Mode bis zum Tode: Jelineks „Das Licht im Kasten“ und Houellebecqs „Unterwerfung“ in Düsseldorf

Düsseldorf und Mode – das passt wunderbar zusammen. Den Stücktext dazu liefert die Schriftstellerin Elfriede Jelinek. Auch in Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ ändern sich die Kleidervorschriften: Miniröcke sind plötzlich out, lange züchtige Gewänder dagegen angesagt. Zwei Inszenierungen am Düsseldorfer Schauspielhaus beschäftigen sich mit dem Geist der Zeit.

Szene aus „Unterwerfung“ (Foto: David Baltzer)

Zynische, abgründige und hoffnungslose Zukunftsszenarien sind die Spezialität des französischen Autors Michel Houellebecq. In seinem Roman „Elementarteilchen“ geht es um die Gentechnik und darum, welche Auswirkungen die Möglichkeit zur gesteuerten Reproduktion auf die menschliche Gesellschaft haben könnte.

In dem Buch „Unterwerfung“ imaginiert Houellebecq ein Frankreich im Jahre 2022, in dem nach bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen Anhängern des rechten und linken Lagers schließlich ein muslimischer Staatspräsident an die Macht kommt. Eine unheimliche Aktualität erhielt der Roman dadurch, dass er zeitgleich mit dem Attentat auf die französische Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ im Januar 2015 herauskam. Wurde das Werk von der Realität eingeholt?

In Hamburg, Berlin und Düsseldorf (Regie: Malte C. Lachmann) steht „Unterwerfung“ als Bühnenstück im Moment auf dem Spielplan und doch hat man in Zeiten von Trump, Putin und Co. schon fast den Eindruck, es sei bereits wieder obsolet geworden: Wo gerade Mauerbau statt Gründung einer Muslim-Universität ansteht.

„Liberté, Egalité, Fraternité“ – die Kernbotschaft Frankreichs bestimmt das Bühnenbild (Ursula Gaisböck). Wenn auch als Möbeldesign, denn der Wissenschaftler François (Christian Erdmann) nutzt die hölzernen Buchstaben gerne als Sitzgelegenheit. Mit seinem Glauben an die Werte der Demokratie ist es allerdings nicht mehr so weit her: Lieber pflegt er seine Depressionen und leidet an der Leere seiner Beziehungen. Christentum oder Islam – auch das ist ihm letztlich wurscht, Hauptsache, er hat sein Auskommen und die Frauen sind nett zu ihm.

Wie Houellebecq die Ausgehöhltheit der westlichen Werte dem Machtanspruch religiöser Fundamentalisten gegenüberstellt, das zeugt von abgründiger Ironie – die allerdings im Roman deutlicher zutage tritt als auf der Bühne. Hier wirken manche Thesen merkwürdig platt, vor allem die frauenfeindlichen Sprüche sind gut für Lacher im Publikum. Dass Francois sich selbst damit ebenso bloßstellt und die Frauen in ihm ohnehin nur ein Würstchen sehen, kann man so leicht vergessen.

Szene aus „Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)“. (Foto: Sebastian Hoppe)

Weiblichkeit und der (teilweise masochistische) Blick der Frauen auf sich selbst sind die Themen von Elfriede Jelinek: In „Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)“, inszeniert von Jan Philipp Gloger, bildet die Mode den Fixpunkt, an dem sich die Frauen auf der Bühne zu orientieren suchen. Doch finden sie sich dabei? In den immer gleichen und doch immer neuen Kleidern? Die irgendwie an den Models immer besser aussehen als an einem selbst? Und wer steckt überhaupt in diesen Kleidern? Eine Person? Oder doch nur ein Nichts?

Die Jelineksche Textfläche plätschert über einen hinweg, mit Ironie, Nonsens, Leichtigkeit und Tiefgründigkeit. Mitunter wird es auch philosophisch, zum Beispiel wenn Kant und Heidegger Tennis spielen. Oder politisch, wenn die Umstände der Textilherstellung in der dritten Welt angeprangert werden.

Absolut grandios aber ist das Bühnenbild (Marie Roth): Ein kleiner Wald in dem Manuela Alphons, Tabea Bettin, Judith Bohle, Claudia Hübbecker, Karin Pfammatter, Lou Strenger, Julia Berns bzw. Tanja Vasiliadou herumstolpern, auf plüschige Hasen und große Füchse treffen, um sich dann nach den Shopping-Raubzügen in einem stilvollen Bungalow zu versammeln und ihre Beute anzuprobieren, ein Gläschen Weißwein zu trinken und – weiter zu shoppen: im Internet nämlich!

Der schwerbeladene Paketbote klingelt gleich mehrmals und bringt wieder den neuen alten Rock. Rot ist der und sieht an jeder anders aus, aber auch gleich. Der Regie gelingt das Kunststück, das Textmonstrum zu strukturieren und äußerst spielerisch und unterhaltsam zu dramatisieren. Das ist nicht zuletzt der Verdienst der großartigen Schauspielerinnen aller Altersstufen, die Mode bis zum Tode lustvoll durchexerzieren.

Karten und Termine: www.dhaus.de




Auch in der DDR gab es Spielräume – 66 Facetten eines Lebens in Matthias Biskupeks „Der Rentnerlehrling“

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen Erzählband, der manchen Aufschluss über das Leben in der einstigen DDR gibt:

Wer mit 65 Jahren ins Rentenalter eintritt, beginnt eine neue Lehrzeit, meint der Rudolstädter Schriftsteller Matthias Biskupek, er wird nämlich ein „Rentnerlehrling“.

Als er selber in diesen Lehrlingsrang kam, hat Biskupek, wie Schriftsteller das eben tun, ein Buch geschrieben, um sich seines bisherigen Lebens zu vergewissern und von dieser Plattform aus die restlichen Schritte zu gehen.

In 66 Geschichten, die weitgehend Lebenserinnerungen sind, hat Biskupek sein Leben rekapituliert. Für jedes Jahr eine Geschichte, dazu als Einleitung ein kurzer Bericht über das, was er genau erlebt hat mit Bezügen zum allgemeinen Weltgeschehen.

Der sachliche Vorspann ist deshalb notwendig, weil Biskupeks Geschichten keine bloßen Berichte sind, sondern Erzählungen, mal ironisch, mal satirisch zugespitzt, mal literarisch verdichtet. Und dies ist eine glückliche Kombination, denn der Leser kann einerseits Biskupeks Lebensweg nachvollziehen, in den Geschichten andererseits sehr viel über den DDR-Alltag und über die Literaturszene des untergegangenen Landes insbesondere erfahren. Je mehr der Leser eintaucht in das Buch, desto mehr merkt er, dass er vieles über die DDR ungenau, undifferenziert oder gar nicht gewusst hat.

Die Schriftstellerszene, die Biskupek aus der Innensicht heraus genau gekannt hat, steht dabei als eine Art Gradmesser für die allgemeine Entwicklung. Natürlich hat die Stasi versucht, auch ihn als IM zu rekrutieren, es fanden Gespräche statt, von denen er erst nach der Wende erfahren hat, dass die Stasi sie als informelle Gespräche gewertet hat. Aber er ist dort nicht gelandet, sondern hatte, weil er nicht stromlinienförmig mitschwamm, ein gerüttet Maß an Nachteilen in Kauf zu nehmen.

Kleine Perlen sind in diesem Zusammenhang die Berichte über interne Kämpfe. Wer kennt im Westen noch den Magdeburger Schriftsteller Wolf Brennecke? Er leitete dort eine Gruppe junger Autoren an, zu denen auch Brigitte Reimann und Rainer Kunze gehörten. Brennecke hat den demokratischen Anspruch, den ja auch die DDR für sich in Anspruch nahm, bitterernst genommen. Einmal mehrheitlich gefasste Beschlüsse hat er eisern versucht durchzusetzen. Er war nicht gegen den Staat, er hat nur manches Mal seinen eigenen Anspruch gegen ihn selber verteidigt. Als Brigitte Reimanns Mann im Gefängnis saß, hat die Stasi sie erpresst und angeworben. Als Brennecke das erfuhr, ist er zu den Ämtern gestürmt, hat sie dort verteidigt und dem Staat vorgeworfen, dass er dabei sei, eine solche Autorin in den Westen zu vertreiben.

Solche Haltungen waren also möglich, es gab Spielraum und es lag an der Tapferkeit des einzelnen, ob und wie er sie nutzte. Natürlich gab es Grenzen, das darf nicht vergessen werden. Eine Zeitlang arbeitete Biskupek, der eigentlich ein Ingenieurstudium abgeschlossen und diesen Beruf auch ausgeübt hat, am Theater in Rudolstadt. Mit viel sanftem Humor schildert er die Erlebnisse der Schauspieler und Autoren untereinander, auch die regelmäßigen Mühen, dieses oder jenes Stück überhaupt auf die Bühne zu bekommen. Aber mit List und Tücke war eben doch manches möglich.

Es macht Freude, diesen Lebenserinnerungen zu folgen. Man nimmt etwas mit und man muss beim Lesen sehr genau aufpassen, wie Biskupek diese oder jene Passage wirklich meint. Seine Ironie ist gut dosiert, sie verwässert nicht, aber fordert den Leser.

Matthias Biskupek: „Der Rentnerlehrling. Meine 66 Lebensgeschichten“. Mitteldeutscher Verlag, Halle. 352 Seiten, 19,95 Euro.




Et hätt noch immer jot jejange: Die eitle „lit.COLOGNE“ und ihr Festival-Ableger „lit.RUHR“ (Update)

Nur mal so als Beispiel: Wilhelm Genazino am 23. Oktober 2015 bei einer Lesung des Literaturbüros Ruhr in der Duisburger Stadtbibliothek. (Foto: Jörg Briese)

Eines von Hunderten Beispielen für eine Veranstaltung ohne Kölner Entwicklungshilfe: Wilhelm Genazino am 23. Oktober 2015 bei einer Lesung des Literaturbüros Ruhr in der Duisburger Stadtbibliothek. (Foto: Jörg Briese)

Verwundert rieben sich manche am 27. Januar die Augen, als die WAZ auf ihrer „Kultur & Freizeit“-Seite titelte: „Die ‚lit.COLOGNE‘ kommt als ‚lit.RUHR‘ ins Revier“. Vom 4. bis zum 8. Oktober soll es 2017 losgehen, mit 75 Lesungen in Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund.

Muttis Mini im Pott

Wie praktisch: Jovial kürte Rainer Osnowski, lit.COLOGNE-Geschäftsführer, das nur 60, 70 Kilometer entfernte Ruhrgebiet zum Gewinner des Rennens um einen heiß begehrten „Ableger der ‚lit.COLOGNE‘“, an dem auch andere Regionen großes Interesse gezeigt hätten. Er sei beeindruckt „vom unbedingten Willen und vom absoluten Wohlwollen der Reviervertreter“, so Osnowski in der Kölnischen Rundschau. („Reviervertreter“? Wohl eher Zahlmeister aus der Region!) Das Programm werde allerdings erst am 31. August auf der Zeche Zollverein vorgestellt.

Kesse Ankündigungsrhetorik, die in der Kölnischen Rundschau noch selbstbewusster klang als in der WAZ. Die lit.COLOGNE bleibe zwar „die Mutter aller Festivals“, stellte Osnowski dort klar, allerdings eine mit Nachwuchs. Im Oktober beginne „in Essens Philharmonie die fünftägige lit.RUHR mit 40 Veranstaltungen für Erwachsene und 35 für Kinder“.

Alles Gute kommt von oben?

Stolz gab Osnowski bekannt, dass fünf Ruhr-Stiftungen das 500.000 Euro schwere Budget des neuen lit.RUHR-Festivals absichern: die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die Brost-Stiftung, die RAG-Stiftung, die innogy-Stiftung und die Mercator-Stiftung. In der WAZ war am selben Tage noch von sechs Stiftungen die Rede, dazu von einem Landesministerium und fünf Unternehmen, die als Premium-Unterstützer fungieren. Die Funke Mediengruppe und der WDR 5 wurden als Medienpartner genannt.
In der Pressemitteilung der lit.RUHR selbst heißt es, das neue Festival werde „veranstaltet von dem gemeinnützigen Verein lit e.V.  Die Initiatoren des Festivals verantworten auch das Internationale Literaturfestival lit.COLOGNE“ – das allerdings cool über eine GmbH geführt wird.
So oder so: Was soll da – so gepudert & gepampert – noch schiefgehen? Alles too smart to fail.

In Duisburg! Unglaublich! Roger Willemsen (im Bühnengespräch mit Gerd Herholz). Wir vermissen ihn & seine intellektuelle Brillanz – nicht nur in Köln! (Foto: Jörg Briese)

Zu spät! Die ahnungslose Auster-isierung des Ruhrgebiets

Traudl Bünger, Programm-Macherin der lit.COLOGNE, versprach in der WAZ tapfer, dass man an der Ruhr keine kleine Kopie der lit.COLOGNE implantieren wolle, dass vielmehr das Ziel sei, „das Festival an die Besonderheiten des Reviers anzupassen“. Gebetsmühlenartig heruntergeklappert kennt man solche Sprüche bereits von jedem neuen TRIENNALE-Chef. Zum Verwechseln ähnlich schwärmte dann auch Bünger schicklich vom „Schmelztiegel Ruhrgebiet“ – so als ob Berlin, Frankfurt oder der Großraum Köln selbst keine Melting Pots wären.

Osnowski ließ da in der Kölner Berichterstattung Plumperes hören: Da die lit.RUHR vor der lit.COLOGNE SPEZIAL und der Frankfurter Buchmesse stattfinde, erhoffe er sich, Autoren wie Paul Auster zum Beispiel sowohl in Köln als auch in Essen auftreten zu lassen.

Finanziell wie organisatorisch wäre dies ganz sicher ein Vorteil für das erfolgreiche Literatur-Business aus und in Köln. Paul Auster könnte in Köln logieren, der Renault-Limousinenservice führe ihn an die Ruhr und … nähme ihn nach der Lesung gleich wieder mit: zu Interviews mit dem Kölner WDR oder dem Deutschlandfunk. Und die Ruhris hätten Auster immerhin auch einmal gesehen…

Was allerdings nicht das erste Mal wäre: Paul Auster, Don DeLillo oder Siri Hustvedt waren bereits in den 90er-Jahren im Grillo-Theater anregende Gäste des Essener Schreibhefts. So wie später auch Stewart O’Nan, Louis Begley u.v.a. Gäste des Literaturbüros Ruhr e.V.  waren. Aber woher soll man das bei der lit.COLOGNE wissen? Es gibt den rasant Heranwachsenden ja erst seit März 2001.

Literaturdiaspora Ruhr – Missionare aus Colonia

Osnowski in der Kölnischen Rundschau munter weiter: „Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen ‚erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind“. Das interessiere auch jene Verlage, „für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist.“

Alain Mabanckou (Paris) und Angela Spizig (aus Köln, achherrje!) lachen sich kaputt – beim Abend des Litbüros Ruhr im Centre Culturel in Essen. (Foto: Jörg Briese)

Ja sicher, jedem Jeck jefällt sing Mötz. Aber solches Gerede darf endgültig als hoch subventioniertes, gründlich misslungenes Revier-Marketing aus Olle-Kamelle-Kölle bezeichnet werden. Sollte Osnowski wirklich nicht wissen, dass Literaturveranstalter im Revier wie die Buchhandlung Proust, das Schreibheft, die beiden Literaturbüros, das Deutsch-Französische Kulturzentrum, das Literaturhaus Herne-Ruhr, das Literaturhaus Dortmund, die (deutsch-türkische) Buchmesse Ruhr, die Literatürk, der Verein für Literatur und Kunst in Duisburg, die Exile Kulturkoordination seit Jahrzehnten mit allen guten Verlagen in Deutschland kooperieren und mit vielen internationalen sowieso? Na gut, Salman Rushdie war noch nicht hier, Goethe kann nicht mehr kommen, aber sonst? Some of the best are yet to come – auch ganz ohne lit.COLOGNE.

Wenn die Kölner übers vermeintliche Kuckucksnest Ruhrgebiet weiter so hinwegfliegen, wie sie zurzeit darüber hinwegplappern, helfen auch keine 500.000 Euro, von denen Osnowski ganz bescheiden meinte: „Damit können wir aber gut arbeiten: Wir fangen ja gerade erst an.“

Kleinmut und Mittelmaß

Unterm Strich bleibt aber auch eine andere Fehlleistung festzuhalten. Im Ruhrgebiet haben es sowohl Stiftungen, Unternehmen als auch öffentliche Kultur- bzw. Literaturpolitik in Kommunen oder beim RVR jahrzehntelang versäumt, die regionale Literaturförderung beherzter und intelligent so auszustatten, dass sich hier mehr gute Ideen bis zur Bühnenreife hätten entwickeln lassen. An Konzepten wie dem zum Europäischen Literaturhaus Ruhr oder zum Literaturnetz Ruhr (wichtiger Literaturveranstalter) ist hierzulande niemand interessiert.

Geldgeber an der Ruhr misstrauen Ideen und Programm-Machern, die aus der Region kommen, sowieso. Vielleicht, weil ihnen selbst Mittelmaß so vertraut ist? Warum zum Teufel in der Region Innovatives behutsam aufbauen, wenn man erfolgreichen Mainstream für den Kulturtourismus viel einfacher abkupfern kann? Also ab nach Köln oder anderswo zum Shoppen und eingereiht ins austauschbare Event- und Marketingbusiness der großen Festivals. Und dann demnächst noch dreist von „Alleinstellungsmerkmal“ schwafeln.
Dass allerdings die geschäftstüchtige lit.COLOGNE diese Geistlosigkeit und Marketinggeilheit an der Ruhr nutzt, um an neue Töpfe zu kommen, darf man ihr nun wahrlich nicht vorwerfen.

„Mangel an Großstadtsubstanz“

Dies alles erinnert sehr an Erik Regers Reportage „Ruhrprovinz“ aus „Die Weltbühne“ von 1928: „Eine chaotische Landschaft, in der Handelskammern, Gewerkschaften, Industriellenverbände, Bürgervereine, Pressechefs und Kulturdirektoren am gleichen Strang ziehen, um den düstern Alltag zu verschönern und das barbarische Konglomerat der Einwohner mit Kultur zu beglücken“ (…) Der Mangel an Großstadtsubstanz verursacht jene innere Unsicherheit, die in fieberhaftem Betätigungsdrang einen Ausgleich sucht.“

Und weiter: Im Ruhrgebiet sei man „aus Mangel an eigenen Ideen darauf angewiesen (…), Berlin zu kopieren. Nichts erscheint erstrebenswerter als die Imitation der Weltstadt-Mondänität.“




Transfer-Hammer: Botho Strauß von Hanser zu Rowohlt

Das ist ja mal eine bemerkenswerte Meldung aus dem Verlagsbereich: Botho Strauß, der nicht immer unumstrittene Schriftsteller von außerordentlichem Rang, wechselt von München nach Reinbek bei Hamburg. Will heißen: Seine kommenden Bücher werden nicht mehr im Hanser Verlag erscheinen, sondern bei Rowohlt.

Im deutschsprachigen Literaturbetrieb darf diese Nachricht, die uns als Rowohlt-Pressemitteilung um 16:44 Uhr erreichte, als gelinde Sensation gelten. Eine Blitzmeldung sozusagen.

Blick ins Regal: bei Hanser erschienene Bücher von Botho Strauß. (Foto: Bernd Berke)

Blick ins Regal: bei Hanser erschienene Bücher von Botho Strauß. (Foto: Bernd Berke)

Ich will hier nicht weiter darüber spekulieren, was ihn zu diesem Schritt bewogen haben mag. Auch weiß ich nicht, ob man ihn gar dazu überredet hat. In der Buchbranche werden sicherlich entsprechende Gerüchte wabern.

Nein, ich möchte hier nur ein klitzekleines Gegengewicht setzen, indem ich den Wechsel überhaupt vermelde. Denn bekanntlich werden in anderen Bereichen schon die kleinsten Bewegungen zu Breaking News aufgeplustert.

Da firmiert etwa die Tatsache, dass ein 17jähriger Kicker aus Schweden nach Dortmund wechselt, als „Kracher“. Wenn wiederum einer Dortmund verlässt und in Köln anheuert, ist von einem „Transfer-Hammer“ die dumpfbackig übertreibende Rede. Es klingt ziemlich absurd, wenn man eine solche Diktion in literarische Gefilde verpflanzt, nicht wahr? Gerade deshalb lautet die Überschrift dieses Beitrag so, wie sie lautet.

Jedenfalls dürfte Strauß, der sich aus dem Literatur- und Medienbetrieb seit jeher in die Stille zurückgezogen hat, ein jeglicher Wirbel um seine Person unlieb sein. Also lassen wir mal den unseriösen Sektor hinter uns.

Ob mich denn irgend etwas mit Botho Strauß verbinde, fragt ihr? Nun ja. Irgendwie schon. In grauer Vorzeit, als er noch längst nicht so bekannt war, habe ich meine Examensarbeit über ihn verfasst. Damals durfte ich Strauß – gemeinsam mit einer Germanistin aus Heidelberg, die ebenfalls über ihn schrieb – in Berlin besuchen. Es war eine höchst selten gewährte und somit unvergessliche Gelegenheit, ihn persönlich kennen zu lernen. Jetzt aber genug. Sonst werde ich noch feierlich.




Mit beißendem Spott gegen Scheinmoral: Vor 150 Jahren wurde der bayerische Schriftsteller Ludwig Thoma geboren

Ludwig Thoma auf einem Gemälde von Karl Klimsch aus dem Jahr 1909

Lederhose, Trachtenjanker, Pfeife im Mund: Kaum jemand hat das Bild des „Ur-Bayern“ so geprägt wie Ludwig Thoma, vor allem im nichtbayerischen Ausland. Kaum einer hat den Widerwillen seiner Landsleute gegen die „Preußen“ so zugespitzt wie der Schriftsteller, der heute vor 150 Jahren, am 21. Januar 1867, als Sohn eines Försters in Oberammergau geboren wurde. Kaum jemand aber hat sich auch so gewandelt wie der einst viel gelesene Satiriker: vom spitzzüngigen Kritiker des bier- und tabakdunstumwaberten Bürgertums seiner Zeit zum nationalistischen und antisemitischen Hetzer.

Die Kindheitsjahre im einsamen Forsthaus in Vorderriß dürften Ludwig Thoma geprägt haben: seine Liebe zur Natur hat hier wohl ihre Wurzeln. Ebenso sein kritischer, unabhängiger Geist: Thoma überzog ein Leben lang alle Autoritäten mit beißendem Spott, entlarvte die Bigotterie und Heuchelei der wilhelminischen Gesellschaft, hatte einen scharfen Blick für die Armut und Ohnmacht der „kleinen Leute“.

Die Scheinmoral des Großbürgertums, aber auch den spießigen Moralismus der Kleinstädter, die schnarrende Arroganz des preußischen Protestanten gegenüber den „zurückgebliebenen“ Katholiken aus dem Süden, aber auch die missbrauchte Autorität der Geistlichen und die geheuchelte Frömmigkeit der guten Gläubigen: Vor Thomas spitzer Feder war nichts und niemand sicher.

Auch nicht die politischen Autoritäten: In seinem heute vielleicht noch bekanntestem Sketch, „Der Münchner im Himmel“ von 1911, begehrt der Dienstmann Alois Hingerl nicht nur gegen die göttliche Majestät auf, sondern erfüllt auch den himmlischen Auftrag nicht, die Ratschläge des Herrn auf die Erde zu übermitteln, weil er ihn im Hofbräuhaus beim Bier einfach vergisst. Thomas Schlusssatz: „Und so wartet die bayerische Regierung bis heute auf die göttlichen Eingebungen“ brachte ihm eine Geldstrafe ein.

Mit der „Lokalbahn“ auf dem Weg zum Ruhm

Thomas erster literarischer Erfolg war „Die Lokalbahn“ von 1902. Der Jurist, ganz auf der Höhe seiner Zeit, schildert, was er beim Bau der Bahn zwischen Dachau und Altomünster – heute gern „Ludwig-Thoma-Bahn“ genannt – selbst erlebt haben dürfte: einen Streit um den Bau einer Anschlussstrecke im ländlichen Raum, ausgetragen mit deftigen, nicht salonfähigen Mitteln.

Davor jedoch ereigneten sich der Tod des Vaters, als das Kind sieben Jahre alt war, häufige Schulwechsel des renitenten, vergeblich um die Liebe seiner Mutter kämpfenden Knaben, Abitur in Landshut, erster vergeblicher Versuch in der Forstwissenschaft, Jura-Studium in München. Dann eine juristische Laufbahn, die Thoma 1894 als Rechtsanwalt nach Dachau führte.

Die Erlebnisse aus diesen Lebensabschnitten spielen in seinem literarischem Werk eine Rolle: In den einst viel gelesenen „Lausbubengeschichten“ von 1905 dürften sich die Erinnerungen an seine Jugend finden. Und in seinen „Kleinstadtgeschichten“ tauchen ebenso wie in „Josef Filsers Briefwexel“ und in vielen seiner Theaterstücke und Geschichten Charaktere auf, die er mit den Erfahrungen aus seinem Alltag geformt hat. Einige der Werke Thomas kamen zu Film- und Fernsehehren. „Moral“ etwa wurde schon 1928 als Kinofilm herausgebracht und 1958 für das Fernsehen neu gedreht.

Sechs Wochen Haft für ein Schmähgedicht

Als Autor und – ab 1900 – als Chefredakteur der Münchner Satire-Zeitschrift „Simplicissimus“ kannte Thoma kein Pardon. So wurde er 1906 wegen „Beleidigung und der öffentlichen Beschimpfung einer Einrichtung der christlichen Kirche mittels Presse“ zu sechs Wochen Haft verurteilt. Thoma hatte ein Spottgedicht „An die Sittlichkeitsprediger in Köln am Rheine“ verfasst, in dem er einen evangelischen Prediger, der offenbar über die Unmoral in ehelichen Schlafzimmern gewettert hatte, niedermacht: „Was wissen Sie eigentlich von der Liebe, mit Ihrem Pastoren-Kaninchentriebe, Sie multiplizierter Kindererzeuger, Sie gottesseliger Bettbesteuger?“

Wieder erhältlich im Allitera Verlag: Martha Schads Buch über Ludwig Thoma und die Frauen. Bild: Buchcover

Wieder erhältlich im Allitera Verlag: Martha Schads Buch über Ludwig Thoma und die Frauen. Bild: Buchcover

1908 zog Ludwig Thoma in sein neues Haus am Tegernsee. Mit Beginn des Krieges 1914 ist bei dem Satiriker eine Anpassung an die Stimmungslage in der Bevölkerung zu bemerken: Er teilte die Kriegsbegeisterung des Anfangs, meldete sich freiwillig, erkrankte an der Front schwer und wurde felddienstuntauglich.

In seinem Privatleben belastete ihn das Scheitern seiner Beziehung zu der von den Philippinen stammenden, „exotischen“ Mariette de Rigardo, 1904 von Max Slevogt gemalt und heute in der Galerie Neue Meister in Dresden zu sehen, und die Enttäuschung, die Geliebte seiner letzten Jahre, Maidi von Liebermann, nicht heiraten zu können. Nachzulesen ist Thomas widersprüchliches Verhältnis zu den Frauen in einer jetzt neu aufgelegten Studie von Martha Schad: „Weiberheld und Weiberfeind. Ludwig Thoma und die Frauen“. Sie offenbart auch die andere, dunkle Seite eines Lebemanns, der politisch und emanzipatorisch aktive Frauen verachtete und verhöhnte.

Der Zusammenbruch von 1918 traf ihn schwer: Ludwig Thoma zog sich verbittert zurück. 1919 erschienen die „Erinnerungen“, in denen Thoma versucht, die Brüche und Widersprüche seiner Biografie zu einer dichterisch beschönigten Lebenserzählung zu verbinden. in seinem Todesjahr 1921 erschienen „Der Jagerloisl“ und mit „Der Ruepp“ Thomas letzter großer Bauernroman, noch 1979 vom Bayerischen Fernsehen verfilmt.

Die Entdeckungen des Regensburger Historikers Wilhelm Volkert haben ab 1989 das Bild des scharfzüngigen Linksliberalen getrübt: Thomas Artikel für den „Miesbacher Anzeiger“ hetzen gegen alles, was mit der neuen Demokratie verbunden ist. Auch in seinen Schriften aus dem Nachlass wütet er gegen Juden, Demokraten, Sozialisten, Frauenrechte. Sein latenter Antisemitismus trat nun offen zutage. 1917 unterzeichnete er den Gründungsaufruf der nationalistischen „Deutschen Vaterlandspartei“. Aus dem scharfzüngigen Satiriker ist ein bösartiger Polemiker geworden. Am 26. August 1921 starb er in seinem Haus am Tegernsee.




„Zierkissenpest“ und schlechte Leselampen – David Wagners „Ein Zimmer im Hotel“

Zimmer im Hotel„Ein Zimmer im Hotel“ ist für die einen ein Zuhause auf Zeit, für andere eine Durchgangsstation, aber immer ist es ein Ort, an dem der Reisende fern der Heimat ein kleines Stück Geborgenheit zu finden hofft. Über hundert Miniaturen hat Schriftsteller David Wagner zusammen getragen, in deren Mittelpunkt Hotelzimmer stehen.

All diesen Räumen, die Wagner in den letzten drei Jahren während seiner (Lese)Reisen durchlebt und zum Teil auch durchlitten hat, setzt er in seinem neuen Buch ein literarisches Denkmal. Es sind kurze Skizzen, die ihren Fokus nur auf einige wenige, aber wesentliche Dinge richten, die den Charakter des jeweiligen Zimmers pointiert beschreiben. Mal ist es die „Zierkissenpest“, mal das zu „einem Dreieck eingefaltete erste Blatt einer Toilettenpapierrolle“, von dem er sich fragt, welche Botschaft dies dem Gast vermittelt. Mit knappen Worten schafft es Wagner, durch diese räumlich so eng begrenzten Ansichten ungewohnte Einsichten in den in der Literatur so beliebten Kosmos Hotel zu vermitteln.

Für David Wagner (geboren im Rheinland, lebt in Berlin) ist es immer wieder eine spannende Frage, was ihn erwartet, sobald er den Hotelschlüssel in der Hand hat. Diese Spannung teilt der Leser nach wenigen Abschnitten mit ihm. Man liest den Hotelnamen, hat eine leise vorurteilende Vorstellung, welche manchmal bestätigt, manchmal widerlegt wird.

Vielleicht findet man sich im Prunk vergangener Tage wieder, vielleicht auch nur im Ambiente eines Möbelhauses auf der grünen Wiese. Mit Wagner fühlt man sich gestört von unablässig blinkenden Lichtern an Digitaluhren, stört sich mit ihm an blonden Haaren des Vorgängers auf grünen Samtbezügen, fragt sich irritiert, wieso manche Duschkabinen mitten im Zimmer stehen und ob es ein Qualitätsmerkmal ist, wenn Ohrenstöpsel ausliegen.

Wagner wertet nicht, er beschreibt lediglich das Erlebte. Nichts liegt ihm ferner, als sich in die Riege der Hoteltester von Reiseportals Gnaden einzureihen. Das Äußerste, was er sich erlaubt, ist Verwunderung. Gleichwohl sind seine Miniaturen sicher nicht nur interessant für den Reisenden, sondern könnten auch gut als Anregung für die dienen, die heutzutage den Reisenden eine Herberge geben.

Der Stil ist dabei bewusst nüchtern, fast im Duktus einer Gebrauchsanweisung. Der einzig wertende Schluß, den er zieht: Die Qualität eines Hotels erkennt man darin, ob Bleistifte oder Kugelschreiber ausliegen. (Die mit Bleistift sind besser. Bleistifte korrespondieren für gewöhnlich mit Holzböden, Kugelschreiber gibt es eher in den Zimmern mit den wild gemusterten Teppichböden, in denen Flecken schon eingearbeitet zu sein scheinen).

Die präzisen Beobachtungen lassen die Geschichten, die hinter den Zimmern stehen, nur erahnen, aber es ist genau diese Detailtreue, die letztendlich doch soviel mehr erzählt, als es die eigentliche Geschichte je könnte. Wagner beobachtet und beschreibt Unspektakuläres. Die komischen Momente, aber auch die melancholischen ergeben sich ganz von allein. Genau dadurch weckt er beim Leser den Wunsch, seine Umgebung näher zu betrachten und zu hinterfragen.

Da ist es dann letztlich auch in der Tat egal, ob hinter dem Buch eher der Wunsch nach poetischer Alltagsbeobachtung steht, für die Wagner schon in seinen vorhergehenden Werken ausgezeichnet wurde oder ob es einfach nur literarische Zusatzverwertung ist, der Wunsch, wenigstens etwas Kreatives aus seinen Lesereisen mitzunehmen.

Der Autor sagt offen, dass ihm bis zum Schluss nicht klar wird, welche Details in den Zimmern welche Gefühle in ihm hervorrufen. Klar ist, dass er sich manchmal auch sehr verloren fühlt. Der Kampf gegen Klimaanlagen, schlechte Leselampen, fehlendes Internet lässt ihm oft genug nur die Option eines voyeuristischen Blicks nach draußen. Genau damit bleibt auch die Frage offen, ob ihm die unbekannte Umgebung Angst macht oder ob ihm schlicht die Zeit für weitere Erkundungen fehlt.

Der einzige längere Absatz im Buch, der neben dem Zimmer auch die Außenwelt thematisiert, enttäuscht jedenfalls. Den Leser, aber wohl auch den Autor. Er verbringt eine längeren Zeitraum in Bad Aussee und wagt sich dort auch in die Natur, von der er gar nicht weiß, wo und warum genau er da Schönheit suchen soll, die er auch eher uninspiriert beschreibt. Unsicherheiten werden gewahr, Unsicherheiten, die in einem Hotelzimmer so schnell dann doch nicht aufkommen. Mal abgesehen von der Verunsicherung, die ihn bei so manch ausliegender Lektüre überkommt. Von einer antiquarischen Madame Bovary über Aufklärungsschriften aus dem letzten Jahrhundert bis zur Kulturgeschichte der Unterwäsche ist alles dabei. Wagners Miniaturen wären da sicherlich eine schöne Ergänzung für die Nachtkästen der Hotels dieser Welt.

David Wagner: „Ein Zimmer im Hotel. Miniaturen.“ Rowohlt Verlag, 121 Seiten, €18,95
(Die Hotels samt Besuchsdaten sind im Anhang vermerkt. Herdecke war übrigens die einzige Station in der Ruhrregion).




Sind Birnen besser als Äpfel? Hanns-Josef Ortheils Buch „Was ich liebe und was nicht“

Manche Schriftsteller schätzt man auf eine Weise, dass man auch mehr über den Menschen hinter den Büchern erfahren möchte. Hier naht eine Abhilfe: Der 1951 in Köln geborene Autor Hanns-Josef Ortheil versorgt uns in „Was ich liebe und was nicht“ gar reichlich mit Ansichten seiner selbst, mit höchstpersönlichen Bekenntnissen und Reflexionen.

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Einige Beispiele gefällig? Bitte sehr, ich verkürze notgedrungen furchtbar ungerecht, doch im Duktus ist es nicht völlig verzerrt:

Mit dem Autofahren und dem Fliegen hat’s Ortheil nicht so, er nimmt lieber die Bahn – und verrät ausführlich, warum das so ist.

In einem umfangreichen Kapitel übers Essen erfahren wir einiges über seine kulinarischen Vorlieben und Abneigungen. Er mag, wie es sich schon auf dem Buchcover andeutet, z. B. lieber Birnen als Äpfel und ordnet weitere Sorten so zu: „Himbeeren sind das Obst der Maler und Dichter. Kirschen dagegen sind das Obst der Komponisten und Filmemacher.“ Es könnte Leser geben, denen das Jacke wie Hose ist.

Doch weiter: Ortheil bevorzugt jenes Hotel, das alle Wünsche flugs erfüllt, aber auch die spartanische Waldhütte ohne Stromanschluss.

Radio hält er für uneitler als Fernsehen. Telefonieren und Mails sind ihm ziemlich zuwider.

Geradewegs zum Verlieben findet er Kunst-Kuratorinnen – beim gemeinsamen Gang durch deren Ausstellungen.

Filme beeindrucken ihn meist mehr als Theater. Hingerissen ist er beispielsweise von Darstellerinnen wie Isabelle Huppert und Mariel Hemingway.

Auch erfahren wir, welche Sportarten Ortheil vorzieht: Schwimmen, Skilanglauf, Basketball, Tennis, Fußball? Raten Sie mal. Oder lesen Sie nach.

Oasengleiche Lieblingsorte werden ebenfalls aufgesucht und atmosphärisch geschildert – in Stuttgart, Köln und tief im Westerwald. Von Italien mal zu schweigen.

So geht es also kreuz und quer durch Lebens- und Kulturgefilde: Reisen, Liebe, Literatur, Musik, Filme, Kunst, Mode, Sport, Natur, Wohnen und Philosophie. Und noch etliche weitere. Ortheil schreibt quasi ein Kompendium über sich, dabei den Tonfall öfter wechselnd, damit es unterhaltsam bleibt. Mal gerät er ins Plaudern, mal fasst er sich und seine Themen ernster. Letzten Endes dreht sich das Buch um alles, was sich bei ihm festgesetzt hat, was ihn ausmacht.

Auch wenn er hie und da szenische oder lyrische Elemente einstreut, seine Präferenzen vielfach nachvollziehbar begründet, gekonnt ausschmückt und oft süffig beschreibt, so gibt es doch auch eher banal anmutende Passagen. Nicht alles ist ausgearbeitet, es findet sich sozusagen auch unbehauenes Rohmaterial, aus dem vielleicht später Romane oder Essays keimen werden. Wer weiß.

Muss man Ortheils privaten Kanon derart ausgiebig kennen lernen? Sollen denn gar keine Fragen mehr für beflissene Zuhörer(innen) bei seinen öffentlichen Lesungen mehr übrig bleiben?

Nun gut. Die germanistische und die feuilletonistische Zunft werden sich hier künftig bedienen und mehr oder weniger waghalsige Querverbindungen zum literarischen Werk ziehen können. Wer immer eine Ortheil-Biographie verfassen sollte, wird an dieser Buchvorlage schwerlich vorbeikommen.

Es ist ja auch beileibe vieles interessant und anregend, beispielsweise die Innenansichten des literarischen Schreiballtags oder auch der Vergleich des Schriftstellerlebens mit dem des Pianisten, als der Ortheil in seinen jüngeren Jahren sich verwirklicht hat – bis zu einem gewissen Grade.

Reizvoll sind auch Einblicke in den legendären Stipendiaten-Ort, die römische „Villa Massimo“, und Auslassungen über das raumgreifend großspurige Gehabe bildender Künstler dortselbst, neben denen unscheinbare Schriftsteller schier verblassen.

Doch natürlich mündet das Buch in ein beseeltes Lob des Schreibens als Gipfel der Künste. Eine Wendung, die man füglich erwarten durfte. Wie denn überhaupt Hanns-Josef Ortheil längst für Bücher bekannt ist, die für ihn und uns hoffnungsvoll ausgehen. In diesen Zeiten ist das ja fast schon ein Alleinstellungsmerkmal.

Hanns-Josef Ortheil: „Was ich liebe und was nicht“. Luchterhand Verlag. 366 Seiten. 23 Euro.




Irrtum oder Plagiat? – Eine winterliche Spurensuche zwischen Goethe und Rosenkohl

Wir beginnen womöglich mit einem Goethe-Zitat, welches von winterlichen Verhältnissen kündet:

„Mir kommen diese Wintertage manchmal wie seltsam helle Nächte vor, in denen die Sonne zum Mond mutiert, in denen durcheinandergerät, was scheint und was beschienen wird. Vielleicht braucht es solche Tage, die wie Nächte sind, damit uns in einem erfrorenen Garten etwas wie Rosenkohl zum Lebenswert werden kann, der in der lottrigen Hütte unseres Weltvertrauens eine feste Schraube setzt.“

Kann auch keine Auskunft geben: die kleine Goethe-Büste im Regal. (Foto: Bernd Berke)

Kann auch keine Auskunft geben: die kleine Goethe-Büste im Regal. (Foto: Bernd Berke)

Wirklich sehr originell geschrieben, nicht wahr? Aber warum habe ich gesagt, es sei „womöglich“ ein Goethe-Zitat? Weil es zweifelhaft ist.

Die Fundstelle ist ein Buch, das ich gerade lese, genauer: Seite 38 in Bernd Brunners „Als die Winter noch Winter waren. Geschichte einer Jahreszeit“ (Galiani-Verlag; Rezension folgt demnächst). Dort wird obiges Zitat mit der lakonischen Feststellung eingeleitet: „Goethe schrieb:“

Das war mir zu lapidar. Ich wollte es gern etwas genauer wissen. Stammt der Abschnitt aus einem Brief oder aus einem fiktionalen Werk? Passt denn eine Formulierung wie „in der lottrigen Hütte unseres Weltvertrauens“ überhaupt in goethische Zusammenhänge? Ohnehin klingen besagte Zeilen staunenswert modern, als könnten sie vielleicht nicht aus der Goethe-Zeit herrühren (* siehe Schlussanmerkung).

Wegen solcher Fragen bin ich der Textstelle per Internet-Suchmaschine nachgegangen. Als offenbar einziger (!) Fundort tauchte ein Text aus der Wochenendausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 7. / 8. März 2015 auf. Er stammt vom Feuilleton-Redakteur Samuel Herzog und trägt die Überschrift: „Glücksmomente – In einem vereisten Garten“.

Herzogs Text endet just mit dem gesamten obigen Zitat, das doch angeblich von Goethe stammen soll. In der NZZ wird es nicht in Anführungszeichen gesetzt, müsste also demnach von Samuel Herzog stammen. Wäre dies nicht der Fall, müsste man von einem ziemlich dreisten Plagiat sprechen.

Für den langjährigen NZZ-Mann Herzog (zuständig für Bildende Kunst) kann man jedenfalls einiges ins Feld führen. Vor allem, dass der Absatz wohl nur ein einziges Mal in frei zugänglichen Netz-Quellen zu finden ist (auch das „Projekt Gutenberg“ und Google-Books habe ich durchsucht). Wären es wirklich Sätze von Goethe, so wäre das mehr als erstaunlich. Dessen Zitate werden doch sonst allseits um und um gewendet.

Außerdem hat sich Herzog schon vor der fraglichen Stelle eines ausgesprochen poetisierenden Stils befleißigt. Der Schluss wäre somit nicht unpassend. Und drittens hat er direkt vorher ganz korrekt aus einem Brief von Wilhelm Busch zitiert. Warum sollte er es mit Goethe anders gehalten haben?

Also hätte sich der Buchautor Bernd Brunner einigermaßen gründlich geirrt? Aber wie kann es sein, dass ihm ein Text aus der NZZ als Goethe-Zitat unterkommt? Sind ihm der Zettelkasten bzw. seine Dateien etwas wirr durcheinander geraten?

Fragen über Fragen. Welche Goethe-Kenner wissen Rat? Können eventuell Bernd Brunner oder Samuel Herzog nähere Auskunft erteilen?

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Nachtrag, ohne jeden Zusammenhang mit der Zitat-Frage: Offenbar hat die NZZ ihrem altgedienten Redakteur Samuel Herzog neuerdings gekündigt.

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* Die etwas Älteren wissen ja, welche Folgen ein Anachronismus in Bezug auf Goethe haben kann. Einst musste der frühere „Zeit“-Feuilletonchef Fritz J. Raddatz gehen, weil er in fahrlässiger Weise Goethe mit der Eisenbahn in Verbindung gebracht hatte. Besondere Ironie: Auch damals ging es um einen (parodistischen) Text der NZZ, den Raddatz für bare Münze genommen hatte.




„Wir müssen uns wehren“: Autoren weltweit vor Verfolgung schützen – eine Rede über die Schriftstellervereinigung PEN

Vom 27. bis zum 30. April 2017 wird die deutsche Sektion der internationalen Autorenvereinigung PEN ihre Jahrestagung in Dortmund abhalten. Gleichsam zur Vorbereitung und Einstimmung auf das Ereignis hat unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Bergkamen), an verschiedenen Orten die folgende Rede gehalten, in der er darlegt, was der PEN eigentlich ist und will. Peuckmann ist selbst Mitglied des PEN. Wir drucken seine Rede mit geringfügigen Kürzungen ab:

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Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Um die Frage zu beantworten, wer oder was der PEN ist, fange ich nicht mit allgemeinen Erklärungen an, sondern wähle einen anderen, anschaulichen Einstieg. Wie wird eigentlich umgegangen mit dem freien Wort in unserer Welt, frage ich mich und damit auch Sie.

Derzeit sind etwa 800 Dichter, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt mit Verfolgung, Gefängnisstrafe oder Tod bedroht. Und wer jetzt gleich an China denkt und dort den Haupttäter vermutet, denkt zwar an einen Großtäter, das stimmt, aber die Liste wird nicht von China angeführt, sondern von der Türkei.

Selbst in absoluten Zahlen liegt das Land des Herrn Erdogan an der Spitze der Schreckensliste und es gibt doch deutlich weniger Türken als beispielsweise Chinesen auf der Welt. Womit ich für China, ein Land, das ich durch mehrere Lehraufträge an dortigen Unis gut kenne, keine Unschuldserklärung abgeben möchte. Natürlich nicht. Auch Krisenländer in Afrika, Mittelamerika und Asien sind auf dieser Schreckensliste vertreten.

2013 wurden 15 Schriftsteller ihrer Texte wegen getötet, 19 weitere wurden umgebracht, vermutlich ebenfalls, weil sie unbequeme Meinungen vertraten, aber in ihren Fällen lässt sich das Tötungsmotiv nicht eindeutig nachweisen.

Beispiele aus Syrien, Katar, Mexiko und Bangladesch

Wie sieht denn nun Verfolgung von Autoren konkret aus?

Da ist zum Beispiel der syrische Romanautor Fouad Yazij, ein Gegner des Assad-Regimes und ein Christ, der auf diese Weise zwischen alle Fronten geriet. Hier Assads Soldaten, dort der fanatisch islamistische IS. 2014 musste dieses literarische Aushängeschild seines Landes überstürzt aus Syrien fliehen und gelangte nach Kairo, wo er zuerst einmal in einer Garage Unterschlupf fand.

Durch Vermittlung des Goethe-Instituts bekam Fouad Yazij schließlich eine bescheidene Wohnung. Aber er war noch immer völlig mittellos, noch dazu hatte er seine alte Mutter völlig verarmt in Homs zurücklassen müssen. Wenn er Spenden bekam, vom PEN vermittelt oder von der Gießener Gruppe „Gefangenes Wort“, schickte er einen Teil davon an seine Mutter. Über Monate hinweg wurde Fouad mehr schlecht als recht durch Hilfe von außen über Wasser gehalten, zwischendurch war er derart verzweifelt, dass seine Helfer Angst hatten, er könne sich das Leben nehmen.

Schließlich gelang es dem PEN, Fouad in sein „Writers-in-Exile-Programm“ aufzunehmen. Acht Wohnungen hat der PEN in Deutschland in verschiedenen Städten für dieses Programm, dank der Hilfe des Kulturministeriums, zur Verfügung, um dort für ein oder zwei Jahre verfolgte Schriftsteller unterzubringen. Wenigstens für einen kurzen Zeitraum sollen diese Autoren wieder Ruhe haben, um angstfrei zu leben und vor allem um zu arbeiten, also schreiben zu können. Acht von achthundert. Im November 2015 wurde Fouad in dieses Programm aufgenommen, inzwischen ist er sicher in Deutschland angekommen.

Da ist Mohammed al-Adschami aus Katar, dem Land, das im Jahr 2022 eine Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten soll. Er hat ein Gedicht geschrieben, das der Emir als Aufruf zum Umsturz wertete. Zu lebenslanger Haft wurde er dafür verurteilt, seit 2012 saß Adschami für vier Jahre im Gefängnis, bis er nach vielen internationalen Protesten, hauptsächlich vom PEN, in diesem Jahr vom Emir begnadigt wurde. Mit den Zeilen „Sie importiert all ihre Sachen aus dem Westen/warum importiert sie nicht Gesetze und Freiheit“ endet sein Gedicht, das ihm diese Strafe einbrachte, denn jeder in Katar wusste, wer mit dem „Sie“ gemeint war. Die Zweitfrau des Emirs nämlich, die sich auf Auslandsfahrten mit ihrem Mann stets luxuriös einzukleiden weiß, die also die Waren des Westens schätzt, aber nicht seine moralischen Werte.

Gefängnis für eineinhalb Gedichtzeilen

Ein Aufruf zum Umsturz soll es also gewesen sein, den Emir auf diesen Widerspruch hinzuweisen und auf diese Anklage steht in Katar eigentlich die Todesstrafe. Lange drohte sie vermutlich, dann wurde Mohammed zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Und lebenslänglich ist in Katar wortwörtlich zu verstehen. Sein ganzes Leben lang sollte Mohammed für dieses eine Gedicht im Gefängnis schmoren, dann wurde er „begnadigt“, zu fünfzehn Jahren Haft. Das bedeutete bei einem Gedicht von 23 Versen ein Jahr Haft für eineinhalb Zeilen. Bis dann die endgültige Begnadigung kam. Gnade wofür? Dafür, dass jemand in einem Gedicht seine Meinung gesagt hat, die noch dazu schwer zu widerlegen ist?

Die mexikanische Journalistin Ana Lilia Pérez hat sich mit der Verstrickung von Mafia und Politik in ihrem Land beschäftigt und ein Buch darüber geschrieben: „Das schwarze Kartell“ heißt es. Unerschrocken hat sie darin aufgezeigt, wie die Korruption vor allem im staatlichen Ölkonzern funktioniert. Danach wurde sie von allen Seiten bedroht, von der Politik und von der Mafia, was in Mexiko mindestens teilweise ein und dasselbe ist.

„Plata o Plomo“ heißt es für die Journalisten in Mexiko, Silber oder Blei. Zu Deutsch: Entweder du lässt dich bestechen oder es fliegen die Kugeln. Ana Lilia ging zum Schluss nur noch mit schusssicherer Weste auf die Straße, mit dem Rücken stets zur Wand, um rechtzeitig sehen zu können, ob sie jemand in sein Blickfeld nahm, bis sie es nicht mehr aushielt und abhaute. Ein Jahr hat sie in Hamburg im „Writers-in-Exile“-Programm des PEN Unterkunft gefunden, eine Frau, deren Mut allen imponierte, die ihr begegneten. Dann entschied sie sich, zurückzukehren nach Mexiko. Was solle sie in Deutschland, sagte sie, sie werde in Mexiko gebraucht, dort sei ihr Engagement wichtig. Es war ein berührender Abschied bei der letzten Begegnung zwischen ihr und den deutschen Schriftstellern, denn niemand sprach aus, was doch alle dachten: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen.

„Sie sind gekommen, um dich zu holen“

Der Blogger Ahmed Nadir aus Bangladesch, den ich eine Zeitlang im Auftrage des PEN betreut habe, war dagegen froh, dass er in Deutschland bleiben durfte. Nadir ist Computerspezialist, er hatte eine kleine Firma in Bangladesch und war gerade auf der Cebit in Hannover, als ihn sein Vater anrief und dringend vor einer Rückkehr warnte. „Bleib, wo du bist, Junge, sie sind gekommen, um dich zu holen. Die einen wollen dich einsperren, die anderen umbringen.“

Bei der Suchaktion nach Nadir, um diesen Störenfried endlich zur Strecke zu bringen, haben die Fanatiker dem Vater ein Auge ausgeschlagen. Nadirs Schuld bestand darin, zu Demonstrationen für demokratische Rechte aufgerufen zu haben. Seit ich Nadir betreut habe, kenne ich das deutsche Asylverfahren aus eigener Anschauung. Ich kenne auch seitdem Asylbewerberheime und verschweige den Namen der abgelegenen Stadt, in der Nadir untergekommen ist und sich monatelang gelangweilt hat, denn sie hat sich bemüht, diese Stadt, sie konnte wohl nicht anders. Es war ein uraltes Bürogebäude mit nackten Betonwänden, Eisenbetten darin, immerhin auch mit einem Fernseher.

Die Idee, Nadir mit einem zweiten Asylbewerber aus Bangladesch auf ein Zimmer zu legen, liegt nahe, sie war aber völlig falsch. Nadir ist nämlich Atheist, der andere aber war ein frommer Moslem, der jeden Tag fünfmal in Richtung Mekka betete, und Nadir wusste, wenn der andere von seiner Einstellung erfährt, ist sein Leben in Gefahr, vor allem nachts, wenn er schläft und damit wehrlos ist. Der andere hat es natürlich doch gemerkt, er hat aber nicht Nadir angefallen, sondern das Mobiliar im Zimmer in seiner Panik und Hilflosigkeit kurz und klein geschlagen. Nach monatelangem Warten, nach mehrfachem Drängen des PEN und zweier Bundestagsabgeordneter kam es schließlich zur Verhandlung und Nadir wurde Asyl gewährt. Er hat seither im Rheinland Kontakte gefunden, aber all das ist nichts im Vergleich zum Verlust von Familie, Freunden und Heimat eben.

Inzwischen sind zwei andere Blogger, Freunde oder Bekannte von Nadir, in Bangladesh brutal mit Macheten ermordet worden, weil sie atheistisch dachten.

In diese Reihe passt das Schicksal des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, inzwischen Ehrenmitglied des deutschen PEN, der für seinen liberalen, antifundamentalistischen Blog zu tausend Stockschlägen verurteilt wurde, die in 20 Wochen, jeweils an einem Freitag, verabreicht werden sollen. Jeden Freitag fünfzig Schläge, eine Strafe, die mittelalterlich zu nennen ich mich scheue. Das Mittelalter hatte freiere Phasen. Der Aufschrei der Empörung in der Welt war groß, beeindruckte die dortige Regierung aber nicht. Nach Saudi-Arabien geht übrigens ein Großteil deutscher Rüstungsexporte, aber das ist dann wohl eine andere Sache, oder?

Diktatoren fürchten das freie Wort

Das freie Wort, wie wird es doch misshandelt in der Welt! Von allen Künstlern, so unsere Erfahrung, sind es zuerst die Schriftsteller, die verfolgt werden, weil ihr Arbeitsmaterial, das Wort nämlich, untrennbar mit Inhalten verbunden ist. Und Inhalte können, wenn sie die Realität schildern, störend sein, für manche Machthaber auch gefährlich.

Dazu fällt mir ein Bezug zur Bibel ein. Gott spricht im Schöpfungsbericht ein Wort nach dem anderen aus und eine ganze Welt entsteht. Auch durch Schriftsteller können, wenn wir Worte schreiben, Welten entstehen, Gedankenwelten nämlich, die aber nicht Gedanken bleiben müssen, sondern zu neuen Realitäten führen können. In Diktaturen sind das oft genug Gegenwelten, die die Unterdrücker um ihre Macht fürchten lassen und zur Verfolgung jener anstacheln, die doch nur von dem Gebrauch machen, was ihnen zusteht: von dem Menschenrecht auf freie Meinung. In Deutschland, das sei hinzufügt, wird das freie Wort nicht unterdrückt. Hier wird es abgehört.

Und frei macht das Wort auch nach der Bibel, zweiter Bezug zu unserem Glauben, denn die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel ist doch, wenn man es genau liest, keine Bestrafung, sondern sie befreit. Befreit von Hybris, von dem Wahnsinn, einen Turm hoch bis zum Himmel zu bauen. Durch Sprache wird der Mensch davon befreit und vielfältig soll sie auch sein, sagt die Bibel.

Wenn nun Schriftsteller so zahlreich verfolgt werden, ist es gut, dass sie eine Organisation haben, die ein Anwalt an ihrer Seite ist. Die ihnen direkt helfen kann, mindestens so, dass die Verfolgung öffentlich wird. Das ist schon einiges, denn wie alle Verbrecher scheuen auch Diktatoren das Licht der Öffentlichkeit. Hier liegt nun eine der wichtigen Aufgaben des PEN, ein Großteil unserer Arbeit beschäftigt sich damit.

Was bedeutet nun das Wort „PEN“? Es ist, wie leicht zu vermuten, eine Abkürzung aus dem Englischen und steht für Poet, Essayist und Novelist. Der Poet ist der Lyriker, der Essayist der Journalist oder Sachbuchautor, heute zunehmend auch der Blogger, der Novelist der Romanautor. Zusammen ergibt es das Wort PEN, das für Feder steht, obwohl wir alle nicht mehr mit der Gänsefeder schreiben wie unsere berühmten Vorgänger, sondern mit dem Computer.

140 PEN-Zentren in 101 Ländern

140 PEN-Zentren gibt es in 101 Ländern. Der deutsche PEN-Club, wie man das früher nannte, hat etwa 800 Mitglieder. Man kann in den PEN nicht eintreten, sondern man wird hineingewählt, was immer auch für den jeweiligen Autor eine Auszeichnung ist. Zwei Bürgen müssen bei der Jahrestagung einen schriftlichen Antrag einreichen, warum sie diesen oder jenen Autor (oder Autorin) als Mitglied vorschlagen, sie müssen diese Begründung vor den Tagungsteilnehmern vorlesen und dann kommt alles darauf an, ob dies Mehrheit der Teilnehmer überzeugt oder nicht.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Das ist ein wichtiger Unterschied zum Verband deutscher Schriftsteller (VS), der sich mehr um Tariffragen kümmert, um Musterverträge zwischen Verlag und Autor zum Beispiel. Beim Schriftstellerverband kann man selber beantragen, aufgenommen zu werden. In der Regel reicht es, wenn man ein Buch veröffentlicht hat. Die meisten PEN-Autoren sind, genau wie ich, auch Mitglied im Schriftstellerverband, beide Verbände arbeiten gut zusammen.

Es ist kein Zufall, dass der Name aus einer englischen Abkürzung besteht, denn gegründet wurde der PEN 1921 in England, und zwar auf typisch englische Weise, nämlich bei einem Dinner. Am 5. Oktober 1921 lud die Schriftstellerin Catherine Amy Dawson-Scott ihre Schriftstellerfreunde zu sich ein (darunter die späteren Literatur-Nobelpreisträger George Bernhard Shaw und John Galsworthy) und wollte den „To-Morrow-Club“ gründen, den Vorläufer des PEN.

Hintergrund war das schreckliche Erlebnis des Ersten Weltkriegs, Dawson-Scott wollte, dass sich solch ein Verein auch in anderen Ländern gründete, um auf diese Weise beizutragen zur Völkerverständigung, damit es nie wieder Krieg gibt. Warum sollten bei diesem großen Unternehmen nicht die Schriftsteller vorangehen, hat sie gedacht. Tatsächlich gab es beim ersten internationalen PEN-Kongress 1923 schon 11 PEN-Zentren in verschiedenen Ländern.

John Galsworthy als erster Präsident

Erster Präsident des nun internationalen PEN wurde John Galsworthy, auch ein Nobelpreisträger, der berühmt geworden ist für seine Romanreihe „Die Forsyte Saga“. Ich selbst habe in meiner Schulzeit die längere Erzählung „The man, who kept his form“ gelesen, frei übersetzt: Der Mann, der sich selbst treu blieb. Es ist die Geschichte eines Unangepassten, der seinen – freilich etwas konservativen – moralischen Grundsätzen folgt, selbst wenn er dafür Nachteile in Kauf nehmen muss. Sie hat mir gefallen, diese Geschichte und ist mir als ein Hinweis für das eigene Leben im Gedächtnis geblieben: Versuche auch du, deinen Grundsätzen treu zu bleiben! Insofern, denke ich, ist Galsworthy ein guter erster PEN-Präsident gewesen.

Trotz der schnellen Gründungen von Zentren in aller Welt ist der PEN am Anfang doch ein wenig dem Charakter eines Dinnertreffens oder einer Teestunde treu geblieben, denn nach dem Willen von Dawson-Scott sollte es keine politische Autorenvereinigung sein. Völkerverständigung, Freundschaften über die Grenzen hinaus, das ja, aber politisch sollte der PEN sich nicht äußern. Dies ist eine Einstellung zur Literatur, die einem immer wieder begegnet, bis heute. Wie kann man so etwas Schönes wie die Poesie mit der schnöden, hässlichen Politik vermengen? Ich höre das immer wieder, wenn ich einen zeitkritischen Roman veröffentlicht habe, denn ich bin in diesem Punkt ganz anderer Meinung.

Der PEN war in seiner Anfangszeit in diesem Punkt ja auch widersprüchlich. Was ist denn Völkerverständigung anderes als gelungene, geradezu wünschenswerte Politik? Auch ein Satz in der Charta, dem Grundgesetz des PEN, ist hochpolitisch: „Sie (die PEN-Mitglieder) verpflichten sich, für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals einer in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken.“

Das soll unpolitisch sein? Hochpolitisch ist das, geradezu brisant angesichts der Zustände in unserer Welt.

Als Ernst Toller 1933 das Wort ergriff

Spätestens ab 1933 ließ sich die feine, etwas vornehme Zurückhaltung in Sachen Politik für den PEN nicht mehr durchhalten. Da hatten in Deutschland die Nazis die Macht übernommen und hatten alle ihre Kritiker – Sozialdemokraten, Kommunisten, kritische Christen und nicht zuletzt unbequeme Schriftsteller – ins KZ geworfen, gefoltert, manche auch getötet oder ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen und sie so ins Exil gezwungen, u.a. den damaligen deutschen PEN-Präsidenten Alfred Kerr, der bekannteste Literaturkritiker seiner Zeit, der jüdischer Abstammung war.

1933 veranstalteten die Nazis einen Tiefpunkt an Kulturlosigkeit, die Bücherverbrennung. Auf dem Berliner Opernplatz ließen sie all jene Bücher verbrennen, die sie für undeutsch hielten. Es waren die Werke fast aller bekannten deutschen Autoren, so dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass das deutsche Geistesleben verbrannt werden sollte. Heute findet man an der Stelle, wo der Scheiterhaufen stand, ein ebenso einfaches wie überzeugendes Denkmal. Eine Glasplatte ist dort in den Boden eingelassen worden und wenn man hindurchschaut, sieht man unten einen völlig sterilen Raum mit weißen, leeren Bücherregalen.

Was bleibt also übrig, wenn die Kultur vernichtet ist? Leere bleibt übrig, Sterilität und geistige Ödnis. Es erfüllte sich in der Folgezeit, was der großartige Dichter Heinrich Heine knapp hundert Jahre vorher prognostiziert hatte: Wer Bücher verbrennt, der verbrennt auch Menschen. Weiß Gott, das haben sie getan, die Nazis. Millionenfach.

Die Bücher des sozialistischen Schriftstellers Oskar Maria Graf wurden nicht verbrannt, einige wurden von den Nazis sogar empfohlen. Graf floh aus diesem Nazi-Kerker und schrieb einen bewegenden Aufruf, in dem er sich über diese Behandlung durch die Nazis beklagte:

„Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbande gelangen.“ Was für eine großartige Haltung eines Schriftstellers!

Und der PEN? Den hatten sich Nazi-Schriftsteller unter den Nagel gerissen. Ja, das gab es leider auch, Schriftsteller, die ihr Wirken in den Dienst einer Verbrecherideologie gestellt haben. Klar, wenn die Großen vertrieben werden, können sich die Mickerlinge aus dem vierten oder fünften Glied ins Licht drängen. Ich habe die Namen mal nachgeschlagen, die nach Hitlers Machtergreifung das Präsidium des PEN bildeten, sie sind, bis auf Hanns Johst, der Romane und Theaterstücke schrieb, völlig unbekannt. Unbedeutend sowieso.

Bei der Tagung des internationalen PEN in Dubrovnik im Mai 1933 tauchte diese Delegation dann auf und wollte nicht, dass über Politik geredet wurde, natürlich nicht, weil sie ja Angst haben musste, dann wegen der Verfolgung und Folterung von Schriftstellern am Pranger zu stehen. Das aber verhinderte der damalige PEN-Präsident H.G Wells („Krieg der Welten“), der Ernst Toller das Wort erteilte, einem bekannten deutschen Schriftsteller, dem die Nazis die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt hatten und der nun im Exil lebte.

Toller klagte in einer flammenden Rede nicht das deutsche Volk an, sondern diejenigen, die es in eine Diktatur gezwungen hatten und die nun alle Andersdenkenden verfolgten, folterten und töteten. Und dann nannte er all die Namen der Schriftsteller und Maler, die die Nazis eingesperrt oder getötet hatten. Er bekam viel Applaus für diese mutige Rede, der Nazivorstand des PEN verließ empört die Tagung und isolierte sich damit selbst.

Nach 1945 spaltete sich der deutsche PEN

Fortan gab es kein PEN-Zentrum mehr in Deutschland, aber einen Exil-PEN mit Sitz in London, in dem die meisten Schriftsteller von Rang und Namen Mitglied waren, denn sie alle mussten ja aus Nazideutschland fliehen. Einer gehörte aber nicht dazu, der bekannte Autor Erich Kästner („Emil und die Detektive“, „Das doppelte Lottchen“), der das Kunststück fertig brachte, die Nazizeit in Deutschland zu verbringen, in innerer Emigration, ohne sich den Nazis anzudienen. Er hatte sogar der Bücherverbrennung in Berlin als Zuschauer beigewohnt und erleben müssen, wie auch seine Bücher verbrannt wurden. Eine Frau hat ihn dabei sogar entdeckt und erschreckt gerufen: „Aber da ist ja der Kästner!“ Zum Glück hat es keiner von den Nazis gehört. Kästner wurde nach dem Krieg einer der prägenden PEN-Präsidenten.

Den Exil-PEN, dies nebenbei, gibt es bis heute, obwohl eigentlich keine Veranlassung mehr dafür besteht. Wir arbeiten gut mit ihm zusammen, aber warum er nicht zu uns übertritt, weiß ich nicht.

Nach dem Krieg machte der PEN die deutsche Spaltung mit. Trotz anfänglicher Bemühungen, sich nicht zu trennen, entstand ein DDR-PEN, genannt PEN Ost, und ein West-PEN. Intensive Kontakte zwischen beiden Verbänden gab es nicht. Also war Deutschland auch im Literaturbetrieb gespalten. Und wer nun glaubt, dass sich nach der Wende die beiden Verbände schnell und vor allem erfreut zusammengefunden haben, der täuscht sich gewaltig.

Die Vereinigung der beiden Länder verlief durch den „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik, denn das war es ja, vergleichsweise schnell: Die Schriftsteller aber wollten erst mal, wie das ihre Eigenschaft ist, diskutieren. Wie habt ihr euch in der Zeit der Trennung verhalten, welches Erbe bringt ihr ein in unseren Verband und vor allem: Ich will nicht neben einem Stasispitzel bei den Jahrestagungen unseres PEN sitzen! Und Stasispitzel, meinten viele Westler, waren die anderen doch meistens.

Doch Vorsicht! Fritz Rudolf Fries zum Beispiel, ein guter DDR-Autor, war IM bei der Stasi, aber warum? Hauptsächlich, weil ihn die Stasi in der Hand hatte. Seine Tochter war nämlich krank. Medizin, die ihr half, gab es nur im Westen. Die Stasi besorgte ihm die Medizin und half damit seiner Tochter, aber dafür wollte sie eben Informationen haben… Fritz Rudolf Fries hat übrigens hauptsächlich Allgemeinplätze ausgeplaudert, nichts, das anderen hätte Schaden zufügen können. Trotzdem, er hat unter dieser Last, als alles rauskam, schwer gelitten und ist aus allen Autorenverbänden, auch aus dem PEN, in dessen Präsidium Ost er mal gewählt worden war, ausgetreten.

„Wessi“ oder „Ossi“ – heute ist es egal

Es gab Kämpfe, die den PEN fast zerrissen hätten und es dauerte Jahre, bis der PEN unter der behutsamen Führung des damaligen PEN-Präsidenten Christoph Hein, ein „DDR-Autor“, der heute Ehrenpräsident ist, doch zusammengeführt wurde.

Heute spielen die alten Kämpfe keine Rolle mehr und nach der letzten Wahl ins Präsidium, die in Magdeburg, also einer Stadt im Osten stattfand, haben wir im Nachhinein erschreckt festgestellt, dass gar kein „Ossi“ mehr im Präsidium ist, bis sich der Kassierer, mein Freund Matthias Biskupek meldete und sagte: Ich bin doch ein Ossi. Und der Ehrenpräsident Christoph Hein ist es auch.

Eigentlich ist es nicht schlecht, dass der Gedanke Ost – West bei der Wahl überhaupt keine Rolle gespielt hatte, denn das ist ein Zeichen von Normalisierung. Und wenn bei der nächsten Wahl fünf „Ossis“ gewählt werden und uns das auch erst lange nach der Wahl auffällt, ist das ein ebenso gutes Zeichen.

Die Vereinigung war also ein schwieriger Prozess und es ist gut, dass sie geklappt hat, denn nun folgt der PEN wieder mit Macht seinen Zielen aus der Charta und er ist dabei im kulturellen und gesellschaftlichen Leben, wie ich das liebe und wie sich das für Schriftsteller meiner Meinung nach gehört, ein Störfaktor. Denn jene, die gegen die wichtigsten Ziele des PEN, nämlich den Kampf gegen Völker- und Rassenhass, verstoßen, die also Hass verbreiten und damit Kriege rechtfertigen, und die das freie Wort unterdrücken wollen, sollen uns als ihre Gegner verstehen. Als ihre erbitterten Gegner!

Was macht nun der deutsche PEN?

Viermal im Jahr kommt das Präsidium in verschiedenen Städten zusammen und plant die Aktionen. Einmal im Jahr treffen wir uns zu einer großen Jahrestagung, dann können alle kommen, die PEN-Mitglieder sind. In der Regel sind das 150 Schriftsteller, was bei diesen ausgeprägten Einzelgängern schon eine stattliche Anzahl ist.

Zuflucht in acht deutschen Wohnungen

Acht Wohnungen, in Berlin, Darmstadt, München und Hamburg hat der deutsche PEN zur Verfügung, um dort verfolgte Schriftsteller unterzubringen, das ist einmalig innerhalb des internationalen PEN. Wir entscheiden darüber, wen wir für ein oder zwei Jahre aufnehmen und wer hier bei uns wieder unbedroht wohnen und schreiben darf. Natürlich bekommen diese Autoren auch monatlich Geld zum Überleben.

Das Geld für Stipendien und Wohnung bekommt der PEN vor allem vom Ministerium für Kultur, also von der Bundesregierung, dazu gibt es die Städte, die Wohnungen zur Verfügung stellen. Es löst nicht das Problem der Verfolgung von Schriftstellern, aber es lindert sie wenigstens für ein paar von ihnen. Trotzdem, einfach ist das Leben auch für diese acht Autoren nicht bei uns. Sie kommen doch nach jahrelanger Verfolgung oder Haft traumatisiert zu uns, einige sind krank. Sie alle müssen erst mal Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden, noch dazu in einem fremden Land. Wie mache ich das mit dem Arztbesuch, wo muss ich Anträge für dieses oder jenes stellen? Einige müssen fast wortwörtlich an die Hand genommen und ins Leben geführt werden.

Dauernd veröffentlichen wir, in welchen Ländern wieder welche Schriftsteller eingesperrt werden oder mit dem Tode bedroht sind. Manchmal hilft es etwas, manchmal erst einmal nicht, dann aber plötzlich doch nach ein paar Jahren. Nach quälenden Jahren in schrecklichen Gefängnissen.

Wir sind aber auch hier im Lande aktiv. Die schrecklichen Todesfälle im Mittelmeer haben den deutschen PEN zu einem Aufruf veranlasst, der eine menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen verlangt. „Schutz in Europa“ heißt der Aufruf, den über tausend Schriftsteller unterzeichnet haben, und den wir in Berlin dem Staatssekretär im Innenministerium übergeben haben, der sich dadurch angegriffen fühlte und nicht besonders freundlich benahm. Wir haben ihn auch in Brüssel an den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz überreicht, der sehr froh über diese Initiative war und den PEN-Präsidenten, im Moment ist das Josef Haslinger, erfreut empfing. Schulz ist ein Freund der Bücher und damit der Schriftsteller. Er war früher Buchhändler.

Wo immer es Ansätze von Zensur, aber auch Einschnitte in Kulturprogramme gibt, erhebt der PEN seine Stimme. Das Wort muss frei bleiben und es darf auch nicht durch finanzielle Einschränkungen beschnitten werden.

Gegen die Gratismentalität

Im Moment haben wir viel mit Abwehrkämpfen zu tun und kämpfen zum Beispiel gegen die Gratismentalität im Internet, die vor allem durch eine Partei propagiert wird, die für dieses Programm den richtigen Namen trägt und die nun, dazu muss man kein Wahrsager sein, wieder verschwinden wird. Piraten heißt sie und was Piraten tun, wissen wir ja alle. Vielleicht haben sie auch hier ein paar Sympathisanten, denen ich eines zu bedenken geben möchte. Das Internet ist nichts anderes als eine technische Möglichkeit, die erst einmal leer ist. Gefüllt wird sie durch die Geistesleistung von Menschen, durch Musiker, Schriftsteller, Journalisten, die von ihrer Arbeit leben müssen. Deren Produkte kostenlos anzubieten, heißt, sie zu enteignen.

Das sollte man mal mit materiellen Werten tun wollen. Zehn Jahre nach Tod des Firmenchefs geht seine Firma in Gemeineigentum über, das wäre eine vergleichbare Forderung. Den Aufschrei möchte ich mal hören. Aber mit Geistesarbeitern glaubt man, es machen zu können. Nein, alles was in Online-Zeitungen, in kopierten Internetbüchern, an Musik erscheint, muss bezahlt werden, sonst können viele Journalisten, Schriftsteller oder Musiker nicht mehr arbeiten und wir würden geistig ausdünnen.

Kürzlich wollte jemand E-Books, nachdem er sie gelesen hatte, in einem Internet-Antiquariat verkaufen. E-Books veralten aber nicht in ihrem Material, sie bleiben, was sie schon beim Kauf sind. Ein Gericht hat diesen Versuch untersagt. Andernfalls könnten meine Verlage gar keine Bücher mehr produzieren. Es reicht ja, wenn sie ein E-Book herstellen, das dann, was ja auch geschieht, zig mal kopiert wird und dann auch noch im Antiquariat verkauft wird. Wie soll ein Verlag davon leben? Das geht nicht, also würde es ihn nicht mehr geben, also würde er meine Bücher nicht mehr drucken und auch nicht die meiner Autorenkollegen. Also könnten wir nichts mehr veröffentlichen. Eine geistig-literarische Verarmung wäre die Folge.

Wir kämpfen gegen TTIP, das große Handelsabkommen zwischen Europa und Nordamerika, dessen Vertragstext so geheim ist, das ihn nicht mal Politiker lesen dürfen. Wer hat in dieser Welt eigentlich das Sagen? Die gewählten Politiker oder die Großkapitalisten?

Buchpreisbindung beibehalten

Schriftsteller sind vor allem dagegen, weil dann die Buchpreisbindung aufgehoben würde. Anbieter wie Amazon würden Bücher zu Billigpreisen verkaufen, kaum jemand ginge noch in die Buchhandlungen, von denen wir in Deutschland noch etwa 5000 haben, eine gut geordnete Szene also, die dann zu wenig zum Überleben verdienen und folglich verschwinden würde. Und mit ihnen unsere Bücher, vor allem jene, die nicht in den Bestsellerlisten stehen, die aber informierte Buchhändler trotzdem auf Vorrat halten und empfehlen.

Über 500 Schriftsteller haben einen Protestaufruf unterschrieben und sich darin verbeten, dass die NSA in Deutschland alles und jeden abhört. Der PEN war maßgeblich daran beteiligt. 500 Schriftsteller, darunter alle bekannten, Juli Zeh hat diesen Aufruf im Bundeskanzleramt übergeben. Geschehen ist daraufhin…nichts. Die Bundeskanzlerin hat den Schriftstellern nicht einmal geantwortet.

Natürlich organisiert der PEN auch literarische Veranstaltungen, denn wir sind ja dem Wort ganz allgemein verpflichtet, nicht nur dem verfolgten, sondern auch der Schönheit der Sprache. Sich mit Literatur zu beschäftigen, mit wichtigen, auch unbequemen Inhalten, mit schön gebauten Sätzen, mit anregenden Sprachbildern und Metaphern, das ist doch etwas gerade in einer Zeit des Überschwalls von Wörtern und Sätzen, oft ohne oder mit wenig Inhalt. Auch darauf möchte der PEN hinweisen.

Lesungen und Diskussionen

Lesungen mit unseren Stipendiaten finden in Literaturhäusern statt, große Diskussionsveranstaltungen zu wichtigen literarischen Themen werden durchgeführt, bei der letzten Jahrestagung zum Beispiel zu der Frage, ob der Blasphemieparagraph aus dem Gesetzbuch gestrichen werden soll. Jener Paragraph also, der angebliche oder wirkliche Gotteslästerung unter Strafe stellt. Es ist eine Diskussion in der Folge des schrecklichen Attentats auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Bei der nächsten Jahrestagung in Dortmund wird eine Lesung „Der Klang der Sprache“ heißen. Drei Autoren sollen lesen, es soll einfach um die Schönheit von Sprache gehen.

Einmal im Jahr verleiht der PEN den Hermann-Kesten-Preis an eine Person oder Organisation, die sich gegen Menschenrechtsverletzungen engagiert. Zur Hälfte gibt der PEN das Preisgeld, zur anderen Hälfte das Land Hessen. In diesem Jahr werden diesen Preis Can Dündar und Erdem Gül bekommen, zwei mutige türkische Journalisten, die aufgedeckt haben, dass die türkische Armee Waffen an den IS liefert, an den IS, der damit die kurdische PKK bekämpfen kann. Die Kurden sind für Erdogan wohl der schlimmere Feind als der IS. Natürlich wurden die beiden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt, Dündar konnte aber, bevor eine Revisionsverhandlung vor Gericht stattfand, ausreisen und befindet sich in Deutschland. Dafür hat die Türkei seiner Frau den Pass entzogen und die Ausreise verweigert. Sippenhaft, um ein Faustpfand gegen Dündar in der Hand zu haben!

Es sind also viele Initiativen, die der PEN rund um das geschriebene, das literarische Wort ergreift, denn ja, wir müssen uns wehren. Dauernd gilt es, Gefahren abzuwehren, denn was macht die Welt für die Herrschenden bequemer als das freie Wort mundtot zu machen?

Nachts um 1 Uhr im Ratskeller

Aber all dies macht immer noch nicht den PEN aus, denn es gibt noch ein kleines, schönes Nebenergebnis. Wir sind doch alle, ich sagte es schon, Einzelgänger, die ihre Zeit allein für sich im Zimmer vor dem Computer verbringen, um den neuen Roman, den nächsten Gedichtband fertig zu stellen. Aber wir haben auch gerne Kontakt zu Menschen, weil wir gerne lachen, gerne Anekdoten erzählen. Wir suchen den Meinungsaustausch, der auch ein paar Tipps und Ideen für Projekte mit sich bringt. Und dazu taugen unsere Jahrestreffs.

Die Sitzungen, die heftigen Diskussionen im Plenum, die Veranstaltungen an den Abenden, das alles ist nur der eine Teil. Der andere besteht darin, dass wir uns zu kleinen, oft zufälligen Gruppen zusammenfinden, dass wir ein Bier miteinander trinken, über Gott und die Welt reden, uns dabei kennenlernen und – das nächste Nebenprodukt – so manches Projekt aushecken. Ja, das haben wir auch nötig.

Bei der letzten Jahrestagung in Magdeburg, als wir uns in einer großen Runde im Ratskeller zusammengefunden hatten, fragte ich den Wirt: Warum machen Sie denn plötzlich überall das Licht aus? Er antwortete: Wir schließen immer um ein Uhr nachts.

Da haben wir alle auf die Uhr geschaut und tatsächlich, es war Viertel nach eins. Wir hatten uns wunderbar festgequatscht und jeder von uns hatte einen oder zwei Kollegen neu kennengelernt. Irgendwo, bei einer Gelegenheit, an die wir jetzt noch nicht denken, wird das eine Rolle spielen.

Auch deshalb bin ich gerne im PEN. Wir sind Störenfriede, wir sind unbequem, wir sind politisch, wir lieben schöne Literatur. Das ist gut so. Aber daneben lerne ich immer auch ein paar Schriftsteller kennen, deren Bücher ich mag und mit denen ich nach einer langen Nacht plötzlich befreundet bin. Das ist nicht nur einfach gut so, das ist bestens.




Wenn Bin Laden noch leben würde – Leon de Winters Roman „Geronimo“

Dieser Roman könnte Stoff für Verschwörungstheorien liefern: Demnach ist Osama bin Laden nicht am 2. Mai 2011 von Eliteeinheiten der CIA in seinem Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad umgebracht worden, sondern bei dieser Geheimdienstoperation ist ein Doppelgänger gestorben.

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In Leon de Winters Roman „Geronimo“ (Codename für die Ergreifung von Bin Laden) lebt der Chef der Terrororganisation Al Kaida weiter, allerdings an einem von Militärs streng abgeschirmten Ort. Die USA und ihre Verbündeten möchten doch noch mehr über den Mann selbst, islamistische Gruppierungen sowie ihre Hintermänner in Erfahrung bringen. Es geht auch um einen geheimnisvollen USB-Stick. Der wiederum soll Informationen enthalten, dass der (scheidende) Präsident Obama in Wirklichkeit Muslim ist und nicht dem Christentum angehört.

Mal abgesehen von der Frage, wie geschickt es sich anlässt, gerade die religiöse Identität Obamas, die Rechtspopulisten immer wieder gern als Zielscheibe nutzen, in den Handlungsverlauf einzubeziehen, wirkt diese Episode auch sehr aufgesetzt und fügt den ohnehin schon zahlreichen und teils auch verwirrenden Handlungssträngen noch einen weiteren hinzu. Zudem lässt Leon de Winter auch vollkommen offen (wenn er denn schon bin Laden überleben lässt), wie es denn dann mit dem einst meistgesuchten Mann der Welt weitergegangen ist.

Der Autor bevorzugt es stattdessen, eine Geschichte zu erzählen, die den Terroristenchef als Menschenfreund erscheinen lässt. Durch Zufall trifft Osama eines Nachts, als er sein Versteckt verlässt und im Schutz der Dunkelheit Eis für seine Geliebten besorgen will, ein Mädchen namens Adana. Ihr haben Taliban (!) Ohren und Hände abgehackt, weil sie westliche Musik gehört hat, genauer gesagt Glenn Goulds Goldberg-Variationen. Die Kompositionen hat die aus Afghanistan stammende Jugendliche kennen und lieben gelernt, nachdem sie der US-Soldat Tom Johnson bei sich aufgenommen hatte. Ihre Eltern waren bei einem Angriff der islamistischen Milizen getötet worden. In die Hände der Terroristen gerät sie, weil die Taliban den US-Stützpunkt von Tom überfallen und sie mitnehmen. Adana schafft es aber, sich zu befreien und gelangt – wie es der Zufall will – nach Abbottabad. Die erste Begegnung mit Osama ist sehr spannungsgeladen, fragt er sich doch, ob er das Mädchen, das ihn trotz Verkleidung zweifellos erkannt hat, töten soll um seiner Sicherheit willen. Aber sie kann seine Sympathie gewinnen und er versteckt sie schließlich in einer Garage, versorgt sie mit Lebensmitteln.

Nachdem nun Bin Laden den Amerikanern ins Netz gegangen ist, beginnt für die junge Afghanin ein neuer und nicht weniger komplizierter Lebensabschnitt, mit dem der Autor die komplexen politischen und religiösen Gegebenheiten im mittleren Asien in den Blickpunkt rückt und zugleich auch auf internationale Verflechtungen eingeht.

Eine christliche Familie würde zwar gern Adana aufnehmen, fürchtet sich aber vor den Reaktionen einer überwiegend muslimischen Gesellschaft. Toms Bemühen, Adana außer Landes zu bringen, ist mit unüberwindbar scheinenden bürokratischen Hürden verbunden. Als er schließlich erfährt, dass sie nochmal Opfer eines Attentates geworden sein könnte, geraten alle Versuche, sein eigenes Lebensschicksal aufzuarbeiten, ins Wanken. Tom hat in Folge des Attentats von Madrid 2004 seine Tochter verloren. Und ihn plagen gegenüber Adana große Schuldgefühle, da er sie nicht ausreichend vor den Taliban hat schützen können.

Leon de Winters Buch lebt von Dynamik und Dramatik. Manchmal scheinen auch die Grenzen von Realität und Fiktion zu verschwimmen. Der Leser steht vor der Herausforderung, die Orientierung nicht zu verlieren.

Leon de Winter: „Geronimo“. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich. 442 Seiten, 24 Euro.




Buchtipps zum Fest: Peter Rühmkorf, Christa Wolf, Wembley-Tor, Krimi und Architektur

Ist da draußen noch jemand auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken in Buchform? Hier ein paar empfehlende Hinweise in verschiedenen Geschmacksnoten:

Zunächst die so genannte Hochliteratur, wie es sich konservativ-feuilletonistisch gehört:

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Rühmkorfs funkelnde Lyrik

Das ist wahrlich kein Geheimnis mehr: Der 1929 in Dortmund geborene, später freilich aus hanseatischer Überzeugung in Hamburg ansässige Peter Rühmkorf gehört zu den wichtigsten Lyrikern der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Insofern ist eine Gesamtausgabe seiner Gedichte ein besonderes, vielfach funkelndes Juwel der Sprachkunst. Rühmkorfs Tod im Jahr 2008 bedeutet einen immensen Verlust für die Literatur, der immer noch schmerzt.

Er war (ähnlich wie der mit ihm befreundete Robert Gernhardt) einer, der die Überlieferung von Reim und Metrik wach und lebendig gehalten hat – und er hat die althergebrachten Formen mit neuen Inhalten reich gefüllt. Im souveränen Spiel mit gebundenen und freien Versen kommt ihm im hiesigen Sprachraum wohl keiner aus seiner Generation gleich.

Die von Bernd Rauschenbach sorgfältig edierte Ausgabe „Sämtliche Gedichte“ enthält alle Lyrikbände von 1956 bis 2008 und (in Auswahl) ganz frühe Schöpfungen, die ab 1947 im Selbstverlag erschienen sind.

Dies ist ein Buch, das einen Ehrenplatz im Regal verdient und das man als Vademecum stets griffbereit halten sollte. Hier wird ein wesentlicher Teil des Lebenswerks ausgebreitet; hier kann man Sprachfeinheiten geradezu genießerisch schlürfen und wird überdies noch mit luziden Erkenntnissen belohnt. Rühmkorf hat ja nicht nur die ewigen Themen Liebe und Tod bedichtet, sondern war auch ein eminent politischer Kopf mit links geschärften Sinnen. Legendär wurde diese lyrische Essenz: „Bleib erschütterbar – und widersteh.“

Für den unverwechselbaren Klang (in Rühmkorfscher Diktion „einmalig / wie wir alle!“), in dem auch Alltagssprache aufgehoben ist, nur mal ein Beispiel, das Rühmkorf selbst als Bagatelle bezeichnet hat:

Abschiede, leicht gemacht

Denen, die vor Gier nach Ewigkeit entbrennen,
geb ich mich geniert
als sterblich zu erkennen.

Lieber als verhaunen Bällen nachzusinnen,
zieh ich vor,
nochmal von vorne zu beginnen.

Allerdings, statt bieder vor mich hinzuwerkeln,
scheint mir lustiger,
freischaffend loszuferkeln.

Dies als Kunstgesetz gesamt gesehen:
Ein Gedicht, das auf sich hält,
das läßt sich gehen.

Und je tiefer ich empfinde, um so seichter
schmiere ich mich aus,
dann fällt der Abschied leichter.

Da haben wir es also mal wieder: das Leichte, das so schwer zu machen ist. In der Nachfolge von Heine, Benn und Ringelnatz (unter anderen) hat Rühmkorf beileibe nicht nur höheren Jux getrieben, sondern auch die Vergänglichkeit besungen wie nur je einer seit barocken Zeiten. Doch auch die Fährnisse zwischen Geilheit und Vögeln wusste er in sprühend wohlgesetzte Worte zu fassen. Der Mann, der sich zuweilen als (erotischer) Filou gefiel, war intellektuell ein Ausbund an Unbestechlichkeit. An seinem lyrischen Zuspruch konnte und kann man sich nicht nur ergötzen, sondern aufrichten.

Noch ein Zitat, ein vermeintlich unscheinbares, das aber zu denken gibt. Aus dem Gedicht „Zum Jahreswechsel“:

Diese Welt kann doch nicht so gemeint sein
Wie sie aussieht, oder?

Peter Rühmkorf: „Sämtliche Gedichte“ (Hrsg.: Bernd Rauschenbach). Rowohlt Verlag. 621 Seiten. 39,95 €

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Briefe von Christa Wolf

Nun zu einer literarischen Protagonistin, ja Repräsentantin aus dem östlichen Teil Deutschlands, die im selben Jahr geboren wurde wie Rühmkorf: Christa Wolf (1929-2011), Autorin von Büchern wie „Kindheitsmuster“, „Der geteilte Himmel“, „Nachdenken über Christa T.“, „Kassandra“, „Kein Ort. Nirgends“ und „Störfall“, hat auch umfangreiche Konvolute von Briefen hinterlassen, um die es hier geht.

Insgesamt enthält die vorliegende Auswahl der „Briefe 1952-2011“ genau 483 Schriftstücke, die sich an rund 300 Adressaten richten. Abgedruckt sind nur die Briefe von Christa Wolf, nicht aber die Schreiben ihrer Briefpartner. So wirkt das Ganze gelegentlich etwas monologisch, man muss sich einiges hinzu denken. Immerhin sind rund 90 Prozent der abgedruckten Briefe bislang noch nicht veröffentlicht worden. Auch das gibt dieser Sammlung, bei aller wohlweislichen Beschränkung im Einzelnen, einiges Gewicht.

Der Obertitel lautet „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten“ und könnte als Zitat auch etwas sarkastisch gemeint sein. Denn gar so bequem kann es nicht immer gewesen sein für Christa Wolf. Vielfach ereilte sie der Vorwurf, dem SED-Staat doch etwas zu sehr auf den Leim gegangen zu sein.

Über sehr lange Zeit hinweg ist sie zumindest von naiver Gutgläubigkeit gewesen. Spätestens im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung aus der DDR (1976) hat auch sie Farbe bekannt. Freilich hielt sie damals immer noch Erich Honecker für eine ansprechbare Instanz: „Sehr geehrter Genosse“ lautete ihre Anrede, und sie bat ihn brieflich darum, inhaftierte Autoren zu begnadigen. Hat sie damit das Menschenmögliche versucht, oder hat sie gar zu sehr laviert? Darüber könnte man noch heute lange streiten. Doch allmählich verblassen die Meinungskämpfe jener Tage.

In der ausgewählten Korrespondenz (insgesamt hat Christa Wolf wohl um die 15.000 Briefe verfasst) tauscht sie sich nicht nur mit Schriftstellern (u. a. Grass, Frisch, Sarah Kirsch, mit der sie sich später heillos überworfen hat) aus, sondern auch mit „ganz normalen“ Lesern. Dafür hat sie viel Geduld aufgebracht. Nur ganz selten wurde sie zornig, so etwa, als sie den Schülerinnen eines Deutsch-Leistungskurses barsch deren absolute Unkenntnis ihres Werkes vorwarf und sich über „absurde“ und „verletzende“ Fragen beschwerte. Wie gesagt, das war eine Ausnahme.

Man muss wissen, dass Christa Wolf wegen der Stasi-Briefzensur häufig nicht offen schreiben konnte, sondern ihre Botschaften und Anliegen allenfalls sprachlich verschlüsselt übermitteln konnte, was der verbalen Kunstfertigkeit mitunter zuträglich war. Besonders ehrlich klingen manche der Briefe, die sie seinerzeit nicht abgeschickt hat, die aber erhalten geblieben sind. Dass Wolfs Werke und Briefe zudem von grundsätzlicher Sprachskepsis durchzogen sind, lässt dieses Zitat aus „Nachdenken über Christa T.“ ahnen: „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen“.

Christa Wolf: „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011“. Suhrkamp Verlag. 1040 Seiten, 38 €

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Ein einziges Tor

Dass über eine Mannschaft oder ein Turnier ganze Bücher entstehen, mag angehen. Aber über ein einziges Tor?

Ganz klar, es gibt aus deutscher Sicht nur einen Treffer, der buchfüllend ist: das wohl für alle Ewigkeiten umstrittene 3:2 beim Endspiel der Fußball-WM 1966. Bekanntlich wurde das Tor für England gegeben, obwohl der Latten-Abpraller mutmaßlich vor der Linie aufschlug. So jedenfalls die deutsche Lesart.

Dass man diesen fußballhistorischen Moment in tausend Facetten ausbreiten und anreichern kann, beweist Manuel Neukirchner, Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, mit dem Band „Wembley 1966“, der vor allem von der vielfältigen und großzügigen Bebilderung lebt.

Das 50 Jahre zurück liegende Ereignis spiegelt natürlich auch längst den damaligen Zeitgeist wider, so dass das Match über das rein Fußballerische hinaus interessant ist. Also war es auch dem Deutschen Fußballmuseum eine Sonderausstellung wert. Hier haben wir das Begleitbuch dazu.

Wie simpel die Sache damals im Grunde gewesen ist, formuliert treffsicher der damals beteiligte (und vom 4:2-Endergebnis für England tief enttäuschte) Mittelstürmer Uwe Seeler im Interview für den vorliegenden Band: „Für die Engländer war er drin, für uns Deutsche nicht. So einfach ist das.“

Man darf ergänzen: einfach kompliziert. So, dass man ganze Bücher darüber machen kann… Und somit hätten wir auch ein passendes Geschenk für altgediente Fußballfans.

Manuel Neukirchner: „Wembley 1966. Der Mythos in Momentaufnahmen“. Deutsches Fußballmuseum, Dortmund/Klartext Verlag, Essen. 160 Seiten, großformatiger Bildband (Broschur) mit zahlreichen Abbildungen (Farbe und schwarzweiß). 14,95 Euro.

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Ruhrgebietskrimi

Wer für Ruhrgebietskrimis zu haben ist, freut sich vielleicht über dieses etwas kleinere Geschenk: „Am Boden“ von Lucie Flebbe dreht sich zunächst u.a. um den riskanten Kletter-Trendsport „Roofing“.

Ein Student wird verdächtigt, einem Freund bei einer Klettertour einen Stoß versetzt zu haben – mit tödlichen Folgen. Lucie Flebbes schon mehrfach erprobte Privatdetektivin Lila Ziegler und ihr Partner Ben Danner wollen den Fall aufklären – ein Unterfangen mit ungeahnten Weiterungen. Alsbald geht es auch um häusliche Gewalt (Lila zeigt ihren eigenen Vater an), und schließlich kommt es zu einem spektakulären Showdown im Bochumer Opel-Werk. Merke abermals: Aufgegebene Industrie-Standorte des Reviers (vgl. auch Phoenix West und ähnliche Locations in Dortmunder „Tatort“-Folgen) eignen sich oft bestens als Krimischauplätze.

Lucie Flebbe: „Am Boden“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. Paperback, 251 Seiten, 11 Euro (als E-Book 9,99 €)

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Architektur der Region

So. Und nun hätten wir noch etwas für die an Kunst und Architektur Interessierten.

Christoph Rauhut und Niels Lehmann stemmen ein wahrhaft ambitioniertes Projekt. Seit einigen Jahren widmen sie sich eingehend der Architektur des Expressionismus, ein Band über herausragende Beispiele in Berlin und Brandenburg hatte den Anfang einer groß angelegten Reihe gemacht. Jetzt liegt ein weiterer Band vor, der sich den einschlägigen Baubeständen an Rhein und Ruhr zuwendet.

Zur ersten Orientierung schaue man am besten gleich ganz hinten nach, nämlich im reichhaltigen Gebäuderegister, das nicht nur Geschäfts-, Büro und Industriebauten auflistet, sondern auch öffentliche Gebäude, Sakralbauten und Wohnhäuser.

Auch wenn so vieles im Krieg zerstört worden ist, so gibt es doch auch in NRW noch eine imponierende Fülle von oftmals monumentaler expressionistischer Architektur (manches freilich nur noch in fragmentarischer Form), wobei gerade im Ruhrgebiet jede Stadt ihr eigenes Profil ausgebildet hat.

Die Textbeiträge in diesem Band (jeweils auf Deutsch und Englisch) sind sehr überschaubar, es handelt sich zwar um ein Ergebnis, nicht aber um die Wiedergabe einer fundierten wissenschaftlichen Aufarbeitung. Den weit überwiegenden Teil des Buches machen Fotografien und Lagepläne aus. Das darf sicherlich auch als Ermunterung verstanden werden, sich das eine oder andere der insgesamt 155 Gebäude einmal selbst anzusehen.

Um nicht ins Uferlose zu geraten, hier nur ganz wenige Beispiele aus dem Ruhrgebiet: Bogestra-Verwaltung (Bochum), Hans-Sachs-Haus (Gelsenkirchen), Union-Brauerei/Dortmunder „U“, Hauptpost (Essen), Polizeipräsidium (Oberhausen), Volkshochschule (Gladbeck), Gebäudeensemble Hauptfriedhof (Dortmund).

Im Vorwort heißt es, die vorgestellten Bauten (vorwiegend aus den 1920er Jahren) ließen samt und sonders künstlerischen Gestaltungswillen erkennen und stünden einer auch damals schon drohenden Banalisierung des Metiers entgegen. Und wie sieht’s damit heute aus? Eine Frage, bei der man unwillkürlich seufzt.

Christoph Rauhut/Niels Lehmann: „Fragments of Metropolis – Rhein & Ruhr. Das expressionistische Erbe“. Hirmer Verlag. 256 Seiten (Format 15,5 x 24,5 cm). 156 Farbabbildungen, 30 Pläne und Karten. 29,90 Euro.




Wie uns das Grusel-Etikett mit der Aufschrift „Donald T.“ auf die Buchseiten locken soll

Die blau unterlegte Ankündigung auf der Titelseite der heutigen „Zeit“ umfasst nur wenige Zeilen, doch hat sie mich irritiert, um nicht zu sagen: verärgert.

Ich zitiere wörtlich, was unter der spätherbstlichen Wer-jetzt-kein-Haus-hat-Überschrift „Bücher für stürmische Zeiten“ steht:

Ausriss aus der heutigen Titelseite der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit".

Ausriss aus der heutigen Titelseite der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“.

„Donald Trump sagt, schon der Geruch von Büchern mache ihn müde. Uns macht er Lust aufs Lesen…“

Was mich an diesen unschuldigen Sätzchen stört? Zum einen die gar wohlfeile Distanzierung von Donald T. Ach, wie sehr wir uns doch von ihm unterscheiden! Er ist dumpf, wir sind kultiviert. Ebenso gut könnte man sich öffentlich rühmen, kein gottverdammter „pussygrabber“ zu sein.

Außerdem behagt es mir nicht, dass die „Zeit“-Feuilletonisten (oder die Titelseiten-Gestalter?) offenbar meinen, selbst den Buchbesprechungen als Lockmittel noch dieses allgegenwärtige politische Label aus dem Gruselkabinett aufpappen zu müssen, womöglich noch mit dem Holzhammer-Hintergedanken „Wer das liest, setzt ein Zeichen gegen Trump…“

Man weiß ja, dass das mit der autonomen Literatur nicht so ohne Weiteres geht. Und doch wünscht man sich hin und wieder eine von derlei Tageskram entschlackte, (nur vermeintlich) zeitenthobene Kultur, die sich um Einzelheiten solch schrecklich konkreter Gestalten nicht immerzu schert und statt dessen die Tiefenschichten und allzeit gültigen Archetypen aufsucht. Auch und gerade im Literaturteil der „Zeit“ finden sich Bücher besprochen, die sich auf diesen steinigeren Weg begeben. Sie haben den trumpelnden Anreißer auf Seite 1 nun wirklich nicht nötig.

In diesem Sinne hat uns beispielsweise Shakespeare mal wieder ungleich mehr übers Machtgebaren von Trump, Putin, Erdogan und Konsorten zu sagen, als jedes mit Zeitgeist getränkte Analyse-Unterfangen.




„Ich darf nichts vergessen“ – Wie Peter Kurzeck über sein Schreiben gesprochen hat

Welch eine unabweisbare Vorstellung: Auf einmal kommen alle auf einen zu, die man im Leben gekannt hat. Und das bedeutet dann wohl, ganz lakonisch gesprochen: „Du bist tot“. Es muss ja so kommen, denn: Nicht die Zeit vergeht, es sind wir, die vergehen.

Man ahnt es schon: Mit solchen Gedanken geht ein Schriftsteller aufs Große und Ganze. Doch dies in aller Bescheidenheit, ja Demut.

Peter Kurzeck beim Signieren nach einer Lesung, 2008 (Creative Commons - User "Dontworry" / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Peter Kurzeck beim Signieren nach einer Lesung, 2008 (Creative Commons – User „Dontworry“ / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ich gebe es freimütig zu: Lange habe ich Peter Kurzeck (1943-2013) nicht so recht wahrgenommen, beinahe könnte man von Achtlosigkeit sprechen. Doch in den letzten Jahren bin ich nach und nach seiner Erzählweise verfallen. Kaum sonst jemand, dem man so ergeben lauschen könnte.

Dieses Lauschen ist vielfach wörtlich zu nehmen: Kurzeck hat der gesprochenen Literatur wieder zu ihrem ebenbürtigen Recht neben der geschriebenen Prosa verholfen, als wär’s eine Hinwendung zum historischen Anbeginn des Erzählens.

Und so ist jetzt aus seinem Nachlass eine weitere Hörbuch-CD erschienen, auf der er die Bedingungen und den Fortgang seines Schreibens einlässlich erläutert. Es ist an keiner Stelle langatmig, in keiner Sekunde eitle Selbstbespiegelung eines Literaten, sondern notwendige, höchst feinsinnige Reflexion des eigenen Tuns.

Die Aufnahme ist 2007 während eines Gesprächs mit dem Verleger Klaus Sander in einer Kölner Altbauwohnung entstanden. Der rund 70 Minuten lange Zusammenschnitt lässt ausschließlich Kurzeck zu Wort kommen. Er konzentriert sich vor allem auf seine ausgedehnten sommerlichen Aufenthalte im südfranzösischen Uzès. Hier genießt er die nicht rationierte, schier endlos scheinende Zeit. Das Schreiben formt alle Tage. Es ist in aller Stille wie ein fortwährendes Fest.

Fast scheint es, als habe Kurzeck selbst einen Proust noch hinter sich lassen wollen (wobei er niemals solche unsinnigen Ambitionen gehegt hätte): Inbrünstig erinnert er sich an einen Sommer im Wien des Jahres 1964. Acht Jahre lang, so versichert er, habe er sich daran abgearbeitet, einen ganz besonderen, insgeheim strahlenden Moment jenes Sommers in genau die richtigen Worte zu fassen. Damit er für immer besteht.

1971 stand Peter Kurzeck noch in deutschen Verwaltungsdiensten der US Army und beschloss beherzt, derlei vermeintlich sichere Jobs für alle kommenden Lebensjahre aufzugeben, um ausreichend Zeit zu haben für die Genauigkeit, die jeder Moment des Lebens erfordert, wenn man ihn gültig beschreiben will. Zeit will von Grund auf geschöpft sein. Und sie will zutiefst erfahren sein, ohne Ablenkung.

In Südfrankreich kommt tatsächlich das große Gefühl auf, dass die ganze Zeit ihm, dem Schreibenden, gehört. Er nimmt sich viele Stunden, um den Menschen beim täglichen Leben zuzusehen, was ja überhaupt eine der innigsten Aufgaben des Künstlers ist.

„Ich darf nichts vergessen“, lautet der Imperativ, den er an sich selbst richtet. Bloß keinen Einfall verlieren. Wer unter solchem Zugzwang steht, wird (so Kurzeck) entweder verrückt – oder er wird Schriftsteller. Und was für ein Glück: Im Schreiben ist immer „Jetzt“!

Der Autor kommt den Gründen seiner Verlustangst auf die Fährte. Schon als Dreijähriger habe er einen Weltverlust erlitten, als die Familie aus Westböhmen flüchten musste und nach Hessen kam. Umso dringlicher gilt es, alles zu bewahren, was geschehen ist und von nun an geschieht. Und wem erzählt er das? Zuallererst dem Kind, das er gewesen ist.

Obwohl das Cover der CD denkbar schriftlastig wirkt, reichen doch die bloßen Lettern nicht aus. Man muss den Tonfall und die (von mehreren Dialekten und dem Hochdeutschen beeinflusste) ganz eigene Satzmelodie hören, in der Peter Kurzeck sich hier äußert.

Cover des besprochenen Hörbuchs (@ supposé)

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Ein langer, ruhiger Fluss, möchte man meinen. Doch Kurzeck berichtet auch aus seinen heftigen Trinkerjahren, als er zeitweise jeden Halt zu verlieren drohte.

Andererseits weiß er – ganz ohne vordergründig politische 68er-Anspielungen – noch in den unscheinbarsten Momenten das wunderbare, Freiheit verheißende Aufbruchgefühl der 60er Jahre aufzuspüren und zu schildern, das ihn etwa während einer Reise nach Paris erfasst hat. Wer nicht weiß, wie sich das damals angefühlt hat, sollte aufhorchen.

Es war Kurzeck darum zu tun, das Leben der anderen Menschen in der Normalität zu erfahren, so wie es beispielsweise ein Günter Grass in jenen Jahren längst nicht mehr gekonnt hat, weil alle in ihm den Repräsentanten (und später den Nobelpreisträger) gesehen und sich entsprechend verhalten hätten. Insofern ist es eben auch ein Vorzug, nicht allzu sehr beachtet zu werden.

Schreiben, das hieß für Kurzeck nicht zuletzt: „Aufpassen auf die Welt“. Das erinnert nicht nur vage an Kafkas berühmte Zeilen: „Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein.“ Bei solchen Schreibenden wuchs und wächst das Rettende.

„Für immer. Peter Kurzeck erzählt sein Schreiben“. Hörbuch/Audio-CD, ca. 70 Minuten. Verlag supposé, ca. 18 Euro.




Stufe für Stufe zum eigenen Schreiben: Andreas Maiers Bildungsroman „Der Kreis“

Und wieder einmal tauchen wir mit Andreas Maier („Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“) in den kleinen Kosmos von Friedberg/Wetterau ein; so, wie er damals wohl gewesen ist, in Maiers Kindheits- und Jugendtagen.

Diesmal setzt die ruhige, ausgesprochen unaufgeregte Reflexion in der kleinen Bücherklause der Mutter ein, in der der Junge schon als Grundschüler so manche Stunden zugebracht hat, anfangs noch gar nichts recht begreifend, aber bereits lesend, lesend, lesend. So gut es eben ging.

42547Ohne Anführungszeichen geht es hier nicht: „Irgendwie“ hat die Mutter sich mit „Geistigem“ umgeben und den Vater mit erlesenen Fremdworten mit „Logie“- und „Ismus“-Anhängen gequält. Ihre Welt, die sich Jahre später als eng begrenzt erweisen wird, kreiste vor allem um „Theo Düschadeng“. Nanu? So versteht es jedenfalls der kleine Junge. Gemeint ist Teilhard de Chardin.

Wir erleben Stück für Stück und gleichsam Zeile für Zeile, wie sich derlei Nebel vor dem geheimnisvollen Geistesleben lichtet, wie immer mehr – zunächst allerkleinste – Erkenntnisse Raum greifen, wie also der Kreis (oder auch, siehe Titelbild des Buches, die Endlosschleife) des Gewussten sich nach und nach erweitert. Insofern ist „Der Kreis“ ein knapp gehaltener Bildungsroman, auf Neudeutsch könnte man von einer Coming-of-Age-Story sprechen. Die Hauptperson ist in allen Dingen erst einmal Novize.

Bei den langwierigen Bücher-Sitzungen (u. a. liest er von A bis Z das nicht allzu ambitionierte Lingen Lexikon) verbringt der Junge erhabene und entrückte Stunden, „durchwehte Stille“ wird er das später nennen. Und ja: Man kann sich einiges darunter vorstellen.

Mit unsagbaren Mühen pflegte derweil die Mutter eine offenbar lastend gewichtige Brief-Korrespondenz, in deren Zentrum der ortsansässige, veritable Büchnerpreisträger von 1946, Fritz Usinger, gestanden hat, dem seinerzeit im Städtchen nahezu gottgleiche Verehrung zuteil wurde.

Bildung, so ahnt man, hat hehre, aber mit ihrem eigenen Anwachsen auch hohle und zunehmend unfreiwillig komische Aspekte. Sie entsteht Schicht für Schicht und schließt auch permanent Abschiede von alten Gewissheiten ein.

Beginnend mit der Grundschulzeit, bewegen sich das Buch und sein Protagonist kapitelweise durch Unter-, Mittel- und Oberstufe. Als geradezu absurd empfindet es das Kind, dass ihm in der Schule jemand sagen darf, auf welcher Seite es ein Buch aufschlagen soll…

Ins Zentrum des eigenen Kultur-„Kreises“ rückt alsbald mit Macht die Rockmusik. Ausgiebig wird das erste, infernalisch laute Livekonzert beschrieben, das der 13jährige erlebt hat, der damit in eine verschworene Fangemeinschaft von Leuten geraten ist, die unentwegt von „damals“ (sprich: besseren Bands und Auftritten) reden. Auch in diesem Kreisen geht es befremdlich zu. Doch gleichzeitig lagert sich weitere Substanz an, auf die man zurückgreifen kann.

Sehr unprätentiös und doch dringlich schildert Andreas Maier die allerersten Stufen seines künstlerischen Werdegangs. Diese Literatur kommt nicht allzu „literarisch“ daher, sondern entsteht aus einer Perspektive des ganz allmählichen Reifens. Der Autor führt uns zurück in diese wunderbare Lebensphase, in der man sich so vieles produktiv anverwandeln kann.

Im Kapitel über die „Mittelstufe“ wird ein Abiturienten-Theater für die 9. Klasse erwähnt, an dem der nachmals berühmte René Pollesch beteiligt ist – auch er damals noch eine lokale Figur im offenbar staunenswerten Friedberg. Noch so ein Anstoß, der nachwirken wird.

Durch die Verliebtheit in eine Buchhändler-Tochter muss der junge Mann noch hindurch, auch durch die Beziehung zu einer deutlich älteren Frau. Wie von selbst dämmert irgendwann schließlich die Einsicht: Es sind ja Menschen wie wir alle, die (Bücher) schreiben und sonstige kulturelle Kreationen hervorbringen, sie existieren wirklich und wahrhaftig. Welch eine grundsätzliche Ermutigung für das eigene Tun!

Und heute? Schreibt Andreas Maier Bücher für den Suhrkamp-Verlag. Seit einigen Jahren schon. Eins nach dem anderen. Eines so an- und mitunter aufregend wir das andere. Man möchte diese Stimme nicht mehr missen.

Andreas Maier: „Der Kreis“. Roman. 149 Seiten. 20 €.




„Der Idiot“ nach Dostojewskij: Glücksfall einer Roman-Adaption im Düsseldorfer Schauspiel

Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Düsseldorf

Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Düsseldorf

Eigentlich kann ich ja mehr mit Tolstoi anfangen: Krieg und Frieden, Anna Karenina – hier blühen die russischen Leidenschaften, hier lernt man die Familienmitglieder mit der Zeit so gut kennen, als gehörten sie zur eigenen Verwandtschaft. Dostojewskijs Romane schienen mir immer ungleich düsterer, zerquälter.

Da geht es um Schuld, Verbrechen, moralische Abgründe. „Die Brüder Karamasow“ sind zwar außerdem ein packender Krimi, doch im „Idioten“ bin ich steckengeblieben. Bei der Bahnfahrt des Fürsten Myschkin von der Schweiz zurück nach St. Petersburg saß ich noch neben ihm, begleitete ihn auch in das Haus der Familie Jepantschin zum ersten Besuch, doch danach habe ich ihn irgendwie aus den Augen verloren…

Deswegen ist Matthias Hartmanns Inszenierung von „Der Idiot“ am Düsseldorfer Schauspielhaus ein absoluter Glücksfall: So packend, witzig, unterhaltsam und dramatisch habe ich lange keine Roman-Adaption auf der Bühne gesehen – und davon gibt es ja inzwischen viele.

Vielleicht liegt es daran, dass Matthias Hartmann, ehemaliger Intendant der Theater in Bochum und Zürich sowie des Wiener Burgtheaters, die Bühnenfassung gemeinsam mit der Dramaturgin Janine Ortiz und dem Ensemble beim Lesen des Romans auf der Bühne entwickelt hat. Die Schauspieler erzählen dem Zuschauer die Geschichte wie einen Erlebnisbericht. Zugleich spielen sie ihre Figuren absolut großartig.

André Kaczmarczyk gibt den Fürsten Myschkin als ein derart gutherziges, kindliches und engelhaftes Wesen, das in seiner verstrubbelten Sensibilität sofort den Beschützerinstinkt in allen weckt. Jeder möchte nach seiner Begegnung mit ihm ebenso gut sein wie er – doch die meisten schaffen das leider nicht. Deswegen lassen sie sich mitunter dazu hinreißen, den armen Epileptiker einen „Idioten“ zu nennen. Doch auch das nimmt ihnen Myschkin keineswegs übel: Im Gegenteil, er strengt sich nur noch mehr an, die Fehler seiner Mitmenschen zu verstehen, zu verzeihen, auszubügeln – bis dies zum Schluss seine gesundheitlichen Kräfte übersteigt.

Das ebenso flexible wie schlichte Bühnenbild von Johannes Schütz lässt sich in verschiedene Wohnungen und Zimmer verwandeln, ebenso wie das restliche Ensemble immer wieder in verschiedene Rollen schlüpft. Besonders prägnant dabei ist Rosa Enskat als Generalin Jepantschina und Iwolgina, die ihre Töchter schnippisch im Griff hat, im Grunde eine Zicke hoch drei, doch beim Fürsten Myschkin schmilzt auch sie dahin.

Eine bleibt allerdings immer sie selbst, obwohl sie sich nie findet: Yohanna Schwertfeger als die vulgäre Mätresse Nastassja Filippowna, als Kind missbraucht und nun nicht mehr fähig, der Selbstzerstörung zu entgehen. Die Liebe des Fürsten kann sie nicht annehmen, sie ist ihr zu rein. Statt dessen verstrickt sie sich in eine Hassliebe mit dem neureichen Kaufmann Rogoschin (Christian Erdmann), die sie mit dem Leben bezahlt.

Der vierstündige Abend vergeht wie im Flug, die Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Dresden sollten sich Liebhaber der russischen Literatur, aber auch Neulinge auf diesem Gebiet nicht entgehen lassen. Auch in völliger Unkenntnis des Romans begreift man die Essenz dieses abgründigen und zugleich idealistischen Werkes gut – und wird dabei noch bestens unterhalten.

Karten und Termine: www.dhaus.de




Gebrauche Deine Zeit: Zum 80. Geburtstag von Wolf Biermann

Es ist ein seltsames Phänomen um Wolf Biermann, der ein glühender Liebhaber des Kommunismus war und doch mit ungehorsamen Liedern die DDR in Aufruhr versetzte.

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival "Lauter Lyrik" (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de - Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival „Lauter Lyrik“ (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de – Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wenn man von ihm spricht, diesem schnauzbärtigen Helden deutsch-deutscher Kultur, da erhebt sich schnell ein Missmut: „Den mag ich nicht. Der ist so selbstgerecht, so eitel!“ Ja, Leute, der Biermann ist nicht berühmt für seine Bescheidenheit. Er weiß um seine Bedeutung. Aber, mit Verlaub, das darf er auch. Denn er hat mit Poesie und Pathos am Rad der deutschen Geschichte gedreht.

Von seinem Leben, das am 15. November 1936 in einer Hamburger Arbeiterfamilie begann, erzählt er uns zum 80. Geburtstag selbst. 544 Seiten lang ist Biermanns Autobiografie mit dem Titel eines Liedes: „Warte nicht auf bessre Zeiten“. 200 Tagebücher und Stapel von Stasi-Akten wurden da verarbeitet – von einem, der nur in Liebesdingen locker lässt. Viel Zorn steckt darin. Aber auch viel Zärtlichkeit, nicht nur für seine Frauen und insgesamt zehn Kinder. Am Ende wird keine fiese Abrechnung aus dem Buch, sondern ein Stück süffiger Literatur mit geschichtlich-politischem Mehrwert. Der Meister der lyrisch-prägnanten Kurzform – „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit …“ – bleibt seiner Sprache auch auf der Langstrecke treu.

„Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war …“ Dagobert Biermann, Werftarbeiter jüdischer Herkunft, Kommunist und aktives Mitglied einer Widerstandsgruppe, wird 1937, kurz nach der Geburt seines Sohnes, zum zweiten Mal von den Nazis verhaftet. Er stirbt, nach qualvollen Jahren, im Februar 1943 in Auschwitz. Sein letzter Brief – „Warte nur, Wölflein, wenn ich wieder komme, dann bauen wir uns ein großes Schiff …“ prägt Biermanns Kinderseele bis ins hohe Alter. Im Juli 1943 überlebt der Kleine an der Hand seiner Mutter Emma die Zerstörung Hamburgs durch Fliegerbomben – den „Feuersturm“. Er sieht verbrannte und erstickte Menschen, registriert entsetzliche Details. Doch er weint nicht: „Der Schrecken war zu übermächtig.“

Vielleicht hat das große Trauma den erwachsenen Biermann unempfindlich gemacht gegen die kleinlichen Schikanen des SED-Regimes. Er ist in den Ostapparat hinein geraten, weil seine Mutter Emma Biermann, mutig-naive Witwe des Widerstandshelden Dagobert und überzeugt vom Segen des Kommunismus, ihr Bübchen zu den Jungen Pionieren und schließlich in die junge DDR schickt, den Hoffnungsstaat der westdeutschen Genossen.

Ab 1953 geht Wolf Biermann auf ein Mecklenburger Internat und fühlt sich am rechten linken Platz. Als Student und Regieassistent des Berliner Ensembles ist er Ende der 1950er-Jahre intellektuell ganz vorn dabei. 1961 begrüßt er sogar den Mauerbau als Reaktion auf die massenhafte Westflucht der Eliten. Und er bekennt heute: „Ich habe an diesem 13. August die verfluchte Mauer mitgebaut“.

Hinter der schützenden Grenze entwickelt sich der junge Biermann, gefördert vom Brecht-Komponisten Hanns Eisler, zum Liedermacher mit Gitarre. Er tritt auf als „Troubadour de Berlin“, beachtet auch von der Linken im Westen. Für den Osten ist sein Ton nicht unverfänglich genug. Er verärgert die „Alten Genossen“ mit Versen über seine Unzufriedenheit. Schon bald gibt es Auftrittsverbote wegen „Klassenverrat“ und Obszönität“.

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael - Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael – Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Mitte der 1960er-Jahre gehört Biermann zu den Geistern des Widerstands, ununterbrochen bespitzelt. „Die Stasi ist mein Eckermann“, so kommentiert Biermann bissig die eifrigen Mitschriften der Lauscher. Die westliche Studentenbewegung liebt ihn und seinen eingängigen Song von der „Ermutigung“ (1966): „Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit …“. Sie liebt auch sein wehmütiges Barlach-Lied: „Vom Himmel auf die Erden falln sich die Engel tot …“. Die Langspielplatte „Chausseestraße 131“, zu Hause aufgenommen mit einem von Mutter Biermann geschmuggelten Mikrofon, wird 1969 hüben verkauft und mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Sie bringt dem Regime und dem Barden erstaunliche Devisen.

Biermann hat sich recht kuschelig eingerichtet im Gesinnungsgefängnis DDR, wo er Beachtung findet an der Seite des Chemikers und Dissidenten Robert Havemann, dessen Tochter Brigitt zu seinen zahlreichen Amouren gehört. Er inszeniert sich poetisch als preußischen Ikarus, „mit grauen Flügeln aus Eisenguss“. Wegen seines westlichen Ruhms wagen die Behörden nicht, Biermann einzusperren, sie lassen ihn 1976 sogar auf Westtournee gehen (siehe Video am Schluss des Beitrags), und er wäre wohl artig zurückkommen, wenn man ihn nicht nach seinem triumphalen Konzert in Köln ausgebürgert hätte. Aus Protest verlassen etliche Kunstgenossen, darunter auch die Filmstars Manfred Krug und Eva-Maria Hagen, die DDR. Das System erzittert nachhaltig. 13 Jahre später wird die Mauer fallen.

Der Vertriebene selbst verliert in der Freiheit seinen Status. Die Fans reagieren gelangweilt auf klassenkämpferische Parolen und belehrende Konzerte. Sie sind genervt von den Streitigkeiten, die er vom Zaun bricht. Biermann zieht sich zurück nach Frankreich, in den „Bernstein der Balladen“ und in den Kreis seiner wachsenden Familie.

Der schönen Pamela, Mutter der letzten drei Kinder, ist er immerhin seit 1983 verbunden. Er ist weich geworden. Geehrt mit Preisen im Namen deutscher Dichter von Hölderlin bis Heine, kommt der alte Wolf Biermann zu ziemlich liberalen Einsichten. Er lobt die bürgerliche Demokratie als „das am wenigsten Unmenschliche, was wir Menschen als Gesellschaftsmodell bisher erfunden und ausprobiert haben“. Ist doch wahr. Drum: „Lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit!“

Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ Die Autobiografie. Propyläen Verlag. 544 Seiten. 28 Euro.

Wolf Biermann: „Im Bernstein der Balladen – Lieder und Gedichte“. Propyläen. 240 Seiten. 24 Euro.

„Warte nicht auf bessre Zeiten“ – Wolf Biermann 1976 beim legendären Auftritt in der Kölner Sporthalle:
https://www.youtube.com/watch?v=GSw5H4tY29A




Der Literaturpreis Ruhr verdient eine Aufwertung – und kein Sparprogramm

Gastautor Werner Streletz, Bochumer Schriftsteller und 2008 selbst Träger des Literaturpreises Ruhr, mit kritischen Anmerkungen zur Zukunft der Auszeichnung:

Werner Streletz, Aufnahme von 2009 (Foto: privat / Creative Commons)

Werner Streletz, Aufnahme von 2009 (Foto: privat / Creative Commons)

Der Literaturpreis Ruhr soll vielleicht nur noch alle zwei Jahre verliehen werden. Das wäre ein herber Einschnitt.

Die einzige nennenswerte Auszeichnung, die das literarische Image des Reviers ein wenig polieren kann, darf nicht in den Schatten des halbwegs Vergessenen versinken. Eine solche Gefahr bestünde, würde der Jahresrhythmus aufgegeben.

Auch angesichts der schnelllebigen Medienwelt ist der bisherige Verleihungstakt anzuraten. Es wäre zudem blamabel, würde sich die Vermutung verbreiten, im Ruhrgebiet (mit immerhin fünf Millionen Einwohnern) seien nicht alle zwölf Monate preiswürdige KandidatInnen zu finden. Oder AutorInnen, die zwar nicht in der Region leben, aber über das Ruhrgebiet schreiben. Das sind die beiden Auswahlkriterien.

Merke: Auch wenn bedeutsame Namen wie der unlängst verstorbene Wolfgang Welt fehlen, die Liste der Ausgezeichneten zählt doch die allermeisten bemerkenswerten SchriftstellerInnen auf, die im Ruhrgebiet wohnen oder über diese Region Literarisches verfasst haben.

Also weiter wie gehabt? Das nicht unbedingt. Anzuraten wäre ein Begleitprogramm zum Preis, das den jeweils Ausgezeichneten (auf einer Lesetour zum Beispiel) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt macht. Ein flankierender publizistischer Schub, u.a. von den Ausrichtern der Auszeichnung animiert, könnte dazu beitragen, Preis, Preisträger und die Literaturszene der Region stärker ins Gespräch zu bringen. Man muss es halt nur wollen …

Ich habe mich nach der Preisverleihung (2008) jedenfalls ziemlich alleingelassen gefühlt. Ein rauschendes Fest – danach Stille. Also war Eigeninitiative angesagt. Aber dazu muss ja nicht jeder Preisträger verpflichtet sein…




Songs für die Ewigkeit: Zum Tod des großen Dichters und Sängers Leonard Cohen

Auf immer verflucht sei der Tod. Jetzt hat er uns auch noch Leonard Cohen genommen, den vielleicht größten Songschreiber unserer Zeit, neben dessen Tiefenwirksamkeit allenfalls Bob Dylan bestehen kann.

Leonard Cohen bei einem Konzert in Genf, 2008 (Wikipedia Creative Commons, User

Leonard Cohen bei einem Konzert in Genf, 2008 (Wikipedia Creative Commons, User „Rama“, eigenes Werk. Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/fr/deed.en)

Vor wenigen Wochen war seine Platte „You Want It Darker“ erschienen, ein wahrhaft dunkles, geheimnisvoll funkelndes letztes Meisterwerk, das allseits hymnisch gefeiert wurde. Nicht nur zwischen den Zeilen war Cohens Bereitschaft zu sterben vernehmlich. Zwar hat er auch noch gescherzt, er wolle 120 Jahre alt werden, doch damit wollte er nicht mehr sich selbst aufmuntern, sondern wohl nur noch uns alle beruhigen und trösten.

Ob nun Zufall oder Fügung: Mitten in der Nacht bin ich plötzlich aufgewacht, das Tablet lag noch neben mir und war nicht ausgeschaltet. In der Dunkelheit leuchtete die schlimme Nachricht von Leonard Cohens Tod auf. An ruhigen Schlaf war nicht mehr zu denken; wie dies denn überhaupt eine Woche der schlaflosen Nächte ist. Ihr wisst schon.

Weisheit und Würde

Froh und dankbar bin ich, Leonard Cohen in den letzten Jahren noch auf der Bühne erlebt zu haben: einmal in Oberhausen und einmal in Dortmund. Wenn man überragendes Künstlertum mit Lebensweisheit, Noblesse und Würde in Einklang sehen wollte, so war es hier in Reinkultur zu erleben.

Leonard Cohen wurde am 21. September 1934 in Westmount, einem Vorort von Montreal (Kanada), geboren. In seiner wohlhabenden jüdischen Familie ist er sehr früh und intensiv in die Buchkultur eingetaucht. So hat er zwar schon als Kind auch Gitarre spielen gelernt, wurde aber zunächst Schriftsteller und hat ab 1954 Lyrik und Prosa publiziert. Nein, wir reden jetzt nicht mehr weiter vom Literaturnobelpreis, der womöglich ihm gebührt hätte.

Grandioser Erstling

Man kann nachlesen, dass Judy Collins ihn animiert hat, seine Poesie auch in Songs zu fassen. Ende 1967 kam das Album „Songs of Leonard Cohen“ heraus – mit legendären Liedern wie „So long, Marianne“, „Sisters of Mercy“ und „Suzanne“. Gleich dieser Erstling erwies sich als eine der besten und stimmigsten LPs aller Zeiten. Es folgten noch zahlreiche grandiose Schöpfungen. Wer seine komplette Diskographie erkunden will, findet beispielsweise hier reichlich Material.

Seine Lieder handeln von den größten, ewigen, ersten und letzten Dingen, zumal von Liebe und Tod. Texte und Klänge sind vielfach melancholisch-elegisch getönt, oft greifen sie ins Spirituelle aus, allerdings ohne jede hohepriesterliche Anmaßung. Doch eine überirdische Idee waltet beileibe nicht nur in dem berühmten Song „Hallelujah“. Und es gibt auch etliche Cohen-Songs, die sich auf ganz eigene, wunderbar leichtfüßige Weise ins Tänzerische begeben.

Keiner fragt nach meinem Favoriten, doch ich nenne ihn trotzdem: Es ist der famose Song „Chelsea Hotel“, mit dem Cohen sich an Janis Joplin erinnert. Okay, ich könnte auch noch zwanzig andere erwähnen. Mindestens.

Nachhaltige Wirkung

Ich weiß nicht, ob dermaßen subjektive Äußerungen hierher gehören, aber ich riskiere es mal, weil es in diesem Falle eben nicht so abwegig ist und über allgemein verfügbaren Wikipedia-Stoff hinaus weist: Aus mehreren Generationen können viele, vor allem Frauen (denn er war ein „homme à femmes“ oder „Ladies’ Man“ wie nur je einer), sehr Persönliches erzählen, das Biographien und Schicksale auf manchmal nahezu magische Weise zu prägen scheint.

Eine meiner liebsten Cohen-LPs ist bis heute „Songs of Love and Hate“ (1971). Warum? Wegen einer – im Nachhinein betrachtet – „unsinnigen“ Verliebtheit. Aber wer fragt hier nach Sinn? Damals war es jedenfalls in manchen Kreisen üblich, angehimmelten Frauen Audio-Kassetten mit bedeutungsvollen Songs zu überreichen, mit denen man sich und seine Gefühle ausdrücken wollte. Natürlich war Cohen für derlei Wechselfälle besonders ratsam…

Ein paar Jahre später sind ein Freund und ich mit zwei ansonsten stets giggelnden Teeny-Mädchen in einen Cohen-Konzertfilm gegangen. Es war wie ein Zauber. Sie waren gerührt, haben Tränen vergossen und wirkten auf einmal seltsam gereift – „Just Like a Woman“, um Dylan zu zitieren.

Neigung zum Rückzug

Meine Frau ist als Teenager sogar ein kleines bisschen ungesetzlich vorgegangen, um an seine erwähnte Debüt-LP „Songs of Leonard Cohen“ zu gelangen. Im Tausch gegen einen Judoanzug hat sie einer Freundin die Platte abgeluchst, die eigentlich deren älterem Bruder gehörte. Wer weiß, woher er die hatte. In weiten Teilen des Sauerlands gab es damals offenbar keinen Plattenladen, der Cohen führte.

Eine Facebook-Bekannte war so vom Menschen und Künstler Cohen ergriffen, dass sie ihm durch Länder und Kontinente nachgereist ist und sicherlich viele Dutzend seiner Konzerte erlebt hat. Wahrhaftig: Nicht wenige Frauen waren Cohen geradezu verfallen oder ergeben.

Leonard Cohen, der zuletzt in Los Angeles lebte, hatte nachhaltigen Einfluss auf zahllose Menschen, doch er hat nie entsprechende Attitüden eines Popstars entwickelt. Er war und blieb auch als Singer/Songwriter ein Schriftsteller, den es eher in die Stille und zur Kontemplation zog. Mehrmals hat sich dieser (nach eigenem Bekunden zu Depressionen neigende) Dichter vor der Welt verschlossen – in den 60ern wählte er die griechische Insel Hydra als Rückzugsort, ab Mitte der 90er Jahre ein buddhistisches Kloster bei Los Angeles.

Darf man sagen, dass seine Wiederkehr einer Erscheinung glich? Oder klingt das unangemessen messianisch? Sei’s drum.




Orgien, Harakiri und Kunstblut – Christian Krachts filmischer Roman „Die Toten“

Für alle, die es noch nicht wissen: Christian Kracht hat einen neuen Roman geschrieben. Über das aufstrebende Filmmilieu der dreißiger Jahre zur Zeit der NS-Machtübernahme. Titel: „Die Toten“. Ja, den Titel hat es schon mal gegeben. Bei James Joyce. Anspruch will eben formuliert sein.

Trailer ab. Es treten auf :

In den Hauptrollen:
Emil Nägeli, ein Schweizer Avantgarde-Regisseur, mit einem ausgewachsenen Vaterkomplex behaftet.
Masahiko Amakasu: Japanisches ex-Wunderkind, als Erwachsener vor allem durch sein Faible für deutsches Brauchtum und Mythen auffallend.

die-toten

In den Nebenrollen: eine dralle, blonde deutsche Schönheit namens Ida, ferner UFA-Tycoon Hugenberg, Charlie Chaplin, Siegfried Kracauer, Lotte Eisner, Ernst „Putzi“ Hanfstaengl und Heinz Rühmann (geschickter Schachzug, auf nickende Kennermienen der Leser und Kritiker abgestellt).

Schauplätze: das Berlin der Weimarer Republik
Japan vor einer Zeitenwende
Hollywood als vermeintlicher Rettungsanker
diverse Berge und Bauernhöfe

Handlung: Mit deutschem Geld soll in Japan ein Vampirfilm gedreht werden – sozusagen als Zelluloid-Achse, um die faschistoide zu unterstützen. Mit Vampiren, viel Blut und nicht ganz soviel Kultur gegen den amerikanischen Kulturimperialismus, der allerdings schon da ist – in Gestalt des gerade in Japan nahezu gottgleich verehrten Charlie Chaplin.

Dazu gibt’s Fressorgien, Besäufnisse und reichlich historische Ereignisse (die zwar nichts zur Sache tun, aber wenn sie sich schon zum Zeitpunkt der Handlung ereignen. Man will ja nicht umsonst recherchiert haben).

Trailer Ende.

Doch bevor es im Buch um den Plot geht, (sieht man mal vom in allen Details beschriebenen Harikiri eines japanischen Offiziers direkt zu Beginn ab) ist die Hälfte des Buches schon um. Denn zunächst geht es in epischer Breite um die Leiden des jungen Nägeli und des jungen Amasuko. Kann man ja nicht unter den Tisch fallen lassen. Problematische Vater-Sohn-Beziehungen oder frühe Traumata wie der Tod des weißen Nicht-Kuscheln-Wollen-Hasen geben literarisch ja auch richtig was her. Und erst die autoritäre Kadettenanstalt, die das kleine Genie Masahiko den Flammen überlässt.

Das alles taugt zwar nicht als Rahmenhandlung oder gar als roter Faden, ist auch komplett bedeutungslos für die weitere Handlung, aber gepflegtes Leiden ist schließlich auch wichtig. Und das alles schön parallel montiert. Es geht ja um den Film als Kunstform. Im Film ist Parallelmontage sehr gefragt. So kann man gleich ganz klug und beseelt schließen, ah ja, hier ist die filmische Kunstform ins Literarische übersetzt. Und gelitten wird später auch noch. Wenn auch eher kunstblutig. Aber vielleicht ist das ja der rote Faden. Irgendwie will man als Leserin den Kreis ja dann doch geschlossen kriegen.

Kommt man dann zum Plot, treffen sich Nägeli und Amakasu endlich in Japan, wird dummerweise die (gemäß Verlagsbeschreibung „…das Geheimnis des Films als Kunstwerk der Moderne feiernde“) begonnene Handlung schon wieder unterbrochen. Schade. Aber was will man machen, wenn die blonde Ida dem japanischen Genie den Kopf verdreht und auf ganz andere vampirische Art als die geplante saugt.

Dem Nägeli bleibt immerhin noch die „Augenblicklichkeit des Universums“ und die blonde Spielverderberin kriegt ihre Kunstblut-Strafe. Und nicht zu vergessen: die Toten. Die haben wir ja auch noch. Die mischen sich dauernd zwischenrufend ein. Sind wahrscheinlich sowas wie das Kinopublikum für edel leidende junge und ältere Herren. Dass hingegen der Roman der dramatischen Struktur des japanischen No-Theaters folgt, das braucht man gar nicht groß herauszufinden. Kracht ist so stolz drauf, dass er einen mit der Nase draufstößt. Aber schön, oder? Da haben wir doch so einiges, was die Nicht-Rahmenhandlung und den kleinen Plot zusammenhält.

Der Roman schafft das Kunststück, viel zuviel Information bei gleichzeitiger Inhaltslosigkeit zu liefern. Aber immerhin in schön gedrechselten Sätzen, beinhaltend eine wahre Fundgrube für die beliebte Sammlung „Schöne, fast vergessene Wörter“. Die „Ästhetisierung des Schrecklichen“ passt dazu, aber es bleibt eine elegante Spielerei.

Statt Herzblut spritzt einem auch dort nur Kunstblut entgegen und es ist einem ganz unglaublich egal, ob man Gewalt so beschreiben darf, weil diese Passagen so bemüht wirken, dass sie einen nur kalt lassen können. Christian Kracht ist sicherlich ein feinsinniger Autor, aber was nach der Lektüre dieses Romans bleibt, ist der Eindruck, inhaltsleere Manierismen eines klugen Kopfs gelesen zu haben.

Alles, was ich sehe, ist eine Klamotte, eine langweilige noch dazu. Garniert mit dem Muff deutschen Mythen, von denen einem auch nicht im Ansatz erklärt wird, warum sie so toll sind und schon gar nicht, welche Lehren man daraus für die Zukunft ziehen könnte. Irritierend.

Vielleicht ist die Entstehung des Romans mit einem drängenden Bedürfnis des Autors zu erklären, sich mit aller Macht und Gewalt um jeden Preis aus den Schubladen lösen zu wollen, in die man ihn hineingepresst hat: Wunderkind, Popliterat und was da nicht immer alles an überfrachteten Erwartungen zu lesen ist. Dieser Intention und dem ganzen Roman hätte dafür allerdings eine Rückbesinnung auf Krachts Begabung als Satiriker gut getan.

Christian Kracht: „Die Toten“. Roman. Verlag Kiepenheuer und Witsch, 212 Seiten, € 20.




,,Meine Zeit mit Cézanne“ – ein berührender Film über Freundschaft und Egozentrik

Noch läuft er in ausgewählten Programmkinos der Republik: „Meine Zeit mit Cézanne“, dieser berührende Film über eine Männerfreundschaft und über die zerstörerische Egozentrik eines Malergenies.

Paul Cézanne, Kind aus reichem Hause, und der später berühmte Schriftsteller Emile Zola lernten sich als Schuljungen in Aix en Provence kennen und behielten ihre Freundschaft bis ins Alter, allerdings nicht bis zum Schluss, denn an der fast pathologischen Egozentrik Paul Cézannes zerbrach die Verbindung.

Der französische Film wurde an den Originalschauplätzen der beiden Künstler-Biographien gedreht. Emile und Paul mussten sich jeweils auf ihrem Gebiet – in der Literatur und der Malerei – als Neuerer gegen massive Widerstände durchsetzen. Zudem kämpften sie zeitweise in der Liebe um dieselbe Frau.

Scheitern musste die Freundschaft schließlich an Cézannes totaler Ichbezogenheit. Allerdings lässt der Film von Danièle Thompson an dieser Stelle eine etwas andere Wendung zu als das damalige wahre Leben. Immerhin soll Cézanne nach Zolas Tod trotz des Zerwürfnisses mehrere Tage geweint haben.

Die Faszination im Kino geht natürlich nicht nur von dieser Geschichte aus, sondern mehr noch von der schauspielerischen Leistung der beiden Hauptdarsteller: Guilllaume Canet als Emile Zola und Guillaume Gallienne als Paul Cézanne spielen sehr facettenreich – nicht umsonst gehören sie zur ersten Reihe der französische Film- und Theaterschauspieler.

Für die Kulturgeschichte unseres Nachbarlandes haben die beiden dargestellten Künstler eine herausragende Bedeutung. Und obwohl sie bei uns nicht diese Bekanntheit erreichen, war der Kinosaal an einem normalen Wochentags-Nachmittag ausverkauft. Das lässt hoffen.

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Der Film ist derzeit (bis mindestens Mittwoch, 19. Oktober) in folgenden Ruhrgebiets-Kinos zu sehen:
„Camera“ (Dortmund): 16:30 Uhr
„Casablanca“ (Bochum): 15:00 und 18:30 Uhr
„Filmstudio Glückauf“ (Essen): 14:45 und 20:00 Uhr.




Nobelpreis für Bob Dylan – nun gut!

Nun hat er ihn also: Bob Dylan ist der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2016. Endlich, endlich. Hosianna! Doch obwohl ich ihn seit Jahrzehnten verehre, ist mir diese Ehrung letztlich gleichgültig.

Ein paar Sachen aus dem Plattenregal. (Foto: BB)

Beispielsweise: ein paar Dylan-Sachen aus dem heimischen Plattenfundus. (Foto: BB)

Wenn es ihm denn Freude und Genugtuung bereitet, so ist es gut. Nur, ganz ehrlich: Hat er und haben „wir“ (sprich: unsere Generation(en)) es denn wirklich noch nötig, dass eine bisweilen arg verschnarchte Jury ihn mitsamt seiner Musik auf diese Weise – viel zu spät – in seinem einzigartigen Rang bestätigt? Fürwahr nicht.

Viele von den Allerbesten haben den Preis nie erhalten. Nüchtern besehen, ist es eigentlich keine besondere Zierde, dass sie ihn jetzt doch noch erkoren haben. Wahrscheinlich wird das nun alles wieder ungemein politisch gedeutet, womöglich als machtvolles Zeichen gegen den tumben Trump, als Signal des wahrhaftigen amerikanischen Geistes…

Wie gut, dass wir im nächsten Jahr nicht mehr spekulieren müssen, ob Dylan ihn kriegt.

Ich mache es mir hinfort leicht und komme auf meine Zeilen zu Bob Dylans 75. Geburtstag zurück, die am 23. Mai in den „Revierpassagen“ erschienen sind und von denen ich auch jetzt nicht abrücken möchte:

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Der Blick ins Rocklexikon bestätigt es: Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 geboren, er wird also jetzt 75 Jahre alt. Geburtsort war Duluth/Minnesota, danach wuchs Dylan – bürgerlich bekanntlich Robert Zimmerman(n) – in der Grubenstadt Hibbing auf. Er hat, wenn man so will, Wurzeln in einem Bergbau-„Revier“. Auch darüber hat er ja den einen oder anderen Song gemacht.

Doch wir wollen etwaige Analogien zum Ruhrgebiet nicht weiter treiben, es wäre lächerlich. Jedenfalls war Dylan durch solcherlei Herkunft wohl „geerdet“, er hat gewusst, wie gewisse Härten des Lebens sich anfühlen. Dass er hernach für die Schwachen und Erniedrigten Partei ergriffen hat, war nur folgerichtig.

Der Blick ins Plattenregal zeigt: Von keinem Künstler (ausgenommen Neil Young) habe ich so viele Platten und CDs wie von Bob Dylan. Warum wohl? Die Antwort drängt sich wiederum beim Blick ins eigene Innenleben auf. Seine Musik und seine Wesensart haben mich, wie so viele aus meiner Generation, durch all die Jahre und Jahrzehnte begleitet, mal inniglich, mal auf Hörweite, mal etwas entfernt. Manche seiner Songs waren und sind immer da. Und das wird so bleiben, selbst wenn eines Tages… Nein, ich mag nicht daran denken.

Dabei habe ich seine Anfänge damals gar nicht wahrgenommen, sondern ihn erst auf dem Umweg über die Beatles (mein musikalisches „Erweckungs“-Erlebnis schlechthin), Stones, Small Faces usw. kennen gelernt, als auch er (1965 beim Newport Folk Festival) die elektrischen Verstärker einstöpselte. Was immer er getan hat, hat die Fans – so oder so – gleichermaßen bewegt und oft erregt, wie die Musikerkollegen. Er ist wahrscheinlich der einflussreichste Protagonist der populären Musik überhaupt.

Man hat dann halt mehr oder weniger andächtig nachgeholt, was Dylan vorher so fabriziert hatte. Es war eine vielfältige Welt für sich, mit weit gespanntem Horizont: Da waren die so genannten Protestsongs, authentischer Blues, die allerschönsten Liebeslieder und zwischendurch mal etwas religiöser Kitsch. Auch das war verzeihlich. Kein Künstler ist immerzu auf gleicher Höhe. Nicht einmal diese mythische Gestalt.

Literaturnobelpreis – was soll’s?

Schon seit einigen Jahren ertönt die Forderung immer lauter, man möge ihm doch endlich den Literaturnobelpreis zuerkennen. Dann würde eine ganze Generation nicht nur ihn, sondern sich selbst feiern und abermals in „Forever Young“-Seligkeit schwelgen. Mit literarischen Legenden wie Rimbaud, Villon und William Blake hat man ihn vergleichen wollen, mit den Surrealisten, natürlich auch mit Dylan Thomas, von dem sich Dylans Künstlername herleitet. Und und und. Ganz ehrlich: Mir ist es einerlei, ob er den Nobelpreis erhält. Die meisten genialen Autoren haben ihn nicht bekommen.

Ist er nun in erster Linie Dichter oder Musiker? Auch das ist eine müßige Frage. All seine Antikriegs-, Liebes-, Freiheits- und auch Glaubensbotschaften sind zutiefst in seine Musik eingesenkt, diese hat ihren eigenen Goldstandard. Weil dann noch sinnstiftende (und kunstvoll sinnverweigernde) Poesie hinzu kommt und mit der Musik untrennbar verwoben ist, wird spätestens klar, dass Popmusik auf hochkulturelle Pfade führen kann. Doch wer wollte das noch bezweifeln? Derlei Debatten sind ja längst ausgestanden, nicht zuletzt dank Dylan.

Die endlose Tournee

Der nun doch schon etwas ältere Mann befindet sich weiterhin auf seiner „Never Ending Tour“, die er nur kurz unterbricht, um seinen Geburtstag zu feiern. Anschließend geht es wieder und wieder auf die Bühnen, derzeit kreuz und quer durch die USA. Wahrscheinlich hört er mit solchen Rundreisen erst auf, wenn sich eines seiner berühmtesten Lieder für ihn erfüllt: „Knockin’ on Heaven’s Door“.

Wer ihn je im Konzert erlebt hat, weiß, dass Dylan zwischen den Songs wahrlich nicht lange schwafelt, sondern nur die allernötigsten Ansagen macht. Wie seine Klassiker, die das Publikum immer und immer wieder hören will (am liebsten mit Mundharmonika), dann tatsächlich live klingen, das weiß man vorher nie.

Er richtet seine Kreationen stets wieder anders zu, zuweilen hat er sie den Zuhörern auch lustlos hingeworfen, als wären es wertlose Bruchstücke. Erwartungen zu bedienen, ist seine Sache noch nie gewesen. Ich hatte das Glück, bei seinen Auftritten auch erhabene, strahlende Momente wie für die Ewigkeit zu erleben. Naja, für die Lebzeiten-Ewigkeit. Und ein bisschen darüber hinaus.

Und er kann doch singen

Immer wieder haben Leute spöttisch behauptet, Bob Dylan könne nicht singen, sondern nur nuscheln und näseln. Das ist natürlich Quatsch. Er singt wie kein anderer, auf ureigene Art perfekt phrasiert und mit untrüglichem Gespür fürs richtige Wort im richtigen Augenblick. Er singt eben so, wie seine Songs gesungen werden müssen; auch dann, wenn er sie mal mit Ingrimm selbst verhunzt. Millionen haben es probiert, doch es ist blanker Unsinn, einen solchen Sound nachzuahmen. Es kann nie und nimmer gelingen. Und es geht bei all dem nicht um stimmliche Glockenreinheit.

Es gibt einen Film, der ein lang zurückliegendes Treffen zwischen Donovan (kürzlich 70 geworden) und Dylan zeigt. Irgendwo backstage spielen die beiden einander etwas vor. Zuerst Donovan. Sehr schön, fürwahr. Er war ja auch kein Stümper. Dylan selbst soll einmal gesagt haben, Donovan sei der bessere Gitarrist. Doch dann greift Dylan ungemein lässig zum Instrument – und vom ersten Ton an ist klar, dass seine Schöpferkraft, seine Präsenz und sein Charisma Donovans Habitus bei weitem übersteigen.

Welches sein allerbester Song sei? Darüber könnte man ebenfalls lange palavern. Ich halte es vor allem mit einigen früheren Titeln, darunter „Love minus Zero (No Limit)“, „All Along the Watchtower“, „Just Like a Woman“, „Shelter From the Storm“ oder „Lay Lady Lay“. Ach, jetzt könnte ich doch noch Dutzende nennen, nahezu unaufhörlich, aber ich lasse es bleiben. Wer will schon einzelne Sterne vom Firmament zupfen?




Innenleben einer Bibliothek: Frans Kellendonks „Buchstabe und Geist“ erstmals auf Deutsch

Eine Bibliothek als Schauplatz eines Romans, kann das spannend sein? Auch wenn hinter den Regalen kein Mord geschieht, kein mittelalterlicher Mönch die Bücher vergiftet, keine Kinder gezeugt werden – die ganz alltäglichen Benutzer einer Universitätsbibliothek und das dort beschäftigte Personal reichen zur Ausstattung eines guten Romans völlig aus.

Schreiben und Übersetzen sind einsame Tätigkeiten. Mancher der so Arbeitenden kann auf Dauer der Versuchung nicht widerstehen, seinen Lebensunterhalt in einem geselligeren Arbeitsumfeld zu verdienen. Der niederländische Autor und Übersetzer Frans Kellendonk nahm, wie wir aus dem Nachwort erfahren, von Januar bis April 1979 eine Stelle in der altehrwürdigen Universitätsbibliothek Leiden an. Wenn auch der Name der Stadt im Roman ungenannt bleibt, wenn auch der Protagonist Felix Mandaat zuvor seine freiberufliche Tätigkeit nicht mit literarischen Erzeugnissen, sondern mit der Organisation von Kongressen bestritten hatte, dürfte Kellendonk die Erfahrungen als Bibliothekar für seinen Roman „Buchstabe und Geist“ verwertet haben.

9783940357533

Das Aufgehen in einer Gemeinschaft – kann ein solcher Wunsch nach Zugehörigkeit nicht eher im Kreis selbstgewählter Freundinnen und Freunde, beim regelmäßigen Stammtisch oder im Verein erfüllt werden? Ist die Hoffnung, sich über eine Institution zu definieren, auf deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter man als Neuling keinen Einfluss hat, nicht zum Scheitern verurteilt und der Ausgang von Mandaats Selbstversuch voraussehbar? Möglich. Jedoch sind die in einer Bibliothek beheimateten Charaktere – ihre Benutzer gleichermaßen wie die Angestellten – durchaus literaturwürdige Geschöpfe.

In der Universitätsbibliothek trifft man natürlich Studierende, daneben Privatgelehrte, komische Käuze und auch Menschen, die sich aufwärmen möchten und am liebsten über einem Buch einschlafen.

Da ist der Übersetzer, der mit dem Bibliotheksangestellten alle möglichen Synonyme diskutieren will. Unter den Kollegen ist manch einer ein verhinderter Wissenschaftler, dessen sporadische Veröffentlichungen, die gleichwohl seine Eitelkeit nähren, für eine Universitätskarriere nicht ausreichten. Vom Bibliotheksdirektor heißt es, er beherrsche fast fünfzig Sprachen, darunter die in unseren Breiten seltener gehörten wie Oriya, Cebuano, Hiligaynon, aber auch frei erfundene wie Telalog. Kollegen helfen sich gegenseitig mit passenden Ausdrücken aus, wenn einer mal vergessen hat, wie er den Satz beenden wollte.

Bedeutender noch als die Angestellten, mit denen Mandaat tatsächlich zusammenarbeitet, ist für ihn ein dauerhaft Abwesender: Meneer Brugman, der sich auf unbestimmte Zeit hat beurlauben lassen und dessen Lücke Mandaat ausfüllen soll. Gleich bei der Arbeitsaufnahme wird Felix Mandaat als „der Vertreter für unseren Meneer Brugman“ begrüßt, und ein Kurier, der nur Kriegsbücher liest, spricht ihn unumwunden an: „Du bist doch der neue Meneer Brugman?“

Frans Kellendonk (© Stichting Frans Kellendonkfonds)

Frans Kellendonk (© Stichting Frans Kellendonkfonds)

Einmal nimmt sich Mandaat ein Herz und wählt Brugmans Telefonnummer, erreicht aber nur dessen ahnungslose Vermieterin, die ihm rät, es auf der Arbeitsstelle zu versuchen. Mandaats schwangere Assistentin, Mevrouw Qualing, weist ihn immerzu darauf hin, wie Meneer Brugman bestimmte Arbeitsabläufe ausgeführt hat. Gerüchte kursieren, Brugman und nicht etwa ihr Ehemann könnte der Vater des in ihr heranreifenden Kindes sein, aber für den Fortgang der Handlung ist die Antwort (wie so manches) unerheblich.

In seiner Abwesenheit bleibt der Vorgänger zugleich geisterhaft präsent, was den Untertitel „Eine Spukgeschichte“ aber nur vordergründig erklärt. Mag es in dem Magazin der Bibliothek ein bisschen spuken oder auch nicht, unheimlich wird es erst, als ein Kollege dem Protagonisten helfen will, die Geistererscheinung aufzuklären, und sich dabei zu beschämenden Bekenntnissen hinreißen lässt. Doch auch wenn uns der Autor tief in seelische Abgründe blicken lässt, denunziert er seine Figuren nie. Ob er sie mag? Das steht auf einem anderen Blatt.

Beim munteren Fabulieren wird das Erzählen selbst zu einem Thema. In einer der Kaffeepausen erzählt Mandaat die Geschichte seines Großvaters, der auf dem Motorrad, stocksteif vor Kälte und ohne jegliches Gefühl in Armen und Beinen, im Panzer der durch gefrorenen Schweiß starren Kleidung die Maschine weder lenken noch abbremsen kann und an der üblichen Ausfahrt vorbei auf ein ungewisses Ziel zusteuert (Kapitel „Phaeton“). Dabei überlegt der Erzählende unausgesetzt, wie er dem von ihm geschaffenen Erwartungsdruck seiner Zuhörerinnen und Zuhörer am Ende gerecht werden könnte.

Als nach gut drei Monaten klar ist, dass Brugman nicht mehr zurückkommen wird, und Mandaat von seinem Vorgesetzten eine Festanstellung angeboten bekommt, weiß er nichts zu sagen. Im nächsten und zugleich letzten Kapitel befinden wir uns auf Mandaats unspektakulärer Abschiedsfeier in einer gemütlichen holländischen Kneipe. Ein bisher wenig in Erscheinung getretener, ihm nicht unsympathischer Kollege begleitet Mandaat zum letzten Mal zum Bahnhof. Es stellt sich der Eindruck ein, in diesem nicht geradlinig erzählten Roman hätten ebenso gut andere Figuren in den Fokus rücken können.

1982, als der Roman des damals einunddreißigjährigen Autors in den Niederlanden erschien, war viel von postmodernen Erzählkonzepten die Rede. Bei aller Kühnheit der Konstruktion, allen Formexperimenten, Elementen eines Ideenromans und Auflösung des Plots erfüllt „Buchstabe und Geist“ dennoch in hohem Maße Kellendonks Anspruch, unterhaltsam zu sein. Der Erfolg des früh zu einem Kultautor aufgestiegenen Frans Kellendonk, der mit neununddreißig Jahren an AIDS starb, zeugt – trotz aller Fremdheit gegenüber dem Bibliothekspersonal – eindeutig von einer Verbundenheit mit einer größeren Gemeinschaft.

In der gelungenen Übersetzung durch Rainer Kersten ist der Roman jetzt als Band 21 in der schönen Reihe der „Lilienfeldiana“ veröffentlicht worden. Für die Einbandgestaltung hat der Verlag ein Gemälde des in Düsseldorf lebenden Malers Peter Rusam verwendet. In seinem klugen und kenntnisreichen Nachwort erwähnt der Übersetzer einige weitere, noch nicht ins Deutsche übertragene Werke Frans Kellendonks. Bleibt zu hoffen, dass wir – sofern wir des Niederländischen nicht mächtig sind – von diesem stilsicheren Ausnahmeautor demnächst noch mehr auf Deutsch werden lesen können.

Frans Kellendonk: „Buchstabe und Geist. Eine Spukgeschichte.“ Aus dem Niederländischen und mit einem Nachwort von Rainer Kersten. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 170 Seiten, 19,90 Euro.




Ein Finanzjongleur auf der Flucht – Martin Mosebachs eleganter Roman „Mogador“

978-3-498-04290-5Er ist offensichtlich ganz tief in schmutzige Finanzgeschäfte verstrickt und wurde gerade von der Polizei verhört. Da entscheidet sich der Düsseldorfer Banker Patrick Elff von einem Moment auf den anderen zu einer durchaus filmreifen Flucht.

Der junge Mann, einer der Hauptfiguren in Martin Mosebachs neuem Roman „Mogador“, springt direkt nach seinem Termin auf dem Polizeipräsidium aus dem Fenster, macht sich auf dem Weg zum Flughafen und steigt in einen Flieger mit dem Ziel Marokko. In Mogador (portugiesischer Name der Hafenstadt Essaouira) hofft er, vor den Fahndern in Sicherheit zu sein.

Dass sich der Finanzjongleur ausgerechnet nach Marokko begibt, hat mit seinen weit verzweigten Kontakten zu tun, die angesichts solch heikler Situationen schon mal ganz hilfreich sein können. Die Ungewissheit soll ihn aber noch länger begleiten.

In der Geschichte, die der Autor nun entwickelt, spielen die schmutzigen Bankgeschäfte eher eine Nebenrolle. Spannender sind die Verhältnisse, in denen der getürmte Spitzenbanker nun Unterschlupf findet. Auch seine „Gastgeberin“ Khadija bessert unter anderem mit Geldverleih ihr Einkommen auf und nimmt es bei ihren Geschäften nicht immer ganz so genau. Doch sie allein auf das Finanzgebaren zu reduzieren, würde der Figur nicht gerecht.

Mosebach zeichnet das Bild einer Frau, die lange Jahre ein biederes Leben geführt hat, bis ihr schwere Schicksalsschläge widerfuhren. Zwei Ehemänner starben bei Unfällen, ihr Sohn ist geistig behindert. Doch von wirklichen Zweifeln an sich oder an ihrem Dasein scheint sie nicht geplagt zu sein. Ganz allmählich lässt sie ihr altes Leben hinter sich und ist vor allem darauf bedacht, die Kontrolle über sich und ihre Umgebung, Freunde, Bekannte, Geschäftspartner eingeschlossen, nicht zu verlieren.

Es ist beeindruckend, wie es dem Autor gelingt, den allmählichen Wandel dieser Khadija anschaulich und nachvollziehbar zu beschreiben. Ist sie anfangs noch ein Mensch, dem das Leben zu entgleiten droht, hat sie bald alles im Griff. Sie verdient zunächst ihr Geld als Hure, wird später zur Kupplerin und kümmert sich schließlich sogar um einen sehr eigentümlichen Imam, dem magische Kräfte nachgesagt werden. Sie ist von Eigeninteressen geleitet, denn sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihr Sohn – durch welche Methoden auch immer – geheilt werden könnte.

Patrick Elff tritt in ihr Leben, weil sie ihm eine Wohnung zur Verfügung stellen kann. Dort hofft er, vor seinen Häschern in Sicherheit zu sein. Doch Mosebach charakterisiert den Banker keineswegs als einen Mann, der ständig in Angst lebt oder mit dem Leben hadert. Vielmehr malt sich der Geflüchtete aus, wie Kollegen in der Bank und vor allem seine Lebensgefährtin Pinar wohl versuchen, ihn irgendwie zu erreichen. Dass man in Sorge um ihn sein könnte, scheint Patrick Elff eher unbedeutend zu sein. Dieser Finanzmensch ist wohl jemand, der – ähnlich wie Khadija – sehr rational den Fährnissen des Lebens begegnet. Doch manche seiner Gedanken an Pinar legen aber die Vermutung nahe, dass es ihm nicht immer gelingt, Herr über seine Emotionen zu sein.

Das Ende der Geschichte ist schließlich sehr überraschend und lässt auch durchaus manche Fragen offen. Lesenswert ist das Buch insbesondere auch deshalb, weil hier spannende Biografien auf sehr ungewöhnliche Art miteinander verwoben werden. Mosebachs Sprache kommt dabei äußerst elegant daher, wirkt allerdings stellenweise auch schon mal antiquiert oder verschnörkelt.

Und übrigens: Dass in diesen Zeiten eine Flucht von Deutschland nach Afrika führt, das hat schon eine besondere Note.

Martin Mosebach: „Mogador“. Roman. Rowohlt Verlag, 367 Seiten, 22,95 Euro.




Als man in Unna um die Kirchenkanzel kämpfte: Philipp Nicolai – Dichter, Pfarrer, Lutheraner

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den streitbaren Theologen und Dichter Philipp Nicolai (1556-1608), der zur frühen Literaturgeschichte Westfalens gehört:

Die Unnaer Stadtkirche kenne ich aus meiner Schulzeit. Am dortigen Ernst-Barlach-Gymnasium (damals Aufbaugymnasium) habe ich Abitur gemacht. Jeden Mittwoch morgen fand in der Stadtkirche ein Schülergottesdienst statt.

Natürlich sind wir, als wir älter wurden, oft nicht hingegangen, haben uns am Bahnhof getroffen, Cola getrunken und geredet, aber kurz vor Schluss des Gottesdienstes haben wir uns doch in die Stadtkirche geschlichen, haben oben auf der Empore gesessen und das Schlusslied laut mit geschmettert, so dass sich unsere Lehrer, die natürlich vorne, in der Nähe des Altars saßen, zufrieden umblickten. Ja, es war schön für sie, fromme Schüler zu haben.

Vertont von Bach und Händel

Dass es in dieser Kirche mal eine folgenschwere Schlägerei zwischen zwei Pfarrern gegeben hatte, die noch dazu literarische Folgen hatte, habe ich damals nicht gewusst. Wer weiß, vielleicht hätte ich die Gottesdienste sonst aufmerksamer verfolgt.

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain - Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum) Porträt-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain – Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum). Digitaler Portrait-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Es gibt zwei Kirchenlieder, die nahezu jeder kennt. „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ lautet das eine und das andere beginnt: „Wachet auf, ruft uns die Stimme.“ Gedichtet wurden sie um 1598 von dem damaligen Pfarrer der Unnaer Stadtkirche, Philipp Nicolai.

Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach hat diesen beiden Texten Kantaten gewidmet, und Georg Friedrich Händel hat ein Motiv des so genannten „Wächterliedes“ in den Halleluja-Chor seines „Messias“ übernommen. Größere Anerkennung konnten die Lieder wohl kaum finden – und das, obwohl man sie eher als Gelegenheitsschriften ihres Verfassers ansehen könnte. Er hat sie nämlich 1599 erstmals im Anhang seines Buches „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ veröffentlicht, und durch sie ist er zu Lebzeiten auch nicht bekannt geworden.

Zu einem der berühmtesten Pfarrer seiner Zeit haben ihn vielmehr religiöse Streitschriften gemacht, in denen der glühende Lutheraner vehement den Calvinismus bekämpfte. Heute sind diese Streitschriften nur noch von religionsgeschichtlichem Interesse. Umso einziger ragen aus seinem umfangreichen literarischen Werk die beiden Kirchenlieder heraus.

Eltern stammten aus Hagen und Herdecke

Was hat diesen streitbaren und umstrittenen Theologen nach Unna geführt? Da ist einmal seine westfälische Herkunft zu nennen. Geboren wurde er zwar am 10. August 1556 in Mengeringhausen in der Grafschaft Waldeck, aber beide Eltern stammten aus Westfalen: Vater Dietrich Rafflenboel aus Hagen und Mutter Katharina Meyhan aus Herdecke.

Die Rafflenboels waren eigentlich Bauern, aber Dietrich brach mit der Tradition, begann ein Theologiestudium und wurde zuerst, wie später auch sein berühmter Sohn Philipp, Pfarrer in Herdecke. Einer damaligen Mode folgend übertrug er den Vornamen seines Vaters Klaus ins Lateinische und nannte sich mit Nachnamen Nicolai.

1552 musste er wegen der Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten aus Herdecke fortziehen – sein Sohn sollte ihm drei Jahrzehnte später auch darin folgen – und übernahm eine Pfarrstelle in Mengeringhausen, das einige Kilometer entfernt von Kassel liegt, wo Philipp als eines von acht Kindern geboren wurde. Philipp Nicolai hatte also eine enge Beziehung zu Westfalen, als er 1596 ein Angebot aus Unna erhielt.

Wichtiger für dieses Angebot aber war seine strenge lutherische und anticalvinistische Grundhaltung. In einem Streitgespräch 1590 hatte er zwar noch Mohammed und den Papst als schlimmste Helfershelfer des Teufels ausgemacht und das als strenger Lutheraner womöglich sogar von der Bibel her begründet. Später aber hat er in hitzig-polemischen Schriften nur noch den Reformator Calvin und seine Anhänger bekämpft.

Gegen den Calvinismus

Hitzige Kämpfe zwischen Lutheranern und Calvinisten gab es kurz vor seiner Berufung auch in Unna. Einige Kaufleute und ein Teil des Rates um die Altbürgermeister Winold von Büren, Ernst Brabender und Hinrich zum Broch wünschten 1592 eine enge Anlehnung an die Niederlande, die damals – nach der Vernichtung der spanischen Armada – den Welthandel kontrollierten und wirtschaftlich in Blüte standen. Man wollte deshalb die Stelle des Vizepastors mit dem Rotterdamer Pfarrer Hermann Grevinckhoff besetzen, der jedoch, durchaus passend für das aufstrebende Bürgertum, ein Calvinist war.

Vordergründig ging es im Streit zwischen Calvinisten und Lutheranern um die Abendmahlsfrage. Luther, in dieser Frage durchaus in katholischer Tradition, wollte der Abendsmahlsfeier weiter Heilscharakter zubilligen. Er vertrat zwar nicht mehr die so genannte Transsubstantiationslehre, nach der sich Wein und Brot direkt in Blut und Leib Christi verwandeln, lehrte jedoch, dass sich Wein und Brot bei der Abendmahlsfeier durch die Einsetzungsworte auf geheimnisvolle Weise damit verbinden. Für Calvin (und auch für Zwingli) war sie dagegen eine reine Symbolhandlung.

Wichtiger für das aufstrebende Bürgertum war allerdings Calvins Lehre von der doppelten Prädestination. Ob ein Mensch reich oder arm war, ob er der Seligkeit teilhaftig würde oder nicht, das alles hatte Gott vorherbestimmt. Deshalb brauchten reiche Kaufleute wegen der Armut der anderen Menschen auch kein schlechtes Gewissen zu haben, während sie selbst in ihrem Reichtum eine Bestätigung für Gottes Auserwähltheit sehen konnten. Sozialpolitisch war damit die Nächstenliebe ausgehebelt, ein glänzendes Ruhekissen für die Besitzenden.

Wüste Rauferei im Gotteshaus

Die Abt von Deutz lehnte jedoch Grevinckhoffs Berufung wegen dessen calvinistischer Einstellung ab und berief statt dessen den jungen Lutheraner Joachim Kersting. Der aber wollte zuerst seine theologischen Studien in Jena fortsetzen und schickte als Vertreter den lutherischen Kaplan Uphoff, eine Schwäche, die die calvinistische Fraktion sofort ausnutzte. Sie berief den aus Essen stammenden Magister Berger, der sofort, in strenger calvinistischer Tradition, die Bilder aus der Stadtkirche entfernen ließ. Kersting, alarmiert, eilte von Jena nach Unna und dort soll es in der Stadtkirche zu einem tollen Zweikampf gekommen sein.

Altbürgermeister Brabender gab Berger vor einem Gottesdienst die Anweisung, Kersting auf jeden Fall von der Kanzel fern zu halten und befahl dem Küster, die Kirchentüren zu schließen. Während draußen die herbeigerufenen Lutheraner gegen die verschlossenen Kirchentüren trommelten, kämpfte Kersting drinnen einen heroischen Kampf. Es war ihm gelungen, sich am Aufgang zur Kanzel festzuklammern, und so sehr Berger auch zerrte, riss und schimpfte, Kersting ließ nicht los. Der Mantel wurde ihm dabei zerrissen, aber was ist schon Kleidung im Kampf um den richtigen Glauben?

Kersting jedenfalls verteidigte die Kanzel, die auch sein Gegner nicht besteigen konnte, bis die Lutheraner sich über eine kleine Seitentür Zutritt verschaffen konnten und Berger mitsamt seinen Helfern vertrieben. Ein feste Burg ist unser Gott…

Über Schimpfwörter und handfeste Auseinandersetzungen in Glaubensfragen zu dieser Zeit darf man sich nicht wundern. Es war das Zeitalter der Orthodoxie, da galt: Es gibt nur einen richtigen Glauben. Und da es natürlich der jeweils eigene war, mussten die Anhänger des anderen, falschen Glaubens überzeugt werden. Zur Not mit Gewalt.

„Freudenspiegel des ewigen Lebens“

In Unna wollten die Lutheraner ihren Sieg festigen. Unnas neuer Bürgermeister, ein aus Köln zugezogener Patrizier namens von Westfalen, hatte gehört, dass Philipp Nicolai in der waldeckschen Landessynode calvinistische Irrlehrer exkommunizieren ließ, er hatte wohl auch dessen bekannteste Schrift „Nothwendiger und gantz vollkommener Bericht von der gantzen calvinistischen Religion“ gelesen. Wenn d a s nicht der richtige Mann für Unnas Lutheraner ist, muss er wohl gedacht haben.

Zwei Angebote aus Unna lehnt Nicolai noch ab, dann fuhr Bürgermeister von Westfalen selbst ins Waldecksche und überredete ihn. Sein Verdienst war ansehnlich: 50 Mütte reinen Korns, dazu 60 Reichstaler, sechs Fuder Holz sowie freie Wohnung mit großem Garten (eine Mütte Korn hatte den Wert von 4 Talern).

Man scheint in der ganzen Grafschaft Mark an Nicolais Kommen interessiert gewesen zu sein, denn einen Teil der Kosten für seinen Umzug übernahm die Stadt Soest, der Nicolai dann auch sein schönstes Buch, eben den „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ widmete.

In den furchtbaren Zeiten der Pest

In Unna aber traten kurz nach seinem Amtsantritt die religiösen Streitfragen in den Hintergrund. 1597 brach über Nacht die Pest aus. Nicolai stellte den Kirchenkampf hintan und beschränkte sich auf die Seelsorge. Er ging zu den Sterbenden, sprach ihnen Trost zu, hatte bis zu 30 Beerdigungen am Tag und musste miterleben, wie auch der tapfere Kanzelverteidiger Kersting der Seuche erlag.

Nicolai selbst fürchtete die Pest nicht. Er vertraute seinem Gott und fuhr – zur medizinischen Unterstützung dieses Vertrauens – zu einer Apotheke nach Dortmund, um sich Medizin zu besorgen.

Wie kann man die allgegenwärtige Todesgefahr, den vergeblichen Kampf gegen den Tod, den Zuspruch des Trostes für Hunderte von Sterbenden psychisch durchstehen? Nicolai schaffte es, indem er am Tage unbeirrt und unermüdlich seine Pflicht tat und sich abends in den erlösenden Trost der himmlischen Herrlichkeit flüchtete, in der es keinen Tod, keine Seelennot mehr gab. Während immer mehr Menschen der Pest erlagen, schrieb er seinen „Freudenspiegel“ als Trost für die Sterbenden und Hinterbliebenen, als Stärkung aber auch für sich selbst. Und im Anhang des Buches, das viele Auflagen erlebte, veröffentlichte er – wie erwähnt – seine berühmt gewordenen Lieder.

Auf dem Friedhof in der Nähe seines Gartens wurden die Leichen aufgeschichtet, Pest- und Verwesungsgeruch lag über der Stadt, Philipp Nicolai aber konnte in der Gewissheit seines Glaubens singen: „Wie schön leuchtet der Morgenstern.“ Die Musik zu seinen Liedern hat er übernommen und nicht selbst geschrieben, obwohl er das vermutlich auch gekonnt hätte. Er hat nämlich eine sehr gute Schulbildung genossen, die ihn u.a. nach Mühlhausen in Thüringen führte, wo später Bach Organist gewesen war. Dort hat Nicolai im Gymnasialkirchenchor mitgesungen und ist von dem fähigen Musiklehrer Joachim Müller a Burck unterrichtet worden, der selbst auch komponieren konnte.

Gottesreich für 1670 vorhergesagt

„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ ist ebenso wie „Wachet auf“ ein Zeugnis barocker Brautmystik, in der, im Bild des Bräutigams, vom Kommen Christi und damit vom Jüngsten Tag die Rede ist. Der 45. Psalm, das Hohe Lied der Liebe und das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen im Matthäusevangelium haben mit ihrer Hochzeitsmetaphorik den biblischen Anstoß zu beiden Liedtexten gegeben.

Nicolai stand übrigens wirklich unter dem Eindruck der Naherwartung. In einer anderen Schrift, der „Historie des Reiches Christi“, hat er das Kommen des Gottesreiches sogar genau vorausberechnet und auf das Jahr 1670 datiert. Vorsichtig hat er allerdings hinzugefügt, dass es „wegen des Elends und der Bedrängnis der auserwählten Kinder Gottes“ auch früher kommen könne.

Dieses Denken ist spätestens seit der Aufklärung überwunden. Wenn Nicolais Lieder trotzdem bekannt blieben, das „Wächterlied“ sogar stetig populärer wurde, dann müssen Text und Musik wohl viel ausdrücken. Glaubensstärke und Zuversicht, Optimismus angesichts von Tod und Krankheit (in den Liedern metaphorisch ausgedrückt durch die Überwindung von Nacht und Schlaf) sprechen die Menschen auch heute an. Als König und Königin des Gesangbuchs wurden beide Lieder gelegentlich bezeichnet. Regelmäßig werden sie im Gottesdienst gesungen und Bachs Kantaten sprechen auch Nichtchristen an. In Unna sind also die Texte entstanden, in der Not einer bedrängenden Pestzeit.

Dem Ruf nach Hamburg gefolgt

Philipp Nicolai ist aber nicht in Unna geblieben. 1600 heiratete er noch in Unna die Witwe eines Dortmunder Pfarrerkollegen, eine Katharina von der Recke. Doch schon 1601 folgte er einem Ruf als Hauptpastor in der Katharinengemeinde in Hamburg. Dort wurde sein einziger Sohn Theodor geboren, dort schrieb er noch weitere 17 theologische Abhandlungen, aber schon 1608, im Alter von gerade 52 Jahren, ist er gestorben.

Vor dem Altar der Katharinenkirche hat man ihm ein Ehrengrab gegeben. Als die Kirche 1856 jedoch umgebaut wurde, hat man seine Gebeine aufgenommen und auf dem Katharinenfriedhof vor dem Dammtor beigesetzt. In Hamburg also liegt Philipp Nicolai begraben, in Unna aber hat er seine beiden schönen Kirchenlieder geschrieben.

Und wenn wir Schüler schon damals von dem tollen Zweikampf zweier Pfarrer in der Stadtkirche gewusst hätten, die Voraussetzung für seine Berufung nach Unna waren, wären wir bestimmt pünktlich zum Schulgottesdienst erschienen. Glaube ich jedenfalls.




Leben wird Literatur, Literatur wird Leben: Navid Kermanis Roman „Sozusagen Paris“

Welch eine Überraschung: Gerade hat der Autor in einer Kleinstadt aus seinem neuen Roman gelesen, da steht die Figur, um die sich im Buch alles dreht, vor ihm. Als Schüler war er unsterblich in ein schönes und kluges Mädchen verliebt: das ist jetzt 30 Jahre her. Beide haben sich aus den Augen verloren. Doch bei ihm ist die Sehnsucht nach der Frau, die er im Roman Jutta nennt, geblieben.

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Nun erfährt er, dass sie verheiratet ist und drei Kinder hat. Sie ist Ärztin geworden und Bürgermeisterin in einem Provinz-Kaff. Als sie ihn spätabends in ihr Haus auf ein letztes Glas Wein, einen Joint und ein Gespräch einlädt, sagt der ebenso faszinierte wie irritierte Autor nicht nein. Doch während Jutta bis zum Morgengrauen von ihrem Leben und ihren Ehekrisen erzählt, denkt der Erzähler bereits darüber nach, wie er aus dem unverhofften Wiedersehen einen Roman machen könnte.

„Sozusagen Paris“, der neue Roman des 1967 in Siegen geborenen und heute in Köln lebenden Navid Kermani, ist kein politisches Buch. Das mag manche überraschen. Denn der streitbare deutsch-iranische Autor, Journalist und Orientalist ist zuletzt nur noch als politische Stimme, als Mahner und Warner wahrgenommen worden. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat der bekennende Moslem dazu aufgerufen, den islamistischen Terror militärisch zu bekämpfen, bevor er die versammelten Honoratioren aufforderte, mit ihm gemeinsamen für den Frieden zu beten.

In seinem Buch „Ungläubiges Staunen“ untersucht Kermani aus muslimischer Sicht die Bilder-Sprache des Christentums und versucht, eine Brücke zwischen den Religionen zu bauen. Manchen gilt er gar schon als geeigneter Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten.

Wer nun aber den neuen Roman nach politisch verwertbaren Statements und Debatten fördernden Argumenten im Streit der Kulturen durchforstet, wird das Buch enttäuscht beiseite legen. Denn auf den ersten Blick ist „Sozusagen Paris“ ein Liebesroman, auf den zweiten eine Reflexion über das Schreiben. Doch eigentlich ist es ein Buch darüber, wie sich Schriftsteller ungeniert bei Vorläufern aus der Weltliteratur bedienen und wie sich das Leben in Literatur verwandelt. Oder ist es nicht vielleicht umgekehrt?

Kermani nimmt Themen und Personal seines Romans „Große Liebe“ wieder auf und verwickelt den Leser erneut in ein literarisches Verwirrspiel: Er hantiert furios mit seiner Rolle als Erzähler, fleddert die französischen Ehekrisen-Romane es 19. Jahrhunderts, zitiert Stendhal und Proust, Balzac, Flaubert und Zola, kommt irgendwann auch bei Adorno vorbei und scheut schließlich nicht davor zurück, seine eigenen Bücher ironisch auszuschlachten.

Warum auch nicht. Denn für alles, was Jutta dem Autor (der eine gewisse Ähnlichkeit mit Kermani hat) in dieser langen Nacht über sich und ihre Arbeit, ihre Ehe und ihre aufgehäuften Frustrationen erzählt, gibt es literarische Vorbilder. Wenn in Juttas Bücherregal Flauberts „Madame Bovary“ oder Balzacs „Erinnerungen zweier junger Ehefrauen“ stehen, warum soll der Erzähler dann nicht daraus zitieren? Alles verwandelt sich in Literatur, die Realität ist nur ein Traum und die Wirklichkeit ein Reise in die Welt der Fantasie.

Weil der Erzähler Moslem ist, möchte Jutta natürlich auch über Terror, Flucht und Integration diskutieren. Doch der Autor, der sein frisch entflammtes Begehren nach seinem alten Jugendschwarm kaum zügeln kann, will viel lieber über Sex und Erotik reden, will mehr darüber erfahren, warum sich Jutta dem indischen Tantra verschrieben hat und wie man es anstellt, nicht enden wollende Orgasmen zu bekommen.

Um das literarische Spiel auf die Spitze zu treiben, streitet sich der Autor auch jetzt schon mit dem Lektor des noch gar nicht geschriebenen Romans, versucht bereits, dessen Kritik an einzelnen Formulierungen und den Vorwurf, der Erzähler würde sich allzu sehr in Ehe-Kitsch und Alltags-Klischees suhlen, zu entkräften.

Immer wieder richtet der Autor auch das Wort an den Leser und macht ihn zum Komplizen seiner Wünsche und Ängste. Die Leser, so scheint es, dürfen entscheiden, ob der Autor die sich in Rage redende und in Tränen ausbrechende Jutta nicht nur tröstend in den Arm nehmen, sondern auch ins Bett begleiten soll. Oder ist das Begehren nur eine nostalgische Lüge und die Sehnsucht ein frommes Gift? Darüber darf der intelligent und vergnüglich unterhaltene Leser (bzw. die Leserin) in Ruhe nachdenken, während der Autor bei Jutta auf dem Gästeklo hockt, seine Liebe zu Neil Young wieder entdeckt und sein altes „Buch der von Neil Young Getöteten“ mit neuen Überlegungen ins Heute weiterdenkt.

Navid Kermani: „Sozusagen Paris“. Roman. Hanser Verlag, München 2016, 287 S., 22 Euro.

Infos:
Geboren wurde Navid Kermani 1967 in Siegen, heute lebt der für sein literarisches und essayistisches Werk vielfach ausgezeichnete Schriftsteller, Journalist und habilitierte Orientalist in Köln. Nach dem Kleist- und dem Joseph-Breitbach-Preis erhielt er 2014 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Zu seinen bekanntesten Büchern gehören „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ (2002), „Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“ (2009), „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigende Welt“ (2013), „Große Liebe“ (2014), „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ (2015).
Nachdem Joachim Gauck seinen Verzicht auf eine weitere Amtszeit erklärte, wurde Kermani als möglicher Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Spiel gebracht.




Wo alles unentschieden bleibt: Genazinos Roman „Außer uns spricht niemand über uns“

Schon auf Seite 9 wehrt sich der namenlose Mann auf seine Weise gegen allseitige Überforderung durch anbrandende Wirklichkeit: „Ich schloss die Fenster und schaltete aus Ratlosigkeit das Radio ein.“

Doch dort läuft ein läppisches Gewinnspiel. „Es war unglaublich: Solche zerknautschten Hausfrauenspäße machte der Rundfunk immer noch.“

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Nirgendwo scheint Rettendes zu wachsen, nicht einmal im Rückzug.

Sehnsucht nach Bedeutsamkeit

Auch in seinem neuem Roman, der den bereits zagend klingenden Titel „Außer uns spricht niemand über uns“ trägt, lässt Wilhelm Genazino wieder (s)einen überaus empfindlichen Menschen durch die Stadt streifen und ratlos im Zimmer sitzen, der den Alltag als ungeheure Summierung und Verdichtung kleinster Vorfälle erlebt, welche sich noch und noch häufen und als vielfach zersplittertes Rätsel vor ihm aufragen. Nur wenige Anblicke bieten Labsal, die meisten Erlebnisse verstören.

Eine tiefere, dauerhafte Bedeutung erschließt sich ihm aus all den winzigen Beobachtungen jedenfalls nicht. Dabei sehnt er sich so sehr nach einem bedeutsamen Leben. Doch wie soll man das anfangen, angesichts all der Unübersichtlichkeit?

Unendliche Fortschreibung

Genazinos Romane muten zuweilen wie eine endlose, freilich immer wieder faszinierend genaue Fortschreibung an: Der Ich-Erzähler, naher Verwandter und Wiedergänger bisheriger Figuren des Autors, ist diesmal ein gescheiterter Schauspieler, welcher sich damit durchhangelt, den einen oder anderen Text für den auch unter Sparzwang stehenden Rundfunk zu sprechen. Wegen Geldknappheit muss er sich daher schon mal herbeilassen, Modenschauen in der Provinz zu moderieren. Eine immerhin noch schuldenfreie Existenz, doch nur knapp oberhalb des Prekariats am Rande des Kulturbetriebs.

Zwischendurch hat dieser Mann also viel übrige Zeit zum Grübeln beim eher freudlosen Flanieren (auch Bahnhöfe und Museen sind keine rechten Fluchtorte mehr wie ehedem). Vor allem sinniert er über seine rundum ungeklärte Beziehung zu Carola, deren Tattoo- und Marathonlauf-Anwandlungen ihn irritieren.

Täppische Tröstungen

Ob sie in seine kleine Wohnung zieht, ob sie beide noch Kinder haben wollen, inwiefern sie überhaupt treu sein will – alles bleibt unentschieden in der Schwebe. Es ist eine zuwartende Zuneigung mit täppisch rührenden Momenten, eher unbeholfene Tröstung als Erotik, sozusagen kuschelndes Rest-Sexeln.

Seine Erinnerung schweift zurück zu früheren Begebenheiten mit diversen Frauen, die zumeist einen absurden oder peinlichen Beigeschmack haben. Doch was heißt schon Erinnerung? „Die fehlenden Erlebnisse betätigten sich als Geschichtenfinder und füllten dreist die Erinnerung.“ Auch da gibt es keinen verlässlichen Halt.

Keine Erlösung in Sicht

Die allumfassende Unentschiedenheit mündet in solche Sätze: „Es geschah nichts, es wurde keine neue Schuld sichtbar, aber es trat auch keine Durchsichtigkeit ein und keine Erlösung.“ Große Worte.

In ruhigeren Phasen genießt der Erzähler seine eigene Zerstreuung, er will dann gar nichts anderes mehr. Doch dann naht wieder schleichendes Ungenügen – oder es springt ihn geradezu an.

Zerlumpte Menschen

In sämtlichen Lebens- und Text-Fasern spürbar ist eine soziale Unsicherheit, deren Niederungen sich auch im Stadtbild als öffentliches Elend zeigen: „Ich sah die zunehmende Zerlumptheit der Menschen…“ Es sind nicht nur Übungen in bloßer Empfindsamkeit, dies ist ein sozialer Roman über die Wirklichkeit in unseren Städten, ob sie nun Frankfurt oder sonstwie heißen.

Und wie geht es mit Carola weiter? Katastrophal. Erst erleidet sie eine Fehlgeburt, dann verlässt sie ihn – allerdings auch nicht so ganz richtig. Bald darauf folgt, quasi in einem Nebensatz, die nahezu banale Mitteilung: „Carolas Selbstmord war für alle, die Carola kannten, ein Schock.“ Ja, was denn auch sonst?

Helden der Verschrobenheit

Es reihen sich nun Szenen und Inbilder der hilflosen Trauer, des Stillstands. Überforderung wird vollends zum alles beherrschenden Hauptwort. Gleichzeitig erweisen sich manche Mechanismen der Wahrnehmung als verschlissen. Auch das bislang so heilsame Gehen durch die Stadt hilft wohl nicht mehr. Wo ist die wahre Gegenwart, die nicht gleich wieder vermodert?

Dass ausgerechnet Carolas Mutter die nächste Frau ist, mit der der traurige Held schläft, mag man eigentlich kaum für möglich halten. Und doch hört es sich seltsam glaubhaft an.

Wilhelm Genazino schreibt nach wie vor eine Prosa, der man – auch wenn sie sich im Duktus perpetuiert – mit angehaltenem Atem folgen kann. Man darf möglichst keinen Satz überlesen, keine Regung übersehen. Wer gern aphoristisch zugespitzte Passagen anstreicht, wird ein Genazino-Buch am Ende übersät vorfinden. Und immer wieder liest man staunend von der mal sanften, mal schroffen, immer aber geradezu heldenhaften Verschrobenheit, mit der sich Genazinos Gestalten der zerfaserten Realität stellen.

Übrigens: Gibt es eigentlich schon germanistische Aufsätze über das Motiv der Jacke in Genazinos anschwellendem Oeuvre? Wenn ich mich nicht irre, scheint das Utensil spätestens seit seinem Buch „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ immer wieder an markanten Romanstellen aufzutauchen.

Wilhelm Genazino: „Außer uns spricht niemand über uns“. Roman. Hanser Verlag. 155 Seiten. 18 Euro.




Wenn die Historie persönlich wird – „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ von F. C. Delius

die Liebesgeschichtenerzählerin Die Strandpromenade von Scheveningen im Jahr 1969: Eine Frau, Marie, sitzt auf einer Bank, schaut dem Wellenspiel zu, atmet die herbe Seeluft. Sie ist von Haus aus die Ostsee gewohnt, die rauen Gezeiten der Nordsee sind ihr neu, die Kraft, welche dieses Meer entfaltet, ebenfalls.

Dennoch spürt sie etwas von dieser Kraft in sich. Sie ist dieser Tage frei von Pflichten, Mann und Kinder kommen auch einmal ohne sie zurecht. Finanziell scheint es in ihrer Familie aufwärts zu gehen, das gibt ihr ungewohnte Freiheiten. Sie hat Zeit und Muße, sich auf sich selbst und ihre Ambitionen zu konzentrieren.

So recherchiert sie in niederländischen Archiven den Liebesgeschichten ihrer Vorfahren hinterher. Den Liebesgeschichten, von denen sie schon lange spürt, dass sie erzählt werden sollten. Die Geschichte des ersten Königs der modernen Niederlande, der mit einer Berliner Tänzerin eine uneheliche Tochter zeugt, welche wiederum in ihre mecklenburgische Adelsfamilie verheiratet wird. Die Geschichte des Urenkels der Tänzerin (Vater der Erzählerin), der Geschehnisse aus seiner Zeit als kaiserlicher U-Boot Kapitän nie ganz verwunden hat. Und schließlich ihre eigene Geschichte. Sie hat einen Spätheimkehrer geheiratet, einen Gutsbesitzersohn. Und  sie entfernt sich immer weiter von ihm.

Friedrich Christian Delius, Träger des Georg-Büchner-Preises, verarbeitet auch in seinem neuen Roman „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ Teile seiner eigenen Familiengeschichte. Delius‘ Romane beschäftigen sich meist mit der bundesrepublikanischen Geschichte, so ist er auch einer der Wenigen, die sich literarisch an den „Deutschen Herbst“ wagten. Diesmal erzählt er Sequenzen aus dem ganzen letzten Jahrhundert, dieser von Kriegen nie vorher dagewesen Ausmaßes geprägten Epoche, wobei die Liebesgeschichte des niederländischen Königs und der Berliner Tänzerin dem Leser schon aus „Der Königsmacher“ bekannt sein könnte.

Marie nun, die designierte Liebesgeschichtenzählerin, ist das literarische Denkmal für Delius‘ Tante, Irmgard von der Lühe, die ihr Studium für die Familie abbrach und sich erste Sporen als Biographin verdiente – wie Marie. Von der Lühe publizierte auch später noch, allerdings sind von ihr keine Romane veröffentlicht. In Delius‘ Roman bleibt folgerichtig das Ende offen: Wird Marie es wirklich schaffen, „die Liebesgeschichtenerzählerin“ zu werden? Sie verspürt den inneren Drang, „altes verborgenes Wissen von Not, Liebe und Schmerz als von den Vorfahren geerbtes Wissen weiterzugeben“.

Diese Marie ist keine Rebellin, sie will auch nicht ausbrechen aus ihrem Leben als umsichtige Hausfrau und Mutter, sie mag dieses Leben. Aber sie hofft darauf, dass dieses Leben auch für sie nun Zeit und Gelegenheit bereithält, ihrem kreativen Gestaltungswillen Raum zu geben. Wobei der Leser nie so recht weiß, ob die Recherche für Marie nicht doch eher so etwas wie eine Flucht aus der Realität bedeutet, um sich nicht allzu tief mit der eigenen Vergangenheit als ehemaliges BDM-Mädel auseinandersetzen zu müssen. Dennoch zeigt Delius anhand ihrer Geschichte, wie sehr politische Geschehnisse in das Leben Einzelner eingreifen. Sehr greifbares Anschauungsmaterial gerade auch in unseren turbulenten Zeiten, besonders auch für diejenigen, die meinen, aktuelle Geschehnisse hätten mit ihnen und ihren Leben nichts zu tun.

Delius erzählt mit leiser, sehr eleganter Sprache, seine Figuren beschreibt er behutsam, immer eine gewisse Distanz wahrend. Auch kritischen Themen wie dem der deutsch-niederländischen Aussöhnung nähert er sich mit sehr viel gebotenem Respekt und Feingefühl.

So wie das Ende des Romans offen bleibt, ist auch im Roman selbst bei weitem nicht alles auserzählt. Die Leser mögen die Gelegenheit nutzen, Bruchstücke aus dem eigenen Erinnerungsfundus hinzuzufügen. Auf das, was Marie berichtet, hat sie einen liebevollen Blick, sie ist keine Zynikerin. Auch wenn sie – typisch für ihre Generation – beim Anblick der „Hippies“ im Amsterdam nicht anders kann, als zu denken, ihre Geschichte möge dazu beitragen, dass diese Gestalten erkennen, wie gut sie es doch haben.

Im Roman nimmt die Vater-Tochter-Beziehung einen weiten Raum ein. Viel eher noch als das, was man von einer „Liebesgeschichtenerzählerin“ erwartet, ist er das eigentliche Thema der Marie: der Vater, der nach dem enttäuschten Kaiser-Gehorsam nahtlos zum Gottesgehorsam wechselte und Marie unbewusst im Geiste des calvinistisch geprägten Teils der Niederlande erzog. Aber sei es drum: Ist die Vater-Tochter-Beziehung nicht auch eine Liebesgeschichte? Die, aus der sich weitere entwickeln? Insofern folgt Marie dem Leitsatz ihres altes Deutschlehrers: Schreiben heißt ordnen. Auch einordnen.

Im Zug auf der Rückfahrt von den Niederlanden am Rhein entlang ordnet Marie das Recherchierte in ihr eigenes Leben ein: Sie ist eine Überlebende und sie ist stolz darauf. Marie ist fest entschlossen, noch vor ihrem Fünfzigsten sich im Familienleben einen neuen Platz als „Liebesgeschichtenerzählerin“ zu erobern und keine Rücksicht mehr darauf zu nehmen, was vor den Augen der Eltern und des Ehemanns Bestand haben könnte. Und vor allem will sie nicht mehr den vom Vater eingebimsten Familien-Imperativ „Schlucks runter, schlucks runter“ befolgen. Immerhin.

Friedrich Christian Delius: „Die Liebesgeschichtenerzählerin“. Roman. Rowohlt Berlin. 206 Seiten, € 18,95.




Wenn Dichter baden gehen

Jeder Autor, der einmal ohne den geringsten Einfall auf ein leeres Blatt Papier gestarrt hat (jaja, heutzutage ist es der Bildschirm), der weiß: Auch der munterste Geist braucht gelegentlich Erholung an den Stränden ordinärer Lebenslust. Angeregt durch die Ferienzeit und eine kleine Ausstellung im Düsseldorfer Heine-Institut würdigen wir die „Dichter in Badehosen“.

„Stilles Gestade, so nahe dem heftigsten Getriebe“: Der Schriftsteller Heinrich Mann (Mitte) plaudert mit seiner Frau Nelly und einem Freund 1935 am Strand von Nizza. Foto: Feuchtwanger Memorial Library/University of California

„Stilles Gestade, so nahe dem heftigsten Getriebe“: Der Schriftsteller Heinrich Mann (Mitte) plaudert mit seiner Frau Nelly und einem Freund 1935 am Strand von Nizza. (Foto: Feuchtwanger Memorial Library/University of California)

Aber was heißt hier Badehosen? Schon Johann Wolfgang Goethe, der Übervater des deutschen Bildungsbürgers, riss sich gerne sämtliche Kleider vom Leibe, um sich frei zu fühlen. Bei einer Reise durch die Schweiz 1775 hatten es ihm seine Freunde Friedrich Leopold und Christian von Stolberg vorgemacht, „die guten harmlosen Jünglinge“. Goethe notierte, dass er sich „halb nackt wie ein poetischer Schäfer oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit“ in Schweizer Seen tummelte – leider nicht weit genug von der Zivilisation entfernt. Entrüstete Anwohner sollen mit Steinen geworfen haben.

Heinrich Heine, Goethes junger und von ihm nie adäquat beachteter Düsseldorfer Kollege, reiste häufig an die Nordsee, um, bevor es ihn nach Paris verschlug, seine zarte Gesundheit zu stärken. Im Juli 1826 auf Norderney lernte er sogar schwimmen – wir wissen nicht, welches Outfit er dabei trug. Aber: „Das Meer war so wild, dass ich oft zu versaufen glaubte“, schrieb er mit jungenhaftem Stolz an seinen Hamburger Verleger Julius Campe. Die Brandung verschaffte Heine ein Hochgefühl. „O wie lieb ich das Meer“, schwärmte er im folgenden Herbst in einem Brief an seinen Dichterfreund Karl Immermann, „… und es ist mir wohl, wenn es tobt.“

Ganze Gedichtzyklen Heines sind vom Meer inspiriert, er besang „Poseidon“ und das „Seegespenst“, den „Untergang der Sonne“ und den „Gesang der Okeaniden“. Man kann also nicht sagen, dass der Müßiggang am Strand die Kreativität vernichtet. Ganz im Gegenteil. Hermann Hesse, ein früher Verfechter der Freikörperkultur, schrieb liebevolle Betrachtungen über seine „Jahre am Bodensee“ (1904-1912), in der Nähe des Wassers entstanden Romane und schwelgerische Verse: „Seele, Seele, sei bereit!“

Mannsbild in Badehosen: Der Heimatdichter Wilhelm Schäfer 1911 am Bielersee (Schweiz). Er war ein Freund von Hermann Hesse und schrieb schwärmerische Texte über Seen und Berge. (Foto: Rheinisches Literaturarchiv/ Heine-Institut)

Mannsbild in Badehosen: Der Heimatdichter Wilhelm Schäfer 1911 am Bielersee (Schweiz). Er war ein Freund von Hermann Hesse und schrieb schwärmerische Texte über Seen und Berge. (Foto: Rheinisches Literaturarchiv/ Heine-Institut)

Hesses Freund Wilhelm Schäfer, ein vollbärtiges Mannsbild, liebte die Sommerfrische in Süddeutschland und der Schweiz. „Auch der See, in der Nähe kristallgrün, ging wie blaue Seide in die Tiefe hinein …“, schrieb er 1931 in „Wahlheimat“. Seine volksverbundene Prosa gefiel später leider auch den Nazis. Geplagt von Finanzsorgen und Schnaken, verbrachte der Rechtsanwalt Heinrich Spoerl 1931 einen dreiwöchigen Urlaub am Starnberger See, badete nur bis zur Taille („der See ist ziemlich kühl“) und hatte die Idee zu einer heiteren Pennälergeschichte, die als verfilmter Roman eine Legende wurde: „Die Feuerzangenbowle“.

Thomas Mann, der im Schutze eines Strandkorbs mitunter sogar den feinen Sommeranzug ablegte und im Badetrikot mit Sockenhaltern in der Sonne saß, stattete seine berühmtesten Helden mit Meeresliebe aus. „Tonio Kröger“ ließ er die „geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele“ sehen, „die über des Meeres Antlitz huschen“. Und Hanno, Sprößling der „Buddenbrooks“, liebt „dieses zärtliche und träumerische Spielen mit dem weichen Sande, der nicht beschmutzt, dieses mühe- und schmerzlose Schweifen und Sichverlieren der Augen über die grüne und blaue Unendlichkeit hin …“

Auch Manns Bruder Heinrich, der, wie viele verfolgte Intellektuelle, an der südfranzösischen Ferienküste vorübergehend den Naziterror vergessen konnte, fand große Worte für das Stranderlebnis: „Das Meer, sein tiefer Atem, seine windige, … ersterbende Bläue und dieser Glanz von abendlich feuchtem Gold …“. Ein anderer Emigrant, der kämpferische Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht, hatte schon 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, dem Schwimmen ein Gedicht gewidmet: „Der Leib wird leicht im Wasser“, schrieb er da, und es ist, als befreite das Baden den Denker von den drückenden Problemen der Zeit: „Natürlich muss man auf dem Rücken liegen / so wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen. / … / Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut / wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt.“

Info:
Angeregt wurde dieser Text von einer Treppenhausaustellung im Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Bilker Str. 12-14: „Dichter in Badehosen“ bis 11. September 2016, Di.-So. 11 bis 17 Uhr (Sa. 13-17 Uhr).

Büchertipps:
Heinrich Heine: „O wie lieb ich das Meer – Ein Buch von der Nordsee“, herausgegeben von Jan-Christoph Hauschild, Hoffmann und Campe. 128 Seiten. Vergriffen, aber antiquarisch und als E-Book ab etwa drei Euro über das Internet erhältlich.
Hermann Hesse: „Jahre am Bodensee – Erinnerungen, Betrachtungen, Briefe und Gedichte“. Herausgegeben von Volker Michels mit Bildern von Siegfried Lauterwasser. Insel Verlag. 238 Seiten. 28 Euro.




Als Balzac im Zug saß – Heinrich Peuckmann auf den Spuren des ruhmreichen Romanciers

Er war ein Lebemann, ein Draufgänger und zugleich hat er der Nachwelt ein beeindruckendes literarisches Erbe hinterlassen. Die Rede ist von Honoré de Balzac.

Dem französischen Schriftsteller (1799-1850) hat Heinrich Peuckmann sein neues Buch gewidmet. Er greift dazu eine Episode aus der Biographie des bereits zu Lebzeiten populären Romantikers heraus und legt ein pointiertes Portrait des Literaten vor.

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1847 begab sich Balzac auf eine lange Zugfahrt von Paris nach Wierzchowia in der heutigen Ukraine, um dort seine Geliebte, die reiche Großgrundbesitzerin Evelina Hanska, zu besuchen. Sie hatte schon Jahre vorher den Kontakt zu Balzac aufgenommen, doch seine Hoffnung, sie würde ihn nach dem Tod ihres Gatten heiraten, hatten sich (zunächst) nicht erfüllt. Umso mehr hoffte Balzac nun, dass der bevorstehende Aufenthalt endlich zum Ziel führen wurde.

Seine Heimat Paris hatte er aber nicht nur der Liebe wegen Hals über Kopf verlassen, einmal mehr waren seine Geldgeber dem chronisch verschuldeten Balzac auf den Fersen. Sich in damaliger Zeit auf eine Zugreise zu begeben, war für jeden Gast strapaziös, erst recht für einen Mann wie Balzac, den man heute wohl als Workaholic bezeichnen würde. Tag und Nacht arbeitete er an seiner Romanreihe „Menschliche Komödie“ und ruinierte sich nicht zuletzt durch seinen massenhaften Kaffeegenuss die Gesundheit. So litt er unter häufigen Hustenanfällen, die ihn auch auf der mehrwöchigen Reise plagten, wie es Heinrich Peuckmann eindrucksvoll schildert.

Balzacs Gedanken kreisen während der Fahrt aber nicht nur um das eigene literarische Schaffen, er ruft sich auch die Begegnungen mit seiner geliebten Evelina in Erinnerung und denkt zudem gern an die vielen anderen Frauengeschichten, die ihn schon als jungen Erwachsenen in die höchsten Adelskreise führten. Die Eindrücke und Erlebnisse in dieser gesellschaftlichen Umgebung hat er in zahlreichen Werken verarbeitet und dabei den Menschen gern mal den Spiegel vorgehalten. Trotzdem oder auch gerade deshalb erreichte er bereits zu Lebzeiten eine hohe Popularität, wie es auch auf der Zugreise deutlich wird. In Peuckmanns Buch trifft Balzac zahlreiche Zeitgenossen, die ihn schätzen und auch ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen.

Das Verhältnis zu Dichtern und Denkern seiner Zeit beschäftigt Balzac stets auf Neue. Das belegen die Zwiegespräche mit Victor Hugo oder Heinrich Heine. Nicht immer sind es die großen philosophischen Diskurse über die Zukunft der Welt, manchmal auch ganz praktische Überlegungen. Heine empfiehlt Balzac, doch mehr Theaterstücke zu schreiben. Mit schnell verdientem Geld könne er sich doch von seinen Schuldnern loseisen.

Wenn Balzac sich in Kindheit und Jugend versetzt, kommt er nicht um das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter herum, die ihn nicht leiden konnte und ihn zu einer Amme gab. Mit dieser Entscheidung haderte Balzac wohl bis zum Tod.

Dass Heinrich Peuckmann intensiv für das Buch recherchiert hat, zeigt sich nicht nur an den vielen Details aus dem Leben Balzacs, sondern auch bei der Beschreibung der Zugfahrt in der Pionierzeit der Eisenbahnen. In Köln mussten die Fahrgäste zu Fuß eine Rheinbrücke passieren, um danach ihre Fahrt mit einem anderen Zug fortzusetzen. In Madgeburg stand zur Überquerung der Elbe eine Fähre für die Bahn parat.

Zu Ehren kommt auch ein Begriff, der heute längst in Vergessenheit geraten ist. Der Name Perron für Bahnsteig/Treppe war seinerzeit in aller Munde. Manche Selbstverständlichkeiten in jener Zeit geben zum Schmunzeln Anlass, unter anderem, wenn es Balzac es ertragen muss, dass eine Frau Hühner und Ziege mittransportiert.

Dieses Mal ist es zwar kein Krimi, den Peuckmann vorlegt, dennoch hat das Buch einen Spannungsbogen. Ob Evelina schließlich zur Heirat bereit ist, diese Frage lässt der Autor nicht unbeantwortet.

Heinrich Peuckmann: „Die lange Reise des Herrn Balzac“. Lychatz Verlag, 124 Seiten, 19,95 Euro




Was einfach so geschehen ist – Werner Streletz‘ Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“

Ja, so waren sie, die Arbeitsbedingungen im Lokaljournalismus der 70er und frühen 80er Jahre: Der Linienbus oder die Regional-Bahn dienten an entlegenen Orten als Kurierfahrzeuge für Texte und Bilder, die an der mechanischen Schreibmaschine und in der Dunkelkammer entstanden. Es ging bei weitem noch nicht so gehetzt und getaktet zu wie in den flimmrigen Online-Zeiten.

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Michael, die noch recht junge Hauptfigur in Werner Streletz’ Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“, arbeitet in jenen Jahren als Einmann-Redakteur auf einem Außenposten, 40 Kilometer von den Kollegen in der Kreiszentrale entfernt. Stets begleitet ihn die vage Furcht, so ganz auf sich allein gestellt in der „Schlossstadt“, wie sie sich nennt, die riesengroße Nachricht zu verpassen.

Aber gemach! Das provinzielle Kleinstadtleben scheint immerzu seinen gewohnten Gang zu gehen. Größter Daueraufreger sind die Pläne eines Kaufhauses, baulich in die Altstadt einzugreifen. Michael müht sich nach Kräften um eine möglichst objektive Berichterstattung und fühlt sich von Politikern ebenso misstrauisch beäugt wie vom zudringlichen Ralph Kindler, der eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen hat. Nur Verfolgungswahn oder zutreffender Befund?

Doch nehmt alles nur in allem: Ist es nicht ein einigermaßen bequemes, ja fast beschauliches Leben mit einem Gerüst aus täglichen Routinen, das Michael dort führt? Hinzu kommt der Charme des Unzulänglichen in den frühen Jahren: Mit seiner Freundin Rosemarie duscht er anfangs noch notgedrungen im Hallenbad, dann ziehen sie in ein kuscheliges Dachgeschoss mit Flokati-Teppich im Badezimmer. Manchmal stellen sich schwebende Momente der Leichtigkeit ein. Doch eigentlich ist Michael ein notorischer Grübler.

Geschildert werden die Ereignisse Jahrzehnte später, aus der Rückschau Michaels, der sich für ein paar Wochen ins Haus eines Freundes zurückgezogen hat, und zwar just im Dunstkreis besagter Schlossstadt. Hier begibt er sich auf Spurensuche – nicht systematisch, sondern eher ziellos schweifend. So scheint auch die Geschichte hierhin und dorthin ins Taumeln und Trudeln zu geraten. Und was ist geblieben von der Vergangenheit?

Schon bald wird deutlich, dass – dem vermeintlichen Idyll zum Trotz – „damals“ etwas Düsteres, Schreckliches geschehen sein muss. Doch Genaueres bleibt für eine gewisse Textstrecke im Verborgenen. Wir wollen dieses Spannungsmoment auch hier nicht vollends auflösen und lediglich andeuten, dass Rosemaries Leben im Laufe des Romans auf bestürzend unspektakuläre Weise entgleist – gleichsam wie in Zeitlupe. Zunächst nahezu unmerklich, schleichen sich Depressionen ein, die sodann in unvorhersehbaren Schüben wiederkehren. Und schließlich…

Michael, der ebenso wie Rosemarie unentwegt beim Vornamen genannt und praktisch nie mit dem Personalpronomen „er“ bezeichnet wird (geradezu eine Marotte des Autors), lernt zwischendurch den sinistren Künstler Tobias kennen, der die gewöhnlichen Leute mit ziemlich radikalen und abgründigen Schöpfungen schockiert. Doch Michael weiß den kulturellen Impuls zu schätzen, er fühlt sich angesprochen. Dämmert da aber auch etwas Gefahrvolles herauf? Ist diesem Tobias zu trauen?

Werner Streletz erzählt mit zuweilen etwas umständlich wirkender Sorgfalt, als wollte er kein Detail vergessen, Plaudereien aus dem lokaljournalistischen und kommunalpolitischen Nähkästchen inbegriffen, die den Fortgang der Handlung dann und wann eher aufzuhalten scheinen. Zudem kommen Formulierungen wie „Er hatte sich, solches erahnend…“ ein wenig gestelzt daher.

Nun muss man aber sagen: Der zögerliche, zaudernde Duktus entspricht gewissermaßen der Hauptfigur, die eben alleweil hin und her denkt, sich den Kopf über das eigene Tun und Lassen permanent zerbricht. Mitunter wird da allerdings wohl etwas zu viel und zu restlos erwogen, zu ausgiebig erläutert. Hie und da vermisst man einen Zug oder Sog in der Geschichte, deren Urheber sich gelegentlich sozusagen bereitwillig in unnötigen kleinen Abschweifungen verliert und mehr oder weniger kühne Auslassungen offenbar scheut.

Als erfahrener Schriftsteller verliert Streletz jedoch natürlich nicht den Bauplan seines Romans aus den Augen. Er lässt die vorwiegend melancholisch getönte Erzählung in ein offenes Ende gleiten. Es bleibt die Erkenntnis, dass sich das Geschehene weder ändern noch wirklich ergründen lässt. Das mag betrüblich sein, doch diese Einsicht birgt wohl auch Trost. Und schuldig ist ohnehin niemand. Es ist passiert. Einfach so. Wie das Leben so ist.

Kleine Anmerkung: Das Buch ist passagenweise etwas nachlässig redigiert worden, da geraten auch schon mal Namen und Zeitenfolgen durcheinander, von einigen Setzfehlern zu schweigen. Nachbesserungen für eventuelle weitere Auflagen wären also ratsam.

Der in Bottrop geborene und aufgewachsene, seit vielen Jahren in Bochum lebende Werner Streletz (Jahrgang 1949) gilt manchen immer noch als „Ruhrgebietsautor“. Streletz selbst, brotberuflich langjähriger WAZ-Kulturredakteur (den ich – der Transparenz halber sei’s erwähnt – aus beruflichen Zusammenhängen persönlich kenne), wendet sich entschieden gegen diese Zuschreibung.

Tatsächlich entfernt er sich gerade mit diesem Roman deutlich von etwaigen Revier-Spezifika. Welche sollten das heutzutage auch sein? Die Chose mit Zechen, Malochern, Fußball, Bier und Stahl ist in dieser einst typischen Mischung längst durch. Und so ist Werner Streletz kein Ruhrgebietsautor, sondern einer, der halt im Ruhrgebiet lebt und schreibt.

Werner Streletz: „Rückkehr eines Lokalreporters“. Roman. Projektverlag, Bochum/Freiburg. 261 Seiten. 13,80 Euro.




„The Awful German Language“ – Wie Mark Twain über die deutsche Sprache wetterte

Das überreicht womöglich der feixende Englischlehrer seiner Kollegin vom Fach Deutsch: Das schmucke Geschenkbändchen „The Awful German Language“ enthält Mark Twains legendäres Pamphlet gegen die deutsche Sprache; natürlich nicht im fürchterlichen Deutsch, sondern im nahezu makellosen Englisch.

Nur 40 Seiten schmal ist die No. 1419 der Insel-Bücherei. Mark Twain (1835-1910), dem das Erlernen des Deutschen offenkundig recht schwer gefallen ist, zieht kräftig vom Leder. Er wettert über den Treibsand der Regellosigkeit, der einen an diesem Idiom verzweifeln lasse.

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Wie froh konnte der Mann sein, wäre doch um ein historisches Haar beinahe Deutsch die Kernsprache der Vereinigten Staaten geworden – und nicht dieser seltsame Seemannsdialekt, den ein gewisser Shakespeare und ein paar andere noch halbwegs hochgejazzt haben. (*zwinker, zwinker*).

Besonders die Artikel „der“, „die“ und „das“ regen den literarischen Vater von Tom Sawyer und Huckleberry Finn auf, während es doch im Englischen bekanntlich schon mit „the“ getan ist. Ein deutschsprachiger Mann, so polemisiert der, die oder das Twain, könne sich seiner Geschlechtsmerkmale niemals sicher sein, werde doch jeder Körperteil völlig willkürlich als männlich, weiblich oder sächlich markiert. Auf diese Weise werde der Herr der Schöpfung zur „ridiculous mixture“. Hat Mark Twain etwa unter linguistisch induzierten Kastrationsängsten gelitten?

Um die Sprache Goethes zu demaskieren, pfropft er spaßeshalber einer englischen Geschichte eine vermeintliche deutsche Sprachstruktur auf. Das Resultat klingt wunschgemäß steif und lächerlich. Was zu „beweisen“ war.

Mit Mehrfach-Bedeutungen und irritierenden Anklängen plagt er sich ebenso wie mit dem Satzbau, bei dem die Verben weit hinten zu finden sind. Auch machen ihm schier endlos und offenbar nach Gutdünken gereihte Wörter zu schaffen, die in keinem Lexikon stünden („Kinderbewahrungsanstalten“, „Waffenstillstandsunterhandlungen“). Auch sonst findet er für all seine Behauptungen leidlich witzige Beispiele, ganz nach dem Motto: je ungerechter, umso lustiger.

Andererseits könne man, so Samuel Langhorne Clemens (bürgerlicher Name von Mark Twain) schelmisch, getrost komplette Konversationen mit den Wörtern Also, Zug und Schlag bestreiten, die in allerlei Zusammensetzungen immerzu wiederkehrten.

Überraschend sein Befund, das Englische sei ungleich kraftvoller, während das Deutsche sich geradezu säuselnd sanft anhöre. Als Beispiele führt er „milde“ Ausdrücke wie etwa Schlacht und Gewitter an. Vom Blitzkrieg wusste er freilich noch nichts. So lässt er auch als raren Vorteil des Deutschen gelten, dass es für die Bereiche Natur, Liebe, Frieden und Ruhe passende Worte bereithalte. Hört, hört! Wahrscheinlich hatte Mark Twain noch Dichtungen der deutschen Romantik im Ohr. Ein Vorzug gegenüber dem Englischen sei zudem, dass die deutsche Aussprache weitgehend dem Schriftbild folge. Immerhin.

Schließlich schlägt Mark Twain kurzerhand noch eine reichlich rabiate Reform des Deutschen vor, das andernfalls zur toten Sprache degenerieren müsse: Dativ weg, Verben weiter nach vorn, kürzere Wörter, möglichst viele Vokabel-Importe aus dem Englischen (!) und Abkehr vom verwirrenden Der-die-das. Da müsste man nur noch ein Volk gefunden haben, das sich an diese Vorgaben gehalten hätte. Man hätte nur auf Mark Twain hören müssen – und schon… – ja, was?

Übrigens: Gar so schlimm kann es mit dem Deutschen dann auch wieder nicht gewesen sein. Mark Twain lebte in den 1890er Jahren für einige Monate in Berlin („luminous centre of intelligence […] a wonderful city“) und ließ seine Töchter dort studieren. Hernach zog es ihn auch nach Wien. Man gäbe was für Tonbänder, auf denen zu hören wäre, wie er – verschmitzt und zornig zugleich – im Deutschen radebrecht.

Mark Twain: „The Awful German Language“. Insel-Bücherei No. 1419. Englischer Originaltext. 40 Seiten. 10,95 €.




Rückblick auf einen Lebenslauf, der schon in der Schulzeit auf Literatur hindeutete

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über menschlich und literarisch prägende Begegnungen in seiner Schüler- und Studentenzeit:

Meinen ersten Lehrer habe ich geliebt. Noch bis zu seinem Tode hatte ich brieflich Kontakt mit ihm, denn er war inzwischen nach England verzogen und hatte dort noch einmal geheiratet.

Der Autor Heinrich Peuckmann (Bild: privat)

Der Autor Heinrich Peuckmann (Bild: Homepage www.heinrich-peuckmann,de / privat)

Als es zu seinem 80. Geburtstag einen Empfang in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei gab, ließ er auch mich einladen und wir hatten unser letztes Gespräch. Er erzählte mir, was er im letzten Jahr von mir gelesen hatte, wir witzelten dabei wie immer. Am Ende wollte er wissen, was unsere gemeinsamen Freunde machten, vor allem mein Autorenkollege Horst Hensel.

Grundschüler beim späteren Kultusminister

Jürgen Girgensohn hieß er, der das kleine I-Männchen Heinzchen Peuckmann 1956 an der Kamener Falkschule in seine Schullaufbahn einwies, der vor allem später, als ich Lehrer wurde, als Kultusminister mein oberster Chef war.

Wenn der Minister Girgensohn meine Schule besuchte, stand meinem Schulleiter der Angstschweiß auf der Stirn, ich dagegen freute mich. Es kam ja mein alter Lehrer und wir hatten immer etwas zu bereden. „Na, du Schlingel!“, rief er mir einmal zur Überraschung meines Schulleiters zu, als er mich auf dem Flur unserer Schule entdeckte. Es war ein guter, kreativer Schulanfang mit ihm, der sich auch so fortsetzte.

Verbindungen zu Hüsch und von Manger

Mein Lehrer im zweiten Schuljahr hieß Wolfgang Bär, und der war nun ein halber Künstler. Neben dem Unterricht baute er die Kamener Volkshochschule auf und gestaltete das Kulturprogramm der Stadt mit, in dem tatsächlich Hanns Dieter Hüsch seine ersten Auftritte hatte. Bevor er als Kabarettist seine großen Erfolge feierte, war Hüsch schon in Kamen gewesen.

Später entdeckte und förderte Bär auch noch Jürgen von Manger, schied für ihn sogar aus dem Schuldienst aus und wurde dessen Manager. Auf manchen Schallplatten, die von Manger veröffentlichte, ist als Ansprechpartner, etwa in „Die Fahrschulprüfung“ auch mein alter Lehrer Wolfgang Bär als Prüfer zu hören. Er war meine erste Begegnung mit einem Lehrer, der literarische Neigungen hatte, wenn auch nicht so ausgeprägte, dass es zu einem eigenen Werk gereicht hätte.

Die Aufsatzmappe des Rektors

Danach übernahm Rektor Ballhausen meine Klasse und es war mit dem Künstlerischen, so schien es mir, endgültig vorbei. Ballhausen war eher der strenge, preußische Lehrertyp mit grauem Anzug und Fliege. Wenn jemand zu laut in der Klasse war, winkte er ihn mit langem Finger aus der Bank, dann ging es in sein Rektorzimmer und es gab drei Schläge mit dem Rohrstock auf den Hintern.

Hans Ballhausen hatte die Eigenart, dass er sich Aufsätze seiner Schüler, die er für gelungen hielt, in eine schwarze Kladde eintragen ließ. „Dann habe ich etwas für meine Pensionszeit“, erklärte er. „Ich kann dann, wenn ich an euch denken will, eure schönen Aufsätze lesen.“

Alle wollten sich gerne in diese Mappe eintragen, alle wollten sich dadurch auszeichnen, auch ich. Aber meine Aufsätze fand er erst ganz zum Schluss für würdig, in seine Mappe eingetragen zu werden, vorher hat er mich nie berücksichtigt. Alle durften sich eintragen und waren entsprechend stolz darauf, ich durfte es nicht.

Oft bin ich später bei Schullesungen von Schülern (vor allem der Grundschule) gefragt worden, warum ich Schriftsteller geworden sei. Ich habe dann immer geantwortet, dass ich es so genau auch nicht erklären könnte, und dass ich es eigentlich gar nicht hätte werden dürfen. Mein Volksschullehrer jedenfalls hätte mich nicht verstanden. „Wahrscheinlich“, habe ich manchmal hinzugefügt, „hat dieser Lehrer nie einen Schüler unterrichtet, der später Schriftsteller wurde. Den einzigen, den er je hatte, hat er nicht verstanden.“

Es war eine Erklärung, bei der ich gut wegkam, die aber den entscheidenden Fehler hatte, dass sie nicht stimmte. Hans Ballhausen war, wie ich sehr viel später in einem westfälischen Autorenverzeichnis feststellte, selber Schriftsteller. Vor allem mit der westfälischen Schriftstellerin Margarete Windthorst, einer Autorin mit deutlich katholischem Anspruch, die 1946 den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis bekam (die sie denn auch neben Kleist als ihr Leitbild angesehen hat), hat er sich ausführlich beschäftigt. Ballhausen gilt als ihr Biograph in ihrer mittleren Lebensphase.

Tradition der Short Story

Zusätzlich gab er Anthologien zur Arbeiterliteratur heraus, ein Thema, mit dem auch ich mich später (zu) lange im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ beschäftigt habe. „Wir Werkleute all. Ein Querschnitt durch die soziale Dichtung nach der Jahrhundertwende“, hieß eine dieser Anthologien. Ein anderer Buchtitel lautet „Mutter Erde. Gedichte“. Es sieht ein bisschen so aus, als würde es unheilvoll raunen in seinen Büchern, aber das tut es nicht. Es ist das christliche, nicht das Nazi-Weltbild, das durchschimmert und das ihn wohl zu Margarete Windthorst hingezogen hat, die wegen ihrer christlichen Botschaft von den Nazis aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde.

Ich war überrascht, als ich es später, sehr viel später erfuhr. Es war also nicht so, dass Ballhausen einen heranwachsenden Schriftsteller missverstanden hätte, weil er keine Ahnung von künstlerischer Arbeit gehabt hatte. Nein, er war selber ein Schriftsteller gewesen und hatte eine andere Autorin selbstlos gefördert.

Vielleicht, denke ich heute, war wirklich nicht viel dran an meinen ersten Aufsätzen. Vielleicht hatte Ballhausen recht und nicht ich. Er liebte es, das fiel mir wieder ein, wenn Aufsätze unmittelbar begannen, ohne lange Einleitung. Er folgte darin, so kommt es mir im Rückblick vor, der amerikanischen Short Story, während ich vermutlich brav jeden Aufsatz mit einer klaren Einleitung in Zeit, Ort und Handlung begonnen habe, die ich heute selbst bei meinen Schülern bekämpfe: „Es war an einem schönen Sonntagmorgen, als mein Vater die Fahrräder aus dem Keller holte …“

Man weiß, wie solche Aufsätze enden: im Regen am Sonntagnachmittag unter einem Baum stehend. Meine erste Begegnung mit einem Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller war, verlief also gar nicht glücklich.

Als Arbeiterkind nicht zum Gymnasium

Dazu passt auch das Ende unserer Begegnung, denn als es darum ging, welche Schule ich nach der vierten Klasse besuchen sollte, war Ballhausen gegen einen Wechsel zum Gymnasium. Arbeiterkinder (mein Vater war Bergmann) hätten am Gymnasium erfahrungsgemäß Probleme mit dem Englischunterricht. Nein, ich sollte besser zur Realschule wechseln.

Gertrud Bäumer, die große Pädagogin, hat ein paar Jahrzehnte vorher in Kamen unterrichtet und sie schreibt in einem ihrem Bücher sehr liebevoll, aber auch erschreckt über die Bergarbeiterkinder, die sie damals unterrichten musste. Wie mager sie waren, wie ärmlich gekleidet, wie fernab von jeglicher Bildung. Zu meiner Zeit hatte sich daran sicher einiges geändert, wenn auch nicht alles.

Natürlich trug ich, wie meine Mitschüler auch, gestopfte oder geflickte Kleidung, ein paar Mal musste ich sogar Pullover meiner Schwester auftragen, die meine Mutter „schick“ fand. Und unsere Sprache war deftig, mindestens gewöhnungsbedürftig: „Wo wohnst du?“ „Anne Ecke vonne Nordenmauer.“ „Wie heißt das?“ „Auffe Ecke anne Nordenmauer.“ (Originalton Klassenkamerad). Vielleicht war es das, was uns Schüler und speziell auch mich von Ballhausen trennte. Einer sittsam-katholischen Wohlanständigkeit entsprachen wir sicher nicht.

Das Wort eines Rektors galt damals noch etwas, jedenfalls in einer Arbeiterfamilie wie meiner, also wechselte ich zur Realschule Oberaden, wo ich – ein kleiner Trost – wieder auf Girgensohn traf, der sich inzwischen vom Volksschullehrer zum Realschullehrer fortgebildet hatte.

Bloß keine Verwaltungslaufbahn

Aber als ich dort immer öfter den Satz hörte: „Wenn ihr später mal bei einer Verwaltung arbeitet“, die klassische Realschullaufbahn damals, wusste ich, dass ich von dort weg musste. Verwaltung, darunter stellte ich mir dunkle Räume vor mit verstaubten Akten und mit Ärmelschonern womöglich, die ich tragen müsste.

Dabei war ich der ersten dunklen Alternative ja schon fast entkommen, einem Leben als Bergmann nämlich, das alle meine früheren Klassenkameraden erwartete, deren Väter Bergleute waren. Sich aus diesem Kreislauf herauszuarbeiten war damals fast unmöglich. Immerhin, mit der Realschule hatte ich den ersten Schritt dazu getan, jetzt wollte ich auch den nächsten tun. Weg von der Realschule, weg von der Aussicht, Bürokrat zu werden.

Ich machte die Aufnahmeprüfung am Aufbaugymnasium in Unna, bestand und wechselte mit einem anderen Klassenkameraden nach vier Jahren Realschule dorthin. In der neue Klasse wartete Gerd Puls auf mich, Kamener Schriftsteller, der schöne Gedichte und Erzählungen geschrieben hat.

Mit Dieter Pfaff in einer Klasse

Dieter Pfaff kam später hinzu, den ich von allen meinen Klassenkameraden, trotz seines Todes vor drei Jahren, bis heute am häufigsten sehe, nämlich mindestens einmal in der Woche im Fernsehen in allen möglichen Rollen, die bei ihm immer durch eines verbunden sind. Durch eine tiefe Menschlichkeit nämlich, die mich an sein, besser an unser damaliges politisches Engagement für eine humane Gesellschaft erinnert. Dieter ist sich auf seine Weise treu geblieben, vor allem hat er seinen damaligen Plan, Schauspieler zu werden, mit großem Erfolg umgesetzt.

Außerdem traf ich auf den zweiten Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller war, auf den Deutschlehrer Rudolf Schlabach, dessen Höspiele wir abends im WDR hörten und über die wir am nächsten Morgen in der Deutschstunde diskutierten.

Schon wieder ein Schriftsteller als Lehrer

„Herr Schlabach, warum haben Sie die eine Figur so und jene anders gestaltet? Warum haben Sie die eine Szene vorgezogen und die andere nachgestellt?“ Es waren Fragen zum Inhalt, aber auch zur Form, die uns in den Diskussionen bewegten und bei denen ich eines für meine spätere literarische Arbeit lernte: Literatur hat eine dezidiert handwerkliche Seite, es gibt keine feststehenden Regeln, man kann so oder auch anders machen. Wie es richtig ist, das ergibt sich immer neu aus dem Inhalt.

In diesem Sinne besprachen wir nicht nur Schlabachs Hörspiele, mit diesen Fragen gingen wir auch an die Literatur heran, die wir nach dem Lehrplan lesen musste: Kleist, Schiller, Fontane. Es waren anregende, kreative Deutschstunden, die wir erlebten und die nicht nur mich beeinflussten. „Schlabach war ganz wichtig für mich“, hat mir Dieter Pfaff später bestätigt, und er hat ihn auch angerufen, nachdem ich ihm dessen Telefonnummer gegeben habe und hat es ihm gesagt.

Schlabach hat später an der bekannten Hörspielreihe „Papa, Charly hat gesagt …“ teilgenommen, deren beste Texte in gleich mehreren Anthologien bei Rowohlt erschienen sind. Schlabach war an allen beteiligt. Er hat zudem einen Band mit dramatischen Texten veröffentlicht („Glänzende Aussichten“, Asso-Verlag Oberhausen) und den Roman „Die Bauweise von Paradiesen“. In Hude, wo er inzwischen, alt geworden, lebt, schreibt Schlabach weiter, aber es fällt ihm zunehmend schwer, in Verlagen unterzukommen. Ich versuche, ihm den einen oder anderen Tipp zu geben, denn die Verbindung ist nie abgerissen.

An der Ruhr-Uni bei Gerhard Mensching

An der Universität Bochum, im Nachhinein wundere ich mich nicht mehr darüber, traf ich auf dieselbe Konstellation: auf den Uni-Dozenten, der Schriftsteller war. Diesmal war es Gerhard Mensching, der nebenbei eine Puppenbühne betrieb, die Stücke dafür selber schrieb und zusammen mit seiner Frau auf Tournee ging. Eine Zeitlang war er sogar Präsident des deutschen Puppenspielerverbandes. „Lemmy und die Schmöker“ hieß seine Fernsehserie, die auf witzige Weise für Lesekultur bei Kindern warb. Etwas, das heute noch wichtiger wäre als damals, aber leider im Fernsehen der Doku-Soups keine Chance mehr hat.

Mensching lernte ich in seinem Seminar über Kafka kennen. Wir untersuchten Kafkas Erzählung „Beschreibung eines Kampfes“, zu der Kafka zwei Fassungen geschrieben hatte, untersuchten beide Abschnitt für Abschnitt in Form von Referaten, um herauszufinden, wie und warum Kafka die Überarbeitung vorgenommen hatte. Wir wurden auf diese Weise gut in genaue Textarbeit eingeführt.

Der Sohn des Stahl-Managers

Als ich zusammen mit einem Kommilitonen einen Abschnitt untersuchen sollte, haben wir beide den Ansatz des Seminars komplett über Bord geworfen. Es war ein guter Student, mit dem ich zufällig kombiniert worden war, sein Vater gehörte zum Management eines großen Stahlkonzerns und ich musste, wenn ich ihn anrufen wollte, mich über die Zentrale des Konzerns verbinden lassen. Ein Mann mit einer ganz anderen Sozialisation also, wie ich feststellte. Einmal in der Woche ging er zur schlagenden Verbindung, etwas, das in der Zeit der Studentenrevolte verpönt war und das auch er selbst kritisch beurteilte. Aber sein Vater verlangte es von ihm und solange er hinging, bekam er von ihm jede Unterstützung. Im Übrigen war er Marxist, also Materialist, und er konnte nicht verstehen, dass jemand wie ich Theologie studierte, also, in philosophischen Kategorien gedacht, Idealist war.

So diskutierten wir bei unseren Treffen zuerst stets über Feuerbach, Marx und die Bibel, dann gingen wir an die Textarbeit und fanden schnell heraus, dass beide Fassungen von Kafka so unterschiedlich waren, dass man nicht mehr von zwei Fassungen sprechen konnte, sondern dass es zwei unterschiedliche Erzählungen waren. Wir entwickelten Strukturbilder zu den Erzählungen, zeigten auf, welche Punkte in der zweiten Fassung deutlich ausgebaut waren und wie diese neue Schwerpunktsetzung die inhaltliche Aussage grundlegend veränderte.

Als wir vor Mensching das Referat vortrugen, musste ich den größten Teil übernehmen, mein Mitstreiter, der die besten Ideen beigesteuert hatte (schade, dass ich seine Spur verloren habe!) hatte am Abend vorher ein Verbindungstreffen gehabt und stand mit geröteten Augen neben mir. Ich weiß noch, wie Mensching immer erstaunter auf unser Strukturschema blickte, wie er schließlich begann, den Kopf zu schütteln und sagte: „Jetzt müsste unser Seminar neu beginnen. Das ist der Ansatz, nach dem wir eigentlich gesucht haben.“

Von nun an war ich in allen seinen Seminaren ein gern gesehener Student, immer ging es dabei um die Machart von Literatur, um einen ebenso textkritischen wie kreativen Ansatz, für den Mensching unter den Germanistikprofessoren und Dozenten offen oder versteckt kritisiert wurde. Sie wollten über Literatur forschen, dass einer der Ihren selber Literatur schreiben wollte und schrieb, ging ihnen nicht in den Sinn.

Folgenreiche Schreibseminare

Mensching richtete Schreibseminare an der Uni ein, ich weiß nicht, wie viele Studenten, die später Autoren und Journalisten wurden, durch diese Schule gingen. Einmal haben wir bei ihm das Strukturschema eines guten Unterhaltungsromans entworfen. Ein richtiges Rezept für einen solchen Roman haben wir entwickelt. Natürlich musste es ein politisches Thema sein, das gestaltet werden sollte, so etwas passte nicht nur zur 68er-Zeit, das passte auch zu Mensching. Mit Unterhaltung die Menschen aufzuklären, ein wunderbarer Gedanke, von dem wir heute so weit entfernt sind wie nie zuvor.

Am Romananfang, so entwickelten wir, musste eine kriminalistische Szene stehen, in der die Hauptfigur als Opfer vorgestellt wurde, dann musste die Gegenposition dargestellt werden, die aber noch nicht den Täter zeigte, dann sollte etwas Erotisches folgen, so etwas trug immer gut zur Unterhaltung bei, dann musste der eigentliche Täter vorgestellt worden. Es war ein richtiges Drehbuch für einen politischen Unterhaltungsroman, das ich leider danach verloren habe. Aber Mensching hatte es nicht verloren, wie ich viele Jahre später feststellen wollte.

Natürlich machte ich bei ihm Examen, natürlich durfte ich in meiner Examensklausur nachweisen, dass die Erzählhaltung bei einer Siegfried-Lenz-Erzählung viel zu umständlich war, eine verkappte Ich-Erzählung, wo es personal viel besser gegangen wäre, natürlich redeten wir zwischendurch immer wieder über eigene literarische Pläne.

Nach dem Examen verlor ich leider den Kontakt, bekam aber mit, dass Gerhard Mensching sehr erfolgreich begonnen hatte, Romane zu veröffentlichen, gute Unterhaltungswerke mit aufklärerischem Anspruch („Löwe in Aspik“) und auch er hatte irgendwie mitbekommen, dass ich publizierte, wenn auch lange nicht so erfolgreich wie er.

Das literarische Handwerkszeug

In achtziger Jahren nahmen wir wieder Kontakt auf, zuerst brieflich, dann telefonisch. Wir verabredeten, dass ich in einem seiner Schreibseminare, die er noch immer an der Uni veranstaltete, inzwischen mit Zustimmung seiner Fachkollegen, als Referent auftreten sollte, dass ich über das literarische Handwerkszeug referieren und es an eigenen Texten belegen sollte, während er zu meiner Lehrerfortbildung kommen wollte, die ich über viele Jahre für die Bezirksregierung Arnsberg in Hagen veranstaltete und in der ich kreative Schreibformen für den Deutsch- und Literaturunterricht an Gymnasiallehrer vermittelte.

Ich war froh, den Kontakt wieder gefunden zu haben, da starb Mensching ganz plötzlich. Es war eine völlig unerwartete Nachricht, die mich bewegt hat.

Meine Frau schenkte mir für die folgenden Ferien Menschings letzten Roman „E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung“, in der es darum ging, dass Hoffmann als Jurist dem Turmvater Jahn bei der Demagogenverfolgung einen fairen Prozess vermitteln wollte, was der Obrigkeit ganz und gar nicht gefiel und weshalb sie ihn nicht nur mit einem Disziplinarverfahren überzogen, sondern womöglich sogar vergiftet hatten.

Drehbuch für einen Unterhaltungsroman

In Überlingen, im Stadtteil Nussdorf in direkter Nähe zum Wohnhaus von Martin Walser, habe ich den Roman auf einer Wiese am Bodensee liegend gelesen und stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich das Konzept des Romans kannte. Mensching hatte unser gemeinsames Drehbuch eines guten Unterhaltungsromans entweder verinnerlicht oder sogar noch schriftlich vorliegen gehabt, jedenfalls las ich einen spannenden, formal gut aufgebauten unterhaltenden Roman, der mich begeisterte. Ich weiß noch, dass meine Frau irgendwann rief: „Lass uns gehen, es zieht ein Gewitter auf!“ und dass ich antwortete: „Einen Moment noch. Jetzt kommt gleich ein erotisches Kapitel!“, was wiederum meine Frau verwunderte. „Kennst du den Roman etwa schon?“ Ich konnte sie beruhigen. Nein, ich kannte ihn nicht, ich kannte und liebte nur seine Machart.

Im Nachhinein bedauere ich es sehr, dass ich den Kontakt zu Mensching über einige Jahre verloren und erst kurz vor seinem Tode wieder gefunden habe. Mit ihm war es immer eine kreative, äußerst fruchtbare Zusammenarbeit, die meine Studentenzeit so sehr bereichert hat.

Die nächsten Generationen

An allen Bildungsinstitutionen, an denen ich gelernt habe, bin ich also auf Lehrer gestoßen, die selber geschrieben haben. Komisch, denke ich im Nachhinein, so viele von diesem Typus gibt es doch gar nicht. Aber während mir meine beiden ersten als Lehrer vorgesetzt wurden, während es mit dem ersten schlecht, dem zweiten dagegen sehr gut lief, habe ich mir den dritten an der Uni selbst ausgesucht. Ich hätte ja auch bei anderen Professoren studieren können, aber ich habe in jedem Semester den Kontakt zu Mensching gesucht.

Inzwischen bin ich das selber geworden, ein Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller ist und aus meiner Schreibschule am Bergkamener Gymnasium sind einige Schüler hervorgegangen, die schriftstellerisch tätig wurden. Vier, die ich unterrichtet habe, haben Bücher veröffentlicht, Jugendromane, Gedichtbände, Science-Fiction-Romane. Eine meiner Schülerinnen ist mit ihren Liebesromanen stets in der Bestsellerliste des Spiegel, bei amazon war sie für einen Tag auf Verkaufsrang 1. Einige sind Journalisten, auch beim Rundfunk, geworden, einer betreibt die bekannteste Internetseite zu Arno Schmidt. Erstaunt stelle ich fest, dass meine Schullaufbahn fast so etwas wie ein Weg durch die westfälische Literaturgeschichte ist. Und sogar noch einer, der sich fortsetzt.




Insider sorgt für Krimi-Spannung: „Das Recht des Geldes“ von Olaf R. Dahlmann

Recht des Geldese Die angehende Juristin Katharina Tenzer beginnt ihr Referendariat in der renommierten Hamburger Kanzlei Hausner, spezialisiert auf Steuerrecht. Katharina stellt sich auf trockenes Aktenfressen ein, doch was sie bekommt, ist ein riskantes Spiel um Leben und Tod. Verschwundene CD’s mit brisanten Steuerdaten, ein ermordeter Anwalt in Liechtenstein und die Spuren weisen zu Friedemann Hausner und seinen Klienten, von denen der Erste ziemlich bald einen Ausweg nur in einer Kugel im Kopf sieht.

Da wird ihr Chef – zufällig? – in einen Autounfall verwickelt und liegt kampfunfähig im Krankenhaus. Aber seine Instinkte funktionieren und so muss er Katharina viel stärker einbinden als geplant. Eigentlich wäre es ihm am liebsten, wenn er die Fäden ziehen und Katharina wie eine Marionette lenken könnte. Doch da hat er die Rechnung ohne die zielstrebige Referendarin gemacht, die ihr eigenes Spiel beginnt. Als ihr klar wird, in welche Gefahr sie sich damit begibt, ist es längst zu spät. Ein Killer ist auf sie angesetzt. Kommt er von der Mafia oder vom Finanzamt? Die Auflösung wird verblüffen.

Mit „Das Recht des Geldes“ hat Olaf R. Dahlmann einen erstaunlichen Debütroman hingelegt. Dahlmann ist in Hamburg ansässig als Seniorpartner einer Rechtsanwaltskanzlei, welche – wer hätte das gedacht – auf Steuerrecht spezialisiert ist. Wie Dahlmann im Nachwort des Romans zu Protokoll gibt, sind zwar die Figuren und die Handlung des Romans frei erfunden, aber sein jahrzehntelanger „Umgang mit Richtern, Staatsanwälten, Steuerfahndern“ haben seine Fantasie nicht unbeeindruckt gelassen.

Hintergründe sind genau recherchiert und zeugen von einer akribisch erworbenen Detailkenntnis. So spannend Dahlmanns erdichteter Plot daherkommt – es ist vor allem diese Realitätsnähe, das Wissen, dass man hier ein Werk eines Insiders liest, welches den eigentlichen Gänsehauteffekt des Buches ausmacht.

Glücklicherweise ging die Liebe zur Realität sprachlich nicht soweit wie der sonstige Blick hinter die Kulissen. Die Loslösung vom trockenen „Juristensprech“ ist Dahlmann ausgesprochen gut gelungen. Er formuliert klar und griffig und sorgt so für einen steten Lesefluss.

Dafür ist er in seinem Erstlingswerk in Punkto Charakterzeichnung auf Nummer Sicher gegangen, da ist noch ziemlich viel Luft nach oben. Schon mit dem schmerbäuchigen Steueranwalt, der davon überzeugt ist, dass Macht alleine ausreicht, um sexy zu sein, hat der Autor tief in die Klischeekiste gegriffen. Gar nicht zu reden vom hölzernen Finanzbeamten, der sich nur mühsam vom Einfluss der verstorbenen Frau Mama befreit und dabei übers Ziel hinausschießt.

Auch die Figur Katharina bleibt in Teilen unbegreiflich. Was genau sie dazu treibt, ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen, bleibt unerfindlich. Wird sie zu Anfang noch als kluge Studentin mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn und Idealismus eingeführt, spielt sie sehr schnell Vabanque und erkennt in all ihrer Klugheit nicht einmal, welcher Gefahr sie die aussetzt, denen sie vertraut.

Man darf gespannt auf weitere Werke sein, vielleicht steht mit Dahlmann ja der deutsche Grisham in den Startlöchern.

Olaf R. Dahlmann: „Das Recht des Geldes“. Grafit-Verlag, Dortmund. 374 Seiten, € 12,00.




,,Brennender Midi“ – neuer Provence-Krimi

Seine Fans haben schon darauf gewartet, und endlich, seit Mitte Mai, liegt Cay Rademachers neuer Provence-Krimi vor. Ganz pünktlich, wie vom Verlag Dumont angekündigt, hat der ehemalige GEO-Redakteur und Frankreich-Kenner sein Manuskript fertiggestellt und lässt unter dem Titel „Brennender Midi“ seinen Kommissar, den Capitaine Roger Blanc, unter der südlichen Sonne den dritten Fall ermitteln.

Brennender Midi

Blanc war strafversetzt worden von Paris in den Süden. Dort fand er natürlich keine Ruhe, sonst wären diese Krimis nicht so spannend. Im ersten Fall ging es um Korruption und ihre Folgen („Mörderischer Mistral“), im zweiten greift Radmacher in die jüngere Geschichte Frankreichs („Tödliche Camargue“), und nun muss Roger Blanc herausfinden, warum ein Propellerflugzeug über einem Olivenhain abstürzte. Der tote Pilot gehörte der franzosischen Luftwaffe an und war sehr erfahren.

Der Capitaine und seine Kollegen ermitteln zahlreiche Ungereimtheiten, während es privat ebenfalls sehr turbulent umgeht, denn Blancs Affäre mit der Untersuchungsrichterin geht weiter. Immerhin ist diese Aveline die Ehefrau jenes Staatssekretärs, der damals für seine Versetzung in die Provinz gesorgt hatte.

Cay Rademacher lebt mit seiner Familie seit Jahren in der Nähe der kleinen Stadt Salon-de-Provence, und nicht zufällig arbeitet auch seine französische Frau als Untersuchungsrichterin, vergleichbar etwa mit einer Staatsanwältin in Deutschland.  Der 1965 geborene Autor hat sich seine recht große Anhängerschaft sicher nicht nur durch die spannenden Plots erworben, sondern auch durch die gelungene Beschreibung der südlichen Lebensweise, die in seinen Lesern die Sehnsucht nach dem Midi aufleben lässt.

Cay Rademacher: „Brennender Midi. Ein Provence-Krimi mit Roger Blanc“. DuMont Buchverlag Köln. 304 Seiten, 14,99 € (als E-Book 11,99 €).

 




Ein Hochstapler als Philosoph: Lars Gustafssons letzter Roman „Doktor Wassers Rezept“

Lars Gustafsson sagte über sich selbst, er fühle sich als Philosoph, dessen Werkzeug die Literatur sei. Wie etliche seiner Werke unterstreicht auch sein letzter Roman „Dr. Wassers Rezept“ dies eindrücklich.

Gustafsson war einer der bekanntesten und bedeutendsten Autoren Schwedens, er verstarb im April diesen Jahres im Alter von 80 Jahren. Erst im letzten Jahr erhielt er den Thomas Mann Preis. Seine Dankesrede zur Verleihung ist noch auf seinem Blog nachzulesen. In dieser Rede bekennt er, dass er Thomas Mann auch deshalb bewundere, weil Mann die Trivialität des absurden Lebens aufheben und ihn in eine ganz andere Sphäre versetzen konnte. Diese Worte muten nun nach Gustafssons Tod an, als hätte sich ein Kreis geschlossen. Umso mehr, als mit seinem letzten Buch ausgerechnet die Geschichte eines modernen Felix Krull zu seinem Vermächtnis wurde.

GustafssonDrWasser

Denn Gustafssons „Dr. Wasser“, der seine medizinische Laufbahn als Generaldirektor einer Klinik beendete und sich einen Namen in der Schlafforschung machte, ist gar kein Doktor med. Er ist „nur“ Bo Kent Andersson aus den schwedischen Wäldern, Fensterputzer und Hilfskraft in einer Reifenwerkstatt.

Zu klug für seine kleine Welt

Der junge Bo Kent merkt früh, dass er klug ist, genau genommen: zu klug. Zumindest für das kleine schwedische Karbenning. In der Welt, in die er hineingeboren wurde, hilft ihm Klugheit nicht. Eigentlich müsste für ihn eine andere Welt her. Da findet er eines Tages die Leiche eines schon vor Monaten tödlich verunglückten Motorradfahrers – und dessen Papiere, die den Verunglückten ausweisen als Dr. Kurth Wolfgang Wasser, DDR-Flüchtling und approbierter Mediziner. Dieser Fund gibt ihm einen zufälligen Moment der Freiheit und er verwandelt den „eigentümlich durchsichtigen, fast unsichtbaren schmalen Typ aus Karbenning, die gläserne Mücke“ in einen angesehenen Wissenschaftler.

Er entschied sich für den Identitätswechsel „nicht, weil ich mir besonders viel von diesem anderen versprach, sondern weil die Verführung, die von der Idee eines eigenen freien Willens ausging, unwiderstehlich war“. Nun verbringt er seinen Lebensabend als Gewinner, zumindest legen das die Ergebnisse seines Hobbys – Preisausschreiben in allen erdenklichen Formen – nahe. Aber hat er auch in seinem Leben gewonnen? Das ist die Frage, die ihn nun mit dem nahenden Lebensende vor Augen umtreibt. Kann es ihm wirklich reichen, dass er sich heiter fühlt und nicht unzufrieden?

„Doktor Wassers Rezept“ ist weit mehr als ein Schelmenroman über einen gewieften Hochstapler. Gustafsson erzählt mit der Geschichte seines Helden eine Geschichte über riskante Lügen, sinnliche Lieben und fragile Identitäten. Er folgt dabei allerdings keiner stringenten Chronik. Die Erzählung folgt – ganz Gustafssons Selbstverständnis entsprechend – einzig und alleine seinen philosophischen Gedankengängen. Die Versatzstücke des Lebens des Dr. Wasser werden dabei fragmentarisch nur zur Untermauerung der philosophischen Überlegungen gebraucht.

Dem Leben einen Sinn geben

Doch auch wenn die eigentliche Romanhandlung immer wieder unterbrochen wird, der doch man neugierig folgen möchte, ist „Dr. Wassers Rezept“ ein ungeheuer spannendes Buch. Spannend schon alleine wegen der Fragen, die das Buch aufwirft. Fragen, die sich wohl jeder zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens stellt. Die ganz existentiellen Fragen darüber, wer man ist, wie man zu dem wird, der man sein möchte, ob man überhaupt die Freiheit hat, selber zu bestimmen, wer man ist und welche Verantwortung man damit übernimmt. Noch spannender, weil Gustafsson sich nicht scheut, zumindest in Teilen Antworten zu geben: „Nein, einen Sinn hat das Leben nicht. Aber man kann ihm einen Sinn geben, vielleicht war es das, was ich tat“.

Ganz besonders spannend ist noch eine ganz andere Frage, die der Roman allerdings nur am Rande aufnimmt: Wie konnte Dr. Wasser damit eigentlich durchkommen? Wieso hinterfragte nie einer die doch so offensichtlichen Diskrepanzen in seiner Geschichte? Selbst die, die ihn aus seiner Kindheit noch als Bo Kent kannten, schluckten die phantastische Geschichte von der Adoption durch ein DDR-Ehepaar und fragten nie weiter nach.

Wen kennt man eigentlich wirklich?

„Niemand war wirklich daran interessiert, die Fäden zu entwirren“. Gustafsson findet auch darauf eine Antwort: „Die Menschen füllen Lücken gerne aus. Das ist eigentlich nicht so merkwürdig. Leben ist eine sinnstiftende Aktivität. Leben heisst zu deuten.“ Eine Antwort von bestechender Logik, die eine weitere Frage aufwirft: Wen von unseren Mitmenschen kennen wir eigentlich wirklich und wollen wir ihn überhaupt wirklich kennenlernen? Reicht uns nicht vielmehr das Bild, das wir uns von diesen machen?

Immerhin muss man Dr. Wasser zugute halten, dass er gut war auf seinem Gebiet der Schlafforschung. Er hatte diesen Beruf nicht gelernt, aber er war seine Berufung geworden. Sein Fachgebiet hatte er sich schnell ausgesucht, schien es ihm doch eines der wenigen medizinischen zu sein, auf dem er keinen Schaden anrichten konnte. Hat man auch nicht alle Tage – einen Hochstapler, der keinem je geschadet hat. So zeichnet Gustafsson ganz en passant noch das Bild eines Menschen, auf den ihn in Ansätzen durchaus die Bezeichung „Psychopath“ zutrifft, dem man aber seinen friedlichen, verkreuzworträtselten Lebensabend dennoch gönnt.

Lars Gustafsson: „Doktor Wassers Rezept“. Roman. Hanser Verlag. 144 Seiten, €17,90.




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Zum Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt

Durch eine Mitteilung des Schauspielhauses Bochum erfahren wir vom Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt, der jetzt mit nur 63 Jahren gestorben ist. Wir zitieren im Wortlaut:

„Das Schauspielhaus Bochum trauert um Wolfgang Welt.
Wolfgang Welt war seit 1991 Nachtpförtner am Schauspielhaus Bochum und allen hier arbeitenden Kolleginnen und Kollegen vertraut. Er war im besten Sinne des Wortes ein ,Original‘ des Hauses, jedem Künstler bekannt, umgeben von einer geheimnisvollen Aura, nicht ganz zu durchschauen, mal abweisend beobachtend, dann wieder gesprächig, offen und interessiert.
Vor seiner Tätigkeit als Nachtpförtner war Wolfgang Welt bereits als Journalist und Autor erfolgreich tätig. In den späten 1980er war er einer der wichtigsten Musikjournalisten des Reviers, schrieb für „Sounds“, „Marabo“ und „Musikexpress“. Danach begann er Romane zu schreiben und galt mit Büchern wie „Peggy Sue“, „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ oder „Doris hilft“ als Geheimtipp der deutschen Literatur-Szene. (…)
Wolfgang verstarb gestern Morgen nach kurzer schwerer Krankheit.
Wir werden ihn sehr vermissen.“

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Hier noch einmal ein Text über Wolfgang Welt, der am 23. November 2012 erstmals in den Revierpassagen erschienen ist:

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So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Als es im Ruhrgebiet noch Arbeiterschriftsteller gab – vier Skizzen aus persönlicher Sicht

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann mit einer persönlichen Betrachtung über Begegnungen mit Arbeiterschriftstellern des Reviers:

1. Richard Limpert

Warum Richard Limpert aus Gelsenkirchen bei seinen Straßenlesungen ein Megaphon benutzt hat, habe ich nie verstanden. Mit donnernder Stimme trug Limpert seine Agitpropgedichte vor, in denen es immer um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken und unter Tage ging. Er war auch ohne technische Unterstützung in der gesamten Fußgängerzone zu hören.

In Unna, während einer Landesversammlung des Schriftstellerverbandes, hielt er mal eine solche Lesung, stand oben am Markplatz und war sicher noch die Bahnhofstraße hinunter bis zum Rathaus zu hören. Wir anderen, die an verschiedenen Stellen der Straße lesen sollten, konnten unsere Texte getrost in der Tasche behalten und ihm das Terrain überlassen.

Heute, wenn auf immer neue Rekordmarken bei der Arbeitslosigkeit mit immer neuem Sozialabbau geantwortet wird, sollte wieder einer wie Limpert das Wort ergreifen, denke ich. Aber diesen Typus an Arbeiterschriftstellern gibt es nicht mehr.

"Schichtenzettel" mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Schichtenzettel“ mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Rili“, wie wir ihn nannten, hatte kein Auto. Er kam immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Veranstaltungen und hat dabei einmal eine unglaubliche Leistung vollbracht. Er ist nämlich zu einer Thekenlesung nach Bergkamen mit dem Zug gekommen. Nicht, dass es Bergkamen keinen Bahnhof gäbe, so ist es nun auch wieder nicht. Er befindet sich weit abgelegen neben einem Naturschutzgebiet. Güterzüge fahren vorbei, aber kaum jemals ein Personenzug. Ich glaube, die Strecke war schon damals für den Personenverkehr vollständig still gelegt.

Irgendwie hatte es Limpert trotzdem geschafft, mit dem Zug anzureisen. Vielleicht war er in einem Postwagen mitgefahren und der Zug hatte nur ausnahmsweise und ausschließlich für ihn in Bergkamen gehalten, ich weiß es nicht mehr. Da stand er nun mutterseelenallein auf dem dunklen Bahnhof und konnte weit und breit keinen Menschen entdecken. Rili muss sich gefühlt haben wie in einem Gruselfilm und hinter jeder dunklen Ecke den Mörder vermutet haben.

In einem Wohnhaus in der Nähe hat er schließlich geklingelt, eine Frau hat ihm geöffnet und sich mindestens so sehr über seine Ankunft mit dem Zug gewundert wie Rili über den Bergkamener Bahnhof. Sie rief ihm ein Taxi, mit dem Rili pünktlich zur Lesung kam und mich verwundert fragte, was das denn für ein Bahnhof sei. Ich glaube, so richtig erklären, dass dort niemand mehr aussteigt, konnte ich es ihm nicht.

Die Lesung (Rili hinter der Theke und die Arbeiter von „Monopol“ davor) war dann aber wirklich gut. Die Arbeiter verstanden, dass da einer von ihnen zu ihnen sprach, einer, der aus eigenem Erleben kannte, was er aufgeschrieben hatte.

Rili war ein verträglicher Mann, aber einmal hat er mich doch ausgeschimpft. Horst Hensel hatte den Schulroman „Aufstiegsversagen“ veröffentlicht, in dem ein Arbeiterdichter vor einer Schulklasse auftritt, Fragen der Schüler beantwortet und etwas zu seinem Literaturverständnis erzählt. Der Autor hieß „Milpert“, dreht man die drei ersten Buchstaben um, weiß man, an wen Hensel beim Schreiben gedacht hat.

In Horst Hensels Buch "Aufstiegsversagen" kam Richard Limpert als Figur "Milpert" vor.

In Horst Hensels Buch „Aufstiegsversagen“ (Weltkreis-Verlag, Dortmund) kam Richard Limpert als Figur „Milpert“ vor.

Wir trafen uns einige Zeit nach der Romanveröffentlichung bei einer Buchvorstellung in der Gelsenkircher Bücherei. „Sieben Häute hat die Zwiebel“ hieß die Anthologie, in der wir alle mit Texten vertreten waren. Es gab ein Buffet, wir standen mit dem Teller in der Hand in einer Schlange, Rili vor, Hensel hinter mir.

Plötzlich drehte sich Limpert um, entdeckte mich und fing sofort an zu schimpfen. So blöde sei er nicht, wie ich das behaupten würde, rief er, er könne schon vernünftig auf Schülerfragen antworten. Außerdem würde er über Literatur ganz anders denken, als ich das geschrieben hätte, das hätte er oft erklärt usw. Ich war anfangs sprachlos, bis ich endlich kapierte. „Mensch Richard!“, rief ich, „bist du wahnsinnig! Das war ich doch gar nicht. Das Buch hat doch der Hensel geschrieben.“ Aber Rili ließ sich nicht beirren, schimpfte weiter, bis sein Ärger verraucht war, erkannte dann hinter mir Hensel, lächelte plötzlich freundlich und gab ihm die Hand. „Mensch Horst“, sagte er, „wie geht`s dir.“

Nach seiner Attacke war Limpert übrigens auch wieder zu mir freundlich. Langen Streit konnte er nicht vertragen.

Bei der Landesversammlung des Schriftstellerverbands in Unna hat Rili mal eine unvergessliche Rede gehalten. Es ging hoch her beim Streit um die richtige Verbandsarbeit, als Rili plötzlich erregt das Wort ergriff, aber leider vergaß, dass er sein Gebiss in die Jackentasche gesteckt hatte. Seitdem weiß ich, wie viel Zischlaute es in der deutsche Sprache gibt. Wir waren einen Moment erstaunt, lachten dann, und die Situation war nach Rilis Rede wieder entspannt. Es war übrigens sachlich alles richtig, was Rili erregt und ohne Zischlaute eingeworfen hatte.

Später, ein paar Jahre nach seinem Tod, gab es eine kleine anrührende Szene. Mein kleiner Sohn, damals in der Grundschule, kam zu mir und sagte ein Gedicht auf, das er auswendig lernen musste. Es war ein Gedicht über das Meer, einfach über Nordsee, ganz ohne Agitprop, und es gefiel mir gut. „Rate mal, wer es geschrieben hat?“, fragte er mich. Ich wusste es nicht. Es war von Rili. Da fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr an ihn gedacht hatte. Und dass seine Literatur auch Facetten hatte, die ich noch nicht kannte.

2. Rudolf Trinks

Der Bergkamener Rudolf Trinks gehört nicht zu den bekannten Arbeiterdichtern. Er hat auch wenig veröffentlicht, trotzdem war er eine Zeitlang wichtig für die Dortmunder Werkstatt im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Trinks war Bergmann und füllte angesichts der vielen Studenten, zu denen auch ich gehörte, die Arbeiterlücke in der Gruppe wenigstens halbwegs auf.

Trinks war ein bescheidener Mann, immer kooperativ, hatte einen ganz stillen Humor und hielt sich gerne im Hintergrund. Einmal war er aber ganz gefordert, und diese Situation hat er glänzend gemeistert.

Wir hatten in Bergkamen mit einer Reihe von Thekenlesungen begonnen. Wenn die Arbeiter nicht zur Literatur kommen, kommt die Literatur eben zu den Arbeitern, war unsere Überlegung. Dieter Treeck, damals Kulturdezernent in Bergkamen, hatte die Idee dazu gehabt. Bei der ersten Lesung in dieser Reihe sollte auch Trinks zwei Erzählungen lesen. Geschichten aus dem Bergbau mit dem Titel „Montags morgens, sechs Uhr, Seilfahrt“, wie sie zu Bergkamen passten.

Was wir nicht beachtet hatten, war die Einstellung der Arbeiter, die am Freitagabend in Ruhe ihr Bier trinken und sich daran nicht von irgendwelchen Schreibern hindern lassen wollten. Eine Mikrophonanlage war hinter der Theke aufgebaut worden, Dieter Treeck wollte die Kneipengäste begrüßen, aber es blieb laut in der Kneipe, niemand machte Anstalten, zuzuhören. Unser schöner Versuch schien schon im Ansatz zu scheitern.

Da trat Rudolf Trinks ans Mikrophon, den die meisten Gäste als ihren Arbeitskumpel kannten. „Nun seid mal alle stille!“, sagte er ins Mikrophon. Und tatsächlich verstummten die Leute nach und nach und Trinks begann zu lesen. Er war es, der den Versuch gerettet hat, der sich später zu einer erfolgreichen Lesereihe entwickeln sollte. Meist war ja noch eine Songgruppe engagiert worden, die zwischen den Textlesungen auftrat und manche Veranstaltung später endete mit dem lauten Absingen von Arbeiterliedern.

Eine Zeitlang hatten wir sogar eine kleine Fangruppe, die zu allen Thekenlesungen kam, egal, ob sie in ihrer Stammkneipe stattfand oder anderswo. Und mit der Zeit wurde manche von diesen Zuhörern selbst richtig „literarisch“. Der Göttinger Schriftsteller Manfred Laurin las mal in Bergkamen. „Ich trage jetzt ein paar Gedichte aus meinem neuen Gedichtband vor“, sagte er und fügte stolz hinzu: „Das Buch habe ich selbst verlegt.“ „Hoffentlich hast du es auch wiedergefunden“, antwortete einer der Zuhörer. Laurin, sonst ein begnadeter Spötter über alles Mögliche, konnte darüber gar nicht lachen. Bei seiner eigenen Person hörte der Spott auf.

Trinks wohnte im Begkamener Stadtteil Weddinghofen, in direkter Nachbarschaft zu Hans Henning (genannt „Moppel“) Claer. Der war nun wirklich bekannt, und wenn sich auch mancher nicht mehr an seinen Namen erinnert, so sind doch die Titel seiner Bücher, die alle verfilmt wurden, unvergessen: „Lass jucken, Kumpel“, „Das Bullenkloster“, „Bei Oma brennt noch Licht“. Trinks hat Claers schlüpfrige Darstellung der Arbeitswelt immer abgelehnt. Ich glaube, die beiden haben kaum je ein Wort miteinander gewechselt, obwohl sie fast Haus an Haus wohnten.

Im November bzw. Dezember 2002 sind Trinks und Claer nahezu gleichzeitig gestorben, Trinks hat noch bis kurz vor seinem Tod geschrieben, aber nichts mehr veröffentlichen können. Claer war fast 15 Jahre lang durch einen Schlaganfall bettlägerig und zum Schluss ein Pflegefall.

Thekenlesungen gibt es schon lange nicht mehr. Vielleicht sind die „Poetry Slams“ der zeitgemäße Ersatz, bei dem es aber nicht mehr um politische Aufklärung, sondern weitgehend um „fun“ geht.

3. Emanuel Schaffarczyk

Der Dortmunder Emanuel Schaffarczyk ist längst vergessen. Er war für die Dortmunder Werkstatt in der Anfangsphase sehr wichtig. Viel wurde damals ideologisch diskutiert. Wir vollzogen die Brecht-Lukacs-Debatte nach, wobei ich, dies nebenbei, immer für den gut erzählten, realistischen Roman im Sinne von Lukacs war, ohne freilich dessen „Formalismuseinschränkung“ zu teilen.

Emanuel Schaffarczyks Buch "Als Fußlapp in der Klemme saß" (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Emanuel Schaffarczyks Buch „Als Fußlapp in der Klemme saß“ (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Schaffarczyk war von diesen Diskussionen unberührt, er wollte schreiben und er schrieb. Fast zu jeder Sitzung brachte er eine neue Geschichte mit, in der er die Charaktere stimmig aus der Handlung und dem geschilderten Umfeld heraus entwickelte. Seine Texte hatten Atmosphäre, ich weiß, dass ich jedesmal sehr aufmerksam lauschte, wenn er sie vorlas, weil ich das Gefühl hatte, von Schaffarczyk lernen zu können. Geschickt baute er die Beschreibung der Natur in die Handlung ein, hatte einen Blick für Details und erinnerte mich jedesmal daran, warum ich eigentlich in die Werkstatt gekommen war. Es sollte doch um Literatur gehen, freilich um realistische. Dass die Werkstatt Dortmund später zu den führenden „literarischen“ Werkstätten im Werkkreis gehörte, ist Schaffarczyks beharrlichem Verlangen zu danken, dass bei jeder Sitzung Texte besprochen werden sollten.

Allerdings neigte er zur Idylle (wie so manche Arbeiterdichter), die nach seiner Textvorstellung immer wieder zu Diskussionen in der Gruppe Anlass gab.

Irgendwann saßen wir im jugoslawischen Restaurant direkt gegenüber vom Dortmunder Hauptbahnhof. Wir sprachen lange miteinander. „Du willst doch auch schreiben“, sagte er, „lass uns nicht immer diese langweiligen ideologischen Diskussionen führen. Immer diese Politik.“ Irgendwann blieb er weg. Ein Verlust, sicher, vor allem für den literarischen Anteil unserer damaligen Arbeit.

Schaffarczyk hatte ein Ziel. Als ehemaliger Schlosser wollte er seinem Enkelkind ein richtiges, von ihm geschriebenes Buch hinterlassen. Das war sein Traum. Er hat ihn verwirklicht. Drei Bücher sind von ihm erschienen, das dritte, glaube ich, war aber ein verkappter Eigendruck. „Als Fußlapp in der Klemme saß“, ein Jugendbuch, ist aber im damals bekannten Dortmunder Schaffstein-Verlag erschienen und fand in einigen Rezensionen weit über die Stadt hinaus Beachtung. Ich glaube, Paul Polte hatte ihm den Kontakt vermittelt.

4. Kurt Piehl

Kurt Piehl habe ich erst nach meiner Werkkreiszeit kennen gelernt. Ich war damals Sprecher der VS-Bezirksgruppe Dortmund/Südwestfalen, als er dazu stieß. Er wohnte in Bergkamen, kam zu unseren Treffen in Dortmund mit dem Zug angereist, bei der Rückfahrt habe ich ihn oft mitgenommen und an der Oberadener Jahnstraße, wo er an einer Kreuzung wohnte, abgesetzt.

Wer etwas über die Edelweißpiraten erfahren will, jene Widerstandsgruppe, die im Dortmunder Norden und in anderen Städten eine freie Jugendkultur gegen die Naziideologie setzte, muss Piehls Bücher lesen. „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, sein erstes, ist auch sein wichtigstes. Lieber wollten Jugendliche wie Kurt Piehl „rumlatschen“ als für die Nazis marschieren, sie schwänzten die HJ-Veranstaltungen und gerieten mehr und mehr, nicht durch heimlich operierende Organisationen, sondern vielmehr aus eigenem, spontanen Antrieb heraus, in Opposition zu Hitler. Im Grunde sind die „Latscher“ so etwas wie die proletarische Antwort auf die bürgerlichen „Flaneure“, wie sie in den Zwanziger Jahren in der Literatur so modern waren.

Kurt Piehls Buch "Latscher, Pimpfe und Gestapo", erschienen bei Brandes & Apsel.

Kurt Piehls Buch „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, erschienen bei Brandes & Apsel.

Einige der Edelweißpiraten haben, erst sechzehn- oder siebzehnjährig, ihre Einstellung mit dem Leben bezahlt. Sie wurden hingerichtet. Piehl wurde auch gefasst und in die berüchtigte Dortmunder Steinwache gesteckt, in der vor ihm, in den Dreißiger Jahren, auch Paul Polte gesessen hatte. Piehl wurde schwer misshandelt, wovon die tiefen Narben in seinem Gesicht zeugten. Er hat über diese Misshandlungen nicht reden können, weder mit seiner Frau noch mit seiner Tochter Gabriele, die eine Schulfreundin von mir war. Er hat sich hingesetzt und aufgeschrieben, was ihm angetan worden war. Irgendwann hat ihn seine Tochter darauf angesprochen. „Ist das eine Biographie, die du da schreibst?“ Kurt Piehl hat nur genickt.

Über den Dortmunder Geschichtsprofessor Hans Müller kam das Manuskript zu Horst Hensel, der für Piehl einen Verlag besorgte, Brandes & Aspel. Dort sind noch zwei weitere Bücher erschienen, die das Schicksal der Edelweißpiraten nach dem Krieg schilderten. Jener brutale Quäler, der Piehl misshandelt hatte, ist später nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen worden, ein Vorgang, der Piehl verbittert hat. Piehl war Arbeiter in einem Baugeschäft und aktiv in der IG Bau, Steine, Erden, die seine Publikationen gefördert hat.

Wie Rudolf Trinks war er ein stiller Kollege, der selten das Wort ergriff, der die VS-Bezirksgruppe aber einmal zu einer Führung durch die Steinwache einlud und uns dort anschaulich erzählte, wie die Gefangenen unter den Nazis misshandelt wurden.

1994 folgte er seiner Tochter nach Schleswig-Holstein, zog in die Nähe von Lübeck, wo er im Jahre 2000 gestorben ist.

Eine meiner Kolleginnen am Städtischen Gymnasium Bergkamen hat im Rahmen einer Projektwoche sein Leben und seine Literatur aufarbeiten lassen. So gab es noch mal einiges an Aufsehen, Zeitungsartikel erschienen und Piehls Bücher wurden wenigstens von einigen wieder gekauft.

Jahre später hat auch die Stadt auf ihn und seine Literatur reagiert und eine kleine Straße nach ihm benannt. Zur Eröffnung der „Kurt-Piehl-Straße“ durch den Bürgermeister bin ich eingeladen worden und habe bei dieser Gelegenheit Kurt Piehls Tochter, meine frühere Schulfreundin Gabriele, nach mehr als vierzig Jahren wiedergesehen.

Die Straße liegt in unmittelbarer Nähe zum KZ in Bergkamen. Dort, im Oberlinhaus, das heute von der freikirchlichen Gemeinde genutzt wird, sind 1933 für ein Jahr über tausend politische Häftlinge von den Nazis eingesperrt und misshandelt worden. Auch ein Peuckmann war darunter, wie ich mal in einer Liste entdeckt habe. An die Nazis erinnert nur eine Gedenktafel, die den Abscheu der Bergkamener vor den verbrecherischen Taten ausdrückt. An Kurt Piehl, ihren jugendlichen Gegner, aber erinnert eine ganze Straße.




„Beschädigtes“ Mädchen: „Ewige Jugend“ – Donna Leons 25. Brunetti-Krimi

„Weh´ mir! Grausamer Gott, / Warum ließest du mich nicht sterben / Im Wasser, warum wurde ich errettet?“ In seiner Oper „Radamisto“ hat Georg Friedrich Händel die verzweifelte Todessehnsucht eines aus den Fluten geretteten Menschen in allerschönste Noten verwandelt. Ein Fingerzeig für die US-amerikanische Autorin Donna Leon, die ihre kriminalistischen Streifzüge durch ihre Wahlheimat Venedig gern mit einem aus der Opern-Literatur geborgten Motto beginnt und damit die Richtung vorgibt, in die sich ihr Commissario Brunetti bei der Lösung seines jeweiligen Falles bewegen wird.

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Aus dem Wasser gerettet, und doch mehr tot als lebendig, so steht es um Manuela, einst ein kluges und bildschönes 15jähriges Mädchen, heute ein 30jähriges Kleinkind. Denn bei dem Sturz in einen venezianischen Kanal war sie so lange im Wasser und hat sich so schwere Verletzungen zugezogen, dass in ihrem längst erwachsenen Körper die geistigen und emotionalen Fähigkeiten eines kleinen Kindes wohnen.

Ihre alte und sterbenskranke Großmutter, Contessa Lando-Continui, mag sich bis heute nicht damit abfinden und will, bevor sie das Zeitliche segnet, unbedingt Klarheit darüber erlangen, was damals wirklich geschah, ob es nur ein Unfall oder vielleicht ein Mordanschlag war. Für die Contessa ist Manuela seitdem, und sie mag das Wort kaum aussprechen, ein „beschädigtes“ Mädchen.

Und wer könnte besser Licht in die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit bringen als Commissario Brunetti? Ist er doch nicht nur jemand, der aktuelle mafiöse Machenschaften aufdeckt, sondern auch ein Faible für die Fallstricke der Geschichte hat. Denn so wie die Autorin Liebhaberin des Barock und ausgewiesene Kennerin von Händels Musik ist, wandelt eben auch ihr Commissario bisweilen auf klassischen intellektuellen Pfaden, besucht die Oper in Venedig, La Fenice, oder schmökert in den Werken der griechischen und römischen Klassiker. Das macht er natürlich auch diesmal, bei der Lösung seines 25. Falles, in einem Roman, dem Donna Leon den Titel „Ewige Jugend“ gegeben hat.

Immer das gleiche, kaum variierte Spiel

Euripides und dessen „Medea“ liegen gerade auf Brunettis Nachttisch. Aber ob und was das Drama um die von ihrem Gatten betrogene und von ihrer Heimat entwurzelte Fremde mit dem Schicksal von Manuela zu tun hat, sollte jeder Leser selbst herausfinden. Das gehört schließlich zum literarischen Spiel, das Donna Leon nur allzu gern in Gang setzt, um den Ausflügen in mörderische menschliche Abgründe einen ironischen intellektuellen Überbau zu geben.

Zum irgendwie immer gleichen, nur leicht variierten Spiel gehört auch, dass Brunetti zu Hause mit Gattin Paola bei köstlichem Essen und gutem Wein über die Verrücktheiten der Moderne diskutiert und sich über die touristische Verwüstung der Lagunenstadt erregt. Klar ist auch, dass sein Vorgesetzter, Vice-Questore Patta, dem Commissario Steine in den Weg legt. Und dass Computerspezialistin Signorina Elettra aus den Untiefen des Internets wichtige Informationen empor zieht.

Neu ist aber, dass Brunettis Kollegin, Claudia Griffoni, jetzt eine so dominierende Rolle spielt. Inspektor Vianello dagegen läuft diesmal nur am Rande mit. Aber um das Vertrauen von Manuela zu erlangen, braucht es halt keinen kauzigen Kerl, sondern eine einfühlsame Frau. Zumal eine, die, wie einst Manuela, einen Hang zu Pferden hat und weiß, wie man hoch zu Ross sitzend auf die schnöde Welt herunter blicken kann. Denn genau das ist die Welt: schnöde, banal und hundsgemein.

Manuelas Retter, der sie aus dem Wasser zog, ist ein schwerer Säufer, will sein Wissen mit Geld veredeln und unterschreibt damit sein eigenes Todesurteil. Und der Mann, der Manuela „beschädigte“ und jetzt zum Mörder wird… Ach nein, dass wollen wir lieber nicht verraten.

Fazit: Auch dieser Fall ist als Krimi nicht besonders aufregend, aber unterhaltsam und literarisch filigran in Szene gesetzt.

Donna Leon: „Ewige Jugend. Commissario Brunettis fünfundzwanzigster Fall.“ Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Diogenes, Zürich 2016, 324 S., 24 Euro.

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Fakten über die Autorin:
Donna Leon, geboren 1942 in Montclair/New Jersey, lebt seit 1981 in Venedig. Bevor sie Erfolgsautorin wurde, arbeitete sie als Reiseleiterin, Werbetexterin und Lehrerin, lebte in der Schweiz, im Iran, in China und in Saudi-Arabien.
Ihren ersten Brunetti-Roman veröffentlichte sie 1992 („Venezianisches Finale“), seitdem ist jeder neue Venedig-Krimi ein internationaler Bestseller.
Weil Donna Leon ein normales Leben in Venedig führen möchte, erscheinen ihre Romane nicht in der Sprache ihrer Wahlheimat Italien. Donna Leon ist Liebhaberin klassischer Musik, weiß alles über Georg Friedrich Händel und unterstützt zwei musikalische Barock-Ensembles. Fast alle Brunetti-Krimis laufen als TV-Verfilmungen im deutschen Fernsehen.




Der Zufall bestimmt das Drama der Existenz – Judith Hermanns Erzählband „Lettipark“

Ein trister Herbstmorgen auf dem Land. Bei den Großstadtflüchtlingen werden die Kohlen für den Winter angeliefert und auf die Wiese des ehemaligen Bauernhofes gekippt. Da kommt der vierjährige Vincent auf seinem Fahrrad vorbei. Vincents Vater hat sich davon gemacht, seine Mutter ist an gebrochenem Herzen gestorben.

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Doch der kleine Junge lässt sich nicht unterkriegen, er strahlt vor Lebensfreude und will jetzt unbedingt helfen, die Briketts in den Schuppen zu verfrachten, „und wir nahmen die Kohlen aus seinen kleinen schmutzigen Händen entgegen wie Hostien.“ Mit diesen Worten, die zum Weinen schön sind und ganz knapp am Kitsch vorbei segeln, endet „Kohlen“, die erste von 17 Erzählungen, die Judith Hermann unter dem Titel „Lettipark“ versammelt hat: literarische Miniaturen, traumwandlerische Spaziergänge durch schnappschussartig erfasste Lebensumstände von Menschen, die nur schemenhaft am Horizont erscheinen und gleich wieder aus dem Sichtfeld verschwinden.

Hier weist uns Judith Hermann auf einen melancholischen Blick hin, dort auf eine zarte Berührung, eine peinliche Wiederbegegnung, eine schmerzliche Erkenntnis. Ein Ehepaar kann nicht miteinander, aber auch nicht ohne einender leben. Eine junge Frau hat zwei wunderbare Kinder, aber keinen Partner, keinen Job und keine Zukunft. Zwei Frauen, als Studentinnen unzertrennlich, haben sich, als sie sich nach Jahren wieder treffen, nichts mehr zu sagen.

Und der Lettipark? Eine öde, trostlose Brache am Stadtrand: Elena und Rose, die sich zufällig in einem Supermarkt begegnen, haben dort ihre Jugend vertrödelt, sich in hübsche Jungs verliebt und in die weite Welt hinausgeträumt. Lange her. Nur noch ein fernes Echo von etwas längst Vergessenem: Was wollten wir, und was ist aus uns geworden?

Mit den filigranen Erzählungen ihres literarischen Debütbandes, „Sommerhaus, später“, hatte die 1970 in Berlin geborene Judith Hermann die Ambivalenz ihrer zwischen nervösem Aufbruch und melancholischer Fortschrittsverweigerung eingeklemmten Generation poetisch gefasst. Ihre an der US-amerikanischen Short Story und vor allem an der larmoyanten Präzision eines Raymond Carver geschulte Erzählkunst hatte etwas erschreckend Geniales und zugleich gefährlich Frühreifes.

Alles, was dann kam, die Erzählbände „Nichts als Gespenster“ und „Alice“ sowie der Roman „Aller Liebe Anfang“, hatte etwas leicht Verkrampftes. Sie erinnerten an Versuche einer Sängerin, den Ton eines Songs zu treffen, der ihr entglitten war. Doch jetzt, mit „Lettipark“, knüpft Judith Hermann an die prosaische Qualität früherer Tage an und beweist sich als ein Solitär in der deutschsprachigen Literaturlandschaft.

Wohl niemand sonst kann hierzulande mit wenigen Worten ein ganzes Universum aus Gefühlen und Gedanken zeichnen, den Leser in eine Geschichte verwickeln, die wir uns selbst erklären und zu Ende erzählen müssen. Judith Hermann deutet nur an, spart das Wichtigste oft aus, lässt Raum für Fantasie.

Wie in Hemingways „Eisberg-Theorie“, wonach das Meiste unter der (Wasser-)Oberfläche versteckt und unerzählt bleibt, gönnt uns auch Judith Hermann nur einen kurzen Moment, um die verfahrenen Situationen zu erfassen und die oft sprachlosen Menschen kennenzulernen: den Mann, der Fotos von Operationen am offenen Hirn schießt; die Frau, die von einem Tag am Badesee und dem Verlust einer großen Liebe berichtet; den Jungen, der, wie in einem archaischen Ritual, ein Foto verbrennt, das ihm eben noch lebenswichtig war.

In einem einzigen Moment kann sich alles ändern. Der Zufall bestimmt das Drama unserer Existenz. Was geschieht eigentlich, wenn wir jemandem begegnen? Und wie können wir mit Worten das Unergründliche benennen? Judith Hermann erzählt davon, ganz nebenbei und nahe am Verstummen.

Judith Hermann: „Lettipark“. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt. 189 Seiten, 18,99 Euro.




„Nichts als gegeben hinnehmen“ – Der Schriftsteller Max von der Grün wäre jetzt 90

Unser Gastautor Horst Delkus aus Kamen (u. a. Ex-Wirtschaftsförderer von Unna, Bildhauer und Historiker) erinnert an den Schriftsteller Max von der Grün, der vor 90 Jahren geboren wurde und 2005 in Dortmund gestorben ist:

Er war ein Zugereister. Wie viele im Ruhrgebiet. Auch hat er im Bergbau gearbeitet, auf Zeche Königsborn in Kamen. Dann wurde er als freier Schriftsteller erfolgreich.

Er lebte in bescheidenen Reihenhäusern, erst in Kamen-Heeren, danach im äußersten Nordostzipfel von Dortmund, in Lanstrop. Im „alten Dorf“, in der Bremsstraße. Mit Kneipe um die Ecke, bei „Ötte“ in der „Alten Post“, wo sich heute ein Steakhouse befindet. Max von der Grün war in Lanstrop zuhause. „Leben im Ruhrgebiet“, schrieb er 1979 im „Spiegel“, „heißt für mich: Leben in einem Vorort.“ Soweit es seine Zeit zuließ, beteiligte er sich auch am kulturellen und gesellschaftlichen Leben in Lanstrop. Max von der Grün war ein Lanstroper, mit Abstand der berühmteste.

Der Schriftsteller Max von der Grün (© Pendragon Verlag/Jennifer von der Grün - https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AMax_von_der_Gr%C3%BCn.jpg - Lizenz:

Der Schriftsteller Max von der Grün (© Pendragon Verlag/Jennifer von der Grün – https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AMax_von_der_Gr%C3%BCn.jpg – Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Rund 30 Bücher hat er geschrieben, zunächst vor allem über die Arbeit unter Tage: „Männer in zweifacher Nacht“ (1962) erschienen zuerst im katholischen Paulus-Verlag. Über „Irrlicht und Feuer“ (1963) sagte der damalige Vorsitzende der Bergarbeitergewerkschaft – und spätere Bundesarbeitsminister – Walter Arendt, das Buch sei „gewerkschaftsfeindlich“ und gehöre „verbrannt“…

Max von der Grün schrieb Gastarbeiterportraits über das „Leben im gelobten Land“ (1975). Und natürlich das Kinder- und Jugendbuch „Vorstadtkrokodile“ (1976). In „Späte Liebe“ (1982) geht es um eine Liebesromanze zwischen zwei älteren Menschen. Ein literarisches Denkmal für seine Mutter.

Früh vor Rechtsradikalen gewarnt

Nicht zu vergessen die autobiografischen Texte, zum Beispiel „Wie war das eigentlich? – Kindheit und Jugend im Dritten Reich“ (1979). Das Buch endet mit Sätzen, die heute geschrieben sein könnten: „Leider gibt es diese Unbelehrbaren immer noch. Ich fürchte, sie haben sich nie informiert oder sie wollen sich nicht informieren lassen. Über alte und neue rechtsradikale und neofaschistische Kräfte liest man heute beinahe wieder jeden Tag in den Zeitungen. Viele nehmen das nicht so ernst, weil es, wie sie meinen, nur eine kleine verschwindende Minderheit sei. Aber Hitler hat auch nur mit sieben Leuten angefangen.“ In „Flächenbrand“ machte Max von der Grün schon 1979 die Bewaffnung der Rechtsradikalen zum Thema.

1988 erschien das Bändchen „Das Revier. Eine Liebeserklärung.“ Darin steht die vielleicht beste Kurzfassung der Geschichte des Ruhrgebietes: “Es kamen Männer, sie teuften einen Schacht ab. Später kamen wieder Männer und bauten nahe des Schachtes ein Hüttenwerk. Um beides zu betreiben, brauchte man Menschen. Die Menschen aber brauchten Wohnungen. So entstanden um Schacht und Hütte Häuser, die man Zechensiedlung oder Werkswohnung nannte, so entstanden die Vororte und Kleinstädte, die letztlich zu Großstädten wuchsen, später wiederum wuchsen die Großstädte zu einer einzig großen Stadt zusammen…“

Immer wieder flocht von der Grün Erlebnisse und Bebachtungen aus seinem Vorort Lanstrop ein. Zum Beispiel in den Erzählungen von „Friedrich und Friedrike“ (1983): „Hinter der Siedlung `Neue Heimat`, in der sie wohnten, lag ein See, der vor mehr als zwanzig Jahren, als unter Tage noch Kohle abgebaut wurde, durch Bodensenkung entstanden war. Er war nicht allzu tief, aber so groß, daß im Winter, wenn der See zugefroren war, mehr als tausend Leute auf dem Eis Schlittschuh laufen konnten, ohne sich gegenseitig zu behindern. Der See war fischreich, ein Fischerverein pflegte und hegte ihn und setzte, wenn nötig, neue Brut aus: Forellen, Barsche und Aale.“

Max von der Grüns Werke wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Allein in Deutschland erreichten seine Bücher eine Gesamtauflage von über 4 Millionen Exemplaren. Elf seiner Werke wurden erfolgreich von ARD und ZDF verfilmt.

Gegen jede Korruption

Die Protagonisten seiner Romane und Erzählungen waren – wie er selbst – Moralisten, Menschen mit einem aufrechten Gang. Korruption und Kumpanei von Gewerkschaft und Sozialdemokratischer Partei sind dort ebenso Thema wie Schilderungen des Lebens als Arbeitsloser in Zeiten, als noch niemand Hartz IV kannte. Max von der Grün beschrieb das Leben der Erniedrigten und Beleidigten, der vielzitierten „kleinen Leute“. Bedenkenswert sein Ausspruch: „Es gibt nicht nur den lesenden Arbeiter sondern auch den nicht-lesenden Akademiker“. Von der Grüns Motto lautete: „Nichts als gegeben hinnehmen.“

Geboren wurde Max von der Grün vor 90 Jahren, am 25. Mai 1926, als Sohn eines Schuhmachers in Bayreuth. Nach seinem Schulbesuch, einer kaufmännischen Lehre und drei Jahren in amerikanischer Kriegsgefangenschaft zog er 1951, weil arbeitslos, ins Ruhrgebiet. Von 1951 bis 1964 arbeitete er bis zu seinem Rausschmiss als Bergmann auf Zeche Königsborn II/V in Kamen-Heeren.

Er starb am 7. April 2005 im Alter von 78 Jahren an einer Herzerkrankung, an der er schon länger litt. Zu seiner Trauerfeier in der Friedenskirche kam so viel Prominenz nach Lanstrop wie nie zuvor. Auf seinen Wunsch erklang „I did it my way“ von Frank Sinatra.

Dortmunder Platz trägt seinen Namen

Der Verfasser dieser Zeilen regte 2006 an, die Lanstroper Straße in Dortmund-Lanstrop – eine Durchgangsstraße – in „Max-von-der-Grün-Straße“ umzubenennen. Begründung: „Der Schriftsteller Max von der Grün (1926 – 2005) zählt zu den bedeutendsten Bürgern der Stadt Dortmund, des Stadtbezirks Scharnhorst und vor allem des Stadtteils Lanstrop. Mit der Umbenennung der Lanstroper Straße in ,Max-von-der-Grün-Straße‘ wird nicht nur ein bedeutender Schriftsteller, Humanist und Aufklärer geehrt, sondern auch der Stadtteil Lanstrop und der Stadtbezirk Scharnhorst nachhaltig aufgewertet.“

Die Bezirksvertretung Scharnhorst (mit satter SPD-Mehrheit) lehnte dies am 5. Dezember 2006 ab – mit der Begründung, man solle lieber „eine Straße mit überörtlichem Charakter oder einen Platz im Zentrum der Stadt“ nach ihm benennen. Der Vorgang wurde an den Rat der Stadt Dortmund verwiesen. Wie zu erwarten, passierte erst einmal nichts. Fünf lange Jahre.

Nach kontroverser Diskussion um einen geeigneten Ort beschloss die Bezirksvertretung Innenstadt-West dann im November 2011, den „Platz“ zwischen Dortmunder Hauptbahnhof und Katharinentreppe – an dem die Stadt- und Landesbibliothek steht und wo sich vor vielen Jahren noch ein Teich befand – Max-von-der-Grün-Platz zu nennen. Das Straßenschild wurde am 20. Dezember 2011 von Jennifer von der Grün, der Witwe des Schriftstellers, enthüllt. Ein Denkmal für Max von der Grün war ebenfalls versprochen und angekündigt. Es steht dort bis heute nicht.