bekannt sein dürfte, in jüngeren Jahren in der niedersächsischen Ministerialverwaltung tätig gewesen und hat ab Anfang der 60er Jahre an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer gewirkt. Theoretische Durchdringung der Materie und praktische Erfahrungen kommen also zusammen in seiner profunden Untersuchung „Die Grenzen der Verwaltung“ (Suhrkamp Verlag, 254 Seiten,  28 Euro), die selbst heute – rund 60 Jahre nach der Niederschrift – noch erhellende Einsichten bereithält. Allen Wandlungen zum Trotz, gibt es ja einen Kernbestand des Verwaltungshandelns, der sich nicht so rasch ändert. Dass funktionsfähige Verwaltungen auch und gerade gegenwärtig ein virulentes (!) Thema sind, wird wohl niemand bestreiten. Bei Luhmann finden sich dazu beispielhafte gedankliche Grundlagen.

Wilde Hauptstadt

And now to something completely different, wie einst die universell taugliche Überleitungs-Formel von „Monty Python“ lautete. Die Hauptstadt Berlin sieht sich immer mal wieder gern bespiegelt, auch rückblickend gibt sie einiges her. Erfolgsserien wie „Babylon Berlin“ zeugten neuerdings davon. Ebenfalls in den 1920er Jahren, allerdings verfasst aus authentischer Sicht der damaligen Zeit, spielt dieser Roman aus dem Jahr 1929. Yvan Goll: „Sodom und Berlin“ (Manesse, 184 Seiten, 20 Euro). Ein grandioses, herrlich grotesk überzeichnetes Zeitpanorama aus den „wilden Zwanzigern“. Der gebürtige Lothringer Yvan Goll bewegte sich, wann immer es möglich war, geläufig zwischen der französischen und deutschen Kultur und hat diesen Roman auf Französisch geschrieben. Gerhard Meier hat das allseits überbordende, geradezu brodelnde Werk neu übersetzt, das unbedingt eine Wiederentdeckung lohnt. Dafür plädiert auch Hanns Zischler in seinem Nachwort.

Inspirierendes Lesebuch

Gerd Herholz, langjähriger Leiter des Literaturbüros Ruhr in Gladbeck und gelegentlich auch Mitarbeiter der Revierpassagen, darf wohl als einer der besten Kenner des Werks von Sigismund von Radecki gelten. Wiederholt und sehr einlässlich hat er sich mit dem Autor befasst, der 1891 in Riga geboren wurde und 1970 in Gladbeck gestorben ist. Jetzt hat Herholz ein „Lesebuch Sigismund von Radecki“ (Aisthesis Verlag, 162 Seiten, 8,50 Euro) herausgegeben, dessen Textauswahl einen inspirierenden Ein- und Überblick zum Oeuvre erlaubt. Herholz‘ ausführliches Nachwort erschließt zudem einige wesentliche Aspekte des gesamten literarischen Schaffens, das in den 1920er Jahren einsetzte. Sigismund von Radecki pflegte zwar eine Freundschaft mit Karl Kraus, er ist aber beileibe kein typischer Vertreter des Literaturbetriebs gewesen. Studierter Ingenieur, schlug er sich als Schauspieler und Porträtzeichner durch, bevor er sich als Journalist und freier Autor verdingte, aber auch (kurz) Forstaufseher auf Usedom war. Seine oft anekdotisch verdichteten, humorvoll zugespitzten und zeitkritischen Alltags-Feuilletons sind vielfach noch heute lesenswert. Gewiss: Der zeitliche Abstand ist nicht zu verkennen, doch man merkt auch, wie pointiert Sigismund von Radecki die Verhältnisse seiner Zeit erfasst und stilsicher aufgezeichnet hat.

Was bleibt

Nach dem Tod ihrer Eltern hat Louise Brown ihr Leben geändert und sozusagen der Vergänglichkeit gewidmet. Sie ist Trauerrednerin geworden und hat sich im Laufe der Jahre eben nicht nur mit dem Tod, sondern gerade auch mit dem Leben und der Sinngebung befasst. In ihrem Buch „Was bleibt, wenn wir sterben“ (Diogenes, 252 Seiten, 22 Euro) versucht sie, Fragen zu den „letzten Dingen“ zu beantworten, die auf eine vertiefte Bejahung des Lebens hinauslaufen. Doch kein billiger, vorschneller Trost wird hier gespendet, sondern es sind offene, ehrliche und einfühlsame Worte, die dann eben doch tröstlich sind. Und schließlich kommt auch in diesem Buch die Trauer „in Zeiten von Corona“ zur Sprache.

 




„Dein Bücherregal verrät dich“ – Grant Sniders Cartoons aus der Lesewelt

Bücher über Bücher bilden bekanntlich ein eigenes Genre. Man denke nur an die zahllosen Publikationen über prächtige Bibliotheken oder herausragende Buchhandlungen. Just dort und auf Buchmessen machen sich solche Bände immer gut. Der US-Amerikaner Grant Snider reiht sich ein, durchpflügt das Thema zeichnerisch und zielt schon im Titel direkt auf die Lesenden: „Dein Bücherregal verrät dich“ (Original: „I Will Judge You By Your Bookshelf“).

Die Cartoons (Sniders erstaunliche Doppelbegabung laut Verlag: „tagsüber Kieferorthopäde, nachts Zeichner“) rufen mancherlei Wechselfälle des Lese- und Schreiblebens auf, so gut wie alles wird angetippt und flott durchbuchstabiert. Und alles, aber auch wirklich alles wird auf Lektüren bezogen. So führen die Stufen der Lebensleiter von der „Entdeckung“ allererster Bücher über einschlägige Schmöker-Stationen bis hin zur Weitergabe der Bücher an die nächste Generation. Außer Lesen nichts gewesen?

Nur ein paar Beispiele: Da findet man die „Ode an ein halbgelesenes Buch“ (soll man’s denn fertiglesen oder weglegen?), saust mit der windungsreichen „Erzähl-Achterbahn“ durch einen Roman oder erblickt Schriftstellers Leid und Freud in Form eines urbanen Wimmelbildes („Haiku-Hochhaus“, „Grammatik-Polizei“ und Müllwagen mit „Ideen für die Tonne“ inbegriffen). Grant Snider plädiert dafür, die üblichen Kinderbuch-Tiere zu ersetzen (Tapir statt Pinguin usw.), entwirft sodann ein launiges Schema zu Konfliktmustern in der Literatur, hübsch unterschieden nach klassischer, moderner und postmoderner Lesart.

Ferner geht’s um Sortier-Prinzipien fürs Buchregal, gängige Zutaten von Shakespeare-Dramen oder „Brotberufe berühmter Dichter*innen“ – ersichtlich langweilt sich T. S. Eliot als Bankangestellter, während Robert Frost sich als Farmer verdingt. Apropos: Snider bezieht sich vorwiegend auf den angloamerikanischen Sprachraum. Er lebt nun mal in Wichita (Kansas/USA) und zeichnet vor allem für die New York Times, den New Yorker sowie den Kansas City Star.

Der cartoonistische Zugriff bringt es schon mit sich: Hier wird nichts allzu ernst oder gravitätisch, sondern nach Möglichkeit alles recht leicht genommen. Liebenswert und stellenweise fast schon etwas schrullig ist die zeichnerische Detailfreude, mit der sich Snider in seinen Lesewelten ergeht. Keine Frage, dass hier ein echter Bücherwurm zugange ist.

Viel umfangreicher hätte das weitgehend monothematische Buch freilich auch nicht ausfallen sollen, sonst hätte es gewisse Schwächen wohl deutlicher offenbart. Über manche Idee wird man sicherlich schmunzeln, doch der eine oder andere Einfall Sniders ist wiederholungsträchtig, der zeichnerische Stil zwar ansprechend, aber letztlich auch limitiert. Die vorliegenden 128 Seiten erweisen sich gleichwohl als vergnüglich.

Grant Snider: „Dein Bücherregal verrät dich. Momente, die du nur kennst, wenn du Bücher liebst“. Aus dem Englischen von Sophia Lindsey. Penguin Verlag, München. 128 Seiten, durchgehend farbig, 16 Euro.

 




Hier haben alte weiße Männer nichts zu lachen – „Schande“ nach J. M. Coetzee im Bochumer Schauspielhaus

Szene aus der Roman-Adaption „Schande“ mit Amina Eisner (li.) , Dominik Dos-Reis. (Foto: Marcel Urlaub/ Schauspielhaus Bochum)

Im Grunde kann man so einen Stoff ja gar nicht mehr auf die Bühne bringen. Oder nur mit Schwierigkeiten. Denn wenn die Protagonisten in J. M. Coetzees Romanvorlage „Schande“ Schwarze und Weiße sind (darf man noch Schwarze sagen?), dann müssen sie ja auf der Bühne auch von Schwarzen und Weißen gespielt werden. Schwarz schminken ist nicht, das wäre „Blackfacing“ und somit auch eine Form der Diskriminierung.

Überhaupt passte es vorne und hinten nicht, weshalb aus der ursprünglichen Besetzung mit mehreren dunkelhäutigen Frauen aus Gründen rassistischer Unkorrektheiten oder so ähnlich nichts wurde. Letztlich steht jetzt neben drei weißen Männern nur eine etwas dunklerhäutige Frau auf der Bühne (Amina Eisner), und die auch nur deshalb, weil sie, wie sie sagt, freiberuflich arbeitet und das Geld braucht. Das alles erzählt sie uns vor Beginn der eigentlichen Handlung, und es ist der mit Abstand heiterste Teil des Abends. Dunkel aber beschleicht einen das Gefühl, dass dies alles auch genau so gemeint sein könnte wie vorgetragen, hundert Prozent ironiefrei.

Schmerzlicher Machtverlust

Handlung gibt es, zunächst, im Schnelldurchlauf. Erzählt wird die Geschichte des weißen Literaturprofessors David Lurie, der nach der Affäre mit einer schwarzen Studentin aus seinem Job fliegt und zu seiner Tochter Lucy aufs Land zieht, die dort eine Art Hundeklinik betreibt. Er muss miterleben, dass seine Tochter von einem Schwarzen vergewaltigt wird. Später erkennt er den Vergewaltiger wieder, doch der bleibt unbehelligt, weil er zum Clan von Petrus gehört, dem mächtigen schwarzen Paten der Region. Nichts kann Lurie an alledem ändern, so sehr er sich auch echauffiert. Aus dem privilegierten Literaturprofessor ist unübersehbar ein machtloser alter Mann geworden. Und Lucy, schlimmer noch, übereignet schließlich Petrus ihr Land und wird so etwas wie seine Drittfrau, um in Sicherheit leben zu können.

Dies erzählt uns, kräftig eingedampft, die Bochumer Inszenierung von Oliver Frljić, in der Dominik Dos-Reis, Marius Huth, und Victor Ijdens neben der schon erwähnten Amina Eisner in wechselnden Rollen das Geschehen vorantreiben. Alle vier zeigen viel Einsatz und Vitalität, so dass die im Grunde sehr naturalistisch-dialogisch gehaltene, manchmal auch etwas hölzerne Inszenierung trotz einiger überflüssiger Aktionen („Käfige stapeln“) alles in allem durchaus akzeptabel zu nennen wäre.

Victor Ijdens (links), Amina Eisner. (Foto: Marcel Urlaub/Schauspielhaus Bochum)

Vorwurfsvoll und unversöhnlich

Doch natürlich gibt sich diese Produktion nicht damit zufrieden, einen Coetzee-Roman auf die Bühne zu bringen, im Gegenteil: Die Geschichte ist kaum mehr als ein Vehikel, um möglichst viel kategorischen Antirassismus über dem Theaterpublikum auszugießen, die anhaltende Ungerechtigkeit der Weißen gegenüber den Schwarzen zu geißeln und den unglücklichen Literaturprofessor David Lurie gleichsam zum Prototypen des alten weißen Mannes zu ernennen. Und den südafrikanischen weißen (!) Autor Coetzee gleich mit, dem politisch korrekte Literaturkritiker – unter anderem kommt dies zum Vortrag – seinen Rassismus in den Figurenbeschreibungen längst schon nachgewiesen haben.

Publikum auf der Anklagebank

Zum Zweck der Läuterung wird einige Male das Spiel unterbrochen und die Schauspieler richten sich direkt an das Publikum, das dann kalt und weiß von oben herab beleuchtet wird. Im Kollektiv ist es ja quasi auch nur ein alter weißer Mann, der gefälligst ein schlechtes Gewissen zu haben hat. „Möchten Sie etwas sagen?“, fragt Frau Eisner dann in einem ersten großen Break, und die, die sich äußern, sind selbstverständlich betreten und betroffen. Kolonialismus und Ausbeutung kommen zur Sprache, doch es hilft alles nichts. „Warum glaube ich euch nicht?“, muss Frau Eisner späterhin fragen. Und fortfahren: „Als ihr uns versklavt habt, da ging es auch nur um euch. Aber ich hasse euch nicht dafür. Euch zu hassen wäre zu einfach…“ Und so weiter. Das mag im Roman ein ergreifender Monolog sein, als Rede an das Publikum ist es hier grotesk.

Der dritte Mann: Marius Huth, umgeben von viel antirassistischer Literatur. (Foto: Marcel Urlaub/Schauspielhaus Bochum)

Soundteppich

Der Vollständigkeit halber seien noch weitere Stilmittel erwähnt wie das beharrliche Ticken einer Uhr oder die Videoaufnahmen von Luries Verhandlung und Meldungen darüber, die sich im Nachrichten-Laufband am unteren Fernseh-Bildschirmrand – dies immerhin ein netter kleiner Einfall – einreihen in „richtige“ Meldungen des Tages (Bühne: Igor Pauška). Außerdem stets präsent ist ein bassträchtiger Soundteppich, der nach Bedarf wummert, grummelt und raunt. Und wenn der Saal ganz traurig sein soll, erklingt ein Streichquartett in Moll.

Vielleicht funktionierte eine Produktion wie diese in einem Land wie Südafrika oder den USA mit ihrem unübersehbaren Schwarz-weiß-Rassismus, der sich aus der historischen Erfahrung der Sklaverei speist. „Black Lives Matter“ ist dort angesichts polizeilicher Übergriffe eine geradezu tagespolitisch aktuelle Parole. Deutsche Rassismus-Erfahrungen aber sind anders, die Auseinandersetzung mit ihnen müsste es ebenso sein. Deshalb schießt diese Bochumer Inszenierung mit ihren Mätzchen und Peinlichkeiten ziemlich ins Leere. Die konstante Vorwurfshaltung, der hohe moralische Ton, aber auch der eigentlich respektlose Umgang mit der literarischen Vorlage sind, um das Mindeste zu sagen, nicht nachvollziehbar. Und nur ganz, ganz leise möchte man zum Ende hin doch wenigstens, andeuten, dass auf dem Theater gerade die schweren Themen mit Humor oder gar Ironie sehr gewinnen können, man denke nur George Taboris Arbeiten. Und vielleicht sogar an den Einstieg in diesen alles in allem sehr unbefriedigenden Theaterabend.

Freundlicher Beifall im nicht nur wegen der Corona-Beschränkungen sehr luftig besetzten Großen Haus.

www.schauspielhausbochum.de

 




„Ohne Schreiben hätte es kein Leben gegeben“ – Zum 70. Geburtstag von Hanns-Josef Ortheil

Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Er schreibt Romane, Essays, Reisenotizen und Bücher über Musik. Das Gesamtwerk des am 5. November 1951 in Köln geborenen Hanns-Josef Ortheil umfasst bisher siebzig Werke. Zum 70. Geburtstag des viel gelesenen Autors, dessen Werk mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, kommen zwei weitere Bücher hinzu.

Hanns-Josef Ortheil auf der Buchmesse 2016. (Foto: Released by Verlagsgruppe Random House / Wikimedia) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

„Ombra“ ist der „Roman einer Wiedergeburt“. Denn vor zwei Jahren war der Autor dem Tod näher als dem Leben. Er hatte bereits das Gefühl, von seinen verstorbenen Eltern und toten Geschwistern erwartet und willkommen geheißen zu werden. Dass die toten Familienmitglieder ihm nahe sind, wissen wir aus vielen seiner Bücher. Aber ihnen tatsächlich wieder zu begegnen, war dann doch ein Schock.

Bei einer Routine-Kontrolle hatte sein Hauarzt eine schwere Herzinsuffizienz festgestellt. Die anschließende Operation verlief nicht ohne Komplikationen und dauerte viele Stunden. Danach lag Ortheil mehrere Tage im Koma, sein Leben stand auf der Kippe. Erst als ihn die Ärzte anbrüllen, er solle doch endlich aufwachen, schlägt er verdutzt die Augen auf und fragt in seinem leichten ironischen und larmoyanten Tonfall, den wir so an ihm schätzen: „Warum um Himmels willen schreien Sie denn so?“

Vor und nach der schweren Krankheit

In seinem Roman literarisiert und fiktionalisiert Ortheil, was ihm widerfahren ist, was er erlebt hat im Reich der Toten und wie seine schwierige Wiedergeburt vonstatten ging. Ihn überkommt ein Gefühl der Ohnmacht und Angst. Alles, was sein Leben ausmacht, ist ihm abhanden gekommen: Seit frühester Kindheit hat er jeden Tag Klavier gespielt und jeden Tag einige Sätze aufgeschrieben, viele seiner Romane beruhen auf diesen Kindheitsnotizen, die er immer mit der Hand und mit dem Bleistift auf weißes Papier skizziert, bevor er sie überarbeitet und fein säuberlich abtippt.

Doch nun hat er keine Kontrolle mehr über seine Hände und Finger, er muss alles neu lernen, kann nicht mehr schreiben und Klavier spielen, muss herausfinden, wie es zu der schweren Krise gekommen ist, wer er vor der Krankheit war und wer er in Zukunft – falls es sie überhaupt gibt – sein will. Er zieht ins verwaiste Haus der Eltern im Westerwald und fährt jeden Tag in eine Reha-Klink, treibt dort Sport, Joga und Gymnastik und macht dabei (auch das beschreibt er mit herrlicher Selbstironie) eine ziemlich lächerliche Figur. Außerdem spricht er mit der Reha-Psychologin, die ihn auf seinem Weg in die Abgründe seines Lebens begleitet und manche verdrängte Einsicht zutage fördert.

Nach und nach wird ihm klar, dass er ein Opfer seiner Schreib-Wut ist, dass er allein in den Monaten vor der Krise drei Bücher geschrieben hat, die ihn an tiefe Ängste und Erlebnisse seines Lebens erinnert und ihn regelrecht krank gemacht haben. Eines handelt von der „Mittelmeerreise“, die er als Kind mit seinem Vater unternommen hat, mit dem Dampfer von Antwerpen nach Athen und Istanbul, im Gepäck Homers „Odyssee“, die er heute noch auswendig aufsagen kann, eine Reise, die ihm geholfen hat, das Verstummen zu überwinden. Denn Ortheil wurde von seiner Mutter, die vier Kinder verloren hatte und kein Wort mehr sprach, komplett von der Welt abgeschirmt, so dass er als Kind ebenfalls verstummte und nur durch die zupackende Art seines Vater und die Aufforderung, alles was er sieht und denkt, aufzuschreiben, gerettet wird.

Mit einem Hemingway-Buch in die Krise

Direkt in die Krise geführt, und das wird Ortheil jetzt klar, hat ihn sein Buch über Ernest Hemingway, „Der von den Löwen träumte“: Ortheil reist auf den Spuren von Hemingway, der seit Jahren keinen Roman mehr zustande gebracht hat, nach Venedig, redet mit Zeitzeugen, schippert durch die Lagune, übernachtet in der Herberge, in der Hemingway 1948 schlief. Er rekonstruiert den Roman, den Hemingway hier endlich schreiben konnte: „Über den Fluss und in die Wälder“. Ortheil identifiziert sich mit der Hauptfigur des Romans, einem herzkranken Soldaten, und merkt nicht, dass er selbst eine Herzkrankheit entwickelt, die ihn fast umbringt, und die er nun verstehen und – am besten schreibend – überwinden muss.

Aber weil die Finger ihm nicht gehorchen und er nicht mehr schreiben kann, diktiert er alles, was er in der Reha erlebt und was er ausbaldowert, um ins Leben zurückzufinden, in sein Smartphone. Abschreiben und literarisch umformen kann er es erst, nachdem er (auf Anregung seiner Psychologin) Stifte und Papier besorgt und einfache Malübungen macht, Striche zieht, Buchstaben kritzelt, bis daraus, nach Monaten, wieder so etwas wie eine eigene Handschrift wird.

Hilfreich ist auch, dass er seine Selbst-Isolation aufgibt, mit seinem besten Freund ein paar Kölsch kippt, eine Rembrandt-Ausstellung besucht, versuchsweise den Sendesaal des WDR betritt, in dem er bald aus seinem Hemingway-Roman vorlesen soll. Er stellt sich der Vergangenheit, indem er im Viertel seiner Kölner-Kindheit eine Bleibe sucht und im Ort, wo seine Eltern bis zu ihrem Tod gelebt haben, eine Ladenwohnung mietet und dort alte Möbel, Fotos und Notizen zu einem öffentlich zugänglichen Ortheil-Archiv zusammenstellt. Als er die Reha beendet, rät ihm seine Psychologin, es wäre vielleicht hilfreich, wenn er mit jemandem, der seine Bücher kennt, über sein manisches Schreib-Bedürfnis spricht.

Das Ende des Romans führt deshalb direkt zum nächsten Buch: „Ein Kosmos der Schrift“, ein dreitägiges Gespräch über die Autobiographie seines Schreibens von der Kindheit bis heute, das Ortheil mit seinem Lektor Klaus Siblewski geführt hat und in dem Ortheil zur Erkenntnis gelangt: „Das Schreiben war immer notwendig und existenziell. Ohne Schreiben hätte es kein Leben gegeben. Es war der Kommentar zum Leben, seine Verankerung, seine Vertiefung, seine Deutung.“

Hanns-Josef Ortheil: „Ombra“. Roman einer Wiedergeburt. Luchterhand, München 2021, 299 Seiten, 24 Euro.

„Ein Kosmos der Schrift“. Hanns-Josef Ortheil zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Imma Klemm. btb, München 2021, 364 Seiten, 12 Euro.




Durch Apps die Welt beherrschen – Dave Eggers konstruiert mit seinem Roman „Every“ eine digitale Dystopie

Sie heißen „TellTale“ und „TruVoice“, „OwnSelf“ und „HappyNow“, „Should I“ und „Friendy“: nur einige von unzähligen kostenlosen Apps, die demnächst jeder Mensch auf seinem Smartphone hat. Sie machen aus dem Leben ein Rundum-Sorglos-Paket. Helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und uns ständig selbst zu optimieren.

Viel mehr noch: Sie beraten uns beim Einkauf, reduzieren das Überangebot und verbannen umweltschädliche Produkte. Sorgen dafür, dass unser CO2-Fußabdruck kleiner wird und wir durch bewussten Verzicht und Ressourcen schonendes Handeln das Klima retten. Verraten uns, ob wir glücklich sind und vermeintliche Freunde uns nur etwas vorflunkern. Sie hören mit und sprechen mit uns, sie wissen, was wir denken und fühlen und geben uns Ratschläge, welche Wörter diskriminierend und tunlichst zu vermeiden sind. Eine App („WereThey?“) kann ermitteln, ob unsere Eltern immer gut zu uns waren, eine andere („FictFix“) ist behilflich, unsympathische Figuren aus Romanen zu entfernen. Mit „EndDis“ können Archivare unangemessene Bilder und Texte für immer löschen.

So sieht sie aus, die schöne neue Welt, die da draußen wartet, nur ein paar Monate oder Jahre entfernt. Oder ist sie vielleicht schon da? Gibt es überhaupt noch ein „Draußen“? Wozu sollten die Menschen noch vor die Tür gehen, wenn ihnen alles ins Haus geliefert wird, wenn sie Urlaubsreisen nur noch per Video-Guide mit dem Smartphone machen, sie auf der Straße oder in der U-Bahn jeden Unbekannten mit einer App taxieren können, ob er ein Vergewaltiger oder Mörder ist?

Alle Konkurrenten geschluckt

„StayStil“ heißt eine zig-millionenfach benutzte App, die von „Every“ entwickelt wurde, dem digitalen Mega-Monopol: größte Suchmaschine, größter Social-Media-Anbieter, größter Software-Entwickler, größtes Onlineversandhaus der Welt. „Every“ hat alle Konkurrenten geschluckt und kauft jede Woche unzählige Start-Ups dazu. Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft: alles Schnee von gestern. „Every“ kontrolliert die Gedanken und die Wünsche. Natürlich auch die Politik. Wer Kritik an „Every“ übt, digitale Regulierungsmaßnahme fordert und die Freiheit des Individuums anmahnt, wird über die sozialen Netzwerke sofort in die Hölle des Vergessens verbannt.

Gegen die gefährliche Machtfülle von „Every“ war die Zukunftsvision von „Circle“ nur ein ein harmloses Vorspiel: der sektenartige „Circle“ ist, so will es Autor Dave Eggers, von „Every“ einverleibt und ausgespuckt worden worden. Weil auch in der realen Welt alles noch viel schlimmer gekommen ist, als er es in seiner (allein im deutschsprachigen Raum über 600.000 Mal verkauften) „Circle“-Science-Fiction prophezeite, hat er jetzt seinen futuristischen Horror weitergedacht, das lockere Fäden-Logo von „Circle“ zum kompakten „Wollknäuel“ verdichtet, aus dessen Zentrum uns ein Auge anstarrt. Es registriert und bewertet alles. Wahrscheinlich auch die Lektüre des Romans.

Nur ein Abklatsch von Orwell und Huxley

Dass wir von Seite zu Seite genervter und gelangweilter sind, wird dem alles sehenden Wollknäuel nicht gefallen. Aber was sollen wir machen: Ein Ziegelstein-dicker Roman, der sich anschickt, Orwells analoge Alpträume ins digitale Zeitalter zu verlegen und uns vor dem endgültigen Sieg von Huxleys furchterregend schöner neuer Welt warnt, kann nur ein matter Abklatsch werden. Vor allem, weil Eggers keine Figuren aus Fleisch und Blut erfindet, die einen mitleiden lassen, keine Handlung, die einen emotionalen Schock entfacht oder einen intellektuellen Denkraum aufschließt, keine Sprache, die einen fasziniert und betört und zum Durchhalten animiert. Stattdessen nur Digital-Talk, endloses Gequassel über neue Apps und weitere Möglichkeiten, den Terror der Transparenz auf die Spitze zu treiben und den gläsernen Menschen zu kreieren, der sich in einer chaotischen, von der Klimakatastrophe Welt bedrohten Welt nach Ordnung und Sicherheit sehnt und bereit ist, seine Freiheit aufzugeben und an „Every“ abzutreten.

Doch wer ist „Every“, was will der neue digitale Welt-Herrscher? Wie könnte man seine Macht brechen und das Monstrum zerstören? Delaney Wells, ehemalige Försterin und unerschütterliche Technikfeindin, will das herausfinden, den Konzern unterwandern und vernichten. Sie schleust sich ins System ein, wird Mitarbeiterin bei „Every“, dessen Zentrale auf einer Insel in der Bucht von San Francisco liegt. Sie füttert die Firma mit Ideen, regt neue Apps an, von denen sie hofft, sie würden die User zum Widerstand anregen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Den Menschen gefällt es, von „Every“ in jeder Lebenslage beraten und bespielt, beschützt und beglückt zu werden: „Geheimnisse sind Lügen“ lautet eine der „Every“-Parolen. Weg also mit allen Geheimnissen, Unsicherheiten und Unwägbarkeiten.

Bevölkert von seelenlosen Mutanten

Glauben Delaney und ihr verträumter Computer-Freund, der zottelige Späthippie Wes Kavakian, wirklich, „Every“ von innen heraus zerstören zu können? Dass es bei „Every“ eine „Widerstandsgruppe“ geben könnte, die nicht schon längst erkannt und infiltriert wurde? Wo Apps herrschen, brauchen keine Bücher und Menschen bei einer Temperatur von Fahrenheit 451 verbrannt werden. Aber natürlich platzen in diesem literarisch völlig substanzlosen Roman alle Träume von einer besseren Welt und enden in der digitalen Dystopie.

Hätte der vom technischen Firlefanz zugleich faszinierte wie erschrockene Autor nicht über unzählige Seiten Dutzende Apps erfunden und beschrieben, wäre ihm vielleicht ein spannender, aufrüttelnder Roman gelungen, bevölkert nicht von digitalen Mutanten, sondern von richtigen Menschen. Keiner, sagt einmal ein „Everyone“, die für das Kürzen und Aktualisieren von Literatur zuständig sind, will einen Roman lesen, der länger ist als 577 Seiten. Hätte fast gepasst. Mit Dank, Inhalt, Hinweis zum Autor und auf den von ihm gegründeten Verlag McSweeey´s sind es denn doch leider ein paar Seiten mehr geworden.

Dave Eggers: „Every“. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Zimmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 583 S., 25 Euro.

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Dave Eggers und seine Vetriebskanäle

Die Bücher von Dave Eggers, geboren 1970, werden viel und kontrovers diskutiert. Sein Roman „Der Circle“ war weltweit ein Bestseller. Der Roman „Hologramm für den König“ war für den National Book Award nominiert, für „Zeitoun“ wurde ihm der American Book Award verliehen. Die Originalausgabe von „Every“ erscheint in den USA nur in dem von Eggers gegründeten unabhängigen Verlag „McSweeney´s“. Bei Amazon und anderen Handelsketten ist er zunächst nicht verfügbar. Taschenbuch, E-Book und Hörbuch erscheinen einige Wochen später im amerikanischen Verlag Vintage und werden dann auf allen Kanälen verkauft. Da die britische Ausgabe schon jetzt im deutschsprachigen Raum verfügbar ist, kann auch Kiepenheuer & Witsch den Roman vertreiben. (FD)

 




Mathematiker kontra Verbrecher – Antti Tuomainens Comedy-Thriller „Der Kaninchen Faktor“

Es beginnt ausgesprochen rasant – mit einer Verfolgungsjagd durch einen abendlich geschlossenen Vergnügungspark. Hinter dem Ich-Erzähler Henri Koskinen ist ein mit Messern bewaffneter Mann her. Nur gut, dass Koskinen eins dieser riesigen Hasenohren aus Metall zu fassen bekommt und…

Besagter Henri Koskinen ist, wie er stets staubtrocken betont, von Haus aus Versicherungsmathematiker und setzt allzeit auf Rationalität, auf berechenbare Wahrscheinlichkeiten. Seelischer Kram interessiert ihn nicht. Natürlich bleibt es nicht dabei. Natürlich muss gerade eine solche Figur mit verwirrenden Realitäten, ja mit Chaos konfrontiert werden – und auch mit der Liebe. Dass es dabei fortlaufend zu irrwitzigen Situationen kommt, das walte der finnische Autor Antti Tuomainen, der mit „Der Kaninchen Faktor“ (ohne Bindestrich) einen Thriller mit Comedy-Elementen vorlegt. Sein deutscher Verlag Rowohlt preist ihn schon auf dem Cover als „Die Nr. 1 aus Finnland“ an. Klappern gehört zum Handwerk.

Rausfliegen statt zur Sonne fliegen

Tag für Tag und jahraus jahrein hat Koskinen für seine Versicherung in Helsinki Unfall-Wahrscheinlichkeiten und dementsprechende Prämien scharf kalkuliert. Herrlich grotesk die Szenen aus dem Büroalltag. So hätte es schier ewig weitergehen können, wäre da nicht der neue Abteilungsleiter, der die angesagtesten Motivations-Methoden einführen will. Im Psycho-Jargon säuselt er vom Teambuilding, bei dem alle in der Kollegenschaft „die Gegenwart des anderen genießen“, mehr noch: „Es gibt Mitarbeiter, die sagen, dass sie sich erst hier bei uns entdeckt haben (…) Sie erkennen, dass sie (…) auch als Menschen gereift sind, ein neues Level erreicht haben.“ Sodann die Apotheose des offenbar himmelwärts ausgerichteten Betriebsklimas: „Wir fliegen. Wir fliegen zur Sonne.“ Welch eine kolossale, ja universale Versicherung!

Das Ende vom Lied ist freilich, dass Koskinen, der solchen Kokolores nicht mitmachen, sondern einfach weiter vernünftig rechnen will, seine Kündigung erhält.

Und jetzt? Geht die Geschichte erst richtig los.

Ein Kater namens Schopenhauer

Es stirbt Koskinens Bruder Juhani, ein Leichtfuß, der nach vielen, vielen Jobs und windigen Projekten zum Schluss den Vergnügungspark „DeinMeinFun“ betrieben hat. Den erbt der neuerdings arbeitslose Henri Koskinen. Sollte das eine Chance sein? Ob sich eine solche Unternehmung auch mit mathematischen Fähigkeiten leiten ließe? Das gilt es zu beweisen. Wenn’s mal hart auf hart kommt, hilft die Besinnung auf den heilsamen Pessimismus des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer, den selbst der stocknüchterne Mathematiker gelten lässt. Sogar seinen Kater, mit dem Koskinen als Single zusammenlebt, hat er so genannt: Schopenhauer.

Um eben noch dies klarzustellen: Eigentlich handelt es sich bei „DeinMeinFun“ gar nicht um einen Vergnügungspark, sondern um einen Abenteuerpark. Einer von etlichen Running Gags: Koskinen wird nicht müde, diesen feinen Unterschied herauszustreichen. Im Vergnügungspark bekämen die Kids alles vorgesetzt, im Abenteuerpark mit seinem kaum erträglichen Dauerlärm müssten sie selbst aktiv werden. Gut, dass wir öfter mal drüber geredet haben.

In die Gefilde der Kunst gelockt

Mathematische Präzision hin oder her: Die ganze Sache scheint unberechenbar zu sein. Genüsslich schildert Tuomainen, welche seltsamen Vögel zum Personal gehören. Kinogeher werden sich vielleicht ans Figureninventar diverser Kaurismäki-Filme erinnert fühlen. Oder schnappt diese Assoziation nur wegen der finnischen Schauplätze ein?

Zum Personal zählt auch die reichlich gewiefte Laura Helanto, in deren Gegenwart sich Koskinen so seltsam verwirrt fühlt. Er verliebt sich alsbald in sie (und merkt es nur ganz allmählich, zunächst gleichsam widerstrebend). Von ihr lässt er sich in die Gefilde der Kunst locken. Man denke nur! Apropos: Liebesszenen sind Antti Tuomainens größte Stärke nicht. Ansonsten aber ist dies ein ziemlich fesselnder, durchaus clever gebauter Spannungsroman mit einem gehörigen Schuss Komik, den man einfach gerne liest, um nicht zu sagen: munter wegliest. Nicht mehr und nicht weniger.

Allgegenwärtige Bedrohung

Weitaus gravierender als die Marotten und Ansprüche des kleinen Mitarbeiterstamms wirkt sich aus, dass einige Kriminelle sich in die offenbar zwielichtigen Geschäfte des Parks mengen und Koskinen entschieden nach dem Leben trachten. Die Bedrohung ist allgegenwärtig. „Eidechse“, Spatengesicht und ihre mehr als muskulösen Helfer kennen keinerlei Mitleid. Koskinen muss auch schon mal schaudernd mit ansehen, wie in seinem Beisein ein säumiger „Schuldner“ aufgeknüpft wird.

Abermals fragt sich: Kann man auch solche Finsterlinge mit den Kräften mathematischer Logik bezwingen? Die „Rechenaufgaben“, die sich dabei stellen, sind verdammt kompliziert. Gegen Ende zeigt sich, dass der vermeintlich so kühle Kalkulator die Fäden längst gar nicht mehr allein in der Hand hat. Sollte gar ein „höheres Wesen“…? Aber lest doch selbst.

Antti Tuomainen: „Der Kaninchen Faktor“. Roman. Aus dem Finnischen übersetzt von Niina Katariina Wagner und Jan Costin Wagner. Rowohlt (Reihe „Hundert Augen“), Großformatiges Paperback, 350 Seiten, 16 Euro.

 

 




Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit

Im heimatkundlichen Angebot der Hagener Jubiläumsausstellung sind selbstverständlich auch alte Postkarten. (Bild: Stadtarchiv Hagen/Osthausmuseum)

Die schwarze Reiseschreibmaschine Ernst Meisters steht hier, die farbbedeckte Staffelei Emil Schumachers. Einen alten Kinderwagen hat man auf das Podest gehoben, biedermeierliche Möbel fördern nostalgische Empfindungen. Und an den Wänden setzt eine auf Eindruck bedachte Malerei vergangener Jahrhunderte wichtige Männer in Szene.

Hagen im Heimatmuseum ist eigentlich nichts Besonderes – sieht man einmal davon ab, dass das Heimatmuseum seine Bestände nun im Osthaus-Museum aufgebaut hat. Anlass ist das 275-jährige Stadtjubiläum, das hier mit einem eindrucksvollen Ausstellungsprojekt gefeiert wird, Titel: „Hagen – die Stadt“.

Karl-Ernst Osthaus ist noch sehr präsent

Ein weiterer zentraler Raum ist voll von Portraitfotos, großen und kleinen, alten und neuen. Er soll dem Publikum wohl vermitteln, dass die Menschen die Stadt ausmachen, keine ganz neue Erkenntnis. Doch was fällt einem zu Hagen außerdem noch ein? Was ist das Besondere? Da wäre natürlich Karl-Ernst Osthaus zu nennen, Industrieller, Sammler und Förderer der modernen Kunst im frühen 20. Jahrhundert, dem das Museum seinen Namen verdankt. Die Architektur des Gebäudes, die bauliche Leichtigkeit und Jugendstil so entspannt verbindet, atmet immer noch den Geist dieses Mäzens. Und auch die heutigen Bestände, die leider nicht identisch sind mit der nach Essen verkauften Sammlung, lassen an die vergleichsweise glücklichen Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise denken.

Auch das ist Hagen: Rockband Grobschnitt im Jahr 1978. (Bild: Ennow Strelow/Osthausmuseum)

Hotspot

Mehr als ein halbes Jahrhundert danach sind die ortstypischen Sensationen von ganz anderer Art. Anfang der 1970er Jahre wird Hagen zu einem Hotspot der deutschen Rockmusik. Die Gruppe „Grobschnitt“ erregt bundesweite Aufmerksamkeit, „Extrabreit“ formieren sich, ebenso Nena Kerners erste Kapelle mit dem Namen „Stripes“. „Mein Mann hat den Bass gespielt“, erinnert sich Heike Wahnbaeck bei der Präsentation der üppigen Grobschnitt-Abteilung im Souterrain des Museums. Sie hat diesen Teil der Jubiläumsausstellung erarbeitet, mit zahlreichen Fotos, Plakaten, Zeitungsausschnitten, Videos und Tourneeplänen.

Eine komplette Bühne ist aufgebaut, Besucher bestaunen die antike Technik, die teilweise doch recht zeitlos wirkt. Wichtig ist Frau Wahnbaeck, dass es nicht nur um einige bekannte Bands, bekannte Musiker ging. Hagen, erinnert sie sich, war damals auch ein Zentrum für Studio- und Bühnentechnik, kaum irgendwo sonst waren die Roadies so professionell wie hier. Viele Fotos zeigen sie traut vereint, die Musiker und die Männer, die schleppten, schraubten und pusselten, damit die Gigs wie geplant über die Bühnen gehen konnten. Rund 50 Jahre sind seit den Anfängen vergangen, und das Jahr der Abschiedstournee, 1989, liegt auch schon über 30 Jahre zurück.

Hagen-Rock, Teil II: Kai Schlasse, Sänger von Extrabreit, im Jahr 1984. (Bild: Ennow Strelow/Osthausmuseum)

Ennow Strelows Fotos

Was aus der Szene wurde? Viele Leute leben nicht mehr, viele Lebenswege verlieren sich. Doch manche Biographien wurden fortgeschrieben. Wir wechseln in die nächste Abteilung der Ausstellung, die einen Großteil des Museums füllt. Der Fotograf Ennow Strelow, der „Extrabreit“ und andere Bands getreulich begleitete, hat auch viele andere Menschen portraitiert, Hagener und Personen mit markantem Hagen-Bezug. Zu den Portraitfotos hat er Kurzbiographien geschrieben. Bei ihm nun taucht Eddy Kante auf, der, als er noch viele Haare auf dem Kopf hatte, zum Umfeld der Hagener Bands gehörte. Später, ohne Haare, wurde er Bodyguard von Udo Lindenberg. Die beiden sollen lange Jahre gut befreundet gewesen sein, bis Eddy Kante eine Lindenberg-Biogaphie schrieb, die diesem nicht gefiel. Aus war es mit der Freundschaft.

An der gesellschaftlichen Peripherie

Ennow Strelows fotografischer Beitrag zum Stadtjubiläum, besticht alleine schon durch den Fleiß, der hier erkennbar wird. Ja, er hatte auch Prominenz vor der Linse, Peter Schütze vom Hagener Theater etwa oder Jürgen von Manger, ebenfalls ein Sohn der Stadt Hagen. Doch viel Sympathie brachte er auch Menschen in der gesellschaftlichen Peripherie entgegen, dem Flaschensammler Paul zum Beispiel, Flaschen-Paul genannt, oder dem Schrauber Charly Haschke, der auch auf größere Entfernung noch stark nach Werkstatt roch.

Hagens bekanntester Dichter Ernst Meister griff gerne auch zum Pinsel. Dieses Aquarell „ohne Titel“ aus dem Jahr 1956, 32 x 24 cm groß, ist jüngst in das Eigentum des Osthaus-Museums übergegangen (Bild: Reinhard Meister/Osthausmuseum)

Meisters Bilder

Schließlich gibt es noch ein bisschen Kunst zu sehen, Kunst sozusagen in der kleinen Form, aber dafür um so beeindruk-kender. Das Museum hat als Schenkung ca. 50 Bilder erhalten, die der Hagener Dichter Ernst Meister schuf. Er hat, was weniger bekannt ist, gerne auch gemalt. Erste Arbeiten ab ca. 1954 erinnern, in den Worten von Museumsdirektor Tayfun Belgin, hier und da an Kandinsky oder das Bauhaus, doch spätestens in den frühen 70er Jahren fand er zu einer eigenen Bildsprache, abstrakt und expressiv, stark reduziert in den Gestaltungsmitteln. 13 weitere Bilder schließlich stammen vom Hagener Maler Horst Becking. Er hat sie zu Gedichten von Ernst Meister geschaffen, farbenfrohe Stücke, vereinzelt gegenständlich wahrzunehmen, auch eine Übermalung ist dabei. Bilder und Texte finden sich in einem kleinen Büchlein wieder, das das Museum herausgibt.

Man hätte gerne mehr gewusst

Viel Originelles ist hier also versammelt, was zwingend gar nicht den Anlass „Stadtjubiläum“ gebraucht hätte. Bei angemessener Gewichtung der stadthistorischen Anteile hätte man dem berühmten Maler Emil Schumacher natürlich mehr Raum geben müssen, doch nun gut, der hat sein eigenes Museum gleich gegenüber. Trotzdem wäre gerade bei ihm doch zu fragen, was ihn zeitlebens in Hagen hielt. Auch Nena hätten wir gern prominenter platziert gesehen, ohne deshalb die Hagener Rock-Szene vernachlässigen zu wollen. Jürgen von Manger ist wenigstens ein Video-Räumchen vorbehalten, wo seine alten Fernsehauftritte laufen.

  • „Hagen – die Stadt. Geschichte, Kultur, Musik“
  • bis 21.11.2021
  • Osthaus Museum Hagen, Museumsplatz 1, Hagen
  • Di-So 12.00 – 18.00 Uhr, Eintritt frei, Maskenpflicht
  • www.osthausmuseum.de

 




Verlassen für alle Zeit – „Nicht mehr. Mehr nicht“, das neue Buch von Botho Strauß

Nein, beim Lesen dieses Buches gilt es nicht, von A bis Z oder auch nur phasenweise zu „verstehen“. Gegen solche schnöden Kategorien sperrt sich der Text vielfach und nachdrücklich. Vielleicht sollten Lesende sich möglichst absichtslos im (häufig stockenden) Textfluss treiben lassen, doch immer wieder aufmerken.

Wie bei Botho Strauß kaum anders zu erwarten, sondert sich auch sein neues Werk „Nicht mehr. Mehr nicht“ entschieden von alltäglicher Sprache und überhaupt vom Ruch der Gegenwart ab. Der Blick richtet sich ganz aufs Vergangene und Verlorene: „Und es werden schreckliche Zeiten sein, die kein Einstweh mehr kennen.“

Mythen und Metamorphosen

In zahllosen, schier unendlich kreisenden, aber dann doch im Verzagen und Verstummen endenden Variationen vernehmen wir Monologe einer vom Geliebten Verlassenen. Es ist die Dichterin Gertrud Vormweg, die sich freilich in allerlei mythische Gestalten, Situationen und Metamorphosen versetzt, um ihr namenloses Leid vielleicht doch noch fassen oder ertragen zu können. So imaginiert sie sich als karthagische Königin Dido (alias Elissa), bei der Aeneas (alias Lionardo) nicht bleibt. Jener entglittene Geliebte wird als Flüchtling oder Migrant bezeichnet, in ihrer schmerzgetränkten Erinnerung erscheint er einerseits als äußerst behutsam und einfühlsam, dann wieder als gänzlich selbstbezogener Mann, der im Nachhinein auch ihren Zorn anstachelt. Rückblickend und bis zum Ende hin bleibt der Abwesende ungreifbar wie ein Phantom. Mit seinem Fernbleiben rieselt schier alles dahin, auch Schrift, Gedanken und Töne lösen sich auf. Einmal wird das Bild der alles mit sich reißenden Flut aufgerufen, aber natürlich nicht als Tagesereignis, sondern als biblische Metaphernquelle und Mythos.

Jenseits der Lebensweisheit

All das erweist sich als großer, zutiefst ernsthafter Gegenentwurf zu den leichtfertigen Trennungen in unseren Zeiten und Breiten. Statt dessen diese zeitlos gültige Choreographie der Paarungen:

„Drei Körperkehren ergeben ein Zuzweit: Anblick Umarmung Begleitung.
Voreinander Ineinander Nebeneinander.
Eine vierte aber ist Abkehr des einen vom anderen.“

Vom Satz- und Schriftbild her wirkt das Ganze beinahe wie eine Aphorismensammlung, auch inhaltlich ließe sich manche Zeile so auffassen, doch geht es wahrlich nicht um Lebensweisheiten, dazu ist das allermeiste viel zu rätselhaft. Oder wie soll man es nennen, wenn ein Mann vor dem nackten Frauenleib kauert „wie die Deutschen in den Kriegsjahren vor ihrem Volksempfänger, wenn sie den feindlichen Sender hörten.“ Andere Sätze wiederum klingen nach Maximen und Reflexionen, etwa dieser: „Gemessen am Tod verläuft jedes Leben ereignislos.“ Oder auch: „Sich wichtigtun ist unter den Menschen das meiste Tun.“

Auf der Suche nach Chiffren

Zuallermeist weitab vom üblichen Sprachgebrauch und etwaiger Sinnstiftung, deuten sich Partikel uralter Überlieferungen an, kommt somit auch etlicher Bildungsstoff zum Vorschein. Es werden dazu Spurenelemente der Hoch- und Weltliteratur, zumal der ambitioniertesten Lyrik aufgeboten. Zitat der Dichterin: „Wenn schon allein, dann unter Vorbildern begraben.“ Zur Linderung dringlich gebraucht werden Hieroglyphen, werden „Chiffren, die Asyl gewähren den vor Kommunikation geflohenen Worten.“ Dabei kommt es, gottlob sehr selten, auch zu verbalen Verstiegenheiten von solcher Art:

„Der eine heißt Nach-Dir, die andere heißt Vor-Mir. Aber Sie – Er? Da fehlt noch das rettende g, Sie-g-er! … Wer?“

Erlesen ist ansonsten nicht allein die Auswahl der Dichtungen, sondern der ganze sprachliche Duktus, der durchweg kühn und zuweilen tollkühn anmutet. Da wird ein Frauenschuh nicht einfach abgestreift, sondern von der Ferse geschelft. Da tauchen rare Worte auf wie „Proskynese“, „Kukulle“, „verschlaubt“ oder „Etmal der Liebe“, der vollzogene Geschlechtsakt wird umschrieben mit „zupaar gegangen“. Fremd steht uns das entgegen.

Sehnsucht nach Ausbleichen und Erlöschen

Überhaupt ist dies abermals eine schwierige, ja gewichtig lastende, doch durch alle Mühen hindurch ertragreiche Lektüre. Die Verlassene sammelt mit kunstvollen (nur gelegentlich vom Entgleisen bedrohten) Formulierungen Sprachmagie und möglichen Abwehrzauber um sich herum, der jedoch auf Dauer nichts gegen wachsenden Weltüberdruss vermag. Als einzig mögliche Existenzformen werden alsbald das Warten und das Suchen gedacht, nein: innig erlitten. Zusehends überwiegt die Sehnsucht nach Schwinden, Ausbleichen, Stillwerden, Erlöschen.

Vereinzelt weitet sich das individuelle Erleiden zum Befund über die jetzt angebrochene Endzeit:

„Da wir nun Nachzügler sind, Nachzügler des vom Menschen begriffenen Menschen, vielleicht auch der Sprache, der Liebe, der Arbeit, wie nur der Mensch sie verstand, bleibt von uns kaum mehr als das Bild, das die Geräte überliefern werden. Nirgends ein Gleichnis.“

Das Wort ist nur ein „lettrischer Krüppel“

Oftmals kommt das Ungenügen der Sprache zur – Sprache. Da das Gewebe der Worte zwischen den Liebenden einmal zerrissen ist, verliert alles Gerede seinen Sinn. Erklärtermaßen zwecklos auch das Streben nach „treffenden“ Ausdrücken, wo doch ein Anschein von Wahrheit allenfalls im Verschwommenen liege und jedes Wort ohnehin nur ein „lettrischer Krüppel“ sei.

Rundweg verworfen werden überdies großsprecherische, aufs Ganze gehende politisch-moralische Weltdeutungen, mitsamt Ansichten, Haltungen, Standpunkten, unnützer Klugheit oder auch „tieferen Einsichten“: „Klima, Chaos, Virus und Weltende … Das große Ganze verdirbt den Verstand.“

Was aber dann? Am Ende steht hier nicht nur die zwischendurch erhoffte Minderung und Eindämmung, sondern vollends die – verzweifelt gestammelte – Zurückweisung des Vorhandenen, ein Kehraus des Lebens. Letzter Absatz, wobei trotz allem die Nuancen zwischen „Nicht mehr“ und „Mehr nicht“ zu beachten sind:

„Nicht mehr! Mehr nicht! Sie tritt, nur um wegzusehen, vor die Tür. Nicht mehr davon! Und dann einfach: mehr nicht, nicht mehr, nichts mehr. Nicht!“

Ach, wenn es doch möglich wäre, dem ein überlebensgroßes JA! entgegenzusetzen…

Botho Strauß: „Nicht mehr. Mehr nicht
Chiffren für sie„. Hanser Verlag. 156 Seiten, 22 Euro.




Bleibt geheimnisvoll: Georg Kleins Roman „Bruder aller Bilder”

Wer anhebt, einen Mystery-Roman zu lesen, erwartet nicht die Auflösung eines Rätsels. In diesem Genre wirken in der alltäglichen Welt geheimnisvolle Kräfte; manche Figuren sind mit der Fähigkeit ausgestattet, sich in das Innere einer anderen Seele einzuschleichen; mitunter besucht der Tod höchstpersönlich die Akteure, führt sie in Zwischenreiche, in denen sich die Lebenden von den Toten nicht immer unterscheiden lassen. Wer Mystery-Romane liest, möchte die Grenzen des Verstehens ausloten und ist geneigt, sich mit dem Unvorstellbaren anzufreunden.

Selbstverständlich schreibt Georg Klein keine Genre-Literatur, er hat sich in der Vergangenheit aber immer wieder Themen und Formen unterschiedlicher Gattungen bedient, um sie in die Hoch-, und es wäre nicht übertrieben, von Höchstliteratur zu sprechen, einzuspeisen. Er beherrscht das Spiel mit Genres wie dem Agentenroman (Libidissi, 1998), der Detektivgeschichte (Barbar Rosa, 2001), dem Horrorroman (Die Sonne scheint uns, 2004), dem Arztroman (Sünde Güte Blitz, 2007), der Science-Fiction (Die Zukunft des Mars, 2013, und Miakro, 2018).

Sein neuestes Werk Bruder aller Bilder dürfte auch ein Stück weit als Heimatroman durchgehen. Wird der Name der Stadt im Roman zwar nicht genannt, gehört seine Identifizierung doch nicht zu den vielen großen und kleinen Rätseln, mit denen das Buch aufwartet. Durch detailreich beschriebene und benannte Schauplätze wie das inzwischen unter Denkmalschutz gestellte Rosenaustadion oder der Siebentischwald am Stadtrand lässt sich Georg Kleins Geburtsstadt deutlich erkennen – wenn auch, wie schon in seinem Roman unserer Kindheit (2010), stellenweise ins Surreale verzerrt, ins Phantastische gesteigert.

Vom Vertrauten ins nicht mehr Vertraute

Zunächst holt uns der Autor in einer leicht nachvollziehbaren Situation ab. Moni, eigentlich Monique, doch diesen Namen überlässt sie gern ihrer Katze, hat ein Praktikum bei einer Lokalzeitung absolviert und daraufhin ihren ersten Ein-Jahres-Vertrag erhalten. Ihre Artikel in der Allgemeinen zeichnet sie mit dem Kürzel MoGo, und so nennt sie auch der Autor. Das Ressort, in dem sie eingesetzt wird, hat jüngst eine Erweiterung erfahren, die etwas an die Unart erinnert, mit der verschiedene deutsche Landesregierungen das Wort „Kultur“ in einem Ministerium einbetten, in diesem Fall heißt das Ressort „Sport, Kultur und Leben“. Gerade der letzte Begriff bereitet dem Redakteur Kopfzerbrechen, und MoGos Artikel über Trachtenmode verheißt ihr eine Chance auf eine längerfristige Einstellung. Zuvor wird sie aber von einem größeren Platzhirsch des Blattes, dem allseits beliebten Sportreporter Addi Schmuck, fünf Tage gebucht, für einen Auftrag, dessen Ziel unbekannt bleibt. Soweit die überschaubare Ausgangssituation. Aber wohin wird der Autor uns Lesende und seine Protagonistin MoGo führen? Das lässt sich auch nach zweihundert Seiten keineswegs absehen.

Eine Halle am Stadtrand

Geheimnisvoll wird es schon bald, wenn Addi Schmuck die junge Kollegin zu einer Halle am Stadtrand mitnimmt, wo er sie einem Mann vorstellt, der ebenso wie Addi bereits „ein arg abschüssiges Alter“ erreicht hat. Sein Name wird ihr und uns Lesenden vorenthalten; Addi nennt ihn den „Auskenner“, aber auch diese Bezeichnung sollte MoGo besser nicht in seiner Gegenwart benutzen. Womit er sich auskennt? Unter anderem mit Tauben, Fledermäusen, Eulen, Ulmen, Fernbedienungen, Münztelefonen; doch darin allein, vermuten wir bei fortschreitender Lektüre, kann sich sein legendärer Ruf als „Auskenner“ nicht erschöpfen. Über Militärstiefeln, die er offen und ohne Socken trägt, folgt eine dreiviertellange Lederhose, und zum Ausgehen zieht er über das weiße Unterhemd eine alte Fliegerjacke mit pelzverbrämtem Kragen. Seine „erst in wenigen Strähnen graumelierte, fahlblonde Mähne“ korrespondiert „auf eine schwer durchschaubare, irgendwie untergründig verwandtschaftliche Weise“ mit Addis „bis an die Grenze der Kahlheit geschorenem Schädel.“ Die hier nur angedeutete Verwandtschaft konkretisiert sich im Verlauf der Handlung durch eine gegenseitige Anrede mit „Bruder“ und „Brüderchen“. Ist der Auskenner der Bruder, den wir im „Roman unserer Kindheit“ als einen begnadeten Witzeerzähler kennenlernen durften?

Schweigsame Protagonistin

Während sich die beiden Männer unterhalten und immer wieder ins Englische wechseln, um sich gegenseitig Titel und Zeilen aus älteren Songs, beispielsweise der Beatles oder der Doors, zuzurufen, sind MoGos Gedanken woanders. Überhaupt redet sie im gesamten Roman so wenig, dass der Rezensent irgendwann zurückblättert, um sich ihrer Sprechfähigkeit zu vergewissern. Doch, ja, sie hat ihren Nachbarn – in wörtlicher Rede wiedergegeben – nach der Uhrzeit gefragt. Aber meistens erraten die sie umgebenden Menschen ihre Gedanken, auch ohne dass sie etwas aussprechen muss. Das gilt nicht nur für Addi und den Auskenner; auch Frauen wie die Eigentümerin der Allgemeinen (mit einem Namen scheinbar adeliger Herkunft), die stets gut informierte Redaktionssekretärin Elvira Küppers oder MoGos vor kurzem gestorbene Mutter scheinen immer zu wissen, was gerade in ihrem Kopf vorgeht.

Elemente der Gattungen Horror und Mystery

Verschiedene aus Filmen und Literatur bekannte Elemente der Gattungen Horror und Mystery weiß Georg Klein für sich zu nutzen. Da wäre zunächst die Albtraumbegabung der Protagonistin; ferner die den Menschen oft aggressiv begegnenden Vögel, seit je geheimnisvolle Wesen zwischen Himmel und Erde; Maisfelder etwa sind in Horrorfilmen Legion, und ein solches steuert auch in Bruder aller Bilder teilweise die Geschicke von Verkehrsteilnehmern; manchmal trennt nur ein Vorhang die für wirklich gehaltene Davor-Welt von der Twilight Zone dahinter – so auch in der vom Auskenner bewohnten Halle.

Wie Addi und der Auskenner in Zitaten reden, möchte der Rezensent bei seiner Lektüre dem Autor permanent Filmtitel zurufen, etwa Wait Until Dark, wenn beispielsweise in der finsteren Halle, deren Lichtschalter die Protagonistin nicht findet, das Licht aus dem Kühlschrank als einzige Beleuchtung dient. Doch Georg Klein inszeniert, wie wir es von ihm kennen, stets seinen ganz eigenen Carnival of Souls. Der Autor verfügt über subtile Mittel, seine Leserinnen und Leser auf die Folter zu spannen.

Immer wieder Medien

In seinem Werk spielen immer wieder Medien – zunächst in einem technischen Sinne – eine wesentliche Rolle. In Bruder aller Bilder sind sowohl Addi als auch der Auskenner von mehreren ausrangierten Kommunikationsmedien umgeben, wie einem Münzfernsprecher aus einer längst demontierten Telefonzelle, einem Anrufbeantworter mit Magnetband-Kassetten, einem Videorekorder oder einem klotzigen Röhrenfernseher. In der vom Auskenner ausgebauten Wohnhalle gibt es keinen Mobilfunkempfang, was von seinem Bewohner eher als ein Segen denn als Manko empfunden wird. Auf der 2007 von Thomas Böhm und Klaus Sander aufgenommenen Doppel-CD Schlimme schlimme Medien (supposé Verlag) äußerte sich Georg Klein über die „Unkontrollierbarkeit des Telefons“: „Ich halte es für möglich, dass aus dem Telefon das absolut Unerwartete kommt, und wenn ich jetzt das Telefon abhebe, und es würde sich zum Beispiel eine verstorbene Person melden, ich glaube nicht, dass ich wirklich überrascht wäre.“ In seinem neuen Roman ist es eine gläserne Fernbedienung, über die eine ähnliche Kontaktaufnahme erfolgt.

Der „dichte Film“

Der Auskenner erweist sich als äußerst hilfreich in der Handhabung des Mediums, das MoGos Mutter den „dichten Film“ nennt. Georg Kleins Leserinnen und Leser könnten sich an das „weiche Glas“ der Bildschirme erinnert fühlen, in denen die Männer im „mittleren Büro“ des Romans Miakro ihr Weltwissen ertasten. Vielleicht gleicht der „dichte Film“ auch der „Hefeseele“, dem Teig, der nie tot sein darf, aus der von Addi Schmuck bevorzugten Bäckerei, in der MoGos lange vor der Mutter verstorbener Vater seine Meisterschaft unter Beweis gestellt hatte.

Neben- oder Miteinander der Toten mit den Lebenden

Unaufgeregt emotional baut der Autor seinen bilderreichen Roman auf; eine Erzählweise, die eine Stimmung beschreibt, mehr als dass sie nach thematischer Einheit sucht. Georg Klein benötigt dazu nicht die Handlungsspannung eines Thrillers oder Horrorfilms. Die energetische Aufladung speist sich aus anderen Quellen und entlädt sich beispielsweise bei der Übergabe eines Schlüssels in der legendären Backstube. In seinem Tanz der toten Seelen gibt es nicht das Böse, das bekämpft und besiegt werden muss; kein Tontaubenschießen auf Zombieköpfe. Erst recht nicht geht es – wie beispielsweise im Krimi – darum, eine kurzfristig aus den Fugen geratene Ordnung am Ende wiederherzustellen. Es herrscht vielmehr ein eher einvernehmliches, wenn auch oftmals mit beträchtlicher Verstörung oder zumindest mit einem gewissen Fremdeln sich vollziehendes Neben- oder Miteinander der Toten mit den Lebenden. Wie wir es aus weltweit verbreiteten Formen der Ahnenverehrung kennen, wohnen im Jenseitigen unsere Verbündeten, die uns mit diskreten Hinweisen vor größerem und kleinerem Übel beschützen möchten, so auch MoGos verstorbene Mutter.

Abgabe der Kontrolle an die Sprache

Georg Klein erzählt das alles mit großer Selbstverständlichkeit, als sei Schreiben die Abgabe der Kontrolle an die Sprache. Wer könnte sagen, welche der vielen im Roman angelegten Vorzeichen in falsche Fährten mündeten? Nicht einmal nach Ende der ersten Lektüre haben wir Gewissheit. Als Erfolgsgeheimnis für Addi Schmucks Sportkolumnen hatte der Leiter der Redaktion „Sport, Kultur und Leben“ die Formel gefunden: „Sehnsucht plus Wehmut plus X“. Bei Georg Kleins Roman Bruder aller Bilder handelt es sich um eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Bleibt am Ende vieles unbeantwortet? Macht nichts. Das Leben ist kein Rätsel, das man lösen muss.

Georg Klein: „Bruder aller Bilder. Roman. Rowohlt Verlag, 270 Seiten, 22 Euro.




Rekonstruktion einer Abtreibung von 1964 – „Das Ereignis“ von Annie Ernaux

Oktober 1963. Eine Studentin ist schwanger. Sie will das Kind nicht bekommen. Was daraus folgt, ist heute kaum noch vorstellbar. Auch deshalb hat es Annie Ernaux lange Zeit später aufgeschrieben. Die Erinnerung hat ihr über Jahrzehnte keine Ruhe gelassen. Ihr im Jahr 2000 erschienener, denkbar schmerzlicher Erlebens-Bericht „L’événement“ ist erst jetzt auf Deutsch erschienen und heißt „Das Ereignis“.

Mit Hilfe alter Kalender-Einträge und Tagebuch-Notizen hat Annie Ernaux versucht, nachträglich zur damaligen Wahrheit vorzudringen, Worte für das eigentlich unsagbare (nicht: unsägliche), jedenfalls ungeheure Geschehen zu finden, das hernach – im Laufe der späten 1960er und der 1970er Jahre – zur scheinbaren, vielfach achselzuckend hingenommenen „Normalität“ geronnen zu sein schien.

Im Bann des strikten Verbots

Anno 1963 war Abtreibung strikt verboten. Es war praktisch unmöglich, einfach so an eine entsprechende Adresse heranzukommen – erst recht für junge Frauen in erzkatholischen französischen Provinzstädten wie Rouen. Diese einschnürenden Umstände bleiben in jeder Zeile spürbar.

Ein möglicher Ratgeber, dem die Erzählende sich damals anvertraut, will erst einmal mit ihr schlafen. Als unverheiratete Schwangere gilt sie ihm „traditionsgemäß“ als Freiwild. Zwar gibt sie ihm nicht nach, doch nimmt sie sogar dieses Ansinnen pragmatisch hin. Ihr bleibt vielleicht nichts anderes übrig, will sie nicht riskieren, dass die Mitwelt von ihrer Notlage und der geplanten Straftat erfährt.

Es vergehen Wochen und Monate, ohne dass sich ein Ausweg ergibt. Bedrohlich verdichtet sich die angsterfüllte Zeit. Keine verlässlichen Informationen, nur Gerüchte und vage Hoffnungen. Von ihrem vorherigen Studentinnen-Alltag sieht sich Annie Ernaux derweil völlig entfremdet, wie abgestemmt. Sie fühlt sich nicht mehr als (aus einfachen Verhältnissen stammende) Intellektuelle, auch nicht mehr als junges Mädchen. Ein mehrfacher Identitätsverlust, der vorerst große Leerstellen hinterlässt.

Schonungslose Schilderungen

Streckenweise geht es in diesem Buch ausgesprochen drastisch zu, Dinge und Empfindungen werden schonungslos benannt. In ihrer Verzweiflung greift die junge Frau zur „Selbstbehandlung“ mit einer Stricknadel. Sie fragt sich, ob sie darüber schreiben dürfe und kommt zu dem Schluss: Aber ja! Alles andere würde die Wahrheit verschleiern. Zitat: „Etwas erlebt zu haben, egal, was es ist, verleiht einem das unveräußerliche Recht, darüber zu schreiben.“

Wenige Seiten später heißt es: „Denn etwas in der Vorstellung oder in der Erinnerung zu sehen, ist die Grundlage jedes Schreibens.“ Solches Schreiben wiederum ist spürbar durchdrungen von Notwendigkeit. Was das Innenleben anbelangt, bleiben die Schattierungen der Erinnerung in diesem Falle eher flüchtig. Das Konkrete, Körperliche und Materielle (Orte, Instrumente, medizinische und juristische Gegebenheiten) haben sich jedoch nachhaltig eingeprägt.

Im Januar 1964 führt der Weg dann doch zu einer „Engelmacherin“ in Paris. Die hochnervöse, zudem geldgierige Frau führt eine Sonde ein, mit der die Schwangere tagelang herumläuft – mit einem erbarmungswürdigen, trostlosen Verlassenheits-Gefühl. Es ist ein im betäubenden Gleichmaß fließendes Unglück. Wenn überhaupt, dann macht ein derartig lakonischer, illusionsloser und vollkommen ideologiefreier Text das körperliche und seelische Elend ansatzweise fassbar – gewiss nicht nur, aber wohl besonders für Frauen.

Antriebe und Grenzen des Schreibens

Die damaligen Zustände und Gefühle lassen sich nicht gänzlich rekonstruieren. Darum geht es auch nicht. Es geht darum, sich schreibend anzunähern, die Geschehnisse zwar womöglich anders, doch wahrhaftig zu schildern, so dass das Resultat den wirklichen Vorgängen entspricht. Angestrebt wird, einen Text „zur Welt zu bringen“, der seinerseits so viel Wahrheit wie möglich in die Welt bringt. Eine andere Art der Geburt. Überhaupt ist dies nicht nur ein Buch über Abtreibung, sondern auch eines über Antriebe, Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens, das eben auch ein Hervorbringen ist.

Die ganze gewaltsame Wahrheit einer Abtreibung (zumal unter solchen Bedingungen) bricht schließlich buchstäblich hervor, als die willentlich eingeleitete Fehlgeburt sich im Beisein einer Freundin ereignet: „Wir sind in meinem Zimmer. Ich sitze mit dem Fötus zwischen den Beinen auf dem Bett. Wir wissen beide nicht, was wir tun sollen. Ich sage zu O., dass die Nabelschnur durchtrennt werden muss.“ So. Und dann noch schrecklicher. Es ist nichts, was sich leichthin abtun ließe.

Nicht nur lächerlich, sondern geradezu abgründig mutet eine Episode nach der eigentlichen Abtreibung an. Wegen Komplikationen ist eine Nachbehandlung dringend erforderlich. Ein Arzt bedauert seine Unfreundlichkeit vor dem Eingriff. Hätte er doch nur gewusst, so lässt er durchblicken, dass die Patientin gleichfalls eine Studierte ist, dass sie gleichsam in seine gehobene Kaste gehört, dann, ja dann hätte er sich anders verhalten…

Nach all dem und trotz all dem, so hält Annie Ernaux schließlich fest, habe sich bei ihr ein starker Kinderwunsch eingestellt. Tatsächlich hat sie 1964 (!) und 1968 zwei Kinder bekommen und großgezogen. Aber davon steht nichts mehr in diesem erschütternden Buch.

Annie Ernaux: „Das Ereignis“. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag (Bibliothek Suhrkamp), 104 Seiten, 18 Euro.

 

 




Geschichtlicher Spuk – Maxim Billers Roman „Der falsche Gruß“

Junger Mann namens Erck Dessauer drängt als kommender Autor zum führenden Edelverlag, doch der dort längst etablierte, allseits hofierte Großschriftsteller und jüdische Intellektuelle Hans Ulrich Barsilay scheint ihn daran hindern zu wollen. Nanu?

Gleich zu Beginn begibt sich dieser Skandal, als wär’s eine Phantasmagorie: In einer irrsinnigen Aufwallung zeigt Dessauer diesem Barsilay und dessen eingeschworener Entourage so etwas wie einen zittrigen Hitlergruß. Ein hochnotpeinlicher Moment im Berliner Lokal „Trois Minutes“. Ganz gleich, ob Dessauer damit die vermeintlichen Machtspiele des anderen provokant kenntlich machen wollte: Die gänzlich verunglückte Geste dürfte doch wohl das Ende all seiner Ambitionen bedeuten. Mit seinem publizistischen Einfluss wird Barsilay ihn nun gewiss gesellschaftlich vernichten, oder? Wir werden nun Zeugen einer unkontrolliert anschwellenden Furcht.

In der Villa des Hitler-Vertrauten

In seinem neuen Roman „Der falsche Gruß“ vollführt Maxim Biller mancherlei Zeitsprünge und verquickt manches mit manchem. Einen Altnazi-Großvater. Die Auflösung der DDR. Flüchtlings-„Schicksale“ daselbst. Jüdische Identität im heutigen Deutschland. Intrigen im Literaturbetrieb und im Verlagswesen. Herausgehobene Protagonistin ist die Verlegerin, die sich in einer ehemaligen Villa des Hitler-Vertrauten Martin Bormann hochherrschaftlich eingerichtet hat. Zudem geht’s um Berliner Befindlichkeiten als Brennglas komplizierter deutscher Zustände. Oder ist das alles ein zirzensischer Bühnenzauber mit parodistischem Einschlag? Nun, eher ist es vielfältiger historischer Spuk, der keine Ruhe geben will.

Wer die Arbeitslager perfektioniert hat

Sein Antipode Barsilay, so will es dem stets vorauseilend beleidigten Dessauer jedenfalls scheinen, ist zu allem Überfluss wohl drauf und dran, ihm das Thema wegzuschnappen. Dessauer schickt sich an, ein Buch über Naftali Frenkel zu schreiben, jenen erzkriminellen Abenteurer aus jüdischer Familie, der eines Tages Stalins Aufmerksamkeit auf sich zog, weil er teuflische Vorschläge zur „Rationalisierung“ und Perfektionierung der sowjetischen Arbeitslager gemacht und später selbst umgesetzt hat: Nahrung nur noch für einstweilen nützliche Kräfte, die anderen kann man ja mit winzigen Rationen Hungers sterben lassen. Im Raum schwebt somit die heikle Frage, ob ausgerechnet Frenkel – vor allen Nazis – als „Erfinder“ der Konzentrationslager gelten kann, so dass Ernst Noltes höchst umstrittene These vom NS-Staat als Reaktion auf den Stalinismus neue Nahrung bekäme. Gefährlich vermintes Debatten-Gelände. Aber Hauptsache, Dessauers Buch kommt heraus…

Was sind das nur für Ränkespiele?

Irgendwann hat sich ja auch der Knoten gelöst – und es schwinden die seit dem „falschen Gruß“ virulenten Angstattacken Dessauers. Warum? In Barsilays überall hochgelobtem Buch „Meine Leute“, dem auch er nicht seine Bewunderung versagen konnte, hat Erck Dessauer eine Passage entdeckt, in der jener seine schockhafte Erschütterung beim Besuch der Auschwitz-Gedenkstätte schildert, ja geradezu als entscheidende Lebenswende zelebriert. Dessauer findet heraus, dass es sich bei den näheren Umständen um Erfindung handeln muss, ja, dass Barsilay nicht einmal in Polen gewesen ist. Also hat er jetzt etwas Gewichtiges gegen seinen Widersacher in der Hand, das die Sache mit dem Hitlergruß womöglich aufwiegt. Auschwitz und der deutsche „Kult“ um den Holocaust, so sein zwiespältiger Befund, verzeihen keine Lügen. Aber wer lügt und belügt sich hier eigentlich am meisten? Und überhaupt: Was sind das für irrwitzige Ränkespiele, wo es doch inhaltlich um die schlimmsten Verbrechen der Geschichte geht?

Womöglich auch noch ein Schlüsselroman

Und sonst? Haben wir auch hier einen Hauch vom Ewigweiblichen, das hinan und hinab ziehen kann. Im Tross des Hans Ulrich Barsilay (solch ein Name aber auch!) bewegt sich zeitweise die aufreizende Russin Valeria, die selbst der sonst erotisch nur schwer ansprechbare Dessauer (vergebens) zu begehren scheint. Mittlerweile hat Barsilay in einem Buch mit dem Titel „Lustlos“ Valeria sexuell bloßgestellt, worum sich Gerichtsverfahren ranken – ein juristisches Feld, auf dem auch Maxim Biller mit „Esra“ so seine Erfahrungen gesammelt hat. Doch auch das bleibt Episode, wie so vieles in diesem Roman-Konstrukt, in dem schon mal solche Sätze ‚rausgehauen werden: „Freundschaften, das fand ich schon lange, waren nur etwas für Frauen und Verlierer.“ Klingt halt obercool.

Ist „Der falsche Gruß“ am Ende etwa auch noch ein Schlüsselroman über eine real existierende Welt des Scheins, über gewisse intellektuelle Kreise und Figuren der deutschen Hauptstadt? Mag sein. Aber vielleicht sollten kundige Herrschaften in Berlin das Rätsel unter sich ausmachen. Es ist ja gar nicht so furchtbar spannend. Und wer weiß, ob Biller nicht auch hiermit sein Verwirrspiel treibt.

Ganz ehrlich: Ich habe mich eher missmutig durch die bisweilen raffiniert verknüpften, streckenweise aber auch wirr verschlungenen Handlungsmuster des doch eigentlich recht kurzen Romans gequält. Vielleicht finde ich einfach keinen Zugang zu Billers Schreibweise, die mir – bei all seiner funkelnden Intelligenz und polemischen Potenz – zumindest unterschwellig arrogant und anmaßend vorkommt. Tja. Das wäre dann im Grunde m e i n Problem, nicht wahr?

Maxim Biller: „Der falsche Gruß“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 128 Seiten, 20 Euro.




Reisen durch ein fantastisches Universum: Vor 100 Jahren wurde Stanislaw Lem geboren

Als Science-Fiction-Autor wollte er sich nicht gerne bezeichnen lassen, aber auf diesem Feld hat sich Stanislaw Lem einen unsterblichen Namen gemacht. Vor 100 Jahren, am 12. September 1921, im damals noch polnischen Lemberg geboren, hat er originelle Werke voll Humor und visionärer Kraft geschrieben, die laut Wikipedia in 57 Sprachen übersetzt und über 45 Millionen Mal verkauft wurden.

Die Werke von Stanislaw Lem erscheinen im Suhrkamp-Verlag, so auch der Roman „Die Stimme des Herrn“. (Cover: Suhrkamp Verlag)

Zu seinen bekanntesten Büchern zählt der Roman „Solaris“, der drei Mal verfilmt und von Michael Obst, Detlev Glanert und Dai Fujikura auch zum Opernstoff erkoren wurde. Stanislaw Lem hatte gerade begonnen, Medizin zu studieren, als die Deutschen in Lemberg einmarschierten. Während des Krieges gelingt es ihm, seine jüdische Herkunft zu verschleiern; er arbeitet als Mechaniker und Schweißer für eine deutsche Firma. Bis auf Vater und Mutter wurde seine Familie Opfer des Holocausts. Wehrmacht und Rote Armee, Sowjets und Deutsche: Die Erfahrung willkürlicher Gewalt und der zerstörerischen Katastrophe der Besatzungszeit in Polen prägten ihn.

1946 zieht er aus seiner nun sowjetisch besetzten Heimat nach Krakau und studiert weiter. Da er sich weigert, im Abschlussexamen Antworten im Sinne der stalinistischen Ideologie zu geben, fällt er durch und geht, da er nicht als Arzt arbeiten kann, in die Forschung.

In dieser Zeit beginnt seine schriftstellerische Arbeit. 1946 erscheint in einer Zeitschrift „Der Mensch vom Mars“. Lem spricht darin bereits Themen an, die in späteren Werken bedeutsam werden sollten: Das Wesen vom Mars ist eine Kombination aus einem organischen Gehirn und einer atomgetriebenen Maschine, ungeheuer fremdartig, ohne Gefühl und Empathie, aber nicht bösartig. Die Menschen, die es untersuchen, haben jedoch kein Interesse an der Persönlichkeit des Außerirdischen; es gelingt ihnen keine dauerhafte Kontaktaufnahme.

Unbegreiflich andersartige Intelligenz

Diese Unfähigkeit, mit unbegreiflich andersartigem Leben, mit unverständlicher Intelligenz umzugehen, ist auch in „Solaris“ ein bestimmendes Thema. Dort umfließt ein riesiges Wesen wie ein Ozean einen ganzen Planeten. Ewig alleine, versucht es, mit den Menschen in Kontakt zu treten, die es entdeckt haben und die seit Generationen versuchen, das offenbar denkende Plasmameer zu erforschen. Lem verweigert sich in diesem wie in anderen Romanen einfachen Lösungen, aber die offen bleibende, dennoch sehr bewegende Begegnung des Psychologen Kelvin mit dem Wesen deutet den utopischen Moment eines Kontakts an.

Mit dem in viele Sprachen übersetzten Roman „Die Astronauten“ gelingt Lem 1951 ein Erfolg, der es ihm ermöglicht, als freischaffender Autor zu leben. Das Buch erschien drei Jahre später in der DDR auf Deutsch als „Der Planet des Todes“. Eine Expedition zur Venus entdeckt dort die Reste einer aggressiven Zivilisation, die sich selbst vernichtet hat, bevor sie ihren Plan, alles Leben auf der Erde auszulöschen, in die Tat umsetzen konnte. „Wesen […], die sich die Vernichtung anderer zum Ziel setzten, tragen den Keim des eigenen Verderbens in sich – und wenn sie noch so mächtig sind“, schreibt Lem über sein Buch, das er später selbst als „naiv“ bezeichnet hat.

Nachdenken über technologischen Fortschritt

Aber die gesellschaftlichen Probleme und Visionen, die Lem auch in Romanen wie „Eden“ (1959) oder dem Zukunfts-Szenario „Fiasko“ (1986) in fantastische Welten überträgt, fesseln den Leser und lassen über die Folgen unseres zivilisatorischen und technischen Fortschritts nachdenken. Lem nimmt schon früh etwa mögliche Folgen neuer Kommunikationstechnologien in den Blick. Über die Epoche der Neuro- und Gentechnologie und die Verbindung von Mensch und Maschine sagt er in einem Interview kurz vor seinem Tod 2006: „Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir ein bisschen graut.“

Stanislaw Lem hat es virtuos verstanden, ungewöhnliche philosophische Fragen, Probleme der technologischen Entwicklung und kühne Gedankenexperimente in seine Art von „Science Fiction“ einzubeziehen. Doch er ist auch Autor von geradezu prophetischer Sachliteratur wie der „Dialoge“ (1957) oder der „Summa technologiae“ von 1964, in der er sich bereits mit „virtual reality“ und Nanotechnik beschäftigt.

Zwischen 1982 und 1988 lebt Lem nicht im krisengeschüttelten Polen, sondern als hochgeachteter Autor in Berlin und Wien. Seine Kurzgeschichten, Anthologien und Romane finden in den siebziger und achtziger Jahren in beiden Teilen Deutschlands breite Resonanz, so etwa die „Robotermärchen“, der „Futurologische Kongress“ oder „Der Unbesiegbare“. Figuren wie der Raumfahrer Ijon Tichy, der Pilot Pirx oder die beiden skurrilen Robot-Konstrukteure Trurl und Klapaucius bevölkern sein Universum, in dem Humor und Satire nicht zu kurz kommen, aber auch – wie in der Erzählung „Terminus“ – bisweilen eine kaum zu fassende, unheimliche Atmosphäre entsteht, die Lem selbst so beschreibt: „Obwohl in dieser Erzählung keine Gespenster vorkommen, sind sie dennoch da.“

Persönliche Empfehlungen? Unheimlich und faszinierend zugleich, wie in „Der Unbesiegbare“ unscheinbare, harmlose Maschinenteilchen zu einer unüberwindlichen Macht zusammenwachsen. Höchst amüsant und geistreich, wie in den „Robotermärchen“ ein Elektrodrachen besiegt wird. Wen heute bei „Alexa“ oder „Siri“ im smart durchdigitalisierten Home leises Unbehagen befällt, sollte unbedingt mit der dümmsten vernunftbegabten Waschmaschine der Welt Bekanntschaft schließen. Immer wieder ins Nachdenken führend, wie fremdartig Lem außerirdisches (intelligentes) Leben erfindet und beschreibt, etwa in „Solaris“. Und eine bittere Abrechnung mit der menschlichen Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen ist „Die Stimme des Herrn“, spröde zu lesen, aber ein Buch, das den Verstand fliegen lässt.




Manchmal bleibt auch Gsella nur die Wut – Neue Gedichte von einem, der nicht bloß Spaß-Lyriker sein kann

„Menschen und Dinge“, „Tiere und Viren“, „Orte und Zeiten“. So heißen die drei Hauptkapitel in Thomas Gsellas neuem Gedichtband „Ich zahl’s euch reim“. In diese Rubriken passt nun wirklich alles reim, äh: rein.

Den allumfassenden Kategorien zum Trotz: Gsella ergeht sich hier vielfach in schnellen Gelegenheits-Gedichten, auch Corona-Fährnisse kommen in gehöriger, geradewegs impftauglicher Dosis vor – ebenso Leute wie Joe Biden, Laschet, Baerbock, Scholz, Lindner, „Verkehrtminister“ Scheuer oder eben auch dieser kluge Herr in etwas gewagten Zeilen:

Von dem Süden übern Westen
Übern Norden bis zum Osten
Weltweit virologt am besten
Unser Virologe Drosten.

Außerdem lesen wir allerlei Stophen über mehr oder weniger aktuelle Phänomene wie Instagram, Influencer, Podcasts, E-Roller, Lastenrad und Dschungelcamp. Dicht(ung) am Puls der Zeit, hehe!

Bei manchen rasch umgesetzten Einfällen könnten Lesende auf die verwegene Idee kommen, man müsse doch nicht jede Zeitungsnotiz gleich besingen wollen, sonst ertrinke man in kurzatmiger Gegenwart. Der eine oder andere Vers hat, obwohl noch gar nicht so alt, seit der Niederschrift schon ein klein wenig Patina angesetzt. Doch obwohl beileibe nicht alles perfekt gelungen ist (bei wem wäre dies auch der Fall?), so setzt der findige Thomas Gsella doch immer wieder trefflich lakonische Pointen, so schöpft er doch immer wieder frappierend passgenaue Reime.

Geradezu rührend beispielsweise die (wahrscheinlich allen Schülerinnen und Schülern geläufige) Umkehrungs-Phantasie, dass wenigstens an einem Tag im Jahr die Lernenden den Lehrenden Zensuren geben dürfen. Schlussstrophe:

So ist der Tag für Lehrer schwer,
Zwar lacht die Sommerpause,
Doch manche Lehrer weinen sehr
Und trau’n sich nicht nach Hause.

Großartig das Spülmaschinengedicht, das die Gleichförmigkeit eines Lebens anhand der immer wiederkehrenden Füllungen und Leerungen so recht anschaulich macht. Sodann die beherzte Beschimpfung der allgegenwärtigen „Mittelschicht“ – auch nicht verkehrt! Der Hohn auf die Deutsche Bahn – hat ebenfalls was… Also, es reicht für etliches Lesevergnügen.

Hie und da scheint Gsella hingegen bei den jeweils allerletzten Versen keine rechte Abrundungslust mehr gehabt zu haben und hat, offenkundig genervt, schnoddrige Schlüsse verfertigt, die schon fast rituellen „Na, dann eben nicht“-Charakter haben. Es mag aber sein, dass sie bei Live-Lesungen besonders gut ankommen. Der Urheber wird’s wissen.

In welche Richtung driftet das alles generell? Nun, Gsella (Jahrgang 1958) ist und bleibt ein aufrechter Linker, nicht vom identitätspolitischen, sondern vom dezidiert antikapitalistischen Zuschnitt mit Enteignungs-Sympathien, wie es sich für einen Nachgeborenen der „Generation Dutschke“ ziemt. Vom Gendern scheint er jedoch nicht rundweg begeistert zu sein, auch macht er sich in „Wer darf mich übersetzen?“ lustig über lachhafte personelle Einschränkungen: „Denn ich bin cis und hetero / und deutsch und alt und dick und so, / Da passt kein Jungtransdäne; auch keine dünne Kasköppin, Nix lesbische Chineserin, Kein Bipolarrumäne…“ Gsella führt auf seine Weise vor, wie jederlei Identitätsgedusel in Diskriminierung und Rassismus umschlagen kann. Richtig so.

Am Tonfall vieler seiner Gedichte kann man ermessen, wie gewisse Einflusslinien verlaufen sind. Eine gute Portion Brecht dürfte dabei sein, manchmal auch ein paar Prisen Tucholsky; vor allem aber Robert Gernhardt, mit dem Gsella als Chefredakteur des Satireblatts „Titanic“ zusammengearbeitet hat und der gleichfalls allzeit beim Gereimten geblieben ist. Wahrlich keine schlechte Ahnenreihe. Wie bitte? Die Studienräte fragen, ob Gsella sich wohl auch handwerkliche Gedanken um Jambus, Trochäus und Daktylus mache? Man möcht’s beschwören, sonst käme nicht einiges so wunderbar rhythmisch schaukelnd daher. Nein, nicht schunkelnd.

Und wo bleibt der Revier-Aspekt? Na, hier: Wohltuend finde ich es als Dortmunder, dass der gebürtige Essener Gsella der BVB-Legende Lothar Emmerich in Reimform spezielle Klasse bescheinigt und an anderer Stelle diesen erzvernünftigen Toast ausbringt: „Trinken wir (auf Dortmunds Mittelfeld)“. Wird gemacht. Überhaupt weiß er ein zünftiges „Prost!“ lyrisch ebenso zu schätzen wie gepflegtes Nichtstun, was ihn freilich nicht am fleißigen Reimeschmieden hindert.

Hin und wieder zeigt sich diesmal deutlich bis drastisch: Gsella mag Sprachspäße lieben wie eh und je, aber er kann in diesen Zeiten kein reiner Spaß-Lyriker bleiben. Manchmal ist das schiere Gegenteil der Fall, vor allem, wenn er das weltweite Flüchtlingselend in harschen und wütenden Worten fassbar zu machen sucht. So beginnt Gedicht „Camp Moria, zum Beispiel“:

„Das sind keine Kinder, wenn Kinder verderben
Lebendigen Leibes. Sie lachen nie.
Sie weinen, sie frieren. Gift nehmen sie.
Sie essen Waschmittel, um endlich zu sterben.“

Da hilft kein Gelächter mehr, da reicht keine gewöhnliche oder ungewöhnliche Satire aus. Auch angesichts von Typen wie Trump, Bolsonaro und den Brexiteers versagt und versiegt zuweilen die Wortspiel-Lust.

Und noch eins: Täuschen wir uns, oder gibt es bei Gsella nun auch häufiger melancholische Untertöne, hervorgerufen vom fortschreitenden Lebensalter? Er wird uns doch wohl nicht zum überwiegend ernsthaften Dichter werden wollen? Deren gibt es schon ein paar.

Thomas Gsella: „Ich zahl’s euch reim“. Neue politische Gedichte. Verlag Antje Kunstmann. 234 Seiten, 18 Euro.




Der Stadtnomade als alternder Mann – Paul Nizons Journal „Der Nagel im Kopf“

Der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon, seit vielen Jahren in Paris lebend, ist mittlerweile 91 Jahre alt. Es erscheint durchaus als altersgerecht, wenn er in seiner jüngsten Journal-Sammlung weit, weit zurückblickt. So erinnert er sich an Liebschaften, die etliche Jahrzehnte zurückliegen oder gar an die ersten weiblichen Lockrufe, die ihn zur Frühzeit ereilten, überhaupt an die Phasen der „Lebens-Anwärterschaft“, die hernach zum Antrieb seines Schreibens geworden sind.

Der vielfach – zumal in der schreibenden Zunft – verehrte Nizon (ein kostbares Hauptwerk: „Das Jahr der Liebe“ von 1981) ist nie ein Autor für die Menge gewesen, aber einer, der aus der neueren deutschsprachigen Literatur schwerlich wegzudenken ist; erst recht nicht aus französischer Perspektive besehen. Nach wie vor schreibt Nizon seine Bücher auf Deutsch. Wie er auch in seinem Band „Der Nagel im Kopf“ darlegt, betrachtet er sich selbst als einen Miturheber „autofiktionalen“ Schreibens und hält abermals fest, dass seine Literatur weit überwiegend aus Ablagerungen des Selbsterlebten bestehe – und nicht aus freischwebendem Fabulieren.

Unerfülltes Begehren in Rom

Als gar nicht so geheimes, weil wiederholt beschworenes Kraftzentrum auch dieses Buches erweist sich das italienische Erlebnis mit einer gewissen Maria, das den eingestandenermaßen „frauensüchtigen“ Mann seither verfolgt – obwohl oder gerade weil sie den Liebesakt damals nicht vollzogen haben. Die (Nicht)-Affäre und das unerfüllte Begehren sowie die Begleitumstände (seinerzeit lief ein bestürzender KZ-Film im römischen Kino) haben offenbar innig mit seiner kompromisslos anspruchsvollen Künstlerwerdung zu tun. In diesem Zusammenhang steht ein nie ausgeführtes Romanprojekt mit dem Arbeitstitel „Der Nagel im Kopf“ seit Dezennien im Raum. Nun heißen die von 2011 bis 2020 (Corona taucht nur knapp auf) entstandenen Aufzeichnungen so. Zitat: „… das Entsetzen hat sich mir eingebrannt. Es ist in mir steckengeblieben wie ein Nagel im Kopf.“

„So viel Tod“

Durch das Journal ziehen sich Stimmungsschwankungen zwischen Selbstmitleid und Selbstüberhöhung. Die allmähliche Alters-Verdunkelung mit ihren Schwächungen und Gebrechlichkeiten ist ein fortlaufendes Thema, daraus resultierend auch Einsamkeits-Gefühle, denn nach und nach sterben viele seiner Zeitgenossen und Weggefährten, seine Alters-Kohorte „dünnt aus“: „So viel Tod. Und in den Zeitungsmeldungen räumt der Tod die paar Überlebenden meiner Generation weg.“

Manche Passagen mögen dünkelhaft oder hochmütig wirken, andere wiederum ausgesprochen verzagt und entkräftet. Paul Nizon kreist nun einmal sehr um sich selbst. Andernfalls gäbe es sein Oeuvre nicht, jedenfalls nicht das vorhandene. Er sorgt sich um seinen Nachruhm und fragt sich immer wieder, was wohl von seinem Lebenswerk bleiben werde. Hin und wieder vergleicht er sich mit weltweit populären Erfolgsautoren wie etwa John Irving. Doch die eigentlichen Bezugsgrößen sind Schriftsteller wie Robert Walser, Elias Canetti oder – auf andere Art – der gleichfalls in Paris lebende Peter Handke.

Wo der Weltgeist waltet

Apropos Paris: In dieser Metropole waltet für Nizon sozusagen der vitale, stets sich erneuernde Weltgeist in allen Schattierungen. Nizon denkt an sein ruheloses  „Stadtnomadentum“ mit vielfach wechselnden Ateliers („Schreibbuden“) in allen möglichen Arrondissements zurück. Wie anders als die enge, ängstliche Schweiz erscheint ihm diese leuchtende Weltstadt mit ihrer ganz anderen Lebensart! Doch an einem Demo-Tag, an dem das halbe Pariser Zentrum verstopft ist, ergreift ihn eine Panik der Ausweglosigkeit. Überhaupt sieht er Frankreich in den Zeiten der Gelbwesten-Proteste kurz vor einem Bürgerkrieg. Den Präsidenten Macron hält er übrigens für schrecklich profan – im Gegensatz zu Politikern vom Format eines Mitterrand. Zwischendurch beschreibt Nizon seine Haltung zu Ereignissen wie dem Tod des Popstars Johnny Halliday und dem verheerenden Brand der Kathedrale Notre-Dame, die je auf ihre Weise die französische Nation bewegt haben.

Den anfangs stets unsicheren Einkünften zum Trotz, bereut Nizon keinesfalls seine frühzeitige Entscheidung gegen ein Angestellten-Dasein und für seine künstlerische Existenz par excellence. Nicht nur in Paris und Rom hat er gelebt, sondern zeitweise auch in Barcelona und London. Einen Flaneur und fiebrigen Frauensucher wie ihn kann man sich eigentlich nur in solchen Städten vorstellen, nie und nimmer auf dem Lande oder an wenig bedeutsamen Orten. Auch Zürich und Bern waren ihm nicht genug.

Paul Nizon: „Der Nagel im Kopf“. Journal 2011-2020. Suhrkamp Verlag, 263 Seiten, 26 Euro.

 




Wenn Querulanten querulieren – aufschlussreiches Buch über einen altbekannten Sozialtypus

Querulanten? Kennen wir doch alle. Und wir wissen ziemlich genau, was wir davon zu halten haben. Wirklich?

Eine virtuelle Buchpräsentation im Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen hat nun auch manche Leute aus der Fachwelt eines Genaueren belehrt. Privatdozent Dr. Rupert Gaderer, Akademischer Oberrat am Germanistischen Institut der Bochumer Ruhr-Universität, hat sich über Jahre hinweg mit dem Themenkreis befasst. Nun liegt das Resultat als Buch vor: „Querulieren. Kulturtechniken, Medien und Literatur 1700-2000″. Gaderer stellte es im Dialog mit der Münchner Literaturwissenschaftlerin Prof. Juliane Prade-Weiss vor.

Der Begriff „Querulant“ in seiner heute noch gängigen Bedeutung hat sich Gaderer zufolge erst allmählich herausgebildet, als im Laufe des 18. Jahrhunderts das Rechtssystem für Beschwerden geöffnet wurde („Zugang zum Recht“). Die Figur des Querulanten wäre demnach kaum denkbar ohne die preußische Bürokratie, die sie recht eigentlich hervorgebracht hat.

Um „den“ Querulanten nicht von vornherein als starre Figur abzustempeln (wie dies im Laufe der Geschichte oftmals geschehen ist), hat Rupert Gaderer lieber das Verb „querulieren“ in den Buchtitel gestellt, das die Handlung sozusagen verflüssigt und nicht vorschnell verfestigt.

Bis hin zum „Rechts-Exzess“

„Querulant“ wurde im 18. Jahrhundert in der allgemeinen Bedeutung „Zänker“ oder „Streitsüchtiger“ verwendet, bezog sich um das Jahr 1800 aber zusehends auf den Rahmen des Rechtssystems. Wie es im Leben so geht: Einige Leute nutzten das Instrument der juristischen Beschwerde sehr ausgiebig. In preußischen Gesetzesbüchern wurden folglich alsbald jene erwähnt, die mutwillig immer und immer wieder Klage erhoben, was sich zuweilen als Störfaktor im System (sozusagen als „Sand im Getriebe“) erwiesen hat.

Die mutwilligen Kläger drohten Kapazitäten der Justiz zu „verstopfen“. Hatte man einmal das Rechtssystem geöffnet, konnte man es allerdings schwerlich wieder gänzlich schließen und abschotten. Misstrauisch beäugte und belauschte der Beamtenapparat jedoch besonders auffällige „Querulanten“ und setzte von oben herab Grenzmarken, nach denen es gleichsam „des Guten zu viel“ sei. Die Folge waren Repressalien bis hin zu Haftstrafen für „unverbesserliche“ Klageführer. Fortan kam auch die Schmährede vom „Rechts-Exzess“ auf.

Fast immer nur Männer

Querulanten waren traditionell fast immer männliche Wesen, also können wir uns auch die krampfhafte Schreibweise Querulant*innen schenken. Frauen galten in früheren Zeiten – mit Ausläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – kaum als klagefähig. Diese Möglichkeit, sich Recht zu verschaffen, wurde ihnen schlichtweg nicht zugestanden. Autor Gaderer nennt als äußerst rares Gegenbeispiel die Frau eines Müllers, dem die Wasserzufuhr zum Mühlrad abgesperrt worden war. Grob gesagt: Während Männer in gewissen Grenzen munter querulieren durften, wurden klagewillige Frauen schnell als „hysterisch“ verunglimpft.

Rupert Gaderer hat die Spuren des Querulierens freilich nicht nur in juristischer Hinsicht verfolgt, sondern auch in der Psychiatrie und der Literatur zahlreiche wertvolle Hinweise vorgefunden. Das Phänomen lasse sich überhaupt nur erfassen, wenn man interdisziplinär vorgehe. Als literarische Beispiele seien nur genannt: Heinrich von Kleists berühmte Novelle „Michael Kohlhaas“ (1810) und Hermann Bahrs „Der Querulant“ (1914), eine Kömödie in vier Akten.

„Krankhaftes Phänomen“

Mit dem Aufkommen der Psychoanalyse setzte auch eine verschärfte Neubewertung des Querulierens ein. Auf breiter Front setzte sich die Tendenz durch, das Querulantentum zu pathologisieren, es als krankhaftes Phänomen zu behandeln. Dazu entstanden beispielsweise Fotoreihen, die typische Querulanten anhand ihrer Physiognomie dingfest machen sollten. Auch wurden Handschriften daraufhin untersucht, ob sich in ihnen Hinweise auf notorisches Querulieren fänden. Die Klagesucht galt manchen Vertretern des Fachs gar als erblich.

Hochinteressant auch der internationale Vergleich. Das Querulantentum in seiner reinsten Form war innig mit dem preußischen und sodann deutschen Rechtssystem verwoben. Zwar bildeten sich z. B. auch in Österreich („Nörgler“) und Italien ähnliche Sozialtypen heraus, doch in England (und später in den USA) mit ihren ganz anders gearteten Rechtssystemen nahm auch die Literatur eine andere Richtung.

Ein Gruß von Karl Kraus

Wohl nur in Preußen konnte Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“ entstehen, der wegen einer relativen Geringfügigkeit Klage erhebt und hernach mordend und brandschatzend durch die Lande zieht. Englische Übersetzer täten sich, wie es in der Diskussion zur Buchvorstellung hieß, seit jeher schwer mit Kohlhaas-Übertragungen. Die Literatur auf der Insel ergehe sich zumeist in Satiren aufs Rechts- und Bürokratie-System, das Kohlhaas-Syndrom sei den britischen Autoren hingegen fremd.

Dass man die ganze Angelegenheit trotz aller Ernsthaftigkeit auch (selbst)ironisch auffassen kann, bewies übrigens just der allzeit streitbare Karl Kraus. Er unterzeichnete Briefe gelegentlich mit dem Gruß „Ihr Querulant“.

Rupert Gaderer: „Querulieren. Kulturtechniken, Medien und Literatur 1700-2000″. Verlag J. B. Metzler (Reihe „Media. Literaturwissenschaftliche Forschung), 368 Seiten, 59,99 Euro.




„Menschen, Makel und Abgründe“: Dortmunds neue „Stadtbeschreiberin“ Anna Herzig

Wahl-Salzburgerin, jetzt für einige Monate in Dortmund wohnhaft: die Schriftstellerin Anna Herzig. (Foto: Roland Gorecki/Dortmund Agentur)

Dortmunds neue „Stadtbeschreiberin“ Anna Herzig hat schon Ende April ihre Wohnung im Kreuzviertel bezogen, doch hat man noch gar nicht viel von ihrem hiesigen Wirken gehört. Jetzt aber, da die Pandemie nach und nach zu schwinden scheint, soll sich das spürbar ändern.

Die sonst in Salzburg lebende Stipendiatin steckt offenbar voller Pläne und Energien. Es gibt kaum ein Gebiet des Schreibens, auf dem sie sich nicht erproben möchte. An Romanen und einem Kino-Drehbuch arbeitet sie ebenso wie an dramaturgischen Exerzitien fürs Theater. Auch Bühnenstücke dürften nicht lange auf sich warten lassen.

In Österreich, so verriet Anna Herzig heute, habe sie oftmals zu kämpfen gehabt. Immerhin hat sie auch dort schon Stipendien erhalten (Land Salzburg, Villach). Ganz anders jedoch in Deutschland. Gleich mehrfach betont sie, wie sie hier überall mit offenen Armen und offenen Sinnes empfangen worden sei, ob nun in Leipzig, Dresden, Frankfurt oder eben Dortmund. Hier wird sie u. a. Veranstaltungen für die örtliche Volkshochschule, das Literaturhaus und das Kulturbüro bestreiten und sich darüber hinaus mit der regionalen Literaturszene vernetzen. Gespräche mit Menschen und Beobachtungen außerhalb des Kulturbetriebs gehören selbstverständlich dazu.

Sichtbar auf der literarischen Landkarte

Es war eine nachhaltig wirksame Entscheidung der Stadt Dortmund, das Amt der Stadtbeschreiberin (Stadtbeschreiber nicht ausgeschlossen) auszuloben. Die westfälische Reviermetropole nimmt jetzt wieder einen besser sichtbaren Platz auf der literarischen Landkarte ein. Begonnen hatte die Autor(inn)en-Residenz im Vorjahr mit der prominenten Judith Kuckart, die vor allem einem Kiez in Dortmund-Hörde, dem Schauplatz einiger ihrer Kindheits-Sommerferien, ästhetischen Mehrwert abgewonnen und überhaupt beste Eindrücke hinterlassen hat.

Demgegenüber ist Anna Herzig hierzulande bislang weniger bekannt. Falls das denn ein Maßstab sein sollte: Es ermangelt immer noch eines eigenen Wikipedia-Eintrags für die Autorin. Doch was soll’s? Schon als Kind hat sie Geschichten ausgesponnen, im Alter von 14 ernsthaft zu schreiben begonnen, mit 17 Jahren dann ihr erstes Buch veröffentlicht und seither ordentlich „nachgelegt“. Etliche Kurzgeschichten sowie zwei Romane („Sommernachtsreigen“, 2018 / „Herr Rudi“, 2020) sind bereits erschienen, zwei weitere sind in Arbeit. „Herr Rudi“ soll in absehbarer Zeit ins Kino kommen, Anna Herzig arbeitet an einer Drehbuchfassung.

„…zum Teil bösartiger Stil“

Geboren wurde die heute 33-jährige Anna Herzig als Tochter einer Kanadierin und eines Ägypters in Wien. Kein Wunder also, dass Fragen der Herkunft und Identität in ihren Texten eine besondere Rolle spielen. Ansonsten, so heißt es in einem städtischen Pressetext etwas kryptisch, interessiere sie sich speziell für „Menschen, Makel und Abgründe“. Das klingt schon mal nicht nach glatter Eingängigkeit. Laut Jury-Begründung überzeuge vielmehr ihr „hintergründig-skurriler, zum Teil bösartiger Stil, der die Tiefen menschlicher Beziehungen ausleuchtet“. Bei ihrer heutigen Vorstellung wirkte sie so gar nicht „bösartig“, aber Leben und Schreiben sind ja eh nicht bruchlos eins.

Man erhofft sich von Anna Herzig „einen originellen, unverstellten Blick auf die Topografie des Ruhrgebiets“, wie die Jury weiter verlauten ließ. Die Autorin selbst freut sich über die Dauer des Stipendiums (Ende April bis Ende Oktober), die es erlaube, „mich ganz auf die Stadt einzulassen, in Ruhe zu beobachten und mich auf die Kunst zu konzentrieren.“ Nach den vergangenen schwierigen Monaten sei sie froh, „dass ich mit den Menschen nun auch wieder ins Gespräch kommen kann“.

Schon jetzt ein „Fan“ dieser Stadt

Fürs Ruhrgebiet und hier speziell für Dortmund scheint Frau Herzig ein Faible entwickelt zu haben, vielleicht liegt’s just auch am deutlichen Kontrast zu Wien und Salzburg. Durch YouTube-Videos habe sie Dortmund, das sie zuvor nicht gekannt hat, als erstaunlich grüne Stadt wahrgenommen. Inzwischen sei sie geradezu ein Dortmund-„Fan“. Apropos: Die sonst handelsübliche Frage nach dem BVB wurde bei Anna Herzigs heutiger Pressevorstellung wohlweislich nicht gestellt. Es müssen ja auch Rätsel und Geheimnisse bleiben.

Wie auch immer: Jedenfalls will Anna Herzig in Dortmund an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der zu wesentlichen Teilen im Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt. Das mag sich noch halbwegs gemächlich anhören, doch die Handlung spielt vor dem Hintergrund einer dystopischen (also unwirtlichen) Welt, in der die Männer den Krieg gegen die Frauen verloren haben. Im Mittelpunkt: drei Herrschaften, die damit erst einmal fertigwerden müssen. Ob sie wenigstens bei der besagten Auktion Glück haben? Und was es da wohl zu ersteigern gibt?

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Veranstaltungen mit Anna Herzig:

Virtuelle Matinee mit der Stadtbeschreiberin: „Meet & Greet“, moderiert vom Salzburger Comedian Sebastian Hochwallner. Link zur Teilnahme: https://bit.ly/3vsWCRa

Achtung! Die ursprünglich für den 20. Juni (11 Uhr) geplante Matinee muss aus Krankheitsgründen verschoben werden. Der neue Termin steht noch nicht fest.

VHS-Online-Kursus „Creative Writing“ mit Anna Herzig: nächster Termin am Dienstag, 15. Juni, 17.45 Uhr. Anmeldung online unter vhs.dortmund.de (Veranstaltungs-Nummer 211-62319W).

Drei Lesungen im Literaturhaus am Neuen Graben – mit weiblichen Gästen, die Anne Herzig selbst auswählen durfte und deren Auftritte sie moderieren wird: Irene Diwiak und ihr Roman „Malvita“ (24. Juli, 19.30 Uhr), Olivia Kuderewski  und ihr Roman „Lux“ (20. August, 19.30 Uhr) und schließlich Nora-Eugenie Gomringer mit Lyrik (2. Oktober, 19.30 Uhr).

 




„Flüchtiges Begehren“: Mit dem 30. Fall bereitet Donna Leon ihren Commissario Brunetti auf den Abschied vor 

Wir müssen uns Donna Leon als glücklichen Menschen vorstellen. Nachdem die US-Amerikanerin einige Jahre um den Globus getingelt war und sich in verschiedenen Jobs ausprobiert hatte, fand sie in Venedig ihr privates Paradies und beschloss, Schriftstellerin zu werden.

Geschichte und Gegenwart der einstigen Handelsmetropole, das trübe Wasser der Lagune, die verwinkelten Gassen und der schöne Schein der Serenissima: genau der richtige Ort, um über Macht und Mafia und die Verbrechen nachzudenken, die aus Neid und Gier, Liebe und Hass begangen werden. Mit der Erfindung des unbestechlichen Commissario Brunetti, der sich schlafwandlerisch durch das labyrinthische Venedig bewegt, seine Familie abgöttisch liebt und sich in die Lektüre der alten Klassiker vertieft, um die menschlichen Abgründe besser verstehen zu können, gelang ihr auf Anhieb mit „Venezianisches Finale“ der Durchbruch zur Besteller-Autorin.

Um ihren Leidenschaften zu frönen, barocke Ensembles zu alimentieren und der geliebten Musik von Georg Friedrich Händel zu lauschen, wo immer sie zur Aufführung kommt, musste sie „nur“ jedes Jahr einen neuen Brunetti-Krimi schreiben. Die spezielle Melange aus venezianischem Flair, sanfter Ironie und einem Setting mit dem immer gleichen Personal (die kluge und warmherzige Gattin Paola, die engagiert-aufbrausende Tochter Chiara, der rebellisch-pfiffige Sohn Raffi, der beharrlich-bauernschlaue Mitarbeiter Vianello, die Internet-affine Elettra, der dumpfbackig-eitle Vorgesetzte Patta) war stets Garant für gute Unterhaltung. Dass der Autorin allmählich (beim 30. Fall) die Puste ausgeht und sie der Stadt Venedig und ihres sympathischen Commissario überdrüssig scheint, ist ebenso bedauerlich wie verständlich.

Es beginnt mit harmlosen Flirts

Der neue Band „Flüchtiges Begehren“ ist angekränkelt von menschlicher Trübsal und literarischer Trauer: Abschied liegt in der Luft, das Ende scheint nahe. Das spürt auch Brunetti. Er schleppt sich nur noch lustlos ins Büro. Er blättert in den Zeitungen, trinkt einen Espresso nach dem anderen. Wartet auf den Dienstschluss. Dass sich etwas menschlich Fehlbares ereignet, das sich bald zu einem widerlichen Abgrund weiten wird, merkt Brunetti erst, als ihn seine neue Mitarbeiterin, Claudia Griffoni, darauf hinweist. Sie ist kürzlich von Neapel nach Venedig versetzt worden, sorgt für Frauen-Power und verdrängt allmählich den Kollegen Vianello, der nur noch als Nebenfigur schattenhaft durch den Roman geistert.

Die kriminalistischen Verwicklungen beginnen ganz harmlos. Zwei venezianische Burschen flirten auf dem Campo Santa Margherita mit zwei jungen amerikanische Touristinnen, unternehmen mit dem Boot eine Spritztour durch die Lagune. In der Dunkelheit rammen sie einen Pfahl, stürzen durcheinander und verletzten sich schwer. Die verängstigten Männer legen die bewusstlosen Frauen auf einem Steg des Hospitals ab, bevor sie das Weite suchen. Entdeckt werden die Frauen nur, weil ein Krankenhausmitarbeiter nachts auf dem Steg eine Zigarettenpause macht. Die beiden Flüchtigen sind schnell ermittelt. Doch was steckt hinter dem Unfall und dem befremdlichen Verhalten der Männer? Was verschweigen die beiden? Wovor haben sie Angst?

Wer ist überhaupt frei von Mafia-Kontakten?

Um Licht ins Dunkel zu bringen, müssen Brunetti und Griffoni das Leben der beiden jungen Männer durchleuchten, die schon zusammen die Schulbank gedrückt haben und mehr als nur kumpelhafte Freundschaft füreinander empfinden. Der eine, Berto Duso, ist inzwischen Jurist, der andere, Marcello Vio, ist Handlanger seines Onkels, Pietro Borgato, der ein paar Boote besitzt, mit ihnen Waren durch die Lagune schippert und schon öfter ins Fadenkreuz der Hafenpolizei geraten ist. Doch bisher konnte man dem gewalttätigen Borgato nicht stichhaltig nachweisen, dass er Kontakte zur Mafia unterhält und sich als Schmuggler betätigt.

Bis Brunetti das Geheimnis von Berto und Marcello lüften kann und herausfindet, warum sich die beiden vor Borgato fürchten und in welche schändlichen Verbrechen der Bootsbesitzer verwickelt ist, vergehen Tage und Wochen. Aqua Alta, das herbstliche Hochwasser, schwappt durch Venedig, kalter Nebel legt sich wie ein grauer Schleier über die vom Massentourismus verschandelte Stadt. Brunetti verzettelt sich in einfühlsame Gespräche mit den beiden verschreckten Jungs und führt langwierige (und langweilige) Besprechungen mit Küstenwache und Carabinieri der Inseln. Wem kann er trauen und wer ist frei von Mafia-Kontakten?

Ein Wiedergänger des Sisyphos

Es ist ein Buch des Grübelns und Zweifelns. Lange bewegt sich fast gar nichts. Brunetti ist von Gott und der Welt verlassen, er wartet nur noch darauf, entweder sanft zu entschlafen oder endlich den gordischen Knoten des menschlichen Elends durchschlagen zu können. Auf einen langen, zähen Stillstand folgt irgendwann ein kurzes, tödliches Finale. Zurück bleibt Brunetti, der den Stein wieder allein den Berg hinauf rollen muss. Doch als glücklichen Menschen können wir ihn uns kaum mehr vorstellen. Eher als einen melancholischen Wiedergänger von Sisyphos, der kurz davor ist, alles hinzuschmeißen und für immer seinen Abschied zu nehmen.

Donna Leon: „Flüchtiges Begehren“. Commissario Brunettis dreißigster Fall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2021, 315 S., 24 Euro.

(Auch das Hörbuch, gelesen von Joachim Schönfeld, ist bei Diogenes erschienen. Preis: 21,99 Euro in CD-Form, 528 Minuten)




Die Sehnsucht nach Bleibe und die Furcht davor – Judith Hermanns Roman „Daheim“

„Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein“, rief Marcel Reich-Ranicki aus, als Judith Hermann 1998 mit ihrem Erzähl-Band „Sommerhaus, später“ ein fulminantes literarisches Debüt hinlegte. Der Literaturpapst sollte recht behalten.

Jedes ihrer Bücher stieß seitdem bei Publikum und Kritik auf große Resonanz. Interesse und Erwartungen waren jeweils riesig, weil die Autorin nicht gerade als Vielschreiberin bekannt ist und lange Pausen einlegt. Ihr neuer Roman „Daheim“ wurde bereits vor der Veröffentlichung für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Keine Bange: Judith Hermann ist nicht unter die Heimat-Dichterinnen gegangen, sie verteilt keine literarisch fein gehäkelten Spitzendeckchen und singt keine folkloristischen Lieder. Aber ihre Figuren haben sich schon immer nach einem Ort gesehnt, an dem sie sich wohlfühlen und zur Ruhe kommen können. Es sind seelisch Verletzte, von unerfüllbaren Wünschen Getriebene, sie sind heimatlos, traurig und melancholisch, rauchen und schweigen viel: Das Wichtigste steht oft in den Leerstellen zwischen den Wörtern.

Wo es kein richtiges Zuhause gibt

Die Figuren bleiben rätselhaft, auch für die Autorin, die sich ihnen annähert, ihnen aber Raum lässt zum Atmen und Flüchten. Ob sie sich ein Sommerhaus erträumen oder in einem Vorstadt-Reihenhaus versauern, ob sie im vergammelten „Lettipark“ ihre Kindheit vertrödeln oder auf einem Trip durch die USA ihren verlorenen Hoffnungen hinterher hecheln: Sie suchen immer nach dem einen Moment, der das ganze Leben verändert, nach dem richtigen Wort für das Unsagbare: „Wouldn´t it be nice / if we could live here / make this the kind of place / where we belong.“ Diese Zeile (aus einem Song der Beach Boys), die Judith Hermann ihrem Roman „Gespenster“ vorangestellt hat, könnte auch das Motto von „Daheim“ sein: Die Menschen wollen einen Platz finden, wo man hingehört und bleiben möchte. Doch kann es ihn überhaupt für eine Judith-Hermann-Figur geben?

Die (namenlose) Ich-Erzählerin ist eine Frau von Ende vierzig, sie raucht und schweigt, hat einen Ex-Ehemann, Otis, dem sie immer noch ihre Gedanken und Wünsche anvertraut, der aber nur mit sich selbst und dem Weltuntergang beschäftigt ist, in seiner Wohnung alles, was er findet, aufbewahrt, repariert und einsatzbereit hält für den Fall, dass die Gesellschaft kollabiert oder der Atomkrieg ausbricht. Ihre Tochter, Ann, hat mit 18 die Schule geschmissen, ist seitdem auf einem Erlebnis- und Erkenntnis-Trip rund um die Welt und meldet sich nur sporadisch. Wenn die Erzählerin sie fragt, wann und ob sie denn mal wieder „nach Hause“ kommt, ist das schon deshalb schräg, weil es weder für die Tochter noch die Mutter ein richtiges Zuhause gibt.

Aus der Stadt in ein Dorf am Meer

Die Erzählerin hat früher in einer (namenlosen) Großstadt gewohnt und lebt jetzt in einem (namenlosen) Dorf an einem (namenlosen) Meer, sie hat sich dort ein kleines Haus gemietet und arbeitet als Kellnerin bei ihrem älteren Bruder, Sascha, den es ebenfalls dorthin verschlagen hat. Er hat sich eine Kneipe gekauft und bewohnt ein möbliertes Haus, das einem Museum gleicht. Mit fast 60 Jahren hat er sich in ein 20-jähriges Mädchen verknallt, Nike, die den verknitterten Lover mit ihrer frechen Jugendlichkeit zur Weißglut treibt.

Die Erzählerin möchte in dem Kaff Wurzeln schlagen. Behilflich ist Nachbarin Mimi, eine Künstlerin, die nach mehreren gescheiterten Ehen in ihr Dorf zurückgekommen ist, ihre Leinwände ins Watt legt, von der Flut überrollen lässt und schaut, welche Spuren das Meer hinterlassen hat, wenn die Ebbe die Leinwände wieder freigibt. Mimi hat einen Bruder, Arild, ein Bauer, der Schweine züchtet. Er war nie woanders, würde niemals weggehen und weckt das Interesse der Erzählerin. Die beiden können gut miteinander schweigen, zwischen ihnen funkt es, auch erotisch.

Vielleicht könnte jetzt alles gut werden, wäre da nicht die Marder-Falle, die bei der Erzählerin verschüttete Ängste freilegt. Dass nicht der im Hause rumorende Marder, sondern andere Tiere in die Falle gehen, Katzen und Vögel, macht die Sache nicht leichter. Die Falle erinnert die Erzählerin an das Eingesperrt-Sein in einer Kiste.

Vom Magier in eine Kiste eingesperrt

Mit der Rückblende auf ein traumatisches Erlebnis beginnt denn auch der Roman: Als junge Frau arbeitete sie in einer Zigarrenfabrik, wohnte an einer Ausfallstraße, ging abends oft hinüber zur Tankstelle, um sich ein Eis zu kaufen. Einmal wird sie von einem älteren Mann angesprochen, einem Zauberer, der eine schöne Frau sucht, die den Mut hat, sich in eine Kiste zu legen, zum Schein zersägen zu lassen und mit ihm auf eine Schiffsreise nach Singapur zu gehen. Die Erzählerin ist von der Idee fasziniert, besucht den Zauberer in seinem abgelegenen Haus, klettert in die Kiste und übt mit ihm den Zaubertrick: Noch heute, viele Jahre später, graust es ihr, wenn sie an die Enge und den muffigen Geruch in der Kiste denkt.

Nach Singapur ist sie nicht gereist, dafür hat sie Otis kennengelernt und Ann bekommen und lebt jetzt in einem knarzenden Haus am Meer. Die Befreiung von Abhängigkeit und Fremdbestimmung ist seitdem zu ihrem Lebens-Antrieb geworden. Außerdem fühlt sie sich zeitlebens ausgesperrt und ausgestoßen.

Vielleicht alles nur geträumt

Ausgelöst durch die Marder-Falle erinnert sie sich, dass sie mit ihrem Bruder oft stundenlang im dunklen Treppenhaus ausharren und warten musste, bis die Mutter nach Hause kam und die Tür aufschloss, oder die Mutter, die allein sein wollte, die Kinder endlich in die Wohnung ließ: „Daheim“ ist bisher ein Ort der Angst und des Grauens gewesen. Vielleicht beruht alles aber auch nur auf Erfindung und Einbindung: Denn sowohl Ex-Ehemann Otis wie auch Bruder Sascha haben ganz andere Erinnerungen, und einmal räumt auch die Erzählerin ein: „Möglicherweise träume ich und habe alles geträumt, ich habe Ann geträumt und Otis, ich träume das Wasser, meine Kindheit, mich.“

Judith Hermann hat diesen leisen, poetischen, unverwechselbaren Sound, der das Schwere leicht und das Leichte schwer macht. Die Sprache schillert vor Schönheit, die Menschen dürfen sich ein wenig öffnen, aber doch ihre kleinen Geheimnisse bewahren.„Daheim“ spricht davon, wie das Alte vergeht, aber das Neue noch nicht greifbar ist, wie wir uns nach Heimat sehnen, aber uns doch davor auch fürchten. Die kämpferische Künstlerin Mimi erzählt die Legende der „Nixe“, die von Fischern einst aus dem Wasser gezogen, vergewaltig und wieder ins Meer geworfen wurde. Die Rache der „Nixe“ war grausam: sie entfachte eine gigantische Sturmflut, die alles überrollte. Die Welt der alten Männer, sagt uns Judith Hermann, ist längst zerstört, aber eine neue Welt, in der wir alle „Daheim“ sein können, lässt noch auf sich warten.

Judith Hermann: „Daheim“. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 191 Seiten, 21 Euro.




Südwärts ins Klischee der 70er Jahre – Klaus Modicks Roman „Fahrtwind“

Da stößt jemand beim Sortieren seiner Bücher auf eine Lektüre, die ihn in den 1970er Jahren beeindruckt hat. Beim zerfledderten Büchlein, in dem er seinerzeit die besten Stellen mit Zigaretten-Blättchen markiert hat, handelt es sich um „Aus dem Leben eines Taugenichts“, jene berühmte Novelle des Joseph von Eichendorff aus den frühen 1820er Jahren.

Besagter Jemand erinnert sich, dass er sich damals angesprochen gefühlt hat vom Eichendorffschen dolce far niente, von herrlicher Nichtsnutzigkeit also, die auch ihm damals als Lebensmodell vorgeschwebt hat – weitaus mehr jedenfalls als die trübe Aussicht, die Klempnerfirma seines Vaters mit dem Attribut „& Sohn“ fortzuführen. Also machte er sich auf den Weg, um das süße Nichtstun zu erproben, per Anhalter (ja, das gab’s noch) ging’s südwärts.

Trampen mit Gitarre

Damit beginnen ein paar pikareske Abenteuerchen in den Freiheit verheißenden frühen Siebzigern. Der junge Ich-Erzähler, der wohl dies und jenes mit dem 1951 geborenen Autor Klaus Modick gemein haben dürfte, packt also vor allem seine Gitarre ein, trampt los und überlässt sich den Zufällen. Dabei zieht ihn allemal das Ewigweibliche hinan – oder gelegentlich auch herab.

Doch, ach, es ist nicht der junge Mann von damals, der hier frischweg berichtet, sondern ein spür- und lesbar gereifter Herr, dessen Sichtweisen mitunter etwas altväterlich anmuten. Wenn er auf Seite 17 einen schwulen „Handelsvertreter für Herrenkosmetik“ beschreibt, der ihn beim Autostopp mitnimmt und sein Knie statt der Gangschaltung tätschelt, klingt es eher nach Stammtisch der 70er, als nach Jugendaufbruch jener Zeit.

Spinatwachtel, aus dem Leim gegangen

Auf Seite 19 merken Lesende womöglich schon wieder leicht irritiert auf. Denn auch der Blick auf gewisse ältere Damen ist nicht nur ungalant, sondern so gar nicht von männlichen Selbstzweifeln angekränkelt. Zitat: „Die andere hätte ihre Mutter sein können, war im Gesicht noch einigermaßen knitterfrei oder jedenfalls knitterfrei geschminkt, in den Hüften allerdings stark aus dem Leim gegangen.“ Derlei Perspektiven und Formulierungen schmälern tatsächlich das Lesevergnügen, das sich denn auch nur streckenweise einstellt.

Der Erzähler wird also im todschicken Mercedes-Roadster aufgegabelt von einer Schönen und deren Mutter, die ihn in ein unsägliches Hippiekitsch-Kostüm zwängt und gegen Honorar für Greise in einem Luxushotel bei Wien aufspielen lässt. (Anmerkung: Greise von damals haben höchstwahrscheinlich andere Musik hören wollen). Der Erzähler bildet sich jedenfalls ein, dass die schöne Tochter nach ihm schmachtet. Doch statt dessen ist die Mutter – als „mannstolle Matrone“ und „Spinatwachtel“ tituliert – hinter ihm her. Wie unangenehm. Schon allein sprachlich. Als die schöne Tochter hingegen den Erzähler verschmäht, ist seines Bleibens nicht länger. Der wahre Süden liegt ja auch nicht bei Wien, sondern – wie immer schon seit Goethe – in Italien.

Joints und Pop und Peace

Es werden im weiteren Verlauf jede Menge Joints gedreht und geraucht, zwischendurch sind auch schon mal Psychopilze („Narrische Schwammerln“) an der Reihe. Via Namedropping kommen etliche Popsongs von damals ins Spiel – und leider auch ein paar deutsche Texte, die der Gitarrero selbst gedrechselt hat. Ansonsten halt pastos aufgetragene 70er Jahre, zuweilen arg klischeebehaftet. Was klebt auf einem VW-Bus? Der Schriftzug „Make Love not War“ natürlich, samt Pril-Blumen, Peace-Zeichen und provokanter Zunge à la Rolling Stones. Und manches mehr. Danke. Das genügt.

Auch das Thema Homosexualität wird hie und da nochmals aufgegriffen, speziell in Gestalt zweier schwuler Motorradfahrer namens Billy und Wyatt (in Wahrheit Leo und Guido, aber die amerikanischen Namen spielen halt auf „Easy Rider“ an), die noch ein paar Vertauschungs- und Verwechslungs-Rätsel bereithalten, was die Binnenspannung der Geschichte jedoch kaum wesentlich steigert. Später geistert gar ein weiterer, bis zur Parodie effeminiert dargestellter Schwuler namens – Achtung! – Detlef herum. Ich hätte gedacht, dass just diese Namenswahl in diesem Kontext eigentlich nicht mehr geht. Da hab‘ ich mich wohl getäuscht, oder?

Dann eben Natalie statt Aurelie

Fürs Finale geht die Fahrt nach Rom, wo ein Künstler mit dem verballhornten Ibsen-Namen „Peer Gynter“ die reiseführende Rolle spielt. Er nimmt den Erzähler mit zur legendären Villa Massimo, wo seit Jahrzehnten deutsche Kulturschaffende aller Sparten ihre staatlich spendierten Stipendien genießen – ein Umstand, der dem eingangs erwähnten süßen Leben sehr nahe zu kommen scheint. Auch dies eine recht schlichte Vorstellung. Wie gut jedoch, dass die kaum minder ansehnliche Schwester der vormals erwähnten Schönen auftaucht und willig ist. Natalie statt Aurelie. Was soll’s. Hauptsache knackig.

Ein Happy End für so ziemlich alle Beteiligten folgt auch noch – wie einst bei Eichendorff, bei dem es schließlich hieß „– und es war alles, alles gut!“ So lautet auch Modicks letzter Satz. Womit er etwas mit Eichendorff gemeinsam hätte.

Ganz ehrlich: Ich habe Klaus Modick öfter als stets recht soliden, verlässlichen und unterhaltsamen Autor der „gehobenen Mittelklasse“ schätzen gelernt. Diesmal bin ich etwas enttäuscht.

Klaus Modick: „Fahrtwind“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 208 Seiten, 20 Euro. 

 




Zwischen Agitation und Innerlichkeit – Vor 100 Jahren wurde der Dichter Erich Fried geboren

Erich Fried 1988 bei einer Lesung – als Gast des Literaturbüros Ruhr im Mülheimer Theater an der Ruhr. (Foto: Jörg Briese)

Viele Jahre hatte der vor den Nazis aus Wien nach London geflohene Erich Fried als kritischer Journalist und politischer Dichter Texte für ein eher kleines Publikum geschrieben. Als er 1979 einen Band mit Liebesgedichten veröffentlichte, wurde er einem größeren Publikum bekannt. Dem im November 1988 verstorbenen Dichter blieben nur noch wenige Jahre des späten Ruhms. Am 6. Mai jährt sich sein Geburtstag zum 100. Male.

Sein vielleicht bekanntestes Liebesgedicht heißt „Was es ist“, es geht so:

„Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist Unglück / sagt die Berechnung / Es ist nichts als Schmerz / sagt die Angst / Es ist aussichtslos / sagt die Einsicht / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist lächerlich / sagt der Stolz / Es ist leichtsinnig / sagt die Vorsicht / Es ist unmöglich / sagt die Erfahrung / Es ist was es ist / sagt die Liebe.“

Typisch für Fried ist die Beharrlichkeit, mit der ein einfacher Gedanke mehrfach umkreist wird, es werden Argumente ausgetauscht und Bedenken vorgebracht: Jemanden zu lieben ist unsinnig, aussichtslos, lächerlich, leichtsinnig, unmöglich und hinterlässt nur Unglück und Schmerz. Gegen die Liebe sprechen Vernunft, Vorsicht und Erfahrung, doch es nützt nichts: „Es ist was es ist“, die Liebe ist zu groß, um sich gegen sie zu wehren.

Keine Scheu vor Selbstentblößung

Etwas gebetsmühlenartig zu wiederholen, suggestiv vorzutragen, lakonisch zu beenden, ist typisch für Fried, dazu eine simple literarische Form, reimloses Sprechen, alltägliche Erfahrungen, keine Scheu davor, sich selbst als verletzlichen Menschen zu entblößen, sich mit allen Schwächen und Stärken, Hoffnungen und Enttäuschungen mit ins Gedicht zu nehmen, sich nicht hinter anderen Figuren oder fremden Stimmen zu verstecken: Das Ich, das hier spricht, der ältere Mann, der in den oft erotisch stark aufgeladenen und sexuell ziemlich freizügigen Liebesgedichten erzählt, wie schön es ist, die Brüste seiner Frau zu streicheln oder ihren Schoß zu küssen, ist immer Erich Fried, der Lust und Sehnsucht offen ausspricht, kein Bedürfnis verschweigt, sich aber auch selbst nicht so ernst nimmt und seine erotischen Obsessionen ironisiert. In seinem Gedicht „Als ich mich nach dir verzehrte“ schreibt Fried: „Wenn ich mich / nach dir / verzehre / heißt das / ich habe zuerst / als Hauptgericht / dich verzehrt / und mich dann / als Nachtisch / oder warst du / die Suppe / und ich / bin das Fleisch?“

Fried hatte zum richtigen Zeitpunkt den richtigen literarischen Ton getroffen, hatte gespürt, dass die Zeit der knallharten Politisierung vorbei war und seine links-alternative Klientel sich danach sehnte, eine neue Beziehung zwischen Kopf und Bauch, Politik und Leben herzustellen und literarisch widergespiegelt zu sehen.

Eine Zuflucht für Rudi Dutschke

Bis Mitte der 1970er Jahre hatte Fried das Gedicht als Mittel zur Verbreitung von Erkenntnissen und des Aufrufs zur Rebellion verstanden: purer Agitprop, vorgetragen bei Versammlungen und Demonstrationen. Fried hatte Rudi Dutschke bei sich in London aufgenommen, als der Studentenführer vom Attentat halbwegs genesen war und sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlte. Als Hausbesetzer Georg von Rauch von der Polizei erschossen wurde, bezeichnete Erich Fried die Tat als „Vorbeuge-Mord“ und wurde dafür vor Gericht gezerrt.

Fried hat sich eingemischt, gegen den Krieg in Vietnam genauso angeschrieben wie gegen den Radikalenerlass, das Wettrüsten der Supermächte, die atomare Bedrohung: Es sind Lehr- und Lerngedichte, die über Ausbeutung und Unterdrückung aufklären, zur Solidarität und zum Kampf aufrufen, sie sind der Zeit verhaftet und lesen sich heute wie politisch-historische Dokumente einer hochpolitisierten Epoche, die im Terror der RAF ihren degenerierten Tiefpunkt und ihr blutiges Ende fand.

Manchmal haarsträubend banal

Doch wer eben noch auf den Barrikaden stand und die Weltrevolution predigte, wollte nun in einer Landkommune leben, sich gesund ernähren, grüne Pläne schmieden und sich den eigenen Gefühlen widmen: Die Neue Innerlichkeit griff um sich und Erich Fried wurde ihr literarisches Sprachrohr.

Die Liebesgedichte sind lyrischer Ausdruck einer Ära, in der Liebe und Politik eins sein sollten. Aber worüber und wie die Gedichte sprechen, ist oft haarsträubend banal und auf fast peinliche Weise selbstverliebt. Sprachlich subtil und gedanklich von zeitloser Schönheit sind die Gedichte nur selten. Doch die Liebesgedichte immer mal wieder hervorzukramen und zu lesen, ist bestimmt besser, als sie zu vergessen und nicht zu lesen. Oder?

Erich Fried: „Liebesgedichte.“ Wagenbach, Berlin 1979 (16. Auflage 2013, 18 Euro)

Erich Fried: „Es ist was es ist.“ Wagenbach, Berlin 1983 (19. Auflage 2021, 18 Euro)

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Eine andere Sicht auf Erich Fried offenbart ein 2018 zum 30. Todestag des Dichters entstandener Beitrag, den Gerd Herholz für die Revierpassagen verfasst hat.

 

 




„Herzzerreißend lustig“: Albert Ehrensteins Erzählung „Tubutsch“ aus dem Jahre 1908

„Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze…“

Das sind Anfangssätze, die man sich merkt, die gleich einen kaum widerstehlichen Sog ins Nichts ausüben. Sie leiten Albert Ehrensteins 1908 verfasste und 1911 publizierte Erzählung „Tubutsch“ ein, mit der er auf einen Schlag bekannt wurde. Selbst der rigide Karl Kraus hat Ehrenstein alsbald zu schätzen gewusst. „Tubutsch“ ist ein gleichermaßen mitreißender wie niederziehender Text. Der Göttinger Wallstein Verlag hat ihn dankenswerterweise „wiederentdeckt“ und mit zeitgenössisch-kongenialen Zeichnungen herausgebracht. Sie stammen von Oskar Kokoschka, mit dem Ehrenstein seinerzeit gelegentlich zusammengearbeitet hat.

Wie in so manchen großen Texten, passiert im Grunde wenig, ja, die Ereignislosigkeit wird sogar unablässig beschworen. Jener Tubutsch, arm an Besitz, an Erlebnissen und an verbliebenem Lebenswillen, streift ziellos durch Straßen und Gassen von Wien. Kein kultivierter Flaneur, sondern ein haltlos Umherirrender. Auf seinenen Wegen halluziniert er Turbulenzen und surreale Vorgänge ohne Unterlass. In jedem Moment kann alles und nichts passieren.

Da tritt ein parfümierter Polizist (damals eine Ungeheuerlichkeit) ebenso auf wie ein zu ungeahntem Leben erwachender Stiefelknecht namens Philipp, der sich nach Nordamerika aufmachen und beim US-Präsidenten Theodore Roosevelt anheuern will. Oder es lässt einer sein Butterbrotpapier bei einer Zeitreise ins urgeschichtliche Cambrium liegen. Man kann das alles gar nicht aufzählend wiedergeben. Unterschiede zwischen profan und erlesen gelten eh nicht mehr. Der Ich-Erzähler stellt klar: „Leute wie ich (….) müssen ihr Sensorium unaufhörlich füttern und sei es mit Geschäftsschildern, um über gähnende Leere hinwegzukommen.“

Ist selbst der Tod nur eine Witzfigur?

Das Ganze türmt sich auf zur Groteske der umfassenden Resignation, zur ewigen Komödie der Verbitterung. Zitat: „Man glaubt, ich sei lustig? Ja! Herzzerreißend lustig! Dies alles ist nichts als Galgenhumor.“ Doch nicht einmal damit genug. Selbst die Aussicht auf den Freitod verheißt Enttäuschung, denn auch der Tod könnte sich als bloße Witzfigur erweisen, kläglich und ohne jede Würde. Ja, hat denn gar nichts tieferen Sinn?

Man muss sich ein wenig an Ehrensteins Stil gewöhnen, so fremdartig ragt er ins Heute hinein. Doch die Befürchtung geht fehl, hier habe jemand die Sprache nur vor-expressionistisch aufgesteilt. Die zuweilen wirr und fahrig erscheinenden Metamorphosen aller Menschen und Dinge, notabene in Sigmund Freuds Wien imaginiert, rufen durchaus Erinnerungen an psychoanalytische Traumdeutungen wach. Sie münden zwar in einen verzagten Rückzug, wenn nicht in Selbstentleibung, werden aber in einer ungemein beweglichen, fiebrigen, manchmal geradezu feurig „sprühenden“ Art vorgebracht. Dann wieder gibt es ein Innehalten, gibt es Momente erhabener Lakonie. Und an manchen Stellen könnte man glauben, hier schreibe einer fast schon wie Franz Kafka. Oder auch wie ein Karl Valentin. Gar vieles steckt drinnen.

Irrwitzig leerlaufende Warenwelt

Die einsamen Gänge durch die Stadt wirken nicht nur für jene Zeit ausgesprochen „modern“, sie künden wie nebenher auch von Untiefen der Klassenfrage und von einer irrwitzig leerlaufenden, rundum austauschbaren Warenwelt. Im Jahre 1908 war das ziemlich unerhört, also im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, als noch gravitätische Sätze wie dieser mehrfach ironisch aufgerufene in Kraft waren: „Man muß das Dekorum wahren.“

Ein sehr schmaler, aber furioser Band, der die Lektüre allemal lohnt. Hernach sollte man sich das beklagenswert exemplarische Leben Albert Ehrensteins vor Augen führen, Karl-Markus Gauß gibt in seinem kundigen Nachwort eine Ahnung davon. Schon als Kind erlitt Ehrenstein antisemitischen Hohn und Demütigungen, später wurde er ins bitterarme Exil getrieben und vollends entwurzelt. Und wieder müsste man die Anfangssätze zitieren, die eben nicht von ungefähr kommen: „Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze…“

Albert Ehrenstein: „Tubutsch“. Mit 10 Zeichnungen von Oskar Kokoschka und einem Nachwort von Karl-Markus Gauß. Wallstein Verlag, Göttingen. 88 Seiten. 20 Euro.




Lasst uns Luftschlösser bauen – Peter Handkes Dämonen-Geschichte „Mein Tag im anderen Land“

Eigentlich ist er Obstgärtner. Seine ganze Leidenschaft zielt darauf, die alten Apfelsorten zu veredeln, „Jonathan“, „Boskoop“, „Ontario“, die „Gravensteiner“. Doch dann wird er von „Dämonen“ heimgesucht, verfällt in einen lallenden Singsang, pöbelt alle und jeden grundlos an, brabbelt unverständliches Zeug und spricht in Zungen. Von Wahn und Raserei gepackt stapft er umher, macht sich überall Feinde und wird von allen gehasst.

Abends kehrt er, müde und zerschlagen, zurück auf den Friedhof, auf dem er sein Zelt aufgeschlagen hat und die Nächte mit Alpträumen verbringt. Irgendwann ist er nicht mehr der einzige Mensch, der in der Rolle des Besessenen herumtobt. Andere tun es ihm nach und werden, aus Verachtung und Furcht und weil manche glauben, der „Dämon“ und seine Anhänger würden der Gesellschaft den Spiegel vorhalten, mehr schlecht als recht geduldet. „Zuletzt“, so erzählt der wie durch ein Wunder eines Tages Geläuterte, „bestand ich, vom Morgen bis in die Nacht, nur noch aus Geschrei. Es war das freilich ein Schreien, das nicht aus mir herauskonnte, statt Aufschreie „Inschreie“, und zwar in einem fort, ohne ein Absetzen. Und niemand, der mich hörte, oder mir zuhörte.“

Heilung durch den „guten Zuschauer“

Plötzliche Heilung: Mit seiner Schwester, der einzigen Person, die zu ihm hält, steht er am Ufer eines Sees. Ein paar Männer ziehen ein Fischerboot aus dem Wasser, bilden einen Halbkreis: in der Mitte ein Mann, der den „Dämon“ sanft anblickt. Sein „Zuschauen“ ist zugleich ein „Hinschauen“ und ein „Hinhören“. „Da bist du ja wieder, mein Freund!“ begrüßt der „Gute Zuschauer“ den schlagartig von Wahn und Raserei befreiten Erzähler, der sich gern einreihen in den „Chor der Seefischer“ und dem „Guten Zuschauer“ als Bruder folgen würde. Aber: „Nein. Du gehörst nicht zu uns, Freund. Du hast hier nichts zu suchen. Weg mit dir. Und auf der Stelle, dalli-dalli. Hinüber ins Land hinterm See mit dir, Nachbar. Und dort drüben wirst du erzählen und den Leuten (…) weitergeben, was dir geschehen ist, verstanden?“

Nein, wir verstehen es nur schwer. Denn was uns Literaturnobelpreisträger Peter Handke in einer „Dämonengeschichte“ von seinem „Tag im anderen Land“ berichtet, ist kaum zu entziffern. Man könnte die wundersame, mit Bibel-Motiven und Heilands-Erlebnissen gezwirbelte und mit einer Mischung aus altväterlichem Gemurmel und modischem Kauderwelsch gewürzte Erzählung für eine verkappte Selbstbiografie halten, für ein ironisches Spiel mit allem, was Handke lieb und heilig und manchmal vielleicht auch ein bisschen peinlich ist.

Anspielungen auf eigene Werke

Das fröhliche Wandern und freie Herumschweifen spielt, wie fast immer bei Handke, eine große Rolle. Kaum ein Buch, das sich nicht dem Wandern verdankt, einmal auch zu einer heftig umstrittenen Pilgerreise durch ein vom Bürgerkrieg zerstörtes Ex-Jugoslawien ausartet und ihn sogar als Redner ans Grab eines Massenmörders geführt hat. Doch lassen wir den alten Streit. Folgen wir Handkes Spiel, das diesmal sogar ein wenig selbstkritisch daherkommt und manche seiner Derwisch-artigen rhetorischen Irrläufer korrigiert und einige seiner Werke lächelnd verballhornt.

Wer beim pöbelnden Dämon an den frechen Jungspund denkt, der seinen arrivierten Schriftsteller-Kollegen der „Gruppe 47“ „Beschreibungs-Impotenz“ attestierte und mit seiner „Publikumsbeschimpfung“ das Theater aufmischte, liegt wohl nicht verkehrt. Wer auf beiläufig in den Erzähl-Fluss eingestreute Signalworte achtet, wird Hinweise auf Handkes „Versuch über die Jukebox“ finden, auf „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, „Die Geschichte des Bleistifts“, den „Versuch über die Müdigkeit“, „Die Hornissen“, „Die Obstdiebin“, „Die Unvernünftigen sterben aus“.

Die Kasperle-Frage: „Seid ihr alle da?“

Lange scheint es auch so, als würde der von seinen Dämonen befreite Obstgärtner, der „im anderen Land“ die Liebe findet, ein Kind zeugt und von den Menschen gegrüßt wird, zur Ruhe kommen. „Einzig zählte: Ich bin woanders. Und: Nur jetzt nicht heim. Nie mehr nachhause!“ Das wünscht sich der Erzähler im Namen von Handke, der einst seiner Heimat Österreich entfloh, in einem verwunschenen Haus bei Paris lebt und, wenn er nicht gerade mit dem Bleistift seine Gedanken fixiert und eine Welt aus Worten erfindet, im seinem Garten die Apfelbäume pflegt.

Im Traum aber kehrt er zurück nach Hause, auf seinen alten Friedhof, und ist zutiefst erschüttert. Im Spiegel erblickt er einen müden Mann, der, „so gar nichts von glühenden Augen, gesträubten Haaren, geblähten Nüstern“ mehr hat. Doch keine Bange, beruhigte sich der Erzähler, das „unausrottbar Widerständische“ lebt noch, „ohne es WIRD nichts“, ist „nichts als Dasein, und Dortsein, und ewig seelenloses Sein.“ Lasst uns „Luftschlösser“ bauen und „Salz“ streuen ins Buch des Lebens, ruft der zum vorlauten Kaperle mutierende Autor und fragt schelmisch: „Seid ihr alle da?“

Peter Handke: „Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonengeschichte“. Bibliothek Suhrkamp, 93 Seiten, 18 Euro.




Karsamstags-Fantasie: Abgesang auf einen von Büchern erschlagenen Leser (autofiktional)

„My Books“ by Jennerally – Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

Vielleicht hättest Du einfach damit nicht mehr anfangen sollen! Jahre bist du völlig zu Recht an diesem Buch vorbeigegangen, achtlos.

Aus welchem Grund nimmst Du es jetzt wider Erwarten zur Hand, wägst es ab, schlägst es aber nicht auf? Schlägst es plötzlich doch auf, schließt es sofort wieder. Öffnest es erneut, liest den Schmutztitel, den Innentitel, den Untertitel und bist enttäuscht, liest den ersten Satz und langweilst Dich.
Liest die ersten Seiten und – na klar – kennst die Geschichte bereits.

Etwas in der Art haben doch ungleich besser schon Tove Ditlevsen und Annie Ernaux geschrieben, John Burnside, Didier Eribon oder hierzulande jüngst Christian Baron. Dennoch liest Du noch etwas weiter, genießt es geradezu für ein paar Momente, einem Autor beim Scheitern zuzusehen.

Dann schaltest Du lieber den Fernseher ein. Schaltest den Fernseher wieder aus, liest das erste Viertel des Buches und ärgerst Dich darüber, dass das nicht fein säuberlich in Kapitel gegliedert ist. Sonst hättest Du vielleicht nur ein, zwei Kapitel gelesen, hättest Dir ein Small-Talk-Urteil bilden können, bevor Du das Buch achtlos weiterverschenkt haben würdest. Liest die Hälfte des Buches und weißt sowieso längst, wie es ausgeht. Liest drei Viertel des Buches, schläfst über einem zu langen Satz ein und schläfst dann später immer wieder an genau derselben Stelle ein. Liest irgendwann das Buch zu Ende und fluchst innerlich: „Hätte ich dieses Buch doch nie aufgeschlagen, hätte ich nie begonnen, dieses Buch zu lesen, hätte ich es doch nie ganz gelesen!“

Dann stellst Du das Buch in das Regal zurück. Eines Deiner Regale, die nicht mehr sicher stehen und nur noch lose in der Wand verschraubt und verdübelt sind. Ausgerechnet jetzt, da Du dieses völlig überflüssige Buch in das Regal zurückzustellen versuchst, statt es ins Altpapier zu werfen, beginnt das Regal zu schwanken, reißt die Dübel vollends aus der brüchigen Wand, und das ganze verfluchte staubige, schwere Regal mit seinen massiven Holzbrettern und Hunderten von dickleibigen Büchern stürzt auf Dich zu.

Du versuchst noch zurückzuweichen, aber Gadamers „Wahrheit und Methode“ hat Dich längst am Kopf getroffen, Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ hat Dir die Brille weggerissen, Daniil Charms Grotesken ein Stück Zahn ausgeschlagen, Montaignes blaugoldene Prachtausgabe der „Essais“ trifft Dich wie ein schwerer Stein und während Du langsam das Bewusstsein verlierst, fällt Dir ausgerechnet ein Wälzer in Großdruck aufs Gesicht und Du kannst gerade noch lesen: „Mittwegs auf unsres Lebens Reise fand / In finstren Waldes Nacht ich mich verschlagen, / weil mir die Spur vom graden Wege schwand …“.
Und Dir flackert’s durchs Hirn: Dante? Göttliche Komödie? Die Hölle? Erster Gesang …?

Monate später wird man Dich finden, fast mumifiziert in der kühlen, trockenen Wohnung, liegend wie gekreuzigt, anders aber als Gottes Sohn den Holzverstrebungen des Regals frontal zugewandt. Als hoch aufgeworfenes Leichentuch haben Hunderte von Büchern Deine Körperflüssigkeiten aufgesogen, jeder Verwesungsgeruch von der Zugluft verwirbelt.

Vor langer Zeit hattest Du so gern Bücher geöffnet, zu guter Letzt nun aber öffneten sie Dich.




„…weil man keine Wahl hat“ – ausgewählte Essays von Paul Auster aus 50 Jahren

„New-York-Trilogie“, „Brooklyn-Revue“, „Buch der Illusionen“, „Nacht des Orakels“: Die Liste der Romane, mit denen der amerikanische Schriftsteller Paul Auster seit Jahrzehnten ein großes Publikum erreicht, ist lang. Zuletzt veröffentlichte Auster unter dem Titel „4,3,2,1“ sein 1200-seitiges Opus Magnum. Jetzt hat er „Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren“ zusammengestellt. Titel: „Mit Fremdem sprechen“.

Zwar sind einige Texte bereits im Band „Die Kunst der Hungers“ (2000) hierzulande veröffentlicht worden, aber die Hälfte (22 von 44) sind „Deutsche Erstveröffentlichungen“. Mit dem Begriff „Essay“ sollte man großzügig sein, denn eigentlich versucht Auster in den meisten kein Problem oder Thema einzukreisen, sondern sich selbst als Leser und Autor in Beziehung zu setzen zu einem anderen Künstler. Er überprüft Leben und Werk dieser Künstler darauf, was sie für ihn und für seine Art des Denkens und Schreibens bedeuten, was er dabei gelernt hat und für sein Werk fruchtbar machen konnte, das ja vor allem auf zwei Grundpfeilern steht: Das Leben besteht aus Zufällen und Literatur spiegelt nicht die Welt und erklärt nicht die Realität, sondern schafft mit Sprache eine eigene Wirklichkeit.

Auster ging nach seinem Literatur-Studium an der Columbia University in New York von 1971 bis 1974 nach Frankreich, versuchte sich als Lyriker und Übersetzer, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und entdeckte die europäische Literatur. In den Beiträgen, die er damals für Zeitschriften und Anthologien schrieb, beschäftigt er sich mit Baudelaire und Mallarmé, Apollinaire und Artaud, Samuel Beckett, Franz Kafka, Paul Celan, Hugo Ball, Knut Hamsun. Manchmal auch schaut er auf die amerikanischen Klassiker, Nathaniel Hawthorne, Edgar Allen Poe, Henry David Thoreau.

Schreiben ist Askese und manchmal Raserei

Leben und Werk von Frauen scheinen ihn nicht zu interessieren, um sich als ein Autor zu definieren, der in der Tradition der europäischen Moderne steht, der mit Postmoderne, Poststrukturalismus und Psychoanalyse bestens bekannt ist und sich im „Hungerkünstler“, wie er bei Hamsun oder Kafka auftaucht, wiedererkennt. Schreiben ist für ihn Ausdruck von Askese und Verzicht, ist schiere Notwendigkeit und trägt Züge des Irreseins, transportiert Momente der Raserei. Kunst ist ein ständiger Kampf mit der Einsamkeit, Schreiben ist ein Überlebensmittel. Sprache ordnet die Erfahrung und schafft eine eigene Wirklichkeit: „Von Sprache entfremdet zu sein“, schreibt er, „ist nichts anderes, als seinen Körper zu verlieren. Wenn dir die Worte versagen, zerfällst du in ein Bild von Nichts. Du verschwindest.“

Politische Beobachtungen nur am Rande

Der politische Beobachter Paul Auster kommt nur am Rande vor. Es gibt nur ein paar kleine Zwischenrufe. Einmal betet er für Salman Rushdie und ruft zur Solidarität mit dem damals von islamischen Fundamentalisten mit dem Tode bedrohten Autor auf; ein anderes Mal beobachtet er einen Mann, der durchs soziale Raster gefallen ist, der alles verloren hat und in einem Pappkarton haust; einmal erinnert er sich an den damaligen New Yorker Bürgermeister Giuliani, der eine provokative Ausstellung britischer Kunst verbieten lassen will, daran, dass Amerika eine Demokratie ist, in der Meinungs- und Kunstfreiheit herrscht.

Am Tage der Terroranschläge vom 11. September sitzt Auster nachmittags wie betäubt in Brooklyn am Schreibtisch und notiert: „Der Wind weht heute Richtung Brooklyn, und der Brandgeruch hat sich in allen Zimmern des Hauses festgesetzt. Ein entsetzlicher, beißender Gestank: brennende Kunststoffe, Stromkabel, Baumaterialien, eingeäscherte Leichen. (…) Es gibt kein Beispiel für das, was heute geschehen ist, und die Folgen dieses Anschlags werden zweifellos furchtbar sein. Mehr Gewalt, mehr Tod, mehr Schmerz und Leid für alle.“ Auster sollte recht behalten.

„Zweifellos eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen“

„Mit Fremden sprechen“ hat Auster seine Rede überschrieben, die er zur Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises 2006 in Oviedo gehalten hat. Er versucht zu ergründen, was ihn um- und antreibt, warum er mit den Lesern, die er meistens gar nicht kennt und ihm völlig fremd sind, meint sprechen zu müssen: „Ich weiß nicht“, schreibt Auster, „warum ich tue, was ich tue. (…) Zweifellos eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen: Allein in einem Zimmer sitzen, einen Stift in der Hand, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr, mühsam Worte zu Papier bringen, um etwas entstehen zu lassen, das es nicht gibt – außer im eigenen Kopf. Warum nur sollte jemand so etwas tun wollen? Die einzige Antwort, die ich darauf gefunden habe, lautet: weil man muss, weil man keine Wahl hat.“

Wir aber haben die Wahl: Wir können, indem wir seine Bücher lesen, ein Zwiegespräch mit ihm beginnen. Wir sollten es tun. Denn es gibt kaum einen anderen Autor, der uns so viel zu sagen hat und uns auf so viele neue Ideen bringt.

Paul Auster: „Mit Fremden sprechen.“ Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren. Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Robert Habeck, Andrea Paluch, Alexander Pechmann und Marion Sattler Charnitzky. Rowohlt Verlag, 412 Seiten, 26 Euro.




Unterwegs fast nichts erlebt – Andreas Maiers Anti-Reise-Roman „Die Städte“

Zählen wir mal kurz auf: Wer Andreas Maiers kompakte Romane wie „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“, „Der Kreis“, „Die Universität“ und „Die Familie“ (puh!) goutiert hat, meint vielleicht, im Leben des Autors quasi heimisch geworden zu sein. Doch das ist wohl ein Trugschluss. Wer weiß schon, welchen Anteil Findung und Formung an all dem haben.

Und überhaupt hat ja vieles seine Kehrseite – wie auch im neuen, abermals wortkarg benannten Buch „Die Städte“. Gewiss, da kommen einige Orte namentlich vor, doch falls man markante Reiseerlebnisse erwartet, wird man düpiert – oder auf andere Fährten geführt. Andreas Maier hält bei all dem einen lakonisch registrierenden Tonfall, der das Groteske an äußerer Mobilität bei innerer Unbeweglichkeit erst recht hervortreten lässt.

Bloß schnell an Nürnberg vorbei

Schon das Kapitel „Nürnberg, Brenner, Brixen“ hat es (nicht) in sich. Es erweist sich als Schilderung der alljährlichen, ungemein öden Familien-Anreise zum Sommerurlaub in Südtirol, die einer seltsamen Flucht gleicht, auf der man es unbedingt früh an Nürnberg vorbei geschafft haben muss. Da geht’s um irrwitzig eingerastete Rituale – wie und wann die Mutter im Auto etwas zum Verzehr anbietet, wie der Ich-Erzähler sich als Kind in seine Asterix-Hefte vergraben hat, wie die immergleichen Parkplatzmanöver und Einkäufe für die Ferienwohnung verlaufen sind. So sehen die gerafften Notizen zum „Geschehen“ denn auch aus:

„Tage drei Ausflug Kalterer See, Fahrtzeit eine Stunde hin, eine zurück.

Tag vier einkaufen, Mittagessen beim Stremnitzer, Sanitärgeschäft.

Tag fünf Fahrt zur Seiser Alm (45 min), dort parken auf einem riesigen Parkplatz…“

Ganz schön was los.

Von derlei Ferienreisen hält der Junge prinzipiell nichts: „…der Urlaub ist lang, und ich fürchte mich schon im voraus vor ihm, wie vor jedem Urlaub. Ich fürchte mich davor, wochenlang das Haus und mein Zimmer verlassen zu müssen und an einen anderen Ort zu kommen, wo ich mich zu anderen Menschen verhalten und mit ihnen reden soll…“

Im nächsten Kapitel geht es nach Athen. Schon aufregender? Von wegen. Der Erzähler, inzwischen ein paar Jahre älter, hat sich noch einmal hinreißen lassen, mit den Eltern zu fliegen und sich zugleich vorgenommen, ihnen die Reiselaune zu versauen.

Ouzo „wie ein Grieche“ schlürfen

Es geht also kaum um die Städte, sondern um Pein und Peinlichkeit des Reisens. Einigermaßen tragfähige Erfahrungen, so ahnen wir, macht höchstens der Sohn, wenn er stundenlang in einer Bar abhängt und sich – nach Landessitte Ouzo schlürfend – „wie ein Grieche“ fühlt, während die Eltern den Reiseführern zu den antiken Stätten nachhecheln. Oder sind das allseits nur Einbildungen? Sind das allesamt fruchtlose Unterfangen?

Sodann Biarritz. Nunmehr, mit 16 Jahren, unterwegs mit einem verkorksten Typen, der überall nur auf Brüste und Pos starrt, sich aber nicht traut, Mädchen anzusprechen. Ein kurzes, aber starkes, sozusagen leichthin verdichtetes Stück über klägliche Orientierungslosigkeit, aber auch Lässigkeit in diesem Lebensalter. Es weht einen geradezu an.

Und was ist mit Oulx (Skiort bei Turin)? Nun, da ist der Erzählende allein hingereist, fest entschlossen, sich dort umzubringen. Aber es wird nichts draus, das Ansinnen versandet. Und dann ist da ja noch diese verwirrend Schöne in der Pizzeria… Das Ganze mündet in eine einwöchige Sauferei und Fresserei. Auch keine Offenbarung. Aber doch irgendwie tröstlich.

Alles nur schön und eindrucksvoll

Der merkwürdige Dreiklang „Bangkok, Friedberg, Marrakesch“ verheißt gleichfalls abstruse Nicht-Erlebnisse. Eine Bekannte präsentiert Fotostapel von ihrer gerade mal fünftägigen Bangkok-Reise und vermag zu jedem Bild nicht mehr zu sagen, als dass dies und jenes schön und eindrucksvoll gewesen sei. Quälend für den Zuhörer.

Sich daran erinnernd, hebt der Erzähler, damals Student der Altphilologie, zu einer kleinen Suada über inhaltslose, sinnfreie Reise-Erinnerungen an: „Diese Erzählungen können zum Prahlen dienen, dann sind sie am unangenehmsten. Oft führen sie schlicht zur Förderung des Selbstwertgefühls beim Erzählenden (…) Die Zuhörer reagieren, indem sie Dinge ausrufen wie: Das ist ja schön, das ist ja toll, daß du das erlebt hast…“ Und so weiter, desillusioniert bis auf den Grund. Da grinst einen das Nichts an.

Schließlich Weimar, wo der Berichtende als junger Schriftsteller eintrifft – in der damaligen „Kulturstadt Europas“ (1999). Ein wahnwitziger Massentourismus ergießt sich (vermeintlich „auf Goethes Spuren“) in die kleine Stadt, dazwischen lungern immer wieder Neonazi-Trüppchen und Einheimische, die sich bedrängt fühlen, alle Fremden misstrauisch beäugen oder gar anblaffen. Nochmals eine Karikatur des Reisens und seiner Wirkungen.

Das bleibt man doch besser gleich zu Hause, oder?

Andreas Maier: „Die Städte“. Roman. Suhrkamp. 192 Seiten. 22 Euro.




Die Leute sind oft anders, als wir meinen – Juli Zehs neuer Roman „Über Menschen“

Dora muss raus. Einfach weg von allem. Irgendwo neu beginnen. Raus aus dem hysterisch überdrehten Berlin, der Endlosschleife immergleicher Gespräche über gesunde Ernährung und korrekte Mülltrennung. Weg von ihrem Freund Robert, der sich vom Klima-Aktivisten zum Corona-Schamanen gewandelt hat und Gefolgschaft erwartet.

Seit die Pandemie da ist und die Menschen Masken tragen, kommt alles ins Rutschen. Beziehungen und Gewissheiten lösen sich auf. Die Werbe-Agentur, in der sie eben noch als Star-Texterin verehrt und gut bezahlt wurde, verdonnert Dora zum Homeoffice und wird ihr später per Mail die Kündigung aussprechen. Da ist Dora aber längst schon abgehauen, hat die Café-Latte-Schickeria, die Cancel-Culture- und Gender-Sternchen-Debatten abgeschüttelt wie lästige Fliegen, hat schnell ein paar Sachen und ihren Hund eingepackt und ist nach Bracken gefahren, einem (fiktiven) Kaff in der Prignitz.

Hier, in diesem Landkreis von Brandenburg, wo die Arbeit ausstirbt sind und die Zukunft keine Perspektive hat, die Fremdenfeindlichkeit zum Alltag gehört und die AfD besonders viele Wählerstimmen einheimst, hat sich Dora vor einiger Zeit ein altes Haus gekauft. Aus einer Laune heraus. Vielleicht auch, weil sie schon vor der Corona-Katastrophe ahnte, dass demnächst alles den Bach runter gehen und ihr bisherigen Leben zerbröseln wird wie ein trockener Keks.

„Ich bin hier der Dorf-Nazi“

Jetzt ist Dora in Bracken, allein mit sich, einem langsam dahin schmelzenden Bankkonto und einem verwilderten Garten, den sie schweißtreibend beackern muss. Und mit einem Nachbarn, Gottfried, genannt Gote, der jetzt, wo sie gerade die Sense schwingt und sich überlegt, wo sie Tomaten pflanzen könnte, seinen stiernackigen Glatzkopf über die Mauer reckt, sie anblafft, er werde ihren Hund platt machen, wenn er noch einmal seine Saatkartoffeln ausgräbt, um dann grinsend hinzuzufügen: „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“

In ihrem neuen Roman „Über Menschen“ zerfleddert Juli Zeh genüsslich Vorurteile, kratzt beharrlich an fest getackerten Deutungsmustern, zeigt auf hinterhältig-heitere und kurios-komische Weise, dass es sich lohnt weiterzumachen, trotz Krise und Katastrophe, apokalyptischem Geraune und populistischer Propaganda. Die Welt ist schillernder und vielfältiger, als wir sie uns mit unserem simplen Schubladenken ausmalen, die Menschen widersprüchlicher und liebenswerter, als wir uns eingestehen, wenn wir mit unserem Schwarz-weiß-Denken Freund und Freund von einander scheiden und uns den Kontakt und das Gespräch mit Leuten ersparen, die anders ticken und denken als wir.

Zwei AfD-Typen sind schwul und pflanzen Cannabis

Alle haben Dora vor den dickschädeligen Menschen und dem dumpfen Rechtsradikalismus in der Provinz gewarnt. Aber dann geschehen Dinge, die Doras Weltbild ins Wanken bringen. Gote mag ein Nazi sein, aber er ist auch der fürsorgliche Vater eines kleinen Mädchens, ein sensibler Vogelkundler und ein Nachbar, der zupackt, für Dora Möbel schreinert und Wände streicht, einfach so, ohne irgendeine Gegenleistung zu fordern oder zu erwarten. Und die beiden Typen von gegenüber, die einen AfD-Aufkleber auf ihrem Pick-Up haben und sich über die blöden Politiker und weltfremden Entscheidungen im fernen Berlin aufregen, sind in Wahrheit ein schwules Paar und pflanzen nicht nur Blumen, sondern auch Cannabis.

Juli Zeh, die selbst mit ihrer Familie im Havelland lebt, weiß, wovon sie schreibt. Sie kennt ihre Provinz-Pappenheimer genau. Als sprachgewandte Schriftstellerin, die als Gast im Literarischen Quartett sitzt, durchschaut sie die Eitelkeiten und Einbildungen des intellektuellen Betriebes, als Richterin am Verfassungsgericht im Land Brandenburg weiß sie um  Schwächen und Ängste, Befangenheit und Fehlbarkeit von Mensch und Politik.

Im Roman „Unterleuten“ gelang ihr 2016 eine garstige Posse über Berliner Aussteiger und Selbstgerechtigkeit, über Verlierer und Gewinner der Wende, die das Leben dort, wo ländliche Idylle sein könnte, in eine selbst gezimmerte Hölle verwandeln. „Über Menschen“ fokussiert sich noch mehr auf die Nöte und Sorgen der so genannten kleinen Leute, die man heute nicht mehr ungestraft als „normal“ bezeichnen darf, wenn man nicht (wie Wolfgang Thierse) von Sprach-Polizisten als „identitätsfeindlich“ abgekanzelt werden und sich den Vorwurf einhandeln will, man würde andere gesellschaftliche Gruppen diskriminieren.

In der Provinz bleiben, weil es die Heimat ist

Natürlich gibt es bei Juli Zeh auch Nazis, die sich als „Übermenschen“ verstehen (aber keine Ahnung haben, wer Nietzsche war und was er mit dem Begriff meinte). Aber vor allem zeichnet sie satirisch zugespitzt und hart am Rande des Klischees Menschen, die uns berühren und bewegen, weil sie als allein erziehende Mütter (wie Nachbarin Sadie) nachts zur Arbeit ins ferne Berlin pendeln, um ihre Kinder ernähren zu können, oder mal eben (wie Nachbar Heinrich) mit einer Landmaschine vorbeikommen, um Doras verkrauteten Acker in eine blühende Landschaft zu verwandeln.

Es sind Menschen, die in der Provinz ausharren, weil es ihre Heimat ist, die bleiben, auch wenn die Landarzt-Praxen dichtmachen und die nächste Einkaufsmöglichkeit 18 Kilometer entfernt ist. Sie tragen keine Masken und fürchten sich nicht vor Corona. Aber sie sind genauso viel wert wie der sich im Berliner Biotop in Selbstmitleid verzehrende Gutmensch Robert. Oder der kultivierte Vater von Dora, der bei einem Rotwein gern über „Anspruchsdenken“ philosophiert und meint, das sei die wahre Pandemie. Das Gefühl der Leute, ein Anrecht zu besitzen auf mehr Sicherheit und mehr Komfort führe, weil man nie bekommt, was man will, zu Wehleidigkeit, Apokalypse-Ängsten und Verschwörungs-Theorien. Vielleicht hat er recht. Aber hilft das Dora, die jetzt zwar ein Haus auf dem Lande, aber keinen Job mehr hat? Oder Gote, der manchmal wüst herumpöbelt, aber dringend jemanden braucht, wenn sein Tumor aufs Gehirn drückt und er bewusstlos im Gras liegt? Mehr miteinander reden und einander besser zuhören: Das wäre vielleicht ein Anfang.

Juli Zeh: „Über Menschen“. Roman. Luchterhand, München 2021, 416 S., 22 Euro.




Finsteres Fazit: Cees Nootebooms „Abschied. Gedicht aus der Zeit des Virus“

Als Journalist und Lyriker, Romancier und notorisch Reisender ist Cees Nooteboom ständig unterwegs, beobachtet, beschreibt, erfindet sich und die Welt neu. In Venedig sucht er Schönheit und Vergänglichkeit, in Berlin ist er dabei, wenn die Mauer gebaut wird und wenn sie wieder fällt. Das verlorene Paradies findet er mal gleich nebenan, mal auf den Traumpfaden der Aborigines in Australien. „Abschied“ heißt das neue Buch des inzwischen 87-jährigen Autors. Der Untertitel lautet „Gedicht aus der Zeit des Virus“.

Doch Nooteboom macht sich keinen Reim auf die Pandemie, sie ist nur als Bedrohung im Hintergrund wahrnehmbar: eine Metapher für das Verschwinden und Vergehen, das ihn als Mensch und Autor erwartet. Ein Gedicht über das Leben und den Tod. Das Virus war noch nicht in der Welt, als Nooteboom auf Menorca damit beginnt, sein „Abschieds“-Gedicht zu schreiben, sich auf Zeitreise durch sein Leben begibt, mit vorsokratischen Texten von Empedokles spielt.

Dann bricht die Pandemie aus, er reist nach München, wo er sich einer Operation unterziehen muss und – kaum aus der Narkose erwacht – die leergefegten Straßen und Masken tragenden Menschen sieht und überall eine große Angst und Verwirrung spürt. Er fährt nach Holland, will am „Abschieds“-Zyklus weiterschreiben, doch die Notizen liegen unerreichbar auf Menorca, dazu die Pandemie, die alles ins Wanken bringt, neue Bilder und Gedanken hervorruft, seine Verse in eine ganz andere Richtung lenkt, bis er sich und uns fragt: „Das Ende vom Ende, was könnte das sein?“

„…und werde dann langsam / niemand.“

Nooteboom wählt für seine melancholischen Reflexionen über das Ende der Zeit und den Abschied vom Leben eine von Visionen und Fantasien, Andeutungen und Erinnerungen durchsetzte Sprache, die man nur schwer dechiffrieren kann. Das Langgedicht hat eine strenge, klassische Form: drei Teile, jedes Kapitel besteht aus 11 kleinen Gedichten, die auf drei Vierzeilern und einem kurzen Vers basieren und mit der nicht eben heiteren Erkenntnis schließen: „Jetzt ist Stille / der Rest der Strecke, / ohne Erinnerung / kein Leben. // Ich höre meine Schritte / nicht länger, / was mich umringt, / ist verborgen. // Blind lauf ich weiter, ein fahler Hund / in der Kälte. Hier muss es sein, / hier nehme ich Abschied von mir selbst / und werde dann langsam / niemand.“

Die beigefügten Zeichnungen von Max Neumann zeigen Gesichter mit aufgerissen Augen und zerfaserten Mündern, mit nervösen Strichen angedeutete Menschen, archaisch-zeitlose Kreaturen aus traumloser Zeit. Sie tragen schweres Gepäck und stapfen durch eine schwarz befleckte Welt, rufen nach Erkenntnis und Erlösung. Wie die verstörenden Zeichnungen künden auch Nootebooms Verse von „dunklen Wolken“ und vom „Krieg“, der die Erinnerungen auffrisst, von „Einsamkeit“ und „Leere“, vom „Verschwinden der Worte“ und der „Kloake der Evolution“, vom „Palaver der Welt“ und den „verkauften Visionen“, von „Verrat“ und „Verstümmelung“, von der „Vertreibung aus dem Paradies“ und vom „Trugbild“, das sich Leben nennt und sich manchmal ausdrückt in einem geglückten Gedicht.

Das Leben ist oft kaum zu ertragen, der Dichter ist nicht besser als alle anderen, ein erbärmliches Wesen, ein erfundenes „Genie, das seine Kotze verkauft / und die Seele dazu.“ Ein fürchterliches Fazit, ein endgültiger Abschied. Man kann sich kaum vorstellen, dass Nooteboom noch ein weiteres Buch schreiben könnte.

Cees Nooteboom: „Abschied. Gedicht aus der Zeit des Virus“. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Niederländischen von Ard Posthuma. Mit Bildern von Max Neumann. Suhrkamp, Berlin 2021, 88 S., 22 Euro.

 

 




Bedeutsam wie eh und je: George Orwells „Farm der Tiere“ gleich in zwei neuen Übersetzungen

„Kein Tier soll seinesgleichen je tyrannisieren. Schwach oder stark, schlau oder schlicht, wir sind alle Brüder. Kein Tier soll je ein anderes töten. Alle Tiere sind gleich.“ Mit diesem Schlachtruf beginnt der Aufstand der Tiere gegen die Unterdrückung der Menschen. Doch schnell gerät die Revolution aus dem Gleis.

Die Manesse-Ausgabe (Übersetzung: Ulrich Blumenbach). (© Manesse)

Statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gibt es Terror, „Säuberung“ und Diktatur auf der „Animal Farm“, auf der die Schweine die Macht ergreifen und alle anderen Tiere versklaven: George Orwells „Farm der Tiere“ ist ein böses Märchen, eine Abrechnung mit der stalinistischen Pervertierung des Sozialismus. Jetzt sind gleich zwei neue deutsche Übersetzungen des 1945 veröffentlichten Romans erschienen.

Weltliteratur von gnadenloser Präzision

Wenn wir die „Farm der Tiere“ nur als wütende Abrechnung eines frustrierten Sozialisten mit der Einparteien-Diktatur Stalins lesen und hinter jedem Tier nur das Abbild eines realen Menschen suchen, dann bräuchte es wohl auch keine neue Übersetzung. Aber die „Farm der Tiere“ ist ein großes Stück Weltliteratur: perfekt konstruiert, sprachlich schillernd, politisch visionär, zeitlos aktuell. Orwell zeigt uns mit gnadenloser Präzision, wie schnell die schönsten Träume zerplatzen, die buntesten Wunschbilder von skrupellosen Demagogen in ihr Gegenteil verkehrt werden, wie Populismus funktioniert und Propaganda die Hirne vernebelt, wie sich Angst und Anpassung ausbreiten, wenn Gehirnwäsche und Säuberungswellen jeden Widerstand im Keim ersticken und Verschwörungstheorien die Wirklichkeit ersetzen.

Natürlich steht der fiese Eber „Napoleon“ für Stalin, das kluge Schwein „Schneeball“ für Trotzki, das arbeitssame Pferd „Boxer“ und der duldsame Esel „Benjamin“ stehen für die gutgläubige Arbeiterklasse, die blutlechzenden Hunde für die Geheimpolizei, die blökenden Schafe für das leicht manipulierbare Fußvolk: aber sie sind nicht nur Fabelwesen, sondern stimmige Archetypen, prägnante Charaktere, die uns glaubhaft von Machtmissbrauch und Lüge, Verrat und Mord erzählen. Es ist der wohl wichtigste politische Roman des letzten Jahrhunderts und zugleich das Buch der Stunde, das sprachlich immer geschliffen und geschärft und auf den neuesten Stand gebracht werden sollte.

Die dtv-Ausgabe (Übersetzung: Lutz-W. Wolff). (© dtv)

Als Kritik an Stalin in England verpönt war

Orwell hatte eigene Erfahrungen mit dem langen Arm Stalins und war der Überzeugung, dass der Sozialismus nur zu retten ist, wenn man bereit ist, Fehler einzugestehen und die Sowjetunion rücksichtslos zu kritisieren: „Seit gut einem Jahrzehnt habe ich den Eindruck“, schrieb Orwell in einem Essay, „dass das jetzige russische Regime überwiegend böse ist, und ich bestehe auf dem Recht, das laut zu sagen, auch wenn die UdSSR unser Verbündeter in einem Krieg ist, in dem ich unseren Sieg herbeisehne.“

Genau das aber war das Problem: Die meisten englische Intellektuellen, Verleger und die Politiker wollten keine Kritik an Stalin zulassen, niemand mochte den Verbündeten verärgern, man hatte sich wehrlos der sowjetischen Propaganda ausgeliefert und wollte von Säuberungen und Schauprozessen nichts hören.

Orwell wusste, wovon er sprach. Als Freiwilliger hatte er am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und in einer trotzkistischen Miliz gegen die Faschisten gekämpft. Aber der Einfluss Stalins reichte bis nach Barcelona und führte dazu, dass alle Trotzkisten von ihren sowjettreuen Mitkämpfern verfolgt, vertrieben, ermordet wurden. Orwell konnte sich in letzter Minute nach England retten, doch keiner wollte ihm glauben, niemand wollte seinen Augenzeugenbericht „Hommage an Katalonien“ lesen, und auch als er seinen Roman „Farm der Tiere“ seinem Verleger zeigte, lehnte der auf Anraten der Zensurbehörden ab, ihn zu drucken. Orwell war geschockt von der intellektuellen Feigheit in England und wollte den Roman auf eigene Faust im Selbstverlag herausbringen, doch dann war der Heiße Krieg vorbei und wurde schnell zum Kalten Krieg – und der Roman konnte endlich erscheinen.

Eine Fassung ist deutlich eleganter

Es ist Geschmacksache, welche der beiden neuen Übersetzungen man bevorzugt, manche mögen es exakt, andere poetisch, mache bestehen auf Worttreue, andere schätzen den freien Umgang mit der Vorlage. Man muss nicht gleich tief ins sprachliche Unterholz des politisch komplexen Romans kriechen, es reicht schon, sich den ersten Absatz anzusehen, also den letzten friedlichen Moment, bevor der Aufstand der Tiere losbricht.

In der Version von Lutz-W. Wolff liest man: „Mr Jones von der Manor Farm hatte die Hühnerställe für die Nacht abgesperrt, aber er war zu betrunken, um daran zu denken, die Auslaufklappen zu schließen. Der Lichtkreis seiner Laterne tanzte von einer Seite zur anderen, als er über den Hof schwankte und an der Hintertür seine Stiefel abschüttelte. Er zapfte sich noch ein letztes Bier vom Fass in der Spülküche und machte sich auf den Weg nach oben ins Bett, wo Mrs Jones bereits schnarchte.“

Bei Ulrich Blumenbach heißt es dagegen: „Mr. Jones von der Herrenfarm verriegelte die Hühnerställe zur Nacht, er war so betrunken, dass er vergaß, die Klappen zu schließen. Der Lichtkegel seiner Laterne sprang hin und her, als er über den Hof torkelte, an der Hintertür die Stiefel abstreifte, sich am Fass in die Spülküche ein letztes Bier zapfte und die Treppe hoch ins Bett ging, wo Mrs. Jones schon schnarchte.“

Die Fassung von Ulrich Blumenbach ist eleganter, moderner, flüssiger als die etwas holzige und beflissene von Lutz-W. Wolff. In der Ausgabe von dtv schreibt Ilija Trojanow ein Vorwort, reist in Gedanken auf die schottische Insel, auf der Orwell zurückgezogen lebte und am Roman schrieb. Trojanow macht einen Nachfahren von Esel Benjamin ausfindig und diskutiert mit ihm über die Revolution, die für viele Beteiligte im Gulag endete: Der Kunstgriff soll keck und witzig sein, ist aber selbstverliebt und nervig.

Einfühlsames Nachwort von Eva Menasse

Beim Manesse-Verlag (Blumenbach-Übersetzung) verfasste Eva Menasse ein Nachwort,  sie stellt sich ganz in den Dienst des Buches, beschreibt einfühlsam die Faszination des Romans, die Leiden des Autors und die zeitlose Aktualität des tierischen Märchens. Während dtv noch viele Anmerkungen und eine Zeittafel mit Lebensdaten und Werken von Orwell auflistet, präsentiert der Manesse-Verlag zwei spannende Aufsätze: einen Essay über die von Selbstzensur und Opportunismus bedrohte Pressefreiheit sowie einen subversiven Text, den Orwell für eine ukrainische Ausgabe verfasst hat.

Doch für welche Aufgabe man sich auch entscheidet: Wenn die Tiere mitansehen müssen, wie ihre schweinischen Anführer wieder mit den verhassten Menschen gemeinsame Sache machen, hat der Roman nichts von seinem Schrecken verloren,: „Die Geschöpfe draußen sahen von Schwein zu Mensch, von Mensch zu Schwein und wieder von Schwein zu Mensch, aber es ließ sich schon nicht mehr sagen, wer was war.“ Da kann einem angst und bange werden.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Nachwort von Eva Menasse. Manesse Verlag, München 2021, 192 Seiten, 18 Euro.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Ilija Trojanow. dtv, München 2021, 192 Seiten, 20 Euro.




Die schmerzliche Wahrheit zulassen – Patrick Modianos Roman „Unsichtbare Tinte“

Als Patrick Modiano 2014 den Nobelpreis für Literatur erhielt, hieß es in der Begründung der Jury, sein Werk stehe für „die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der deutschen Besatzung sichtbar gemacht hat.“ Auch in Modianos neuem Roman „Unsichtbare Tinte“ dreht sich alles um das Emporziehen von Ereignissen und Einbildungen aus den Tiefen des Unbewussten – und darum, ob Erkenntnis überhaupt möglich ist.

Ging es Modiano früher eher darum, gegen das Verdrängen und Vergessen von Nazi-Verbrechen anzuschreiben und das Schicksal von jüdischen Menschen zu rekonstruieren, die während der Nazi-Zeit spurlos verschwanden, so umkreist er jetzt die Frage, ob die Erinnerung und die Suche nach der verlorenen Zeit überhaupt Wirklichkeit abbilden und Wahrheit ans Licht bringen kann.

Studentenjob in der Detektei

Es ist die Geschichte von Jean Eyben, der seit vielen Jahren ein Rätsel mit sich herumschleppt: Jean war Mitte der 1960er Jahre knapp zwanzig, ein Student auf der Suche nach einer Bestimmung und Aufgabe in seinem Leben, als er für ein paar Wochen in einer Pariser Detektei anheuerte und auf den Fall einer verschwundenen jungen Frau angesetzt wurde, Noelle Lefebvre. Damals konnte er den Fall nicht lösen, die Frau war wie vom Erdboden verschluckt: Jean ist dann auch bald aus der Detektei wieder ausgestiegen und hat einen anderen Lebensweg eingeschlagen, sich mit Literatur und Kunst beschäftigt.

Doch das schmale Dossier zum Fall Noelle Lefebvre hat er damals mitgehen lassen und immer bei sich getragen. Es dient ihm jetzt, viele Jahre später, dazu, sich alles noch einmal zu vergegenwärtigen und aufzuschreiben: wie er durch Paris irrte, Bekannte und Arbeitskolleginnen der Verschwundenen ausfindig machte und befragte, dabei auf seltsame Widersprüche stieß und ihm schwante, dass Noelle eine Art Luftgeist war, ein geheimnisvolles Wesen, über das sich alle ihre eigenen Wahrheiten und Lügen zurechtgelegt hatten.

Das Tagebuch von Noelle, das Jean in ihrer Wohnung gefunden hat, bringt ihn nicht weiter, denn es ist mit „unsichtbarer Tinte“ geschrieben: Seiten, auf denen damals gar nichts vermerkt war, offenbaren jetzt plötzlich, weil die Tinte inzwischen wieder sichtbar wurde, Bemerkungen von Noelle, die Jean aber nicht entschlüsseln kann. Er bemüht sich zwar, den Nebel zu lichten, seine Erinnerungen mit Fakten zu füllen, aber alles bleibt – damals wie heute – verschwommen und rätselhaft.

Meister der literarischen Wendungen

Modiano ist ein Meister der poetischen Täuschung und der literarischen Wendungen. Wenn sich Jeans Erinnerungen als falsch erweisen, er beim Schreiben der Geschichte das Gefühl hat, alles sei bereits längst mit „unsichtbarer Tinte“ von irgendwem irgendwo aufgeschrieben, sein Schreiben diene nur dazu, sich seiner Geschichte zu stellen und sich einzugestehen, was ihn wirklich mit Noelle verbindet, dann bekommt alles noch einmal einen unerwarteten Dreh, wird die Erzähl-Perspektive verändert, werden alle Erinnerungen in ein anderes Licht gestellt, erhalten alle Fakten eine neue Bedeutung: Es kommt immer darauf an, welche Erinnerungen man zulässt, welche man lieber im Verborgenen belässt. Ob man bereit ist, der Wahrheit ins Auge zu sehen.

Die Wahrheit über den Fall der verschwundenen Noelle schlummerte schon immer in seinem Unbewussten, Jean muss sie nur zulassen. Und der Erzähler, der jetzt nicht mehr Jean ist, muss sich als jemand erweisen, der Schreiben als Suchbewegung begreift, als ein Herantasten an das, was passiert ist oder sein könnte. Die schmerzliche Wahrheit hat etwas mit der verdrängten Kindheit und problematischen Jugend von Jean zu tun, mit seiner Herkunft und damit, dass Erkennen meistens ein plötzliches Wieder-Erkennen ist.

Die Geschichte von Noelle, ihr Leben und ihr Verschwinden, wird sich – Simsalabim! – als ziemlich unspektakulär entpuppen. Die Lösung des Rätsels kennt nur Jean, der mit dem Schreiben eine Wirklichkeit erfinden kann, die es gar nicht gibt. Der Roman hat magische Züge, lässt manches aufscheinen, bevor es wieder verblasst, sich auflöst und vielleicht später wieder in anderem Licht eine neue Bedeutung bekommt. Es scheint, als habe Modiano seinen Roman selbst mit „unsichtbarer Tinte“ geschrieben.

Patrick Modiano: „Unsichtbare Tinte.“ Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2021, 126 S., 19 Euro.

 

 




Lebensbild mit Leerstellen: Monika Helfers Familienroman „Vati“

Als wenn es das nicht schon länger gegeben hätte: Vielfach scheint Lesenden seit einiger Zeit das zum Trend ausgerufene „autofiktionale Erzählen“ zu begegnen, also Autobiographisches mit mehr oder weniger prononcierter literarischer Dreingabe. Oder eben umgekehrt: große Literatur, basierend auf Selbsterlebtem, mit erfundenen Einsprengseln. Und was der Mischungsverhältnisse mehr sind. Wie schwer es doch ist, sich im Ureigenen zur allgemeineren Gültigkeit durchzuringen! Nur den Besten gelingt es zu erzählen, was jede(r) erzählen könnte, aber eben nicht kann.

Die famose Französin Annie Ernaux (Jahrgang 1940 – „Die Scham“, „Die Jahre“, „Eine Frau“) wäre beispielhaft zu nennen, neuerdings auch eine noch frühere Vorläuferin, die just „wiederentdeckte“ Dänin Tove Ditlevsen (1917-1976), die schon seit den späten 1960er Jahren ihre Kopenhagen-Trilogie („Kindheit“, „Jugend“, „Abhängigkeit“) vorgelegt hat. In unseren Breiten kämen neben etlichen anderen etwa Anna Mayr („Die Elenden“) und Christian Baron („Ein Mann seiner Klasse“) in Betracht. Die heftigste Zeile steht auf dem Roman von Andreas Altmann, der da heißt: „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“. Ungleich sanfter tritt jetzt, auch schon zum wiederholten Male, Monika Helfer an – diesmal mit dem fürs heutige Empfinden treuherzig klingenden Titel „Vati“.

Seltsamer Hang zur „Modernität“

Tatsächlich erzählt die Österreicherin, die 2020 bereits die Familiengeschichte „Die Bagage“ vorausgeschickt hat, vorwiegend von ihrem Vater, einem kleinen, betont ruhigen Mann, der eine natürliche Autorität ausgestrahlt haben muss und auch manch verschrobenen, wilden oder wüsten Leuten Respekt abnötigte. Mit spürbarer Zuneigung und regem Interesse, aber auch mit Verwunderung sammelt Monika Helfer Szenen, Erinnerungen und Zeugnisse über ihn, so dass nach und nach ein vielfältiges, in manchen Belangen nach wie vor rätselhaftes Lebensbild entsteht. „Vati“ wollte er ausdrücklich genannt werden, weil es modern sei. Aus gleichem Grund pries er das freie Stadtleben, das er doch nur ganz punktuell wirklich aufgesucht hat. Da kenne sich eine(r) aus.

Irgendwann erhebt sich die Frage, warum sich die 1947 geborene Autorin diesem Thema relativ spät zuwendet. Vielleicht galt es denn doch, starke innere und äußere Widerstände zu überwinden. Vielleicht wird sie auch just von der erwähnten Welle autofiktionalen Erzählens mitgetragen. Wer weiß. Es ist aber zweitrangig. Wichtig ist allein, was sie aus dem Lebensstoff gewoben hat. Angenehm ist es, dass sie sich an keiner Stelle sprachlich aufplustert oder mit auktorialem Wissen prunkt. Vor allem aber schafft sie es, dass man um diesen „Vati“ bangt, dass er zur exemplarischen, lebensgroßen Figur gerät.

Ganze Bücher Wort für Wort abschreiben

Da geht es also anfangs um „Vatis“ geradezu erbärmlich ärmliche Herkunft, alsbald aber schon um seine früh erwachte Bücher-Leidenschaft. Schon mit 5 Jahren hatte er sich das Lesen beigebracht und war seitdem von Bibliotheken zutiefst fasziniert. Zuerst hat es ihm die eher schmale und läppische Bücherei eines reichen Baumeisters angetan, der dem Jungen erlaubt, Tag für Tag seine Bücher umständlich Wort für Wort abzuschreiben – ein beinahe mönchisches Exerzitium. Hingegen wütet der dumme Sohn des Baumeisters, der mit dem Lesen nichts anfangen kann, später bei der SS. Wenn sich das doch immer so eindeutig und wunschgemäß herleiten ließe…

Viele Jahre später kommen fiese Gerüchte auf, „Vati“ habe Bestände aus einer anderen Bibliothek für sich beiseite geschafft. Jedenfalls hat es mit Büchern für ihn eine besondere Bewandtnis. Selbst sein früher Tod wird am Ende mit Büchern zu tun haben.

Doch erst einmal zurück. Damals beim Russlandfeldzug hat er schwere Erfrierungen erlitten, es musste ihm ein Bein amputiert werden. Eine Krankenschwester im Lazarett hat ihm einen Heiratsantrag gemacht, sie wurde seine Frau und die Mutter von vier Kindern. Fortan spielen auch etliche Kurzauftritte der vielköpfigen Verwandtschaft (Onkel, Tanten usw.) mit in die Handlung hinein. Manche derb-knorrige Figur könnte durchaus im Volkstheater ihren Platz haben. Besagte Autofiktion kommt ja auch meistens wahrhaftiger und wirkmächtiger „von unten her“. Umso mehr, wenn sie – wie hier – spürbar in einer bestimmten Region verankert ist. Doch dumpfe Trunksucht gibt es überall.

…bis die Herren aus Stuttgart kommen

Nach dem Krieg leitet „Vati“ im Auftrag einer Stiftung ein Erholungsheim für Versehrte – unkonventionell genug und selbstverständlich mit Bücherei. Die Tschengla, wie die hoch gelegene Örtlichkeit heißt, hat eine Anmutung von „Zauberberg“. Doch eines Tages tauchen geschäftige Herren aus Stuttgart auf, die das beinahe weltentrückte, nur saisonal genutzte Heim zum lukrativen Hotel mit Ganzjahresbetrieb ausbauen wollen. Die Bibliothek spielt in den Plänen keine Rolle. Im Gegenteil.

Nach dem finalen Gruppenfoto mit den Heimbewohnern humpelt „Vati“ in eine Hütte und trinkt eine lebensgefährliche Flüssigkeit. Ist nun alles, alles aus mit der Familie, wie es die kleine Monika befürchtet? Zumindest ist es eine schwere Erschütterung, „Vati“ muss lange in einer Klinik bleiben, auch innerlich entfernt von seinen Kindern. Dabei war Tochter Monika gerade in puncto Bücher schon früh zu einer Vertrauten des Vaters geworden. Fühlt sie sich nicht als Hüterin eines imaginären Familienschatzes? Schon als Kind beschließt sie, dass ihr Name eines Tages auf Buchrücken stehen solle. So ist es dann ja auch geschehen.

„Ich bin müde. Ich klappe meinen Laptop zu…“

Erzählt wird ganz unumwunden aus der Tochter-Perspektive. Monika Helfer benennt und zitiert ihre Gewährsleute (zumal die Stiefmutter und die ältere Schwester Gretel), auch kommt sie gelegentlich auf ihre Schreibsituation zu sprechen: „Ich bin müde. Ich klappe meinen Laptop zu, dehne mich, es ist erst früher Nachmittag. Nicht das Schreiben macht mich müde, auch nicht das Erinnern. Ich setze die Müdigkeit professionell ein. Ich muss näher an die Träume heranrücken…“ Wesentlicher Werkstatt-Einblick oder verzichtbare Mitteilung?

Sodann die doppelte dramatische Zuspitzung: Die inzwischen elfjährige Monika verirrt sich mit ihrer älteren Schwester im Tiefschnee. Aber wer fragt noch danach, bekommt doch am selben Tag ihre Mutter Grete eine Krebsdiagnose und stirbt bald darauf. Die vier Kinder werden auf zwei Tanten verteilt, es beginnen Zeiten der beengten Verhältnisse, der seelischen Entbehrung.

Letztlich bleibt er unbegreiflich

Abermals ein unfassbarer Verlust. So innig war das Verhältnis des Vaters zu seiner verstorbenen Frau, dass ihr Tod ihn erneut aus der Lebensbahn wirft. Er zieht sich in ein Kloster zurück, in eine winzige Klause. So vereinsamt scheint er, dass man in seinem familiären Umkreis sogar überlegt, ob nicht eine ortsbekannte, durchaus menschenfreundliche Hure ihn heiraten solle. Oder vielleicht doch lieber Tante Irma, wenn sie sich vorher scheiden ließe? Bloß nicht dieses Alleinsein… Dann aber fängt „Vati“ doch noch einmal unversehens ein neues Leben an, heiratet, zeugt zwei weitere Kinder, wird Finanzbeamter. Aus welcher Kraftquelle er bei diesem Umschwung wohl geschöpft hat?

Bei all diesen Fährnissen verliert sich Monika Helfer auch schon mal in Einzelheiten, als wollte sie keine Erinnerung auslassen. Doch die Autorin findet auch immer wieder schnell in die erzählerische Spur. Sie gibt nicht vor, alles über den Vater zu wissen, sondern lässt Raum für Geheimnisse. Wie gut, dass sie nicht alles schlankweg „auserzählt“, sondern Leerstellen lässt, die nicht zuletzt durchs beharrliche Schweigen des Vaters klaffen, welcher partout keine Daseinsbeichte ablegen mag. Es wäre auch wenig glaubhaft gewesen.

Erstaunlich, wie „Vati“, der bis dahin so überwiegend „grau“, schwerblütig und manchmal abweisend gewirkt hat, just in einem Berliner Schwulenlokal lachlustig aufblüht, als er seine Tochter Renate in der Hauptstadt besucht und sie dort speisen. Ist es die lang vermisste Stadtluft, die ihn animiert?

Am Ende fragt sich, was man denn eigentlich über diesen Menschen erfahren hat und was man wirklich weiß. Fast wie im richtigen Leben: Der Mann hat im Lauf des Romans zusehends Kontur gewonnen und bleibt doch letztlich unbegreiflich, vermutlich auch und gerade für seine Kinder.

Entsprechend vage und nahezu verzagt klingt der isoliert stehende Schlusssatz, wie ein gerade mal durchwachsenes Zeugnis übers ganze familiäre Sein und Treiben. Er lautet:

„Wir haben uns alle sehr bemüht“.

Monika Helfer: „Vati“. Roman. Carl Hanser Verlag. 173 Seiten. 20 €.

 




Gespenster der Vergangenheit: Joanne K. Rowling sucht unter Pseudonym nach einer verschwundenen Frau

Eigentlich haben Privatdetektiv Cormoran Strike und seine Partnerin Robin Ellacott alle Hände voll zu tun. Weil sie einige Aufsehen erregende Kriminalfälle gelöst haben, wird ihre Agentur mit Aufträgen überschüttet.

Dass Kriegsveteran Strike, der in Afghanistan ein Bein verloren hat, ständig von Schmerzen geplagt und von einer selbstmordgefährdeten ehemaligen Geliebten bedrängt wird, dass seine an Krebs erkrankte Pflegemutter bald sterben wird und sein zeitlebens abwesender Vater, ein szenebekannter Alt-Rocker, plötzlich um die Sympathie und Vergebung seines Sohnes buhlt, macht den Alltag nicht leichter. Robin wird unterdessen bei der Scheidung von ihrem Ehemann in einen Rosenkrieg verwickelt und muss sich überdies gegen einen sexuell übergriffigen neuen Mitarbeiter zu Wehr setzen.

Nach 40 Jahren die Spur neu aufnehmen

Als wäre das nicht genug, werden Cormoran und Robin von einer Frau gebeten, ihre Mutter, Margot Bramborough, ausfindig zu machen, die vor 40 Jahren spurlos verschwunden ist. Die Polizei hat längst alle Ermittlungen eingestellt. Die Annahme, Margot sei Opfer eines psychopathischen Serienkillers geworden, der damals in der Gegend sein Unwesen trieb und seit Jahren hinter Gittern sitzt, hat sich nie beweisen lassen. Margots Leiche jedenfalls wurde nie gefunden. Und der Mann, der seine grausamen Taten ausführlich beschrieb und seine Opfer vor Gericht mitleidlos verhöhnte, hat sich nie zum Mord an Margot geäußert.

Nach so vielen Jahren die Spur wieder aufzunehmen, die alten Akten zu durchforsten, nach Zeugen zu suchen und aus dem Wust getrübter Erinnerungen und hartnäckiger Lügen die verborgene Wahrheit auszugraben: ein aussichtsloser Fall. Also genau das Richtige für Strike und Ellacott, die sich am liebsten von ihren Alltagssorgen befreien, indem sie dem Unerklärlichen nachjagen und die Gespenster der Vergangenheit ans Licht zerren.

Mit 1200 Seiten ein literarischer „Ziegelstein“

„Böses Blut“ ist bereits der fünfte Roman, den Joanne K. Rowling (die mit ihrer siebenbändigen Saga um den Zauberlehrling Harry Potter zu Weltruhm kam) unter dem Pseudonym Robert Galbraith verfasst hat. Das Buch ist mit 1200 Seiten ein literarischer „Ziegelstein“ und eine kriminalistische Zumutung.

Doch die Autorin ist eine Meisterin ihres Faches. Nie kommt Langeweile auf, nie weiß der Leser, zu welchem Ergebnis die Schnitzeljagd führen wird. Archive werden durchstöbert, unzählige Personen befragt, Möglichkeiten erwogen. Jeder hat etwas zu verbergen. Fast alle frühere Aussagen zum Verschwinden von Margot führen ins Leere, was die noch lebenden Angehörigen, Freunde und Praxismitarbeiter der früheren Ärztin aus ihren Erinnerungen hervorkramen, ist ein Abgrund an Verdrängung, Schuld und Scham. Dass der seinerzeit ermittelnde Kommissar einen fatalen Hang zu bizarren Horoskopen hatte, macht die Sache nicht leichter.

Vom Brexit zurück bis in die Hippie-Zeit

Um der Wahrheit näher zu kommen und die Geheimnisse zu lüften, unternimmt der Roman eine Zeitreise, pendelt  hin und her zwischen dem Großbritannien von gestern und heute, vom konservativen Rollback und dem nahenden Brexit zurück in die Spät-Hippie-Ära der 1970er Jahre. Hat die lebenslustige Margot, die eine Liaison mit einem ausgeflippten Künstler hatte, damals Ehemann und Tochter verlassen, weil sie das bürgerliche Korsett nicht mehr ertrug? Oder ist die erklärte Feministin vielleicht ermordet worden, weil sie Frauen behilflich war, Abtreibungen vorzunehmen?

Der Kriminalfall weitet sich zur soziologische Studie, zum philosophischen Exkurs, zur literarischen Suche nach den verdrängten Erinnerungen und der verlorenen Zeit. Auf der Folie von Musik und Mode, Politik und Geschichte werden Fragen der Geschlechts-Identität und der sexuellen Orientierung gestellt, wird ironisch mit Rollen-Klischees gespielt.

Heillos in den Gender-Diskurs verstrickt

Doch weder die psychologischen Tiefbohrungen noch die Einlassungen auf den Gender-Diskurs werden der Autorin, die neuerdings in den sozialen Netzwerken sogar mit dem Tode bedroht wird und deren Bücher in ekelhaften Videos auf dem Scheiterhaufen landen, bei der Beurteilung des Romans etwas nützen: Das liegt an Dennis Creed, dem kranken Serienmörder, der mit Identitäten jongliert und sich seinen Opfern, um sie in Sicherheit zu wiegen, in Frauenkleidern nähert. Schon als erste Roman-Details durchsickerten, wurde Rowling unterstellt, sie würde Vorurteile gegen transsexuelle Menschen haben und sie als perverse Monster darstellen.

Zorn und Wut hatte Rowling schon auf sich gezogen, als sie auf einen Zeitungsartikel, in dem Frauen als „Menschen, die menstruieren“ bezeichnet wurden, mit einem höhnischen Kommentar versah. In einem Essay berichtete sie von eigenen Erfahrungen mit sexueller Gewalt und sagte, sie habe Angst vor Männern, die, in Frauenkleider gehüllt, in die Toiletten und Umkleidekabinen von Frauen gelangen und dort ihre sexuellen Gelüste befriedigen. Es hat ihr nicht geholfen, ihre Kritiker zu besänftigen. Genauso wenig wie ihre Beteuerung, die Wahl ihres Pseudonyms sei aus einer puren Laune heraus entstanden und habe rein gar nichts mit dem amerikanische Psychiater Robert Galbraith Heath zu tun, einem notorischen Schwulen-Hasser, der Homosexuelle mit umstrittenen Folter-Methoden von ihrer vermeintlichen „Krankheit“ heilen wollte.

Dennis Creed, so viel sei verraten, ist jedenfalls ein perverser Fiesling, der Strike in abgründige Gespräche verwickelt…

Robert Galbraith (Joanne K. Rowling): „Böses Blut – Ein Fall für Cormoran Strike“. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Wulf Bergner, Christoph Göhler, Kristof Kurz. Blanvalet Verlag, München. 1200 Seiten, 26 Euro.




Keine Lust auf Endzeitstimmung – Ian McEwans Essays über „Erkenntnis und Schönheit“

Seine Bücher sind Weltbestseller, die Verfilmungen seiner Romane werden – wie „Abbitte“ mit Keira Knightley oder „Kindeswohl“ mit Emma Thompson – zu großen Kinoerfolgen. Jetzt hat Ian McEwan, der immer wieder auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, ein Buch mit dem Titel „Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion“ veröffentlicht. Der britische Autor kann freilich nichts für den blumigen deutschen Titel: Im englischen Original heißt das Buch schlicht „Science“(Wissenschaft).

Die fünf Essays basieren auf Vorträgen, die McEwan zwischen 2003 und 2019 bei verschiedenen Gelegenheiten gehalten hat. Dabei geht es nie darum, seine eigenen Romane in einem wissenschaftlichen Kontext zu interpretieren. Er will zeigen, dass Erkenntnis schön und Schönheit erkenntnisreich sein kann. Dass Wissenschaft sich viel schneller als neue Wahrheit in der Gesellschaft verbreitet, wenn sie elegant formuliert ist. Dass Neues in Literatur und  Wissenschaft vor allem eines braucht: intellektuelle Neugier, Risikobereitschaft, den Mut zum Scheitern.

Kaum jemand wäre besser dafür geeignet, einen Blick in die Geschichte der Wissenschaft zu werfen, ihre Triumphe und Verirrungen zu beschreiben, ein Plädoyer für Vernunft und Neugier zu halten, interessiert sich McEwan doch brennend für juristische Probleme, politische Konzepte, religiöse Abgründe. In „Solar“ verhandelte er nicht nur das Schicksal eines abgehalfterten Nobelpreisträgers, sondern auch noch Grundfragen der Physik, der Umwelt-Politik und Klima-Wissenschaft. „Kindeswohl“, ein Roman über einen an Leukämie erkrankten Jungen, machte McEwan zu einem poetischen Traktat über Vernunft und Religion. In „Maschinen wie ich“ verknüpfte er ethische Probleme der künstlichen Intelligenz und Neurologie mit einer spannenden Romanhandlung über Liebe und Tod.

Einstein und Darwin als elegante Schriftsteller

In einem seiner Essays verhandelt er nun die Frage, was Literatur und Wissenschaft verbindet und was sie über die menschliche Natur aussagen. Am Beispiel von Einsteins Essay über die „Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie“ sowie Darwins Berichte „Über die Entstehung der Arten“ und den „Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren“ beschreibt McEwan, wie Wissenschaftler nicht nur den Mut haben, das Welt- und Menschenbild ihrer Zeit zu revolutionieren, sondern auch in der Lage sind, ihre neuen Erkenntnisse in elegante Literatur zu verwandeln.

Einstein hat gleichsam Gott vom Thron gestoßen und unser Universum aus den Wirkungsweisen von Raum und Zeit neu definiert. Darwin hat den Menschen nicht als Krönung der göttlichen Schöpfung, sondern als Ergebnis einer natürlichen Auslese und Teil einer Evolution neu definiert, die uns mit unseren direkten Verwandten verbindet: den Tieren, die uns in Mimik und Gestik ähneln und Scham und Schmerz, Angst und Freude auf ähnliche Weise ausdrücken wie der Mensch, über Generationen und Gesellschaften hinweg, so wie auch die Literatur, über Generationen und Gesellschaften hinweg, auf einen zeitlosen Fundus von Verständnis, Emotion und Intellekt zurückgreifen kann. Wie sonst könnte man erklären, dass die „Odyssee“ oder „Anna Karenina“ überall verstanden und genossen werden?

Wissenschaftler unter Zeit- und Erfolgsdruck

In einem anderen Aufsatz beschreibt McEwan, warum es für Wissenschaftler so wichtig ist, der Erste zu sein, warum Einstein und Darwin jahrelang herumtrödelten und erst einen Gang zulegten, als Konkurrenten am Horizont auftauchten, die zu ähnlichen Ergebnissen zu kommen schienen. Nur der Erste heimst allen Erfolg ein, nur über ihn wird geredet. Da haben es Schriftsteller einfacher: Zwar gibt es ein Copyright und ein Plagiats-Verbot, aber jeder Autor weiß, dass er auf den Schultern von Riesen steht und mit seinem neuen Gedicht oder Roman nur die Tradition fortschreibt, es sei denn, man heißt James Joyce und erfindet mit einem tausendseitigen Roman, der an einem einzigen Tag spielt und Erlebtes und Erdachtes sprachlich durch den Fleischwolf dreht, die Literatur völlig neu.

„Niemand wird uns retten, wenn wir es nicht tun“

Unter dem Titel „Endzeitstimmung“ versucht McEwan zu verstehen, warum immer noch Menschen an übernatürliche Kräfte und strafende Götter glauben, obwohl die Wissenschaft ständig Fortschritte macht und die Welt wie ein offenes Buch vor uns zu liegen scheint. Wie kann es sein, dass in den USA, die „weltweit für mehr als 4/5 der wissenschaftlichen Forschung verantwortlich“ sind und die meisten Nobelpreisträger stellen, „nur zwölf Prozent der Bevölkerung“ glauben, „das Leben auf der Erde habe sich durch natürlich Selektion ohne Intervention einer übernatürlichen Instanz entwickelt“? Die monotheistischen Religionen, schließt McEwan, basieren auf Endzeit-Visionen und der Lust auf die Apokalypse. McEwan schüttelt nur den Kopf: „Wir haben keinen Grund zu der Annahme, das irgendwelche Daten im Himmel oder in der Hölle vorgemerkt sind. Vielleicht vernichten wir uns selbst; vielleicht kommen wir davon. Uns dieser Ungewissheit zu stellen, ist ein Gebot der Reife und unser einziger Ansporn zu klugem Handeln. Niemand wird uns retten, wenn wir es nicht tun.“

Ian McEwan: „Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion.“ Aus dem Englischen von Bernhard Robben und Hainer Kober. Diogenes Verlag, Zürich. 180 Seiten, 20 Euro.




Medium oder blutig? Gelsenkirchener, gegrillt! – Notizen aus der Inneren Coronei (4)

Foto (©): G. Herholz

Samstag, 2. Januar 2021. Der erste Blick aus dem Fenster bietet wenig Vergnügliches: der Himmel, die kleine Straße in Gelsenkirchen-Buer wie gewohnt Grau in Grau. Bis halb neun habe ich geschlafen, würde am liebsten als Bär überwintern, zurück in die Schlafhöhle und frühestens Mitte April wieder aufwachen. Ausreichend Speck dafür habe ich mir angefressen.

Meine Frau aber mault, ich solle besser einmal duschen. Ehehygiene, ihr Befehl wird mir zum Wunsch. Danach frühstücke ich, blättere in der Notausgabe der WAZ, die sich von der gewöhnlichen Ausgabe kaum unterscheidet. Es fehlt ihr bloß ein bisschen an Platz, da, wo sonst die Chefetagen aus Wirtschaft, Politik und Kirche ihre Wünsche ans Volk weiterreichen lassen. Ausnahmsweise kaum etwas zu lesen von Salbadern wie dem Essener Weih- und Militärbischof Overbeck, den die WAZ sonst gern und oft zu Wort kommen lässt: als Arbeiterführer zum 1. Mai etwa oder als Moralapostel wider gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Auch zum Jahresanfang wäre also mit einer ganzseitigen Überdosis Overbeck zu rechnen. Doch – zum Teufel mit ihnen – Cyberkriminelle haben zentrale Computersysteme der Funke Mediengruppe, damit Druckerei und Redaktionen lahmgelegt, erpressen nun den Medienkonzern: Bitcoins her oder ihr werdet über die Festtage niemandem pünktlich und herrlich erscheinen!

Da muss man doch etwas tun! Ich zum Beispiel wäre bereit, ein paar Euro an die Funkes zu spenden, falls deren Zeitungen noch einige Tage ausblieben. Obwohl ich sie bereits mit dem WAZ-Abo subventioniere. Vielleicht könnte man Crowdfunding …? Funkemediens aber haben IT-Spezialisten, Staatsanwälte und Kriminalisten eingeschaltet, um die Schadsoftware und dahinterstehende Hacker, Auftraggeber aufzuspüren. Bis dato wohl ohne Erfolg? Ein bisschen mehr Transparenz auch den Abonnenten gegenüber täte da gut.

Immerhin: So lernen die Leser*innen aber auch die Maskierten*außen, abseits ihrer lieb gewonnenen Cafés und Plätze, dass es durchaus auch ohne WAZ & Co. geht. Oder – Achtung: Verschwörungstheorie! – wollen übermächtige Medienkartelle uns durch kalten Print-Entzug abrupt ans Online-Abo gewöhnen, das Papierne unter Vorwänden flugs ins Papierlose verwandeln? Das wäre nicht schön, vor allem nicht für jene guten Journalist*innen, die es in den Rumpf-Redaktionen durchaus noch gibt, die aber –dezimiert und zu Content-Providern degradiert – nur wenig Haltung und Stil zeigen dürfen. Deprimierend.

Verwaiste Schülerbehälter auf dem Gelände der Gesamtschule Buer Mitte (© G. Herholz)

Graues Wetter, trostlose Zeitung, besch… Aussichten. Ich beschließe Gassi zu gehen, mit meiner Lethargie an der langen Leine, bei der Gelegenheit Brötchen zu kaufen und eine TV-Zeitung, um nachschauen zu können, welche alten Filme wann zum x-ten Male wiederholt werden. Dabei schleppe ich mich auf der Horster Straße auch am Eventcasino Capone´s Hinterzimmer vorbei, selbstverständlich geschlossen, jedenfalls nach vorne raus. Kurz darauf doch noch ein Hoffnungsschimmer. Ayna Grill & More will demnächst an der Ecke Vincke / Horster Straße ein Café eröffnen. Allerdings sind die Schaufenster des Eckhauses schon seit vielen Monaten mit dieser Ankündigung versehen.

Ja, das können sie in Gelsenkirchen: Veränderung und Verbesserung so lange ankündigen, bis deren Umsetzung völlig vergessen wird. Schalke 04 ist da nur ein Beispiel.
Fast wöchentlich bescheinigen Studien und Rankings Gelsenkirchen auch sonst einen Abstiegsplatz in Richtung Bedeutungslosigkeit. Die uneigennützige Markenberatung Brandmeyer aus Hamburg hat Gelsenkirchen mit Duisburg zu den am wenigsten beliebten Städten in Deutschland gekürt. Das ZDF verbreitete, dass GE nicht nur unattraktiv für Familien und Ältere sei, auch bei der Kinderarmut lasse sich die Stadt nicht lumpen. Und das Handelsblatt fand heraus, dass GE vor allem hinsichtlich der Künstlerdichte negativ auffällt. Hier belegt die Gelsenkirchener Boheme mit nicht einmal einem Künstler je tausend Einwohner den letzten Platz unter den größten 30 Städten Deutschlands. Halbwelt eben.

(© G. Herholz)

Zum Verzweifeln. Geduckt gehe ich weiter, doch Ayna Grill & More hat noch eine Überraschung parat für alle, die nicht allein der Status quo betrübt, sondern auch die Zukunftsaussichten fürs anstehende Coronajahr Zwei. Steigende Arbeitslosigkeit, Kampf um Impfdosen, Schlachten im Supermarkt, Reich gegen Arm, vieles ist möglich. Wer da als Krisenverlierer aufgeben muss, für den bietet Ayna in zwei Schaufenstern einen Ausweg aus jeder Tristesse:

„Hier Eröffnet Demnächst ein Selbst-Grill Restaurant“

Das nenne ich eine Perspektive! Wenn’s nicht mehr für alle reicht, ist man halt selbst dran. Grill nicht den Henssler, grill dich selbst! Barbe-me statt Barbe-you und Barbecue. So gut es eben geht. Der Nächste wird dir dankbar sein, denn nur der Erste in der Schlange vor der Glut wird wohl kaum satt werden. Mich erinnert das an zwanglose Parties der 80er Jahre. Einer wirft den Grill an, alle bringen ihr Fleisch mit oder Muttis Salat, ein paar die Getränke und Frauen – und einer was zum Kiffen.




Wie Heimat zu erfahren und zu schildern sei: Judith Kuckarts Dortmunder Hörfilm „Hörde mon Amour“

Blick auf die Siedlung Am Sommerberg/Am Winterberg in Dortmund-Hörde. (Screenshot aus dem besprochenen Film / © Judith Kuckart)

Dortmund vergibt bekanntlich (und endlich) ein Literaturstipendium. Das temporäre Amt, das andernorts meist Stadtschreiber(in) heißt, nennt sich hier Stadtbeschreiber*in. Die literarisch etablierte Judith Kuckart hat den Anfang gemacht. Ihr Dortmunder Aufenthalt begann im August und dauert bis Ende Januar 2021. Leider wurde auch ihre Tätigkeit von Corona eingeschränkt. Anders als vorgesehen, hat sie keine theatrale Umsetzung ihrer Ortserkundungen verwirklichen können, sondern einen rund einstündigen „Hörfilm“ produziert. Es ist ein „Heimatfilm“ ganz eigener Art.

Die 1959 in Schwelm geborene Judith Kuckart hat als Kind – aus traurigen familiären Gründen – „vier oder fünf Sommer“ im Dortmunder Ortsteil Hörde verbracht und kennt also noch das Alltagsleben in der früheren Stahlwerksgegend. In jenen Jahren war sie etwa 9 bis 14 Jahre alt. „Hörde war eine Schule fürs Leben“, sagt sie. Und Hörde sei für immer Teil ihrer „inneren Landschaft“. Ein „Downtown“ Dortmund, also eine zentrale Innenstadt, habe es für sie damals nicht gegeben. Folglich trägt der Film den Vorort liebevoll im Titel: „Hörde mon Amour“.

Westfälische Witterung

2017, als der Kongress der Autorenvereinigung PEN in Dortmund stattfand, hatte die heute in Berlin lebende Judith Kuckart Gelegenheit, erneut westfälische Witterung aufzunehmen. Zwar hat sie für die Stipendienzeit in der Nordstadt am Dortmunder Borsigplatz gewohnt, sich aber auf den Spuren ihrer Kindheitserinnerungen weit überwiegend wieder „auf den Hügeln von Hörde“ umgetan. Das 1340 gegründete (und 1928 nach Dortmund eingemeindete) Hörde hat schon immer ein gewisses Eigenleben geführt und lange Zeit mit Dortmund auf Kriegsfuß gestanden. Auch daraus bezieht der ebenso eindringliche wie wohltuend ruhige Film untergründige Spannungsmomente.

Die Autorin und Dortmunder Stadtbeschreiberin Judith Kuckart – hier in Berlin, März 2019. (Foto: Burkhard Peter)

Äußerst langsam und behutsam tastet die Kamera (Martin Rottenkolber) Einzelheiten ab, die Erinnerung in sich bergen (könnten): die Siedlung „Am Sommerberg“/„Am Winterberg“ im vogelperspektivischen Überblick; sodann geht’s Fassade für Fassade an verwitterten Häusern entlang. Auch sieht man eine typische Wohnung daselbst mit allen Einzelheiten, die nicht gerade auf Wohlstand hindeuten und wirken, als seien sie rücklings aus der Zeit gerutscht. Hinzu kommt ein verfallenes, inzwischen auch verwunschenes früheres Schwimmbad („Schallacker“), dessen Areal zur Stätte des Urban Gardening mutiert ist. Lauter wehmütige Ansichten von zumeist menschenleeren Orten. Kein Wunder, wenn dabei Kopfkino entsteht, zumal als Bezugspunkt ein kartographierter, aber nicht existierender Phantom-Ort bei New York aufgerufen wird, der zur Kultstätte für Jugendliche von weither geraten ist. Auch Hörde ist nicht zuletzt ein imaginäres Gelände.

„Schäbiges Paradies“

Nicht in den Bildern, wohl aber in den Texten dieses „Hörfilms“ scheint auf, wie sehr hier einst das pralle, wenn auch oft etwas ärmliche Leben sich begeben hat. Im besagten Schwimmbad, so heißt es, sei gleichsam alles Lebendige geschehen, es seien auf den Liegedecken in diesem „schäbigen Paradies“ auch Kinder gezeugt worden. Mittlerweile gibt es einen machtvollen und scharfen Kontrast, ein ganz anderes Hörde, das gleichfalls, wenn auch eher schaudernd, ins Auge gefasst wird: die Gegend rings um den künstlich erstellten Phoenixsee mit ziemlich seelenlosen Neubauten zu exorbitanten Preisen. Dies sind keine Kindheitsräume mehr, aber vielleicht Orte für unstete „Wandermenschen“, die allüberall ihresgleichen finden.

Judith Kuckart erinnert sich hingegen lieber an die Jahre um 1968, als die Frauen in der Hörder Siedlung ganztags im Morgenmantel umher gingen, die bescheidenen Haushalte führten und Kinder versorgten, während die Männer bei Hoesch malochten oder in der Kneipe zechten. Eine 1979 aus Jamaika zugewanderte Frau bedauert den späteren Wandel gleich zu Beginn des Films: Früher sei ihr der Lichtschein des Hochofenabstichs stets wie eine wärmende, tröstende Sonne erschienen, später sei hier und in anderen Stadtteilen jedoch „alles den Bach runtergegangen“. Um in Hörde herzlich und herzhaft heimisch zu werden, muss man wahrlich nicht dort geboren sein.

Wo wir uns sicher bewegen können

Fixsterne in Kuckarts Hörder Kindheitssommern waren mehrere Tanten, die dort gelebt haben. Eine von ihnen ist mit 24 Jahren gestorben, ihr kurz vorher geborenes Baby hielt sie bis zuletzt fest umklammert. „Oma Schüren“ (in Dortmund heißen Großeltern familiär häufig nach dem Stadtteil) ist gegen Ende einer Kinovorführung in der – bis heute als letztes Vorort-Lichtspielhaus existierenden – „Postkutsche“ in Aplerbeck gestorben. Heute kann niemand mehr sagen, welchen Film die Großmutter zuletzt gesehen hat.

Man ahnt, dass der Ton zum Film sich keineswegs in „Dönekes“ erschöpft, sondern wesentlich tiefer lotet, manchmal ganz unversehens. Nach und nach stellt sich mit zunehmender, freilich allemal sanfter Dringlichkeit die Frage, was eigentlich „Heimat“ sei und wie von ihr zu erzählen wäre. „Heimat ist der Raum, in dem wir uns immer sicher bewegen können“, heißt es an einer Stelle. Ob es zugleich ein konkreter Ort ist, steht allerdings dahin. Überhaupt ergeben sich viele Fragen: Ist die Heimat ein Ort oder ein Gefühl? Kann man sesshaft werden in der Sehnsucht nach Heimat? Kann man eine Heimat gründen oder entwerfen? Kann Sexualität eine Heimat sein? Und so fort. Hier lagert Stoff fürs eine oder andere weitere Buch im Sinne des „autofiktionalen“ Erzählens, der Selberlebensbeschreibung, angereichert mit fiktionalen Elementen, wie sie seit einiger Zeit wieder vermehrt Teile der Literatur prägt (und nicht die schlechtesten).

Um das Erzählte noch genauer zu verankern, versichert sich Judith Kuckart der Kenntnisse einiger langjährig ortsansässiger „Heimatexpert(inn)en“. Jede(r) von ihnen trägt ureigene Bruchstücke zum Mosaik der Heimatlichkeit bei. Und nein: Das berühmte Diktum von Ernst Bloch („…so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“) kommt an keiner Stelle vor.

„Hörde Mon Amour“. – „Hörfilm“ von Judith Kuckart, 2020. Zu sehen auf dem YouTube-Kanal des Dortmunder Literaturhauses: 

https://www.youtube.com/watch?v=v9iAHql-NJI

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Im Mai 2021 soll Anna Herzig übernehmen

P.S.: Als nächste Dortmunder Stadtbeschreiberin wird – vermutlich ab Mai 2021 – Anna Herzig aus Salzburg in der Stadt sein. Sie hat keine Dortmunder Kindheitserfahrungen, will aber hier an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der in einem Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt…




Am Ende des Weges zum Katholizismus: J.-K. Huysmans‘ „Lourdes – Mystik und Massen“ erstmals auf Deutsch

Joris-Karl Huysmans, vor allem bekannt geworden durch ein Buch, das oft als „das Brevier der Dekadenz“ bezeichnet wird – den 1884 erschienenen Roman À rebours (deutsch meistens: Gegen den Strich) –, wandte sich im Laufe seines Lebens zunehmend dem Katholizismus zu. Jetzt liegt erstmals in deutscher Übersetzung ein Werk vor, das am Ende dieses Weges steht: Lourdes. Mystik und Massen (Originaltitel: Les Foules de Lourdes, 1906).

Bereits nach dem Erscheinen von À rebours sah Huysmans‘ Schriftsteller-Kollege Barbey d’Aurévilly in einer Besprechung im Constitutionnel am 28. Juli 1884 voraus: „Nach einem solchen Buch bleibt dem Verfasser nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes.“ Huysmans entschied sich nicht für den Suizid; er starb 1907 im Alter von 59 Jahren an einem Tumor im Unterkiefer. Sein Buch über den Wallfahrtsort Lourdes, wo er sich in den Jahren 1903 und 1904 jeweils für mehrere Wochen aufhielt, war das letzte seiner Bücher, das zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde.

Schon der dekadente Adlige Des Esseintes in À rebours hatte sich eine Sammlung mit Werken frühchristlicher und mittelalterlicher Autoren zugelegt. Gegen Ende des Romans empfindet der Protagonist die Sinnleere dieser mit sich selbst beschäftigten Ästhetik und sehnt sich nach seiner Zeit im Jesuiten-Internat zurück. In den nachfolgenden Werken Là-bas (1891, dt.: Tief unten), En route (1895, dt.: Unterwegs), La Cathédrale (1898, dt.: Die Kathedrale) und – nachdem Huysmans 1900 selbst Laienbruder (Oblate) im Benediktinerorden geworden war – L’Oblat (1903, dt.: Der Oblate) lässt sich seine allmähliche Annäherung an den christlichen Glauben mitvollziehen.

Mittelalterliche Frömmigkeit

In einer Besprechung von Paul Verlaines religiösen Gedichten (Sagesse, 1880), die auf Deutsch in der Zeitschrift Sinn und Form erschienen ist (Heft 2/2017), hebt Huysmans auf die verlorene und bei Verlaine wiedergefundene Frömmigkeit des Mittelalters ab. Es ist eine „fast volkstümliche Ungeniertheit, diese zutiefst rührende Zerknirschung“, die er hier entdeckt. Verlaine habe „als einziger nach Jahrhunderten die Töne der Demut und Unbefangenheit, der klagenden und zaghaften Gebete, den Jubel des kleinen Kindes wiedergefunden, die seit der Rückkehr jenes stolzen, Renaissance genannten Heidentums vergessen waren.“ Eine Rückkehr zur vollkommenen Hingabe strebt er auch in seinem Buch über Lourdes an.

Drastische Beschreibung von Krankheiten

Jedoch ist Huysmans weniger ein religiöser Schwärmer als vielmehr ein scharfsinniger Beobachter und leidenschaftlicher Kritiker seiner Zeit. Den Eingangssatz zum ersten Kapitel seines 300-Seiten-Buchs, „Wenn es einen gibt, der niemals den Wunsch gehabt hat, Lourdes zu sehen, dann bin ich es“, darf man ihm abnehmen. Er, der seine literarische Geburtsstunde in der Gruppe der Naturalisten um Émile Zola erfuhr, bevor er mit À rebours auch Anhänger der symbolistischen Schule für sich einnahm, ist dem naturalistischen Stil der exakten Beschreibung treu geblieben. Das zeigt sich vielleicht am drastischsten in der detaillierten Beschreibung von Krankheiten, die er im Spital oder an der Heilquelle in der Grotte der Jungfrau Maria beobachtet. Bei den vom „Wundschleim der Kranken“ getrübten Wasserbecken, in denen die Wundergläubigen eintauchen oder gebadet werden, könnte man annehmen, dass sie mehr Krankheiten hervorrufen als heilen.

Kritiker der Geschäftemacherei

Ein großes Thema der Naturalisten um Zola, das aber ebenso im ästhetizistischen Roman À rebours aufscheint, ist die Kritik am modernen Kapitalismus. Huysmans geißelt die Geschäftemacherei, die sich in Lourdes entwickelt hat. Einige riesige Heil-Industrie hat sich dort entwickelt; nationale Wallfahrten wurden organisiert; in den kleinen Ort am Fuße der Pyrenäen reisten aus ganz Frankreich Zehntausende in speziellen Sanitätszügen, den Trains Blanches, begleitet von vielen freiwilligen Helfern. Zusätzlich kamen zahlreiche Reisegruppen aus dem Ausland. Die Stadt verwandelte sich in ein gigantisches Beherbergungslager; Souvenirläden und Devotionalienhandlungen eröffneten in großem Ausmaß. Huysmans zieht es hin zu den wenigen Rückzugsorten, in die – auf seinen späteren Reisen nicht mehr existierende – alte Kirche Saint-Pierre, „eine bezaubernde Dorfkirche“, wo er noch stille Einkehr erleben durfte, zu einer abseits der Pilgerströme gelegenen Kapelle auf der anderen Seite des Flusses Gave de Pau und zu dem kleinen und ärmlichen Kloster der Klarissen, wo die Oberin ihm ein langes Gespräch gewährt.

Basilika als „Blutsturz des schlechten Geschmacks“

Dagegen ist die 1889 fertiggestellte, erst 1901 eingeweihte und bis zu 1.500 Personen fassende Rosenkranz-Basilika im neobyzantinischen Stil für ihn ein „Blutsturz des schlechten Geschmacks“. Architektonisch sei sie gründlich misslungen und, mehr als das, geradezu ein Werk Satans: „Ohne Einflüsterungen aus einer bösartigen Jenseitswelt kann der Mensch allein Gott nicht in dieser Weise entehren.“ Auf dem Gebiet der Ästhetik erweist sich die Radikalität seines Urteils ganz besonders, und schon die älteren Werke Huysmans machen deutlich, wie wichtig für ihn Liturgie und Form waren. Was er dagegen in Lourdes ansehen musste, „ist ziemlich erbärmlich, es reizt dazu, die Stadt zu verlassen und sie niemals wieder zu betreten.“ Von unfassbarem Kitsch und nicht geeignet, das Heilige zu repräsentieren, ist eine Station auf dem Kreuzweg, und tatsächlich wurde sein 1906 erschienener Verriss von der Kirche ernst genommen und die von ihm besonders geschmähte Station des Kreuzwegs daraufhin umgestaltet.

Das andere Gesicht von Lourdes – die soziale Utopie

Nicht alles an Lourdes stößt ihn ab. Das Massenphänomen der Pilgerschaft und Heilsuchenden erzeugt auch ein tiefes Gefühl von Gemeinschaft – „all diese wachenden Menschen, so fern ihrer Heimat, sagen das Gleiche in den unterschiedlichen Sprachen und denken das Gleiche.“ Die Erfahrung von Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe beeindruckt ihn tief. In den vielen freiwilligen Helfern, Pflegerinnen und Pflegern, Krankenträgern und Ärzten, die die Schwerkranken und Gebrechlichen begleiten, sieht Huysmans ein Stück sozialer Utopie verwirklicht. „In dieser Stadt der Jungfrau lebt das Urchristentum wieder auf (…).“ Angesichts des Leids scheinen soziale Unterschiede keine Rolle zu spielen. Es ist die zeitweise Verschmelzung der Klassen. Die Frau von Welt verbindet und wäscht die Arbeiterin und die Bäuerin, der Herr in gehobener Stellung wird Tragesel für den Handwerker und den Landmann, fungiert als Badehelfer in ihrem Dienst.

„Die Wunderheilungen: Für und Wider“

Vielleicht wäre Huysmans‘ Buch über Lourdes nicht entstanden, hätte nicht sein früherer Lehrmeister, der acht Jahre ältere Émile Zola, 1894 einen Roman mit dem Titel Lourdes veröffentlicht. Zolas Protagonist ist ein junger Priester, der in Begleitung eines Pilgerzugs zur Erkenntnis gelangt, schwere Krankheiten würden die meisten Menschen ohne ihren Glauben gar nicht ertragen. Geschäftsleute und ein Teil des Klerus nutzten die Not der Gläubigen aus. Dem jungen Priester schwebt eine neue Religion vor, die nicht die Illusionen nährt, sondern vor allem materielle Gerechtigkeit herstellt.

Indem Zola die „Wunder“ auf Hysterie und Autosuggestion zurückführt, greift er auf die Suggestionstheorie des Pathologen und Neurologen Jean-Martin Charcot zurück. Huysmans wendet sich in dem Kapitel „Die Wunderheilungen: Für und Wider“ seines Lourdes-Buchs gegen Zola und Charcot und argumentiert, Wunderheilungen wirkten auch bei Personen, die im Zustand der Bewusstlosigkeit nach Lourdes gebracht worden seien oder bei Säuglingen, die sicherlich keiner Suggestionen anheimgefallen sein dürften. Es habe nachweislich in Lourdes auch Heilungen abseits der Massenveranstaltungen, der großen Messen, der Prozessionen gegeben. Huysmans geht davon aus, dass wesentlich mehr Wunder geschehen sind als beim Konstatierungsbüro in Lourdes gemeldet und „amtlich“ anerkannt wurden.

Ratio und Glaube schließen sich nicht aus

Huysmans zitiert einen „bewundernswerten Mönch“, der über seine Ordensbrüder zu ihm sagte: „Gott segnet sie nicht mehr, sobald sie vernünfteln!“ Das mag an den Kirchenlehrer Petrus Damiani (um 1006–1072) erinnern, für den das Denken seinen Ursprung im Teufel hat und vor Gott nichts gilt. Für den jedoch, der es gewohnt ist, Ratio und Glauben als gewisse Gegensätze aufzufassen, mag bei der Lektüre von Huysmans‘ Lourdes-Buch die Entdeckung verblüffen, wie wenig sich für ihn vernünftige Analysen und tiefe Frömmigkeit ausschließen. Das wird gerade im Kontrast zu manchen seiner Zeitgenossen deutlich. Bei Monsieur Teste beispielsweise, dem überragenden Intellektuellen, den Paul Valéry ungefähr zeitgleich erschaffen hat, ist es die Ehefrau Emilie, die feststellt, ihr Mann habe das Wesen ihrer inbrünstigen Seele perfekt erforscht und verstehe ihre Gläubigkeit treffend zu erläutern, doch fehle seiner Nachbildung das Eigentliche: die Hoffnung. Es gibt kein Körnchen Hoffnung im ganzen Wesen von Herrn Teste.

Maria als tatsächlich Handelnde

Bei Huysmans dagegen, wenn er auch seine Epoche verabscheute, war Hoffnung in großem Maße vorhanden, bis hin zu einer Wundergläubigkeit, die aufgeklärten Menschen naiv erscheinen mag. Im Sinne mittelalterlicher Frömmigkeit ist es für ihn eine Realität, dass die vom Konstatierungsbüro geprüften und anerkannten Wunderheilungen einen übernatürlichen Ursprung haben. Er betrachtet Maria als ein tatsächlich handelndes, in die Geschicke der Menschen eingreifendes Wesen. „Es ist übrigens vernünftig, in diesem Heilmittel (hier geht es um das Wasser der Quelle) nur eines derjenigen zu sehen, die von der Jungfrau nach ihrem Willen angewendet werden, denn oft wählt sie es auch nicht.“ Auch in seiner Beschreibung der geschichtlichen Vorläufer von Lourdes ist es Maria, die den Ort bestimmt, in dem sie sich niederlässt. „Die Jungfrau zog von den Alpen in die Pyrenäen, und dort erschien sie nicht auf einem Berggipfel, sondern am Fuß eines Berges in einer Grotte, als ob sie näher herbeikommen wollte in irdische Reichweite.

Ohne den festen Glauben an Heilung gäbe es keinen solchen Wallfahrtsort. Nicht als ein Standbild, sondern als eine Person, mit der man reden kann und die sie hört, betrachten auch die Pilger die Jungfrau Maria. Wenn Bitten allein nicht hilft, wollen sie mit ihr verhandeln; sie rechnen die eigene Hingabe gegen das von einer solch aufwendigen und kostspieligen Reise erwartete Wunder auf, verlangen „für ihren derartig großen Glauben, ihre Geduld und ihren Mut“ eine „Gegengabe“. Und der Autor schließt sich ihrem Hadern mit der Gottheit an: „Was tut sie denn, für die es doch so einfach wäre, all diese Menschen zu heilen?

Sinngebung des Schmerzes

Dann aber weist Huysmans‘ große Belesenheit überraschend auf ein Paradoxon hin, das sich für den frommen Christen aus dem Wunsch nach Heilung ergibt. Er erinnert an eine vor allem im 14. und 15. Jahrhundert epochentypische Richtung des Katholizismus, die sich „Dolorismus“ nennt. Ihre Anhänger sahen sich in der Nachfolge Christi als „Schmerzensmann“ und glaubten, durch eigenes Leiden Christi Werk, das Leiden für die Menschheit, fortsetzen zu können – gemäß Paulus‘ Brief an die Kolosser 1,24, in dem es (in der Übersetzung Martin Luthers) heißt: „Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für euch leide, und erfülle durch mein Fleisch, was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde.“ Mit einer solchen mystischen Haltung wäre es, wie Huysmans bemerkt, inkonsequent, sich in Lourdes die Befreiung vom Leiden zu wünschen. Sie würde den Zweck der Wallfahrt ad absurdum führen – „denn letztlich müsste man vor der Grotte statt der Linderung seiner Leiden ihre Verschlimmerung erbitten, um sie als Sühneopfer für die Sünden der Welt anzubieten! Lourdes wäre so gesehen die Zentrale menschlicher Feigheit.“ Huysmans nimmt damit vorweg, was in Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft als „Algodizee“ auftaucht, in dem Fall eine apologetische Sinngebung des Schmerzes.

Huysmans‘ Lourdes-Buch ist das stilistische Meisterwerk eines außergewöhnlichen Autors, der ebenso aus seiner Zeit fiel, wie er vermutlich in keine Epoche gepasst hätte. Mit einem erhellenden, kenntnisreichen Nachwort des Übersetzers Hartmut Sommer liegt uns die erste deutsche Ausgabe in der schön gestalteten Reihe der Lilienfeldiana endlich vor.

Huysmans, Joris-Karl: Lourdes – Mystik und Massen. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hartmut Sommer, mit historischen S/W-Fotografien, Lilienfeld Verlag, Düsseldorf, 2020 (Reihe: Lilienfeldiana, Band 23), 320 Seiten, 22 Euro.




Deutsche Depressionen – Durs Grünbeins geschichtliche Sondierungen „Jenseits der Literatur“

Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der Gegenwart. Für sein vielfältiges Werk aus Lyrik und Essays, Tagebüchern, Übersetzungen und autobiographischer Prosa hat er den Büchner-, den Hölderlin-, den Nietzsche-Preis bekommen. Sein neues Buch heißt „Jenseits der Literatur. Oxford Lectures“. Genau genommen sind es die „Lord Weidenfeld Lectures“, ins Leben gerufen vom Journalisten, Verleger und Diplomaten George Weidenfeld, dem großen Briten mit österreichisch-jüdischen Wurzeln, einem Brückenbauer über nationale, politische und religiöse Grenzen hinweg.

Eingeladen wurden und werden Geisteswissenschaftler und Schriftsteller: Umberto Eco, Amos Oz, Mario Vargas Llosa, und jetzt Durs Grünbein. Eine passende Wahl: Denn auch Grünbein ist ein notorischer Brückenbauer, er kennt keine künstlerischen Grenzen, seine Dichtung kreist immer um Poesie und Politik, Literatur und Philosophie. In den Vorlesungen versucht er allem, was sein Denken und sein Leben ausmacht, was sein Schreiben bestimmt und ihn mit den politischen Verwerfungen und historischen Bewusstseinsströmen verbindet, auf den Grund zu kommen.

Vom Verstummen, Vergessen und Verdrängen

„Jenseits der Literatur“ ist etwas, was alles Schreiben infrage stellen und unmöglich machen kann, was uns verstummen und verzweifeln lässt, uns belastet und bedrängt, was wir aber erinnern und bearbeiten müssen, um frei atmen, denken und schreiben zu können: Es ist die Erfahrung, Teil eines Geschichtsprozesses zu sein, einer Nation, einer Sprache, einer Familie, die das Denken beeinflusst und die Sicht auf die Welt bestimmt.

„Jenseits der Literatur“ liegen Verstummen, Vergessen, Verdrängen der jüngeren deutschen Geschichte: die Verbrechen des Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust, das Stalin-Trauma der DDR, der Opportunismus der Mitläufer, die Unfähigkeit zu trauern, die Nachwirkung von Propaganda, Manipulation und Gehirnwäsche, die sich wie eine Grabplatte über die deutsche Geschichte gelegt hat und bis heute die deutsche Gegenwart verdunkelt. „Jenseits der Literatur“ sind die „Abgründe der Geschichte“, vor denen es einen graust. Aber es gilt, das Vergessene auszugraben und sich von den Schwindelgefühlen der Geschichte zu befreien. Denn, da ist sich Grünbein sicher, „es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt“, es ist die Literatur „als Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem“.

„Eine violette Briefmarke“ als Ausgangspunkt

Grünbein taucht hinab in seine Kindheitserinnerungen, macht eine „violette Briefmarke“ zum Ausgangspunkt der Überlegungen. Er findet sie beim Stöbern in einem alten Album, die „violette Briefmarke“ zeigt den Kopf von Adolf Hitler, und Grünbein verfällt sofort in eine von Scham und Schuld belastete „Erinnerungs-Depression“. Schon als Kind in der DDR ahnte er, dass Briefmarken von diesem Dämon, der mit einem Bilder-Verbot und einem Tabu belegt war, etwas Verbotenes und Ungeheuerliches waren. In einem Akt der Teufelsaustreibung hatte er sie deshalb verkehrt herum, kopfüber ins Album sortiert.

Als er zufällig im Haus seiner Großeltern auf ein vergilbtes Exemplar von „Mein Kampf“ stößt, ahnt er, etwas Obszönes und Verbotenes in den Händen zu halten, etwas, worüber er auf keinen Fall reden darf. Dieses Verstecken, Verdrängen, Vergessen, von seinen Eltern und Großeltern auf ihn, den Jungen aus Dresden, übertragen, dient ihm heute dazu, über die gesellschaftliche Amnesie nachzudenken, über die Mechanismen der Inszenierung von Macht und die Manipulation der Massen, über die Rumpelkammer der deutschen Geschichte, in die er gefallen ist wie einst Alice in den Kaninchenbau des Wunderlandes.

Von der „violetten Briefmarke“, die früher von allen Deutschen – in einem Akt erotischer Symbiose mit dem politischen System – angeleckt, auf Postkarten geklebt, an die Front und in die Vernichtungslager geschickt wurde, ist die Unruhe ausgegangen, die Grünbein bis heute verfolgt: „Ich werde das dumpfe Gefühl nicht los“, schreibt er, „daß sie auch in Zukunft hier und da noch meinen Weg kreuzen wird.“

„Keiner springt aus der historischen Zeit…“

Grünbein bohrt historisch tiefer und holt empor, was bis heute als Gespenst durch die Geschichte geistert und den Traum von Rechtspopulisten beherrscht, was rückwärts gewandte Visionen ausmacht, regressive Fantasien, aggressive Massenbewegungen, die von einem Unbehagen an der Kultur und einer Verklärung der Vergangenheit gespeist werden. Um die Anhänger von „Retropia“ zu verstehen, reist Grünbein in die faschistische Vergangenheit, fährt über Hitlers Autobahnen, deren Bau als „heroische Arbeitsschlacht“ inszeniert wurde und zur Militarisierung der Gesellschaft diente. Er steigt in den Himmel, um den „Luftkrieg der Bilder“ zu beschreiben, den von Deutschland angezettelten Bombenkrieg, die totale Zerstörung.

Schließlich landet Grünbein bei seiner Kindheit in Dresden, als auf dem Weg zur Schule ein russischer Militär-Konvoi an ihm vorbei donnert und ihm das erste Mal dämmert, in was er da hineingeboren wurde. „Keiner springt aus der historischen Zeit, niemand entzieht sich der Formung durch Geschichte“, schreibt Durs Grünbein und beendet seinen Versuch, die Welt mit eigenen, poetischen Augen zu sehen, mit Worten von Ingeborg Bachmann: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“

Durs Grünbein: „Jenseits der Literatur. Oxford Lectures“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 168 Seiten, 24 Euro.