Neues Streaming-Format: Frank Goosen plaudert mit Gästen über ihre Bücher

In der Bochumer Kultkneipe „Haus Fey“: Frank Goosen mit der TV-Journalistin und Buchautorin Jessika Westen. (Foto: Streamfood)

Auch ein Erfolgsautor wie der Bochumer Frank Goosen („Liegen lernen“, „Radio Heimat“ und vieles mehr) muss in Corona-Zeiten sehen, wie er seine Brötchen verdient. Leibhaftige Live-Lesungen vor Präsenz-Publikum fallen aus, also geht auch er öfter ins Netz – jetzt mit dem neuen Format „Goosen und Gäste“, dem Untertitel gemäß eine „Unterhaltung mit Büchern“, genauer: mit deren Verfasserinnen und Verfassern.

Ab Montag, 7. Dezember, können die ersten Resultate gestreamt werden, und zwar bei www.streamfood.tv (siehe Anhang dieses Beitrags). Was gibt es da zu sehen und zu hören? Nun, jeweils 40 bis 50 Minuten vorwiegend entspanntes Geplauder, zumeist über ein Buch, gelegentlich auch über mehrere. Die beiden ersten Ausgaben habe ich mir probehalber vorab angesehen.

Frank Goosen schafft es sogleich, in der urigen Bochumer Kultkneipe „Haus Fey“ (wo er schon mal ostentativ mit Fiege-Pils zuprostet, vielleicht ist’s ja ein Fall von Sponsoring?) eine freundliche Atmosphäre herzustellen, wenn er sich in trauter Zweisamkeit – jedoch auf gehörige Corona-Distanz – mit anderen Autorinnen und Autoren unterhält. Man merkt, dass er sich aus eigener Erfahrung ohne Weiteres in Sorgen und Nöte, aber auch in die Freuden des Schriftsteller-Daseins versetzen kann. Folglich vertrauen ihm seine Gäste und reden stets recht offen. Das spürt man beim Zuschauen. Auch ahnt man schon, dass Goosen nachvollziehbar lebensnahe Erzählstoffe bevorzugen dürfte – und nicht etwa überaus feinnervige Lyrik.

Duisburger Loveparade als Tatsachenroman 

Zum Start begrüßt Goosen die TV-Journalistin Jessika Westen (WDR/n-tv), die einst im Dortmunder Uni-Studiengang Journalistik das zunächst bei einer Lokalzeitung gelernte Handwerk vertieft hat. Am 24. Juli 2010 hatte sie Außendienst am Hauptbahnhof in Duisburg, als sich die furchtbare Katastrophe mit 21 Todesopfern bei der Loveparade ereignete. Das Thema hat die junge Frau, die schon zuvor einige Male privat beim großen Rave mitgefeiert hatte, nicht mehr losgelassen. Jahrelang hat sie recherchiert, hat auch Gerichtsakten studiert und mit Hinterbliebenen gesprochen; auch um selbst halbwegs zu verstehen, was sich in Duisburg zugetragen hat. Aus drei Perspektiven erzählt sie im Buch davon: Da ist die Journalistin Emma (30), unverkennbar das Alter Ego der Autorin; dann die Raverin Katty (18), die die schrecklichen Vorfälle unmittelbar erlebt – und schließlich der Rettungssanitäter René (40).

Frank Goosen zeigt sich vom Tatsachenroman „Dance Or Die“ (Emons Verlag, 319 Seiten, 16 Euro) höchst beeindruckt. Er resümiert, dieses Buch habe Jessika Westen einfach schreiben müssen. Im Gespräch werden sich beide schnell darüber einig, dass dies eine „unglaublich vermeidbare“ (Goosen) Katastrophe gewesen sei, für die allerdings niemand juristische Verantwortung übernehmen musste. Schon im Vorfeld hätten Leute, die sich mit den beengten örtlichen Verhältnissen in und um das Duisburger Veranstaltungsgelände auskannten, ein äußerst mulmiges Gefühl gehabt.

Dies ist kein „Literarisches Quartett“ und auch kein dito Duett. Im Dialog zwischen Jessika Westen und Frank Goosen (und wohl auch in kommenden Folgen) geht es nicht etwa um streng literaturwissenschaftliche Kriterien oder hochtrabende Vergleiche, sondern eher um menschliche und allzumenschliche Geschichten rund um Bücher und Urheber(innen). Es sieht ganz so aus, als suche sich Goosen Bücher und Gäste aus, die er uneingeschränkt loben kann. Ein Grundton der Sympathie und der Empathie zieht sich durch die Plauderstunden – ganz gleich, ob das Thema ernst oder komisch gelagert ist. Übrigens: Der spekulativ klingende Titel „Dance Or Die“ geht wahrhaftig auf Werbe-Flyer zurück, die seinerzeit zur Loveparade in Duisburg verteilt worden sind.

Wilde Feten in der DDR-Provinz

Der Gast der zweiten Folge, der Berliner Autor Alexander Kühne, erzählt munter drauflos, wie er sich einst vor und nach dem Mauerfall als aufsässiger „Ossi“ gefühlt hat. Seine Geschichten, festgehalten in den Büchern „Düsterbusch City Lights“ (erschienen 2016 – Heyne-Verlag, 384 S., 14,99 Euro) und neuerdings „Kummer im Westen“ (Heyne, 352 S. 16 Euro), sind ebenso originell wie offenkundig authentisch und exemplarisch. Auch hier haben wir es mit Tatsachenromanen zu tun.

Kühne hat versucht, in der dörflichen DDR-Provinz zu Lugau bei Finsterwalde (deshalb „Düsterbusch“) eine dort bis dahin ungeahnte Club-Kultur aufzuziehen. Ziemlich wilde Feten im Geiste von New Wave und Punk zogen bis zu 1000 Leute an, die sich auch schon mal samt und sonders schminkten und/oder kollektiv mondän im Stil der 1920er Jahre auftraten. Auch ließen sie Bands wie „Kotzübel“ spielen, die nicht die allgemein übliche „Einstufung“ durch staatliche Stellen durchlaufen hatten.

Mit all dem konnten die DDR-notorischen, schnauzbärtigen „Plunderjacken-Zombies“ (Kühne) schon mal gar nicht umgehen. Behörden und Stasi, vormals auf Langhaarige als „Staatsfeinde“ geeicht, machten alsbald auch den meist kurzgeschorenen Wavern das Leben schwer. Die aber ließen sich den freiheitlichen Spaß nicht vergällen – bis schließlich die Mauer fiel; ein Ereignis, das die Waver, die sich ihre Freiheit eben selbst genommen haben, längst nicht so überwältigt und verwirrt hat wie viele ihrer grauslich angepassten Landsleute.

Hernach erzählt Kühne beispielsweise, wie er unter Linksalternative im Berliner Westen gefallen ist. Die wollten ihm doch tatsächlich die DDR erklären – und dass die BRD viel schlimmer, nämlich faschistisch sei. Dabei will er doch auch hier seine eigenen Erfahrungen machen. Klingt schon im Ansatz nach etlicher Komik.

Was demnächst ins Programm kommen soll: ein Weihnachtsspecial mit Frank Goosen und Micky Beisenherz über geschenktaugliche Bücher zum Fest; ein Zwiegespräch mit Jakob Hein über dessen Buch „Hypochonder leben länger – und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis“ und ein Dialog mit Christoph Biermann zum Band „Wir werden ewig leben“, der die Fußball-Faszination am Beispiel von Union Berlin darstellt. Eine griffige Themenauswahl, fürwahr.

„Goosen und Gäste – Unterhaltung mit Büchern“ (jeweils ca. 40 bis 50 Minuten). Ab Montag, 7. Dezember 2020, aufzurufen bei

www.streamfood.tv

Die beiden ersten Folgen kosten jeweils 2 Euro, weitere dann je 5 Euro. Bezahlt wird direkt auf der Streamfood-Homepage. Dort können auch die jeweiligen Bücher gleich per Button bestellt werden.




Nietzsche und sein „Gast“, Thomas Bernhard und die finale Richtigstellung – Nachtrag zur Dortmunder „Korrektur“-Tagung

Hier noch ein Nachtrag zur Dortmunder Fachtagung übers Korrigieren und seine diversen Weiterungen. Am zweiten Konferenztag ging es u. a. um zwei besonders markante Gestalten der Philosophie- bzw. Literatur-Geschichte: Friedrich Nietzsche und Thomas Bernhard.

Screenshot-Auszug aus der Präsentation von Prof. Justus Fetscher: links ein heftig korrigiertes Typoskript von Thomas Bernhard („Tamsweg“, 1960), das nie in Buchform erschienen ist. (© Suhrkamp / Justus Fetscher)

Haben Sie schon mal den Namen Heinrich Köselitz gehört? Wahrscheinlich eher nicht. In der Fachwelt galt und gilt er vielfach als mediokrer Geist, doch Friedrich Nietzsche setzte einiges Vertrauen in den Mann, dem er diktierte oder Seiten zur Abschrift überließ. Zwar korrigierte Nietzsche dann seinerseits in Köselitz‘ Niederschriften, doch ließ er ihm auch zunehmend recht freie Hand. So veränderte Köselitz hie und da Ausdrücke des Philosophen, dachte sich eigenständig Kapitelüberschriften aus und begriff sich schließlich selbst als eine Art „Editor“ oder Ko-Autor mit der Lizenz zum Mitschreiben.

Stavros Patoussis (Saarbrücken) und Mike Rottmann (Freiburg / Halle-Wittenberg) legten anschaulich dar, welchen Einfluss Köselitz auf die Textgestalt mancher Nietzsche-Werke hatte bzw. gehabt haben könnte. Die Forschung dazu ist noch lückenhaft, es sind noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.

Der Unterschied zwischen Autor und Schriftsteller

Nietzsche selbst schrieb im Zusammenhang mit dem Buch „Menschliches, Allzumenschliches“, er sei zwar der Autor (also Urheber), Köselitz aber sei gleichsam der Schriftsteller, zuständig für manche stilistische Feinheit. Fraglich allerdings, inwieweit man alles für bare Münze nehmen muss, was Nietzsche so von sich gegeben hat – nicht nur in Sachen Korrekturen. Dass ihm die Form ungemein wichtig war, ist indes ausgemacht. Der Stil war nach seiner Auffassung keineswegs sekundär, sondern essenziell fürs gesamte Gedankengebäude. Demnach hätte Köselitz (von Nietzsche übrigens „Peter Gast“ genannt) also auch inhaltliche Prägekraft entfaltet. Ein durchaus spannender Diskussionsansatz.

Bemerkenswert, wie auf solche Weise Nietzsches Bild als Originalgenie auf einsamer Geisteshöhe denn doch etwas zurechtgerückt wird. Er bediente sich eines ganzen Netzwerks von Zu- und Mitarbeitern. Vielleicht bringen uns solche Erkenntnisse den Philosophen sogar wieder etwas näher. Es könnte nicht schaden.

„Herumfuhrwerken“ in den eigenen Texten

Zeitsprung zu Thomas Bernhard, dessen korrigierendes „Herumfuhrwerken“ in eigenen Hervorbringungen geradezu manisch gewesen sein muss. Justus Fetscher (Germanist an der Mannheimer Uni) zeigte dazu einige Bernhardsche Korrekturfahnen im Faksimile. Da offenbart sich ein gehöriges Schriftchaos. Zuweilen strich Bernhard ganze Passagen, bis nur noch ein Halbsatz übrig blieb, der dadurch aber insgeheim mit viel mehr Bedeutung aufgeladen wurde. Es sind Lehrbeispiele zur möglichen Wirkung radikaler Kürzungen, die ja auch einen (häufigen) Sonderfall des Korrigierens darstellen.

Es bedurfte schon eines legendär duldsamen und auch den schwierigsten Autoren in besonderer Weise zugeneigten Verlegers wie Siegfried Unseld (Suhrkamp), um Bernhards Marotten zu ertragen oder sie gar ins Ertragreiche zu wenden.

In letzter Minute fertige Bücher zurückgezogen

Zuweilen konnte Bernhard das Erscheinen seiner Bücher nicht schnell genug gehen, sie sollten dann nur noch flüchtig lektoriert werden, da gab sich der Autor ungeahnt nonchalant. Justus Fetscher sagte, er selbst habe als junger Suhrkamp-Hospitant einen solchen Fall erlebt. Berüchtigt war Bernhard freilich für das umgekehrte Vorgehen: Immer mal wieder zog er Bücher, die schon fertig gesetzt waren, in den Vorschaukatalogen standen und vom ambitionierten Buchhandel sehnlichst erwartet wurden, quasi in letzter Minute zurück. Das kostete im Verlag nicht nur Nerven, sondern auch bares Geld.

Zu solchen Rückziehern dürfte Bernhard auch ein Gefühl des Ungenügens bewogen haben. Seine Korrekturseiten legen ja beredtes Zeugnis ab vom prinzipiell unendlichen Änderungs-Bedarf. Die drangvoll eng beschriebenen Blätter wirken zuweilen wie eine Prüfung auf maximal mögliche Seitenkapazität, die über und über gehämmerten Buchstaben-Anschläge durchlöchern oder zerfetzen an so manchen Stellen das Papier. Fast möchte man von „Anschlägen“ im doppelten Sinne sprechen. Das Schriftbild anderer Seiten ergibt, mitsamt den überschriebenen, gestrichenen und verworfenen Stellen, ein ruhigeres, nahezu graphisch wirkendes Bild, Justus Fetscher fühlte sich an „Frottagen“ erinnert, wie sie etwa Max Ernst geschaffen hat.

Fortwährende Korrektur als Stundung des Todes

Es konnte sich nicht besser zum Tagungsthema fügen: Thomas Bernhard hat einen Roman mit dem Titel „Korrektur“ verfasst. Auch darin geht es um unaufhörliches Korrigieren des Korrigierten – prinzipiell ad infinitum. Fortwährend erstellte, immer neue Versionen erweisen sich dabei als Aufschub und Stundung des Todes. Solange man korrigiert, lebt man. Letztlich aber reicht diese wahnwitzige Praxis – im Leben wie im Roman – eben nicht bis in die Unendlichkeit. Und so besteht die finale „Korrektur“, so eine Bernhardsche Denkfigur, im Selbstmord des Protagonisten Roithamer, der in einigen Wesenszügen dem Philosophen Ludwig Wittgenstein nachempfunden ist.

Die Schlussdiskussion der Tagung habe ich mir nicht mehr ansehen können. Auf jeden Fall hat diese Konferenz ein bislang unterschätztes, im Grunde aber höchst bedeutsames Themenfeld aufgetan. Korrekturen, ob von eigener oder fremder Hand, stehen geradezu im Mittelpunkt nicht nur des kulturelles Tuns und Trachtens.




Als Robert Walser von Christian Morgenstern gerügt wurde – eine digitale Dortmunder Fachtagung zum Thema „Korrigieren“

Dortmund. Das haben wir nicht alle Tage: dass von Dortmund aus eine literatur- und medienwissenschaftliche Diskussion angeregt wird und es dazu eine hochkarätige Tagung gibt – in diesen Zeiten freilich digital und virtuell. Wir reden von einer zweitägigen Fachdebatte zum bisher weithin unterschätzten Thema des Korrigierens in vielen Schattierungen. Das Spektrum reicht von der Lektorierung literarischer Texte bis hin zur oft so vermaledeiten Autokorrektur-Software – und ragt in einige andere Bereiche hinein.

Etwas unscharfer Screenshot von der Videokonferenz-Tagung: Prof. Thomas Ernst beim einleitenden Kurzvortrag, in der Bildleiste darüber weitere Tagungs-Teilnehmer(innen).

Wie noch nahezu jedes Thema, so lässt sich auch dieses im Prinzip unendlich auffächern und in allerlei Feinheiten zergliedern. Was abermals zu beweisen war und sich heute schon zu Beginn der Tagung angedeutet hat. Im Folgenden „schenken“ wir uns sämtliche Professoren- und Doktortitel, praktisch alle Beteiligten tragen den einen oder anderen. Und übrigens: Fast alle zeigten sich den Webcams vor üppig gefüllten Bücherregalen.

Eingeladen hatte das von Iuditha Balint geleitete Fritz-Hüser-Institut (FHI) für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, das in der Nachbarschaft des Dortmunder LWL-Industriemuseums Zeche Zollern residiert. Mitorganisator ist Thomas Ernst (Amsterdam/Antwerpen), weitere Wissenschaftler*innen werden aus Bern, Hamburg, Berlin, Saarbrücken, Mannheim, Leipzig, Essen und Bochum zugeschaltet, die Kommunikation erfolgt via Zoom-Konferenz.

Machtverhältnisse und aufklärerisches Potenzial

Iuditha Balint legte in ihrer kurzen Einleitung dar, dass Korrekturen u. a. auch Ausdruck von Machtverhältnissen sein können (wer darf wen wie weitgehend „verbessern“?) und sozusagen ein Gegenstück zum Konzept von genialer oder auktorialer Autorschaft darstellen. Thomas Ernst führte aus, dass das Korrigieren zudem – schon in der Schule, wenn etwa Klassenarbeiten durchgesehen und bewertet werden – normative Funktionen erfülle. Auch Zensoren übten quasi eine Art „Korrektur“ aus. Am anderen Ende der Skala befördere das Korrigieren allerdings auch Formen kollektiver Zusammenarbeit und könne als Instrument der Aufklärung gelten. Wie wissenschaftliche Erkenntnisse sich überhaupt im Dialog und durch ständige Revisionen (also: Korrekturen) konstituieren, habe sich jüngst auch bei der Diskussion virologischer Themen vielfach erwiesen. Da war er, der aktuelle und buchstäblich virulente Bezug. Hier aber gilt’s den Geisteswissenschaften.

Die „Affenliebe“ zum eigenen Schreiben

Den ebenso anspruchsvollen wie interessanten Eröffnungsvortrag hielt sodann Ines Barner aus Essen. Sie skizzierte eine übergreifende Systematik zum Thema der Tagung und verwies dabei auf zwei konkrete Beispiele aus den Gefilden der literarischen Hochprominenz. So hat kein Geringerer als der Lyriker Christian Morgenstern – einer der frühen Lektoren im deutschsprachigen Literaturbetrieb – zeitweise die Betreuung des Romanautors Robert Walser („Geschwister Tanner“) übernommen. Anfangs höchst angetan vom kurz zuvor neu entdeckten Walser, schrieb Morgenstern ihm vor der Drucklegung einen ziemlich harschen Brief. Walsers „Affenliebe“ zum eigenen Text müsse nun endlich aufhören, er schreibe viel zu „weitschweifig“ und „selbstgefällig“, ja nahezu trivial. Sprach’s und strich kurzerhand ganze oder halbe Seiten aus dem ursprünglichen Text… Just solche „Störstellen“ (Ines Barner) hat Robert Walser hernach aufgegriffen, um sie eigenständig umzuarbeiten.

Peter Handke zwischen den Extremen

Anders gelagert war der Fall bei Peter Handke, dem Elisabeth Borchers als Lektorin des Buchs „Langsame Heimkehr“ zur Seite gestanden hat. Handke wusste nicht recht, wie er das Buch enden lassen sollte und steigerte sich in eine regelrechte Schreibkrise hinein, in deren Verlauf er Elisabeth Borchers freie Hand gab, den Text nach Belieben zu ergänzen, was einer Mitautorschaft gleichkam. Ein durchaus ungewöhnliches Verfahren. Handke hat seine Großzügigkeit denn auch später bereut, sich von Borchers als Lektorin getrennt und fortan umso entschiedener auf Unantastbarkeit seines Schreibens bestanden. Von einem Extrem ins andere…

Schon diese beiden Beispiele des Umgangs mit Korrekturen auf dem Felde der Hochliteratur lassen ahnen, wie spannend und vielfältig die Stoffe der Dortmunder Tagung sind. Es werden noch etliche weitere Aspekte in Betracht kommen, beispielsweise: Korrekturen und Lehrerurteile anhand deutscher Abituraufsätze in den 1950er Jahren (Sabine Reh), Korrekturprozesse bei der Verfertigung von Friedrich Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ (Stavros Patoussis / Mike Rottmann), „Zur Figur des Korrigierens bei Thomas Bernhard“ (Justus Fetscher), „Korrigieren mit der Schere“ (Marie Millutat) oder auch „Sprachliche Normen und Korrekturimpulse in automatisierten Korrekturprozessen“ (Ilka Lemke / Katrin Ortmann).

Schade nur, dass die Teilnehmerzahl auf rund 100 Leute begrenzt ist. So bleibt die Wissenschaft erst einmal unter sich. Doch Verlauf und Resultate der Tagung sollen später noch publiziert werden; zunächst in einigen Wochen als Zusammenschnitt (auf der Instituts-Seite fhi.dortmund.de), im nächsten Jahr dann als Tagungsband.

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P. S.: Auch dieser Beitrag wurde noch einer Korrektur unterzogen. Nur gut, dass er nicht gedruckt vorlag.

 

 




Welthaltige Selbsterkundung: „Die Scham“ von Annie Ernaux

„An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Erschütternder kann ein Buch wohl kaum beginnen.

Es ist der Anfangssatz von Annie Ernaux‘ Selbsterkundung unter dem Titel „Die Scham“. Bereits 1997 erschien „La Honte“ (Originaltitel), dessen übertragene Wortbedeutung zwischen Scham und Schande oszilliert, bei Gallimard in Paris. Jetzt liegt das Buch, das so recht zu keinem Genre passen mag, auf Deutsch vor, offenkundig kongenial übersetzt von Sonja Finck. Dankenswert auch, dass dieses Werk für uns noch nachträglich „entdeckt“ worden ist.

„Die Scham“ umfasst gerade einmal 111 Textseiten – und rekonstruiert doch einen ganzen Weltausschnitt rund um jenen Junitag des Jahres 1952, als die Erzählerin (recht unverhüllt die Autorin selbst) beinahe 12 Jahre alt war und jene furchtbare Urszene mitansehen musste, die sich fortan weder begreifen noch gar tilgen ließ und sich zur allgegenwärtigen Scham verfestigte, zum alles überschattenden Gefühl, nicht mehr zugehörig zu sein. An einer Stelle übersetzt Sonja Finck dies mit einem eventuell erzdeutschen Ausdruck: „… diese Erfahrung der Nichtung …“

Zitat:

„Von jetzt an lebte ich in der Scham.

Das Schlimmste an der Scham ist, dass man glaubt, man wäre die Einzige, die so empfindet.“

Jäh und heillos „ins Unglück stürzen“ („gagner malheur“) – diese Redewendung erfasst den eigentlich unbeschreiblichen Zustand zumindest näherungsweise. Unfassbar schon, dass die dreiköpfige Familie kurz nach dem wahnsinnigen Mordversuch eine Radtour unternommen hat, als wäre nichts geschehen – und dass Eltern und Kind überhaupt nie mehr auf das Ereignis zu sprechen gekommen sind. Eine schreckliche Redehemmung, über Jahrzehnte hinweg.

In einem geradezu heroischen Schreib-Unterfangen sucht Annie Ernaux, gleichsam eine Ethnologin ihrer selbst, sich alle wesentlichen Dinge zu vergegenwärtigen, die sie in jener Zeit geprägt haben. Daraus entsteht nach und nach nicht weniger als die (freilich fragmentierte) Welt eines französischen Provinzörtchens zwischen Rouen und Le Havre, also in der Normandie. Immer mehr kleine, doch bedeutsame Details lagern sich an, Introspektion und Welthaltigkeit sind hier keine Widersprüche. Trotz aller Bemühungen stellt sich zwischendurch Resignation ein: „Es gibt keine wirkliche Erinnerung an sich selbst.“ Und dennoch: Es muss versucht werden.

Die Selbstvergewisserung beginnt mit der Betrachtung zweier Porträt-Fotografien von 1952. Bin ich das? Bin ich dieselbe? Es folgen eingehende Recherchen in Lokalzeitungen des betreffenden Jahrgangs. Daraus erwachsen Splitter eines Zeitbildes, das nun weiter und weiter ausgeführt wird. Besonders die einander überlagernden und verstärkenden Zwangswelten der Familie, der unmittelbaren Nachbarschaft mit ihren schier unendlich vielen Verhaltensregeln und noch weitaus mehr die katholische Privatschul-Erziehung, vorwiegend durch Nonnen, verdichten sich zu allumfassenden Begrenzungen und Beschränkungen – bis in einzelne Worte und Gesten hinein. So kompliziert können die sogenannten „einfachen Verhältnisse“ sein, zumal dann, wenn sie mit Aufstiegssehnsüchten einhergehen.

Merkmale sind engstirnige Provinzialität und immerwährende Furchtsamkeit, überwölbt von schärfstens definierten Klassen- und Schichtenzuweisungen, die mitunter einen Straßenzug vom nächsten abgrenzen. Hier wissen alle, wohin sie gehören und was sich gehört – und wehe, wenn nicht. Umso absurder der Ausbruch, die mörderische Szene zwischen Vater und Mutter, die das Buch aus verschiedenen Distanzen umkreist. Als Lesender bekommt man es geradezu mit der Angst zu tun, mit den Augen der Leidenden die unverstellte Wahrheit nochmals von Nahem ansehen zu müssen – und sei es „nur“ in der nunmehr mit Wissen angereicherten Beschreibung. Doch was ist überhaupt Wahrheit in all dieser Wirrnis?

Aller Lakonie, allen ernüchterten Feststellungen zum Trotz ist dies ein mitreißendes Buch, in dem man keine Zeile auslassen sollte, so überaus genau ist es durchgearbeitet. Nein, es ist keinesfalls einfach, so einfach zu schreiben. Im Gegenteil. Was immer hier flüchtig oder unvollendet wirken mag, ist exakt auf diese Weise angemessen. Denn wer wollte in geläufigen Formulierungen über derlei rohe Tatsachen oder über deren Verbrämung sprechen? Wer wollte dieser bestürzenden Realität mit fertigen Erkenntnissen der Psychologie oder der Alltagsweisheit beikommen?

Annie Ernaux: „Die Scham“. Bibliothek Suhrkamp. 111 Seiten, 18 Euro.

Weitere Bücher von Annie Ernaux: „Die Jahre“, „Der Platz“, „Eine Frau“ – alle im Suhrkamp-Verlag.




Vor dem Lockdown: Noch einmal Max Goldt gelauscht…

Lesung vor arg reduziertem Publikum: Max Goldt auf der Bühne der Schwerter Rohrmeisterei. (Foto: Bernd Berke)

Ich geb’s freimütig zu: Heute Abend habe ich zu jenen gehört, die die vorerst allerletzte Chance auf live dargebotenen kulturellen Genuss genutzt haben – anlässlich einer Lesung des grandiosen Max Goldt in der „Rohrmeisterei“ zu Schwerte.

Wer diesen Veranstaltungsort kennt, mitsamt dem früher so kommunikativen Vorab- und Pausen-Gewimmel im Foyer, und wer nun diese Stätte unter Corona-Bedingungen erleben musste, konnte in Trübsinn verfallen. Ich habe nicht nachgezählt, aber es mochten ungefähr 60 Publikumsplätze gewesen sein, die hätten besetzt werden können. Wirklich erschienen waren vielleicht 30 Zuschauerinnen und Zuschauer. Und jetzt ist erst einmal ganz Schluss – mindestens bis Ende November. All diese Umstände haben Max Goldt gewiss nicht beflügelt, er hat sich aber auch nicht verdrießen lassen.

Seine Texte mussten sich also gleichsam gegen eine triste Grundierung behaupten. Sie sind auch dazu allemal geeignet, ja streckenweise scheinen sie noch einmal anders aufzuleuchten als ohnehin schon. Herrlich seine ebenso leichthändigen wie (tief)sinnigen Überlegungen zu Grundfragen wie Glück und Humor (der ihm zufolge gar nicht mit Lachen einhergehen muss – und erst recht nicht mit dem Erzählen vorgestanzter Witze). Die Schilderung eines geradezu ekelhaft „glücklich“ sich nennenden Menschen und seiner rundum ach so idealen Lebensverhältnisse erweist sich als komischer Stoff ersten Ranges; ganz zu schweigen von irrwitzigen Auszügen aus Hotel-Beurteilungen in einschlägigen Internet-Portalen oder der imaginierten Museumsführung für drei verwöhnte und ziemlich abgebrühte Mittelschichts-Kinder, denen das Gemälde „Die Büchse der Pandora“ erklärt werden soll.

Genug der stichwortartigen Aufzählung. Goldt ist und bleibt jedenfalls ein Mann von Stil und Weisheit, einer, der stets haargenau den passenden Ton trifft – ob nun im Allzumenschlichen oder im Absurden. In der deutschen Literatur (und dahin gehört er vor allem, nicht etwa in eine separate Comedy-Abteilung) ist seine Stimme einzigartig. Oder wie es sein Schriftsteller-Kollege Daniel Kehlmann ausgedrückt hat: Goldts Texte gehörten „zum am feinsten Gearbeiteten (…), was unsere Literatur zu bieten hat.“




Nobelpreisträger und St.-Pauli-Fan: Im Leben des Schriftstellers Günter Grass spielte der Fußball eine nicht eben geringe Rolle

Günter Grass im historischen Zeitungsartikel, Fußballmuseumsdirektor Manuel Neukirchner (rechts), Jörg-Philipp Thomsa vom Lübecker Grass-Haus (links). (Foto: Deutsches Fußballmuseum)

Von Günter Grass weiß Jörg-Philipp Thomsa zu berichten, dass er leidenschaftlich gerne Sportschau guckte. „Da durfte man ihn nicht stören.“ 2006 lernte der Leiter des Lübecker Günter-Grass-Hauses den Nobelpreisträger persönlich kennen und erinnert sich, dass dieser ihn damals zügig in ein Gespräch über Fußball verwickelte.

Bestimmt, glaubt Thomsa, hätte Grass sich sehr über das Gemeinschaftsprojekt von Grass-Haus und Dortmunder Fußballmuseum gefreut, das nun unter dem Titel „Günter Grass: Mein Fußball-Jahrhundert“ Gestalt angenommen hat. Grass, der Fußball-Fan: nicht eben das erste, was einem zum Schöpfer der „Blechtrommel“ einfällt.

„Mein Jahrhundert“

Nun – auch wenn der Titel anderes suggeriert: Ein Buch mit dem Titel „Mein Fußball-Jahrhundert“ hat Grass (1927-2015) nie geschrieben. Doch in dem mächtigen Bild-Text-Band „Mein Jahrhundert“, der 1999 bei Steidl herauskam und jedem Jahr des 20. Jahrhunderts mit einem Text und einer Illustration eine subjektiv-persönliche Würdigung zukommen lässt, finden sich auch etliche Fußballgeschichten, auf die die Dortmunder Ausstellung ausführlich hinweist. 1903 zum Beispiel fand die erste deutsche Meisterschaft in Altona statt, bei der die Leipziger gegen Prag (!) obsiegten. Grass erzählt das recht realistisch aus der Perspektive eines Mitspielers, lässt damals schon ausgesprochen schicke Anglizismen wie „Goal“, „Halftime“ „Score“ einfließen und wagt einen rückblickenden Ausblick auf die starken polnischen Einflüsse im deutschen Fußball, auf die Szepans und Kuzorras der Folgejahre.

Sonderschau, achteckig (Foto: Deutsches Fußballmuseum)

Fritz Walter blieb bescheiden

Ein Fußballjahr ist für Günter Grass natürlich 1954. Mit einem gewissen Augenzwinkern, wie wir vermuten wollen, lässt er es vom „Chef einer Consulting-Firma, die in Luxemburg ihren Sitz hat“, nacherzählen. Neben dem getreulich widergegebenen Geschehen auf dem Rasen widmet sich der (erfundene) Autor der schmerzvollen Erinnerung an seine fruchtlosen Versuche, den Erfolg in klingende Münze zu verwandeln. Ungarns Spielführer Ferenc Puskás setzte sich zwar in den Westen ab und wurde mit der Produktion ungarischer Salamis reich, Fritz Walter aber verschmähte – behauptet jedenfalls die Geschichte – den Halbkoffer mit der Viertelmillion, die ihm Atlético Madrid damals schon, in den Fünfzigern, bot – und eröffnete lieber ein Kino mit Lotto-Toto-Annahmestelle. Schade, schade – aber die Kommerzialisierung des Fußballs hat er nicht verhindern können.

Günter Guillaume jubelt in der Zelle

Noch ’ne Fußballgeschichte? Die spielt 1974 und ist relativ kompliziert. Ihr ungenannt bleibender Held ist der Ostagent Günter Guillaume, der zu dieser Zeit schon einsitzt, dem die Gedanken über seine bizarre Ost-West-Existenz nicht aus dem Kopf gehen und der nun zu allem Überfluss auch noch ein WM-Endspiel zu sehen bekommt, bei dem Deutschland gegen Deutschland spielt. Das ist ein echtes Orientierungsproblem, weil er immer wieder mit Deutschland jubelt, das zu dieser Zeit aber noch aus zweien besteht.

Frauenfußball fand Grass gut

Wandbeschriftungen, Tagebuchauszüge, Bücher, Vitrinenmaterial – Zitate und Literaturhinweise unterschiedlicher Art machen einen nicht geringen Teil der Ausstellung aus, was bei einem Schriftsteller naheliegt. An Videostationen erinnern sich Fußballgrößen an ihre Begegnungen mit Günter Grass. Die relativ wenigen Originalexponate – eine Originaleintrittskarte der ersten Deutschen Meisterschaft, ein Trikot, die Nobelpreisurkunde und so fort – mögen beeindrucken, begeistern aber nicht zwingend. Doch die Gliederung ist gelungen, ermöglicht eine sinnvolle Annäherung an den Künstler und Fußballfreund.

Vier Bereiche befassen sich schwerpunktmäßig mit Frauenfußball, mit Grass als aktivem Spieler, mit der Wiedervereinigung sowie mit der literarischen Produktion. Kopfschüttelnd erfährt man etwa, dass Frauenfußball, den Grass sehr befürwortete, bis 1970 beim DFB rundweg verboten war; die Episode von Wewelsfleths linkem (Gast-) Stürmer Grass, die der stark vergrößerte Artikel einer Lokalzeitung samt Mannschaftsfoto stimmungsvoll aufleben lässt, erzählt auch von jenem eher unsportlichen jungen Mann, der als Kind nicht Fahrrad fahren konnte und der das Fußballspielen als körperliche Befreiung erlebte. Die Wiedervereinigung, gegen die Grass sich 1989/1990 stemmte, bedeutete auch das vorläufige Ende des Spitzenfußballs im Osten, weil die guten Leute vom Westen weggekauft wurden. Man kann darin durchaus jene Kolonialisierung des Ostens erkennen, vor der Grass früh gewarnt hatte.

Das Fußballmuseum in Dortmund (Foto: Deutsches Fußballmuseum, Hannappel)

„Sommermärchen“

Doch über das „Sommermärchen“ 2006 hat er sich gefreut, über einen neuen, anscheinend unbelastet daherkommenden Nationalstolz. Ganz besonders gut übrigens, weiß Thomsa zu berichten, habe ihm ein türkischer Jubelautokonvoi zum Sieg gefallen. Das mag auch daran gelegen haben, dass Grass (auch) kaschubische Vorfahren hatte und deshalb einen Sensus für die Mühen der Integration. Die identitätsstiftende Kraft des Fußballs hebt Dortmunds Fußballmuseumsdirektor Manuel Neukirchner noch einmal ausdrücklich hervor. Mit der fußballerischen Deutschlandbegeisterung habe man den Rechten das (nationalistische) Wasser abgegraben, 2006 und später. Es scheint, dass Grass es ähnlich sah.

Ein Herz für die Kleinen

Die literarische Ecke schließlich versammelt kurze und lange Zitate, Tagebuchauszüge, Pointiertes: „Ungehemmt, als stünde ich in der Nord- oder Südkurve und säße nicht daheim vor der Glotze, ergießt sich nur Hohn, wenn selbst den Bayern ihr Geld nicht hilft und zwar nach Flanke von links, die mit Glück jenen Habenichtsen gelingt, denen schon wieder der Abstieg droht“, hat er notiert. Ja, das Herz des Dichters schlug für die Kleinen, Benachteiligten, wie St. Pauli Hamburg zum Beispiel, für die Grass sich auch in einer Rede einsetzte.

Die Ausstellung – in den Worten von Museumschef Neukirchner ein „gelungener Doppelpass“ der beiden beteiligten Häuser – passt fraglos gut in ein Fußballmuseum. Daneben ist sie auch ein willkommener Anlass, über den Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger zu reden, um den es in letzter Zeit bedauerlich still geworden ist.

  • Bis 19. Januar 2021
  • Deutsches Fußballmuseum, Dortmund, Platz der deutschen Einheit 1 (dem Hauptbahnhof gegenüber)
  • Di-Fr 11-17 Uhr, Sa u. So 10-17 Uhr
  • Eintritt für das ganze Haus 15 EUR
  • www.fussballmuseum.de



Mit Marionetten aus der Finsternis heraus: „Herzfaden“ – Thomas Hettches Roman über die Augsburger Puppenkiste

Auf diese Idee musste mal einer kommen: einen Roman rund um die legendäre „Augsburger Puppenkiste“ zu schreiben, innig verwoben mit den Zeitläuften in Weltkriegs- und Nachkriegszeit – und mit Ausläufern ins Heutige. Thomas Hettche ist derjenige, welcher. „Herzfaden“ heißt sein Buch. Der (auf Seite 64 erläuterte) Titel bezieht sich auf jenen unsichtbaren Faden, mit dem die Marionetten „am Herzen der Zuschauer festgemacht“ seien. Eben dies und ihre (im Gegensatz zu Schauspielern aus Fleisch und Blut) völlige Uneitelkeit machten ihre besondere Grazie aus.

So jedenfalls stellt es sich – im fernen Gefolge eines Heinrich von Kleist („Über das Marionettentheater“) – der Puppenkisten-Begründer Walter Oehmichen vor, mit dessen Fernseh-Aufführungen Generationen von bundesrepublikanischen Kindern aufgewachsen sind. Die äußerlich windungsreiche, aber letztlich auch gradlinige Handlung, die etwa mit Beginn des Zweiten Weltkriegs einsetzt und bis weit in die 1950er Jahre reicht, wird jedoch nicht aus seiner Perspektive erzählt, sondern aus der seiner 1931 geborenen Tochter Hannelore, genannt Hatü. Damit kommt im Wesentlichen eine Erzählhaltung aus kindlicher und sodann jugendlicher Unschuld, kommt auch unverdorbene Empathie ins Spiel, die mit Verwunderung und Irritation die Geschehnisse registriert – vom NS-Biolehrer mit seinen rassistischen Auslassungen bis zum „Verschwinden“ der jüdischen Einwohner, darunter auch eine Mitschülerin und deren Eltern.

Niemand entgeht der Verstrickung

Ganz ohne Verstrickung kann freilich auch Hatü nicht bleiben. Hettche verdichtet diesen Befund anhand eines Kasperle-Kopfes, den zunächst die immer leidenschaftlicher zu Werke gehende Hatü geschnitzt hat – freilich unbewusst nach dem Muster jener grauenhaften „Stürmer“-Zerrbilder von „nichtarischen“ Menschen. Vater Walter „korrigiert“ die Kasper-Fratze, weil Hatü vor ihrem eigenen Marionettengeschöpf Angst hat. Auf diese Weise wird ein ach so lustiger Heil- und Trostbringer im Ungeist der Truppenunterhaltung daraus. Auch noch nicht das Wahre. Doch es wird klar: Niemand kann sich aus seiner Zeit gänzlich heraushalten. Selbst der Kasper ist politisch. Harmlosigkeit geht nicht mehr.

Das changierende Bild des Kaspers, das auch in einer teilweise geisterhaften Gegenwarts-Handlung aufgegriffen wird, erweist sich als sinnhafte Verkörperung des allgemeinen Zwiespalts, ja der Verderbnis. Gegenwarts-Handlung? Jawohl. Ein Mädchen von heute, Scheidungskind mit allfälligem iPhone, verirrt sich auf einem labyrinthischen Dachboden mit den Augsburger Marionetten und trägt – wie einst Hatü, die ihr nun aus dem Jenseits hilft – Konflikte des Erwachsenwerdens aus, allerdings eher auf symbolischer Ebene und nicht auf lebensgefährlichem Terrain. Die entsprechenden Passagen sind rot gedruckt, während die (weit überwiegenden) Vergangenheits-Texte bläulich schimmern. Hat man den Lesenden nicht zugetraut, die Trennlinien selbst zu ziehen? Egal. Auch im „roten Bereich“ entwickeln die Marionetten (allen voran das Urmeli, Kalle Wirsch und Jim Knopf, aber z. B. auch der klapprige Tod, Kater Mikesch und der Kalifen-Storch) jedenfalls ein Eigenleben, von dem allzu erwachsene Menschen nichts ahnen.

Verfilmung ist bestens vorstellbar

Thomas Hettche hat zahlreiche Alltagsdetails aus den Jahrzehnten der Puppenkisten-Geschichte recherchiert. Teilweise trägt er das jeweilige Zeitkolorit ziemlich pastos auf. Damit wir nur ja glauben, dass wir jetzt in den Fünfzigern angelangt sind, müssen Stichworte wie Caprihosen, Pepitamuster und Jeans wie Trümpfe gezogen werden. Zuweilen wirken die Zeitenwechsel somit etwas konstruiert, stellenweise beinahe schon (um im Metier des Marionettentheaters zu bleiben) nach Art einer Kulissenschieberei. Bloße Signale stehen dann für die eigentliche Signatur jener Zeiten. Zum Glück erschöpft sich der Roman darin beileibe nicht.

Aufs Ganze gesehen, gelingt es dem Autor ja, die fragilen (und doch haltbaren) Träume vom Theater in entbehrungsreichen Zeiten so fasslich und anschaulich zu erzählen, dass man sich auch eine baldige Verfilmung bestens vorstellen kann. Vielleicht ist eine solche schon geplant. Bei entsprechender Begleitung dürften das Buch und ein etwaiger Film auch für Kinder ab etwa 11 oder 12 Jahren geeignet sein. Phasenweise erinnern manche Szenerien an die beachtliche Kinoversion von Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Kerr war jedoch zutiefst und schmerzlich in der erzählten Zeit verwurzelt, während Hettche (Jahrgang 1964) sich eben einiges zusammenreimen muss. Gewiss kein Vorwurf, sondern Feststellung. Jemand ohne Hettches schriftstellerische Erfahrung wäre an einem solchen Unterfangen wohl gescheitert.

In den frühen Fernsehtagen

So entfaltet sich die facettenreiche Geschichte denn doch zum vielfach aufschlussreichen Zeitbild. Nur ein paar Stichpunkte: Da ist der Vater Walter Oehmichen, von Hatü und ihrer Schwester Ulla arg vermisst, als er zum Kriegsdienst eingezogen worden ist und hernach (welch‘ eine Form der „Bewältigung“) für die Idee einer künftige Märchenbühne entbrennt. Nach und nach, in wechselnden Besetzungen, wird der mit heißen Herzen verfolgte Traum – mit allerlei Rückschlägen – Wirklichkeit, bis im Januar 1953 gar die erste NWDR-Fernsehübertragung der Puppenkiste („Peter und der Wolf“) ansteht, anfangs noch pausenlos live durchgespielt, später dann stückweise aufgezeichnet.

Just in jenen wirren Nachkriegsjahren übernimmt die nebenher in erste Liebesdinge eingesponnene Hatü zusehends die Geschicke der Puppenkiste und es beginnt das Ringen um neue, zeitgemäße Stoffe jenseits der Märchen. Dafür steht St. Exupérys „Kleiner Prinz“, dafür steht schließlich – gegen Ende des Romans – die Begegnung mit Michael Ende, der sich die wunderbare Geschichte von Jim Knopf ausgedacht hat, deren Umsetzung zum wohl allergrößten Erfolg der Augsburger Puppenkiste wurde.

Im Sinne eines stets wachen Bewusstseins, welchen finsteren Zeiten man entronnen ist und was der Finsternis allzeit entgegenzustellen wäre, gehen die blaue und die rote Geschichte glimpflich oder gar „gut“ aus. Und so darf auch das Mädchen von heute (das mit dem iPhone) am Schluss erleichtert aus der Dunkelheit ins Freie treten und ihr Leben recht eigentlich beginnen. Im Dachboden-Land der Marionetten, das wundersam Vergangenheit und Gegenwart umschließt, hat sich für sie so manches geklärt.

Thomas Hettche: „Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste“. Kiepenheuer & Witsch. 288 Seiten, 24 Euro.

 

 




Reichlich „Punk“ im Jammertal: Ralf Rothmanns Erzählband „Hotel der Schlaflosen“

„Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrgebiet…“ Solche Klappentext-Auszüge aus der Vita lassen lesende Revierbürger seit langer Zeit aufhorchen, denn allzu viele literarische Eigengewächse von Rang und Namen haben wir hier ja leider nicht. Und so kommt man von Zeit zu Zeit gern auf den Autor von „Milch und Kohle“ (sowie etlicher anderer Romane) zurück, der doch schon seit 1976 in Berlin lebt.

Jetzt hat Rothmann einen Band mit Erzählungen vorgelegt. In „Hotel der Schlaflosen“ zeigt er, welche staunenswerte Bandbreite sein Schaffen schon in der kleineren Form umfasst. Allein die Vielfalt der Schauplätze und des Personals verlangt wendige gestalterische Potenz von höheren Graden.

Jede Erzählung führt uns in eine andere und schließlich doch immer wieder in dieselbe Welt, denn da muss es doch wohl tiefere innere Zusammenhänge geben. Die aber haben die Lesenden zu erkunden, der Schreibende wird sie klugerweise nicht vorgeben. Eins aber wird vielfach klar: Um eine Formulierung Rothmanns aufzugreifen, mutet das Leben den Menschen oft reichlich viel „Punk“ zu. Früher hätte man wahrscheinlich vom „Jammertal“ auf Erden gesprochen.

Monolog eines stalinistischen Exekutors

Da folgen wir also einer Geigerin auf ihren letzten Wegen nach einer niederschmetternden ärztlichen Diagnose. Da ertragen wir – in der titelgebenden Geschichte „Hotel der Schlaflosen“ – den furchtbar abgründigen Monolog eines Mannes, der in einem stalinistischen Tötungs-Kommando massenhaft Exekutionen ausführt. Da erfahren wir von der grausam verpfuschten Jugend einer Frau, die ihres Lebens nimmer froh werden wird. Resignierender Titel dieser Erzählung: „Auch das geht vorbei“. Die spätere Story „Alle Julias!“ kontrastiert das seitherige Leben zweier ehemaliger WG-Genossinnen und oszilliert zwischen Geplapper, dürrer Hoffnung und stummer Verzweiflung.

Zwischendurch hat „Der dicke Schmidt“ seine zunächst rabiaten, dann aber anrührenden Auftritte. Für seine behinderte Tochter kämpft sich dieser Mann als Oberpolier beim Bau ruppig durchs Leben. Folgt eine ganz anders geartete Episode, eine bizarre Persiflage auf Berlin zur Zeit der Mauer – leichthändig durchgespielt anhand eines Filmprojekts und seiner Komparsen. Welch eine Farce, die die zeitgeschichtlichen Umstände verzerrspiegelt!

…und noch so ein gescheitertes Frauenleben 

Tragisch endet hingegen die auch pferdefachsprachlich ausgefeilte Erzählung über „Admiral Frost“, einen Deckhengst, der – per „Natursprung“ (und nicht via Samenspritze) – eine Stute begatten soll, was als durchaus animalischer, gewaltsamer Akt geschildert wird. Auch hier schimmert letztlich wieder ein kläglich gescheitertes Frauenleben hindurch – und es stellt sich mit ziemlicher Härte die Klassenfrage; wie denn überhaupt in diesem Band gar deutlich wird, wie durchlässig die gesellschaftlichen Schichten (geworden) sind – zumeist nach unten hin und zuweilen ins Bodenlose.

Weit, weit hinaus führt „Die Nacht in der Wüste“. Ein ergrauter deutscher Biochemie-Dozent, tätig in La Paz (Bolivien), nimmt eine junge deutsche Tramperin auf abenteuerlichen Wegen durch Mexiko mit. Das Land, so zeigt sich in drastischen Szenen, ist noch ungleich gewaltsamer als zu jener Zeit, als der Tochter des Biochemikers etwas widerfahren ist, was nicht konkret benannt wird. Aber man kann es sich denken. Die Tramperin freilich scheint trotzig entschlossen, ihren Weg allein fortzusetzen. Wenn das denn eine Hoffnung sein soll, so wagt sie sich nur scheu hervor und hat sich geschickt camoufliert.

Ein versoffener Bestatter in Ruhrgebiet

Schließlich, in der vorletzten Geschichte, eine „Rückkehr“ ins Ruhrgebiet. Hier geht es um den versoffenen Bestatter Egon, der seinen Vater sehr früh durch ein Zechenunglück verloren hat und nun – mit über 70 Jahren – aufbricht, um bei einer erneuten Grubenkatastrophe in Bottrop seine Dienste anzubieten… Auch dies eine herzzerreißende Handlung, durch keinerlei Moral oder gar segensreichen Trost gemildert.

Warum wir fast alle Geschichten kurz erwähnt haben? Weil man beim Lesen jede neue gleichsam als Bereicherung und Erweiterung der vorherigen begrüßt – und sei sie noch so schmerzlich. Weil man am Ende eigentlich keine einzige missen möchte. Weil Ralf Rothmann allerlei erzählerische und sprachliche Klippen gekonnt umschifft, wobei er aus wechselnden Lebenslagen keine „Lehren“, wohl aber Essenzen gewinnt.

Am Ende haben ja vielleicht sogar die Pelikane, die Rothmann in mehreren Geschichten erwähnt, etwas Besonderes zu bedeuten. Oder kommen sie etwa nur zufällig vor? Da haben wir es, das Pelikan-Problem.

Ralf Rothmann: „Hotel der Schlaflosen“. Erzählungen. Suhrkamp-Verlag. 206 Seiten, 22 Euro.




Hotzenplotz und all die anderen – Oberhausen zeigt den kongenial illustrierten Figurenkosmos des Otfried Preußler

Illustration von F. J. Tripp, Mathias Weber (Kolorierung) aus Otfried Preußler „Der Räuber Hotzenplotz“ (© by Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart)

F. J. Tripp, Winnie Gebhardt, Herbert Holzing, Daniel Napp, Thorsten Saleina, Annette Swoboda. Schon mal gehört? Wahrscheinlich nicht, oder?

Dabei hätten vor allem die ersten beiden eine gewisse Prominenz verdient. Es sind samt und sonders Illustrator(inn)en von Büchern des unvergessenen Otfried Preußler (1923-2013). Der hat sich bekanntlich Figuren wie den „Räuber Hotzenplotz“, „Die kleine Hexe“, „Das kleine Gespenst“ oder „Krabat“ ausgedacht. Und etliche andere.

So markant Preußlers Personal schon rein literarisch sein mag, so erlangt es doch durch die kongenialen zeichnerischen Vergegenwärtigungen erst recht nachhaltige Unverwechselbarkeit. Das war dem Autor sicherlich auch bewusst. Die fruchtbringende Wechselwirkung der Künste greift jetzt eine umfangreiche Bilderschau in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen auf, wo man sich seit vielen Jahren der beachtlichen Qualität im Populären verschrieben hat. Über 300 originale Zeichnungen sind zu sehen, hinzu kommen einschlägige Filmrequisiten, Bücher und Fotos. Dabei gerät der ganze, durchaus vielfältige Kosmos der Preußler-Geschichten in den Blick, da tummeln sich auch Gestalten wie die dumme Augustine, der starke Wanja, Tella oder die Schildbürger („Bei uns in Schilda“).

Illustration von Winnie Gebhardt aus Otfried Preußler „Die kleine Hexe“, 1957 (© by Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart)

Preußler zählt längst zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur, seine 35 Bücher wurden in über 50 Sprachen übertragen und haben eine Gesamtauflage von mehr als 50 Millionen Exemplaren erreicht. Weit über solche dürren Zahlen hinaus, haben seine besten Geschichten einen festen Platz im kollektiven oder zumindest weit verbreiteten Bewusstsein – wie sonst nicht allzu viele Werke und Protagonisten; allen voran gewiss der erstmals 1962 in Buchform erschienene „Räuber Hotzenplotz“, der 2006 von Gernot Roll mit hochkarätiger Besetzung verfilmt wurde (Armin Rohde in der Titelrolle, dazu u. a. Piet Klocke, Rufus Beck und Katharina Thalbach).

Illustration von Herbert Holzing aus Otfried Preußler „Die Abenteuer des starken Wanja“, 1968 (© by Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart)

Die Zeichnungen des eingangs erwähnten, 1915 in Essen geborenen F. J. Tripp zum „Hotzenplotz“-Buch haben auch die Verfilmung – und zahllose Theater-Inszenierungen – inspiriert, insofern kann der Einfluss kaum überschätzt werden. Dieser Wirkung steht Winnie Gebhardt kaum nach, die das Erscheinungsbild der (gleichfalls ambitioniert verfilmten) „Kleinen Hexe“ und des kleinen Wassermanns ein für allemal vorgeprägt hat. Über 50 ihrer Tuschzeichnungen zeugen in Oberhausen davon. Und ich muss sagen: Ihre filigrane und herzerwärmende Kunst hat es mir noch mehr angetan als die von Tripp, die zuweilen etwas klobig wirkt, aber damit just einen klotzigen Charakter wie Hotzenplotz ideal verkörpert. Es war wohl  genau richtig, dass sie die Hexe und er den Räuber übernommen hat.

Apropos: Unsere Tochter (11), langjährige Preußler-Kennerin seit Vorlese-Zeiten, hält vehement dafür, dass F. J. Tripp partout keine Füße malen konnte. Wenn man es recht bedenkt und besieht: stimmt! Als bewusst eingesetztes Stilmittel oder als Stilisierung lässt sich das Defizit jedenfalls schwerlich kaschieren. Aufs Ganze gesehen, sind Tripps Schöpfungen freilich mancher Ehren wert.

Beim abwechslungsreichen Rundgang, den ich hier lediglich anhand des Katalogs nachvollziehe, stößt man u. a. auch auf Zeichnungen, die Otfried Preußler selbst geschaffen hat (zu „Hörbe mit dem großen Hut“). Interessant zudem die Möglichkeit, verschiedene zeichnerische Auffassungen derselben Gestalten zu vergleichen. Von Zeit zu Zeit, so scheint es, muss eben auch das prägnanteste Figuren-Inventar behutsam neu interpretiert werden. Nichts hat ewigen Bestand.

Otfried Preußler – Figurenschöpfer und Geschichtenerzähler. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Bis zum 10. Januar 2021. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro, Familie 12 Euro. Katalog 29,80 Euro. www.ludwiggalerie.de

 




Die Schöpfung und ihr Scheitern: Neue Rettungsreime von Fritz Eckenga

„Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen“, heißt eines der wenigen Gedichte, die es bislang über Gelsenkirchen gab. Die 2015 verstorbene Schriftstellerin Ilse Kigbis beschreibt darin in vielen Strophen nicht die Schönheit der Stadt, sondern ihr Fehlen: „Die Berge meiner Stadt / sind Rolltreppen / die zu käuflichen Paradiesen führen“.

Nun gibt es 12 weitere denkwürdige Gedichtzeilen über Gelsenkirchen. Kein Sonett also – aber dieses neue Gedicht trägt immerhin den Titel „Aufschwung“. Inhaltlich schlägt es allerdings in exakt die gleiche Kerbe wie Kigbis‘ Werk: „Neben Spieltreff eins und zwei / eröffnet bald der dritte. /  Leute,  zieht so schnell es geht / nach Gelsenkirchen-Mitte.“

Der da so despektierlich über die Nachbarstadt reimt, ist natürlich Fritz Eckenga. In seinem jüngsten Band schenkt der Dortmunder seiner Leserschaft neue „Rettungsreime“ – fein-(selbst)ironische bis übelst zynische, mitunter aber auch einfach nur lustig-wortverspielte Gedichte, die er häufig aus Notwehr gegen die Zumutungen des Alltags und der Mitmenschen schrieb und mit denen er sich schreibend schadlos hält, aber auch Gedichte, die seine Leserinnen und Leser retten können, zum Beispiel vor schlechter Laune, Langeweile oder allzu großer Selbstzufriedenheit. Der Titel: „Eva, Adam, Frau und Mann – da muss Gott wohl  noch mal ran“.

Fritz Eckenga

Fritz Eckenga (Foto: © Philipp Wente)

Von Bönen bis Ostwestfalen

Fritz Eckenga ist bekannt für die unkonventionelle Wahl seiner Sujets – die Entwicklung der Gelsenkirchener Innenstadt ist ein durchaus typisches Beispiel. Eckenga bedichtet durchaus auch die Liebe, die Natur und die Jahreszeiten – doch am allerliebsten kränkelnde politische Parteien, die Verletzungen von Spitzensportlern oder eben strukturschwache Städte. Neben Gelsenkirchen werden weitere bislang unbedichtete Orte lyrisch geadelt: Bönen, Iserlohn, Oberhausen, Krefeld, Soest und Ostwestfalen. Die Stationen der nächsten Lesereise stehen also fest…

„Reim gar nichts“

Vor allem das Scheitern treibt Eckenga so richtig zur Höchstform, und da nimmt er das eigene nicht aus. „Reim gar nichts. Eine Selbstkritik“, ist der Titel des allerersten Gedichts im neuen Band, das als eine Art Vorwort oder Motto dient. „Woran es dem Werk dieses Autors gebricht, / ist ganz ohne Frage das Großgedicht“, beginnt es, geißelt im Verlauf die Seichtheit und das Fehlen großer Themen im vorliegenden Werk und schließt dann Eckenga-typisch: „Fasse zusammen: Viel Wasser, kein Wein /  und immer mal wieder ein unreimer Rein.“

Gescheitert ist Fritz Eckenga mit seinem neuen Gedichtband nun wahrlich nicht. Beflügelt von Robert Gernhardt, begeistert von F.W. Bernstein, befreundet mit Wiglaf Droste: Fritz Eckenga dichtet längst in der gleichen Liga wie seine Vorbilder. Die genannten drei sind tot, Eckenga lebt – und rettet sich und uns hoffentlich noch recht lange mit seinen gereimten Gedanken. Die Trauer über den Tod seines Freundes Droste hat er ebenfalls in 16 Zeilen gepackt, „Und sowieso das bessere Gedicht“, heißt es. Ein Glück, wenn man, um Worte ringend, seine Traurigkeit wenn auch nicht verarbeiten, dann doch mit ihr arbeiten kann.

Auch schon ein Kapitel zur Corona-Pandemie

Vor allem aber arbeitet er als Satiriker fast tagesaktuell, und so erhalten auch die einsamen, teils freud- und gar teils klopapierlosen Tage der Corona-Pandemie ein eigenes Kapitel im Gedichtband; thematisiert wird u.a. das Sangesverbot im Gottesdienst: „Nimm es bitte nicht so krumm, / die Gemeinde bleibt heut stumm. / Großer Gott, sie loben Dich, / aber mehr so innerlich.“

Die kongenialen Illustrationen im Band stammen von dem Kölner Illustratoren Nikolaus Heidelbach, dem Eckenga am Ende ebenfalls ein Gedicht widmet. Auf dem Cover hat sich Heidelbach vom Titel zu einem Paar menschlicher Unvollkommenheiten inspirieren lassen, das sich wie ertappt zum Betrachter umblickt: Eva mit verschmiertem Lidschatten, platt auf dem Hinterkopf anliegender Frisur und Sonnenbrand neben ihrem Adam, dessen Haare auf dem Kopf großflächig fehlen, sich dafür aber an unerwünschten anderen Körperstellen ausbreiten. Die Krone der Schöpfung – eine Geschichte von der wohl größten Fallhöhe der Geschichte. Ein gefundenes Fressen für Fritz Eckenga.

Fritz Eckenga: „Adam, Eva, Frau und Mann – da muss Gott wohl nochmal ran. Neue Rettungsreime“. Kunstmann, 136 Seiten, 18 Euro.




Aus ödem Alltag in den Ausnahmezustand: Hilmar Klutes Paris-Roman „Oberkampf“ zwischen Bistros, Kultur, Liebe und Terror

Jonas Becker heißt der Mittvierziger, der sich endlich aus seinem immergleichen Berliner Alltagsleben („Langstreckenglück“) befreien möchte. Er trennt sich von seiner allzeit effizienten Gefährtin Corinna. Auch gibt er die gemeinsame Agentur kluge-koepfe.de auf, die Koryphäen mancher Sorte an Veranstalter vermittelt. Beziehung und Firma liefen eben nicht mehr so gut. Um es bilingual zu sagen: Midlife-Crisis comme il faut.

Wohin kann man gehen, wenn es einem in Berlin zu fad werden sollte? Beispielsweise nach Paris. Immer und immer wieder erfahren wir durch Jonas in Hilmar Klutes Roman „Oberkampf“ (verhärtet klingender Name einer Pariser Métro-Station, benannt nach einem deutschstämmigen Tuchfabrikanten), was wir nicht zu fragen wagten: wie viel eleganter, entspannter, urbaner, kultivierter und sinnlicher die französische Metropole doch sei; wie schon die Sprache jenseits des Rheins sanfter klinge, einem weichen Plumeau vergleichbar. Mehr noch: Zahllose französische Chansons seien wahrhaft dichterisch, ganz anders als die „miefige Sehnsucht der Udo-Jürgens-Lieder“. Auch Schriftsteller haben dort Stil, während sie in Deutschland bestenfalls mal im Hilfiger-Pullover die Lesebühne betreten. Vom wundervollen Essen und von der Liebe ganz zu schweigen. Derlei hat man gelegentlich schon gehört, oder? Oh, là, là!

Ein Bewegungsgesetz dieses ebenso lukullischen wie promillereichen Romans ähnelt dem einiger französischer Kinofilme: Da geht’s unentwegt von Bistro zu Bistro, die Dreh- und Angelpunkte der meisten Tage kreisen ums faire la terrasse und um l’amour. Gleich bei seiner Ankunft gerät jener Jonas an ein munteres, aufgekratztes Trüppchen, das im Dezember einen luftigen Rotwein-Abend zelebriert und über Vorzüge wie Nachteile der Provinz (jemand will nach Montpellier ziehen) frotzelt. Mittendrin: die attraktive Christine, die schon mal in Freiburg studiert hat und leidlich Deutsch spricht. Jonas und sie tauschen keine Adressen, begegnen einander aber später auf wundersame Weise wieder. Wenn das kein Zeichen ist! Daraus erwächst recht rasch ein tägliches Mittagspausen-Ritual: halbe Stunde Liebe machen, halbe Stunde köstlich speisen. Hach ja, c’est Paris, n’est-ce pas?!

Schier endlose Interviews mit einem gealterten Schriftsteller

Weiterer Hauptstrang ist Jonas‘ Job daselbst. Er soll ein ausführliches Buch über den ergrauten Schriftsteller Richard Stein (86) verfassen, der sich in seinem von Fachkreisen hoch geachteten, aber kaum über solche Zirkel hinaus bekannten Werk eigentlich schon genugsam selbst bespiegelt hat. Die schier endlosen Interview-Sitzungen sind denn auch zermürbend. Der nur noch rückwärts blickende Stein verkörpert eine Art von geistiger Dominanz, die seine Mitmenschen zu verschlingen droht. Bloß gut, dass es die lebensdurstig vorwärts drängende Christine als Gegenpol gibt…

Eine Rahmenhandlung, die alles verändert, fasst das gesamte Konstrukt ein, sie hat bestürzend reale Vorbilder. Schon bald nach Beginn des Romans geschieht, sozusagen in Jonas‘ Quartiers-Nachbarschaft, das mörderische Attentat auf die Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo. Es wirkt wie eine Betäubung auf die Hauptstadt. Ganz am Schluss besiegelt ein weiterer Terroranschlag des Jahres 2015 (den wir hier nicht näher bezeichnen wollen, weil er ein frappierendes Ende markiert) die Handlung. Wie war das mit dem Alltag? Nun herrscht Ausnahmezustand in Permanenz.

Übrigens: Jonas ist natürlich eine literarische Figur, dennoch könnte die ihm nachdrücklich zugeschriebene Auffassung irritieren, dass die Leute von Charlie Hebdo ihre Scherze über den Islam eben einfach zu weit getrieben hätten und am Massaker gleichsam selbst schuld oder wenigstens mitschuldig seien. Ein kurzer Trip in die hoffnungslosen Banlieues, den Jonas und Christine hernach unternehmen, deutet jedenfalls auf die Unvereinbarkeit der soziokulturellen Welten in Paris hin.

Klutes Verlag weist derweil auf den zufälligen Umstand hin, dass der Prozess um die Charlie-Attentäter just im September beginnen solle, nahezu zeitgleich mit dem Erscheinen des Romans. Nun ja. Wenn es sich so verhält…

Prägnante Skizzen und weniger produktive Exkurse

Von gewissen Schematismen und dem einen oder anderen Klischee-Ansatz abgesehen, gelingen Hilmar Klute im Verlauf seines Roman etliche prägnante Skizzen von Personen und Situationen. Ein staunenswert mit sich im Reinen scheinender Exil-Wiener namens Altenberg zählt beispielsweise dazu, an einem anderen Ende der Skala auch Frankie, Concierge und Faktotum des Hauses, in dem sich Jonas‘ bescheidene Kleinstwohnung befindet. Und auch Fabian, jener eigentlich eher farblose Ex-Kompagnon aus der Berliner Köpfe-Firma, gewinnt ohne viel Aufhebens literarische Kontur. Die erloschene Liebe zwischen Corinna und Jonas wird in all ihrer Ödnis haarfein dargestellt. Das sind keineswegs nur Fingerübungen, das ist Könnerschaft; nicht so sehr in den ganz großen Bögen, sondern am deutlichsten im Nebenbei. Manche Abfolgen wirken denn auch nicht organisch entwickelt, sondern wie einzeln ersonnen und im Nachhinein montiert.

Hin und wieder verfängt sich Klute in weniger produktiven Exkursen. So müssen etwa, anlässlich eines Friedhofs-Spaziergangs (Montparnasse) mit Christine, an den Gräbern der Berühmtheiten vielerlei Meinungen und Urteile über Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, über Samuel Beckett und Serge Gainsbourg abgearbeitet werden. In einer weiteren Passage passiert Ähnliches mit Böll, Beuys und dem einstigen Literaturpapst Hans Mayer. Auch Max Frisch und Allen Ginsberg werden vergleichend abgehandelt. Zudem erfahren wir einiges über Jonas‘ Buchbestände, die er freilich weitgehend aufgibt. Nach den Aufzählungen kennen wir aber seinen literarischen Kanon. Überhaupt werden viele kulturelle Wertungen vorgenommen, was nicht unbedingt Aufgabe eines Romans ist. Langweilig wird es trotzdem nicht. Wie denn auch – in solchem Ausnahmezustand? Klute beschwört die Dämonen jener Tage auf persönlicher Ebene so herauf, dass es schwerlich ein Entkommen gibt, allenfalls die Illusion des Entrinnens.

Autor und Hauptfigur ließen das Ruhrgebiet weit hinter sich

Halt, das müssen wir jetzt noch nachholen: Hilmar Klute, heute federführender Redakteur der vielgepriesenen „Streiflicht“-Kolumne auf Seite eins der „Süddeutschen Zeitung“, ist gebürtiger Bochumer vom Jahrgang 1967. Doch das Ruhrgebiet hat er – ebenso wie seine Hauptfigur – entschieden hinter sich gelassen. Der Wahl-Berliner hat tatsächlich zwei Jahre in Paris gelebt. Seine Figur Jonas lässt er in Duisburg aufgewachsen sein, beruflich geht’s zuerst nach Köln. Und dann halt auch nach Berlin und Paris. Ein heillos abstruser Abstecher des Romans führt – selbstredend in einem kultigen Cadillac – nach San Francisco und Umgebung. Lauter bedeutsame, inspirierende Zentren also. Jedenfalls theoretisch. Aber egal, wo er ist, der mürrische Held Jonas scheint allerorten einigen Lebensüberdruss mit sich herumzutragen. Kann ihm auf Erden geholfen werden? Gegen Ende hin fühlt er sich auf einmal so seltsam erleichtert und befreit. Dann aber betritt er einen Saal, in dem er schon erwartet wird…

Hilmar Klute: „Oberkampf“. Roman. Galiani Berlin. 320 Seiten. 22 €.

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Eine Besprechung von Klutes vorherigem Roman „Was dann nachher so schön fliegt…“ findet sich hier.




„Nach all dem Streben das Sterben zu üben“ – Notizen aus der Inneren Coronei (2)

Notizbuch, noch voller Hoffnung
Foto: Gerd Herholz

Seit Wochen schrie mein schwarz eingebundenes Moleskine vergeblich nach Alltagsskizzen, heftigen Bildern oder Dialogfetzen. In solch ein Notizbüchlein sollen schon Hemingway, Picasso oder Bruce Chatwin notiert haben, was ihnen durch den Kopf schoss. Ich aber hatte mit keinem einzigen Bleistiftstummel  zumindest Stichworte hineingekritzelt. Schon gar nicht klassische Sätze à la Ernest H. wie etwa: You belong to me and all Gelsenkirchen belongs to me and I belong to this notebook and this pencil.
O über all die leeren, unbeugsamen Seiten!

Verzweifelt wünschte sich mein ausgehungertes Notizbuch, es hätte noch etwas von Baum, von Buche vielleicht, und könnte seine Blätter abwerfen, bis es kahl daläge, von niemandem je genutzt und zu nichts mehr zu gebrauchen. So voller Verzagtheit hat das Büchlein vor einigen Tagen unvermittelt begonnen, selbst krude Einfälle auf dem Papier erscheinen zu lassen, um die ungeheuer trostlose Leere in seinem Innern zu kaschieren. Angst vor dem weißen Blatt? Die kannte es nicht, denn viel zu lange war es selbst nichts als weißes Blatt gewesen. Nun also erschienen täglich neue Menetekel, wie von Geisterhand aufs Blatt geworfen. Kommentare, Fußnoten zu einem unerfüllten, papiernen Leben, Vermerke, die nach ein paar Minuten wieder verblassten. Als wären sie mit einer Geheimtinte geschrieben, die mahnte: Lies! Schreibe!

Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt,
dass der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.

Wünschte sich das Notizbuch tatsächlich, dass ich solch kryptischen Worte als Flaschenpost läse, von einer Muse an den Gestaden Griechenlands in jenes Mittelmeer geworfen, das sonst doch alles Menschliche verschluckt? Lauerten da versteckte Botschaften eines Irren oder gar Nachrichten eines Verschollenen, der im Grunde ich selbst bin? Ziemlich verstört hatte ich mir unverzüglich ein zweites Notizbuch zugelegt, in das ich eiligst jene flüchtigen Botschaften notierte, die mein erstes Notizbuch aufleuchten und flugs wieder verschwinden ließ.

War es Kränkung vielleicht, vielleicht Eifersucht, die mein erstes Notizbuch vorgestern dazu bewog, in einem Akt der Selbstentzündung erst sich selbst, dann meine ganze Bibliothek und endlich die Wohnung in Brand zu setzen und mich in die Obdachlosigkeit zu treiben?

Mit meinem zweiten Notizbuch, das ich immer bei mir trage, gehe ich zur Stunde deshalb hochgradig sorgsamer um. Hier auf der Klappcouch bei Freunden lese ich darin noch einmal, was ich kürzlich sorgsam übertrug. Und hoffe, dass sich das neue Notizbuch nicht auch grämt, post-traumatisch, weil es so gar keine Einträge vorweisen kann, die allein für es selbst bestimmt sind – von mir für es. Vielleicht sollte ich noch viel vorsichtiger sein, unverzüglich beginnen, alle kopierten Botschaften auszuradieren, die Haut des Papiers sanft aufzurauen, bis Notiz um Notiz verwischte und unsichtbar würde. Notizen wie diese hier:

Nulla dies sine linea?
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(Heute gleich zwei. Geht doch.)


Textbaustein für eine Kürzestkritik

XXX:
Schon wieder ein Buch,
das nicht hätte erscheinen dürfen.


Vokalübung mit I:
Richtig, nicht wichtig: In mir ist ICH nicht in Sicht!


Hundeleben
Mit dem alten Hund Gassi gegangen.
Es dauert jetzt immer länger,
bis er endlich scheißt – zu harten Kot, zu weichen Kot.
Ich stehe dabei, verharre, schaue zu,
wie er in der Hocke kauert,
und lerne,
dass ein jegliches seine Zeit hat
und alles Vorhaben unter dem Himmel seine Stunde.


Anagrammatik

Um nach all dem Streben das Sterben zu üben, das weiß jeder,
muss man nichts weiter lernen, als nur zwei Buchstaben zu vertauschen.


Schienen
-/Sprachsuizid
Statistisch gesehen scheint es möglich,
dass jeder Schienenfahrzeugführer
in Deutschland
einmal in seinem Berufsleben
einen Selbstmörder oder Gleisgänger überfährt.
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch,
denn angesichts der hohen Rate
an gescheiterten Versuchen
gilt der Schienensuizid als ziemlich unsicher.
„Die Überlebenden leben häufig
mit abgetrennten Gliedmaßen weiter“,
schreibt Wikipedia.
Und ich hatte schon befürchtet, sie müssten
ohne
die abgetrennten Gliedmaße weiterleben.


Vielen Dank für Ihr Verständnis
Hinweisschild vor dem Eingang der Intensivstation:
Beschwerden bitte in den Koma-Kasten!




Schonungsloser Blick auf Missstände seiner Zeit: Vor 150 Jahren starb der englische Schriftsteller Charles Dickens

Zeitgenössische Illustration zu Charles Dickens‘ Roman „Oliver Twist“ – von George Cruikshank (1792-1878): Oliver Twist wird bei einem Einbruch verletzt. (Wikimedia public domain /gemeinfrei – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Oliver_Twist_-_Cruikshank_-_The_Burgulary.jpg)

Sein Blick war unbestechlich und schonungslos: Der englische Schriftsteller Charles Dickens hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, ein ausgestoßenes, misshandeltes Kind zu sein. Die trüben Erfahrungen im gnadenlosen Kapitalismus des viktorianischen England ließ er in seine Romane einfließen.

Keine erbauliche Lektüre also, was er in Welterfolgen wie „Oliver Twist“ oder „David Copperfield“ festgehalten hat. Am 9. Juni 1870, vor 150 Jahren, ist der scharfsichtige und mit manchmal grotesker Ironie gesegnete Autor auf seinem Landsitz Gads Hill in Higham bei Rochester in England an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben.

Charles Dickens gehörte weder der englischen High Society an noch hatte er eine universitäre Erziehung genossen. Mit sieben Geschwistern wuchs er im Haushalt eines nahezu mittellosen Schreibers im Dienste der englischen Marine auf. Als Charles 12 Jahre alt war, ließen Gläubiger den Vater 1824 ins Schuldgefängnis stecken, weil er die hohen Lebenshaltungskosten in der expandierenden Großstadt London nicht mehr aufbringen konnte. Mit Kinderarbeit musste der Junge den Lebensunterhalt für die verarmte Familie verdienen. Er schuftete in einer Lagerhalle und einer Fabrik.

Zwei Jahre konnte er zur Schule gehen, nachdem sein Vater freigekommen war. Bildung erwarb sich der anfangs kränkliche, wissbegierige Junge durch einige Bücher aus seines Vaters Besitz und durch Besuche im British Museum. Als Schreiber bei einem Rechtsanwalt konnte er Menschen studieren: grausame, selbstsüchtige Typen, gütige und mildtätige Charaktere. Sie flossen in seine späteren Werke ein. In den „Sketches by Boz“ (sein Pseudonym), für verschiedene Londoner Blätter geschrieben, hielt er Stimmungen, Charaktere und soziale Verhältnisse der Metropole fest. Der 24-jährige weckte erste literarische Aufmerksamkeit, als er sie 1836 als Buch veröffentlichte: „Londoner Skizzen“ ist der deutsche Titel.

Bekehrter Geiz: „Eine Weihnachtsgeschichte“

Eine Geschichte, die auch durch mehr als 30 Verfilmungen bekannt geworden ist, erschien 1843: „A Christmas Carol“ („Eine Weihnachtsgeschichte“) verbindet die Kritik an den sozialen Missständen in der Industrialisierung in England mit der Schilderung eines kaltherzigen Eigenbrötlers. Ebenezer Scrooge kennt weder Mitleid noch Einfühlungsvermögen, hält die Feier des Weihnachtsfestes für Humbug und Spenden für Arme für überflüssig. Vom Kampf seines kärglich bezahlen Angestellten Bob Cratchit um den Unterhalt seiner Familie und die Gesundheit seines behinderten Kindes Tim nimmt er keine Notiz.

Dickens bricht den Realismus der Erzählung auf: Der Geist von Scrooges verstorbenem Teilhaber erscheint in der Christnacht, warnt den Geizhals vor den Folgen seiner Geldgier und kündigt drei Geister der Weihnacht an. Sie zeigen Scrooge schonungslos die Folgen seines Handelns – für die Familie von Cratchit, für sich selbst und für sein Schicksal nach dem Tod. So wandelt sich Scrooge zu einem Menschen, der erkennt, dass auch er selbst durch Freundlichkeit und Großzügigkeit ein besseres Leben führen würde. Die Weihnachtsgeschichte wurde u.a. 1983 als Zeichentrickfilm mit Disney-Figuren wie Onkel Dagobert als Scrooge und Mickey Mouse als Cratchit produziert; neun Jahre später entstand eine Version mit  Charakteren aus der „Muppets Show“ als Hauptdarsteller.

Kinderarbeit und Elend: „Oliver Twist“

Zu den bedeutsamsten Romanen des gesamten 19. Jahrhunderts wird „Oliver Twist“ gezählt. Der überwältigende Erfolg erschien 1837 bis 1839 in Fortsetzungen in einer Zeitschrift, wurde aber auch kritisiert – etwa wegen der idealisierten Charakterdarstellung seines Helden, wegen der unverblümt grausamen Schilderungen der sozialen Realität oder eines gewissen Zugs zum Melodramatischen.

In „Oliver Twist“ flossen die eigenen Erfahrungen ein, die Dickens mit Kinderarbeit, Elend, menschlicher Niedertracht und grausamem Verbrechen gemacht hatte. Der Waisenjunge, der aus dem Armenhaus flieht, gerät in die Fänge eines skrupellosen Gauners, der ihn zum Kriminellen ausbildet, lernt Mord und Misshandlung kennen, taucht tief in die menschlichen Abgründe ein, die sich bei den Ausgestoßenen, den Elenden, den Hoffnungslosen auftun. Aber Oliver erfährt auch Fürsorge und Liebe und lebt zuletzt dank einer Kette glücklicher Fügungen in geordneten Verhältnissen. Der soziale Realismus der Schilderungen hat damals in ganz Europa Aufsehen erregt und gab in England den Anstoß zu sozialpolitischen Reformen.

Vom Handlanger zum Schriftsteller: „David Copperfield“

Erfahrungen aus seinem Leben spiegelt auch Dickens‘ Roman „David Copperfield“, der ab 1849 entstand – ein Buch über die Entwicklung eines gedemütigten und misshandelten Kindes zu einem erfolgreichen Schriftsteller. Das Werk mit stark autobiographischen Bezügen wird unter die wichtigsten englischsprachigen Romane des 19. Jahrhunderts gezählt. Dickens selbst bezeichnete ihn als seinen „Lieblingsroman“. Auch der unmittelbar nach „Oliver Twist“ 1839 erschienene Roman „Nicholas Nickleby“ ist ein kritischer Gesellschaftsroman, der Dickens unter dem Pseudonym „Boz“ vor allem in Deutschland populär gemacht hat.

Seinen literarischen Ruhm begründete der zunächst als Parlaments-Stenograph, später als Journalist arbeitende Charles Dickens 1836/37 mit den humorvollen „Pickwick Papers“, zu Deutsch „Die Pickwickier“, erschienen ursprünglich als Zeitschriften-Fortsetzungsroman und geschickt an Interessen und Reaktionen der Leser angepasst. Seit 1842 begab sich Dickens immer wieder auf Reisen, zunächst in den USA, dann in England, bei denen er aus seinen Werken vorlas. Bei seinem Tod hinterließ er ein beträchtliches Vermögen, mehr noch aber einen literarischen Ruhm, der bis in die Gegenwart nicht verblasst ist.




Trübe Lauge: Donna Leons Kriminalroman „Geheime Quellen“

Immer sehnt sich der Mensch nach dem, was er nicht hat – oder in Zeiten von Corona nicht darf. Wäre es nicht herrlich, jetzt nach Venedig zu reisen, durch die leer gefegten Gassen zu flanieren, die von Trubel und Tourismus befreite Lagunenstadt genießen zu können? Mit dem Boot hinüberzusetzen auf den Lido und dort, unbehelligt von Ramschverkäufern und Strandanimateuren, zu spazieren oder eine erfrischendes Bad zu nehmen. Das würde bestimmt auch Donna Leon gefallen.

Wie sehr die amerikanische Autorin darunter leidet, dass ihre Wahlheimat durch den Massentourismus ausgelaugt und durch die pausenlos anlandenden Kreuzfahrtschiffe zerstört wird, hat sie immer wieder in ihren Romanen beschworen. Manchmal schien es so, als sei ihr Commissario Brunetti seiner von Sandalen-Touristen und Nippes-Läden verunzierten Stadt überdrüssig und er stehe kurz davor, seine Mord-Ermittlung und Mafia-Bekämpfung hinzuschmeißen und sich in irgendein abgelegenes Tal der Alpen zur Ruhe setzen zu wollen.

Doch Brunetti muss durchhalten und immer weitermachen. Statt seiner hat sich Donna Leon, die Erfinderin des kulturbeflissenen und melancholischen Kommissars, in die Schweizer Berge zurückgezogen und kommt nur noch gelegentlich nach Venedig. Wozu auch? Sie kennt sowieso jede alte Kirche, jeden bröckelnden Palast und jedes sich dort mal offen, mal versteckt abspielende Drama.

Der 29. Fall für Commissario Brunetti

In seinem nunmehr neunundzwanzigsten Fall muss Brunetti „Geheime Quellen“ suchen und herausbekommen, ob es bei der Wasserversorgung von Venetien mit rechten Dingen zugeht. Oder ob dunkle Mächte das klare Nass in trübe Lauge verwandeln und dabei auch noch ordentlich abkassieren. Es geht um Umweltsünden und Korruption, nackte Geldgier und fiese Gewalt. Aber auch um einsames Sterben und verletzliche Seelen. Doch bis Brunetti erkennt, wie gefährlich das Wasser ist, das er täglich trinkt, und welche Profite man damit erzielen kann, indem man es entweder reinigt oder verschmutzt, fließt einige eklige Brühe durch den Canal Grande.  

Es ist Sommer, die Hitze ist kaum zu ertragen. Der Anzug klebt Brunetti durchgeschwitzt am Körper. Doch während man früher zu jedem Espresso ein kostenloses Glas Wasser bekam, muss man jetzt dafür mindestens einen Euro blechen. Aber der Luxus-Ärger ist schnell verflogen, als Brunetti mit wirklichem menschlichen Elend konfrontiert wird. Eine von tödlichem Krebs zerfressene Frau von gerade einmal Anfang 40 lässt ihn zu sich ins Hospiz rufen. Bevor sie in seinen Armen stirbt, kommen noch ein paar kryptische Worte aus ihrem Mund. Ihr Mann, Vittorio Fadalto, der vor einigen Wochen (laut Polizei) bei einem Motorradunfall ums Leben kam, sei in Wahrheit ermordet worden. Außerdem habe er, um ihre teure Behandlung zu finanzieren, „schlechtes Geld“ genommen.

Gefährliche Wasserverschmutzung

Als Brunetti zu ermitteln beginnt, stößt er auf Ungereimtheiten, Widersprüche, Lügen und eine Mauer des Schweigens. Fadalto hat für ein Unternehmen gearbeitet, das die Reinheit des Trinkwassers untersucht, an Brunnen und Flüssen in Venetien sensible Messinstrumente installiert hat und jede Abweichung und Verunreinigung sofort erfasst. Aus den Unterlagen und Analysen der Firma, die Brunetti und seinen Mitarbeiter vorliegen, ist aber nicht ersichtlich, wie Fadalto Manipulationen vorgenommen und wofür er Geld kassiert haben könnte. Oder geht es vielleicht gar nicht um Wasserverschmutzung und Bestechung, sondern um blinde Eifersucht und verschmähte Liebe? Das Gefühlsleben der Mitarbeiter im Unternehmen gleicht jedenfalls einem stickigen, morbiden Dschungel. Musste Fadalto sterben, nicht weil er zu viel wusste oder zu gierig war, sondern weil er zu wenig Empathie für seine Untergebenen hatte und die Avancen einer liebeshungrigen Kollegin nicht erwidern mochte?

Als wäre all das nicht schon kompliziert genug, muss Brunetti sich auch noch mit einem nervigen Anliegen seines Vorgesetzten herumschlagen. Vice Questore Patta will Venedig besenrein machen und von allen Taschendieben befreien. Wenigstens für ein paar Tage, damit ein Zeitungsartikel ins Leere läuft, der sich mit dem kleinkriminellen Treiben von Roma-Banden beschäftigt und die Polizei von Venedig in ein schlechtes Licht rückt. Brunetti braucht wieder einmal viel Geduld und Fingerspitzengefühl sowie einige Vertraute, die zum einen Patta beruhigen und ihm in der Roma-Angelegenheit Sand in die Augen streuen, zum andern Brunetti dabei behilflich sind, das komplexe Geflecht aus kriminellen Fäden, emotionalen Verwicklungen und menschlichen Schicksalsschlägen in der Fadalto-Affäre zu entwirren.

Wenn Brunetti müde und verschwitzt nach Hause kommt, wartet nicht nur eine kalte Dusche auf ihn, sondern auch die Lektüre seiner geliebten griechischen Klassiker. Natürlich hilft ihm auch gern Paola, seine geduldige und kluge Gattin, mit einem Gläschen Wein den Sommer-Blues zu überwinden und den Fall aufzudröseln. Hoffentlich schickt Donna Leon ihren Commissario nicht so bald in Rente. Wir würden ihn und seine misanthropischen Gedanken vermissen. Und wann, bitte, dürfen wir wieder nach Venedig?

Donna Leon: „Geheime Quellen.“ Commissario Brunetti neunundzwanzigster Fall. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, 336 S., 24 Euro.




„Ein Paar aus vier Menschenhälften“: Frank Schablewski beginnt sein groß angelegtes Romanprojekt „Schwarmbeben“

Ein Mann tötet die Frau, mit der er ein Jahr verheiratet ist. Von Beruf Fleischer, kennt er sich mit dem Handwerk des Ausweidens gut aus.

Fachgerecht zerlegt er den ausgebluteten Körper in vierzehn Stücke, die er, verpackt in fünf Plastiksäcken und mit Steinen beschwert, im Bosporus versenkt.

Erzählt wird uns dieser brutale Mord nicht als Istanbul-Krimi. Kein mit Faszination an der Gewalt geschriebener Thriller ist Ein Paar aus vier Menschenhälften, eher ein Requiem oder eine Elegie in Prosa, an bestimmte Musikformen erinnernd, die immer wieder neu ansetzen und mit unpathetischem Engagement das ähnlich bereits Erfahrene variieren; ein „Mosaik des Todes“.

Eine kunstvoll erweiterte Zeitungsmeldung

„Jemand Fremdes“ liest am Tisch einer Kaffeerösterei in einer stillen Seitengasse im Galata-Viertel (Beyoğlu) die informationsarme Nachricht in der Zeitung. „Der Artikel hielt sich nicht damit auf, die ganze Geschichte zu erzählen. Das Ereignis selbst verbrauchte eine Vorgabe an Zeichen.“ Wer würde je auf die Ermordete einen Nachruf schreiben, wer, wenn nicht der Autor mit dem vorliegenden Buch, das eine auf 160 Seiten kunstvoll erweiterte Zeitungsmeldung übertrifft? Zugleich schreibt er damit einen ausführlichen Grabsteintext auf viele namenlose Frauen, die durch ihre Ehemänner sterben mussten und müssen. Auf die Gewalt der Tat antwortet die Sprachgewalt des Dichters.

So ungeheuerlich ist der Vorgang des Abschlachtens, dass er sich vielleicht nur aus der Sicht der Toten darstellen lässt. Für sie werden die Dinge transparent, ähnlich wie in Vladimir Nabokovs spätem Roman Durchsichtige Dinge (Transparent Things, 1972) – der Blick aus einer jenseitigen Welt auf die unsere, in der das Leben ohne die Tote weitergeht.

Blick aus einer jenseitigen Welt

Aus ihrem nassen Grab blickt die Frau in den Gerichtssaal, in dem der Mordfall verhandelt wird. Sie hört den Richter ihren Mörder von jeder Schuld freisprechen und ihr selbst, dem Opfer, die Verantwortung für ihren Tod zuschreiben. „Für den Richter war es der geborene Mord.“ Sie habe im Grunde alles erlebt, was eine Frau erleben kann, Geburt, Elternhaus, Hochzeit, Ehe, die ein Jahr dauerte, bis der Mann nichts anderes mehr mit ihr anzufangen wusste, als sie zu töten. Für sie wäre „das Leben keine Lösung“ gewesen, hört sie den Richter sagen. Ob aber für den Mann das Weiterleben eine Lösung sein kann, fragt niemand.

Wortreich nutzt der Richter den Fall, um seine Weltanschauung zu unterbreiten, doch in seiner Rede tun sich nur neue Abgründe auf. Er gibt vor, sich „in heroischer Weise der Gerechtigkeit hinzugeben“, und zwar „nicht in der Sprache des Volkes“. Mann, Frau, Richter – diese drei Funktionen bilden die Triade des Tragischen; weitere Personen wie die Familie der Frau oder ihre Anwälte werden nur am Rande erwähnt. Ohnehin hatte die Frau nur Brüder.

Autor Frank Schablewski (© Rimbaud Verlag)

Ewiges Gesetz?

Im Bereich meines gesetzlichen Throns werden die ersten in unserer Sprache geschriebenen Urteile für immer gelten“, sagt der Richter. Und diese gehen stets zu Lasten der Frau. Er ist „der letzte Richter überhaupt“. Der Richter beansprucht für sich ein überzeitliches, ein ewiges, Gesetz. Aber mag es auch der gängigen Praxis entsprechen, ist dieses Gesetz ein bloß behauptetes; „es war das völlige Innehalten des Rechts.

Detailreich beschriebener Meeresgrund

Auf eine andere Art überzeitlich präsent ist die Ermordete, da für sie die Zeit keine Rolle mehr spielt. „Das Wasser spiegelte das Gesetz“, heißt es im Text. Als nähme uns der Autor mit zu einer Erkundungsfahrt in einem Glasbodenboot, sehen wir jeden Gegenstand, jeden Meeresbewohner, jeden Abfall auch, der den Bewohnern der Stadt unter der sich spiegelnden Oberfläche in der Düsternis der Tiefe verborgen bleibt. Die Tote aber, in fünf zerfetzten Plastiktüten verpackt, fühlt die Algen, die Einsiedlerkrebse, Schnecken und Fische, die sich ihrer Körperteile bemächtigen. In der Meerenge des Bosporus, zwischen den Kontinenten, liegt das nun nicht länger Zusammenhaltende. Am Ende ist wohl alles gesagt, was sich über das Meer und seinen Grund in allen seinen Bedeutungen sagen lässt.

Männerrituale

Weit weniger gründlich wird im Gerichtssaal das Verbrechen untersucht. Vielmehr bestätigen sich die anwesenden Männer gegenseitig in der Richtigkeit des Geschehenen, „Ein Kopf bejahte den anderen“, analog zu den Ritualen, die sich als Tanz von Männern in einem Park abspielen. „Jeder stellte sein Leben mit Gebärden dar, einem ganz eigenen Mienenspiel, in der kurzen Zeit einer Handbewegung. Jeder kreiste um sich selbst.“

Aber noch ein anderes Ritual spielt im Buch eine Rolle – das in Initiationsriten weltweit beobachtete Thema von Zerstückelung und Wiedergeburt, ethnologisch als Übergangsritus bezeichnet. Einen der Ur-Mythen für dieses Muster bildet der zerstückelte Osiris, der von seiner Schwester-Gemahlin Isis neu zusammengesetzt wird. Von einer mythischen Wiederherstellung, Erneuerung, Gesundung des Körpers spricht auch der Richter in Ein Paar aus vier Menschenhälften, versucht, das brutale Verbrechen dadurch zu beschönigen.

Riten des Übergangs

Seismographisch lässt sich bereits an frühen Textstellen das Erdbeben vorhersehen, das am Ende Meer und Erde vermischt. Ein Hain mit Apfelbäumen rutscht als erstes in den Bosporus. Doch bei aller Kunstfertigkeit der Sprache und in der Komposition ist die Lektüre allein schon wegen des todernsten Themas keine leichte Kost – kann es und darf es nicht sein.

Frank Schablewski ist bisher vor allem als Lyriker, Essayist und Autor kürzerer Prosa in Erscheinung getreten. Mit einem Stipendium der Kunststiftung NRW lebte er 2016 mehrere Monate in einer Künstlerresidenz in Istanbul. Bereits zuvor wurden mehrere seiner Gedichte ins Türkische übertragen und der Autor wurde wiederholt zu Poesiefestivals in die Türkei eingeladen. In Deutschland erscheint sein literarisches Werk vorrangig im Rimbaud Verlag in Aachen. Ein Paar aus vier Menschenhälften ist der erste von vier Teilen seines Romans Schwarmbeben. Wir dürfen auf die weiteren drei Teile von Frank Schablewskis groß angelegtem Werk gespannt sein.

Frank Schablewski: „Ein Paar aus vier Menschenhälften“. Rimbaud Verlag, Aachen; 164 S., fadengeh. mit Klappen. ISBN 978-3-89086-224-8, € 25 ,-




Verheißungsvolle Lesung: Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart stellte sich online nochmals vor

Auf dem iPad-Bildschirm: Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart (links) und Moderatorin Frederike Juliane Jacobs. (Screenshot der via YouTube gezeigten Lesung)

Eigentlich ist – unter allen Künsten – die Literatur noch am wenigsten von der gegenwärtigen Krise betroffen. Zwar hat natürlich auch der Buchhandel gelitten, doch lassen sich nach wie vor alle Bücher bestellen und im stillen Kämmerlein lesen. Und doch fehlt etwas. Das wurde auch heute Abend deutlich, als Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart im Dortmunder Literaturhaus gezwungenermaßen eine Online-Lesung via YouTube absolvierte.

Frau Kuckart kann ihren Dortmunder Stipendiats-Aufenthalt bekanntlich nicht im Mai antreten, sondern erst im August. Insofern war es jetzt ein vager Vorgeschmack, als sie kurze Passagen aus ihrem Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ las und knappe Auskünfte zum Schreibprozess gab. Vielen Sätzen suchte sie durch dezente und doch dringliche Gestik Nachdruck zu verleihen, doch es fehlten spürbar die Adressaten, es fehlte ein unmittelbar reagierendes Live-Publikum.

Und so blieb die moderierende Literaturwissenschaftlerin Frederike Juliane Jacob, die das Buch höchlich pries, der einzige Widerpart des gar kurzen Abends. Angekündigt für die Zeit von 19.30 bis 21 Uhr, endeten Lesung und Gespräch bereits vor 20.15 Uhr. Dabei befand die Moderatorin in ihrem Fazit, sie hätte „noch 25 oder mehr Fragen“ und man könne im Grunde endlos weiter reden. Hätte sie sich und uns doch wenigstens noch etwas Zeit und Muße gegönnt…

Ich gebe freimütig zu, den in Rede stehenden Roman noch nicht gelesen zu haben. Allerdings haben mich die wenigen Auszüge tatsächlich neugierig gemacht. Der ausgesprochen unprätentiöse und präzise Erzählstil, der gleichwohl nirgendwo in bloße Lakonie abgleitet und auch Durchblicke ins Metaphysische gestattet, übt wirklich einen sanften Sog aus.

Man möchte mehr und mehr über die Protagonistin wissen, jene namenlose Neurobiologin, die es im Alter von 18, 36 und 54 Jahren jeweils mit 36-jährigen Männern zu tun bekommt. Nicht nur geht es um die sehr verschiedenen Lebensalter der Liebe, sondern auch ums das Gewebe aus Erinnerung und Vergessen, aus dem noch jede Identität entsteht.

Die Autorin legt übrigens Wert darauf, dass ihre Hauptperson vom Rande des Ruhrgebiets stammt und somit eine regionalspezifische Variante von Humor mitbringt, der sie auch in misslichen Situationen vor dem Untergang bewahrt. Es ist denn auch ermutigend zu sehen, wie durchaus ambitionierte und ernsthafte Literatur zwar auch Abgründiges ins Auge fasst, jedoch nicht alles Schwarz in Schwarz zeichnet.

Judith Kuckart hat sich vor der Niederschrift gleichsam selbst nicht über den Weg getraut. Als Schriftstellerin neige sie nun mal zum „Erinnerungs-Fetischismus“. Dabei könne man den Phänomenen doch auch wissenschaftlich auf die Spur kommen. So war es gerade recht, dass die Uni Heidelberg einige Schriftsteller einlud, sich auf solche Pfade zu begeben. Neben anderen folgten auch Daniel Kehlmann, Tim Parks und Wiktor Jerofejew dem Angebot. Judith Kuckart entschied sich vor zwei Jahren just für ein neurobiologisches Praktikum und war auch bei gehirnchirurgischen Operationen anwesend, bei denen bösartiges Gewebe höchst behutsam und millimetergenau „ausgelöffelt“ werden musste.

Es war also eine sehr bewusste Entscheidung, aus der Perspektive einer Neurobiologin zu erzählen. Derlei Erfahrungen geben zudem einen ganz anderen Blick aufs Sein und Schwinden von Identität frei. Doch die Wissenschaftler, so Kuckart, stellten ihrerseits sogar in Kantinengesprächen Fragen, die weit über ihr Metier hinausreichen und grundsätzlich ans Existenzielle rühren. Mithin ist auch der Roman längst nicht nur ein Präsisions-Werk, sondern eines, das stellenweise ins Unerklärliche und womöglich Geisterhafte ausgreift. Wunderbar rätselvoll etwa die Schilderung einer Bahnfahrt, in deren Verlauf aus einer Tasche, einem Rucksack und einem Jutelbeutel – Milch rinnt. Welch ein Bild, das einen subkutan weiter beschäftigt.

Nach diesem Eindruck jedenfalls kann man die Entscheidung der Jury, die Wahl-Berlinerin Judith Kuckart auf Zeit nach Dortmund zu holen (wo sie teilweise aufgewachsen ist), nur nochmals gutheißen. Und man ist umso gespannter, was ihre Beobachtungen und Recherchen in der Stadt wohl ergeben werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Corona-Krise das mögliche Themenspektrum nicht allzu sehr überlagert. Obwohl: Auch aus einer solchen Konstellation würde Judith Kuckart gewiss ihre ersprießlichen Lehren ziehen.




Auf dem Buchmarkt grassiert die Pest

Der Virus-Sprayer ist unterwegs – und diese Kreation ist an verschiedenen Stellen im Dortmunder Stadtgebiet zu finden. (Foto: Bernd Berke)

Ich geb‘s ja zu: Auch ich habe dieser Tage, als „alle Welt“ (jedenfalls die, die – obwohl des Lesens kundig – das Buch noch nicht hatte), nach Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ jieperte, aus ähnlicher Motivation gesucht. Ja, ich wollte Daniel Defoes historischen Bericht „Die Pest in London“ (Original „A Journal on the Plague Year“) in der bestmöglichen Ausgabe erwerben. Dabei stieß ich jedoch nebenher auf andere Phänomene.

Dutzendfach tauchten da im Verzeichnis Lieferbarer Bücher (VLB) Bände auf, die mit dem Vermerk „1. Auflage 2020″ versehen waren, die also, obgleich vielfach historischen Ursprungs, noch einmal ganz frisch auf den Markt geraten waren. Und wovon handelten die? Ganz richtig: von der Pest in allerlei Varianten. Da finden sich etwa Danilo Samojlovics „Die Pest zu Moskau im Jahre 1771″, Dr. Roman S. Czerykins „Die große Pest während des Türkenkrieges 1828-1829″, Theodor Roths „Die große Pest in London“, Carl Spindlers „Die Pest zu Marseille“ oder auch „Memoiren über die Pest zu Toulon – Ein Augenzeugenbericht“ (Jean d’Antrechaus / Übersetzer: Adolph Freiherr zu Knigge), allesamt übrigens als Books on Demand (BoD) herausgekommen.

Doch nicht nur weitgehend unbekannte und (ob nun zu Recht oder Unrecht) vergessene Autoren sind da zu finden, sondern auch die folgende Kombination dreier Großliteraten ist greifbar, ebenfalls von BoD als „1. Auflage 2020″ angeboten: Keine Geringeren als Jack London, Jens Peter Jacobsen und Edgar Allan Poe haben die in einem Band vereinten Texte „Die Scharlachpest / Die Pest in Bergamo und Die Maske des Roten Todes“ verfasst. Das Buch firmiert übrigens ausgesprochen launig und geradezu putzig als „Die kleine Pest-Bibliothek“.

Books on Demand, dies zur Erläuterung, sind nicht massenhaft vorrätig, sondern werden erst bei Anfrage und Bedarf eilends gedruckt, ein durchaus kosten- und Lagerplatz sparendes Verfahren. Inwiefern dabei noch Liebe zum Buch als Kulturgut im Spiel ist, sei dahingestellt.

Wenn ich einen bescheidenen Rat geben darf, so würde ich die Bücher zum Thema nicht als hektisch in den Handel geworfene, flüchtige Druckware (oder desgleichen E-Book), sondern in sorgsam und vernünftig edierten Ausgaben erwerben und etwa Titel der Weltliteratur wie Giovanni Boccaccios „Decamerone“ oder Alessandro Manzonis „Die Verlobten“ bevorzugen, die sich aus dem Thema Pest zwar herleiten, jedoch ungleich weitere Horizonte ausschreiten; was natürlich auch für Albert Camus gilt.




In diesen Zeiten muss man sich Gehör verschaffen: Gesammelte Aussagen zu „Corona und Kultur in Dortmund“

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann bei der heutigen Pressekonferenz. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Auch wenn die Aussagen noch nicht allzu konkret sein konnten: Es war schon einmal gut, dass diese Pressekonferenz überhaupt stattgefunden hat. Denn „die Kultur“ muss sich gerade in diesen Zeiten Gehör verschaffen. Unter dem Titel „Corona und die Kultur in Dortmund“ gab es heute im Rathaus der Stadt vor allem Statements auf der Chefebene der großen Kultureinrichtungen, aber auch aus der freien Szene. Ich habe den Termin via Live-Stream verfolgt.

Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann skizzierte eingangs die Lage und erkannte – bei allen Problemen – auch eine „positive Novität“: Im Gegensatz zu mancher früheren Debatte, in der Kultur als „erste Spardose“ gegolten habe, seien die kulturellen Einrichtungen diesmal von Anfang an in Überlegungen und Beratungen mit einbezogen worden.

Insgesamt aber müsse man von „gravierenden Erschütterungen“ sprechen, „wie wir sie bisher nicht kannten“. Das Thema habe etliche Perspektiven und Aspekte. Es gehe um die Situation der Institute, um die der ausübenden Künstlerinnen und Künstler und nicht zuletzt um das Publikum. Bleibe es durch die Krise hindurch loyal und stehe es treu zum Theater, zum Konzerthaus, zu den Museen und anderen Kulturstätten? Bislang, so Stüdemann, habe das Publikum eine erstaunliche Solidarität bewiesen, für die er herzlich danken wolle. Beispiel: Viele vorab bezahlte Tickets für abgesagte Vorstellungen würden nicht zurückgegeben.

Stüdemann mahnte dreierlei dringenden Bedarf an:

1.) Die inzwischen ausgelaufenen, weil hoch „überzeichneten“ Soforthilfe-Programme für Kulturschaffende müssten sehr bald verlängert werden. Als Beispiel nannte er Baden-Württemberg, wo es neuerdings eine Grundsicherung für Künstler(innen) von rund 1100 Euro im Monat gebe, die von anderen Bundesländern gut kopiert werden könne. Ein Appell ans Land NRW also.

2.) Die Einrichtungen der freien Szene bräuchten Infrastruktur-Programme, damit sie auch nach der Krise noch existieren könnten.

3.) Man müsse sehr zeitig „Exit-Strategien“ vorbereiten und einleiten, denn Betriebe wie Theater oder Konzerthaus könnten nicht einfach von heute auf morgen wieder die Bühnen bespielen, sondern bestenfalls nach einem Vorlauf von 6 bis 10 Wochen. In die entsprechenden Planungen sollten unbedingt die Fachleute aus den Kulturhäusern eingebunden werden.

Stefan Mühlhofer, Leiter der Kulturbetriebe Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Stefan Mühlhofer, Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe, sieht es als sicher an, dass man bei Wiederaufnahme des Spielbetriebs und anderer kultureller Angebote nicht einfach „den Schalter umlegen kann“. Es werde zunächst vieles anders sein als vor Corona. Man habe inzwischen einige Aktivitäten (Volkshochschule, Musikschule) auf digitale Verbreitung umgestellt, was auch recht gut funktioniere. Dennoch könne dies auf Dauer kein Ersatz für Präsenz-Veranstaltungen sein. Ein Originalbild im Museum sei eben etwas ganz anderes als eine Abbildung im Buch oder ein Video. Apropos: Wahrscheinlich bis Mitte dieser Woche solle ein Papier zur möglichen Öffnung der städtischen Museen vorliegen – mit einer Perspektive für Anfang oder Mitte Mai. Auch hier gilt freilich: Die Stadt allein kann nichts bewirken. Das Land NRW muss es zulassen. Übrigens: In Berlin dürfen die Museen schon wieder öffnen.

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund, berichtete, man habe sich in den letzten Wochen durch einen wahren Wust an Informationen, Erlässen und Verordnungen kämpfen müssen. Es sei aber gelungen, das alles zu strukturieren – vor allem im Sinne der Kulturschaffenden, denen häufig alle Verdienstmöglichkeiten weggebrochen seien. In der Kulturszene herrsche derweil keine Larmoyanz, im Gegenteil: Geradezu kraftvoll seien ständig neue Ideen entwickelt worden, um trotz Corona (digital) wahrgenommen zu werden.

Claudia Schenk, Sprecherin der freien Szene. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Claudia Schenk aus dem Leitungsgremium des „Depots“ trat als Sprecherin der freien Kulturszene an. Diverse Zentren der freien Szene wären ohne die bislang geleistete Landeshilfe vielleicht schon für immer geschlossen worden, befand sie. Streaming sei zwar gut, um im Gespräch zu bleiben, es generiere aber keine Einnahmen. Sie verwies auch auf Fälle wie etwa jene freiberuflichen Bühnentechniker, die auf einmal vor dem Nichts stünden. Man warte auf konkrete Handlungsanweisungen für einen Exit, also für die Wiederaufnahme des Betriebs unter veränderten Bedingungen. Frau Schenk stellte zudem mit Blick auf die nächsten Jahre die bange Frage, ob es im Kulturbereich wohl Streichungen und Kürzungen geben werde. Schließlich zähle Kultur leider immer noch zu den freiwilligen Leistungen der Kommunen und nicht zu den Pflichtaufgaben.

Sprach fürs Theater: Tobias Ehinger. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Tobias Ehinger, geschäftsführender Direktor des Theaters, erinnerte sich an die letzten Monate vor der Krise, als das Dortmunder Theater ein Hoch erlebt und neue Besucherrekorde angepeilt habe. Dann wurde man jäh ausgebremst. Sehr schnell habe man dann umgedacht, beispielweise habe die Theaterwerkstatt Mundschutzmasken hergestellt. In der Krise habe sich überhaupt gezeigt, wie wichtig der soziale Aspekt und die Verankerung in der Gesellschaft fürs Theater seien. Streaming könne kein wirkliches Bühnenerlebnis ersetzen, auch seien die digitalen Möglichkeiten schnell ausgereizt. Als eine beispielhafte Aktion nannte Ehinger den Musik-Truck, der vor Altenheimen vorfahre und – draußen vor den Türen – z. B. mit Gesangs-Darbietungen den Senioren ein wenig zwischenmenschliche Wärme vermittle. Ehinger ist überzeugt, dass man ab Anfang September wieder spielen werde – allerdings völlig anders, mit eigens zugeschnittenen Inszenierungen und vor deutlich weniger Zuschauern. Im Hinblick auf den 1. September sei ein Planungsvorlauf von etwa 10 Wochen nötig. Das würde bedeuten: Bereits Mitte Juni müsste man in die Vorbereitungen einsteigen. Insgesamt gelte es, die gesellschaftlichen Errungenschaften durch die Krise zu erhalten. Dabei sei Kultur unbedingt „systemrelevant“.

Konzerthaus-Chef Raphael von Hoensbroech. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses Dortmund, betonte den Gedanken der Systemrelevanz noch stärker. Kultur solle nicht nur am Tisch Platz nehmen, an dem die Relevanz verhandelt werde. Vielmehr sei sie – einem Ausspruch des Cellisten Yo-Yo Ma zufolge – sozusagen selbst dieser Tisch, also die Grundlage der Gesellschaft. Das Konzerthaus mit seinem sehr großen Saal sowie ausgeklügelter Be- und Entlüftung sei bei reduziertem Publikum kein riskanter Ort. Er halte ansonsten nicht viel von pauschalen Obergrenzen, es komme stets aufs Einzelereignis an. Voluminöse Auftritte mit großen Chören und Orchestern seien jedoch vorerst auszuschließen. Die Stadt Dortmund habe sich zu den Perspektiven des Konzerthauses beherzt und klar positioniert. Was jedoch aus Regierungskreisen in Berlin und vom Städtetag komme, sei wenig hilfreich.

Jörg Stüdemann blieb das vorläufige Fazit vorbehalten. Als studierter Germanist quasi von Haus aus kulturaffin und biographisch auch als Mitarbeiter eines Kulturzentrums (schon länger ist’s her: Zeche Carl in Essen) mit der Szene vertraut, kann die Interessenlage von Kulturschaffenden wohl recht gut nachempfinden und in vernünftige politische Bahnen lenken. Allerdings vermag er – obwohl zugleich Stadtkämmerer – natürlich nicht beliebig viele Kulturmittel aus dem städtischen Etat zur Verfügung zu stellen. Für die nächste Zeit mahnte Stüdemann ethische und „wertsetzende Handlungsweisen“ in der Kulturpolitik an, die sich einer bloßen Einspar-Mentalität widersetzen und keinesfalls „autoritativ oder autoritär“ vorgehen solle. Wie sich gezeigt habe, müssten nun vor allem zwei Anforderungen vorrangig erfüllt werden: „Wir müssen mehr in die Digitalisierung investieren, auch in Qualifizierung und technische Ausrüstung.“ Und: In jeder Hinsicht müsse jetzt über „Gestaltungs-Alternativen“ nachgedacht werden. Wohlan denn!

Viel guter Wille also, aber noch unklare Perspektiven. Die Kultur, so ahnt man, wird (ebenso wie andere Bereiche) „nach Corona“ nicht mehr dieselbe sein können wie zuvor.




Kultur geht notgedrungen weiter ins Netz: Viele Programme online / Ständige Updates: Weitere Projekte (und Absagen)

Das waren noch andere Zeiten: Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Opernhauses – vor Beginn einer Vorstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal wieder ein paar Nachrichten aus dem derzeit stark eingeschränkten (Dortmunder) Kulturleben, kompakt zusammengestellt auf Basis von Pressemitteilungen der jeweiligen Einrichtungen.

Die Mitteilungen werden – im unteren Teil dieses Beitrags – von Tag zu Tag gelegentlich ergänzt und/oder aktualisiert, auch gibt es dort Neuigkeiten aus anderen Revierstädten, vor allem über weitere Absagen, aber auch zu Online-Aktivitäten.

Theater Dortmund: Keine Vorstellungen bis 28. Juni

Das Theater Dortmund bietet auf seinen sämtliche Bühnen (Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater) bis einschließlich 28. Juni 2020 keine Vorstellungen an. Wie es danach weitergehen wird, weiß noch niemand.

Die Regelung schließt die Konzerte der Dortmunder Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund ein. Der Betrieb im Theater läuft jedoch bis zur Sommerpause weiter. Neue mobile Vorstellungsformate sollen ab Mai 2020 bis zum Ende der Spielzeit 2019/20 aufgenommen werden.

Dazu Tobias Ehinger, der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund: „So sehr wir diesen Schritt bedauern, steht die Gesundheit unseres Publikums sowie unserer Kolleginnen und Kollegen im Mittelpunkt. Jedoch dürfen wir auch in der jetzigen Zeit, unser Leben nicht nur auf Funktionalität begrenzen. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die hohe Bedeutung von Kultur. Kultur ist nicht hübsches Beiwerk oder Luxus, sondern elementar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir fordern die Entscheidungsträger in Bund und Land auf, Maßnahmen und Konzepte zur schrittweisen Öffnung unserer Theater und Konzertsäle zu beschließen und die Gesellschaft nicht durch ein zu kurz gegriffenes Verständnis der Systemrelevanz zu trennen.“

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Unterdessen werden Spielpläne für die nächste Saison online per Video-Präsentation angekündigt:

Philharmoniker, Oper und Ballet

So wird sich – wie die Theater-Pressestelle mitteilt – in der Spielzeit 2020/21 bei den Konzerten der Dortmunder Philharmoniker alles um das Verhältnis zwischen Mann und Frau drehen.

Das Motto der Spielzeit lautet „Im Rausch der Gefühle“. Ergänzend heißt es, die berühmtesten Paare der Weltliteratur, wie Romeo und Julia, Othello und Desdemona, Orpheus und Eurydike sowie Tristan und Isolde, hätten die Komponisten zu großartigen Orchesterwerken inspiriert.

Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar sei, könne es ggf. noch zu „Anpassungen“ kommen.

Textversion des Spielplans unter: www.tdo.li/tdo2021

Generalmusikdirektor Gabriel Feltz erläutert den Spielplan 2020/21, hier ist der Link, der auch zur Präsentation des Opern-Spielplans (durch Opernchef Heribert Germeshausen) und des Balletts (durch Ballettchef Xin Peng Wang) führt: https://www.theaterdo.de/medien/videos/spielzeit-2021/

Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) Dortmund startet mit neun Neuproduktionen und neun Wiederaufnahmen in die neue Spielzeit 2020/21. Als Motto hat sich KJT-Direktor Andreas Gruhn mit seinem Team den „Freien Fall“ gesetzt. In einer Welt, in der politische Systeme ins Wanken geraten und die Natur zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät, scheint sich die Abwärtsspirale immer schneller zu drehen. Aus dem Unglück des Fallens können aber auch ungeahnte Möglichkeiten wachsen.

Auch beim KJT heißt es: „Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar ist, kann es ggf. zu Anpassungen kommen.“

Printversion des Spielplans unter www.tdo.li/tdo2021
Video mit Andreas Gruhn unter www.theaterdo.de/publikationen/videos

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Auch das Konzerthaus Dortmund präsentiert das Programm der nächsten Saison auf digitalem Weg:

In einem Video erläutert Intendant Raphael von Hoensbroech, welche hörenswerten Künstler und Konzerte ab September in der Spielzeit 2020/21 zu erwarten sind. Hoensbroech lädt daher zu einem virtuellen kleinen Ausflug ins Konzerthaus.

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Dortmunds neues Literaturstipendium um drei Monate verschoben:

Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“, Judith Kuckart, wird aufgrund der Corona-Krise erst ab August 2020 für sechs Monate nach Dortmund kommen. Ursprünglich hatte sie ihr Stipendium im Mai antreten wollen. Ihre für den 15. Mai geplante Auftaktlesung im Literaturhaus soll trotzdem stattfinden – allerdings ohne Live-Publikum: Das Literaturhaus am Neuen Graben zeigt die Lesung aus dem aktuellen Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ online am 15. Mai 2020 ab 19.30 Uhr (weitere Infos unter www.literaturhaus-dortmund.de).

Neues Konzertformat „Musik auf Rädern“

Am Dienstag, 5. Mai 2020, startet das Theater Dortmund das der Corona-Pandemie angepasste Konzertformat „Musik auf Rädern“. An verschiedenen Standorten in Dortmund werden die Oper Dortmund und die Dortmunder Philharmoniker jeweils um 16 Uhr kleine Live-Konzerte von ca. 20 Minuten Dauer geben. Die Abstandsregelungen werden dabei eingehalten. Mit dem Programm kommt das Theater Dortmund vor allem zu den Menschen, die aufgrund ihrer Identifizierung als „Risikogruppe“ besonders in ihrem Bewegungsfreiraum eingeschränkt sind. Der erste Auftritt findet mit der Sopranistin Irina Simmes vor dem Seniorenwohnsitz „Kreuzviertel“ 44139 Dortmund-Kreuzviertel, Kreuzstraße 68 / Ecke Lindemannstraße statt.

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Eröffnungsfest im Naturmuseum fällt aus

Die für den 7. Juni geplante große Wiedereröffnung des Naturmuseums nach Jahren des Umbaus fällt aus. Die neue Dauerausstellung soll voraussichtlich im September eröffnen.

„Robin Hood“-Schau bis 20. September

Das derzeit noch geschlossene Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße verlängert seine ursprünglich bis Mitte April geplante Familienausstellung „Robin Hood“ bis zum 20. September.

„Studio 54″ vorerst nicht in Dortmund

Das „Dortmunder U“ kann die ab 14. August geplante Ausstellung „Studio 54″ (Übernahme aus dem Brooklyn Museum) über den legendären New Yorker Nachtclub in diesem Jahr nicht mehr zeigen.

Diesmal kein Micro!Festival

Das Micro!Festival, das sonst immer am letzten Wochenende der Sommerferien stattfand, fällt in diesem Jahr komplett aus.

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Blicke in die anderen Städte des Ruhrgebiets:

2020 keine Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale wird 2020 nicht stattfinden. Der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH hat diesen Beschluss einstimmig gefasst. Das Festival hätte vom 14. August bis zum 20. September stattfinden sollen. Rund 700 Künstlerinnen und Künstler aus 40 Ländern wären an den 33 Produktionen und Projekten beteiligt gewesen. Sowohl die Intendantin Stefanie Carp als auch Ko-Intendant Christoph Marthaler haben Unverständnis über diese Entscheidung geäußert.

ExtraSchicht fällt ebenfalls aus

Auch die ExtraSchicht muss wegen Corona ausfallen. Die Nacht der Industriekultur hätte am 27. Juni zum 20. Mal die Metropole Ruhr bespielen sollen.
Die Ruhr Tourismus GmbH (RTG) hatte bis zum letzten Moment an Alternativkonzepten gearbeitet. Die Durchführung einer Veranstaltung Ende Juni mit über 250.000 Besuchern sei aber derzeit nicht verantwortbar, so die RTG. Eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt in diesem Jahr sei wegen des großen organisatorischen Aufwandes nicht möglich. Das Geld für bereits erworbene Tickets wird zurückerstattet. Mehr Infos unter www.extraschicht.de.

„Mord am Hellweg“ auf Herbst 2021 verschoben

Die zehnte Ausgabe des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ (Zentrale in Unna) wird um ein Jahr verschoben. Die für diesen Herbst geplante Jubiläumsausgabe wird auf die Zeit vom 18. September bis 13. November 2021 verlegt. Weitere Infos unter www.mordamhellweg.de

Moers Festival diesmal rein digital

Auch das renommierte Moers Festival (29. Mai bis 1. Juni) geht diesmal als digitales Festival über die Bühne. Die Konzerte werden als Livestream auf der Website, bei Facebook und bei Arte concert gezeigt. WDR 3 wird wie gewohnt übertragen.
Infos: www.moers-festival.de

Wittener Tage für Neue Kammermusik nur im Radio

Die Wittener Tage für Neue Kammermusik (24. bis 26. April 2020) haben sich ebenfalls umgestellt: In diesem Jahr kamen die Konzerte ausschließlich übers Radio. WDR 3 richtete das Festival als exklusives Hörfunk-Ereignis aus.
Infos unter www.wdr3.de und www.kulturforum-witten.de

Klangkunst in Marl als virtuelle Führung

Das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl zeigt seine Klangkunst-Ausstellung diesmal per Video: „sound + space“ von Johannes S. Sistermanns und Pierre-Laurent Cassère ist online zu sehen. Im Mittelpunkt der virtuellen Führung steht ein Gespräch des Museumsdirektors Georg Elben mit dem Klangkünstler Sistermanns. Das Video ist auf der städtischen Internetseite unter www.marl.de und demnächst mit weiteren Informationen auch unter www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de zu sehen.

Impulse Theater-Festival fällt aus

Das Theater-Festival „Impulse“, das vom 4. bis 14. Juni hätte stattfinden sollen, ist abgesagt worden – besonders schmerzlich, weil zum 30-jährigen Bestehen des Festivals einige besondere Programme geplant waren. Bestimmte Teile sollen als digitale Formate im ursprünglich geplanten Festival-Zeitraum online gezeigt werden. Details dazu demnächst unter: www.impulsefestival.de

Theater Oberhausen: „Die Pest“ als Miniserie im Netz

Das Oberhausener Theater zeigt eine Bühnenbearbeitung nach Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ als Miniserie in fünf Episoden. Gezeigt wird die Serie im Internet ab Samstag, 2. Mai, dann weiter wöchentlich, jeweils ab 19.30 Uhr. Weitere Infos: www.die-pest.de

3Sat zeigt Bochumer „Hamlet“ – jetzt via Mediathek

Im Rahmen seiner Reihe „Starke Stücke“ zeigt der TV-Sender 3Sat am Samstag, 2. Mai., um 20.15 Uhr eine Aufzeichnung von Johan Simons‘ Bochumer „Hamlet“-Inszenierung. Bis zum 30. Juli 2020 bleibt die Inszenierung in der Mediathek von 3Sat greifbar.

Auch hierhin würden Theaterfans im Revier gern wieder pilgern: Schauspielhaus Bochum. (Foto: Bernd Berke)




Von Sarah Kirsch bis Samuel Beckett – ein paar Buchhinweise für gedehnte, gestauchte und gewöhnliche Tage

Hier noch vier kurze Lektüre-Hinweise, nicht nur für die weiterhin womöglich etwas längeren Tage ohne Restaurantbesuche, Live-Konzerte, Theaterabende, echte Kinoerlebnisse (nix Netflix) etc.; zumal heute auch noch der „Welttag des Buches“ begangen wird:

Dichterische Dachbodenfunde

Politisches, Privates und Naturerfahrung hat die Dichterin Sarah Kirsch (1935-2013) schon seit jeher subtil und wechselwirksam miteinander verwoben. Davon zeugt auch der posthume Band mit dem lapidaren Titel „Freie Verse“, der u. a. auch neunzehn bisher unveröffentlichte Gedichte enthält, die tatsächlich auf einem Dachboden entdeckt worden sind und dem bislang bekannten Werk noch einmal neue Nuancen hinzufügen.

Es gibt hier zwar idyllische Momente, aber es sind beileibe keine naiven Idyllen. In den insgesamt 99 Gedichten zeigt sich wieder und wieder, dass und wie die Gesellschaft Menschen und Natur zutiefst prägt, so dass man zwar widerstehen, aber niemals ganz entkommen kann. Derlei Befunde erschöpfen sich allerdings niemals in bloßer Feststellung, sondern sie werden in poetischen Fügungen ästhetisches Ereignis.

Nur ein wortkarges Beispiel:

Epitaph

Ging in Güllewiesen als sei es
Das Paradies beinahe verloren im
Märzen der Bauer hatte im
Herbst sich erhängt.

Sarah Kirsch: „Freie Verse“. Manesse. 126 Seiten, 20 Euro.

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Briefwechsel Kirsch / Wolf

…und noch einmal Sarah Kirsch, diesmal in nahezu 30 Jahre umfassenden Briefwechsel-Dialogen mit Christa Wolf (1929-2011). Zwei herausragende weibliche Stimmen aus der einstigen DDR also, beide Trägerinnern der vielleicht renommiertesten aller deutschen literarischen Auszeichnungen, des Georg-Büchner-Preises. Und doch so verschiedene Charaktere…

Von 1962 bis 1992 spannt sich der Bogen der persönlichen und postalischen Begegnungen sowie der politischen Auseinandersetzungen, also über die Jahre der deutsch-deutschen „Wende“ hinaus. In den ideologischen Wirrnissen jener Jahre haben sich beide geistig auseinandergelebt. Auch das dokumentiert dieser (reichlich mit Anmerkungen, Bibliographie und Register versehene) Band ebenso lehrreich wie schmerzlich.

Sarah Kirsch / Christa Wolf: „Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt. Der Briefwechsel“. Suhrkamp, 438 Seiten. 32 Euro.

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Durch eine gespenstische Welt

Die Sonne schien, da sie keine Wahl hatte, auf nichts Neues.“ So lautet ein berühmtes und charakteristisches Zitat von Samuel Beckett. Auch in seinem Werk dürfte es nichts Unbekanntes mehr zu entdecken geben. Oder etwa doch?

Nun, es gibt eine Erzählung von 1933, die erst 2014 auf Englisch und nun auf Deutsch veröffentlicht worden ist. Im Ursprungsjahr war der Text, der eigentlich als Ergänzung zu „Mehr Prügel als Flügel“ („More Pricks Than Kicks“) gedacht war, dem Lektor gar zu chaotisch vorgekommen.

Das Werk des damals 27jährigen Beckett heißt „Echo Knochen“ (Original „Echo’s Bones“) und ist in der Tat alles andere als eine eingängige Lektüre. Diese überaus anspielungsreiche Prosa erlaubt aber gleichsam einen Blick ins frühe Werden des Beckettschen Themen- und Figureninventars. Wie der Übersetzer Chris Hirte im Nachwort verrät, hatte er seine liebe Not mit diesem ungeheuren Text, der – mit vielen Bruchlinien – durch eine wirre Traum- und Gespensterwelt führt. Empfehlenswert für wahre und mit beharrlicher Geduld gesegnete Beckett-Exegeten bzw. überhaupt für avancierte literarische Tüftler.

Samuel Beckett: „Echos Knochen“. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Mark Nixon, Übersetzung aus dem Englischen und ein Nachwort von Chris Hirte. Suhrkamp Verlag, 123 Seiten, 24 Euro. 

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Auf die Freuden des Lebens

Ehrlich gesagt: Das große Gewese um Wiglaf Droste (1961-2019) habe ich nie so ganz verstanden. Was er geschaffen hat, ist sicherlich schätzenswert, aber nach meiner Auffassung doch nicht so herausragend und kultverdächtig, wie viele zu meinen scheinen. Ich persönlich würde (je nach Stimmungslage) im komischen Genre andere Hochbegabungen vorziehen – allen voran Max Goldt. Aber das ist nun meine Sache.

Egal. Droste hatte und hat nun mal seine Fangemeinde und vor allem der sei der pralle Gedichtband „Tisch und Bett“ ans Herz gelegt. Die Lyrik aus den letzten Jahren seines allzu kurzen Lebens erweist sich vorwiegend als Lob der guten Dinge auf Erden, es sind freilich unfeierliche Strophen auf die Freuden des sinnlichen Daseins. Und gegen solche Diesseitigkeit ist ja nun wirklich nichts einzuwenden.

Wiglaf Droste: „Tisch und Bett“. Gedichte. Verlag Antje Kunstmann. 256 Seiten. 18 Euro.

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P. S.: Und bitte daran denken: Kauft oder kaufen Sie nach Möglichkeit am Ort. Unterstützt den lokalen Buchhandel. Gerade jetzt. Versprochen?




Die milde Form der Rache: Peter Handkes Geschichte „Das zweite Schwert“

„Auf zum Rachefeldzug, zu führen von mir als Einzelperson.“ So ermuntert sich selbst, vor dem Spiegel einen vielleicht bedrohlichen Singsang vollführend, das literarische Ich in Peter Handkes „Das zweite Schwert“. Was geht da vor sich? Droht tödliche Gefahr?

Man erschrickt unwillkürlich. Will der Literaturnobelpreisträger Handke (der sich in etlichen Passagen – kaum verhüllt – hinter dem Erzähler verbirgt) etwa noch einmal zum Rundumschlag gegen alle verhassten Widersacher in der unseligen Serbien-Debatte ausholen, will er sie final demütigen oder gar verbal erledigen; setzt er noch einmal zu einer „Publikumsbeschimpfung“ an? Oh nein, so platt geht es hier gewiss nicht zu! Vielmehr scheint abermals alles den Bewegungsgesetzen des mal mäandernden, mal stockenden, aber nie versiegenden Erzählflusses an sich zu folgen.

So viele Kommata! So viele Einschübe! So viele Gedankenstriche! All die Sätze sind eben nicht einfach da, sie müssen vielfach errungen werden, um manchmal zu erstrahlen. Obgleich es vermeintlich um dringliche „Rache“ geht, ergeht sich Handke zumeist und zunehmend in einer äußerst sanftmütigen und zartsinnigen Sprache, mit geradezu flehentlichen Aufrufen an sich selbst und an die Leserschaft: „Wieder siehe!“ – „Und hör“ – „Und da schau her“ – „Und so hör doch…“ Der Erzählende schreitet erneut auf den Pfaden der wahren Empfindung; es geht um genaueste, einlässlichste Wahrnehmung.

Diese ungeahnte „Ortsfreude“

Die Geschichte, in der äußerlich nicht allzu viel (oder aber alles) geschieht, spielt weiter draußen vor den Toren von Paris, in der Ferienzeit zwischen Ostern und Anfang Mai. Sie heißt denn auch im Untertitel „Eine Maigeschichte“. Der Erzähler ist für eine Zeit zurückgekehrt in sein abgelegenes vorstädtisches Domizil, er registriert dabei eine ungeahnte „Ortsfreude“, fühlt sich heimisch wie selten zuvor.

Wir vernehmen fortan das Lob der kleinen, unscheinbaren Dinge, Leute und Verhältnisse. In Betracht kommen verschiedene Formen des Grillrauchs, Wäscheleinen („steckvoll“), aber auch abendliche Aufenthalte in der nahen Bar, auf ihre bescheidene, unauffällige Art bemerkenswerte Menschen aus der Nachbarschaft. Bei all dem verspürt der Ich-Erzähler eine namenlose Freude am Nichtstun. Er betont, dass er kein (angestrengter) Betrachter und Beobachter sein wolle. Es ist ihm um ein absichtsloses Gewahrwerden zu tun – wie in einem Wachtraum.

Nicht „gleichsam“ und nicht „sozusagen“

Immer und immer wieder verleiht Handke mit seinen Lieblingswendungen sanften Nachdruck: „Noch und noch“ heißt es da beispielsweise. Oder „nicht und nicht“. Oder „oft und oft“. Demgegenüber hin und wieder auch Formeln des Offenlassens: „oder was das war…“ – „oder so…“ Hingegen ermahnt er sich häufig selbst, unscharfe Worte wie „gleichsam“ oder „sozusagen“ zu vermeiden. „Nicht dieses Wort…“

In einem jener Bar-Gespräche wird offenbar erwogen, zu Rachezwecken einen Killer anzuheuern. Denn da war eine Journalistin, die vor längerer Zeit die Mutter des Erzählers zutiefst und unauslöschlich beleidigt hat – mit der Unterstellung, die Mutter habe „damals“ die NS-Machthaber bejubelt und in Österreich willkommen geheißen. Ist der Sohn also, gefährlich bewaffnet, unterwegs zu jener Schreiberin? Und wie könnte man seine zwiegespaltene Geistesverfassung nennen? Vielleicht ein hellsichtiges Brüten?

Im Schreiben bleibe alles friedlich

Dann jedoch wieder die beinahe zaghafte Selbstbefragung in Sachen Gewalt. Ja, es habe in seinem Leben gewaltsame Taten gegeben, auch gewaltsam gesprochene Worte, aber nie geschriebene. „Seit jeher war mir solch ein Schreiben, Aufschreiben, Schriftlichwerden tabu.“ Die Literatur, das Schreiben überhaupt als Bezirk des Friedens, der Streitlosigkeit.

Die Erzählung mündet in ein langsames, aufmerksames Unterwegssein, vorwiegend mit einer neuen Vorort-Tram, die streckenweise unterirdisch fährt – durch eine Gegend, die vordem dschungelhafte Heimstatt einer geheimnisvollen Schlange gewesen ist, was archaisch und nahezu biblisch anmutet; wie denn auch der Titel des Buches auf einen Abschnitt im Lukas-Evangelium zurückgeht, der Handke als Vorspruch dient.

Von Eric Burdon zu Blaise Pascal

Und welche geheimnisvollen Szenen sich nun begeben – in dieser Bahn mit ihren seltsamen Passagieren. Ihr Dasein erscheint wie ein traumnahes Lebenstheater, es geschieht einfach. Und wie nun vieles fließend ineinander übergeht: der Dialog mit einem Taxifahrer über den Rocksänger Eric Burdon („When I Was Young“), ein geradezu andächtiger Tages-Aufenthalt in Port-Royal, nicht zuletzt in Gedanken an den Philosophen Blaise Pascal, dem Langeweile als die schändlichste Todesart gegolten habe. Ferner die Reflexion über das unverzeihliche Verbrechen des Rechtsmissbrauchs, des Übertreibens der eigenen Rechte („ohne jeden Milderungsgrund“). Überdies das Abwägen der (vom Erzähler eingestandenermaßen oft ignorierten) Menschheits-Katastrophen mit dem Überleben der Maikäfer… Und was der vielfältigen Dinge mehr sind. Wahrlich ein „Heiliges Durcheinander“, wie es einmal heißt.

In Wohlgefallen aufgelöst

Auch Port-Royal gerät zur Heimkehr: „Jetzt hatte ich ihn, meinen Platz, meinen Jetztplatz!“ Anflüge von Menschenscheu und Menschenhass scheinen sich im Erzählvorgang zusehends zu lindern, scheinen irgendwann umzuschlagen in eine milde, so ziemlich alles gelten lassende Betrachtungsweise. Der Zorn hat sich, wie man ehedem zu sagen pflegte, allmählich in Wohlgefallen aufgelöst. Hat sich damit gar alle Rache erübrigt? Nicht ganz. Aber sie hat sich grundlegend gewandelt.

Um in Handkes Manier zu reden: Und siehe, der Frau, die den Rachezorn auf sich gezogen hatte, wird schließlich schlichtweg kein Platz in der Geschichte gewährt: „Und das war meine Rache. Das war und ist Rache genug.“ Und auch das besagte Schwert war keineswegs aus Stahl, denn es war ja „das zweite Schwert“, jenes ganz andere…

Peter Handke: „Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte“. Suhrkamp Verlag, 160 Seiten. 20 €.

 




Zum Beispiel Dortmund und Bochum: Nach Bühnenschließungen jetzt Theater-Angebote im Netz

Auch „Green Frankenstein“ kommt als Film ins Internet: Szenenbild aus der Dortmunder Inszenierung von Jörg Buttgereit. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Die Bühnen lassen sich in der Corona-Krise notgedrungen einiges einfallen, um trotz der Theaterschließungen noch präsent zu sein, und zwar im Internet. Hier nur zwei Beispiele aus der Region, ansonsten am besten mal das oder die Lieblingstheater (bzw. Opern, Konzertstätten, Museen etc.) im Netz aufrufen und schauen, was sich dort so tut…

Das Schauspiel Dortmund hat seinen Spielplan sozusagen ins Netz verlagert und zeigt – als vielfaches Déjà-vu – eine kleine Retrospektive von Produktionen aus den letzten zehn Jahren. Täglich ab 18 Uhr geht eine weitere Inszenierung für mindestens 24 Stunden online. Gestartet wurde das Projekt gestern (23. März) mit Jörg Buttgereits Inszenierung „Green Frankenstein“ aus dem Jahr 2011. In dem Live-Hörspiel geht es um ein riesiges Monster, das Fischerboote angreift, um radioaktiv mutierte Wesen und allerlei bizarre Vorkommnisse. Der zweite Teil der Inszenierung (Titel: „Sexmonster“) soll in einer Woche folgen. All das ist zu finden unter www.tdo.li/dejavu oder via Theater-Homepage: www.theaterdo.de

Das Schauspielhaus Bochum startet unterdessen heute (24. März) ein neues Videoblog. Unter dem Titel „Schauspielhaus #HOMESTORIES“ produzieren Ensemblemitglieder täglich ein neues Video mit literarischen Texten, Monologen, Gedichten und Geschichten.

Video-Still: Bochumer Ensemblemitglied Dominik Dos-Reis beim Dreh seiner Homestory in den eigenen vier Wänden. (© Schauspielhaus Bochum / Dominik Dos-Reis)

Die Aufnahmen entstehen jeweils in der eigenen Wohnung der Darsteller(innen) mit der Handy-Kamera. Man darf also wohl – rein technisch besehen – keine Kino-Qualität erwarten. Inspirationsquellen der Videos sind der Bochumer Spielplan, aber auch diverse Ereignisse in der Welt. U. a. werden angekündigt: Kurzgeschichten von Tschechow, Auszüge aus Shakespeares „Hamlet“ (als Lesung) sowie Texte von Horváth, Kleist, Thomas Bernhard, Jandl, Jelinek, Susan Sontag usw. Für Kinder soll es in den nächsten Tagen ein Extra-Angebot geben. Das Videoblog wird täglich gegen 13 Uhr (Kinder-Reihe) und 18 Uhr aktualisiert, es ist auf der Theater-Homepage und über die Bochumer Schauspielhaus-Kanäle der wichtigsten sozialen Netzwerke zu sehen: www.schauspielhausbochum.de

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Weitere Online-Angebote u. a. bei:

„Theater total“, Bochum (www.theatertotal.de)

Theater Hagen (www.theaterhagen.de)

Acht freie Theater in Essen (Facebook- und Instagra-Profile der jeweiligen Bühnen): Das Kleine Theater Essen, only connect., Rü-Bühne, Studio-Bühne Essen, Theater Courage, Theater Essen-Süd, Theater Freudenhaus, Theater THESTH.

LWL-Archäologiemuseum Herne und LWL-Römermuseum Haltern (virtuelle Rundgänge)




„Die Vertreibung aus der Hölle“ – Viel weiter als in Robert Menasses Roman könnte das Paradies kaum entfernt sein

Robert Menasse hat vor knapp 20 Jahren anlässlich des Erscheinens seines Romans „Die Vertreibung aus der Hölle“ einen Satz gesagt, dessen bittere Wahrheit auch angesichts der Corona-Pandemie zutreffend bleibt: „Im Buch geht es aber nicht vor allem um die Abgründe, sondern eher darum, wie unernst wir uns verhalten, wenn wir in die Abgründe schauen.“

Ein Satz, den Menasse damals jedoch nicht auf den Umgang des Menschen mit Natur oder Naturgeschichte münzte, sondern auf menschliche Geschichte – und ihn also so fortsetzte: Es gehe auch darum, wie „wir mit Geschichte umgehen, wie wir sie missbrauchen, was wir vorgeben aus ihr gelernt zu haben, was wir uns weigern aus ihr zu lernen, wie wir sie oft hilflos nachspielen.“

Unheils-Geschichte mit Lichtblicken

Die neuerliche Lektüre des – paradox gesagt – Menasse’schen historischen Gegenwartsromans bestätigt den damaligen Leseeindruck. Menasses Erzählen, sein literarisches Vexierspiel erschreckt, rührt an, lehrt und unterhält immer noch. Schmerzhaft reich ist der Roman an Unheils-Geschichten und Fakten, reich an Figuren, Menschen und Unmenschen, komplex und voller doppelter, dreifacher Böden.

Menasse erzählt da einmal die Geschichte um den Jungen Manoel Dias Soeira. Manoel ist Sohn zwangsgetaufter Neuchristen, sog. Marranen, die Anfang des 17. Jahrhunderts im Königreich Portugal und inmitten der Inquisition ihr heimliches Judentum praktizieren, verfolgt, gefoltert werden und nach Amsterdam flüchten müssen, wo Manoel als Samuel Manasseh zum angesehenen Rabbi und sogar zum Lehrer Baruch de Spinozas wird.

Was ist bloß aus uns geworden? Wer waren die, die unsere Lehrer waren?

Und dann gibt es die Handlung um den in der Gegenwart lebenden Historiker Viktor Abravanel, der ein Klassentreffen 25 Jahre nach der Matura platzen lässt, weil er NSDAP-Mitgliedsnummern der ehemaligen Lehrer verliest und sich danach im Gespräch mit einer einstigen Angebeteten vergeblich seiner eigenen Kindheit und Jugend zu vergewissern sucht. Viktor ist Kind von Nazi-Opfern und auf dem Weg zu einem Vortrag in Amsterdam, der den Titel tragen soll: „Wer war Spinozas Lehrer?“ – die Verbindungen zwischen Manoel und Viktor werden hier das erste Mal angedeutet.  Und wie Viktor wird uns auch Manoel zunächst über eine von ihm begangene Provokation, einen Tabubruch vorgestellt, dessen Folgen er nicht mehr unter Kontrolle hat.

Der Roman beginnt mit einer grotesken Szene, einem Trauerzug mordlustiger Bürger und der Inquisition im Städtchen Vila dos Começos, inszenierter Marsch eines antisemitischen Mobs, der eine zuvor vom achtjährigen Manoel gekreuzigte Katze zu Grabe trägt. Mit der symbolisch-antichristlichen wie boshaften Kreuzigung hatte sich Manoel zuvor für die Verhaftung des Vaters durchs Heilige Offizium rächen wollen.

Zersplittertes Leben

Robert Menasse komponiert die zum Roman geschnürten Bündel Lebenssplitter der beiden Antihelden Manoel und Viktor ebenso kunstvoll wie die Brüche in ihren Biografien, wie die Opfer-, Mitläufer- oder Tätermomente in ihrer beider Romanleben. Stimmungen, Figuren und Motive gehen ineinander über, ganze Sätze tauchen in beiden Handlungssträngen auf. Seite für Seite wird deutlicher, wie gekonnt Robert Menasse zwei Erzählebenen zu einem eigenwilligen durchgehenden Text über zwei Leben und Zeiten verknüpft.
Die drei Erzählperspektiven eines wissenden Erzählers, des Viktor Abravanel und Samuel Manasseh erlauben dem Autor dabei, ein Spiel mit Tragik und Frechheit, Komik und Formen des Wahns, mit Angst & Ängstlichkeit, Doppelleben und Identitätsverlust. Oft beiläufig, aber nie nebenbei wird das Ungeheuerliche erzählt, kleine und große Katastrophen ebenso wie das Scheitern im Alltag.

Der gemachte Jude

Mit den Figuren der Familien Soeira/Manasseh und Abravanel thematisiert Robert Menasse traumatische Verfolgungs- und Überlebensgeschichten. Immer wieder spürt er den pathologischen Beziehungsstrukturen von Juden und Andersgläubigen nach. Dabei wird eins zunehmend deutlicher: Es ist die Wahrnehmung der jeweils anderen, die einen erst – mehr als man es sich selbst wünschen kann und will – zum Juden macht. Um die bohrenden Blicke der anderen etwas weniger schmerzhaft zu erleben, tut man ihnen den Gefallen und verbiegt sich, versteckt sich, verleugnet sich, ohne dadurch dem Hass, auch dem auf andere und sich selbst entgehen zu können.

In Kürzestgeschichten und Personenportraits schreibt der Autor so vom trostlos-tragischen Leben zweier jüngerer Verlorener, die keine Verlierer sein wollen. Er zeigt uns aber auch die Innenansichten der älter gewordenen Außenseiter, die sich hinter Zynismus oder in ihrer Verzweiflung verstecken, weil sie ihre Einsamkeit kaum auszuhalten vermögen.

Kein Judentum, nur Judentümer

Wie ist und war es, als Mensch jüdischer Herkunft oder Glaubens inmitten oder ‚unter’ der Mehrheit zu leben? Der Text handelt von Fremdenfeindlichkeit, von offener und öffentlicher Brutalität und Fanatismus, aber eben auch von der utopischen Möglichkeit der Selbstbehauptung, des kritischen Denkens, den Versuchen zivilen Ungehorsams, die oft genug nur noch lächerlich scheinen und kläglich enden.

Der Rabbiner Leo Baeck hat einmal gesagt, es gebe kein Judentum, nur Judentümer. Und so viele Judentümer es gibt, so viele Abgrenzungen davon und Auseinandersetzungen damit gibt es auch, so viel Pluralität jüdischen Lebens so viele Möglichkeiten, ein subjektives Verhältnis zum Judentum zu leben.
Es ist Teil des literarischen Projektes zeitgenössischer mit dem Judentum verbundener Schriftstellerinnen und Schriftsteller, jüdische Identität immer neu zu reflektieren, zu entdecken oder zu entwerfen. In Robert Menasses Roman als subversiver Rekonstruktion oder Rückprojektion dessen, was vielleicht gewesen sein könnte, scheinen seine Recherchen und Fantasien zu Juden in Portugal, Amsterdam und Österreich, zu Manasseh und Abravanel vor allem zu sagen, dass überhaupt nicht sicher ist, wie man sich das vorstellen muss: Geschichte, Heimat, Fremde, Identität und Ich, Liebe oder Hass.

Hölle und Paradies – zwei Seiten derselben falschen Münze?

2001 bei einem Leseabend im Jüdischen Museum in Dorsten hat die damalige Leiterin, die Ursulinen-Schwester Johanna, als Moderatorin die Frage gestellt, wohin man denn eigentlich gelange, wenn man aus der Hölle vertrieben werde? Gute Frage. Und: Nein, Robert Menasses Antwort darauf werde ich nicht verraten. Sein Roman „Die Vertreibung aus der Hölle“ selbst dürfte sowieso die beste (weil komplexe) Antwort darauf sein.

Auf dem Rückseitencover meines Roman-Exemplars findet sich in zwei sarkastischen Sätzen immerhin eine Spur: „Die Hölle erkennen wir immer erst rückblickend. Nach der Vertreibung. Solange wir in ihr schmoren, reden wir von Heimat.“ Nach der Vertreibung aus der Hölle all dessen, was wir Heimat nennen, kämen also erst einmal das Elend und Glück der Erkenntnis? Das Paradies – so viel weiß ich aus eigener Erfahrung – wäre das jedoch ganz und gar nicht, auch wenn gelegentlich beim Nachdenken der Himmel aufreißt.

Robert Menasse: „Die Vertreibung aus der Hölle“. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001. 493 Seiten, Hardcover.




Gerechtigkeit ist dem Schicksal fremd: „Kleiner Mann – was nun?“ nach Hans Fallada am Grillo-Theater Essen

Stefan Migge, Silvia Weiskopf, Philipp Noack (im Hintergrund) in der Inszenierung „Kleiner Mann – was nun?“ nach dem Roman von Hans Fallada – in einer Bühnenfassung von Thomas Ladwig und Vera Ring am Grillo Theater Essen. (Foto: Birgit Hupfeld)

Der Titel des Romans von Hans Fallada stellt eine Frage. Am Ende wird sie beantwortet durch die Liebe. Nicht durch politische Analyse, philosophische Systemkritik oder Revolution. In der letzten Premiere im Großen Haus vor der durch den Corona-Virus erzwungenen Spielpause zeigte das Essener Grillo-Theater Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ in einer Adaption durch Regisseur Thomas Ladwig und Dramaturgin Vera Ring.

Was nun? Die Frage stellt sich für das junge Paar Johannes und Emma Pinneberg von Anfang an, als der noch ungeborene „Murkel“ eine überstürzte Heirat erzwingt. Zum Überleben reicht’s gerade so, aber Verlust der Arbeit, Verlust der Wohnung und geplatzte Träume von einer halbwegs auskömmlichen Existenz im Großstadtdschungel von Berlin lassen die jungen Leute mit ihrem Baby immer weiter nach unten rutschen.

Das Ende bleibt offen. Hans Falladas unbestechliche Beobachtung des Abstiegs hält einfach inne. Ist die Laube vor der Toren Berlins und die gesellschaftliche Ausgrenzung Pinnebergs die letzte Station? Oder geschieht, wie zwischendrin öfter, ein kleines Wunder? Kommt jemand vorbei wie Herr Jachmann oder der FKK-Anhänger und Verkäuferkollege Heilbutt, der irgendwie, irgendwo die Tür einen Spalt weit öffnet und wenigstens das Überleben möglich macht? Wir wissen es nicht.

Zusammenbruch als bürgerliches Subjekt

Fallada ist kein Brecht. Ihm geht es nicht um Entlarvung eines Systems, sondern um den Einzelnen im System. Was wir erfahren ist, dass die Liebe die Chance gibt, weiterzumachen. Nicht im Sinne des romantischen großen Gefühls, sondern als ein Wille, zusammenzustehen, sich der Ohnmacht entgegenzustemmen, sich zu weigern, einen bedrückenden Alltag als finales Lebensschicksal anzuerkennen. Sie seien doch anständige Leute, sagt Frau Pinneberg, das „Lämmchen“; da dürfte es ihnen doch eigentlich nicht schlecht gehen. Aber diese Art Gerechtigkeit ist dem Schicksal fremd.

Bei Fallada gibt es glückliche Zufälle, aber keinen Gott, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Über alle walzen die großen Entwicklungen hinweg, und die Menschen verstehen nur ansatzweise, was passiert: Könnte man nur einmal eine Zeitung lesen, klagt Pinneberg irgendwann. Für ihn ist der Zusammenbruch als bürgerliches Subjekt, als Mitglied der Gesellschaft besiegelt, als ihn ein Polizist in der noblen Friedrichstraße von den Schaufenstern wegjagt: Stefan Migge macht mit bedrückend gewebter Empathie für seine Rolle deutlich, dass für den Arbeitslosen damit eine innere Welt zerstört wird, die seinem Leben, seinem Überleben bisher noch einen Rest von Sinn gegeben hatte.

Diese Geschichte von Abstieg und unverdrossenem Aufbäumen dagegen ist auch eine Geschichte starker Frauen. Wie Rieke Busch in Falladas „Ein Mann will nach oben“ ist Emma Pinneberg, geborene Mörschel, kein naives „Lämmchen“. Sie weiß, wie sie ihren „Jungen“ sanft, aber bestimmt immer wieder aufrichten kann, wie sie ihren geraden Weg geht, wie sie zäh am Überleben festhält. Silvia Weiskopf spielt sie zerbrechlich stark, pragmatisch im Alltag, aber treu ihren moralischen Maximen, standfest und sensibel. Erst am Ende, wenn sie eine Treppe in ein Souterrain hinabsteigt, kommt so etwas wie schmerzvolle Resignation auf. Eine Frauenfigur, die Fallada fern jeder Idealisierung, aber mit warmem Herzen entworfen hat, und die Silvia Weiskopf in ihrer anrührenden, bescheidenen Größe mit Distinktion und Herz verkörpert.

Wie in „Klimbim“ durch Leben segeln

Auf ihre Art eine starke Frau ist auch Pinnebergs Mutter Mia, eine Lebedame, die bessere Zeiten gesehen hat, aber beharrlich darauf besteht, die glamouröse Vergangenheit präsent zu halten. Eine Egoistin, der ihr Sohn wenig bedeutet, die mit der Fuchsstola jede Anmutung von Solidarität beiseite weht, die wie dereinst Elisabeth Volkmann in „Klimbim“ durchs Leben segelt, immer aufs Überleben bedacht. Ines Krug macht das angemessen mondän, wobei sie nicht nur den billigen Kern hinter der geschminkten Fassade sichtbar werden lässt, sondern auch die verzweifelt nach Zuneigung gierenden Seiten dieser alternden Frau nicht verleugnet, die auf tiefere Seelenschichten verweisen. Ines Krug ist auch Mutter Mörschel: eine gnadenlos realistische, abgearbeitete Frau aus dem Arbeitermilieu, auf das ihr Mann (Jan Pröhl) einen irrational verbissenen Stolz entwickelt hat – auch einer der Anker, die eine Gestalt am Rand der Gesellschaft noch am Leben hält.

Jan Pröhl zeigt seine Verwandlungskunst auch als Jachmann, eine zwielichtige Figur, der man dennoch eine Prise von Herzensgüte abnimmt. Als Kleinholz, Geschäftsmann im Landstädtchen Ducherow, quält Pröhl mit sadistischer Energie seine Angestellten. Der Verkäufer Heilbutt dagegen ist für seinen Kollegen Pinneberg im noblen Warenhaus Mandel wie ein barmherziger Samariter: Fallada führt an dieser Figur vor, wie ein Mensch mit Hilfe bigotter moralischer Empörung aus der Gesellschaft des „Normalen“ ausgestoßen wird: Stefan Diekmann spielt diesen abgeklärten Menschen facettenreich, lässt auch Homophobie und Antisemitismus anklingen – Motive, die aber nicht weiter ausgeführt werden.

Deformation des Menschen durch ein übermächtiges System

Ladwigs Inszenierung verlangsamt und konzentriert sich, wenn sich die apsisförmige Bühne von Ulrich Leitner mit dem rohen Holz ihrer Streben, Treppen und Galerien zum Kauftempel verwandelt. In diesem Raum wird verhandelt, was Fallada hauptsächlich interessiert hat, die Deformation des Menschen durch ein übermächtiges ökonomisches System. Ihm fällt der verzweifelt seinem Verkaufssoll hinterherhechelnde Pinneberg zum Opfer.

Die unbarmherzigen Gesetze lassen sich aber auch benützen, etwa um den Nonkonformisten Heilbutt zu entfernen, oder um in einem erniedrigenden Tribunal die Verkäuferin Fräulein Fischer (grandios in ihrer Hilflosigkeit: Lene Dax) systematisch fertig zu machen. Keine anonymen Kräfte sind da am Werk, sie haben ein Gesicht: Olga Prokot als eiskaltes Karriereweib – auch eine Facette der „starken“ Frau, Jens Winterstein als soigniert an anderen Schicksalen desinteressierter Chef und Philipp Noack als Empathie heuchelnder Spannfuß gelingen nicht nur als Charakterstudien, sondern lassen die Figuren Falladas unheimlich aktuell wirken.

Nicht nur in diesen Momenten erweist die Bearbeitung ihre Stärken, weil sie sich knapp fokussiert, den Darstellern viel Spielraum lässt und mit distanzierend erläuternden Zitaten aus dem Roman die Handlung immer wieder durchbricht und gleichzeitig weitertreibt. So gelingt dem Grillo-Theater eine tragfähige Alternative zu der bekannten und oft gespielten, 1972 in Bochum uraufgeführten Revue von Tankred Dorst und Peter Zadek, und ein bemerkenswertes Zeitstück zu einer derzeit von Erinnerungs-Hochkonjunktur verwöhnten Epoche, deren elende Ecken und düstere Winkel Hans Fallada mit nüchterner Empathie ausgeleuchtet hat.

Weitere Aufführungen hoffentlich nach der Corona-Schließzeit, die erste geplant am 30. April.
Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/kleiner-mann-was-nun/4482/




Das Leben der Maler: „Kunst sehen“ von Julian Barnes

Durchs Coronavirus sind bekanntlich nicht nur alle Bühnenkünste stillgelegt, auch die Museen und Bildungseinrichtungen sind geschlossen. Uns bleiben aber – mehr denn je! – die Bücher. Daher an dieser Stelle nun öfter dieser oder jener Lesehinweis.

Julian Barnes befasst sich in seinem neuen Buch mit Kunst und – vor allem – mit den Künstlern. Der spannendste Text seines Bandes „Kunst sehen“ handelt von Théodore Géricault und seinem Gemälde „Das Floß der Medusa“. Er leitet (nach einem Vorwort) diesen Band ein und trägt hier den Titel „Aus Katastrophen Kunst machen“. Barnes-Leser kennen ihn bereits als Bestandteil des Romans „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“. Dieser Auszug besteht auch für sich genommen, unabhängig vom Roman. In der Beschreibung des Bildes und seiner vielfältigen Beweggründe scheint nach und nach die gesamte Conditio humana auf. Ein großartiges Stück, das ein großartiges Gemälde aufschlüsselt, aber natürlich nicht völlig „erklären“ kann (was auch gar nicht der Anspruch ist)!

Ein wahrhaft furioser Text, der so gar nicht wichtigtuerisch oder gravitätisch daherkommt. Julian Barnes hat ja auch schon im Vorwort bekannt, dass er im Alter von 12 Jahren noch ein wahrhaftiger Banause gewesen sei, ohne jeden bildungsbürgerlichen Hintergrund, folglich auch ohne Dünkel. Erst ganz allmählich habe er sich den Künsten genähert, anfangs gleichsam von den Rändern her, als einsamer Besucher in eher schäbigen französischen Provinzmuseen. Vielleicht auch von daher sein angenehm unaufgeregter, unaufdringlicher „Plauderton“, der freilich auch ein angelsächsisches Erbteil sein mag.

Nun ist auch der Rest des Buches mancher Ehren wert. Und doch schien mir, als hätte ich mit den ersten Beiträgen schon das Allerbeste gelesen. Die weiteren Kapitel des Sammelbandes sind vorwiegend zuerst in Zeitungsbeilagen und Zeitschriften der Edelsorte erschienen – beispielsweise „Modern Painters“, „Times Literary Supplement“ oder „New York Review of Books“. Sie behandeln Werke und Werkabschnitte von Delacroix, Courbet, Manet, Cézanne, Degas, Redon, Bonnard, Vallotton, Magritte und anderen. Der Schwerpunkt liegt also eindeutig auf der französischen Kunst und dort wiederum auf der der Klassischen Moderne.

Man lernt auf jeden Fall einiges hinzu. Um nur wenige Stichpunkte zu nennen: Man erfährt vom erstaunlich krassen Gegensatz eines ausgesprochen ruhigen Lebens und einer exzessiven Kunstausübung bei Delacroix. Courbet wird als monströser Selbstvermarkter plastisch dargestellt, der neben sich allenfalls noch Victor Hugo gelten ließ. Odilon Redon hingegen, ein Vorläufer des Surrealismus, sei (entgegen allen Klischees und den Gepflogenheiten der Bohème) ein glücklich verheirateter Mann gewesen…

Man ahnt vielleicht schon den möglichen Schwachpunkt: Julian Barnes konzentriert sich oft gar nicht mehr so sehr auf die Werke, sondern auf deren Urheber; speziell darauf, wie so ein Künstlerleben verlaufen kann, ja, was eine Künstlerexistenz recht eigentlich ausmacht – wobei er natürlich auch sein eigenes Dasein als Schriftsteller stets mitbedenkt. Und so gerät er vielfach in Versuchung, beim Biographischen, ja mitunter auch beim Anekdotischen zu verharren.

Keine vollkommen ungetrübte Empfehlung also. Aber doch ein Buch, mit dem man gewiss keine kostbare Lebenszeit verschwendet.

Julian Barnes: „Kunst sehen“. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger und Thomas Bodmer. Kiepenheuer & Witsch. 352 Seiten, 25 Euro.

 




Die „Essais“ des Michel de Montaigne und ihr deutscher Übersetzer – doppelte Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben

Mit seinem singulären Übersetzungswerk wurde der unter dem messerscharfen Pseudonym „Hans Stilett“ veröffentlichende  Hans A. Stiehl in zwei Jahrzehnten zur kraftvollsten deutschen Stimme des Humanisten Michel de Montaigne (1533-1592). Ich hatte 2008 das Vergnügen, mit Hans Stilett bei seiner Lesung am Theater an der Ruhr ein Bühnengespräch zu führen. Der 86-Jährige beeindruckte dabei – wie sein Vorbild Montaigne – durch Geistesgegenwart, Humor und enzyklopädisches Wissen.

Stilett (1922-2015) lebte, schrieb und übersetzte in Bonn. Im Brotberuf war er jahrzehntelang als Fremdsprachenredakteur beim Bundespresseamt tätig. Nach dem Ende seiner Berufstätigkeit und neben eigener schriftstellerischen Arbeit wagte er einen couragierten Neuanfang und begann, an der Universität zu Bonn Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie zu studieren. 1989 schloss Stiehl seine Dissertation über Montaignes „Reisetagebuch“ ab.

In deren Rahmen hatte er bereits mit der eigenen Übertragung einzelner Passagen des „Journal du voyage de Michel Montaigne en Italie“ begonnen. 1998 erschien dennoch zunächst seine Übertragung der „Essais“ Montaignes im Eichborn Verlag, die „erste moderne Gesamtübersetzung“. 2002 folgte dann die des vollständigen „Tagebuch(s) der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland“. Für seine Arbeit wurde Stilett 2003 mit dem Schweizer Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet. Seine „komparatistische“ Übersetzungsweise fand international Beachtung und seine deutsche Fassung des „Reisetagebuchs“ wurde gar der südkoreanischen Übertragung zugrunde gelegt.

„Relax, Baby, Deine Zeit ist begrenzt, bloß keinen Stress …“

Die Übersetzung der „Essais“ hatte bald phänomenalen Erfolg, sie wurde gerühmt als „die Wiedergeburt Montaignes in deutscher Sprache“ und viele Zehntausend Exemplare des Foliobandes konnten verkauft werden. Harald Schmidt schrieb dazu im Focus:
„Unsereins hat das Buch zum Beispiel gekauft, weil es so geil aussieht und sich so toll anfühlt, und plötzlich fängt man an drin rumzulesen und findet amtliche Äußerungen zu wirklich jedem Thema. Nach den ersten Lesestunden  (…) lässt sich Montaigne schon mal für alle zukünftigen Fans so weit vereinfachen: ‚Relax, Baby, Deine Zeit ist begrenzt, bloß keinen Stress, shit happens.‘ Irgendwie beruhigend, weil schon um 1580 erkannt.“

Nach der Übersetzung der „Essais“ und des „Reisetagebuches“ arbeitete Hans Stilett auch an verschiedenen Auswahlbänden zu Montaigne – vor allem aber am Opus magnum „Von der Lust, auf dieser Erde zu leben. Wanderungen durch Montaignes Welten“. Insgesamt sicher ein gutes Vierteljahrhundert beschäftigte sich Hans Stilett mit dem lebensweisen  Schriftsteller und Denker, übersetzte diesen frühen Mitbegründer einer Philosophie der Lebenskunst und rezipierte die weltweite Forschung über den Franzosen.

Hochachtung vor Lebewesen und Lebensweisen

„Lebendigem lebendig begegnen“ war das Motto, unter das Stilett seine Arbeit zu Montaigne gestellt hatte – denn Montaigne lebte zwar vor weniger als 500 Jahren, lebendig geblieben und hochaktuell sind sein Zugang zur Welt, sein Leben und Werk aber auch noch heute. Montaignes zeituntypischer Respekt vor Frauen und ihrem Intellekt, seine menschenfreundlichen Ideen zur Erziehung, seine tolerante Hochachtung vor anderen Lebewesen und Lebensweisen stechen heraus. Montaignes Leben und Denken auf großer Tour und im engeren Turm seines Schlosses sind, so Stilett, vor allem deshalb so reizvoll und der Beschäftigung wert, weil sie sich nicht auf einen Nenner bringen lassen, sondern voller Widersprüche sind – und weil Montaigne eben im Wissen dieser Widersprüchlichkeit lebte und schrieb.

„Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft“

Schillerndes Werk und Persönlichkeit, Erfahrungshunger und tiefes Nachdenken machen Montaigne so faszinierend – und natürlich sein enormes sprachliches Talent, seine Fähigkeit, Details und Zusammenhänge wahrzunehmen und auf den Punkt zu bringen. Montaignes Werk bietet einen Kosmos der Innenschau und mitfühlenden Welt-Anschauung – einen Kosmos, der immer neu erkundet werden will, obwohl Montaigne selbst in seiner „Essai“-Vorbemerkung „An den Leser“ kokett bescheiden genau davon abrät:

„Dieses Buch (…) ist meinen Angehörigen und Freunden zum persönlichen Gebrauch gewidmet, damit sie, wenn sie mich verloren haben (was bald der Fall sein wird), darin einige meiner Wesenszüge und Lebensumstände wiederfinden (…). Meine Fehler habe ich frank und frei aufgeschrieben, wie auch meine ungezwungene Lebensführung, soweit die Rücksicht auf die öffentliche Moral mir dies erlaubte. Hätte ich unter jenen Völkern mein Dasein verbracht, von denen man sagt, daß sie noch in der süßen Freiheit der ersten Naturgesetze leben, würde ich mich, das versichere ich dir, am liebsten rundum unverhüllt abgebildet haben, rundum nackt. Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs: Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf so einen unbedeutenden, so nichtigen Gegenstand verwendest.“

Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. 7. korrigierte Auflage, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, Juni 2008




Lyriker zwischen Revolution und Mystik – eine Erinnerung an Ernesto Cardenal

Ernesto Cardenal bei einer Lesung am 10. Oktober 2012 in der Frankfurter Katharinenkirche. (Foto: Wikimedia Commons / Dontworry) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Proppenvoll, bis auf den letzten Platz ausverkauft war das Ebertbad Oberhausen am 14. Oktober 2008, als Ernesto Cardenal auf Einladung des PoesiePalastes Ruhr bei seinem Canto a la vida-Abend aus seinen Gedichten las. Fast ehrfürchtig wirkten viele, die gekommen waren, um Ernesto Cardenal, dem Schauspieler Klaus Götte (Cardenals deutscher Stimme) und der Grupo Sal zuzuhören: in Ehren ergraute Altlinke, progressive Christen und deutlich mehr Lyrikliebhaberinnen als -liebhaber.

Für die meisten von ihnen war Ernesto Cardenal höchst vitales Vorbild, lebende Legende und Mythos zugleich. Selbst ihn nur kurz auf der Bühne vorzustellen, hieß für mich, zumindest eine Auswahl seiner Berufe und Berufungen aufzurufen. Der damals 83-Jährige vereinte in seiner Person viele Facetten menschlicher Neugier und intellektuellen Widerstands.

Cardenal war Priester und Gründer der christlichen Kommune Solentiname, war Befreiungstheologe und angeblich – so kursierte es im Internet – der Mann, der im Dom zu Managua die Stimme erhob und dem Papst zurief: „Viva la Revolución“. Dies allerdings bestritt Cardenal beim Abendessen nach seinem Oberhausener Auftritt heftig. Tatsächlich war es Papst Johannes Paul II., der im März 1983 in Managua öffentlich den vor ihm knienden Cardenal brüskierte und den Segen verweigerte. Johannes Paul II. forderte ihn auf, „seine Situation zu regeln“, womit der polnische Papst nicht weniger meinte, als dass Cardenal sein unbequemes politisches und befreiungstheologisches Engagement aufgeben solle. Keine zwei Jahre später suspendierte der Vatikan Cardenal von seinem Priesteramt. Erst 2019 hob Papst Franziskus diese Suspendierung wieder auf.

Streitbarer „Heiliger“

Ernesto Cardenal war als Sandinist Befürworter einer Revolution ohne Rache und später Kulturminister Nicaraguas, vor allem aber war er ein großer Poet und als solcher einer der wichtigen Autoren Lateinamerikas. Dass er in Deutschland quasi als Heiliger herumgereicht wurde, amüsierte ihn trotz aller sichtbaren Eitelkeit auch ein wenig. Im WDR sagte er dazu: „Etwas von mir scheint noch in Mode zu sein.“
In Oberhausen aber las er damals nichts Autobiografisches, keinerlei Prosa, sondern allein Gedichte – von den „Psalmen“ angefangen über die „Cántico cósmico“ bis hin zu Poemen aus seinem 2005 in deutscher Sprache erschienen Gedichtband „Transitreisender“. Darunter viele Verse der Art, die Ernesto Cardenal selbst einmal „wissenschaftliche Poesie“ oder „Poesie der Wissenschaft“ nannte.

Diesseitige Göttinnendämmerung

Cardenals pragmatischen Gott gab es übrigens immer nur im Doppelpack und durfte auch als Göttin vorgestellt werden. Liebe war für Cardenal nicht zu trennen von Sinnlichkeit, auch deshalb hat er nie ein jenseitiges Paradies beschworen. Die Theologin Dorothee Sölle schrieb einst an ihren Freund: „Du hast sie beieinander gelassen: Religion, Politik und Liebe, Deine Liebeslieder sind politisch, Deine Psalmen erotisch. Deine Bejahung, deine Feier des Lebens ist umfassend.“ Man hat Cardenal einen Lyriker zwischen Revolution und Mystik genannt und damit wohl die treffendste Kurzformel für diese schillernde Persönlichkeit geprägt.

„Der Künstler ist immer vollkommen in die Gesellschaft integriert – aber nicht in die seiner Zeit, sondern in jene der Zukunft.“ (Ernesto Cardenal)

Um diesem Mann des Wortes, diesem Homme de Lettres den Mund zu verbieten, versuchte das nicaraguanische Regime auch, die Integrität des Menschen Cardenal zu diskreditieren. Nach der offensichtlich manipulierten und unzulässigen Wiederaufnahme eines Verfahrens, das Cardenal zu großen Teilen bereits Jahre zuvor gewonnen hatte, drohte man ihm 2008 mit einem Bußgeld und bei Nichtzahlung mit einem längeren Hausarrest. Ein politisches Verfahren also, Cardenal hatte seinem früheren Weggefährten Daniel Ortega einen korrupten und undurchsichtigen Regierungsstil vorgeworfen, den Verrat der Revolution. Nicaragua werde inzwischen vom einem autokratischen Familienclan regiert. Wegen der Schikanen der Regierung Ortega gegen Cardenal hatten Ende September 2008 das PEN-Zentrum Deutschland und viele Autoren aus aller Welt protestiert.

Nach seiner Deutschland-/Europa-Tournee vermied Ernesto Cardenal zunächst die Rückkehr nach Nicaragua, auch weil das Gerücht umging, man werde ihn sowieso nicht wieder einreisen lassen. Von Cardenal war dazu nur zu hören: „Wir gehen den Weg der Befreiung weiter.“ Er selbst tat dies auch über seine schriftstellerische Arbeit, sein Engagement für das Kultur- und Entwicklungsprojekt Casa de los Tres Mundos und bei vielen Lesereisen. Einen Überblick über sein poetisches Schaffen findet man am besten in den 2012 erschienenen Lyrikbänden „Aus Sternen geboren. Das poetische Werk“.

Am 1. März 2020 starb Ernesto Cardenal 95-jährig an den Folgen einer Niereninsuffizienz in Managua.




Ein riesiger Teddy als Lockmittel – „Sommer bei Nacht“, Jan Costin Wagners Krimi um Kindesentführungen

Die Mutter hat ihren fünfjährigen Sohn auf dem Flohmarkt in einer Grundschule nur für ein paar Minuten aus den Augen gelassen, da ist er schon spurlos verschwunden.

Zeugen wollen gesehen haben, dass er einen großen Teddy in den Armen hielt und mit einem Mann weggegangen ist. Aber mehr bringen weder die Mutter, die voller Angst mit der Suche beginnt, als auch die gleich eingeschaltete Polizei zunächst nicht in Erfahrung.

Der Leser ist da den Mitwirkenden schon ein Stück voraus, lernt er den Kindesentführer doch schon gleich am Anfang des Buches kennen. Jan Costin Wagner erzählt die Tat nämlich zunächst aus der Perspektive des Kidnappers. Der Spannung tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Denn was dieser Mann nun wirklich mit seinem Opfer vorhat und um welchen Typ von Täter es sich hier handelt, das sind Fragen, auf die es erst nach und nach Antworten gibt.

Geschickt schafft es Autor, den Eindruck zu erwecken, dass es nicht lange brauchen werde, um den Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen. Denn beispielsweise stößt die Polizei recht bald auf zwei ähnlich gelagerte Fälle. Das eine Mal verschwand ein Flüchtlingsjunge aus Eritrea, das andere Mal blieb es zum Glück nur beim Versuch, ein Kind zum Mitgehen zu überreden. Als Lockmittel diente stets ein riesiger Teddy, sodass die Polizei hofft, über die Verkäufer solcher außergewöhnlichen Stofftiere weiterzukommen.

Spannung durch ständige Perspektivenwechsel

Doch ein schneller Fahndungserfolg bleibt aus. Stattdessen leiden die Familien der Opfer nicht nur unter dem Verlust ihrer Kinder, was schon schlimm genug ist, sie haben auch das Gefühl, versagt zu haben. Darüber kommt es in der Ehe der Eltern von Jannis, des Entführungsopfers auf dem Flohmarkt, fast zum Zerwürfnis.

Das Bild, das der Autor von den beiden ermittelnden Kommissaren Ben Neven und Christian Sandner zeichnet, ist sehr kontrastreich. So sehr sie auch mit großer Akribie recherchieren und um Aufklärung bemüht sind, ebenso stark scheinen sie auch mit privaten Problemen behaftet zu sein, die ihren Blick auf die Ereignisse auch trüben könnten. Mit Szenen aus dem Intimleben von Neven nährt der Verfasser zudem einen Verdacht, der, wenn er sich bewahrheiten sollte, der gesamten Handlung noch eine ganze neue Wendung geben könnte.

Überraschende Momente sind es ohnehin, die den Verlauf des Krimis prägen. Ohne zu viel zu verraten, lässt sich festhalten, dass der Kidnapper, den man als Hauptverantwortlichen ansieht, später noch einmal in einem anderen Licht erscheint. Zudem setzt der Autor sehr wirkungsvoll Spannungselemente ein, um die Leser im Unklaren zu lassen, ob die Eltern ihre Kinder je lebend wiedersehen werden.

Weil Jan Costin Wagner das Geschehen nicht an einem Stück erzählt, sondern immer wieder die Perspektive wechselt und aus Sicht der einzelnen Charaktere schreibt, bleibt die Frage nach dem Ausgang offen – bis zum Schluss.

Jan Costin Wagner: „Sommer bei Nacht“. Galiani Berlin, 320 Seiten, 20 Euro.




Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart: Heftige Kindheit im Schatten der Hörder Hochöfen

„Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart, deren letzter Roman von 2019 sinnigerweise „Kein Sturm, nur Wetter“ heißt. (Aufnahme vom März 2019 in Berlin: © Burkhard Peter)

Dortmunds erste Stadtbeschreiberin Judith Kuckart hat sich heute im Literaturhaus am Neuen Graben 78 vorgestellt. Ihren Lebensmittelpunkt hat die renommierte Autorin seit etlichen Jahren in Berlin, doch kann sie auf Dortmunder Erinnerungen zurückgreifen. Genauer: auf Kindheitserinnerungen aus dem Stadtteil Hörde, wo es, wie sie sagt, damals ziemlich heftig zugegangen ist.

Irgendwann liefen dort ziemlich viele 15- oder 16-jährige Mädchen herum, die bereits schwanger waren. Da beschloss ihre Familie denn doch, dass diese Gegend nicht ganz das Richtige für Judith sei – und zog wieder zurück in ihre betulichere Geburtsstadt Schwelm.

Ohne Sattel auf dem Fahrrad

Zuvor hatte Judith Kuckart ein paar gleichsam typische Ruhrgebiets-Kindheitsjahre im Malocherviertel erlebt. „Ich habe in Hörde Fahrradfahren gelernt – ohne Sattel.“ Auch habe sie damals tagtäglich aus der Nähe gesehen, wie kompliziert es zwischen Männern und Frauen zugeht. Gar nicht zu vergessen das Milieu der knochenharten Arbeitswelt: Ein Onkel habe am Hochofen gearbeitet und sei schon mit 40 Jahren gestorben.

Die damalige Wohnadresse: Am Winterberg 72 a. Die Straße lag im Schatten der gewaltigen Hoesch-Hochöfen, heute erstreckt sich auf dem früheren Werksgelände der Phoenixsee. Vor zwei Jahren, als ein Bundeskongress der Schriftstellervereinigung P.E.N. sie wieder einmal nach Dortmund führte, hat Judith Kuckart (Jahrgang 1959) in Hörde eine Cousine besucht, die sich mit der Gentrifizierung rund um den künstlichen See so gar nicht abfinden mag.

Niemand sitzt mehr auf den Stufen

Jedenfalls stellten beide fest, dass in diesen Straßenzügen – ganz anders als früher – niemand draußen auf den Stufen saß, um nachbarschaftlich zu plaudern. Es ist eine dieser Beobachtungen, aus denen schließlich Literatur erwachsen kann. Judith Kuckart fragt sich, ob es heute Berührungspunkte zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen gebe. Oder liegt hier eine eklatante gesellschaftliche Spaltung vor? Kuckart wird versuchen, es herauszufinden, mit ihren Mitteln. Einsam Spaziergänge um den Phoenixsee seien ihre Sache nicht, sie wolle mit vielen Menschen reden.

Derlei sinnfällige Veränderungen eines Stadtteils, so Kuckart, könnten ein Ansatzpunkt für ihre Stadtbeschreiberinnen-Arbeit in Dortmund sein, die im Mai beginnen und bis Oktober dauern wird. Schon vor ihrer Bewerbung ums Dortmunder Stipendium hat sie fürs Romanprojekt „Die Unsichtbaren“ eine Figur entwickelt, die aus Dortmund-Hörde stammt. Auch hierzu dürften sich weitere Recherchen anlagern. Sprich: Die Kindheit und ihre Schauplätze sind keineswegs vergessen, da regt sich immer noch einiges im Gemüt. Mehr noch: Als die Presseleute nicht allesamt Ralf Rothmanns Ruhrgebiets-Roman „Milch und Kohle“ (2000) kennen, ruft sie aus: „Na, ihr seid mir ja schöne Dortmunder!“

Interessanter als Heidelberg

Und überhaupt. Sie bewerbe sich eigentlich nicht mehr um Stadtschreiber-Ämter, in diesem Falle aber habe sie es getan, „w e i l es um Dortmund geht. Heidelberg hätte mich zum Beispiel nicht so interessiert.“ Obwohl sie dort schon gearbeitet hat – als Mitglied der Tanzcompagnie von Johann Kresnik. Tanz und Choreographie waren nämlich ihr ursprüngliches Metier, bevor sie immer mehr zum Schreiben kam. Also kennt sie sich auch mit Bühnenpraxis aus, was in ihrer Dortmunder Zeit durchaus eine Rolle spielen könnte. An einer Stelle fällt das Wort Erzähltheater. Bürgerinnen und Bürger sollen dabei mitmachen. Hört sich schon mal vielversprechend an.

Ein Satz, der Schülern gefallen dürfte

Damit nicht genug der medialen Auffächerung. Kuckart denkt auch schon an ein visuell angereichertes Dortmunder Tagebuch, das eventuell im Internet erscheinen könnte. Und sie kann sich gut vorstellen, hie und da in Schulen am Unterricht mitzuwirken. In Hamburg hat sie mal mit Achtklässlern einen „Schulhausroman“ erarbeitet, in dem ein verschwundener Lehrer gesucht wurde. Mit einer Aussage, die offensichtlich von Herzen kommt, dürfte Judith Kuckart manche Schüler rasch auf ihre Seite bringen: „Warum müssen Kinder im Achtklässler-Alter überhaupt zur Schule gehen? Furchtbar!“

Um die Dortmunder Gretchenfrage aufzuwerfen und flugs zu beantworten: Ja, Judith Kuckart kennt sich auch mit Fußball aus. Das erwähnte P.E.N.-Treffen nutzte sie seinerzeit auch, um den BVB gegen den 1. FC Köln spielen zu sehen. Einschlägige Texte gehören hin und wieder ebenso zu ihrem Repertoire wie auch schon mal eine Lesung im Stadion.

Bestimmt nicht wegen des Geldes beworben

Die Dotierung des Stipendiums beläuft sich monatlich auf 1800 Euro. Dazu befragt, erklärt Judith Kuckart sehr glaubhaft, sie habe sich gewiss nicht wegen des Geldes beworben. Sie wird sich auch nicht in einem schicken Viertel ansiedeln, sondern höchstwahrscheinlich eine (seit jeher schwarzgelb dekorierte) Schreibwohnung in der bundesweit bekannt-berüchtigten Dortmunder Nordstadt beziehen. „Heftige“ Zustände kennt sie ja von damals aus Hörde.

Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann (Kulturdezernent und Kämmerer in Personalunion) versichert, mit 1800 Euro bewege man sich finanziell im „oberen Drittel“ vergleichbarer Stipendien. Man habe sich in dieser Angelegenheit von Autoren und anderen Kennern des Literaturbetriebs eingehend beraten lassen.

Keinen Auftrag zu erfüllen

Stüdemann betont außerdem, dass – anders als bei vielen sonstigen Stadtschreiber-Posten – der Preisträgerin nichts Konkretes abgefordert werde. Sie habe keinen Auftrag zu erfüllen, sondern könne sich nach Belieben in der Stadt umsehen. Die ungewöhnliche Bezeichnung Stadtbeschreiberin lässt (im Vergleich zur Stadtschreiberin) ja schon ahnen, dass es hier nicht um Dienstbarkeiten für die Kommune geht, sondern ums Wahrnehmen und Aufzeichnen.

Judith Kuckart macht deutlich, dass es ihr nicht um „Meinungen“ über Dortmunder Verhältnisse zu tun sei, auch nicht um investigative Nachforschungen („Das kann ich gar nicht“), sondern just um möglichst genaue Beobachtungen und hernach ums Erzählen. Nur dann könne Verborgenes sichtbar gemacht werden. Und nun lasst uns mal ganz wohlwollend abwarten, wie die angenehm unprätentiöse Schriftstellerin ihre Vorhaben umsetzen wird.




Fröhliche Apokalypse – Sophie Rois krächzt und krakeelt sich in Berlin durch Marlen Haushofers „Die Wand“

Auf der überdimensionalen Erdbeertorte: Sophie Rois in der „Wand“-Inszenierung. (Foto: © Arno Declair / Deutsches Theater)

Die Katastrophe kommt ganz leise. Unerwartet, überraschend. Mit einem Augenzwinkern, lächelnd und verspielt. Vielleicht ist das Undenkbare auch nur ein Traum. Oder ein Roman, in den man eintaucht und sich dann heillos verirrt.

Eben noch hat es sich Sophie Rois auf der Bühne des Deutschen Theaters in Berlin gemütlich gemacht. Sie räkelt sich wohlig auf einer kleinen Couch, trinkt eine Tasse Tee, zündet sich eine Zigarette an, blättert in einem alten Buch, liest sich fest, glaubt ihren Sinnen nicht zu trauen. Denn was dort in Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ erzählt wird, widerfährt ihr plötzlich selbst.

Es gibt zwar auf der Bühne keine Berge und keinen Wald, auch keine undurchdringliche Glaswand, die sie vom Rest der Welt abschottet, einer Welt, auf der nach einer Katastrophe sämtliches Leben zum Erliegen gekommen ist. Aber natürlich kann sich Sophie Rois das alles vorstellen und ausmalen, sprachlich und musikalisch zum Klingen bringen. Sie braucht keine fünf Minuten, schon hat sie das Publikum um den Finger gewickelt, nimmt es mit auf eine Reise in die Abgründe der Fantasie und die Freiheiten des Theaters: Wer, wenn nicht die wunderbar wandelbare, kurios krächzende, kauzig krakeelende und schön schräg singende Sophie Rois könnte uns weismachen, dass die Apokalypse fröhlich und das Alleinsein eine wahre Freude ist?

„Sophie Rois fährt gegen die Wand im Deutschen Theater“, so nennt Regisseur und Bühnenbildner Clemens Maria Schönborn seinen ebenso intelligenten wie unterhaltsamen Abend, der uns die Dystopie als freudiges Ereignis präsentiert, als bizarre Laune einer Schauspielerin, als Tagtraum eines Theater-Tausendsassas.

Die Gedanken fliegen frei herum

Was harmlos als private Lesung des 1963 veröffentlichten (und 2012 mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmten) Romans beginnt, wird schnell zu einem rhetorisch filigranen Kunstwerk und grandios komischen Schauspiel. Die (nicht vorhandene) Wand ist ein Seelenzustand, eine Möglichkeit, sich selbst zu erkennen und besser zu verstehen. Abgeschottet von der Welt und ganz auf sich selbst geworfen, fliegen die Gedanken frei herum und keinen keine Grenzen.

Sophie Rois probiert alles schelmisch aus, bekommt in Wanderstiefeln dicke Blasen, irrt mit einem Rucksack ziellos durch die finstere Leere, ballert mit einem Gewehr auf potentielle Nahrung. Sie schildert, wie schön es ist, Kühe zu melken und das Heu zu ernten; wie befreiend es ist, keinem Mann um sich zu haben und Rechenschaft abzulegen. Einfach da sein, in sich hineinhorchen. Vor sich hin brabbeln. Auf einem riesigen Stück Erdbeertorte herumklettern, das sich vom Himmel herabsenkt und vielleicht das Geschenk eines gnädigen Gottes ist oder auch nur das Trugbild einer mangelhaften Ernährung.

Schön ist es auch, ein Lied zu singen, wenn von irgendwoher ein Klavier klimpert oder eine Gitarre erklingt. Mit Wiener Schmäh intoniert die gebürtige Österreicherin melancholische Songs, die von vergeblicher Liebe und nie zu stillender Sehnsucht erzählen. Sie erinnert sich an den Liedermacher Wolfgang Ambros und seine Version von Bob Dylans „Like a Rolling Stone“, singt von der Frau, die sich früher für was Besseres hielt und über die einfachen Leute lachte, heute aber ganz unten angekommen ist, auf der Straße lebt und bettelt: „Jo wia fühlst di dabei? / So zwisch´n ans und zwa, / so ganz und goa allan / so allan wia a Stan.“ Dann ist der kurze Abend zur langen Einsamkeit nach 80 Minuten auch schon vorbei. Schade.

Deutsches Theater, Berlin. Nächste Vorstellungen am 16. und 26. März, Karten unter 030/28 441 225. service@deutschestheater.de




Nächster Schwund im Dortmunder Buchhandel: Mayersche soll offenbar auf ein Drittel der bisherigen Größe schrumpfen

Schon Vergangenheit: Die Mayersche BUchhandlung (rechts), noch in einem Bau mit dem Modehändler Esprit – und links gegenüber das Schuhhaus Roland, wo die Mayersche bald einziehen will. (Foto/Aufnahme aus dem NOvember 2016): Bernd Berke)

Dortmunds Westenhellweg: Die Mayersche Buchhandlung (rechts), damals noch in einem Gebäudekomplex mit dem Modehändler Esprit – und links gegenüber das Schuhhaus Roland, wo die Mayersche wohl gegen Ende 2020 einziehen wird. (Foto, November 2016: Bernd Berke)

Nein, ich mag mir das gar nicht vorstellen: Es käme Besuch von außerhalb, noch dazu (was wahrscheinlich wäre) aus einem lesefreudigen Milieu – und dieser Besuch erkundigte sich angelegentlich nach den besten Buchhandlungen in der Dortmunder Innenstadt. Es wäre peinlich…

Früher einmal wäre das kein großes Problem gewesen. Da gab es noch die vermeintlich machtvolle, am Ort unangefochtene Buchhandlung Krüger, in der es zu bestimmten Zeiten richtig „brummte“ und wo man auch ordentlich beraten wurde. Auch gab es zuvor noch die achtbare Buchhandlung Borgmann, zudem konnte man Niehörster, Schwalvenberg und ein paar andere aufsuchen. Jaja, ich weiß, früher hatten wir auch viel mehr Kinos in der Stadt. Umso schlimmer. Und traurig ist es allemal, wenn wieder etwas schwindet.

Nun sind da – im Innenstadtbereich – nur noch die Mayersche Buchhandlung und Thalia, die Filialen zweier Ketten, welche mittlerweile auch noch miteinander fusioniert haben. Beide häufen turmhoch die üblichen Bestseller und jede Menge Angebotsware auf, außerdem etlichen Spielkram und Merchandising-Plunder, der mit Büchern und Lesekultur allenfalls noch entfernt zu tun hat – wenn überhaupt. Thalia hat sich vor einiger Zeit in der überdimensionierten Mall „Thier-Galerie“ eingerichtet. Wahrlich kein anheimelnder Platz für passionierte Leser(innen).

Wenige Oasen für Lesende in Vororten

Bald erfolgt wohl der nächste Schritt abwärts. Wie die Ruhrnachrichten (RN) heute im Dortmunder Lokalteil vermelden, wird gegen Ende des Jahres das Schuhhaus Roland schließen. Die bisher direkt gegenüber befindliche Mayersche soll dann offenbar ins ehemalige Schuhgeschäft einziehen und damit eine Immobilie verlassen, aus der zuvor schon der Modehändler Esprit ausgezogen ist. Somit täte sich an dieser Stelle ein größerer Leerstand auf.

Eine höchst betrübliche Nachricht verstecken die RN allerdings schamhaft weit hinten im Artikel, sie steht auch nicht in der Überschrift: Die Mayersche Buchhandlung würde damit von 4500 Quadratmetern auf rund 1500 Quadratmeter schrumpfen – auf ein Drittel der bisherigen Größe also! Es wäre ungeheuerlich. Eine Stadt mit rund 600.000 Einwohnern hätte sicherlich Besseres verdient. Das Schuhhaus gibt übrigens auf, weil die Konkurrenz im Internet übermächtig geworden sei. Ähnliche Gründe ließen sich wahrscheinlich auch für den Buchhandel anführen. Und es ist nicht zu erwarten, dass etwa Amazon in die erwähnte Leerstands-Immobilie Einzug hält…

Im einen oder anderen Vorort halten noch ein paar wenige Buchläden tapfer gegen den misslichen Trend, doch das sind liebenswerte Nischen, mehr wohl nicht. Mögen wenigstens sie eine Heimstatt für Lesende bleiben.




Bye-bye, Sabine – ein Nachruf auf die Dortmunder Krimiautorin Sabine Deitmer

Die Krimiautorin Sabine Deitmer, die jetzt mit 72 Jahren gestorben ist. (Foto: Klauspeter Sachau / Literaturhaus Dortmund)

Die Dortmunder Krimiautorin Sabine Deitmer, die jetzt mit 72 Jahren gestorben ist. (Foto: Klauspeter Sachau / Literaturhaus Dortmund)

Die eloquente, couragierte und warmherzige Schriftstellerin Sabine Deitmer gab der deutschsprachigen Kriminalliteratur wichtige Impulse. Nicht nur, weil sie den Spielraum des Komischen in diesem Genre erweiterte, sondern auch, weil sie das Verhältnis zwischen Opfern und Tätern neu auslotete, ebenso wie die Diskrepanz zwischen männlichem Blick und weiblicher Sicht auf kriminelle patriarchalische Strukturen.

Sabine Deitmer, die am 11. Januar mit 72 Jahren gestorben ist, lud ich das erste Mal Ende der 80er-Jahre ins soziokulturelle Zentrum Ruhrwerkstatt nach Oberhausen ein. Damals war sie mit ihren überaus erfolgreichen Kurzgeschichten auf Lesereise. „Bye-bye, Bruno – Wie Frauen morden“, Stories, in denen angesichts körperlicher wie struktureller Gewalt jeweils ein männliches Auslaufmodell von aufbegehrenden Frauen einfallsreich und quasi in Notwehr entsorgt wurde.

Problembären wie Bruno

In einem Interview kommentierte Deitmer ihre damalige Schreibe so – und das mag nach Zeitgeist klingen, reicht aber leider bis zur aktuellen „#Me Too“-Bewegung: „Männer vom Typ Bruno, die normalerweise von ihren Frauen viel Wertschätzung kriegen und gehätschelt werden, solche Männer zu karikieren und in ihrer Begrenztheit zu beschreiben, bereitet mir Vergnügen. Und gleichzeitig diese normalen Frauen, die doch so oft unterschätzt werden, etwas liebenswert aufzubauen, unter dem Motto: Die Frauen sind nicht so blöd, wie die Männer häufig meinen.“

Als ich 1996 Sabine Deitmer dann zu einer Lesung des Literaturbüros Ruhr einlud, hatte ich zuvor knapp sechzig Krimi-Autorinnen und -Autoren in NRW recherchiert, die mit ernst zu nehmenden Werken, Debüts, Hörspielen oder Kriminalgeschichten in Erscheinung getreten waren, darunter fünfzehn Frauen. Immer noch zu wenig. In den USA – so Deitmer damals – waren schon gut fünfzig Prozent der Krimiautoren Frauen.

Also gestaltete Sabine Deitmer ihn hierzulande beherzt mit, den Boom sogenannter Frauenkrimis, auch den der Regionalkrimis, der „local crime stories“. Deren beste Autorinnen und Autoren wussten um die wichtige Verbindung von sozialer/regionaler/lokaler Verwurzelung und Weltoffenheit. Gute Krimis mit der Region (und deren sozialen Milieus) als Spielraum und Kulisse entlarven zwar bornierte Provinzialität, gehen aber nie selbst darin auf. Denn ob nun Vorort oder Weltbühne: Immer findet sich das Kleinkarierte, Provinzielle im Weltläufigen, immer findet sich auch das Großartige im scheinbar Kleinen.

Belesene Autorin, schreibende Leserin

Sabine Deitmer war schon früh eine versierte und weltoffene Leserin, auch eine Leserin vermeintlich schlichterer Formate und Bewunderin kleiner Helden, war Enid Blyton-Fan, Kalle Blomquist-Hörerin, später Jerry-Cotton-Leserin.

1947 in Jena geboren, wuchs sie in Düsseldorf auf. Studierte Anglistik und Romanistik. Ihre Magister-Arbeit schrieb sie über die „Rezeption von Kriminalromanen am Beispiel Agatha Christie“. Als Literatin versuchte sich Deitmer zunächst in der Dortmunder Gruppe „Frauen schreiben“. Aus dieser Zeit gibt es Texte von ihr in den Anthologien „Mitten ins Gesicht – weiblicher Umgang mit Wut und Hass“ (1984) und „Venus wildert – wenn Frauen lieben“ (1985).

1988 erschien „Bye-bye, Bruno“ und wurde ein Bestseller. Der Erfolg war so groß, dass sich männliche Autoren zügig dranhängten und parodistische Gegengeschichten herausbrachten: „Good bye, Brunhilde. Rache für Bruno!“ Bei aller Spottlust schien da männliches Autorenego durchaus angekratzt. Ganz listig vielleicht, aber eben überhaupt nicht lustig, diese Konter-Attacken auf „Brunhilde“, sind doch Frauen in der Realität sowieso überall und jederzeit Opfer männlicher Mordgier.

„Ich habe gelernt, wie eng der kreative Raum ist, der Frauen zugestanden wird. Wenn wir ihn erweitern wollen, müssen wir uns auf einiges gefasst machen“, diese Sätze Deitmers klingen beinahe auch wie ein Kommentar zur Causa Bruno/Brunhilde.

Weg von Killerinnen, hin zur starken Kommissarin

„Ich merke, dass mich Männerleichen allmählich langweilen …“, auch das ein gescheit- lakonischer Deitmer-Satz. Sie wollte weg von der resilienten Frau als kesser Killerin und wandte sich schließlich einer starken Frauenfigur zu, die als Ermittlerin ihre ganz eigenen Wege ging. Zwischen 1993 und 2007 trieb Sabine Deitmer auch ihre eigene Entwicklung als Romanautorin konsequent voran. „Kalte Küsse“ hieß der erste Krimi mit Kommissarin Beate Stein, es folgten „Dominante Damen“, „Neonnächte“, „Scharfe Stiche“ und „Perfekte Pläne“.

Beate Stein (welch sprechender Name) versucht, zumindest nach außen hin der harte Typ zu sein, hard boiled, tough woman. Deitmer charakterisierte ihre Protagonistin so: „Das ist eine ganz normale Frau, mit starken und schwachen Seiten. Sie ist klug genug, ihre schwachen Seiten nur denen zu zeigen, die damit umgehen können, ihrer blinden Freundin zum Beispiel. In ihrem Job ist sie kompetent und cool, schlagfertig und mit sarkastischem Humor. Ich wollte mit ihr eine Figur schaffen, die sich von der Institution nicht einmachen lässt, darin effizient und erfolgreich reagiert.“

„Neonnächte“ und „Kalte Küsse“ wurden von RTL verfilmt, zwei Romane wurden für den Rundfunk bearbeitet. Für „Dominante Damen“ gab es einen 2. Platz beim Deutschen Krimipreis, für „Scharfe Stiche“ den „Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden“, für ihr Gesamtwerk erhielt Sabine Deitmer 2008 den renommierten Glauser-Ehrenpreis.

Abschied von einer Meisterin des beharrlichen Aufbruchs

Ich habe an Sabine immer das bewundert, was im Zen-Buddhismus als „Anfängergeist“ bezeichnet wird. Sie selbst hat das einmal für ihre Arbeit so formuliert:
„Das Schwierigste beim Schreiben ist für mich der Anfang. Ich muss mich selbst davon überzeugen, dass sich die Geschichte zu erzählen lohnt.“ „Recherchen mache ich ausgesprochen gern. (…) Da habe ich das Gefühl, dass ich mir über das Schreiben ein Stück mehr Welt erobern kann. Das finde ich … toll.“

Sabine Deitmer wird mir im Gedächtnis bleiben. Sie war eine von denen, die nicht darüber lamentierten, sondern die sie einfach zu schreiben begann: Literatur aus dem Ruhrgebiet, die Vergleiche nicht zu scheuen braucht.




Er war eine Stimme der Sprachlosen – zum Tod des Dortmunder Schriftstellers Josef Reding

Unser Gastautor, der in Kamen lebende Erzähler, Lyriker und Maler Gerd Puls, würdigt den Dortmunder Schriftsteller Josef Reding, der am vergangenen Freitag mit 90 Jahren gestorben ist. Bei diesem Beitrag handelt sich um Auszüge des Nachworts zu einem Reding-Lesebuch, das Gerd Puls herausgegeben hat. Wir veröffentlichen den (stark gekürzten) Text, der hier erstmals zu Redings 90. Geburtstag erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung des Urhebers:

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch, aus dessen Nachwort Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch (2016 erschienen im Aisthesis-Verlag), aus dessen Nachwort die Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Josef Redings Erzählband „Nennt mich nicht Nigger“ war 1957 ein bemerkenswertes, erstaunliches Buch. Auch, weil es den Blick der deutschen Leser über den eigenen Tellerrand hinaus lenkte, in diesem Fall auf die Nöte und Bedrängungen der schwarzen Bevölkerung in den USA.

Sechzig Jahre später halte ich es immer noch für bemerkenswert, weil es nach wie vor ein realistisches Werk von hohem literarisch-sozialen Wert ist, moralisch und allgemein gültig; nicht nur für die 1950er Jahre, nicht nur in der Beschreibung US-amerikanischer Zustände. Ein Buch, das Partei ergreift für Erniedrigte und Ausgegrenzte, für Schwache und Bedürftige, für Opfer und Verlierer überall auf der Welt.

Josef Redings erster Kurzgeschichtenband liefert „24 realistische Erzählungen aus USA und Mexiko, die in moderner mitreißender Sprache das Problem des leidenden, verachteten Menschen behandeln“ – so der Klappentext des im Recklinghausener Paulus-Verlag erschienenen Buches. Es waren 24 short stories in der Tradition von Herman Melville, Marc Twain, Jack London, John Steinbeck, Ernest Hemingway oder Truman Capote.

Der in Castrop-Rauxel geborene (dann in Dortmund lebende) Stipendiat Josef Reding schrieb die Kurzgeschichten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre während seines Studiums an einer Universität im mittleren Westen der USA. Nach eigenem Bekunden hatte er es schwer, seinen Verleger zu überzeugen, das Buch, das ein großer Erfolg und Redings literarischer Durchbruch wurde, überhaupt auf den Markt zu bringen.

Als die short story in Deutschland Einzug hielt

Die ursprünglich typisch amerikanische Textsorte short story hatte in den frühen 1950er Jahren in Deutschland Einzug gehalten, und unter den deutschen Autoren war der junge Josef Reding längst nicht der einzige. Kurzgeschichten und Erzählungen von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Wolfdietrich Schnurre fanden in den Nachkriegsjahren rasch ein großes Publikum. Doch die jungen deutschen Autoren kamen in den Schulen nur selten vor.

Als amerikanische Besatzungssoldaten Kurzgeschichten in ihrem Gepäck nach Deutschland brachten, fand vor allem die junge Generation nach ihrer von den Nazis verratenen und missbrauchten Kindheit rasch Zugang zu dieser neuen Form. So auch der aus einer Arbeiterfamilie stammende Josef Reding, der 1945 als 16jähriger Schüler im Ruhrgebiet noch im Kriegseinsatz war und als „Wehrwolf“ in amerikanische Gefangenschaft geriet.

Sprachliche Knappheit – typisch fürs Ruhrgebiet

Über seine Haltung zur Kurzgeschichte schrieb Reding: „Mich begeisterte die Ökonomie der Kurzgeschichte, die Einfachheit, die Klarheit der Sprache. Mich faszinierte der Anspruch, dem Leser nur zwei Daten zu überlassen in der Zuversicht, dass er genug Kreativität besitzt, um selbst zum Datum drei bis neun zu kommen. Heute bin ich sicher, dass mein spontaner Aufgriff der Kurzgeschichte auch mit der Ausdrucksweise der Menschen zu tun hat, unter denen ich aufgewachsen bin: den Menschen des Ruhrgebiets. In dieser Landschaft herrscht im sprachlichen Umgang das Knappe vor, eine anziehende Sprödigkeit des Ausdrucks. Der Gesprächspartner, der Kumpel, bekommt nur weniges mitgeteilt und muß sich auf manche karge Anspielung seinen ,eigenen Reim‘ machen, muß also mitdenken, mitdichten.“

Seine Themen waren vorgegeben durch den NS-Faschismus. Seine Erfahrungen als „Kind in Uniform“ und als „Wehrwolf“ veröffentlichte er bereits in den 1940er Jahren in Schülerzeitungen.

Den Blick für die Welt ringsum öffnen

Die Titelgeschichte und die meisten anderen Texte des Bandes „Nennt mich nicht Nigger“ schrieb er als Student in den USA, wo er mit Farbigen zusammenlebte und auch engen Kontakt zur Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King hatte. Über den Titel bemerkte er 1978: „Aber es wäre ein Mißverständnis, wollte man ihn nur auf die Situation der rassischen Minderheiten in den USA beziehen. Der Titel steht auch für andere Mitmenschen, die um ihrer Rasse, um ihres politischen Bekenntnisses, ihrer Herkunft, ihrer Religion willen verfolgt werden.“

Josef Reding blieb dem Genre der Kurzgeschichte verbunden, man darf ihn darin getrost einen wahren Meister nennen. Er wusste seine Haltung auch in späteren Texten, die nicht mehr in den USA, sondern in Lateinamerika, Asien, Afrika und natürlich in Deutschland und vor allem im Ruhrgebiet spielen, immer eindringlich und ehrlich zu vermitteln.

Gleichzeitig weisen die Geschichten aus der Beschränkung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der frühen Nachkriegsjahre hinaus, öffnen den Blick deutscher Leser wieder neu auf die Welt ringsum und werden zu literarischen Zeugnissen für die einfache Einsicht, dass Missachtung und Unterdrückung viele Farben und Facetten hat und dass zu allen Zeiten an allen Orten „der Sprachlose des Sprechers bedarf“, wie Josef Reding es formuliert hat.

Auch ein Chronist von Flüchtlings-Schicksalen

Nach dem Aufenthalt in den USA arbeitet er 1955/56 ein Jahr freiwillig im Grenzdurchgangslager Friedland, wo er zum Chronisten der Schicksale der Flüchtlinge und Spätheimkehrer wird, danach drei Jahre in Lepragebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Später wird er Mitglied der Synode der Bistümer der Bundesrepublik.

Für sein literarisches Gesamtwerk erhielt Josef Reding zahlreiche Preise, u.a. den Rom-Preis Villa Massimo, den Annette von Droste-Hülshoff-Preis, den Preis der europäischen Autorengemeinschaft KOGGE, den Preis für die beste Kurzgeschichte und den Literaturpreis Ruhrgebiet. Dass eine Hauptschule in Holzwickede im östlichen Ruhrgebiet bereits zu Lebzeiten seinen Namen trug, sah er als Auszeichnung, gleichzeitig als Verpflichtung.

Werner Schulze-Reimpell würdigte Redings Verdienste um die Kurzgeschichte in der „Deutschen Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Ein in unserer Gegenwartsliteratur schier vergleichsloser Meister dieser Form ist der Westfale Josef Reding. Redings Short-Stories werden gänzlich unprätentiös erzählt, ohne formale Verfremdung und aufdringliche Literarisierung, dafür mit einem hohen Maß von Authentizität, wie unmittelbar vor Ort recherchiert. Vor allem stimmen seine Menschen, ihre Sprache, ihre Art, sich zu geben und zu reagieren…“

Christliche Ethik als moralisches Fundament

Dabei dürfen spätere Erzählbände nicht unberücksichtigt bleiben. „Wer betet für Judas?“,, „Allein in Babylon“, „Papierschiffe gegen den Strom“, „Reservate des Hungers“ und „Ein Scharfmacher kommt“ lauten die Titel weiterer Bände im Bitter Verlag, in denen er für sein großes Thema immer wieder neue Schauplätze, Konstellationen und Varianten findet. So spielen viele der 25 Erzählungen der 1967 erschienenen Sammlung „Ein Scharfmacher kommt“ im Ruhrgebiet. Eindringlich, prägnant und unverwechselbar spiegelt Reding in ihnen Menschen und gesellschaftliche und politische Verhältnisse in der im Umbruch befindlichen Industrieregion.

Christliche Ethik als moralisches Fundament, dazu das Ruhrgebiet als geografische Heimat, das sind die wesentlichen Wurzeln, Fixpunkte und Richtschnüre, mit denen Redings Schreiben verknüpft ist. Die Menschen des Ruhrgebiets – genau wie die Flüchtlinge und Heimkehrer in Friedland und die Bewohner der Schwarzenviertel New Yorks, der Slums und Favelas Nairobis oder Sao Paulos – liefern die Bilder und Mosaiksteine zu Redings literarischem Werk.




Leselust und triste Texte: Bekenntnisse eines angeschlagenen Jurors

In den Jahren, in denen ich im sogenannten Literaturbetrieb mitwirkte, habe ich nicht wenigen Jurys angehört – immer als Ehrenamtler ohne oder mit geringer Aufwandsentschädigung. Als Ausgleich  durfte ich über Wettbewerbe um Preise und Stipendien meisterhaften Autorinnen begegnen, vielen Begabungen und Texten, die mich tief beeindruckten. Zugleich aber traf ich unvermeidlich auf Subventionspoeten, Sinnsimulanten und Dichterdarsteller, also auf die vielen Geduckten und Gedrückten, die sich als Gedruckte endlich Erlösung erhofften.

Zwei Juroren unter der Literaturzirkuskuppel: ratlos.   (Foto © Jörg Briese)

Heute, im Dezember 2019, sind es die durch zu viele schlechte Texte hervorgerufene Müdigkeit sowie ein starkes Mitgefühl mit wirklichen Könnern der schreibenden Zunft, die zum Entschluss führten, nie wieder einer Jury angehören zu wollen.

Die Dosis macht das Gift

Zuletzt bin ich 2017 gefragt worden, ob ich für drei Jahre helfen könnte, jene internationalen Stipendien zu vergeben, die es Schriftstellern ermöglichen, für einige Monate im inspirierenden Künstlerdorf Schöppingen zu leben und zu arbeiten. Im Herbst 2019 habe ich zum dritten und letzten Mal für das Künstlerdorf umfangreiche Bewerbungen mit Lebensläufen, Projektvorhaben, Exposés und Textproben gelesen und bewertet, 63 an der Zahl, dazu viele Texte aus den Bewerber-Pools dreier Kolleginnen und Kollegen.

Es waren wohl 3000 Seiten, die aufmerksam zu sichten waren, und eines wurde dabei immer deutlicher: Ja, ganz sicher, es liegt auch an mir! Mir persönlich nämlich fällt es trotz aller Routine zunehmend schwerer, in kurzer Zeit zu oft und zu lange in die mehr oder minder gut gemachten literarischen Fantasien ambitionierter Literaten einzutauchen.

Und dabei waren es in Schöppingen immer ausnehmend viele gute Texte, die ich zu lesen bekam. Doch nach etlichen Jahren und Jurys gilt auch: Ich werde ungeduldiger und  schneller ärgerlich, wenn man mir polit-literarisch zu kurz Gebratenes, abgestanden Sturzbetroffenes, dekorative Pseudo-Avantgarde auftischt oder angestrengt Hermetisches und edel-verblasenen Metaphernsalat.

Da, wo offensichtlich kaum intellektuelle und artistische Anstrengung beim Entstehen investiert wurde, sträube auch ich mich, mir beim Verstehen mehr Mühe zu geben als nötig. Lieber verallgemeinere ich im Rahmen eigener Multi-Genre-Lektüre durchaus gallig und gern, was Marcel Reich-Ranicki 2010 im Spiegel-Interview in Hinsicht auf nur eine literarische Gattung bekannte: „Für Romane bringe ich nicht mehr die Geduld auf.“

Gute Jurys fördern, selbst dann, wenn sie nicht fördern

Als junger, neugierig-eitler Juror dagegen freute ich mich über jedes Talent, das ich aus dem Pool der Einsendungen herausfischte. Dass ich bei Förderpreisen oder Stipendien auch viele Halbfabrikate zu sehen und lesen bekam – wie sollte es anders sein? Selbst, wenn ich über tagelange Lesearbeit als vertane Zeit stöhnte, zum guten Ende überwog die Freude an den gelungenen Texten und die Tatsache, dass auch ich einigen jungen Autorinnen und Autoren ein paar Meter ihres Weges ebnen konnte.

Die Preisverleihung fällt heute aus?
(Foto © Jörg Briese)

Gelegentlich aber gab es in Jurys auch heftige Diskussionen darüber, ob man für ein Jahr keinen oder weniger Preise verleihen sollte. Immer allein deshalb, weil die Qualität der eingereichten Texte wirklich niemanden in der Jury überzeugte. Seltener machten Jurys ernst mit ihrer (internen) Kritik und setzten einen Haupt- oder Förderpreis tatsächlich einmal aus. Zumeist aber wurden die Auszeichnungen doch vergeben: Auch, weil man fürchtete, dass in Zeiten klammer Kassen einfallslose Kulturpolitiker und Kämmerer einen Preis bei dessen Nichtvergabe sofort ganz abschaffen könnten.

Schöppinger Luxusproblem

In der Jury für Schöppingen stellte sich das Problem einer Nichtvergabe von Stipendien niemals, ganz im Gegenteil. Auch 2019 gab es in meinem Text-Pool vielversprechende Autorinnen und Autoren aus aller Welt. 12 von 63 Texten waren so gut, dass ich ihre Urheber gerne für ein Stipendium vorgeschlagen hätte. Doch im Rahmen des Schöppinger Förderbudgets können nun einmal nur acht bis zehn Literaturstipendien vergeben werden – und auch die anderen drei Juroren hatten unter den ihnen zugeteilten weiteren 190 Bewerbungen überaus ernst zu nehmende Talente.

„Ja, und?“, werden Sie vielleicht denken, „So ist das nun mal. Da müssen es die Nachwuchs-Autoren halt noch einmal oder woanders versuchen. Deutschland hat bekanntermaßen eine reiche Förderlandschaft aus Literaturpreisen und -stipendien.“ Und ich würde Ihnen hier zustimmen, wenn da in den gut 250 Bewerbungen für die Stipendien nicht bloß äußerst respektable Gedichte, Geschichten, Theater- oder Hörspielszenen vorlägen, sondern eben auch Biografien aufschienen, Überlebenspläne also und Künstlerträume, die kein halbwegs sensibler Juror en passant ignorieren sollte.

Illusion und Enttäuschung

Da sehnen sich junge Lyrikerinnen noch einer Auszeit vom Alltag, nach Fokussierung und Schreibzeit in „a room of one’s own“. Migranten hoffen auf die Möglichkeit, ihre Autorenkarrieren in Deutschland fortschreiben zu können. Da finden sich ebenso hinreißende wie bedrückende Lebensgeschichten aus Nepal oder Nigeria, und ein Bewerber aus Afghanistan schreibt lakonisch über seine Erwartungen an eine Residenzzeit im Münsterländischen: „Expectations? To have a cozy place away of explosions, so I go deep with writing.“

Ein Stipendium oder ein kleiner Preis bedeutet für viele die oft allein gültige Eintrittskarte in einen Literaturbetrieb, in dem jegliche Existenzsicherung nur über eben diese Preise und Stipendien gelingt, über daran gekoppelte Visa, Lesungen, Schreibaufträge, Projekte, kleinere Veröffentlichungen – und selbstverständlich über Nebenjobs als Kellner oder Nachtwache.

Ist es da ein Wunder, dass ich jedenfalls sehr erleichtert bin, die berechtigten Hoffnungen begabter (!) Schreiber nicht länger enttäuschen zu müssen? Die aber sollten wissen, dass ihre Bewerbung oft allein deshalb ins Leere lief, weil die Anzahl der Stipendienplätze begrenzt war, weil die Texte anderer Autoren der Jury vielleicht nur einen Hauch besser gefielen und dabei selbstverständlich auch die Lese- und Lebenshorizonte der Juroren neben dem Zufall keine geringe Rolle spielten.

Occupy LCB! Oder: Der Hauptmann … vom Wannsee

Es wird wohl weiterbestehen, das Dilemma aller guten Jurys, aller seriösen Juroren: Sie dürfen einige wenige Literaten mit Fug und Recht ermutigen, doch zugleich müssen sie ausgewiesene Talente immer wieder enttäuschen  – und deren Kunst besteht dann nicht zuletzt darin, auf keinen Fall aufzugeben.

Joachim Lottmann hat kürzlich in der WELT die einzig richtige, weil satirische Autoren-Antwort auf dieses Dilemma gegeben:

„Mein Wunsch nach einem Stipendium wurde so groß, dass ich es eines Tages nicht mehr aushielt. (…) Vor allem wollte ich in die Wannsee-Villa des Literarischen Colloquiums Berlin. Die vergaben jedes Jahr Stipendien an sechs vermeintliche Sprachgenies. (…). Ich bin dann einfach hingefahren, als die sechs Kandidaten ankamen, und tat so, als sei ich einer von ihnen. Zwei Gewinner hatten nämlich abgesagt – das war üblich dort, weil manche mehrere Stipendien gleichzeitig abwickeln – und so fiel es nicht auf.“




Judith Kuckart ist Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“

Judith Kuckart wird die erste „Stadtbeschreiberin“ in Dortmund. Damit hat sich die Jury für eine bereits etablierte Autorin entschieden. Frau Kuckart lebt heute in Berlin, sie wird ihr Dortmunder Stipendium von Mai bis Oktober 2020 wahrnehmen, das heißt: in der Stadt wohnen und arbeiten.

Die Schriftstellerin Judith Kuckart (Foto: Burkhard Peter)

Die Schriftstellerin Judith Kuckart (Foto: Burkhard Peter)

Die Autorin (Jahrgang 1959) hat eine westfälische Vergangenheit. Sie wuchs vorwiegend in ihrer Geburtsstadt Schwelm auf, verbrachte aber auch einen Teil ihrer Kindheit in Dortmund-Hörde. Später studierte sie Literatur- und Theaterwissenschaften an der Universität Köln und der Freien Universität Berlin, an der Folkwang-Hochschule Essen absolvierte sie außerdem eine Tanzausbildung. Seit 1999 ist sie zudem als freie Regisseurin tätig.

Bereits seit 1990 veröffentlicht sie Romane, zuletzt erschien im Juli 2019 „Kein Sturm, nur Wetter“ bei DuMont. Die Autorin hat bereits etliche Literatur-Preise und Stipendien erhalten, so wurde ihr beispielsweise 2009 der Literaturpreis Ruhr zuerkannt.

Judith Kuckart beschäftigt sich besonders intensiv mit den Themenkreisen Heimat und Herkunft. In Dortmund möchte sie ihren nächsten Roman ansiedeln. Außerdem plant sie, hier ein Theaterstück mit Laien zu produzieren.

Die Zeit intensiv nutzen

In der Begründung der Jury heißt es: „Judith Kuckart ist eine hervorragende und etablierte Literatin mit einem starken Bezug zu Dortmund und zur Region. Sie überzeugte durch ihre innovativen Kooperationsideen und die tiefe Auseinandersetzung mit den Inhalten des Literaturstipendiums. Sie ist engagiert und erfahren, kann gut vermitteln und ist eine Meisterin der Inszenierung. Sie wird die Zeit in Dortmund intensiv nutzen.“

Ganz prosaisch sei angefügt: Für die Dauer des Stipendiums steht der Autorin eine möblierte Wohnung in Dortmund zur Verfügung, außerdem bekommt sie monatlich 1800 Euro. Die Auszeichnung ist mit einer temporären Residenzpflicht in Dortmund verbunden.

Das Stadtbeschreiber-Stipendium soll künftig jährlich vergeben werden. Inhaltlicher Schwerpunkt ist – laut Stadtpressestelle – „die Transformation Dortmunds von der Stadt der Montanindustrie zum Standort von Wissenschaft, Technik und Dienstleistungen“. In der Zeit ihres Stipendiums, so heißt es in der Pressemitteilung weiter, „arbeitet die Stadtbeschreiberin eng mit dem Kulturbüro, dem Literaturhaus Dortmund und weiteren Institutionen der regionalen Literaturszene zusammen, bringt sich in die Stadtgesellschaft ein und gibt den Diskursen aktuelle Impulse“.

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Hier ein Link zur Homepage von Judith Kuckart: https://judithkuckart.de/

Eine sehr kritische Einschätzung zur Institution „Stadtbeschreiber*in“ (noch vor der Wahl der ersten Preisträgerin für die Revierpassagen verfasst und also natürlich nicht auf Frau Kuckart gemünzt) findet sich hier.




Im hitzigen Aktionismus verpufft – Dostojewskijs „Dämonen“ enttäuschen in Dortmund

Szene mit Annou Reiners, Jakob Benkhofer, Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Szene mit Annou Reiners, Jakob Benkhofer und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Nein, das leicht verdauliche Zwei-Stunden-keine-Pause-Format hat Sascha Hawemann für seine Dortmunder Bühnenfassung von Dostojewskijs Roman „Die Dämonen“ nicht gewählt. Deutlich mehr als vier Stunden (plus eine Pause) werden dem Publikum bis zum Ende der Unruhen und des Protagonisten Werchowenskij abverlangt – vorausgesetzt, es hält bis zum Ende durch. Viele Besucher der Premiere taten dies nicht und verschwanden in der Pause, manche auch schon vorher. Verdenken kann man es ihnen nicht.

Szene mit (v.l.) Christian Freund, Annou Reiners, Alexandra Sinelnikova, Jakob Benkhofer (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Dekonstruktion

Charakterisierungen und Spannungsbögen fehlen weitgehend, dafür sind Deklamationen in den Zuschauerraum hinein zahlreich. Die Akteure werden mit Rampenlicht und Neonröhren diffus erhellt, manchmal schwebt ein Gestell mit Extraneonröhren vom Schnürboden herab. Vermutlich akzentuiert das dann einen Handlungs-Höhepunkt, und mit sehr viel gutem Willen könnte man in alledem entlarvende Dekonstruktion entdecken, wie sie seit einigen Jahrzehnten in Mode ist an vielen deutschen Theatern. Aber es entdeckt sich nichts. Weitere Beigaben, nur der Vollständigkeit halber erwähnt, sind einige Säcke Erde und ein Eimer Kotze (ist natürlich nur Bühnenkotze und stinkt auch nicht), in die jemand zu gegebener Zeit seinen Kopf stecken muß.

Atemlose Hektik

Uwe Schmieder hat zu Beginn und dann einige weitere Male Auftritte als Erzähler Lawrentjewitsch, muß eine gewaltige Menge Text bewältigen, und aus Gründen, die, wie vieles andere hier, nicht recht klar werden, wird ihm dabei atemlose Hektik abverlangt. Weil er aber ein guter, unverwechselbarer Schauspieler ist und seine Vorgaben mit alerter Körperlichkeit erfüllt, gewinnt er mehr Kontur als die meisten anderen auf der Bühne.

Szene mit Andreas Beck, Friederike Tiefenbacher (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Unscharfe Positionen

Kontur erlangen neben Schmieder am ehesten noch Werchowenskij und die Stawrogina, die beiden „Alten“; wiederum liegt das vor allem wohl an den beiden Künstlerpersönlichkeiten Friederike Tiefenbacher und Andreas Beck, bei letzterem zudem aber auch an seiner Leibesfülle, die ihn deutlich vom Rest des Ensembles unterscheidet.

Die anderen jedoch bleiben eher blaß und wirken austauschbar, was, wie bereits bedauert, an der Inszenierung und nicht an den Darstellern liegt. Nur der Vollständigkeit halber sei daher zumindest angemerkt, daß eigentlich natürlich alle Dostojewski-Figuren für unterschiedliche moralische, politische, religiöse, was auch immer Positionen und Unzulänglichkeiten stehen, daß ihre Reflektion das literarische Gewicht des Romans zu einem Gutteil ausmacht. Wenig, sehr wenig davon hat in dieser Dortmunder Inszenierung überlebt.

Vergewaltigung

Immerhin kann man Sascha Hawemann, der hier neben der Regie auch, zusammen mit Dirk Baumann, für die Bühnenfassung verantwortlich zeichnet, nicht vorwerfen, am Text gespart zu haben. Seiner Fassung liegt die Übersetzung Swetlana Geiers mit dem Titel „Böse Geister“ zugrunde. Vermutlich zog er sie bereits bestehenden Dramatisierungen vor (Albert Camus zum Beispiel verarbeitete Dostojewskijs „Dämonen“ 1959 zum Theaterstück „Les possédés“), um in einer eigenen Dramatisierung ungehemmt eigene Schwerpunkte setzen zu können. Der zurückliegenden Vergewaltigung der minderjährigen Matrjoscha durch den Umstürzler und Gutsbesitzerinnensohn Stawrogin wird somit gehörig Raum gegeben, doch revolutionäre Diskussionen verpuffen im hitzigen Aktionismus, müssen schlimmstenfalls die Grundierung abgeben für kindischen Bühnenklamauk, wenn etwa die Revolutionäre sich unfähig für eine Abstimmung zeigen.

Strahlendes Ich

Prägendes Element im Bühnenbild (Wolf Gutjahr) ist übrigens ein in weißem LED-Licht erstrahlender, etliche Meter hoher russischer Buchstabe, der aussieht wie ein auf links gewendetes lateinischen „R“. Er wird „ja“ ausgesprochen und heißt auf deutsch „ich“. Wahrlich bedeutungsschwer, betroffen machend geradezu, wenn man es denn weiß.

  • Termine: 6., 12., 13., 21. Dezember 2019
  • 12., 16., 26. Januar 2020, 22. Februar 2020.
  • Beginn wegen Überlänge bereits um 18:00 Uhr
  • www.theaterdo.de



„Berlin Babylon“-Autor Volker Kutscher setzt dem einstigen BVB-Spieler August Lenz ein kleines literarisches Denkmal

Die Dortmunder Recherchen verliefen unspektakulär. Volker Kutscher hat das Fußballmuseum besucht und dort einige Gespräche geführt, er hat sich im Dortmunder Institut für Zeitungsforschung umgetan und sich den Borsigplatz angeschaut.

Der Autor Volker Kutscher (Foto: © Privat / Emons-Verlag)

Der Autor Volker Kutscher (Foto: © Privat / Emons-Verlag)

Es gibt in Dortmund attraktivere Ziele, auf jeden Fall drängt es die Dortmunder, ihren Besuchern den Phoenixsee zu zeigen, vielleicht auch die Gewerbeansiedlungsfläche Phoenix-West, den Fernsehturm und das Westfalenstadion. Doch wenn Kutscher kommt, dann interessiert vor allem die Vergangenheit.

Krimis zu Zeiten der Machtergreifung

Mit seinen Berliner Kriminalromanen aus den 20er und 30 Jahren, in deren Mittelpunkt der zwiespältige, wenngleich nicht unsympathische Kriminalkommissar Gideon Rath steht, hat Volker Kutscher es zum derzeit wohl prominentesten Krimiautor deutscher Zunge gebracht. Schon die bislang sieben Romane verschafften ihm erhebliche Popularität, doch der Fernseh-Mehrteiler „Berlin Babylon“, der nach Motiven vor allem von Kutschers erstem Roman „Der kalte Fisch“ entstand, war sein endgültiger Durchbruch. Auch die folgenden Romane, berichtet Kutscher im Pressegespräch, werden verfilmt und sind zunächst auf „Sky“, später dann öffentlich-rechtlich zu sehen.

Nun gut, mit Dortmund hat Gideon Rath nichts zu tun, und das wird auch so bleiben. Aktuell hat Kutscher in der Stadt für eine kurze Geschichte recherchiert, die er für die Anthologie des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ zu schreiben beabsichtigt. Ihn interessiert das Jahr 1936, in dem in Berlin die Olympischen Spiele stattfanden und in denen es in Sonderheit auch ein olympisches Fußballturnier gab. Deutschland galt als Favorit, ging aber im Viertelfinale gegen Norwegen mit einem 0:2 ganz unerwartet in die Knie. Das war am 7. August, und es soll das einzige Fußballspiel gewesen sein, das Adolf Hitler in seiner Amtszeit jemals besucht hat. Not amused, der braune Reichskanzler.

Einen Draht zu Fußballgeschichten

So, und jetzt kommt der Dortmund-Bezug. In der deutschen Nationalmannschaft spielte auch August Lenz vom BVB. Und der interessiert Volker Kutscher, der wird in seiner Kurzgeschichte eine tragende Rolle spielen. August Lenz, erzählt Volker Kutscher weiter, wurde später Soldat, überlebte den Krieg, war bis 1949 aktiver Fußballer, später Kneipier, starb in den 70er Jahren.

Wie ist der Autor bloß gerade auf ihn gekommen? „Ich hab’ da so’n Draht dazu“, sagt Kutscher, der wiederholt den Revierfußball der Zwischenkriegszeit recherchierte und Geschichten auch schon bei Schalke ansiedelte. Rivalen, sagt er, war die Vereine natürlich auch damals schon, jedenfalls auf dem Rasen. Aber nicht so wie heute. Man besuchte sich freundschaftlich und freute sich mit, wenn der andere eine Meisterschaft gewann.

Über die Olympia-Niederlage berichteten die damals noch drei Dortmunder Zeitungen relativ ausführlich, schuld war wohl in erster Linie ein reichlich „zahnloser Sturm“. A propos: 1936 ging auch ein heftiges Unwetter über der Stadt nieder, was viele Leute mehr noch als der Sport bewegte.

Nicht mehr als 12 Buchseiten, mindestens ein Mord; und Fußballstar August Lenz kann, da überlebend und nicht vorbestraft, weder Opfer noch Täter sein: Bei diesen knallharten Kriterien wird es auf den Manuskriptseiten recht eng, und Volker Kutscher glaubt deshalb auch gar nicht, daß noch Platz für einen Ermittler sein wird. Aber kurze, komprimierte Kriminalgeschichten können auch gut ohne auskommen, findet er.

Kurzes für das Krimi-Festival „Mord am Hellweg“

Zum „Mord am Hellweg“ (Festivalzeitraum: 19. September bis 14. November 2020) soll die (nunmehr dritte) Anthologie mit Kutschers Dortmund-Geschichte vorliegen. Wieder erscheint die (spannende, wie wir aber doch hoffen wollen) Sammlung im Dortmunder grafit-Verlag, dessen einprägsames Logo die Bände ziert. Und natürlich wissen wir, daß es grafit eigentlich gar nicht mehr gibt, sondern daß es an den Kölner Emons-Verlag verkauft wurde. Trotzdem freut man sich über diese unaufdringliche Erinnerung an eine, wenn auch kurze, Dortmunder Tradition der Kriminalliteratur.

A propos Ermittler: Ihm werden wir ebenfalls beim Hellweg-Festival wiederbegegnen. Volker Kutscher wird dort den achten Gideon Rath-Krimi vorstellen, erstmalig dort aus ihm lesen. Wie auch das kleine Dortmund-Stück wird er im Jahr 1936 spielen, und die Olympischen Spiele werden zumindest die Atmosphäre des Buches prägen. Mehr will der Dichter noch nicht sagen, was man versteht.

Das Ende spielt im Jahr 1938

Ursprünglich, weiß der Kollege von einer Essener Zeitung, war die Gideon Rath-Reihe doch einmal auf acht Bände angelegt, oder? Ja, sagt Kutscher, doch jetzt werden es wohl zehn werden. Es wäre nicht sinnvoll, 1936 aufzuhören. Ihm schwebt ein Ende der Reihe jetzt mit den Pogromen 1938 vor, der „Reichskristallnacht“, als auch dem Gutgläubigsten in Deutschland klarwerden mußte, daß der Weg Nazi-Deutschlands einer in die Katastrophe sein würde, in Untergang und vielmillionenfachen Tod.

Das Krimifestival „Mord am Hellweg“, wir verlassen die zutiefst unerfreuliche Vergangenheit, findet nächstes Jahr mit rund 200 Veranstaltungen zum 10. Mal statt. Ein beachtliches Aufgebot an Krimiautoren wird das Verbrechen in die teilnehmenden Orte tragen, um sodann kurze Geschichten für die Anthologie zu verfassen. Die Liste der „mit fiktiven Auftragsmorden Beauftragten“ reicht von Benedikt Gollhardt (Bönen) bis Melanie Raabe (Witten), „Wilsberg“-Erfinder Jürgen Kehrer (Bergkamen) begegnet uns auf der Liste ebenso wie der langjährige grafit-Autor Horst Eckert (Holzwickede). Erstmalig soll es so etwas wie ein Symposium geben, eine Tagung zur Ästhetik des Kriminalromans (2. bis 4.10.2020).

Ist Dortmund zu groß für dieses Festival-Konzept?

Kleine kritische Schlußbemerkung: „Mord am Hellweg“ ist im Jahr 2002 gestartet mit der Prämisse „kleine Veranstaltungen für kleine Spielorte“. Das war für Städte wie Unna, Soest, Fröndenberg auch goldrichtig. Auch bietet die Kriminalliteratur Veranstaltern die reizvolle Möglichkeit, für vergleichsweise kleines Geld bekannte Namen zu bekommen, man denke nur an die zahlreichen Skandinavier, die uns mit ihren sadistischen Serientätern beglücken.

Dortmund aber paßt nicht so recht in dieses Festivalschema. Hier ist, gerade auch im Spätherbst, auf dem kulturellen Feld einiges los. Deshalb steht zu befürchten, daß die hier angesiedelten „Mord am Hellweg“-Veranstaltungen nur beschränkte Aufmerksamkeit finden werden, sehr zur Unzufriedenheit all jener kleinstädtischen Teilnehmer, die „für Dortmund“ auf schillernde Namen verzichten müssen. Dortmund kriegt Kutscher (in der Anthologie) und die kleinen anderen den weitaus weniger bekannten Rest: Das sollte nicht den Trend des Festivals markieren.




Sucht, Hass und Selbstzerstörung: Luk Perceval inszeniert „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ in Köln

Foto: Krafft Angerer

Regen, Regen, Regen: Szenenbild aus der Kölner O’Neill-Aufführung. (Foto: Krafft Angerer)

Sie leben in einem Haus zusammen und sind doch isoliert voneinander: Jeder für sich eingeschlossen in ein kleines Zimmer, leiden die Mitglieder der Familie Tyrone an ihrer Sucht und an den anderen, die die Hölle sind.

Luk Perceval hat für das Schauspiel Köln Eugene O`Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ inszeniert und dafür gemeinsam mit dem Bühnenbildner Philipp Bußmann einen Bungalow konzipiert, dessen Räume zwar clean und hell erleuchtet sind, aber für die Bewohner zur Einzelzelle werden. Symbol dafür, dass Mary, James, Jamie und Edmund Tyrone zwar unablässig reden, aber nie wirklich miteinander sprechen. Zu gefangen ist jeder in seinem Schmerz und seiner Abhängigkeit, als dass sie wirklich miteinander kommunizieren, geschweige denn sich gegenseitig helfen könnten.

In dem Stück von 1956 verarbeitet der Nobelpreisträger (1936) O`Neill auch seine eigene Familiengeschichte: Die Handlung spielt im Sommer 1912, die Mutter Mary (Astrid Meyerfeldt) ist gerade aus dem Sanatorium zurück, wo ihre Morphiumsucht behandelt wurde – nicht sehr erfolgreich, wie die weitere Handlung zeigt. Der Vater James (André Jung), ein alternder Schauspieler und ebenso egozentrisch wie geizig, versucht auf heile Welt zu machen, hält das aber nur mit Whisky durch. Ebenso wie sein Sohn Jamie (Seán McDonagh), der dem Vater zuliebe ebenfalls Schauspieler wurde, dabei leider nur mäßig erfolgreich, ihm auch im Trinken nacheifert, wo er ihn aber inzwischen übertrifft. Sein jüngerer Bruder Edmund (Nikolay Sidorenko) dagegen ist ernstlich krank, er hat Krebs, den er ebenfalls versucht, mit Whisky zu kurieren.

Foto: Krafft Angerer

Die Figuren, in ihren Zimmern isoliert… (Foto: Krafft Angerer)

Die Regieanweisungen lässt Perceval von Maria Shulga sprechen, die außerdem das Hausmädchen Cathleen verkörpert. Sie stehen im Widerspruch zur gezeigten Handlung und rufen so eine eigentümliche Distanz zwischen Spiel und Text hervor, als wollten die Schauspieler sagen: „Ihr scheint alles über uns zu wissen, aber ihr täuscht euch; die Seelenqual eines Menschen kann niemand wirklich verstehen.“ Noch dazu erlebt auf diese Weise das Publikum den Widerspruch zwischen Lüge und Wahrheit: Denn die Süchtigen müssen ihren Konsum verheimlichen, verbergen oder schönreden, im verzweifelten Versuch, die Selbstachtung zu wahren, was natürlich kläglich scheitert. Dazu spielt Cathleen außerdem Klavier, was die melancholische Stimmung des Abends einmal mehr unterstreicht.

Schauspielerisch ist die Premiere eine Glanzleistung: André Jung gibt den abgehalfterten Mimen in seiner ganzen Vielschichtigkeit und spielt dessen Witz, den Egoismus, aber auch den krankhaften Geiz und dessen Weinerlichkeit grandios aus. Und wie Astrid Meyerfeldt das verzweifelte, labile Gefühlsdilemma der morphiumsüchtigen Mary verkörpert, all die Höhen und Tiefen, all die Aggressionen und Wehleidigkeiten sowie den ungeheuren Selbstbetrug, den sie mit großen Gesten und immer neuen Abendkleidern zur Schau stellt, das geht einem wirklich nahe.

Starke Ensembleleistung

Auch die Söhne überzeugen in ihren Rollen: Seán McDonagh als Jamie, der sich mit 30 schon restlos auf- und der Selbstzerstörung hingegeben hat und Nikolay Sidorenko als sein kranker kleiner Bruder, der sich zwar einen Rest von psychischer Authentizität bewahrt hat, dessen Körper aber schon jetzt nicht mehr mitspielt. Als Sinnbild gestörter Kommunikation ist das Zusammenspiel aller Figuren, das Hass, Abhängigkeit und Schuldgefühle zum Ausdruck bringt, eine äußerst gelungene Ensembleleistung.

Das Leitmotiv in Eugene O`Neills Stück ist der Nebel, der die trüben Tage der Familie zusätzlich verschleiert: Zugedröhnt nehmen sie die Außenwelt nur noch durch den Dunst wahr. Aktueller Bezug ist dabei die Opioid-Krise in den USA, die viele Schmerzmittelpatienten zu Heroinsüchtigen gemacht hat. Ähnlich wie Mary im Stück, die bei der Geburt Edmunds mit Morphium behandelt wurde und dann nicht mehr davon loskam. Bei Luk Perceval wird der Nebel zum Regen, der unablässig auf die Bühne prasselt. Das heißt, wir müssen der Wahrheit ins Augen sehen, auch wenn sie kalt und nass ist.

Nächste Vorstellungen: 12., 14., 15. und 29. Dezember im Depot 1. Karten, Termine und weitere Infos: www.schauspiel.koeln




Hier steppt (nicht nur) der Bär: Robert Wilson inszeniert Kiplings „Dschungelbuch“ in Düsseldorf als Musical

Die Tiere sind los: Düsseldorfer Szene aus „Das Dschungelbuch“ (Foto: Lucie Jansch)

Schließ Deine Augen und spitz Deine Ohren, dann hörst Du die Geräusche des Dschungels: das Brüllen des Tigers, das Zischen der Schlange, das Heulen der Wölfe und das Keckern der Hyäne. Nun öffne sie wieder und Du siehst einen zauberhaften Urwald aus Licht und Farben, den Robert Wilson gemeinsam mit seinem Team auf die Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses gebracht hat.

Die Inszenierung folgt dabei der unverwechselbaren Bildsprache, die Robert Wilson kreiert und die inzwischen zu seinem Markenzeichen geworden ist: Üppig wuchernde Vegetation und ausladende Schlingpflanzen sind dabei seine Sache nicht, er konzentriert sich ganz auf die Figuren, die sehr stilisiert und dabei witzig charakterisiert jede ihre unverwechselbare Eigenheit leben.

Die Kostüme spiegeln auch ein Stück Popkultur wieder und die Bezüge zu Hollywood sind offensichtlich – teilweise spielt die Handlung sogar an einem Filmset. So bezieht sich Wilson nicht nur auf Rudyard Kiplings Romanvorlage des Dschungelbuchs, sondern auch die Rezeptionsgeschichte des Stoffes im Film wird ihm hier zum Bühnenmaterial.

Lichtzauber und höchst originelle Musikmischung

Farbenfroh und bunt wird der Dschungel dabei besonders durch Licht, das auch die Stimmung der Szenen untermalt. Das Herzstück des Düsseldorfer Dschungelbuchs bildet aber die Musik des Duos CocoRosie: Rock, Folk, Gospel, Rap, Pop und Jazz mischen sich in ihrer großartigen Kreation aufs Originellste. Wir sitzen also eigentlich in einem Musical, mehr noch in einer Revue, die Szenen durch einzelne Songs gegliedert und von den Tieren als kultige Nummern dargeboten.

Wie in Hollywood… (Foto: Lucie Jansch)

Überhaupt die Tiere: Jedes einzelne von ihnen spielt und singt grandios, mit untrüglichem Showtalent gesegnet. Toll, was das Ensemble hier leistet und mit welcher Spielfreude es sich in die Physis der Tiere hineinversetzt. Allen voran entertaint Georgios Tsivanoglou als Baloo der Bär wie ein ganz Großer des Showgeschäfts, was vom Publikum dann auch öfter mit Szenenapplaus bedacht wird. Aber auch die Wölfe (Ron Iyamu und Judith Bohle) machen Spaß und André Kaczmarczyk als schwarzer Panther Bagheera gibt sich als glitzernde Drag Queen mit scharfen Krallen. Elefantös fungiert Rosa Enskat als Erzählerin und Mowgli wird von Cennet Rüya Voß als kindlicher Draufgänger gegeben.

In der Menschenwelt fühlt sich Mowgli zwar nicht so wohl, zumal Wilson dessen Mutter Messua (Tabea Bettin) als puritanische Siedlerin mit hochgeschlossenem Kleid und eckigen Bewegungen inszeniert. Doch von den Menschen bekommt Mowgli das Feuer und das ermöglicht ihm, seinen Widersacher, den Tiger Shere Khan (gut gebrüllt, Sebastian Tessenow) letztendlich zu besiegen.

Nach 90 Minuten Spielfilmlänge ist das Dschungelfieber dann auch schon wieder vorbei: Ein Stück für die ganze Familie, aber kein spezielles Kinderstück, dazu ist es vielleicht zu hintergründig. Doch wer coole Songs liebt und amerikanisches Musical, der ist hier richtig: Welcome to the jungle!

Karten und Termine: www.dhaus.de




„Der vergessliche Riese“: David Wagner schildert das Leben mit einem demenzkranken Vater

Dieses Buch hat viele berührende Momente, wobei man sich als Leser hin- und hergerissen fühlt zwischen Lachen, Schmunzeln und Nachdenklichkeit. In „Der vergessliche Riese“ erzählt der preisgekrönte Autor David Wagner – autobiografisch gefärbt – über (s)einen demenzkranken Vater.

Wer allein schon bei dem Thema meint, das Buch besser nicht anrühren zu wollen, weil er ohnehin nur ein Horrorszenario geboten bekomme, sollte bedenken, dass dem Verfasser ein durchaus schwieriger Spagat gelingt. Er beschreibt zwar äußerst anschaulich, wie die Krankheit die Persönlichkeit eines Menschen verändert, kommt aber ohne grauselige Szenen aus. Und auch das gesamte Umfeld betrachtet den Mann keineswegs nur als eine reine Belastung.

Vielmehr wirken manche Situationen eher skurril. Beispiel: Auf der mehrstündigen Fahrt zur Beisetzung einer verstorbenen Tante erwähnt der Vater zwar dauernd die nahe Verwandte, aber der Sohn muss ihn immer wieder darin erinnern, dass sie nicht mehr lebt. Nun findet die Beerdigung in Bayreuth statt, das weckt bei dem Senior, einem großen Klassikfan, noch ganz andere Assoziationen

„…im Alter aber werden sie alle blöd“

Wann das Gedächtnis funktioniert und wann nicht, das ruft oft Erstaunen hervor. Plötzlich kennt der Vater bei dem Besuch eines Schnellimbisses McNuggets, von seinen beiden verstorbenen Frauen weiß er hingegen nichts mehr. Spricht man ihn darauf an, kommen ihm die Ehen blitzartig wieder in den Sinn, aber zwei Sekunden später hat er sie schon wieder vergessen. Fast schon wie eine Dauerschleife folgt ein sarkastischer Spruch über seine Familie: „Die Dublanys sind sehr intelligent, im Alter aber werden sie alle blöd“. Nachgeschoben wird dann meist angesichts des Todes der zwei Ehefrauen: „Ich muss ja schwer auszuhalten sein“.

Zu seinem Sohn hatte er lange Jahre ein sehr abgekühltes Verhältnis. Dass der Leser erst nach und nach erfährt, worin die Ursachen lagen, lässt durchaus einen gewissen Spannungsbogen entstehen. Zum einen hatte das etwas mit der zweiten Frau zu tun, zum anderen mit seiner Selbstständigkeit als Unternehmer. Man kann es nur erahnen, auch seine umtriebige Geschäftstätigkeit ist aus den Erinnerungen verschwunden.

Große Gelassenheit – und Gewissensbisse

Mitunter wirkt der Sohn aber auch erschüttert darüber, was sein Vater unwiderruflich vergessen zu haben scheint. Manchmal sind es familiäre Ereignisse, insbesondere trifft es aber den Beruf. Dass sein Vater ihn nicht bei dem Vornamen nennt, sondern andauernd mit „Freund“ anspricht, nimmt er ganz gelassen hin, wobei die Anrede befremdlich und zugleich vertraut klingt.

David Wagner beschreibt eine Familie, die sehr liebevoll mit dem Demenzkranken umgeht. Die gesamte Atmosphäre zeichnet eine große Gelassenheit aus. Da wird dann auch dem Vater zum x-ten Mal erklärt, welche Wohnungen und Autos er hatte. Wenig nimmt der Leser allerdings von den Befindlichkeiten des Sohnes wahr, der einen doch herausfordernden Prozess durchlebt. Dass sein Vater längst nicht mehr „der Riese“ ist, wie er ihn als Kind gesehen hat, versteht sich selbstredend, aber nun hat er es mit einen vollkommen vergesslichen 73-jährigen Mann zu tun.

Während zu Beginn des Buches der Senior in seinem eigenen Haus leben kann (zwei Betreuerinnen kümmern sich abwechselnd um ihn), wird dann doch der Wechsel in ein Pflegeheim unausweichlich. Darüber nicht richtig reden zu können oder zu wollen, hinterlässt bei dem Sohn Gewissensbisse.

David Wagner: „Der vergessliche Riese“. Roman. Rowohlt Verlag, 272 Seiten, 22 Euro.