Edler Ton: Der Geiger Daniel Hope mit Elgars Violinkonzert in Essen

Entfesselung, Verklärung, Apotheose? Ja, schon. Aber Alexander Skriabin, der kühne Eigenbrötler unter den russischen Komponisten, wollte sein „Poème de l’extase“ nicht nur schöngeistig aufgefasst wissen.

Anspannen, aufheizen, explosives Entladen: Skriabin fasste das in eine vor hundert Jahren als extrem, verrückt und manchmal auch zu offensichtlich körperlich-erotisch eingeschätzte Musik. Noch heute weckt das musikalisch frei dem Klang und dem Rausch huldigende Werk von 1908 Bewunderung. In der Philharmonie Essen wurde es als Krönung des Konzerts des russischen Nationalorchesters mit Bravorufen quittiert.

Dabei war kaum Anlass für Jubel. Denn der Orchestergründer und Dirigent Mikhail Pletnev, einst ein hoffnungsvoller Pianist, fährt die Ekstase zwar mit grandiosem Fortissimo auf. Aber er bereitet sie nicht vor. Aus dem lyrisch-entspannten Beginn des Werks führt keine drängende Energie, kein unausweichlicher Bewegungsimpuls zur unvermeidlichen Entladung, sondern eine Abfolge sauber gestaffelter Zustände. Das selige Verströmen hin zum triumphal aufwachsenden Schluss legt die Vermutung nahe, dass sich Pletnev im Lyrischen mehr zu Hause fühlt als im Ekstatischen.

Rachmaninows „Toteninsel“ bestätigt das im Rückblick: Sinnig formt Pletnev den wiegenden Rhythmus, die allmähliche Steigerung, den gelassenen Gesang der Violine und Oboe. Aber untergründige Spannung will nicht aufkommen; dramatische Zuspitzung bleibt flach. Auch das Orchester hat seine Schwächen: Der düstere Höhepunkt mit dem Eintritt der Pauken bleibt klanglich ungefasst und spröde.

Mit Daniel Hope, dem britischen Geiger, brachten die Russen einen Trumpf mit: Sein verhaltener, nie zu brillant nach außen gekehrter Ton veredelte Edward Elgars Violinkonzert mit schier unendlichen, schmerzhaft schön erfüllten Linien. Die raschen Momente geraten Hope manchmal zu hastig – so, als wolle er schnell zur nächsten innerlichen Versenkung forteilen. Die russischen Orchestermusiker erfüllten mit dunkel-gerundeten Holzbläsern und dezenten Streichern ihre sensible Partnerrolle mit Bravour. So geriet der Auftakt schon zum Höhepunkt dieses Gastspiels. Seine Zugabe, Ravels „Kaddisch“, widmete Hope dem vor kurzem verstorbenen Hans Werner Henze.

(Der Bericht ist zuerst in der WAZ Essen erschienen)




Festival „Now!“: Neues von Hauschka auf Zollverein

Hauschka. Foto: Zollverein

Hauschka. Foto: Zollverein

Was ist das für ein Stil? Der „Spiegel“ hat sich Gedanken gemacht, als das Album „Silfra“ erschien, auf dem Hauschka gemeinsam mit der amerikanischen Geigerin Hilary Hahn improvisierte. Neo-Klassik? Post-Klassik? Oder spielt der Düsseldorfer Pianist, der durch sein „präpariertes Klavier“ bekannt wurde, so etwas wie Indie-Rock oder Post-Rock? Für Volker Bertelmann – so heißt Hauschka „bürgerlich“ – sind solche Zuordnungen egal: Er bezeichnet seine Musik als „zeitgenössisch“ und lässt es damit gut sein. Wer die Probe aufs Exempel machen will: Am Donnerstag, 15. November, ist Hauschka auf Zollverein zu Gast: Schacht XII, Halle 12, 20 Uhr.

Auf der Suche nach „seiner“ Musik hat Hauschka seine zehnjährige Klavierausbildung wiederentdeckt. Dass ein Klavier mehr können müsste als durch gepflegten Anschlag und Pedalgebrauch herauszulocken sei, forderte den Musiker heraus, als er Anfang des Jahrtausends über neue Wege nachdachte. Rock, Hip Hop, Singen in Bands: Das hatte er hinter sich, als er 2005 „The Prepared Piano“ aufnahm. Sein Klavier peppte er dafür auf, mit Leder, Filz oder Gummi zwischen den Saiten, mit folienumwickelnden Hämmerchen oder Klammern.

Das Ergebnis waren neue, wundersame Klänge, mal geräuschhaft, mal sphärisch wie von Elektronik verfremdet. Hauschka wurde in der Indie-Szene wahrgenommen als jemand, der das Experiment mit dem Klang aus einem fundierten musikalischen Hintergrund speist. „2004, als ich mit ‚Substantial‘ meine erste Platte herausbrachte, war ich mit Max Richter und zwei, drei anderen einer der wenigen in der Indie-Szene mit einem ernsthaften Musikanspruch.“ Hauschka hatte Erfolg: Acht Alben seit 2004, Filmmusiken und das Impro-Album „Silfra“ mit Hilary Hahn (2012) zeugen davon.

Wie kommt Hauschka in ein Programm wie das des Festivals „Now!“? Wo ist er verortet zwischen Luigi Nono, Helmut Lachenmann, György Ligeti, György Kurtág oder Bernd Alois Zimmermann? Hauschka bezieht sich nicht auf klassische Musik: „Die Berührung beschränkt sich auf das Instrument und vielleicht auf ein paar Zitate. Es gibt Szenarien von Klängen, die vielleicht mit Schostakowitsch in Verbindung gebracht werden können.“ Konzept oder Programm ist das nicht, auch wenn ihn manche mit Erik Saties Klang-Experimenten oder mit der amerikanischen Minimal Music in Berührung bringen. Mit Hilary Hahn, die sich sonst von Bach bis Barber bewegt, war er sich einig: „Wir wollten kein Album machen, das in der Klassik verortet ist.“

Hauschka fühlt sich wohl im Umfeld der zeitgenössischen Musik, wie sie das Festival „Now!“ vorstellt. Er sieht in den letzten Jahren einen Wandel: Die „klassische“ Szene sei viel weniger starr als noch vor einigen Jahren; die Suche nach einer neuen Identität lasse frühere Grenzen verschwimmen. Auch seine Zuhörer sieht er auf diesem Weg: „Mein Publikum ist auf der Suche nach Musik über Pop und Klassik hinaus. Es sucht ein neues Erlebnis und hat das Gefühl: Was ich hier mache, ist zeitgemäß.“

Dass er sich der Tonalität verpflichtet fühlt, könnte Vielen eine Brücke zum Neuen sein: „Ich glaube, das eröffnet einem größeren Kreis die Möglichkeit, sich mit neuer Musik zu beschäftigen.“ Bei seinem Festival „Approximation“, das er seit 2005 in Düsseldorf veranstaltet, beobachtet er, wie sich ein neues Publikum entwickelt: Klassik, experimentelle Elektronik und Independent Music überlagern sich und erschließen sich gegenseitig. „Das empfinden die Konzertbesucher als zeitgemäß.“

Hauschka sieht darin auch einen Teil seiner Erfolgsgeheimnisses: „Klassische neue Musik mit Anspruch bringt sich oft selbst in eine Ecke, aus der es schwer ist, sich locker zu präsentieren.“ Von Zuschreibungen unbelastet, fällt ihm das leichter. Hauschka ist froh, nicht mit Größen wie etwa John Cage verglichen zu werden. „Hätte ich damals, als ich anfing, Cage gekannt, hätte ich mich wohl nicht an das präparierte Klavier gesetzt.“

Beim Blick in die Zukunft geht der Trend für den Klavierkünstler in Richtung Komposition, weniger in Richtung neuer Experimente. „Ich habe das Gefühl, meinen bisherigen Klangkosmos auszutarieren.“ Weiterführende Entwicklungen hat es ja schon seit 2010 gegeben: In jenem Jahr erschien das Album „Foreign Landscapes“, auf dem das präparierte Klavier seine bisherige Solo-Funktion verliert. Hauschka schrieb erstmals Musik für ein zwölfköpfiges klassisches Ensemble vollständig auf. 2011 auf „Salon des Amateurs“ – mit vielen Bezügen zu moderner Tanzmusik – übernimmt das Klavier die Rolle eines Rhythmusinstruments. „Musik definiert in ein Notenbild zu bringen, war für mich ein spannender Versuch. Ich fragte mich, ob das die Magie der Musik wegnimmt.“ Hauschka schwebt vor, „dass sich Improvisation und Notation die Hand geben“.

Eine neue Erfahrung war für ihn auch, eine 18 Minuten lange Musik für ein klassisches Ensemble zur Inszenierung von „Puppen“ (Kevin Rittberger, Premiere Dezember 2011) für das Düsseldorfer Schauspielhaus zu schreiben. Am Frankfurter Schauspiel läuft weiterhin Kleists „Die Marquise von O.“ mit Hauschkas Musik, eine Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, ebenfalls in der Regie Rittbergers. „Dieses Format reizt mich“, bekennt der Musiker, „und ich möchte gerne mal 45 Minuten Musik komponieren, ohne das Gefühl zu haben, nach zehn Minuten mit meinem Geschirr zu Ende zu sein.“

Jetzt hat Hauschka erst einmal eine neue Filmmusik abgeschlossen: „Schnee von gestern“ heißt der israelische Dokumentarfilm der Filmemacherin Yael Reuveny, für den er mit einem Streichquartett zusammengearbeitet hat. Mit Musikern aus Kenia hat er eine neue Platte aufgenommen, die 2013 erscheinen soll. Zwei Tourneen werden ihn in die USA führten, wo er unter anderem am Massachusetts Institut of Technology (MIT) zu einer Lecture eingeladen ist. Ein solches Workshop hat Hauschka vor kurzem erst an der Folkwang Hochschule der Künste gehalten. Außerdem liegen mehrere Angebote für Filmmusiken vor. Man wird also von Hauschka hören – nicht nur im Konzert auf Zollverein, wo er am präparierten Klavier improvisiert.

Festival „Now!“: zurücknachvorn: Hauschka – Solo am präparierten Klavier. Donnerstag, 15. November, 20 Uhr, Zeche Zollverein, Schacht XII, Halle 12. Tickets: (0201) 81 22 200, www.zollverein.de




Meilensteine der Popmusik (21): Bruce Springsteen

Eine Mischung aus Elvis und James Dean, mit der Botschaft des jungen, zornigen Bob Dylan. Ein PR-Zombie – oder doch die „Zukunft des Rock’n’Roll“? So nämlich hatte ihn ein US-Kritiker hochgelobt, und seinen Spruch flugs für 50.000 US-Dollar an die Platten-Company verscherbelt. Wer war dieser neue Rebell Mitte der 70er?

Bruce Springsteen ist irisch-italienischer Abstammung und kam in New Jersey zur Welt. Er wuchs auf im spießigen Mief des US-Kleinbürgertums. Da waren die ungeliebten Sonntagsausflüge mit der Familie, und die Bewunderung für Vaters Achtzylinder. Die Schule war ein Graus. Viel später zog Bruce in einem Song ganz kurz Bilanz: „Von einer 2 1/2 Minuten-Single lernte ich mehr als von all´ meinen Lehrern …“ Diese Single war damals von den Beatles, und wurde so etwas wie ein Lebensmotto für Bruce Springsteen: „Twist and shout!“

Aber vorher kam noch die erste heimliche Liebe – unten am Fluss. Immer, wenn Bruce, der Teenie, dann spät nach Hause kam, warteten in der Küche noch die Eltern. Bruce hatte sich schon vorsorglich seine etwas zu langen Haare hinter den Kragen gesteckt, denn er wusste, dass sein Vater ihn, wie immer, ansprechen würde: „Was denkst du eigentlich, was du aus deinem Leben machst?“

Dann kam eines Tages der Musterungsbescheid. Bruce wurde nicht genommen. Nur seine Freunde flogen nach Vietnam. Einige kamen zurück, viele blieben dort. Fast 20 Jahre später besang Bruce Springsteen dieses Leben. Sein Leben und das vieler Amerikaner dieser Generation. Und wir fragten uns: Ist er nun ein Patriot oder ein Revoluzzer?

„Born in the USA“ zeigte schon auf dem Cover Flagge: Stars and Stripes, dazu Blue Jeans, Boots und Baseball-Cap. Willkommen im Schlaraffenland. Doch die Songs klärten auf: über die neue Depression, die Wunden des Vietnam-Krieges, Arbeitslosigkeit und die Not der armen Farmer des weiten Westens. Seine Abrechnung ließ keinen aus, weder Eltern, noch Politiker. Und auch die alten Freunde nicht, die mittlerweile angepasst deren Plätze übernommen hatten. Amerikas Jugend war begeistert und zog tausendfach mit Sternenbanner in seine Konzerte, die wie eine Mischung aus feierlicher Messe und ausgelassener Party zelebriert wurden. Dass seine Botschaft nicht nur rein amerikanisch war, bemerkte man bei seinen weltweiten Konzerterfolgen.

Diese LP mit allein sieben Single-Hits hat Bruce Springsteen zum Weltstar gemacht. Und hier – außerhalb der USA – wurde das Urteil dann auch objektiver. Er ist beides: Patriot und auch ein wenig Revolutionär, in erster Linie aber Rock‘ n‘ Roller ! Für seine eingeschworenen Fans ist es bis heute noch einfacher: Bruce hat immer Recht. Er ist „der Boss“.

Bruce Springsteen on vimeo




Monument, Witz, Spiel und Schönheit: Neue Musik für Orchester beim Festival „NOW!“

Jörg Widmann, Komponist des "Lied" für Orchester (2003/2009). Foto: Marco Borggreve

Jörg Widmann schreibt ein „Lied“ für Orchester und begibt sich dabei auf die Spuren österreichisch-schubertscher Melodienseligkeit sowie der musikalischen Brüche eines Gustav Mahler. Der Finne Magnus Lindberg, einst Propagandist des markigen „Sibelius ist tot!“, arbeitet mit kleinen tonalen Zentren, mit Inseln des Minimalismus und poppiger Rhythmik. Der Franzose Gérard Pesson wiederum liebt es gleich zitatengewaltig: Mahler, Bruckner, Messiaen. Schließlich der Italiener Salvatore Sciarrino: Sein Flötenkonzert liebäugelt mit einer traditionellen Gattung unter Verwendung von Lauten, die der Natur entlehnt zu sein scheinen.

So viele Blicke zurück – und doch reden wir von neuer Musik. In Form von großorchestralen, teils verdichteten, teils fragil aufgehellten Klangfeldern. Zu hören beim „NOW!“-Festival (in) der Essener Philharmonie. Gleichwohl verweigert sich das Avantgardistische nicht althergebrachten (bis heute gültigen?), uns passend erscheinenden Titeln. Lindbergs „Corrente II“:  Vom Monumentalen. Sciarrinos „Frammento e Adagio“: Vom Witz. Pessons „Aggravations et final“: Vom Spielerischen. Und Jörg Widmanns „Lied“: Von der Schönheit. Allesamt Tönendes, das eben mehr ist denn der konstruktive Umgang mit dem musikalischen Material.

Lindberg lässt es fließen. Aus düsterem Urgrund heraus, mit dumpfen Schlägen und Rasereien in tiefen Lagen, mit wilden Figurationen in wabernden Klangflächen. Ein archaisches Stück Musik, fast immer sich nervös artikulierend, nur bisweilen lichter, ruhiger dahingleitend. Insgesamt aber gibt sich Lindberg dem Rausch hin, bis zum Schlussklang, der wie eine volltönende Orgel anmutet.

Der Dirigent Brad Lubman. Foto: Erich Camping

Sciarrinos Flötenkonzert könnte gegensätzlicher kaum sein. Von fragiler Faktur, wie ein Dialog von Vögeln im sphärischen Raum. Denn der etwas affektiert virtuose Solist Michael Faust entlockt seinem Instrument weit mehr Pfeifgeräusche als Tonfolgen, oft im Austausch mit den Orchesterflötisten. Das wirkt erheiternd, gelegentlich auch monoton. Doch wie der Komponist sich mehr und mehr Stillstand und Stille erarbeitet, das Material entmaterialisiert, ist zugleich von großer Kraft.

Der Franzose Pesson wiederum setzt in seinem Stück vor allem aufs Geräusch. Es wird geschabt, gekratzt, geklopft, teils im Maschinenrhythmus, teils quirlig, wirbelig – als würde jemand am Radio knopfdrehend durch die Sender huschen. Dann tönt Mahlers Adagietto auf oder ein Bruckner-Scherzo. So wird der Orchestermusiker, hier sind es die Mitglieder des WDR Sinfonieorchesters Köln unter Brad Lubmans pointierter Leitung, zum Homo ludens. Technisches Können trifft auf muntere Spielfreude.

Jörg Widmann aber ist es überwiegend ernst. Er pflegt in Anlehnung an Schubert und Mahler die melodische Schönheit, die Kraft des Hymnus, allerdings auch die schmerzvolle Zerrissenheit zweier Künstlerseelen, der Hang zum Morbiden inklusive. Immer aber funkt der Vertreter der Moderne mit wilden Ausbrüchen oder enervierenden Klangschichtungen dazwischen. Herbe Schläge hier, sphärisches Erstarren dort. Und erneut macht sich die aus dem Hören gewonnene Erkenntnis breit, dass ein Neuerer ohne das Alte auf verlorenem Posten stünde.

Das mehrteilige Festival “NOW!” wird fortgesetzt mit einem Konzert am 9. November in der Folkwang Universität der Künste, Neue Aula (20 Uhr). 

Karten unter Tel.: 0201/8122-200

www.philharmonie-essen.de

 

 




Die Violine als Wundervogel: Carolin Widmann ist Residenzkünstlerin in Duisburg

Carolin Widmann (Foto: Marco Borggreve)

Ein musisch derart hochbegabtes Geschwisterpaar wie Jörg und Carolin Widmann hat es in Deutschland wahrscheinlich seit Felix und Fanny Mendelssohn nicht mehr gegeben.

Seit Bruder und Schwester in ihrem Münchner Kinderzimmer große Opern von Mozart und Puccini mit Stofftieren nachspielten, entwickelten sie sich zu leuchtenden Exponenten des modernen Musiklebens: Jörg zum überragenden Klarinettisten und vielfach ausgezeichneten Komponisten, dessen Werke in aller Welt gespielt werden, Carolin zur nicht minder gefragten Violin-Virtuosin, deren CD-Einspielungen mit Kritikerlob und Preisen nachgerade überschüttet wurden.

Was diese Geigerin so ungewöhnlich, ja einzigartig macht, ist in der aktuellen Konzertsaison in Duisburg zu erleben. Als Residenzkünstlerin der Duisburger Philharmoniker ist Carolin Widmann bis zum 9. Juni 2013 in insgesamt vier Konzerten zu erleben. Als Solistin und Kammermusikerin wird sie Zeitgenössisches gleichberechtigt neben Werke der Romantik und der gemäßigten Moderne stellen. Die 36-Jährige mit dem roten Haarschopf ist eine, die gerne Vorbehalte ausräumt, die das Publikum für moderne Klänge zurück erobern möchte. Sie will möglichst vielen Menschen näher bringen, was ihr von Kindheit an selbstverständlich ist.

Das mag nach einer Mission klingen. Aber Carolin Widmann wirkt weder lehrerhaft noch verbissen. Zum Auftakt ihrer „Residency“ begegnet uns im Lehmbruck Museum eine quirlige und lebensfrohe Künstlerin, die sich mit Verve und hellwachem Geist für die Musik unserer Zeit einsetzt. Vor einem interessierten Kreis spielt sie im Museumsfoyer „Solo allein“: Ein Programm mit hoch virtuosen Solo-Stücken, musikalisch gehaltvoll genug, um als Meisterwerke der Violinliteratur gelten zu dürfen. Vom ersten Ton an ist bei ihr klar, dass diese nicht isolierte Inseln im Meer der Musikgeschichte sind, sondern dass sie durch klare Traditionslinien verbunden sind, umflossen vom gleichen Strom der Zeit. Die Schauspielerin Isis Krüger ergänzte den Abend durch die Rezitation von Gedichten Else Lasker-Schülers.

Widmann beginnt mit Salvatore Sciarrinos „Capricci“ für Solo-Violine, die sich unter ihren Händen so frappant als Reaktion auf die Capricen von Paganini erweisen, dass sich ein freudiges Wiedererkennen in das Staunen mischt. Sie jagt Sciarrinos Klangsplitter aufeinander, witzig und gefährlich, blendend virtuos und doch mit größter Natürlichkeit. Ihre wertvolle Guadagnini-Geige verwandelt sich unter ihren Händen in einen Wundervogel, der tiriliert und flötet, zwitschert, keckert und flirrt. Selbst in Ausbrüchen, die das Nebengeräusch nicht scheuen, bleibt ihr Spiel sinnlich und vielfarbig.

Blitzsauber und technisch tadellos meistert die Geigerin dann die berühmte Sonate „Obsession“ von Eugène Ysaye, die Bach-Zitate mit dem mittelalterlichen „Dies irae“-Motiv der lateinischen Totenmesse verschränkt. Dabei geht es ihr nicht so sehr um die Demonstration geigerischer Opulenz. Widmann beweist ein untrügliches Gefühl für Atmosphäre, lässt die „Malinconia“ trüb dahin fließen, entzückt durch volltönende Akkorde und öffnet durch den Einbruch des dämonischen „Dies irae“-Motivs immer wieder Abgründe. „Les Furies“ hinterlassen bei ihr Eiseshauch und Schwefelgestank.

Umgeben von einem Halbkreis aus 8 Notenständern beschließt sie den Abend mit den selten im Konzertsaal aufgeführten „Anthèmes II“ von Pierre Boulez, die in der Fassung für Violine und Live-Elektronik erstmals 1997 in Donaueschingen erklangen. Beziehungsreich spielt der Werktitel mit alten englischen Psalmen- und Hymnenkompositionen, mit dem Begriff des Themas und dem Namen einer Blume, der Chrysantheme. Im Zusammenspiel mit der Live-Elektronik, für die ihr Detlef Heusinger, Thomas Hummel und Simon Spillner vom Experimentalstudio des SWR zur Seite stehen, betritt Widmann ein musikalisches Spiegelkabinett, in der die Elektronik ihren Klang vervielfacht. Die Geigerin spielt mit Echos, lässt die formal klar getrennten Abschnitte des Werks aufblühen. Ihr Violinton erreicht dabei eine biegsame Anmut, die dem Solokonzert von Felix Mendelssohn zur Ehre gereicht hätte.

Die Duisburger Philharmoniker und ihr Intendant Alfred Wendel haben mit Carolin Widmann eine wegweisende Künstlerin verpflichtet. Ihr zu lauschen, sei allen ans Herz gelegt: Wer diese Chance verpasst und weiter verständnislos den Kopf über die vermeintlich verkopfte Moderne schüttelt, ist fortan selbst Schuld.

(Weitere Termine mit Carolin Widmann: 14. und 15. November, 17. Mai und 9. Juni 2013. Informationen: www.duisburger-philharmoniker.de)




Ein Mensch zerbricht: Alban Bergs „Wozzeck“ im Konzerthaus Dortmund

Johan Reuter als "Wozzeck" (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Mit versteinertem Gesicht steht er da: Ein Bär von einem Mann, bebend, die Hände an der Hosennaht. Sichtlich gequält, aber wehrlos. Ein gefesselter Gigant, ein Vulkan kurz vor der Eruption.

Das ist Johann Christian Woyzeck, in der Oper von Alban Berg schlicht „Wozzeck“ genannt. Ein armer Soldat, der sich für ein wenig Geld krumm macht, der von seinen Vorgesetzten schikaniert und von seinen Mitmenschen mitleidlos ausgenutzt wird. Eine Kreatur wie ein geprügelter Hund.

Es hat ihn um 1800 wirklich gegeben, den Sohn eines Leipziger Perückenmachers, der aus Eifersucht zum Mörder wurde. Sein Schicksal befeuerte Georg Büchner zu seinem berühmten Dramenfragment und Alban Berg zu seiner bahnbrechenden Oper. Die Alban Berg gewidmete „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund erreichte durch einen exzellent besetzten „Wozzeck“ jetzt erschütternd intensive Stunden.

Vom Bariton Johan Reuter kann dabei kaum die Rede sein, denn der ist eigentlich gar nicht da. Der in Kopenhagen geborene Sänger muss sein wahres Ich wohl in der Garderobe abgelegt haben, um sich ganz und gar in Wozzeck zu verwandeln. Und so hetzt er über die Bühne als ein Getriebener, der Stimmen hört und die Erde unter seinen Füßen wanken fühlt. Wie mit Überdruck bricht die Titelfigur aus diesem großartigen Sängerdarsteller heraus. Seine Stimme gibt uns den Rest: vibrierend vor Erregung, steigert sie sich schubweise zu Ausbrüchen einer Verzweiflung, deren Wucht uns fortreißt wie eine Naturgewalt. Wozzeck stammelt, er stöhnt, er brüllt auf. Da gibt es kein Entrinnen: Seine Verstörung springt uns förmlich auf den Schoß, seine Qual wird die unsere.

Die wunderbare Angela Denoke ist als Marie eine herrlich vielseitige Partnerin. Aus ihrem klaren, reifen Sopran klingt die Einsamkeit der vernachlässigten Frau, die Rat- und Trostlosigkeit angesichts eines Mannes, dessen Zustände sie immer weniger versteht. Zugleich ist sie zärtlich als liebende Mutter, giftig als zänkische Nachbarin, buhlerisch schmeichelnd im Flirt mit dem Tambourmajor. Auch die Denoke kann sich bis zum stöhnenden Aufschrei steigern. Ins schier Uferlose aber wächst Maries Jammer, wenn sie in stiller Verzweiflung um Vergebung ihrer Sünden betet.

Die Nebenrollen sind erwartungsgemäß stark besetzt: der Hauptmann (mit leichter Tendenz zur Überzeichnung: Peter Hoare), der Doktor (zu Beginn etwas steif: Tijl Faveyts) und der Tambourmajor (mit auftrumpfender Macho-Attitüde: Hubert Francis) sind ein treffliches Trio infernale, das Wozzeck das Leben zur Hölle macht. Zum Erlebnis wird der Abend auch deshalb, weil das Philharmonia Orchestra und die Sänger der Dortmunder Chorakademie immer wieder punktgenaue Schlaglichter auf das Geschehen werfen. Bergs bestechend dichte, psychologisch aufgeladene Partitur wird so zum Kommentar, der mehr sagt als tausend Worte. Zuweilen greift Esa-Pekka Salonen am Dirigentenpult so beherzt in die Fortissimo-Skala, dass die Gesangssolisten nur mehr als Farbe in der Klangorgie wahrzunehmen sind. Rauschhaftem Musikgenuss steht das aber nicht unbedingt entgegen. Es war diesmal nicht die Lautstärke, die das Publikum zum Jubeln brachte.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Vorwärts Komponisten, wir blicken zurück: Neue Musik für Schlagzeug

Mitglieder der Gruppe "Splash" in Aktion. Foto: Philharmonie Essen

Als 1913 Igor Strawinskys Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ in Paris uraufgeführt wurde, kam es zu einem der berühmtesten Skandale der Musikgeschichte. Glaubt man Zeitzeugen, war die Randale im Publikum kaum geringer als das archaische Wüten, das sich im Orchester abspielte. Wer hier sinnliches Melos erwartete, bekam brutale Rhythmik serviert. „Bilder aus dem heidnischen Russland“ ist das Werk untertitelt – und verweist damit auf Rituale unserer Ahnen, derer sich die moderne Zivilisation längst entledigt zu haben glaubte. 

Strawinskys Musik greift also auf die alte Kraft des Rhythmus zurück, um sich im Sinne einer futuristischen Moderne der Emanzipation eben jener Rhythmen hinzugeben. Hinter ihnen tritt alles andere zurück: Nur das Klangfarbenspektrum erfuhr zusätzliche Bereicherung, vor allem durch den Einsatz eines reichhaltigen Schlag-Werk-Apparates. Insofern ist das „Sacre“ als Schlüsselwerk der Moderne zu betrachten.

Bis zu den Schlägen und Klängen von „Ionisation“ des Franzosen Edgard Varèse, der ersten Musik für reine Percussion, war es dann nicht mehr weit. Seither ist das Komponieren für diese Instrumentengruppe gewissermaßen en vogue. Und mit Martin Grubinger, dem jungen Tausendsassa am Schlagzeug, ist uns selbst der Sound der exotischsten Trommeln oder Rasseln nicht mehr fremd.

Wenn nun also das Neue-Musik-Festival „NOW!“, für das die Essener Philharmonie verantwortlich zeichnet, zurück blickt, um nach vorn zu schauen, wenn das zweite Konzert in diesem Rahmen Werke für Schlagzeug in den Fokus rückt, dann gewiss auch mit Blick auf die Revolutionen eines Igor Strawinsky und Edgard Varèse. Das Konzert im Salzlager der Kokerei Zollverein macht aber darüberhinaus deutlich, wie die komponierende Avantgarde sich an anderen Altvorderen abarbeitet. Insofern scheint die Frage, ob nicht inzwischen musikalisch alles gesagt sei, durchaus berechtigt. Der Fortschritt ist eine Schnecke, die sich indes gelegentlich im Kreise bewegt.

Nehmen wir nur Thomas Gaugers dreiteiliges „Gainsborough“ für Perkussion: Schritte zurück ins heute eher ungewohnt Harmonische, Melodische, mit Anklängen an den Jazz und die Minimal Music. Im Mittelpunkt zwei Marimbaphone, die bisweilen schön traurig-kitschig vor sich hin meditieren, sich ins Gehör schmeicheln wollen. Ein Werk, das selbst vor Trivialem nicht zurückschreckt. Ähnlich naiv wirken nur noch die Clapping-Stücke Dietmar Bonnens, die sich zwar auf Steve Reich berufen, doch an dessen rhythmische Komplexität bei weitem nicht heranreichen.

Andererseits ist „NOW!“ auch das Festival einiger Uraufführungen. Gleich zu Beginn des Schlagwerk-Konzerts erblickt Stephan Froleyks’ „VCTRS“ das Licht der musikalischen Welt, eine Performance mit wanderndem, flüsterndem, sprechendem, heulendem Chor, raffiniert ummantelt mit Flatterbandgeräusch und Klängen, die ausgeweideten Klavieren entspringen. Die Saiten als Verfügungsmasse, Zerstörung als Voraussetzung für Neues: ein Werk nicht ohne Symbolkraft.

Das zweite neue Stück des Abends heißt „FOKUS-Spaltung“ und stammt von der Chinesin Ying Wang. Die Komponistin hat fünf Schlagzeugsets im Raum verteilt, zu bedienen von insgesamt acht Spielern, denen sich zwei Akkordeon-Solisten hinzugesellen, zwecks Klangfarbenbereicherung. In seinem teils rhythmischen Gleichmaß wirkt manches wie ein Ritual und findet so zurück zu Strawinsky. Anderes tönt wie ein exotischer Klangcocktail oder wie Stimmen der Natur: mit all ihrem Pfeifen oder Rascheln. Doch das Stück entflieht der Realität mit einem furios bruitistischen Finale.

Ähnlich stark wirkt Adriana Hölszkys  Gewitter-und-Sturm-Musik namens „Wirbelwind“. Besonders jedoch lässt „Lamento“ von Marei Seuthe aufhorchen, für Chor, sphärischen Gläserklang und Perkussion. Eine Studie über stimmliche und klangliche Varianten des Aufseufzens, bis hin zum klagenden Schrei. Am anderen Ende einer Skala von Empfindungen steht dann Silvia Ocougnes „Curto Circuito“, ein Stück praller Spielfreude, markiert auf Pfannen, Ententröten und anderen Skurrilitäten.

Diejenigen also blicken nach vorn (und kaum zurück), die sich, wenn schon nicht neue Klänge, so doch innovative Klangkombinationen erarbeiten. Und die sich glücklich schätzen dürfen, professionelle Interpreten an ihrer Seite zu haben. In diesem Fall den Chor „Les Saxosythes“ und die Schlagzeugformation „Splash“. Alle wagen sich an Un-erhörtes und gewinnen viel.

Das mehrteilige Festival „NOW!“ wird fortgesetzt mit einem Konzert des Ensembles musikFabrik am 2. November in der Philharmonie Essen (19.30 Uhr).

Karten unter Tel.: 0201/8122-200

www.philharmonie-essen.de




Musikalischer Jugendstil: Sophia Jaffé mit Erich J. Wolffs Violinkonzert

Der Begriff des „Jugendstils“ ist in der Geschichte der bildenden Kunst nicht unproblematisch; in der Musik leistet er wenig mehr als die Zuordnung eines Werks zu einer Zeitepoche, die von gärenden Aufbrüchen und von schönheitstrunkener Weltflucht, von inspirierter Moderne wie von zähem Festhalten an alten Idealen und Traditionen geprägt war. Es war eine Epoche, die für sich – auf der Suche nach einer neuen Ursprünglichkeit – die „Natur“ lieben lernte. In Erich J. Wolffs Violinkonzert aus dem Jahre 1909 entdeckt der staunende Zuhörer außer einer stupend versierten Komponistenhand auch jene Ranken, aufkeimenden Triebe und aus zarten Knospen wachsenden Blütenwunder, die den floralen Jugendstil in der Kunst kennzeichnen.

Wolff, 1874 in ärmlichen jüdischen Verhältnissen in Wien geboren und 1913 in New York an den Folgen einer Mittelohrentzündung gestorben, gehört zu den großen Unbekannten der Epoche eines Gustav Mahler, Alexander von Zemlinsky oder jungen Arnold Schönberg. Mit ihnen war er freundschaftlich verbunden; Wolffs Lieder wurden damals von vielen Sängern interpretiert.

Heute wäre Wolff komplett vergessen, gäbe es nicht „Schatzgräber“ wie Peter P. Pachl, der das Konzert ausfindig gemacht und neu ediert hat. Pachl sorgte auch für die Ersteinspielung einer Reihe von Wolffs Liedern mit der Sopranistin Rebecca Broberg. Das Violinkonzert wurde nun erstmals in modernen Zeiten – wenn nicht sogar überhaupt zum ersten Mal – in der Reihe der Sinfoniekonzerte der Neuen Philharmonie Westfalen in Recklinghausen, Gelsenkirchen und Kamen aufgeführt.

Als treffliche Wahl erwies es sich, das Konzert der Geigerin Sophia Jaffé anzuvertrauen, die seit fünf, sechs Jahren nach einer Reihe von Wettbewerbserfolgen ihre Karriere ohne viel Getöse aufbaut. Schon der dunkel-sämige Ton des Beginns weckt die Ohren auf: Er kündigt einen Geigenton an, der genau in die lyrische Schwarmwelt des fin de siècle passt. Jaffé kann das blühende Schwellen, das sanfte Ersterben des Tons, seine zärtliche Fülle und sein jubelndes Entfalten hervorrufen.

Sie findet nach einem ersten Forte zum ruhevollen Dialog mit der Harfe, schraubt sich in melodischem Rankenwerk in ein bemerkenswert erfülltes Piano in der Höhe, lässt die Gischt kurzer, sanfter Staccati in filigranem Schaum zerstieben. Die Sinnlichkeit ihres Legatos erinnert an Tschaikowsky; dazu zittern die Orchesterviolinen wie von einem Sommerwind bewegt. Jaffé holt die erlesen-poetische Schönheit dieser musikalischen Linien und Ornamente ein – und lässt ganz nebenher nicht spüren, welche enormen technischen Probleme Griffe und Bogenführung, Lagenspiel und Tongebung der Solistin aufgeben. In der originalen Kadenz des ersten Satzes muss sie bis zur Dreistimmigkeit gehen und meistert auch diese Aufgabe ohne Anflug hörbarer Anstrengung.

„Jugendstil“ also: Rankende Modulationen, allmähliche Mutationen von Motiven, Verschlingungen, Aufblühen und Versinken, manchmal auch wuchernde Steigerung in scheinbar endlosen Imitationen; Naturlaute in der Begleitung der (freilich manchmal plumpen) Bläser, feine Lichtwechsel, ferne Horn- und freundlich-sanft ersterbende Klarinettenklänge – all das erinnert an die geheimnisvollen Frauen eines Alfons Mucha, die dem Betrachter aus Blättern und Blumen entgegenwachsen. Dieses Konzert, bei dem man allenfalls das Fehlen dezidierter Kontraste der Sätze untereinander kritisieren könnte, verdient es, ins Repertoire aufgenommen zu werden.

Wie bereichernd die Musik Wolffs für uns sein kann, zeigte die kluge Zusammenstellung des Konzertprogramms: GMD Heiko Mathias Förster hatte es der Siebten Sinfonie Gustav Mahlers vorangestellt. Was bei Wolff noch in ungebrochener Schönheit blüht, verwandelt sich bei Mahler in dunkel-wehmutsvolle Erinnerung; wo Wolff ganz bei sich ist im innigen Gefühl, brechen Mahlers Klänge auseinander, zerreißt das duftige Gewebe, wird die Idylle zum Zitat. Was bei Wolff noch inneren Zusammenhalt genießt, fliegt bei Mahler in Fetzen vorbei.

Für die Neue Philharmonie, die bei Wolff an einigen Stolpersteinen nicht vorbeigekommen war, geriet die Siebte zur Probe auf orchestrales Niveau, der sie nicht ausweichen musste. Es gab glänzende Stellen, etwa bei den Celli, und ungeachtet einiger Ausrutscher einen untadeligen Klang. Förster dirigierte mit klaren Zeichen, stets wach für die „Schaltstellen“ der Musik. Aber die preußische Präzision hat auch ihren Haken: Sie lässt die Übergänge steif werden, nimmt der Phrasierung ihre flexible Form, macht das Metrum mechanisch.

Schon im ersten Akt stehen Klanggruppen unverbindlich nebeneinander, stellt sich die Mahler’sche Zerrissenheit nicht ein. Das Changieren zwischen Idylle und Düsternis im zweiten Akt fangen Förster und seine Leute ein; auch die bizarren Episoden des dritten Satzes gelingen. Doch dem letzten Satz mit seiner verlogen-triumphalen Geste fehlt der doppelte Boden. Da lässt Förster auftrumpfen, aber in Glanz und Gloria fehlt das falsche Gleißen. Und damit eine entscheidende Dimension dieses bestürzenden Mahler-Ungetüms.




Weltklasse in Essen: Viktoria Mullova und Pieter Wispelwey in der Philharmonie

Wenn sich zwei so exzellente Solisten wie Viktoria Mullova und Pieter Wispelwey zu einem exklusiven Kammermusikabend zusammentun, verspricht das ein hochrangiges musikalisches Ereignis. Die Prognose wurde eingelöst: In der Essener Philharmonie ereignete sich im Scheine der Kerzen rings um das Podium ein Konzert, das mit dem oft vorschnell vergebenen Etikett der Weltklasse durchaus zutreffend beschrieben ist.

Pieter Wispelwey. Pressefoto: www.pieterwispelwey.com

Pieter Wispelwey. Pressefoto: www.pieterwispelwey.com

Den reinen Bach-Abend eröffnete Pieter Wispelwey, vielleicht nicht der marktgängigste, sicher aber einer der spannendsten Cellisten der Gegenwart. Im September ist seine mittlerweile dritte Einspielung der sechs Cellosuiten Bachs erschienen; ein Zeichen für das stetige Nachdenken des mittlerweile Fünfzigjährigen über Bachs tiefgründige Musik. Die bisherigen, preisgekrönten Aufnahmen legen die Messlatte für das Konzert hoch. Der erste „Sprung“ gelang noch nicht so reibungslos: Der Beginn der G-Dur-Suite BWV 1007 wirkte fahrig; Wispelwey neigte zu leichtgewichtiger, aber auch heterogener Tongebung mit merkwürdig unruhiger Phrasierung.

Zwar durften Allemande und Courante tänzerische Energie verstrahlen, die Sarabande aber wollte der Cellist offenbar nicht dezidiert absetzen. Bewegt und luftig dagegen die abschließende Gigue. Die Balance zwischen der farbigen Betonung einzelner Noten, wie sie in der historisierenden – pardon, historisch informierten – Musikpraxis gerne betrieben wird, und dem Blick auf den inneren Zusammenhang wollte sich noch nicht einstellen.

In der c-Moll-Suite BWV 1011 waren solche Anfangsprobleme kein Thema mehr. Wispelwey entfaltet einen leichten, rauchig angerauten Ton, artikuliert genau bis hinein in rhythmische Raffinessen, entwickelt ausdrucksvolle Färbungen auf einer dunkel-weichen Grundlage. Der Elan der schnellen Sätze, die pointierte Rhythmik der Gavotten, die weltverlorene Meditation der Sarabande: Wispelwey beseelt sein Spiel, ohne den Abstand zu den sonor erfüllten Interpretationen der älteren Meister aufzugeben. In der D-Dur-Suite BWV 1012 spannt er so den Kontrast auf zwischen einem verinnerlichten Nachspüren der weit angelegten Legato-Zusammenhänge und dem federnd-nonchalanten Tanzgestus.

Viktoria Mullova. Foto: J Henry Fair

Viktoria Mullova. Foto: J Henry Fair

Drei Abschnitte mit jeweils einem Cello- und einem Violinwerk, gegliedert durch zwei Pausen – so war der dreistündige Abend aufgebaut. Viktoria Mullova kam zunächst mit einer Moll-Tonart zu Wort: Die Sonate BWV 1001 ließ am überragenden Rang ihrer konzentrierten Interpretationen keinen Zweifel. Bachs Experiment einer vierstimmigen Fuge auf einem Instrument war technisch vollkommen beherrscht und musikalisch durchdrungen: So klar wie Mullova hat kaum jemand dieses Stück erschlossen. Kein Wunder, dass ihre CD der sechs Solowerke für Violine hymnische Kritiken erhielt und als Referenzaufnahme gilt.

Aber auch das Adagio des Beginns nimmt gefangen: Mullova pflegt einen ruhigen, klassisch ebenmäßigen Ton, leicht und gleichmäßig, von einer zarten Sonorität, die sich weder die verschrammten Töne der Originalklang-Fetischisten noch den saftigen Duktus der historisch Unbekümmerten erlaubt. Auch in den schnellen Sätzen bleibt die Artikulation deutlich, der Ansatz rein. Mullova strahlt dabei eine Gelassenheit aus, die vergessen lässt, welcher technische Einsatz nötig ist, um solche wie selbstverständlich wirkende Souveränität zu erreichen. So sind auch die Partita E-Dur BWV 1006 und die berühmte mit der „Chaconne“ als letztem Satz (BWV 1004) blitzsauber modelliert bis in die Details der Verzierungen hinein.

Konzentration bis zum letzten Ton, Versenkung in Bachs musikalischen Kosmos: Da bricht kein Jubel los, aber ein tief herzlicher, lang dauernder Beifall. Und man geht durch die Nacht nach Hause und kann es nicht lassen, über diesen Abend nachzudenken.




Meilensteine der Popmusik (20): Simon & Garfunkel

Der Jahresanfang 1970 brachte ein neues Album der Superlative. Simon & Garfunkel sollten ihre gemeinsame Erfolgskarriere mit „Bridge over troubled water“ krönen – und gleichzeitig auch beenden.

Die beiden Schulfreunde aus dem New Yorker Stadtteil Queens machten in den 60-er Jahren den Folkrock weltweit populär. Sie wurden zum erfolgreichsten Duo seit den legendären Everly Brothers. Was die Öffentlichkeit nicht bemerkte: Die Beziehung der beiden war von Anfang an mit Spannungen belegt. Spätestens bei der Produktion zu „Bridge over troubled water“ kamen diese ziemlich heftig zum Ausbruch. Der Kopf der beiden, Songwriter Paul Simon, packte 1972 über ihre letzte gemeinsame Studio-LP aus: „Es war kein Spaß damals zusammen zu arbeiten, es war Knochenarbeit. Art sagte, dass er diese Platte eigentlich gar nicht machen wollte – ich musste trotzdem da durch, wusste aber, dass es, nach diesen persönlichen Reibungen, mit uns einfach nicht mehr weitergehen konnte …“

Während der Aufnahmen war Art Garfunkel schon intensiv mit seinem Film „Catch 22“ beschäftigt, so dass bei einigen Songs Paul Simon solo zu hören ist. Ein Simon & Garfunkel-Album also… und dennoch kein richtiges. Die Trennung war hier schon eigentlich perfekt, aber der Krach ging trotzdem weiter. Paul Simon hatte für das Album ein Stück geschrieben mit dem Titel „Cuba si, Nixon no“. Der damals hochbrisante politische Inhalt war dem Kollegen Garfunkel zu heiß, er lehnte ab. Die Retour-Kutsche kam prompt: Einen neu aufgenommenen Bach-Coral, den Art Garfunkel favorisierte, schmiss Paul Simon aus der Produktion. So blieben statt der zwölf vorgesehenen Lieder nur elf übrig.

Ein Wunder, dass in diesem Chaos der Animositäten und Intrigen eine der schönsten und erfolgreichsten LP’s der Pop-Geschichte entstand. Die Bilanz: Hits wie „The Boxer“, „El condor pasa“, und „Cecilia“. Weit über 10 Millionen verkaufte LP’s, noch einmal so viele Singles. Dafür gab es insgesamt 6 Grammys. Das lag natürlich auch am Titelsong, der damals stündlich in den US-Radiostationen zu hören war. Doch auch um diesen Gesangspart gab es damals Streitigkeiten. Art Garfunkel sollte ihn übernehmen, wollte erst nicht, sang dann aber trotzdem. Seltsamerweise so intensiv und so schön, wie wohl vorher und nachher nie wieder. So hatte er entscheidenden Anteil am weltweiten Erfolg dieses Liedes, das Paul Simon komponiert hatte. Dieser wiederum gab später zu, wie neidisch er auf diesen Erfolg seines ehemaligen Partners war. Wenn bei den wenigen Malen, die Simon & Garfunkel noch live auftraten, „The bridge“ erklang und Paul Simon den Hauptscheinwerfer verließ, dann tobte das Volk zum Gesang von Art Garfunkel. Im Hintergrund wurde Paul dann eifersüchtig: „Das ist mein Lied, Mann, vielen Dank. Ich habe dieses Lied geschrieben!“ Spätestens dann versteht man diesen kleinen, und doch so großen Poeten Paul Simon, der in den Jahren danach als Künstler bewiesen hat, dass Art Garfunkel eigentlich nur die Nummer Zwei war. Heute, nach vielen Jahren und einer  Versöhnung mit Garfunkel hat Simon schon zugeben müssen, dass seine Stimme die Höhen von „The bridge“ wohl nicht so sauber gemeistert hätten wie die von Art Garfunkel.

Paul Simons Soloplatten machten ihn später zu einem der bedeutendsten Rock-Poeten seiner Zeit. Ein Amerikaner, der seiner Heimat in tiefer Zuneigung, doch teilweise sehr kritisch begleitete. Zudem ein prominenter Fürsprecher der Worldmusic, dessen Ruhm auch als 70-jähriger immer noch Bestand hat.

Simon & Garfunkel on Dailymotion

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Die vorherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14), Rolling Stones (15), Queen (16), Diana Ross (17), Neil Diamond (18), Fleetwood Mac (19)




Festival „Now!“ in Essen: Weg mit den Dogmen der „Neuen Musik“!

„Faschistoide Züge“ bescheinigt Günter Steinke dem „Serialismus“ der Nachkriegszeit. Dem Professor für Komposition an der Essener Folkwang Universität der Künste ist zuzustimmen: Was sich in den Fünfziger Jahren im Umkreis von Darmstadt und Donaueschingen entwickelt hatte, wirkte fast drei Jahrzehnte wie ein Dogma. Wer dem Fortschrittsbegriff und der strukturellen Denkweise dieser musikalischen Auffassung nicht folgte, wurde weggebissen. Damit ist Schluss. Und das Festival „Now!“, das zum zweiten Mal zeitgenössische Musik nach Essen bringt, will das in seinem Programm auch klingend belegen. In seinem – erstmals erscheinenden – Programmbuch zitiert es Peter Sloterdijk: „Was ästhetisch die Uhren geschlagen haben, sagen nicht mehr die avantgardistischen Geschichtsdoktrinen.“

Und so erklärt „Now!“ mit dem Motto „zurücknachvorn“, worum es bei der zweiten Ausgabe dieses Festivals für Neue Musik gehen soll: Um den Blick zurück, der neue Perspektiven eröffnet. Vom 26. Oktober bis 1. Dezember erklingen in zehn Konzerten in Essen Werke von 28 Komponisten, die sich ausdrücklich auf musikalische Traditionen beziehen. Mit von der Partie sind zum ersten Mal die Essener Philharmoniker – auf eigenen Wunsch. Die Liste der Gäste ist lang und luxuriös: Das Ensemble Modern kommt wieder, das Arditti Quartett, das WDR Sinfonieorchester Köln und Splash – Perkussion NRW, zuletzt in Orffs „Prometheus“ bei der Ruhrtriennale zu erleben. Im Großen Saal der Philharmonie sind Sängerinnen wie Angelika Luz oder Sarah Wegener zu hören. „Wir machen mit „Now!“ ein Projekt für die Region, aber wir wollen auch bundesweit wahrgenommen werden“, so Philharmonie-Intendant Johannes Bultmann.

Das Festival ist noch jung: Im letzten Jahr gegründet, stellte es am Beispiel von vier Komponisten die aktuellen Richtungen der amerikanischen klassischen Musik vor. In diesem Jahr verweist das Motto „zurücknachvorn“ auf das fruchtbare Spannungsfeld zwischen Alt und Neu. Das wird auch in der Theorie behandelt: Am Sonntag, 4. November, 15 Uhr, diskutieren im RWE-Pavillon der Philharmonie vier Komponisten über dieses Thema: Helmut Lachenmann, Georg Friedrich Haas, Brian Ferneyhough und Lars Petter Hagen – zwischen 1935 und 1975 geboren – vertreten eine Generation, die sich von den Vorgaben einer „Neuen“ Musik frei gemacht hat. „Ein Thema mit Zündstoff“, meint Steinke.

In den Konzerten sollen Struktur- und Klangvorstellungen heutiger Komponisten zu erleben sein. „Inwiefern ist es möglich, wieder an Melos zu denken, an Kontrapunkt oder Tonalität?“, umschreibt Steinke die neuen – aus dem Blick auf die Tradition gewonnenen – kompositorischen Möglichkeiten. Dabei geht es weder um einen Historismus, der Musik schüfe, die wie aus früheren Zeiten klänge. Auch nicht um ein rückwärts gerichtetes „Zitatewesen“. Sondern darum, wie eine junge Generation mit einem individuellen Blick auf Traditionen neue Musik hervorbringt.

Eröffnet wird „Now! – zurücknachvorn“ am Freitag, 26. Oktober, 19.30 Uhr, in der Philharmonie Essen: Das Ensemble Modern spielt Werke von Lars Petter Hagen, Anders Hillborg, Sven-Ingo Koch und Helmut Lachenmann, dessen Hauptwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (1997) im September an der Deutschen Oper Berlin – nach Hamburg, Stuttgart, Wien und Salzburg – seine fünfte Premiere erfuhr. Am Sonntag, 28. Oktober, 15 Uhr, spielt das Ensemble „Splash“ im Salzlager der Kokerei Zollverein. Die Namen der Komponisten reichen von dem Kölner Dietmar Bonnen (geboren 1958), einem wagemutig-witzigen Experimentator, bis zu einer Uraufführung der Chinesin Ying Wang, die u.a. in Köln bei York Höller, Michael Beil und Rebecca Saunders studiert hat.

Am 2. November gastiert das Ensemble musikFabrik in Essen. Foto: Klaus Rudolph

Am 2. November gastiert das Ensemble musikFabrik in Essen. Foto: Klaus Rudolph

Unter dem Titel „…wie stille brannte das Licht“ ist am 2. November, 19.30 Uhr, in der Philharmonie das Ensemble musikFabrik mit den Sängerinnen Sarah Wegener und Natalia Zagorinskaja zu hören; es erklingt Musik von Ligeti, Haas und György Kurtág. Am nächsten Tag um 19.30 Uhr spielen Michael Faust (Flöte) und das WDR Sinfonieorchester unter Brad Lubman Musik von Magnus Lindberg, Gérard Pesson, Salvatore Sciarrino und Jörg Widmann. Und am Sonntag, 4. November, 10.30 Uhr, bringt das Arditti Quartett prominente Streichquartett-Schöpfungen mit: „Fragmente – Stille. An Diotima“ von Luigi Nono, das Streichquartett Nr. 6 von Brian Ferneyhough und Helmut Lachenmanns Streichquartett Nr. 3 „Grido“.

Der nächste Konzertblock bringt am 9. November, 20 Uhr, in der Neuen Aula der Folkwang Universität der Künste in Werden ein „transmediales Konzert“ unter dem Titel „Fembot/Attractor“. Geleitet wird es vom Komponisten und Medienkünstler Dietrich Hahne. Zwei Uraufführungen multimedialer Werke stehen auf dem Programm: Magnus Lindbergs „Corrente II/Fembot“ und Ludger Brümmers „Dele/Attractor“, jeweils in einer VideoKontrafaktur Hahnes. Der Künstler hat 2011 das „NOW!“-Festival mit aus der Taufe gehoben, hat aber schon seit 2007 die Räumlichkeiten des Weltkulturerbes Zollverein mit diversen medialen Performances bespielt.

Am 10. November, 19.30 Uhr, geht es in der Philharmonie wieder etwas „konventioneller“ zu. Die Essener Philharmoniker eröffnen ihre Zusammenarbeit mit dem Festival mit einem Konzert unter Jonathan Stockhammer und Werken des 1976 geborenen Dänen Simon-Steen Andersen, Wolfgang Rihm („Verwandlung 2. Musik für Orchester“), der finnischen Komponistin Kaija Saariaho, Schülerin von Brian Ferneyhough und Klaus Huber, sowie der in London geborenen und in Berlin lebenden Rihm-Schülerin Rebecca Saunders.

Mit den klanglichen Möglichkeiten präparierter Klaviere hat der Musiker und Komponist Hauschka seit seiner CD „The prepaired piano“ (2005) Erfolg in einer Szene, die sich unvoreingenommen zwischen Rock, Hip-Hop und Klassik bewegt. Der in Düsseldorf lebende Musiker kommt am 15. November, 20 Uhr, in die Halle 12 auf Zeche Zollverein/Schacht XII. Die Folkwang Symphony krönt das Festival am 22. November, 19.30 Uhr, im Alfried Krupp Saal der Philharmonie. Johannes Kalitzke dirigiert, Angelika Luz singt. Ein neues Werk der koreanischen Kompositionsstudentin an der Folkwang Hochschule, Yagyeong Ryu, mit dem Titel „Fadenlicht“ wird flankiert von zwei „Klassikern“ der Moderne: Bernd Alois Zimmermanns Konzert für Violoncello und Orchester (Solist: Jan-Filip Tupa) und Luigi Nonos „Como una ola de fuerza y luz“.

Zu Ende ist „Now!“ dann noch nicht: Am 1. Dezember stellen um 16 Uhr Komponisten, Studierende der Folkwang Universität und Schülerinnen und Schüler die Ergebnisse einer „Expedition“ in die Bereiche neuer klassischer Musik vor: Im RWE-Pavillon wird hörbar, wie die Schülerinnen und Schüler auf der Basis des Orchesterwerks „Double up“ von Simon-Steen Andersen eigene Kompositionsversuche unternehmen. Ein Ergebnis eines mehrwöchigen Projekts und ein sehr konkreter Bezug auf das Motto des Festivals: Gehörtes und Erlebtes wird zur Basis für Neues!

Mit der Philharmonie agieren als Veranstalter die Folkwang Universität der Künste, der Landesmusikrat NRW und die Stiftung Zollverein. Gefördert wird das Projekt von der Kunststiftung NRW. Bultmann kündigte an, „Now!“ werde auch von seinem Nachfolger Hein Mulders weitergeführt. Langfristig solle das Festival als Marke etabliert werden, um Publikum und Fachleute über die Region hinaus anzulocken. Das Echo jedenfalls ist positiv: Von den 130 aufgelegten „Festival Cards“, die zum günstigen Preis von 28 Euro Zugang zu allen Konzerten gewährt, sind nur noch wenige übrig.

Info: www.philharmonie-essen.de; Karten: (0201) 81 22 200.




Sternstunde des Strauss-Gesangs: Anja Harteros im Konzerthaus Dortmund

Anja Harteros erntete als Strauss-Interpretin Ovationen (Foto: Pascal Amos Rest/Konzerthaus Dortmund)

Manch gefeierte Gesangsstimme unserer Tage gleicht ja einem Stück Haute Couture: Das Material ist luxuriös, die Verarbeitung aufwändig und der Zuschnitt perfekt. Es gibt aber auch Stimmen, die trotz aller Gesangstechnik im Kern natürlich geblieben sind. Stets gefährdet und gerade dadurch kostbar, lassen sie den durchgestylten Gala-Glanz mühelos erblassen.

Eine solche Stimme besitzt Anja Harteros, die jüngst im Konzerthaus Dortmund mit Liedern von Richard Strauss zu erleben war. Begleitet wurde die Sopranistin vom Concertgebouw-Orchester Amsterdam, das aufgrund einer Erkrankung seines Chefdirigenten Mariss Jansons unter der Leitung des 27-jährigen Franzosen Alexandre Bloch spielte.

Für die Tournee mit den „Königlichen“ hat die Sängerin sechs Lieder mit melancholischem Grundton ausgewählt. So beschwören „Waldseligkeit“ und „Zueignung“ die Einsamkeit des Liebenden, „Allerseelen“ und „Morgen!“ gar die Wiedervereinigung im Jenseits. Die Harteros taucht das in flammende, üppig changierende Farben der Wehmut. Weit und mühelos greift ihr Sopran ins Mezzo-, ja sogar ins Alt-Register aus. Ihre langen Legato-Bögen, die selbst im Mezzopiano unangestrengt über das Orchester hinweg schweben, erreichen im „Wiegenlied“ eine delikate, silbrige Zärtlichkeit. So sehr sie „Morgen!“ in fahle Transzendenz taucht, so glühend lässt sie die Emotionen in der „Zueignung“ überströmen. Jedes Wort kann sich aus dem Munde dieser Sängerin unversehens zum Himmel weiten, jede harmonische Rückung kann neue Welten eröffnen. Anja Harteros begegnet der hohen Liedkunst von Richard Strauss mit Bescheidenheit und Größe, mithin als überragende Interpretin.

Vor großen Herausforderungen stand der junge Einspringer Alexandre Bloch. Nach der brillanten, schwungvoll musizierten Ouvertüre „Der Widerspenstigen Zähmung“ aus der Feder des Niederländers Johan Wagenaar hatte der Dirigent zwei Schwergewichte der Orchesterliteratur zu bewältigen: Jörg Widmanns „Teufel Amor“, inspiriert von einem Gedichtfragment von Friedrich Schiller, sowie die Tondichtung „Tod und Verklärung“ von Richard Strauss. Beide Mammut-Partituren zeugen von rauschhafter Instrumentierungskunst und behandeln das Orchester äußerst virtuos.

Beherzt schöpft Bloch aus den Klangmöglichkeiten, die ihm das Amsterdamer Spitzenensemble bietet. In Jörg Widmanns 2011 entstandenen Sinfonischen Hymnos spielt er mit Registern, als habe er eine große Orgel vor sich. Bloch arbeitet sich vom grüblerisch-bedrohlichen Dröhnen der Blechbläser vor, steigert das Werk zu Apotheosen, die wiederum ins Geisterhafte abgleiten. Selbst im robusten Dauer-Forte legt er viele spannende Schichten frei. Im Herzen bleibt er dabei ein Romantiker, der uns Widmanns Werk als Fortschreibung von Traditionslinien zeigt, die von Richard Strauss und Gustav Mahler in die Zukunft weisen. In „Tod und Verklärung“ setzt er der schleppenden, nachtschwarzen Einleitung ein leidenschaftliches Aufbegehren entgegen, das immer neu auflodert. Die Verklärungsmusik klingt indes überraschend diesseitig. Den letzten Perspektivwechsel, der alles zuvor Erklungene wie von oben herab betrachtet, enthält Alexandre Bloch uns an diesem Abend vor.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Dortmund: Programm und Programmatik – Überlegungen zum Jubiläum der Philharmoniker

Hochwertig gestaltet: Das Spielzeitheft zur Jubiläumssaison "125 Jahre Dortmunder Philharmoniker". Die Grafik schuf Holger Drees

Hochwertig gestaltet: Das Spielzeitheft zur Jubiläumssaison "125 Jahre Dortmunder Philharmoniker". Die Grafik schuf Holger Drees

Der Ire Vincent Wallace hat entzückende, leichte, eingängige Musik geschrieben. Genau richtig für die „Beamten und Philister“ des Jahres 1887. Dortmund stand an der Schwelle zur Großstadt, die industrielle Entwicklung florierte. Gepflegte Unterhaltung war angesagt in den Kreisen der Emporgekommenen. Doch das schien vor 125 Jahren nicht mehr ausreichend. Mit der Gründung des Dortmunder Orchestervereins am 6. Oktober 1887 wollte man offenbar den Anschluss an Musikzentren mit langer Tradition erreichen.

„Dortmund wollte kulturell etwas zu sagen haben“, vermutet Jac van Steen, Generalmusikdirektor der Stadt seit 2008, zu den Motiven der Gründung. Mit den beiden Vorgänger-Orchestern in der Stadt, dem des Orchestervereins und der Kapelle von Franz Giesenkirchen, waren Programme mit anspruchsvoller zeitgenössischer Musik nicht befriedigend aufzuführen.

Der 26-jährige, frisch verpflichtete Dirigent Georg Hüttner aus Schwarzenbach am Wald/Oberfranken, bot zunächst Virtuoses und Unterhaltsames, konzentrierte sich mit seinen rund vierzig Musikern aber wenige Jahre später auf damals moderne Musik. Zeitgenössische Kritiken bescheinigen dem Ensemble, das ab 1897 „Philharmonisches Orchester“ hieß, Qualität im Zusammenspiel und Klangkultur.

Wenn die Dortmunder Philharmoniker nun ihr 125-jähriges Bestehen feiern, geschieht das nicht mehr mit moderner Musik. Ihr Anteil ist in den zehn Philharmonischen Konzerten der Jubiläumssaison gering. Eine einzige Uraufführung steht im Programm des fünften Konzerts am 5./6. Februar 2013, die noch dazu eher mit dem Wagner-Jahr 2013 als mit Dortmund zu tun hat: Der Bochumer Komponist Stefan Heucke, geboren 1959, schrieb Sinfonische Variationen über die Hirtenweise aus „Tristan und Isolde“.

Dass die nächstjüngeren Werke in den zehn Konzerten Benjamin Brittens Violinkonzert von 1939 (er hat im nächsten Jahr 100. Geburtstag) und Sergej Rachmaninows Paganini-Rhapsodie von 1934 sind, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Mehltau, der sich seit Anfang der fünfziger Jahre über den Geschmack des konzertbesuchenden Bürgertums gelegt hat. Ein Phänomen, das sich gerade in kleinen und mittelgroßen Städten zeigt, und gegen das so mancher Dirigent vergeblich kämpft: In Dortmund versuchten das wohl ernsthaft zuletzt Marek Janowski (1975 bis 1979) und Klaus Weise, GMD von 1985 bis 1990.

Jac van Steen. Foto: Anke Sundermeier

Jac van Steen. Foto: Anke Sundermeier

Jac van Steen hat in realistischer Voraussicht sein Publikum in der Jubiläumssaison nicht zu „überfordern“ versucht. Aber er schmeichelt dem Konservatismus des Publikums nicht mit dem üblichen Potpourri der sicheren Nummern, sondern beweist ein unter Musikern nicht immer selbstverständliches historisches Bewusstsein. Es zeigt sich in einer überlegten Mischung von Beliebtem und Unbekanntem. Die Programme stellen die Frage, was 1887 denn „moderne Musik“ gewesen sei und bieten in neun der zehn „Philharmonischen Konzerte“ je ein Werk, das in den Gründerjahren des Orchesters entstanden ist. Im ersten Konzert etwa Tschaikowskys Fünfte Symphonie von 1888. Der „brillante Fehlschlag“ von damals gehört heute zum eisernen Repertoire der großen Orchester. Jac van Steen dirigierte eher mit pathetischer Glut als mit Sinn für die depressiven Momente.

Interessanter war in diesem Saison-Eröffnungskonzert die Begegnung mit „La Péri“, einem kaum bekannten Stück von Paul Dukas, das mit seinem geheimnisvollen Piano-Zauber, seinen aparten harmonischen Wendungen und seinen pikanten Instrumentationsdetails dem Großbürger und Habitué von damals den willkommenen exotischen Kitzel spüren ließ. Und noch spannender war Janine Jansen mit Karol Szymanowskis Violinkonzert: Der sanft-intensive Ton der Geige mischte sich exquisit in das Orchesterkolorit, das van Steen und die Philharmoniker mit Ruhe und Beherrschung ausbreiteten.

Die Dormunder Philharmoniker mit ihrem Chef Jac van Steen. Foto: Thomas Jauk

Die Dormunder Philharmoniker mit ihrem Chef Jac van Steen. Foto: Thomas Jauk

Am 23./24. Oktober setzen die Dortmunder ihre Spielzeit fort mit Anton Bruckners ungebräuchlicher Erstfassung der Achten Symphonie von 1887. Auch das Konzert vom 13./14. November hat mit Camille Saint-Saëns‘ „Orgelsinfonie“ von 1885/86 ein Werk der Gründungszeit im Programm. Der britische Dirigent Kenneth Montgomery begleitet die Organistin Iveta Apkalna, die sich in den letzten Jahren als Konzertsolistin einen Namen gemacht hat. Am 22./23. Januar 2013 richtet sich der Blick auf einen Giganten der Musikgeschichte: Johannes Brahms. Michael Erxleben und Torleif Thedéen spielen das Konzert für Violine, Cello und Orchester op. 102, das 1887 entstandene letzte Orchesterwerk des Komponisten.

Wenn am 5./6. Februar 2013 der frühere Dortmunder GMD Anton Marik mit Auszügen aus „Tristan und Isolde“ den Jubilar Wagner ehrt, passt auch dieses Programm in die Linie: Das musikalische Beben, das Wagner mit seiner Oper ausgelöst hat, hatte sich zwanzig Jahre nach deren Uraufführung noch längst nicht beruhigt und prägte eine ganze Generation von Tonschöpfern in ihrem Ringen um neue Ausdrucksformen. Eine Kostprobe dieses „Wagnerismus“ wäre eine sinnvolle Programmergänzung gewesen.

Mit einer absoluten Rarität wartet das Sechste Konzert am 5./6. März 2013 auf: Karl Goldmarks Zweite Symphonie von 1887 ist so gut wie vergessen. Der Wiener Dirigent Michael Halász bringt die Musik des deutsch-jüdisch-ungarischen Komponisten aus der k.u.k – Monarchie zur Aufführung, der 1875 mit der Oper „Die Königin von Saba“ berühmt wurde und dessen Rezeption – wie in vielen anderen Fällen – mit der Nazizeit abrupt endete.

Auch César Francks d-Moll-Sinfonie (9./10. April) ist auf den Konzertpodien selten geworden. 1886-88 entstanden, ist sie ein Beispiel der Rückkehr der symphonischen Tradition in die französische Musik, die deutsche und französische Einflüsse unter dem Zeichen der orchestralen Virtuosität eines Franz Liszt verbindet. Und mit Nicolai Rimski-Korsakows „Sheherazade“ und Gustav Mahlers Erster Symphonie – beide von 1888 – demonstrieren die Dortmunder in ihren letzten beiden Abo-Konzerten die Aufbrüche jener Zeit, die jenseits von Wagner und Brahms in neue Bereiche der Form, des Ausdrucks und der spieltechnischen Anforderungen führten.

Das Dortmunder Konzerthaus: Hier spielen die Philharmoniker. Foto: Häußner

Das Dortmunder Konzerthaus: Hier spielen die Philharmoniker. Foto: Häußner

Dass in den letzten 125 Jahren auch Musik in Dortmund und für das Dortmunder Orchester entstanden ist, rückt in der Jubiläumssaison zwar nicht ins Blickfeld, wird aber auch nicht ganz untergehen: Daniel Friedrich Eduard Wilsing (1809 bis 1893), Komponist aus Hörde, hat ein groß angelegtes Werk für vier vierstimmige Chöre und Orchester auf den Text von Psalm 23 „De profundis“ geschrieben. Dank einer Förderung der Reinoldigilde soll es 2013/14 in Dortmund wieder aufgeführt werden. Robert Schumann immerhin hat es als „ein ganz ausgezeichnetes Meisterwerk in jeder Beziehung“ beschrieben.

Vielleicht hätte es sich gelohnt, den Blick in die Dortmunder Musikgeschichte noch etwas zu erweitern – eine Recherche, die etwa 2004 zum 100-jährigen Bestehen der Oper in Dortmund komplett versäumt wurde. Dann wäre man zum Beispiel auf die Uraufführung der Operette „Zauberin Lola“ gekommen. Das Stück über die Tänzerin und Geliebte König Ludwigs I. von Bayern stammt von keinem Geringeren als von Eduard Künneke. Die Besinnung auf Verschollenes mag nicht immer Meisterwerke zutage fördern, trägt aber zur Profilierung eines Klangkörpers bei, der sich – bei aller Mühe um Reputation jenseits der Grenzen der Region – nicht auf die internationale Konkurrenz mit den großen Orchestern einlassen kann.

„Profil“: Dieses Zauberwort bemühen derzeit viele Ensembles in Deutschland. Denn der Druck steigt: Der Esprit, der vor 125 Jahren die Bürgergesellschaft nach einem eigenen, qualitätvollen Orchester rufen ließ, ist vielerorts verpufft. Vor allem die Politik ist immer weniger bereit, den Wert eines Orchesters als kulturelle Institution, als identitätsstiftendes Merkmal eines Gemeinwesens und als kreatives Kraftzentrum anzuerkennen. Welche Wege in Dortmund gangbar sein könnten, schildert ein Artikel von Frank Bünte in einem Themenheft der Zeitschrift „Heimat Dortmund“.

Der langjährige Chefredakteur der Westfälischen Rundschau plädiert unter dem Titel „Visionen“ für eine neue Rolle des Generalmusikdirektors als „General-Manager“, dem unter anderem die Suche von Sponsoren und ein kreatives Marketing ein Anliegen sein müsse. Er mahnt Qualität an und ein eigenes starkes, auch im Licht von Tourneen glänzendes Profil. Konzerte außerhalb der etablierten Einrichtungen und Zusammenarbeit mit der reichen Dortmunder Chor-Landschaft sollten Bürgernähe und Vernetzung in die Stadt fördern.

Wie sehr man über die Effizienz solcher Maßnahmen räsonieren kann, in einem hat Bünte sicher recht: Ein Schlüssel für die Ausstrahlung eines Klangkörpers ist seine Qualität. Der noch amtierende GMD Jac van Steen hat das Orchester vorangebracht, wie in den letzten Konzerten – ob mit Schostakowitsch oder mit Szymanowski – zu hören war. Dass ihm die Stadt nach nur fünf Jahren den Stuhl vor die Tür setzt, ist von daher nur schwer zu verstehen. Der Nachfolger, Gabriel Feltz, aus Stuttgart kommend, ist bisher erst einmal durch die Nicht-Verlängerung der langjährigen Dramaturgin und Marketingfrau Andrea Knefelkamp-West aufgefallen. Solche Maßnahmen schaffen kein Vertrauen.

Was Feltz in seiner ersten Spielzeit zur Profilierung des künstlerischen Programms präsentieren wird, bleibt abzuwarten. Ein Aspekt könnte sein, das beim Dortmunder Publikum seit eh und je beliebte Feld der Unterhaltung neu und pfiffig zu bestellen: Die Frage, ob ein Vincent Wallace mit seiner „Maritana“ nur ein Phänomen von 1887 sei, wäre von daher sogar neu zu stellen. Die ständige Wiederholung des Kanons der anerkannten Lieblingswerke des bisherigen Publikums bindet zwar dessen Reste, verschließt aber auch die Wege, um neue Zuhörerschichten zu gewinnen. In der Oper zeigt sich das zur Zeit in fatal zurückgegangenen Besucherzahlen.

Eine Patentlösung kennt niemand, wohl aber einige ihrer Elemente: Qualität und Marketing gehören dazu. Aber auch das unverwechselbare Programm, das vor Unkonventionellem nicht zurückscheuen darf. Die kanonisierte Form des traditionellen Sinfoniekonzerts ist kritisch zu überprüfen. Auch dazu mag der Blick in die Vergangenheit behilflich sein: Die „bunten“ Programme eines Herrn Hüttner waren nicht die schlechteste Lösung, den „Event“-Charakter seiner Konzerte zu sichern. Und zum Evente drängt, am Evente hängt doch heute alles. Das eröffnet jenseits pessimistischer Kultur-Untergangs-Unkenrufe auch Chancen.




Misstöne und orchestrale Pracht – Die Jubiläumsgala der Dortmunder Philharmoniker

Generalmusikdirektor Jac van Steen (Foto: Dortmunder Philharmoniker)

Selten dürfte einem Festredner weniger zu seinem Thema eingefallen sein. Ullrich Sierau, Oberbürgermeister der Stadt Dortmund, schien das heimische Philharmonische Orchester fremder als der Mond, als er die Jubiläumsgala im Konzerthaus mit einem Grußwort eröffnete.

Dabei hätte es zum 125-jährigen Bestehen dieses Klangkörpers viel zu sagen gegeben. Sierau hätte über die Bedeutung der Philharmoniker für die Stadt sprechen können, hätte würdigen können, wie viel die Profimusiker auch abseits von Operngraben und Konzerthausbühne leisten und wie viele von ihnen bereitwillig Schulen besuchen, an denen kaum mehr Musikunterricht stattfindet. Er hätte Auslandsreisen des Orchesters erwähnen können und dessen Funktion als kulturelle Visitenkarte der Stadt. Er hätte auch der Frage nachgehen können, warum Musik und Kunst gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wichtig sind.

Aber nein, nichts dergleichen. Er sei – oh verräterische Wortwahl! – öfter mit Konzerten des Philharmonischen Orchesters „konfrontiert“ gewesen, sagte Sierau. Begriffe wie Stolz und Tradition führten ihn flugs zu einem ganz anderen Thema, das ihm offenkundig lieber war: zum Ballsportverein Borussia Dortmund. Das wohlmeinende, aber zusammenhanglose Gefasel über „gute Vorlagen“ und die „Championsleague“ wurde gekrönt von einem Loblied auf den derzeitigen Generalmusikdirektor Jac van Steen, das schmerzhaft falsch in den Ohren klang: Hatte die Stadt dem derart Gepriesenen doch jüngst überraschend den Stuhl vor die Tür gesetzt.

Von den Misstönen der Politik führte die sinfonische Dichtung „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss zurück zum Wahren und Schönen. Das von Friedrich Nietzsche inspirierte Werk, berüchtigt für seine extremen Anforderungen an alle Instrumentengruppen, forderte die Philharmoniker bis an die Grenzen – und dies nur drei Tage nach der kräftezehrenden Premiere der Oper „Boris Godunow“. Aber das Orchester stemmte die schwergewichtige Tondichtung bemerkenswert souverän. Über alles Orgelbrausen, über alles titanische Ringen widerstreitender Prinzipien hinweg blieb der Gesamtklang geschmeidig, der Streicherklang süffig. Jac van Steen zelebrierte fließende Übergänge und ließ keine unschönen Fortissimo-Exzesse zu. So gelang der Blick ins Strauss’sche Kaleidoskop, in dem jede noch so widerborstige Fuge und jedes noch so vertrackte Solo mit größter orchestraler Pracht einhergeht.

Mehr Substanzverlust musste das „Konzert für Orchester“ hinnehmen, in dem alle charakteristischen Züge von Béla Bartóks Schaffen zu einer großartigen Synthese finden. Diese voll auszuprägen, fehlte den Philharmonikern an diesem Abend dann doch die Kraft. Trotz vieler subtiler Farben – erwähnt seien vor allem die feinen Holzbläser-Soli – baute sich im Kopfsatz nicht genug nervöse Erregung auf. Die Strahlkraft der Blechbläser zeigte Einbußen; die Geigen machten das wirbelnde Presto-Finale durch nachlassende Präzision zu einem leicht holprigen Husarenritt.

Als Intermezzo zwischen den beiden orchestralen Schwergewichten wurde Mozarts Klavierkonzert B-Dur KV 595 beinahe erdrückt, zumal Solist Ronald Brautigam einen wolkig-romantischen, mithin wenig konturierten Zugriff auf das Werk wählte. Gleichwohl verströmte Mozarts Musik eleganten Esprit und sprühenden Charme. Ach, könnte dies doch auch einmal stilbildend wirken – und nicht immer nur der BVB.




Ruhrtriennale: Die jungen Mädchen und der Traum von einer anderen Zeit

Anfangs gehen die 39 Mädchen wie in Zeitlupe quer über die Bühne. Ihr unentwegt gemurmeltes Mantra lautet „Alles wird gut“ („Everything’s going to be alright“). Sie schreiten in Trance. Woher und wohin?

Nur manchmal stößt die eine oder andere sacht an einen der verstreut stehenden Stühle. Doch plötzlich ein metallisches Kreischen! Die Stühle werden hart über den Bühnenboden geschoben, auch vernimmt man dabei schabende, knirschende, kratzende Geräusche. Es sind ungeahnte Stimmen, die da ertönen. Singende Stühle. Mythische Traumzeit in männerloser Welt.

Recht unscheinbar und verhalten hat der Abend begonnen, doch wenn man in den ersten Minuten gedacht haben sollte, hier wabere nur etwas im Ungefähren, so hat man sich gewiss geirrt. Diese Aufführung kann jederzeit in gläserne Poesie entschweben oder auch in schneidende Schärfe umschlagen. Sie kann naiv und durchtrieben sein. Schon kurz nach dem schlafwandlerischen Beginn setzen sich alle Mädchen in einer Phalanx auf die Stühle, den Zuschauern konfrontiert, für Minuten in Schweigen verharrend. Da baut sich eine Anspannung bis zur Alarmgrenze auf, die sich dann allerdings unversehens ins Federleichte löst.

Frontal zum Publikum: das Ensemble von "When the mountain changed its clothing" (Bild: Ruhrtriennale)

Frontal zum Publikum: das Ensemble von "When the mountain changed its clothing" (Bild: Ruhrtriennale)

Das Ruhrtriennale-Projekt „When the mountain changed its clothing“ (Als der Berg sein Kleid wechselte), vom Intendanten Heiner Goebbels mit dem famosen Vocal Theatre Carmina Slovenica in Szene gesetzt, ist wahrhaftig ein besonderes Ereignis aus Musik, Choreographie und literarischen Spiegelungen.

Glauben wir mal dem Programmheft und nehmen an, dass es hierbei vornehmlich um den Abschied von der (weiblichen) Kindheit geht. Tatsächlich werden ja Kuscheltiere rituell beigesetzt, wie im Kindergarten ziehen die Mädchen kollektiv Windjacken und Gummistiefel an und tollen herum. Altes wird abgelegt, Neues dämmert herauf. Unschuld und angemaßte Erfahrung halten einander die Waage. Einige Grundthemen des Seins werden fragend durchgespielt. Manche Passagen wirken, als könne alles, alles noch einmal ganz von vorn anfangen. Doch ach! Jegliche Zukunftshoffnung trägt das Weh doch wohl schon in sich. Und schon werden die Lügen des Lebens eingeübt.

(Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale)

(Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale)

Es ist streckenweise kaum zu fassen, welche Klangwelten diese zwischen 11 und 20 Jahre jungen Mädchen aus Maribor (unter der musikalischen Leitung von Karmina Šilec) herbeizaubern. Der streng präzise, unglaublich fugenlos gefügte, jedoch unangestrengt dargebotene Chorgesang umfasst staunenswert viele Register bis hin zur Obertontechnik; mal hört sich das an wie ein wundersamer Nachhall auf Gregorianik oder erinnert von fern her ans legendäre „Mystère des voix Bulgares“, das vor etlichen Jahren im Westen als Folkpop-Phänomen Furore machte. Mitunter steigert es sich bis zur rhythmischen Ekstase, so etwa beim indischen Traditional „Taka Din“. Sind diese Mädchen etwa auf Höchstleistung gedrillt worden – oder sind sie allesamt einfach phänomenal begabt? Jedenfalls können sie sich in einer nahezu kirchenähnlichen Akustik in der Bochumer Jahrhunderthalle angemessen entfalten.

Das musikalische Material (weit gespannt zwischen Schönberg, Brahms, slowenischer Folklore und Partisanenlied) ist ebenso vielfältig wie die Textbausteine. Der durch Klang und Bewegung geschaffene Kontext verwandelt die verwendeten Texte, macht sie gleichsam durchlässig, transparent: Wer hätte ohne weiteres gedacht, dass ein ungemein modern anmutendes, zyklisches Frage-Exerzitium über Jugend, Alter und Tod aus Jean-Jacques Rousseaus „Émile oder über die Erziehung“ stammt? Ein eigenwilliger Exkurs zum Geld wird dem Werk von Gertrude Stein entnommen, weitere Wortschwingungen kommen von Joseph von Eichendorff, Alain Robbe-Grillet („Wovon träumen die jungen Mädchen? – „Vom Messer und vom Blut.“), Adalbert Stifter oder Marlen Haushofer. Sie lösen auch im Spiel magische Momente aus: Ein Brot tragen. Mit einem Ball spielen. Wie innig das sein kann!

Alles besteht gleichwertig nebeneinander, entkoppelt und befreit vom herkömmlichen Sinn. Altgewohnte Zusammenhänge werden durch ebenso zwingende wie beiläufige Wiederholungs-Zyklen (geleitet und begleitet vom Kreislauf der Jahreszeiten, in deren Verlauf eben auch der titelgebende Berg sein Kleid wechselt) geführt, auf dass ein reiner Anfangszustand leuchten möge. Vielleicht sogar angstlos und frei.

Großer Beifall für große Kunst.

Weitere Aufführungen (mehrsprachig mit deutschen Übertiteln) nur noch am 28. Und 29. September, jeweils 19.30 Uhr, in der Jahrhunderthalle Bochum




Meilensteine der Popmusik (19): Fleetwood Mac

Die Firma Fleetwood Mac war ein reines Saison-Geschäft. Ihr Personal wechselte ständig, wie Baumwollpflücker in den Südstaaten. Seit der Gründung 1967 holten sich fast ein Dutzend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Dienstausweis bei dieser Firma.

Alles begann in Großbritannien, und am Anfang war der Blues. Sie schrubbten ihn zuerst bei „John Mayall’s Bluesbreakers“: John McVie, Mick Fleetwood und nicht zuletzt Peter Green, der bei den Bluesbreakers immerhin der Nachfolger von Eric Clapton war. Doch vom autoritären Bluesmann John Mayall weiß man, dass er über kurz oder lang fast jeden seiner Mitspieler vergraulte. Die meisten waren sowieso besser als der Meister. So entstand auch dankenswerterweise Fleetwood Mac. Sie orientierten sich stark an großen US-Blueslegenden, und waren schnell die beste und erfolgreichste Bluesband im Land.

Zeitweilig wurden drei Gitarristen beschäftigt, die Klassiker wie „Black magic woman“, „Man of the world“, „Oh well“ oder den großen Instrumentalhit „Albatross“ ablieferten. Als der Gitarrist, Komponist und Kopf der Gruppe Peter Green 1969 ausstieg, endete auch die erste große Karriere von Fleetwood Mac. Der zweite Gitarrist Jeremy Spencer rückte nach und verpasste der Gruppe eine neue Richtung. Diese ging ganz grob zum Rock’n’Roll der 50-er zurück. Das wollte aber nun wirklich keiner mehr hören – damals, am Anfang der noch orientierungslosen 70-er Jahre. Spencer packte seine Gitarre wieder ein. Das war während einer US-Tournee 1971.

Der Rest der Gruppe blieb ganz einfach drüben, und Mick Fleetwood – nun der unumschränkte Bandboss – plante den Neuaufbau. Fest integriert war mittlerweile John McVie’s Ehefrau Christine, die als Christine Perfect mit ihrer Band „Chicken Shack“ auch schon eine respektable Karriere vorweisen konnte. Dazu gesellte sich der eine oder andere amerikanische Musiker, wie zum Beispiel Bob Welch. Open House also bei Fleetwood Mac, und genauso hörten sich auch ihre Platten an. Ein Durcheinander von verschiedenen Musikstilen, lieblos produziert, ohne den richtigen Druck.

Der renommierte Produzent Keith Olsen konnte schließlich helfen. Er brachte die Gruppe mit dem kalifornischen Duo Stevie Nicks und Lindsey Buckingham zusammen. Dieses Liebespaar ließ es endlich knistern, im Studio und auf der Bühne. Die jungen US-Fans hielten Fleetwood Mac schon längst für eine einheimische Band, und irgendwie waren sie es ja auch mittlerweile. Zumal sich der Songwriter Lindsey Buckingham zum „künstlerischen Leiter“ durchgeboxt hatte. Er formte aus der ehemalig britischen Bluesband eine stramme, amerikanische Westcoastband.

Schon die erste LP in neuer Besetzung wurde ein Renner und bekam Platin. Doch Erfolg und ständiges Beisammensein auf Tourneen hatten einen katastrophalen Einfluss auf das Privatleben der Bandmitglieder. Lindsey und Stevie trennten sich nach immerhin acht Jahren, und auch das Ehepaar McVie reichte die Scheidung ein. Die Presse war voll mit Andeutungen und Vermutungen, wer es mit wem trieb bei der Firma Fleetwood Mac. Das Spektrum reichte von berühmten Rockkollegen bis zum Beleuchter. In diesem Gerüchtesumpf entstand eine der erfolgreichsten LPs der Rock-Geschichte: ‚Rumours‘ (Gerüchte). „Es war eine Art Extrakt aus den Tagebüchern unseres damaligen Lebens“, beschrieb John McVie später diese Arbeit. Die Platte des Jahres 1977 belegte 31 Wochen die Spitze der US-LP-Charts und lieferte vier Top-Hits: „Go your own way“, „Dreams“, „Don’t stop“ und „You make loving fun“. Fünf Grammys waren fast selbstverständlich, und dazu eine Monster-Welttournee, die alles zuvor Gebotene in den Schatten stellte. In der theatralischen Aufführung waren die herbe Schönheit Christine McVie und die elfenhafte Stevie Nicks eindeutig Mittelpunkt.

Dieser Kraftakt der 70-er ließ sich nie mehr auch nur annähernd wiederholen. Der überwältigende Erfolg gab den einzelnen „Mac’s“ aber Zeit, Freiraum und die nötigen Dollars für die jeweiligen Solo-Projekte. Mit über 40 Millionen verkaufter Exemplare von „Rumors“ konnte man sich langsam auf den Ruhestand vorbereiten. Und schließlich warteten wieder neue Mitarbeiter auf eine vorübergehende Anstellung bei der berühmten Firma Fleetwood Mac.

Fleetwood Mac on youtube




Vor zehn Jahren im Aalto, jetzt in der ganzen Welt: Martina Serafin zu Gast in der Philharmonie Essen

Willkommen zurück, Frau Serafin! Vor zehn Jahren war die Sängerin am Aalto-Theater in großen Rollen zu erleben wie die Fiordiligi in „Cosi fan tutte“ (1999), die Elsa im „Lohengrin“ (2000) oder die Marschallin im „Rosenkavalier“. Heute singt die Dame in London, Mailand und Wien. Gerade erholt sie sich von der „Tosca“ in der Arena von Verona; bald reist sie weiter zur nächsten „Tosca“ nach Paris und zu Wagners „Ring“ an die Met. In Essen glaubt man offenbar, es brauche den Extra-Hinweis, wer Martina Serafin sei: Eine „weltberühmte“ Sängerin springe ein für die erkrankte Anja Harteros, war auf Aushängen im Foyer der Philharmonie zu lesen. Nun gut, jetzt wissen wir’s.

Martina Serafin. Pressefoto: Philharmonie Essen

Martina Serafin. Pressefoto: Philharmonie Essen

Das Einspringen ist ein undankbarer Job: Die Bochumer Symphoniker und Dirigent Friedrich Haider mussten kurzfristig neu disponieren, haben sogar einer Extra-Probe zugestimmt. Dafür gab`s Lob von Intendant Johannes Bultmann. Heikle Stücke wie das „Lohengrin“-Vorspiel oder das „Siegfried-Idyll“ lassen sich unter solchen Bedingungen nicht optimal erarbeiten. Das war zu hören: körnige Schlacken in den ätherischen Entrückung des „Lohengrin“-Vorspiels und der resignierten Piano-Schwermut von „La Traviata“. Die Violinen an den hinteren Pulten mit eher robustem Ton. Aber auch schön geformte Bläsersoli in der schwungvollen Einleitung zum dritten „Lohengrin“-Akt.

Hätte Haider das Tempo in der Ouvertüre zu Verdis „Nabucco“ nicht so extrem angezogen, wären die Musiker sicher präziser und klangschöner bei der Sache gewesen. Verdis „Macbeth“-Ballettmusik war das spannendste Stück des Abends; man wundert sich, warum man diesen Hexensabbat mit der majestätischen musikalischen Erscheinung der Totendämonin Hekate nicht öfter hört.

Mit den beiden Arien der Tannhäuser-Elisabeth stieg Martina Serafin in den Abend ein, noch ein wenig rau im Ton, mit bebendem Unterkiefer und nicht ganz sitzenden Hochtönen. Die Stärken der Sängerin liegen zweifellos dort, wo sie stimmlich wie eine Verismo-Heroine agieren darf. Etwa bei den Arien von Puccini und Giordano, zum Beispiel „In quelle trine morbide“ aus Puccinis „Manon Lescaut“: bombiger Stimmsitz, klare Artikulation, der klassische Ton einer dramatischen Sängerin. Aber auch tiefe Bewegtheit, fulminante Steigerungen. Nur mit der Höhe muss Martina Serafin vorsichtig sein: Sie scheint Mühe zu haben, die Stimme weit und entspannt auf der Stütze zu halten. Emotional aufgeladen: „La mamma morta“ aus „Andrea Chenier“. Und ein Gruß aus Wien als Zugabe: „Meine Lippen, sie küssen so heiß“ aus Lehárs „Giuditta“. Bei solchen Schmeicheltönen glaubt man der Sängerin aufs Wort!




Vom Fluch frühen Ruhms: Der Pianist Jan Lisiecki im Konzerthaus Dortmund

Jan Lisiecki (17) gab im Konzerthaus Dortmund seinen Einstand in der Nachwuchsreihe "Junge Wilde" (Copyright: DG/Mathias Bothor)

Scheu vor seinem Publikum kennt Jan Lisiecki offenbar nicht. Mit volltönender Stimme, die im Konzerthaus Dortmund auch ohne Mikrofon bis in die letzten Reihen dringt, erläutert der 17-jährige Pianist kurz sein Programm, bevor er sich an den Flügel setzt. Das wirkt souverän und weckt Sympathien, die der Blondschopf als neuer Nachwuchskünstler in der Reihe „Junge Wilde“ ohnehin auf seiner Seite haben dürfte.

Ein Kinderspiel ist Lisieckis Auftritt deshalb noch lange nicht. Denn er stellt sich im gleichen Moment übergroßen Erwartungen, geweckt von der künstlich aufgeregten Werbekampagne einer Plattenindustrie, die den im kanadischen Calgary geborenen Sohn polnischer Eltern so hartnäckig wie bedenkenlos als „Wunderkind“ vermarktet. Da wird das „ausgereifte und poetische Spiel“ des Kanadiers bejubelt, da wird ohne nähere Begründung der Name einer Jahrhundertkünstlerin wie Martha Argerich in den Raum geworfen, als dränge sich dieser abstruse Vergleich auf. Welche Hypothek dies für die Zukunft eines jungen Musikers bedeutet, interessiert wohl sekundär.

Auf der Konzerthaus-Bühne wirkt Lisiecki erfrischend unbefangen. Nicht belehrend, sondern locker und charmant wendet er sich an sein Publikum. Als er am Flügel Platz nimmt, verwandelt er sich vom Moderator in einen Träumer. Mit feinen Fingern und viel Poesie versucht er sich an einige Préludes des Franzosen Olivier Messiaen heran zu tasten. Diese Clarté weist stark zurück in Richtung eines Claude Debussy. Der von Glaubensgewissheit erhellten Musik Messiaens, von manchen zu Unrecht der Nähe zum Kitsch verdächtigt, tut dieser Zugriff nur bedingt gut.

Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 1 B-Dur sei das Schlüsselwerk für die Konzeption der ersten Programmhälfte gewesen, hatte Lisiecki im Vorfeld erklärt. Um Klarheit der Stimmen und tänzerischen Schwung bemüht, leidet seine Interpretation unter schwankendem Zeitmaß. Ludwig van Beethovens 24. Klaviersonate, lyrisch und zurückhaltend im Tonfall, kommt Lisiecki mit seinem zarten Zugriff nicht bei. Die Themen gewinnen keinen eigenen Charakter, keine glaubhafte Entwicklung. Hoffen lassen die „Variations sérieuses“ von Felix Mendelssohn Bartholdy: Da der Variationssatz hier den Weg vorgibt, kann Lisiecki ihm mit Hingabe folgen und einiges an Feuer entwickeln.

Frédéric Chopins Études op. 25 verdeutlichen noch einmal Lisieckis Schwierigkeiten, sinnstiftende musikalische Bezüge zu schaffen. Die Mittelteile der überwiegend in ABA-Form komponierten Etüden klingen bei Lisiecki wie herausgeschnitten, stehen isoliert neben dem Rest des Werks. Beachtliche Fingerfertigkeit kann der junge Pianist jedoch demonstrieren, was ihm den herzlichen Applaus seiner Zuhörer sichert.

In den Tagen nach seinem Dortmunder Einstand tourt Lisiecki durch Japan, tritt dann in Deutschland, Italien, Kanada und New York auf. Sein Terminkalender ist zum Bersten gefüllt. So geht es wohl zu in der Welt des frühen Ruhms und der gut gefüllten Kassen. Wen kümmert es da schon, wer am Ende die Zeche zahlt.





Wagner, Maazel, Tristan: In Essen feiert man den „Meister“ etwas anders

Richard Wagner wird 2013 erwartungsgemäß groß gefeiert. Ringe beginnen und Ringe enden, allenthalben eifern Regisseure zu zeigen, was noch nie erschaut, versuchen Dirigenten aus den Partituren zu lesen, was noch nie erlauscht. Staatsopern beschäftigen sich mit den Haupt- und Staatsaktionen der Wagner-Bühne. Den Rest überlässt man den Kleinen und schürt damit das von den Wagner-Vergötterern der Bayreuther Kreise propagierte Vorurteil, erst ab dem „Holländer“ beginne der „echte“ Wagner.

So wird es grad ein wenig „Rienzi“ geben – obwohl ein Experte wie Egon Voss dafür plädiert, in diesem Werk sei das Wagner’sche Idiom erstmals zweifelsfrei durchgehend hörbar. Die Rhein-Ruhr-Region kann ab 9. März 2013 in Krefeld Wagners Versuch erleben, die zeitgenössische französische und italienische Oper zu übertreffen (Regie: Matthias Oldag). Keinen Anwalt finden „Das Liebesverbot“ oder gar „Die Feen“ – mit Ausnahme von Leipzig, das mit Bayreuth kooperierend beide Werke szenisch bringt –, obwohl die Lebenskraft dieser frühen Opern in den letzten Jahren immer wieder auch auf der Bühne zu bestaunen war – zuletzt beim „Liebesverbot“ in Meiningen, das ab 2. Februar 2013 dort wieder dem Spielplan steht.

Dass Hinrich Horstkotte vor den Toren Dresdens, in Radebeul, das „Liebesverbot“ inszenieren darf (Premiere am 8. Dezember 2012), zeichnet nicht nur dieses Mini-Opernhaus aus, sondern ist auch eine schallende Ohrfeige für die keine halbe Stunde Straßenbahnfahrt entfernte Semperoper, der statt des überall gespielten „Tristan“ ein „Rienzi“, uraufgeführt 1842 in Dresden, gut gestanden hätte.

So hebt sich die Essener Philharmonie unter ihrem scheidenden Intendanten Johannes Bultmann aus dem meist überflüssigen Wagner-Gefeiere durchaus mit einem Programm der klügeren Sorte heraus: Unter dem Titel „Tristan Akkord“ rückt Wagners folgenreiches harmonisches Experiment in den Blickpunkt. Der „Tristan-Akkord“ avancierte zum Fanal für den Aufbruch in die musikalische Moderne und hielt Generationen von Musikern in seinem Bann. Wobei die Folge von fünf Sinfoniekonzerten auch die Rolle von Franz Liszt beleuchtet, den man mit Fug und Recht als den kühneren Neuerer bezeichnen darf. Hat er doch schon 1854 in seiner „Faust-Sinfonie“ ein Zwölftonthema verwendet. Aber an Wagner schieden und schärften sich die Geister der kommenden Generationen, und der Akkord aus „Tristan und Isolde“ wurde zur Chiffre für das Neue.

Dieses Neue faltet sich auf bei sonderbaren Hitzköpfen wie Alexander Skrjabin, den das Russische Nationalorchester am 11. November mit seiner Sinfonie „Poème de l’extase“ vorstellen wird. Auch Rachmaninow und Elgar – die beiden anderen Komponisten im Programm – wären ohne Wagner nicht denkbar. Liszt und Skrjabin sind dann die Eckpfeiler einer Klaviermatinee von Evgeny Bozhanov am 14. April. Und am 18. Mai spielt das WDR-Sinfonieorchester Liszts „Faust-Sinfonie“.

Bereits am 6. Oktober ist das hr-Sinfonieorchester zu Gast in der Philharmonie. Auf dem Programm: Arnold Schönbergs „Pelléas et Mélisande“ op.5, 1905 uraufgeführt. Das eher durch seine Verwendung von Leitmotiven mit Wagner korrespondierende Werk ist eine hervorragende Ergänzung zu Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ von 1902, die – leider am gleichen Tag – im Aalto-Theater Premiere hat.

Dass die weit verzweigten Verästelungen des französischen „Wagnérisme“ unbeachtet bleiben; dass von Emmanuel Chabrier bis Vincent d’Indy und Ernest Chausson nichts zu hören ist; dass auch die deutsche musikalische Wagner-Rezeption zwischen kritikloser Imitation und kreativer Transformation durch seinen Sohn Siegfried Wagner unbeleuchtet ist, lässt das Konzept rudimentär bleiben. Für solche konsequente Durchformung eines Programm-Gedankens fehlt dann wohl das Geld und – bei vielen Mainstream-Musikern – auch der Wille.

Den „Tristan-Akkord“ selbst brachte zur Eröffnung der Konzertreihe kein Geringerer als Lorin Maazel zum Klingen: Kaum im Amt als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, kam er mit seinem neuen Orchester, den Münchner Philharmonikern, in den Alfried-Krupp-Saal. Immer wieder war er in Essen gern gesehen: 2005 und 2008 mit dem New York Philharmonic Orchestra, 2010 mit den Wiener Philharmonikern, 2011 mit Mahlers Fünfter und dem Philharmonia Orchestra London. Nach glänzendem Erfolg mit Mahler in München und Bruckner beim Lucerne Festival brachte Maazel nun Schubert, Wagner und Strauss mit – und die Münchner Philharmoniker zu ihrem Debüt in Essen!

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Maazel hat viele unvergessliche Abende dirigiert – und auch dieser wird im Gedächtnis bleiben. Allerdings nicht, weil die Interpretation des 82jährigen überzeugt hätte. Denn Maazel scheitert im „Tristan“-Wunschkonzertstück an einem ins schier Endlose gedehnten Tempo; in Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ an seinem Verständnis von „sehr breit“, das er nicht endenwollend dehnt. Als wolle er in die Spuren von Sergiu Celibidache treten, mit dem die Münchner legendär langsame Konzerte spielten, zerstückelt er die Erregungskurve des „Tristan“-Vorspiels in statische Klangfarbinseln, lässt das Orchester auf der Stelle brodeln, nimmt der Musik das Sehrende, Strebende, Sehnsuchtsvolle.

Dafür entdeckt der klarsichtige Analytiker im „Liebestod“ Begleitfiguren, die sonst im Fieber untergehen, als seien sie ein Welt-Ereignis. Und wenn sich die Musik vor dem ekstatischen Höhepunkt endlich in Bewegung setzt, baut Maazel noch schnell ein Ritardando ein und nimmt dem Schwung die Kraft. Immerhin: Der „Tristan-Akkord“ selbst erklingt in sezierter Klarheit, wie man es von Maazel nicht anders erwartet hat.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Auch die Fanfare aus Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“, vielen bekannt aus Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, verliert so ihre Dynamik und ihre rhythmische Schärfe. Die Bläser winden sich auf Schneckenbahnen, die Celli grummeln, bis ein Fagott Erlösung verheißt. Maazel kostet aber auch die phänomenalen Spieleigenschaften der Münchner aus und lässt hören, mit welcher musikalischen Weltklasse er die nächsten drei Jahre zusammenarbeitet.

Schuberts Vierte zu Beginn war zum Glück kein Einspielstück, sondern eine farbige Demonstration, was der 19jährige Komponist von Mozart, Gluck und seinem Lehrer Salieri abgelauscht und in aufkeimender Individualität verarbeitet hat.




Im dunklen Bauch der Sprache: Orffs „Prometheus“ bei der Ruhrtriennale

Selten ist man einer fremden Sprache so ausgesetzt wie an diesem Abend: Vielleicht kennen einige das Gefühl, wie schwierig es auf Reisen sein kann, sich in einem unbekannten Zeichensystem zurechtzufinden. Doch die Erfahrung, im dunklen Bauch einer ehemaligen Industriehalle zu sitzen und zwei Stunden mit der fremdartigen Melodie des Altgriechischen von Carl Orffs „Prometheus“ konfrontiert zu werden, ist relativ einzigartig. Die Ruhrtriennale ermöglicht den eigentümlichen Selbstversuch noch bis zum 27. September in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord.

Carl Orff/Lemi Ponifasio: Prometheus © Paul Leclaire

Carl Orff/Lemi Ponifasio: Prometheus © Paul Leclaire

Doch wie geht man nun damit um? Abwehr ist kein probates Mittel, denn wer ohne die Bedeutung der Worte zu verstehen nicht leben kann, der wird sich langweilen. Eher empfiehlt es sich, zumal vom Komponisten so intendiert, die Sprache als eine Art Musik, als rhythmisches Element auf sich wirken zu lassen. Denn tatsächlich entfaltet sie gerade im Zusammenspiel mit Orffs wuchtiger Musik (Musikalische Leitung: Peter Rundel) eine vibrierende Kraft und transportiert all die archaischen Emotionen wie Wut, Hass, Grausamkeit und Schmerz in einer stilisierten Form.

Überhaupt zeichnet sich die Inszenierung des samoaischen Regisseurs Lemi Ponifasio durch hohes Stilbewusstsein aus: Der Boden ist mit indirekt beleuchteten Glasplatten ausgelegt unter denen grünlich das Wasser schimmert. Der gewaltige Raum der Kraftzentrale wird bis zur hintersten Wand bespielt, so dass die Tänzer der MAU Company aus Neuseeland dort hinten verschwindend klein erscheinen. Prometheus selbst (Wolfgang Newerla) ist mitnichten an einen Felsen gefesselt: Er sitzt im Vordergrund auf einer schlichten Holzbank und deklamiert während sein Alter Ego (Ioanne Papalii/MAU) in der Mitte des Raumes auf einer Art beleuchtetem Operationstisch der Qualen harrt, die da kommen mögen. Das weitere Personal von Hephaistos bis Hermes ist in martialische dunkle Kostüme geschnürt, die Frauen wirken wie Amazonen. Die Okeaniden tragen hellblonde Perücken und durchsichtige Gewänder und sind die nahezu einzigen, die wirklich singen dürfen.

Die eigentümlich stillen Tänze der MAU Company tragen leise Gesten in den von lauten Tönen wiederhallenden Saal, meist bleibt der Blick an ihren bloßen Füßen hängen, auf denen sie über das Glas mehr schleichen als gehen.

Das nimmt sich so ganz anders aus als bei der Uraufführung des Orffschen Werks 1968, von der der Kritiker Werner Oehlmann seinerzeit im Tagesspiegel schrieb: „Der Regisseur Gustav Rudolf Sellner und der Bühnenbildner Teo Otto überrennen den Zuschauer geradezu mit einer Fülle vitalen Theaters, mit einem Überfluss an Formen und Farben, Kostümen und Masken“. Hier dagegen: Kein Hephaistos, der Ketten schmiedet und Keile durch Prometheus Brust treibt. Keine Flügelrösser, nirgends. Stattdessen gibt es kaum Interaktion zwischen den Figuren, sie deklamieren den Text, aber sie beziehen sich nicht aufeinander. Doch hier geht es auch nicht um Menschen, sondern um Götter. Trotzdem: Der Freiheitskampf des Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte und nun von Zeus dafür bestraft werden soll, sein Aufbegehren, sein Stolz, seine Unbeugsamkeit und auch seine Siegesgewissheit, dass er eines Tages von seinen Qualen gerettet werde: Für all das hat Wolfgang Newerla nur ein Ausdrucksmittel zur Verfügung: Altgriechisch! Verdammt dazu, auf seiner Bank zu sitzen, kann er sich nur ab und zu die Kehle befeuchten, was aussieht, als trinke er einen – Ouzo…

Das dramatische Element dagegen übernehmen Raum, Licht, Musik und die Füße der Tänzer. Und ein Publikum, von dem Hingabe gefordert ist. Gewähren wir die Gnade? Das muss jeder selbst entscheiden…

18., 21., 23., 25. und 27. September
Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord
www.ruhrtriennale.de




Festspiel-Passagen VIII: Zwischen Carmen-Leid und Händel-Leidenschaft

Die Zeit der sommerlichen Festivals ist vorüber, der Alltag erwartet uns wieder. Vorbei die letzte Vorstellung des früher ungeliebten, jetzt mit Wehmutstränen verabschiedeten Bayreuther „Tristan“ Christoph Marthalers; vorbei die Dernière des begeistert gefeierten Herheim-„Parsifal“, dessen Absetzung immer noch unverständlich ist, denn so wird das Wagner-Jahr 2013 am Hügel ohne das Stück gefeiert, das Wagner für das Festspielhaus geschrieben hat. Das Bayreuther Festspielorchester nebst Chor und Solisten war gefeierter Gast in Barcelona, um dem krisengeschüttelten Spanien mit erlösungsschwangeren Wagner-Klängen die Wunden zu salben.

Stefan Herheims "Parsifal"-Inszenierung lief heuer zum letzten Mal. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Stefan Herheims "Parsifal"-Inszenierung lief heuer zum letzten Mal. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Salzburg hat den ersten Pereira-Hype hinter sich; die Bilanz des neuen, aus Zürich gekommenen Chefs ist durchwachsen. Auf der einen Seite stehen Überflutung mit Luxus von Domingo bis Netrebko und überflüssige Zelebration massentauglicher Werke wie die mit Magdalena Kozená fragwürdig besetzten „Carmen“. Auf der anderen Seite ein Aufbruch wie die Konzertreihe „Ouverture spirituelle“ oder die ehrgeizig geglückte Inszenierung der „Soldaten“, Bernd Alois Zimmermanns Ikone des modernen Musiktheaters.

Gerühmt: Salzburgs Inszenierung von Zimmermanns "Soldaten". Foto: Ruth Walz

Gerühmt: Salzburgs Inszenierung von Zimmermanns "Soldaten". Foto: Ruth Walz

Und es gab in Salzburg auch weniger beachtete „Events“, die dem Festival jenseits des Opern-Spielplans (2013 wird er leider arg populistisch ausfallen) Profil geben könnten. Die vierzehn „Salzburg contemporary“-Konzerte sind ein Beispiel: Der musikalische Kosmos Heinz Holligers war zu erschließen; der Komponist war auch als Dirigent und Oboist zu erleben. Oder das Konzept des neuen Chefs der Schauspielsparte, Sven-Eric Bechtolf, der sich auf Werk und Text statt auf Material und Dekonstruktion besinnen will.

Er hat auch eine Nürnberger Puppenspieler-Truppe nach Salzburg eingeladen, die sich „Thalias Kompagnons“ nennt. Joachim Torbahn und Tristan Vogt heißen die kreativen Köpfe des Teams, das in Ferdinand Raimunds „Der Bauer als Millionär“ Naivität in Tiefsinn verwandelt, das Moralische wie das Parodistische in der Distanz der Puppenwelt von Banalität und Schwere befreit: weise Einfalt!

Dem Blick über die sommerliche Kultur-Landschaft bieten sich traditionsreiche Fixpunkte wie die Händel-Festspiele in Göttingen und Halle. Die Universitätsstadt an der Leine hat mit Laurence Cummings einen neuen künstlerischen Leiter gewonnen, der den zwölf musikalischen Tagen rund um Händel sein Siegel erst noch aufprägen muss. Die Oper dieses Jahres, Händels „Amadigi di Gaula“, konnte nicht restlos überzeugen: Das Konzept der Regisseurin Sigrid T’Hooft, die strengen Bewegungsregeln des barocken Theaters ins Heute zu übertragen, geht ästhetisch auf, gibt dem Zauber- und Ritterstück aber keinen dramatischen Zug.

Konflikte und Leidenschaften bleiben „historisch“. In der musikalischen Umsetzung gelingt Andrew Parrott die Vergegenwärtigung schlüssiger: Das Festspielorchester spielt kompakt und kantig, schroffer als unter dem bisherigen künstlerischen Leiter Nicolas McGegan, manchmal aber auch weniger subtil. Die Sänger lassen technisch zu viel zu wünschen übrig, um Ausdruck und Schönheit des Singens miteinander zu verbinden.

In Halle lag im 80. Jahr der Festspiele der Schwerpunkt auf einem Blick auf Händels Verhältnis zur Religion und auf die Erinnerung an Händels Lehrer Friedrich Wilhelm Zachow, der vor 300 Jahren, am 7. August 1712, gestorben ist. Ein abwechslungsreiches Programm bot oratorische Spezialitäten wie das Auferstehungsspiel „La Resurrezione“, das allegorische Oratorium „L’Allegro, il Pensieroso ed il Moderato“ und die selten zu hörende „Brockes Passion“. Dazu kam „Il Martirio di Santa Teodosia“ von Alessandro Scarlatti, einem der italienischen Anreger Händels, aufgeführt von dem renommierten spanischen Ensemble „Al Ayre Espanol“ unter dem so charismatischen wie tiefgründigen Eduardo López Banzo.

Aber auch die Akademie für Alte Musik Berlin und der Rias Kammerchor sorgten unter Hans-Christoph Rademann mit Händels „Josuah“ für einen Höhepunkt der Festspiele an der Saale. Dem Thema „Händel und die Konfessionen“ widmete sich eine inhaltsreiche wissenschaftliche Konferenz, von der viele Anregungen zum Weiterdenken ausgingen.

Mit der Tanzpantomime „La Terpsichore“ kam im historischen Goethe-Theater in Bad Lauchstädt eine Kunstgattung zu Ehren, die noch zu entdecken ist. Die Musik zu Ehren der griechischen Muse der Tanzkunst lieferten Georg Friedrich Händel und sein französischer Zeitgenosse Jean-Féry Rebel. Die Musiker von Les Talens Lyriques entfachten ein regelrechtes Tanzfeuer unter der Leitung von Christophe Rousset: jeder Ton passte akkurat. Ideal wirkt der markant-schroffe Schönklang mit tief empfundenen lyrischen Momenten und einer unermüdlichen Lust an barocker Klangpracht.

Choreographin Béatrice Massins Hauptinteresse gilt dem barocken Bühnentanz, sie nutzt ebenso einige freie Darstellungsformen um die Ausdruckspalette der Tänzer von Les Fêtes galantes anzureichern. In dem rund 80-minütigen Werk wirkte das freilich auf Dauer etwas ermüdend, da die Schrittfolgen und Positionen sich häufig wiederholen. Das Programm 2013 der Festspiele in Halle verspricht mit den Opern „Almira“ und „Alessandro“ und dem Oratorium „Judas Maccabäus“ wieder anregende Begegnungen mit Händel.

(Mitarbeit: Tony Kliche, Halle/Saale)




Meilensteine der Popmusik (18): Neil Diamond

„Schulterlanges Haar, perlenbestickte Jeans-Kombination, überbreiter, mit silbernen Nägeln beschlagener Gürtel – so stand er vor seiner Gemeinde: der Meister. Davor ein Publikum, das ihm reihenweise wie überreife Pflaumen vor die Füße fiel.“ So sah es damals eine amerikanische Künstlerzeitschrift.

Damals, das war der August 1972 in Los Angeles, Kalifornien. An insgesamt zehn schwülen Sommerabenden im legendären „Greek Theatre“ erlebten tausende von Fans eine Show, die vieles bisher Gesehene und Erlebte in den Schatten stellte. Alle Abende waren komplett ausverkauft, und sie halfen, dass Neil Diamond zu einem Superstar der 70-er wurde. Sein Livealbum „Hot August Night“, stand über ein halbes Jahr an der Spitze der US-Charts, damals ein neuer Rekord.

Bei den meisten Open-Air-Konzerten stellte sich bis zu diesem Meilenstein nur eine wichtige Frage: ist es auch wirklich laut genug? Gerade mal eine Handvoll Tonmeister beschäftigte sich zu dieser Zeit professionell damit, das gesamte Klangbild einer Gruppe einigermaßen transparent abzumischen. „Soundmixing“ nannte man diese Innovation. Und man bekam auch schon ein erstes Gespür für Showeffekte – mal heller, mal dunkler, je nach Song auch ein paar farbige Spots. Dazu ganz gern trübe Nebelschwaden aus einer scheppernden Trockeneismaschine. Künstler in karierten Baumwollhemden, Gitarre klimpernd vor 400.000 bedröhnten Hippies auf der Matschwiese von Woodstock – das war einmal. Die Leute wollten nunmehr etwas sehen für ihr Geld.

Ein Pop-Konzert wie eine Broadway-Show. Vorhang auf zum „Opening“. Auf der Bühne exzellente Musiker in klassischer Rock-Besetzung, ein Chor, dazu als Begleitung ein richtig großes Orchester, sogar mit Streichern. Der Star des Abends musste ein Entertainer sein, der nicht nur singen kann, sondern der auch „Theater spielt“; der mit dem Publikum spricht, sich völlig verausgabt, schweißnass bis zum großen Finale. Die Dramaturgie musste stimmen. Genau so sollte es geschehen, damals in L.A. Eineinhalb Stunden bot Neil Diamond alles, was er so drauf hatte. Die lauten und die leisen Töne, eine Mischung aus Prediger und Paradiesvogel. Die Bühne war vollgestopft mit Musikern und Technik, die allesamt einen Sound ablieferten, der teilweise die Studioproduktionen übertraf. Ob der Künstler wohl damals ahnte, dass dieses hier schon der absolute Höhepunkt seiner Karriere war? Wohl kaum, denn der ehemalige Biologie- und Chemiestudent war zeitlebens auf der Suche nach Anerkennung.

Es begann in der Kindheit. Bedingt durch häufigen Schulwechsel, war der kleine Neil gezwungen, sich immer wieder vor neuen Mitschülern zu beweisen. In Brooklyn brauchte man dazu entweder ein Messer in der Tasche, oder ein außerordentliches Talent. Die Gitarre beförderte dieses Talent zu Tage. Die ersten Songs bekamen die Schüler der Erasmus-High-School zu hören. Spätestens auf der Uni kam dann die Überlegung, ob ein Leben als Mediziner Dr. Diamond in der Vorstadt Anerkennung genug böte. Ein klares „nein“ war die Antwort, und die Show-Branche damit der einzige Ausweg. Für schlappe 35 Dollar erwarb Neil Diamond ein altes Piano, mietete sich einen Probenraum, und komponierte, was das Zeug hielt. Einige Musikverlage zeigten sogar Interesse, und kauften seine Songs für ihre Künstler. Selbst auftreten und singen durfte er nur am Abend in den Clubs und Cafés von Greenwich Village. Eine Dame namens Ellie Greenwich und ihr Gatte Jeff Barry, ein damals sehr erfolgreiches Autorengespann, sie entdeckten den jungen Neil Diamond, ohne zu wissen, was für eine Konkurrenz sie sich da heranzüchteten. Schon nach kurzer Zeit bekam er Anerkennung als Komponist. „I´m a believer“, das er für the Monkees schrieb, wurde ein Welthit. Über Nacht wurde Neil Diamond zum Geheimtipp und wenig später selbst zum Star. Es war die Stunde der Singer-Songwriter, Selfmademen, die alle Fäden in einer Hand hielten.

Zwischendurch flippte er regelmäßig aus, der mittlerweile große Künstler. Er suchte immer wieder nach Fluchtwegen aus diesem Popzirkus, immer auf der Suche nach Größerem, weit weg vom schnöden Tingeltangel. Als er nach seinen heißen Augustnächten im „Greek Theatre“ von L.A. bei einem Plattenriesen für 5 Millionen Dollar einen Plattenvertrag unterschrieb, war er für einen Moment der absolute König der Popmusik. Doch was tut dieses Genie? Es nimmt für ein Jahr klassischen Klavierunterricht. „Ich träume nicht davon, George Gershwin zu sein; ich denke eher an Beethoven, soviel glaube ich nämlich musikalisch leisten zu können“. Da hatte er sich aber sehr weit aus dem Fenster gelehnt…zu weit. Sein erstes Großprojekt in dieser Richtung, einen Filmsoundtrack, bezeichnete die Kritik als „ungenießbare Moviebrühe“.

Und dann noch sein Debüt als Filmstar, 1980 in „The Jazz-Singers“ – die Kritiker kugelten sich vor Lachen; obwohl diese Reaktion im Nachhinein wirklich stark überzogen war. Der immer leicht blasiert und arrogant wirkende Neil Diamond hatte im Feuilleton wenig Freunde. Ergebnis: die Orientierung war endgültig futsch, die vernachlässigte Plattenkarriere schon längst im Eimer.

Was bleibt ist die Gitarre und das Meer von Fans – Fans, die Neil Diamond bis heute die Treue halten. Nur sie allein haben ihn zu einem der begehrtesten Livekünstler und Entertainer gemacht. Sie rufen ihm zu: „Hey, Du bist nicht Mozart und nicht Bogart. Du bist Neil Diamond – einzigartig… komm‘, spiel uns einen deiner schönsten Songs“.

Neil Diamond on dailymotion




„Sounds Like Silence“: Auf den Spuren der Stille, an den Grenzen des Schweigens

Jubiläumshalber ist der Komponist John Cage (100. Geburtstag am 5. September) heuer erst recht eine kulturelle Leitfigur. Nicht nur setzt die Ruhrtriennale vielfach bei seinem Werk an, nicht nur hat die Fluxus-Kunst (derzeit im Fokus des Museums Ostwall) ihm Impulse zu verdanken – auch die gedankenreich unterfütterte Ausstellung „Sounds Like Silence“ kommt (parallel im selben Hause Dortmunder „U“) auf ihn zurück. Für die intellektuelle Durchdringung auf hohem Theorie-Plateau sorgt der ortsansässige Hartware MedienKunstVerein (HMKV), dessen Leiterin Inke Arns den Leipziger Medienwissenschaftler Dieter Daniels als Ko-Kurator gewonnen hat.

Porträt des großen Anregers John Cage (© Henning Lohner & John Cage / Foto Henning Lohner)

Porträt des großen Anregers John Cage (© Henning Lohner & John Cage / Foto Henning Lohner)

„Sounds Like Silence“. Hört sich an wie Stille. Oder: Geräusche wie Stille. Der auf den Welthit „Sounds of Silence“ von Simon & Garfunkel anspielende Titel kann füglich auch auf Cage bezogen werden. Der hat das berühmte Stück 4’33’’ erschaffen, 4 Minuten und 33 Sekunden vermeintlich völliger Stille. Die Uraufführung war am 29. August 1952, also vor 60 Jahren. Eine Inspirationsquelle: Robert Rauschenbergs „White Paintings“ (ab 1951), monochrom weiße Bilder, die ebenfalls nicht pure Abwesenheit bedeuten. Bloß keine Angst vor der Leere! Am Saum des Nichtseins ist in allen Künsten stets ein Etwas gewesen.

Das Cage-Stück zwischen Sein und Nichts kann sich mitsamt allen Weiterungen in die Hirnwindungen fräsen. Und so kreist auch die Dortmunder Ausstellung gebannt (jedoch alles andere als kopflos, wenn nicht gar kopflastig) um diese Ikone der akustischen Kunst. Wer hätte gewusst, dass von diesem epochalen Werk viele verschiedene Notationen/Partituren sowie über 50 Platten-Einspielungen existieren – und dass keine exakt der anderen gleicht. Denn die vollkommene Stille gibt es nicht. Immer sind da noch so geringe Nebengeräusche, Schwingungen an der Wahrnehmungsgrenze. Selbst in der schalldichten Kammer (die man hier – sofern seelisch gefestigt – erproben kann) hört man, neben der Aufnahme vom angeblich weltweit stillsten Wüstenort, noch das Grundrauschen der eigenen Nerven- oder Blutbahnen. Dass wir nach dem Tode gar nichts mehr hören, ist auch noch nicht ausgemacht…

Blick in einen der Ausstellungsräume von "Sounds like Silence" (© Foto HMKV)

Blick in einen der Ausstellungsräume von "Sounds like Silence" (© Foto HMKV)

Man schreitet hier durch lauter dunkle Räume, denn man soll sich ja auf Hören konzentrieren. Überall wollen Kopfhörer ergriffen und aufgesetzt sein, auf dass man lausche und zunehmend differenziere. Nun gut, ein paar Filme sind auch zu betrachten – bis hin zur Jux-Aufführung von 4’33’’ durch Helge Schneider in Harald Schmidts Late Night Show (ARD). Mit dem im Internet forcierten Projekt „Cage Against the Machine“ haben es Popmusiker 2010 geschafft, die Stille auf Platz 21 der britischen Charts zu hieven.

Mit Stille in die Charts: Projekt "Cage against the Machine", 2010 (© Courtesy Dave Hillard / Foto Carina Jirsch)

Mit Stille in die Charts: Projekt "Cage against the Machine", 2010 (© Courtesy Dave Hillard / Foto Carina Jirsch)

Die anspruchsvolle Ausstellung verfolgt etliche Nachwirkungen der in 4’33’’ berufenen Ideen. Merce Cunningham hat eine experimentelle Tanzversion besorgt. Selbst Heinrich Böll gerät mit seiner Hörfunk-Satire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ (1955) in den Blick, obwohl er sich schwerlich auf Cage bezogen haben dürfte.

Breit ist das Spektrum: Die Formation „Einstürzende Neubauten“ hat mit „Silence is Sexy“ (2000) der Stille gehuldigt. Spezielle Dortmunder Varianten von 4’33’’ gibt es ebenso wie bewusst verfälschende Cage-Aufführungen, die die Frage nach geistigem Eigentum aufwerfen. Als stummer Handy-Klingelton ist das Stück so präsent wie als sukzessive Löschung vormals vorhandener Musik. Studien zur Wahrnehmung der Taubstummen stehen neben einer Videoinstallation von Bruce Nauman, der sein verlassenes Atelier nächtelang filmte. Auch da begab sich noch etwas…

Filmstill aus Name June Paiks Film "A Tribute to John Cage" (1973) (© Nam June Paik)

Filmstill aus Name June Paiks Film "A Tribute to John Cage" (1973) (© Nam June Paik)

Kunsthistorisch interessant ist ein genialisches Gipfeltreffen von Nam June Paik und Cage. Wie der Koreaner 4’33’’ filmisch aufbereitet hat, ist für beide Oeuvres aufschlussreich. Ferner wird ein Interview mit Cage (von Vicki Bennett) ebenso sprachlos gemacht wie eine Tagesthemen-Ausgabe mit Ulrich Wickert (von Hein-Godehart Petschulat) oder eine kriegstreibende Rede des George W. Bush (durch Matt Rogalsky).

Am Horizont solcher Darbietungen erscheint eine Ökologie der Geräusche. Eine leisere Welt wäre wohl keine schlechtere.

„Sounds Like Silence“. Cage / 4’33’’ / Stille. 1912-1952-2012. Bis 6. Januar 2012 im Dortmunder „U“, Leonie-Reygers-Terrasse (Navi Rheinische Straße 1). Eintritt 5 Euro, freier Eintritt bis 18 Jahre. Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr. Internet: www.hmkv.de

Helge Schneider (li.) und Harald Schmidt bei der Jux-Aufführung von 4'33'' (© 2010 Courtesy Kogel & Schmidt GmbH, Grünwald / meine Supermaus GmbH, Mülheim)

Helge Schneider (li.) und Harald Schmidt bei der Jux-Aufführung von 4'33'' (© 2010 Courtesy Kogel & Schmidt GmbH, Grünwald / meine Supermaus GmbH, Mülheim)




Wortmusik: Robert Wilson liest John Cage bei der Ruhrtriennale

Komponist, Zen-Buddhist, passionierter Pilzsammler: John Cage wäre am 5. September 100 Jahre alt geworden (Copyright: Rex Rystedt)

Die Sehnsucht nach vollkommener Stille, die der amerikanische Komponist John Cage im schalltoten Raum der Harvard-Universität suchte und aufgrund körpereigener Geräusche doch nicht fand, führte 1952 zu seinem epochalen Werk 4’33’’, in dem nicht ein einziger Ton erklingt. Zwei Jahre vor der Uraufführung durch den Pianisten David Tudor hatte Cage die Grundzüge seines Denkens und Schaffens in seinem „Vortrag über nichts“ skizziert.

Der Sprachduktus folgt dabei einem strengen rhythmischen Muster: Cage schrieb eine Wortmusik, ein Duett zwischen Stimme und Stille, in dem es um nichts geht, oder wahlweise um alles. Tiefgründig Philosophisches trifft auf clowneske Alberei, zen-buddhistische Gelassenheit auf das nachgerade zwanghafte Aufzählen aller Abschnitte und Unterkapitel des Wortstroms.

Bei der Ruhrtriennale, die Cages Vortrag als „einen der zentralen Texte der experimentellen Literatur des 20. Jahrhunderts“ ankündigt, übernimmt es der berühmte Regisseur und Theaterkünstler Robert Wilson, die Botschaft des Komponisten unter die Festivalbesucher zu bringen – unterstützt vom Videokünstler Tomek Jeziorski und akustischen Einsprengseln von Arno Kraehahn. In ein weißes Nachthemd gekleidet, ganz Traumtänzer oder Pierrot lunaire, sitzt er in der Bochumer Jahrhunderthalle inmitten einer Wüste aus alten Zeitungen. Weiße Banner mit schwarz aufgemalten Cage-Zitaten dominieren die Bühne. Bevor die Vorstellung mit einer nicht erklärten Verspätung von 25 Minuten beginnt, zücken viele Besucher ihr Handy für ein Szenenfoto. Dann setzt der Lärm ein: unvermittelt, infernalisch. Es ist ein unbestimmbares computergeneriertes Getöse, das geschlagene zehn Minuten lang aus den Lautsprechern dröhnt und Ohren und Psyche an die Grenzen der Belastbarkeit führt. Eine Handvoll Besucher streicht bei diesem Präludium die Segel. Die anderen harren aus, ja halten sich in der Mehrheit nicht einmal die Ohren zu. Es müssen wohl treue Cage-Adepten sein, denn der Komponist wollte bekanntlich stets „alles hören, was es zu hören gibt“ – sogar in der Nähe startender Düsentriebwerke.

Wilson beginnt, indem er mit der Hand über die Buchseiten streicht. So macht er den Fluss der Zeit und der Worte sichtbar. Deutsche Übertitel gibt es für den im amerikanischen Original gehaltenen Vortrag nicht, aber das gemessene Tempo und die deutliche Diktion machen das Folgen leicht. Trotz äußerlicher Unbewegtheit ist Wilson, der in den 1960er Jahren von John Cage und Merce Cunningham beeinflusst wurde, die innere Beteiligung beim Vortrag anzumerken. Seine Stimme, warm und modulationsfähig, lässt die von Offenheit und Optimismus bestimmte Lebenseinstellung des Komponisten ebenso anklingen wie seinen skurrilen Humor, der das Publikum an diesem Abend immer wieder zum Kichern bringt. In der Endlos-Schleife, in der sich der Vortrag schließlich verfängt, flüstert, predigt und bellt er den Text heraus, bis Cage über eine Tonbandeinspielung schließlich selbst das Wort übernimmt, während Wilson auf der Bühne ein kleines Nickerchen einlegt.

Die Überblendung zeigt, wie verblüffend ähnlich Wilson-Cage und der echte Cage zu diesem Zeitpunkt klingen. Doch es dauert noch eine Weile, bis die vierzehnfache Wiederholung der immergleichen Sätze durchbrochen wird. Ein gequältes Aufstöhnen, unterdrückt und doch hörbar, können viele da nicht unterdrücken. Wer weiß, ob mancher nicht im Stillen dachte, was eine junge Frau einst frei heraus schrie, als sie Cages private Lesung dieses Texts in seiner New Yorker Dachwohnung miterlebte. Sie stürmte mit den Worten hinaus: „John, ich mag dich wirklich, aber das hier kann ich auch nicht eine Minute länger ertragen!“

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Meilensteine der Popmusik (17): Diana Ross

„Ob nun sexy, damenhaft, verspielt, Soul oder Blues – Dianas Anziehungskraft überbrückt Generationen, und die verschiedensten musikalischen Geschmäcker.“ So schrieben es Musikkritiker, und Diana Ross ist schon immer ein Liebling der Fachpresse gewesen. Vor allen Dingen, wenn man die Damen und Herren zu ihren pompösen und aufwendigen Galavorstellungen einlud. Da konnte man immer wieder gerne am Champagnerkorken schnuppern. Aber so verlor Lady Diana auch immer mehr den Kontakt zur Basis, zu all den Fans, die sich ihre Flitter-Flatter-Konzerte nicht mehr leisten konnten. An den Hitparaden sollte sie es erkennen. Dort ging es abwärts mit Diana Ross, in der zweiten Hälfte der 70-er Jahre.

In solch brenzligen Situationen war es schon immer ratsam, sich in der aktuellen Szene umzuschauen. Das heißeste Produktions- und Autoren-Team des Jahre 1980 hieß zweifellos „Chic-Productions“. Die Macher: Bernard Edwards und Nile Rodgers. Mit ihrer Gruppe „Chic“ und ähnlichen Produktionen für andere Künstler räumten sie damals in den Discotheken der Welt ab.

Die mittlerweile 36-jährige Diana Ross entschloss sich, noch einmal auf die Kids zuzugehen und engagierte Edwards und Rodgers, für sie eine LP zu schreiben und zu produzieren. Vom Ergebnis der fertigen Produktion war die Grand-Dame allerdings überhaupt nicht angetan. Sie fühlte sich wie ein Gaststar auf einem neuen „Chic“-Album. Sie schickte die fertigen Bänder an die Produzenten zurück, mit genauen Anweisungen, wie die einzelnen Songs neu abgemischt werden sollten. Nun aber waren die beiden Produzenten sauer. Der Form halber machten sie kleine, kaum hörbare Veränderungen, und das Ganze ging zurück, mit der wohl nicht ganz ernst gemeinten Bemerkung, falls es der Künstlerin immer noch nicht gefallen sollte, könne sie das Ganze doch einfach selbst abmischen. Edwards und Rodgers lachten sich eins. Das sollte ihnen aber schnell vergehen.

Frau Ross schnappte sich nämlich einen Produktionsassistenten und nahm sich Titel für Titel selbst vor, bis ihr Stimmchen nicht mehr im Hintergrund trällerte, sondern ganz weit vorn. Das ganze Album nannte sie schlicht „Diana“ und es wurde, überaus mutig, mitten in das Sommerloch 1980 geworfen.

Bernard Edwards und Nile Rodgers, die gehörnten Produzenten, waren schockiert. So etwas war ihnen noch nie passiert. Stocksauer und wütend riefen sie beim Plattenboss von Motown Berry Gordy an. Der konnte sie nach langem Hin und Her beruhigen, riet den beiden, sich die Platte doch erst einmal anzuhören, sie sei riesig geworden. Diesen Eindruck hatten auch die Fans. Es wurde das erfolgreichste Solo-Album für Diana Ross überhaupt. Und mit der Single „Upside down“ hatte sie auch mal wieder einen Welthit, der bis heute zu den absoluten Disco-Knüllern gehört.

So konnte man den ganzen Wirbel hinter den Kulissen schnell vergessen, denn Diana Ross war ihrem Prinzip treu geblieben: „Bevor ich überhaupt irgendeinen Song singe, muss ich mich total mit ihm identifizieren. Erst wenn ich voll zufrieden bin, entsteht dann diese Kommunikation mit dem Publikum. Erst dann bekommen die Leute, was sie letztendlich wollen …“

Diana Ross on dailymotion

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Die bisherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14), Rolling Stones (15), Queen (16)




Neue CD mit Henryk Góreckis 3. Sinfonie – Spekulieren auf den einstigen Kultstatus

Neu erschienen auf CD: Henryk Góreckis 3. Sinfonie. Foto: Sony

Der polnische Komponist Henryk Górecki ist außerhalb seines Heimatlandes nahezu ein Unbekannter. Seine Hoch-Zeit hatte der 1933 Geborene ohne Zweifel in den 50er und 60er Jahren, zunächst beim Musikfestival Warschauer Herbst, später in Paris. Hier lernte er die westeuropäischen Avantgardisten Boulez, Messiaen und Stockhausen kennen. Góreckis Orchesterstück „Scontri“ war bei der Uraufführung 1960 einem Aufruhr des entsetzten Publikums ausgeliefert, schon allein wegen der teils extremen Lautstärke des Stückes.

Mitte der 60er aber vollzog sich die langsame wie stetige Wandlung des Bilderstürmers Górecki. Geprägt vom starken Katholizismus seines Landes, auf der Spur volksmusikalischer Wurzeln, komponierte er zunehmend harmonisch, meditativ, klar strukturiert. Als wichtiges Werk dieser Entwicklung dürfte die 1976 geschriebene 3., die „Sinfonie der Klagelieder“ gelten. Der gut 50minütige Dreisätzer für Streicher, Klavier und Sopran ist ein ruhig fließendes Lamento, ein Totengesang in drei Varianten. Maria beweint ihren sterbenden, toten Sohn. Die Textquellen sind eine spätmittelalterliche Heiligkreuzklage, eine KZ-Inschrift, ein oberschlesisches Volkslied. Religiös Inbrünstiges trifft auf weltliche Verzweiflung.

Die historische Pointe dieser Werkgeschichte liefert indes erst das Jahr 1992. Als die zweite CD-Einspielung der 3. erschien, mit der Sopranistin Dawn Upshaw und der London Sinfonietta unter David Zinman. Als diese Platte gut eine Million Mal verkauft wurde. Als sie zeitweise Eingang in die Album-Charts fand, also sich auch unter Jugendlichen größter Beliebtheit erfreute. Offenbar traf die Sinfonie den Zeitgeist: schwankend zwischen dem Bedürfnis nach Kontemplation und dem tönenden Protest gegen das Laute in der Welt.

Nun ist, 20 Jahre nach diesem unverhofften Run auf eine „Klassik“-CD, eine neue Deutung auf den Markt gekommen. Mit der libanesischen Sopranistin Isabel Bayrakdarian und dem Danish National Symphony Orchestra, dirigiert vom Amerikaner John Axelrod. Eine Liveaufnahme aus dem Konzerthaus Kopenhagen, die bei allem dunklen Streicherraunen hinreichend transparent erklingt.

Doch so eindringlich das Orchester die an- und abschwellende Dynamik nachzeichnet, so enttäuschend wenig Farbschattierungen sind zu hören. Górecki lässt mit seinem weiträumigen Minimalismus die Zeit verharren, aber daraus formt Axelrod nur bedingt Spannungsvolles. Die Sängerin trägt zudem oft reichlich dick auf, die Stimme leuchtet klagend, aber bisweilen rau, kehlig und nicht ohne Schärfe. So bleiben viele Zweifel, ob diese Aufnahme erneut Chancen auf Kultstatus hat. Denn warum sonst wurde die CD produziert? Eine ernstzunehmende Beschäftigung mit dem Werk Góreckis geht davon jedenfalls nicht aus.

Erschienen bei Sony Music

www.klassik.sonymusic.de




Slawische Schwermut, nordische Sehnsucht: Das neue Album der Geigerin Vilde Frang

Die junge norwegische Geigerin Vilde Frang hat ihre neue CD veröffentlicht. Foto: Marco Borggreve (EMI)

Sie hat den Bogen raus. Kann es sich inzwischen leisten, hinter einer präzisen, wie selbstverständlich aufblitzenden Virtuosität, den Kern musikalischen Ausdrucks anzupeilen. Denn die norwegische Geigerin Vilde Frang, 25 Jahre jung, hat entschieden an Reife gewonnen. Ihr zuzuhören, gleicht jedes Mal einer Entdeckungsreise – hin zu fragilen, verhangenen, satten, herb expressiven oder leidenschaftlich schroffen Klängen.

Nun ist ihr drittes Album erschienen, mit den Violinkonzerten von Peter Tschaikowsky und Carl Nielsen. Slawische Schwermut trifft hier auf nordische Sehnsucht, andererseits kerniges russisches Lokalkolorit auf dänischen Überschwang. Das macht den Reiz dieses Albums ebenso aus wie die Tatsache, dass sich ein Repertoireschlachtschiff neben einer Rarität findet. Vilde Frang schafft es, das eigentlich totgegeigte Tschaikowsky-Konzert zu einem aufregenden, glanzvollen wie spannend rauen Klangjuwel zu formen. Und sie nimmt das großformatige Nielsen-Stück so leicht wie ernst.

Akkuratesse in der Tongebung, Sicherheit in der dynamischen Balance, vor allem aber die Fülle an Farben, die Frang ihrem Instrument entlockt, lassen aufhorchen. Bei Tschaikowsky steht kernige Brillanz neben einer wehmütigen, teils wie hingehauchten, lyrischen, eleganten Phrasierung. Die Solistin kann wunderbar attackieren und sich blitzartig zurücknehmen. Sie gibt Nielsens teilweise putzig naiven Volksweisen jenes Funkeln mit, das uns milde lächeln lässt. Und Frang formt die rhapsodisch breiten, langsamen Sätze mit Vehemenz und Strenge.

Beinahe Ungewöhnliches kommt hinzu: Ein toller Orchesterklang, der nichts zudeckt, der Musik insgesamt Luft zum Atmen lässt. Eivind Gullberg Jensen dirigiert das Danish Radio Symphony Orchestra umsichtig, immer die rechte dynamische Balance, die Durchhörbarkeit im Sinn. Tschaikowskys Motivwiederholungen und –Sequenzierungen klingen nie langweilig, trotzdem nicht protzig übersteuert. Und Carl Nielsen wird weder künstlich in die Nähe eines Sibelius gewuchtet, noch erscheint das Verspielte der Musik verniedlicht. Ein schönes, spannendes Album.

(Erschienen bei EMI Classics 6 02570 2)

www.emiclassics.de




Im Oktober gibt es wieder Mozarts „Don Giovanni“ in Hagen

Bald ist die Sommerpause nicht nur in der 1. Fußball-Bundesliga, sondern auch in den Stadt- und sonstigen Theatern vorbei. Aus Hagen liegt bereits das Programm für September vor. Mit „Cabaret“ geht es gleich am 1.9. los. Hier soll es nun einen kurzen Vorgeschmack über die weiteren Aufführungen geben.

Mit "Cabaret" geht es im Theater Hagen wieder los . (Foto Stadt Hagen)

Eigentlich beginnt die Hagener Saison ja schon am 25. August, aber nicht im Haus selbst, sondern davor: Bei Beginn der Dämmerung zeigt das Haus bei freiem Eintritt auf dem „FilmSchauPlatz“  den Streifen „Moulin Rouge“ mit Nicole Kidman und Ewan McGregor.

„Cabaret“ wird dann ab 1. September an vier Tagen aufeinander gegeben, es folgt am 8. September die Premiere des Kinder-Musicals „Zorro jagt den Carmen-Schatz“.. Danach am Abend und am Folgeabend wieder  „Cabaret“, am 11. und 12. Zorro,  abends „Cabaret“, am 16. September morgens das 1. Kammerkonzert, am 25 das 1. Sinfoniekonzert und dazwischen immer wieder „Cabaret“. Die zweite Premiere ist wieder ein Kinderstück: „Nur ein Tag“ am 30. September.

Man sieht, dass man wenig sieht im ersten Monat, zumindest wenig Unterschiedliches. Freuen kann man sich aber auf den 7. Oktober: Da wird der sehr positiv besprochene „Don Giovanni“ von Mozart wieder aufgenommen, und ab 25. Oktober tritt Guildo Horn wieder in „The Rocky Horro Picture Show“ auf.




Festspiel-Passagen II: Geistlicher Auftakt in Salzburg

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Heute ungewöhnlich, wie klar sich Alexander Pereira bekennt: Er glaubt an Gott. „Ich bin ein alter Jesuitenschüler“, sagt er in einem Interview, in dem er seine Entscheidung begründet, den Salzburger Festspielen künftig eine „Ouverture spirituelle“ voranzustellen. Der neue Intendant möchte die geistliche Musik ins Blickfeld rücken. Christlich geprägte Werke sollen künftig auf solche aus anderen Weltreligionen treffen, jedes Jahr eine andere: 2013 ist der Buddhismus dran, 2014 der Islam.

Zum Auftakt seiner ersten Salzburger Festspielzeit setzte Pereira einen jüdischen Schwerpunkt, mit Musik, die nicht jeden Tag zu hören ist: Das Israel Philharmonic Orchestra spielte unter Zubin Mehta Ernest Blochs „Avodath Hakodesh“ (Gottesdienst). Mit Noam Sheriffs „Mechaye Hametim“ (Auferweckung der Toten), einer 1985 entstandenen großen Symphonie mit Chor, Orchester und Solisten, kam ein zeitgenössischer israelischer Komponist zum Zuge. Und von einem Klassiker der Moderne, Arnold Schönberg, stammt „Kol Nidre“, für das er melodische Elemente aus Musik zum jüdischen Jom Kippur verarbeitet hat.

In diese Reihe darf man Igor Strawinskys „Psalmensymphonie“ getrost einordnen. Bilden doch drei alttestamentliche Psalmtexte die Grundlage, die zum jüdischen wie zum christlichen Gebets- und Traditionsschatz gehören. Als Person schlägt Strawinsky eine Brücke zur orthodoxen Christenheit, als Musiker verleugnet er die Spuren russischer Kirchenmusik auch in diesem Werk nicht. Um das Jahr 1930, in dem die Symphonie entstanden ist, praktizierte er seinen Glauben explizit und setzte sich mit religiösen Fragen auseinander. Mit den Wiener Philharmonikern und der vorzüglichen Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor verständigte sich Valery Gergiev auf einen ruhigen, unspektakulären Zugang mit breit gefächerten dynamischen Nuancen zwischen Pianissimo und Mezzoforte.

Strawinsky hat sich bei der Musik zu Psalm 38, 39 und 150 von religiöser Emphase fern gehalten. Er schreibt Musik wie eine mittelalterliche Miniatur: farbenprächtig, aber objektivierend. Und Gergiev folgt dieser „darstellenden“ Linie. Die Flexibilität des Chores, die ruhig-schwingenden Tempi des Dirigenten, die strukturerhellende Transparenz des Orchesters passen bestens. Wenn in „Alleluja. Laudate Dominum“ das „in sanctis Eius“ verhalten-scheu erklingt, ist man an die große östliche Tradition der Heiligenverehrung erinnert. Kein Triumph, keine Verherrlichung, sondern ein ehrfürchtiges Sich Nähern mag diese musikalische Wiedergabe widerspiegeln.

Die Eröffnungskonzerte der „Ouverture spirituelle“ zeigen eine dramaturgisch bewusste Konzeption: Am Beginn stand – wie künftig in jedem Jahr geplant – Joseph Haydns „Schöpfung“, eine hochgelobte Aufführung unter John Eliot Gardiner; im nächsten Jahr soll sie Nikolaus Harnoncourt dirigieren. Es folgte der „Messias“ unter Daniel Harding, ein Schlüsselwerk in der Geschichte des Oratoriums. Mit der c-Moll-Messe KV 427, die Mozart selbst bei seinem letzten Salzburg-Besuch 1783 dirigierte, wurde dem musikalischen Genius loci gehuldigt.

Im Laufe der Saison, die bis 2. September ausgedehnt wurde, folgen mit der „Messe solennelle“ von Hector Berlioz am 15. August und der „Messa da Reqiuem“ Giuseppe Verdis als Abschlusskonzert am 1. September weitere bedeutende Schöpfungen aus der geistlichen Sphäre. Während die Festspiele auf diese Weise eher eine Reihe der beliebtesten „Highlights“ präsentieren – was sich künftig der Profilierung halber nicht fortsetzen sollte –, brachte etwa die Salzburger Dommusik im Sonntagshochamt eine der zwanzig Messen von Luigi Gatti, dem Hofkapellmeister Fürsterzbischof Colloredos und damit Vorgesetzten von Leopold Mozart.

Der Anfang mit der „Schöpfung“ lässt sich durchaus programmatisch für die philosophische Ausrichtung der „Ouverture sprituelle“ verstehen. Haydn schrieb kein Oratorium für die Kirche, sondern für eine gebildete Gesellschaft, für die freilich christlicher Glaube und die Ausrichtung an christlichen Prinzipien Teil ihres geistigen Lebens war. Der Schöpfungslaube, den Gottfried van Swietens Libretto voraussetzt, verbindet nicht nur Juden, Christen und Muslime. Dass am Beginn allen Existierenden eine wie auch immer geartete göttliche Setzung steht, ist Gemeingut aller Religionen. So spiegelt die „Schöpfung“ Rückbezug auf Gott, Freude an der Natur, aufklärerisches Denken, aber eben auch ein Bewusstsein für das – wenn auch sehr allgemein zu verstehende – Gemeinsame aller Religionen, formuliert auf der Basis eines christlich-jüdischen Schöpfungsbegriffs.

Ein Projekt wie die „Ouverture spirituelle“ ist in Gefahr, zu einem Wohlfühlprogramm mit beliebten Werken und beliebigen Inhalten zu degenerieren. Um ein postmodernes kulturelles Konsumprogramm mit spiritueller Prägung zu vermeiden, bieten die Festspiele gemeinsam mit den Herbert-Batliner-Europainistitut ein Begleitprogramm an. Wie beim „Jedermann“ mit seinem aus dem geistlichen Spiel stammenden Parabel-Charakter bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er sich innerlich berühren lässt, ein Häppchen moralische Genugtuung aufnimmt oder sich Hoffmannsthals Appell lediglich als beeindruckendes Produkt einer Kulturepoche zu Gemüte führt. Wer die aus Antike, Christentum und Aufklärung ererbte Idee, Bildung könne den Menschen zum vollkommeneren Menschsein führen, nicht ganz aufgeben will, wird den spirituellen Schwerpunkt zu Beginn der Festspiele – der dessen ureigensten Intentionen entspricht – nur begrüßen können.

Nicht nur christlich, sondern ausgeprägt katholisch war das Programm eines Konzerts, mit dem Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus im Salzburger Dom zu Gast waren. Die „Missa Longa“ (KV 262) und die Litanei zum Allerheiligsten Altarsakrament (KV 243) sind beide in Salzburg uraufgeführt worden: die „Litaniae de venerabili altaris sacramento“ zum Palmsonntag 1776, die Messe – durch das Schreibpapier des Autographs auf 1775 zu datieren – vermutlich im gleichen Jahr im Dom oder in Sankt Peter. Beide geben ein glanzvolles Zeugnis für das Können des 19jährigen Konzertmeisters im Dienste Colloredos. Mit der Messe scheint Mozart alle kontrapunktischen Künste zum Lob Gottes – auch zum Ohrenschmeichel seines Dienstherrn und der Selbstbestätigung seiner Kunst – eingesetzt zu haben. Und die „Litaniae“ geben Zeugnis vom Einfallsreichtum des Komponisten, der jeder Wiederholung des „miserere nobis“ eine eigene Farbe, einen spezifischen Ausdruckswert geben konnte.

Harnoncourt dirigierte beide Salzburger Höhepunkte der Kirchenmusik – in Wien hatte Mozart ja leider keine Gelegenheit mehr, auf diesem Feld zu brillieren – mit ausgefeilter Sorgfalt im Detail. Die Reaktionsschnelligkeit seines Orchesters, der vokale Expressionswille des Arnold-Schönberg-Chores, verhallten leider in der unergründlichen Akustik des Domes. Ein Grund ist wohl: Musiziert wurde im Altarraum, nicht auf der Empore, wie es für eine Kirche eigentlich vorgesehen ist.

Auf Wunsch Harnoncourts wurden extra die Tapisserien aus dem Dommuseum aufgehängt, um die akustischen Verhältnisse der Mozartzeit anzunähern. Leider umsonst: Der Nachhall überflutete die sorgsam ausmodellierten dynamischen Kontraste; jedes Forte verurteilte ein nachfolgendes Piano zum Tod durch Ertrinken. Zudem neigt Harnoncourt in der Messe zu raschen, energischen Tempi und kleinteiliger Artikulation.

Auch die Solisten Sylvia Schwarz, Elisabeth von Magnus, Jeremy Ovenden und Florian Boesch versuchten meist vergeblich, ihre Stimmen zu profilieren. In den „Litaniae“ hatten die Musiker dank des langsameren Tempos und des musikalischen Pathos mehr Chancen auf fassbar gestalteten Klang. Harnoncourt beleuchtete theologische Schlüsselworte wie „supersubstantialis“ oder das – von Mozart in eine exotisch-dunkle Klangfarbe gekleidete – „Viaticum“, die Wegzehrung derer, die im Sterben zu Gott streben. Ansonsten musste man in Kauf nehmen, was als Gleichnis für unsere Zeit stehen könnte: Das Wort verhallte unverstanden.




Meilensteine der Popmusik (16): Queen

Klamauk, Anarchie, Chaos und Witz – das waren die üblichen Ingredienzien für einen Film der legendären US-Komiker „The Marx Brothers“ aus den 30ern. Er gehört bis heute zu den großen Lachorgien der Filmgeschichte. Den Titel dieses Films lieh sich eine britische Rockgruppe 40 Jahre später (1975) für ihre damals aktuelle LP aus: „A night at the opera“. Die Gruppe nannte sich respektlos Queen – und hatte nicht einmal fünf Jahre Karriere auf dem Buckel.

Von den Fans wurde sie gerade als neue britische Rockhoffnung gefeiert, da hatte sie die professionellen Musikkritiker auch schon ins Visier genommen. Man konstatierte u.a.: Die Band hat zu viel Kopf – zu wenig Bauch. Immerhin konnte Gitarrist Brian May einen Doktortitel in Astronomie vorweisen, Drummer Roger Taylor einen solchen in Biologie. Sänger Freddie Mercury hatte Grafik und Design studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen. Das war den Rock-Fachleuten einfach zu viel Intelligenz auf einmal. Musikalisch sprach man sogar von einer billigen Led-Zeppelin-Kopie. Und man schoss sich auf den Kopf der Gruppe ein: Sänger Freddie Mercury wurde als homophile Rock-Diva bespöttelt. Dass sie damals über einen der besten britischen Rocksänger herfielen, merkten viele erst später.

Queen war zwar die Band, aber zwei Bandmitglieder ragten dennoch heraus. Zum einen der Gitarrist Brian May, der mit seiner Gitarre alle Stimmungen abbilden konnte, von wild kreischend bis zärtlich flüsternd. Und Freddie Mercury, der mit seinen Stimmen-Collagen die gesamte Produktion von „A night at the opera“ geradezu vollständig einnahm. Bis zu 180 Mal vervielfältigte er seine Stimme im „Overdub“-Verfahren, eine aufwendige und zeitraubende Geschichte, für die ein neuzeitlicher Computer in der Gegenwart nur wenige Minuten benötigen würde.

Der Spagat zwischen Klassik und Rock schien bei „A night at the opera““ zum ersten Mal so richtig geglückt. „U“ und „E“ gaben sich die Hand. Vor allen Dingen der letzte Song der LP, das sechs Minuten lange „Bohemian Rhapsody“, wurde zum Höhepunkt dieses Rocktheaters. Das erkannten Band und Plattenbosse schon frühzeitig; doch wer sollte diese (über-)lange Single im Radio spielen? Und wie und wo konnte man diesen Titel eventuell kürzen? Natürlich konnte und wollte man das Werk nicht beschneiden. Also wurde „Bo Rhap“ (so nannte es die Band kurz) dann doch in Originallänge veröffentlicht. Das Ganze mit einem riesigen PR-Aufwand. Dazu gehörte u.a. ein Promotionfilmchen, der das Zeitalter der Videoclips um ein paar Jahre vorwegnahm. Es war ein Rockklassiker für die Ewigkeit entstanden.

Das Gesamtergebnis war überwältigend und bedeutete den endgültigen Startpunkt der Welt-Karriere für Queen. Der elegante, pompöse und dramatische „Opernabend“ machte zudem Freddie Mercury zur neuen Kult-Figur, und für seine Fans letztlich unsterblich.

QUEEN auf youtube




„Blauer Engel“, „Verräterin“ und vergessene Kriegsheldin: Marlene Dietrich starb im Mai vor 20 Jahren

Ich hockte vor meinem altersreifen TV-Gerät, zappte vor mich hin und meine Augen wurden unversehens an den Bildschirm gefesselt. Und meine Augen begannen zu tränen, weil mein Gehör dafür sorgte, dass ich keine Kontrolle mehr hatte über den Tränenfluss.

Marlene Dietrich, mondän-divenhaft in Weiß gewandet, sang Pete Seegers „Where Have All The Flowers Gone“ mit deutschem Text. Als sie zur Textstelle „Wo sind die Soldaten hin …“ gelangte, wurde sie wütend-laut, ruckte ihre Körperspannung sichtbar und änderte sich ihre Mimik von traurig in zornig, gab sie in ihrer Emotionalität vor dem Publikum offen zu, dass sie aktive Kriegsteilnehmerin war, dass sie beinahe in deutsche Gefangenschaft geraten war, dass sie auf ihre Weise gekämpft hatte, Hitler und Hitlers Deutschland zu besiegen. Nicht das Deutschland, in dem sie zur Welt gekommen war, sondern das Deutschland, das sie zwang es zu verlassen, damit sie aufrecht bleiben konnte.

Eher beiläufig erfuhr ich, dass sie vor 20 Jahren am 6. Mai starb, woran ich mich zwar blass erinnere, woran ich im Mai allerdings von niemandem so nachhaltig erinnert wurde, dass ich mich daran erinnern könnte, obwohl ich ja eigentlich recht aufmerksam durchs Leben gehe. Und was lehrt mich das? Es lehrt mich, dass Marlene (eigentlich Marie Magdalene) Dietrich dem Deutschland, in dem sie zur Welt kam und das sie in seiner dunkelsten Zeit regelrecht ausspie, dass sie diesem Deutschland auch heute noch nicht recht geheuer ist. Dass unterschwellig vielleicht doch noch die Haltung im Innersten mancher Vaterländler wabert, die sie als Verräterin schimpften und ihr in Gestalt eines jungen Mädchens vor einem Auftritt während ihrer Europatournee 1960 in Düsseldorf gar ins Gesicht spuckten.

„Die Dietrich, das ist doch gar keine Deutsche mehr“, maulte meine Mutter einst. Teile meiner Verwandtschaft fanden drastischere Ausdrücke für diese menschliche Ikone, die dem deutschen Film ebenso wie der Hollywood-Fabrik fabelhafte Höhepunkte gab. Und Teile meiner Verwandtschaft zeigten sich vollkommen unversöhnlich, weil die Dietrich dem Vaterland aller Vaterländer den Rücken kehrte und eine neue Staatsbürgerschaft annahm, die der Vereinigten Staaten von Amerika. Und noch unversöhnlicher wurden alle die, die „stets von nichts gewusst hatten“, wenn sie über Marlenes Kriegseinsatz sprachen, weil sie und nicht Lale Andersen wehrkraftzersetzend „Lilli Marlen“ über alliierte Wellen sang und nachdenklichere Deutsche vor dem Rundfunkgerät hocken ließ als den Nazis lieb war.

Marlene Dietrich wurde in den Staaten hingegen von ihren „Boys“ geliebt, weil sie den frontnahen Einsatz suchte, auf dass sie helfen konnte, diesen „Boys“ ein wenig Erholung vom täglichen Grauen zu bescheren. Sie liebten sie, weil sie durch Lazarette krauchte und die oft kraftlosen Hände geschundener Soldaten hielt. Sie liebten sie so nachhaltig, dass sie noch als Veteranen zu Hunderten nach Las Vegas tourten, um ihre Marlene (begleitet von Burt Bacharach) singen zu hören und vielleicht einen ihrer begehrten Händedrücke zu erhaschen, die sie fröhlich ihren „Boys“ anbot. Und die USA vergaßen auch nicht, welchen persönlichen Einsatz sie gezeigt hatte, als sie half, ein Deutschland zu bezwingen, das nie mehr ihres wurde. Sie erhielt die „Medal of Freedom“, die höchste zivile Auszeichnung, die die USA zu vergeben haben.

Es wundert nicht, dass Spencer Tracy ihr im persönlichen Gespräch sagte, nur sie könne diesen Satz aussprechen, glaubhaft aussprechen: „Wir haben von nichts gewusst.“ Sie tat es als Frau Berthold, Generalswitwe gegenüber Richter Haywood (Spencer Tracy) in ihrem letzten großen Film „Das Urteil von Nürnberg“. Wie sehr müssen ihr diese Wörter zuwider gewesen sein.

Mir schwollen noch einmal die Augen, bis sie überliefen. Da stand Marlene, wieder in Weiß, zart und stark auf der Bühne des Warschauer Kongresszentrums und sprach brüchiger Stimme in Französisch das Publikum an, beschrieb ihre unendliche Bewunderung für Polen und seine Menschen und endete mit einem kaum mehr hörbaren „Je vous aime!“ Wie schlecht muss man sich fühlen, wenn man daran mitgewirkt hat, dass ihr lange und hartnäckig Ehrungen in ihrem Geburtsland verweigert wurden, sich auch Prominente öffentlich über ihre Lebensleistung herablassend äußern konnten, ihr erst 2002 posthum die Berliner Ehrenbürgerschaft verliehen werden durfte.




Vertrag verlängert: Benedikt Stampa bleibt bis 2018 Intendant des Dortmunder Konzerthauses

Vertragsverlängerung zum Konzerthaus-Jubiläum. Intendant Benedikt Stampa. Foto: Achim Multhaupt

Zehn Jahre alt wird das Konzerthaus Dortmund im September, und rechtzeitig zur anstehenden Jubelfeier sorgt die Stadt für gute Nachrichten. Denn soeben wurde der Vertrag mit Intendant Benedikt Stampa vorzeitig um fünf Jahre verlängert.

Bis 2018 also darf er die Geschicke des Hauses nun leiten. Er habe es seit seinem Amtsantritt 2005/06 durch kluge Programmpolitik und beispielhafte Formate wie „Exklusivkünstler“ (aktuell Esa-Pekka Salonen), „Zeitinsel“-Festivals oder „Junge Wilde“ zum Erfolgsmodell gemacht, heißt es in der offiziellen Begründung.

Das exklusive Popabo, Konzerte mit hochkarätigen Solisten und Orchestern oder kleinen Ensembles, Weltmusik oder konzertante Oper spiegeln zudem eine Erfolgsmixtur wieder, die in ihrer Vielfalt Spannung verheißt, das Publikum neugierig macht. Stampa hat stets betont, dass Klappern zum Handwerk gehört. Will sagen: Ohne eine subtile, ideenreiche, auch freche Werbestrategie wäre das Konzerthaus kaum in der Lage, eine Auslastungsquote von aktuell 70 Prozent zu erreichen.

Frechheit bringt Gewinn: Dass dies nicht nur ein Spruch ist, beweist der Werbefilm über die neue Generation der „Jungen Wilden“ ebenso wie der Schatz an markigen Sätzen, die sich im Programmbuch für die Saison 2012/13 finden. Da werden die Nachwuchssolisten, schon mehr oder weniger berühmt, unter dem Titel „Das Ende der klassischen Klassik“ vorgestellt, da lesen wir als Gesamtmotto „Musik bereichert“.

Binsenweisheit hier, die Neuerfindung des Rades dort? Nehmen wir also die „Jungen Wilden“: die Pianisten Jan Lisiecki und Khatia Buniatishvili, die Geiger Ray Chen und Vilde Frang, die Sopranistin Anna Prohaska, der Cellist Andreas Brantelid sowie Sebastian Manz (Klarinette) werden sich in den nächsten drei Jahren die Konzerthaustür in die Hand geben. Im Werbefilm agieren sie wild bis zum äußersten: Musizieren sich in einen Rausch, der zur Zerstörung der Instrumente führt, während sich die Sängerin die Perlenkette vom Halse reißt.

Derartige Leidenschaft, lautet die Botschaft wohl, ist auch bei den Konzerten zu erwarten (ohne Sachbeschädigung, versteht sich). Und wie steht’s um die Bereicherung mit Musik? Intendant Stampa weiß sehr wohl, dass die Kunst nach Brot geht. Doch Botschaften wie „Ich bin Millionär an Glückshormonen“ oder „Ich spekuliere. Auf Freudentränen“ bedeuten nichts anderes als die Tatsache, dass ein Leben ohne Musik seelenlos ist. Der Kunstgriff, Reizwörter aus der Wirtschaftssprache ästhetisch umzudeuten, ist dabei so originell wie frech. Aber viele mögen denken: So hätte das schon längst mal jemand formulieren müssen, um der Kunst willen.

Gut aufgestellt und ziemlich präsent also darf das Dortmunder Konzerthaus sein Zehnjähriges feiern. Mit vier Gala-Abenden vom 7. bis 10. September. Mit insgesamt etwa 100 Eigenveranstaltungen. Auf dass das geistige Kapital wachse, wie es im Programmbuch steht.

Informationen zur neuen Saison gibt es unter www.konzerthaus-dortmund.de

 




Schubert für Feinsinnige: András Schiff beim Klavier-Festival Ruhr

András Schiff berichtete in einem Interview einmal aus seiner Jugend: Er habe im Unterricht bei seinem Landsmann György Kurtág als Hausaufgaben Schubert-Lieder bekommen, die er in der Klavierstunde dann selbst singen musste. Und Schiff folgert: „Singen und Spielen, das war der vielleicht wichtigste Impuls in Richtung Schubert.“ Wer dem Klavierabend des ungarischen Pianisten in der Stadthalle Mülheim folgte, wird die Spuren dieser Ausbildung unschwer erkannt haben. Kurtág, einer der bedeutenden Komponisten der Gegenwart, hat dem jungen Schiff etwas mitgegeben, was dieser in seinen unvergleichlichen Stil integriert hat. Sein Schubert-Abend zum Abschluss des „klassischen“ Programms des Klavier-Festivals Ruhr war inspiriert von den Grundtugenden des Singens und des Atmens.

Dass Schubert in „singenden Phrasen“ denkt, macht Schiff sogleich deutlich: Den Anfang der G-Dur-Sonate D 894 setzt er in einem kunstvoll gesponnenen Bogen an, einer subtilen Mischung aus gebundener Phrase und perlender Staccato-Leichtigkeit, gegliedert mit einer schier unerschöpflichen Vielfalt an dynamischen Valeurs. Für einen solchen Ansatz ideal ist der Hammerflügel aus dem Bonner Beethoven-Haus, den Schiff spielt: Einem gewissen Franz Brodmann, einem unbekannten, angeblich in Wien zu lokalisierenden Instrumentenbauer, zugeschrieben, bietet er einen diskreten, farbigem Spiel zugeneigten Klang. Der Bass lässt sich markant betonen oder seidig-trocken ausspielen; in der Mittellage zeigt der Flügel warme, etwas metallisch klingende Tragfähigkeit. Nur der Diskant wirkt noch recht altertümlich spitz, wenig tragfähig im Ton. Dass vor allem in der oberen Mittellage die Stabilität der Stimmung schnell nachlässt, gehört zu den Kompromissen, die man bei historischen Instrumenten eingehen muss: Man bezahlt den Zugewinn im Klang durch Mängel der technischen Perfektion.

Dennoch: Mit diesem Flügel kann Schiff zeigen, worum es ihm bei Schubert geht: die gesanglich geprägte Phrasierung, die unerschöpflichen Abmischungen und Schattierungen in Klang und Dynamik, die Kunst der leisen Töne, der kaum hörbaren Andeutung. Die Zuhörer versetzt der Zwang zur Konzentration dabei nicht immer in Ruhe. Warum man spätestens 90 Sekunden nach dem Beginn eines Stücks das Ritual des Bonbon-Auspackens beginnen muss, bleibt mir auf ewig ein Rätsel.

Feines Geraschel in 4-D-Ausstrahlung also zu Schubert/Schiffs melancholischer Heiterkeit, zur diskreten Leidenschaft sanfter Aufschwünge und erlesen miniaturisierter Kontraste, zu elegischem Verklingen, nachdenklichem Kreisen und – hin und wieder – einem delikat gezügelten Forte-Akzent. Der Gefahr sanft-elegischer, versüßter Ästhetik entkommt Schiff nicht immer – vor allem in diesem schweifenden ersten Satz. Aber man kann ihm nicht vorwerfen, Schubert zu „verzärteln“: Schon im Andante-Satz greift der Pianist beherzter zu, arbeitet harmonische Kontraste deutlich heraus. Vor allem überspielt er nichts. Nur meidet er, Schuberts Psycho-Dramatik vorzuführen, wie ich es einmal etwa von Arcadi Volodos in jugendlichem Zupacken gehört habe.

Bei Schiff bleibt es bei Schubert für Feinsinnige. Der Anfang der ungeheuer tiefsinnigen posthumen C-Dur-Sonate D 960 ist etwa bei Alfred Brendel unter einen spannungsreicheren Bogen gestellt; Brendel betont – allerdings auf modernen Flügeln – eher das Gebrochene, das widerständige Potenzial des Bass-Trillers. Schiff achtet eher den Fluss der Musik, aber gerade auf dem Hammerflügel wirken die Triller nächtlich harsch und fast böse. Zwei Aspekte einer Schlüsselstelle, beide genial erfasst und dennoch so unterschiedlich!

Nun entwickelt Schiff die Sonate dann auch eher aus einem kantablen Aspekt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er der Dynamik des Fließens unbekümmert Noten opfert. Bis in die fast unhörbaren Pianissimi des zweiten Satzes behauptet jeder Ton sein Gewicht. Dieses Andante sostenuto rückt Schiff nahe an die „Winterreise“ mit ihrer lakonischen, gelähmten Trauer.

Das Scherzo setzt er mit deutlich markanteren Rhythmen und spielerischer Frische deutlich ab; im vierten Satz muss die schmerzliche Intensität, die der Diskant auf dem modernen Flügel gewinnt, miniaturisierten Porzellantönen weichen – ein Eindruck, der das Bild von Schubert als dem Weltschmerz-Komponisten der Romantik etwas relativiert. Vier Zugaben, darunter die „Ungarische Melodie“ und zwei der unvergleichlichen Impromptus – runden einen Abend der Innerlichkeit ab, der in unserer lärmvollen Welt wie eine der Zeit enthobene Zauberinsel wirkte.




Ein Hoch der Tastenkunst: Martha Argerich beim Klavier-Festival Ruhr

Der Jubel war programmiert: Martha Argerich, eine der bekanntesten Pianistinnen weltweit, gehört zu den geschätzten „Stammgästen“ des Klavier-Festivals Ruhr. Solo-Konzerte gibt die Dame mit den langen grauen Haaren seit langem nicht mehr gerne. Sie macht mit Musikern, die sie schätzt, Kammermusik. In diesem Jahr konzentrierte sich ihr Auftritt in der Philharmonie auf das Klavier. Zwei Flügel, vier Spieler, acht Hände: Der Tastenkunst wurde Tribut gezollt!

Argerich eröffnete den Abend mit ihrer langjährigen Klavierpartnerin Lilya Zilberstein. Mozarts D-Dur-Sonate zu vier Händen (KV 381) schnurrte in perfekter Gleichzeitigkeit dahin. Die Damen gönnten sich kein Innehalten, preschten durch den ersten Satz. Kein idealer Zugang zu Mozart: Farbwechsel wären durch die Noten beglaubigt und würden die Vorherrschaft des rein Motorischen brechen. Dass Mozart zum Beispiel die Staccato-Treppchen schon nach vier Takten durch Bindebögen, nach weiteren vier Takten durch Rhythmuswechsel ersetzt, hat für die beiden stürmischen Damen keine Konsequenz für ihre Rhetorik. Und der piano-Einsatz ab Takt 14 zählt nicht als Zäsur, nach der sie die Artikulation verändern. Der zweite, schön fließende Satz gestand Mozart jedoch die Tiefe der Empfindung zu; im dritten Satz waren die Pianistinnen brillant-gelöst im Allegro molto angekommen.

Lilya Zilberstein (links) und Martha Argerich bei ihrem Essener Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Lilya Zilberstein (links) und Martha Argerich bei ihrem Essener Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Aus zweien von Debussys „Trois Nocturnes“ hat Maurice Ravel ein effektvolles Stück für zwei Klaviere gemacht, in dem Zilberstein und Argerich in ihrem Element sind: Konzentration auf magische Klangmomente, meditatives Kreisen, ein raffiniertes Spiel mit der Spannung, aber auch rasantes Martellato. Wenn im zweiten Stück, „Fêtes“, die dunkle Bässe „ausrollen“, die Spannung der Musik verebbt, noch einmal ein paar Töne aufklingen, wie Schaumkrönchen sich an einem Felsbrocken am Strand bilden, bevor bestimmende Bass-Akkorde das Ende signalisieren, dann wird beim Zuhören klar, wie souverän die beiden zu gestalten wissen.

In Franz Liszts „Concerto pathétique“ steigern sie die Ausdrucksmittel noch: Musikalische Gesten werden – wie im Stummfilm – expressiv überzeichnet: schmerzliches Pathos, aufgewühlte Bewegung, verzehrende Intensität, bittersüße Melancholie. Doch in einer von Martha Argerich unvergleichlich innig erzählten Melodie klappt jemand – schnapp – die Handtasche zu. Kein Augenblick der Zeit ist vollkommen …

Der Abend wurde auch genutzt, den Söhnen von Lilya Zilberstein zu ihrem Klavier-Festival-Debüt zu verhelfen: Daniel und Anton Gerzenberg verstärkten das Damen-Duo in Bedrich Smetanas Sonate für zwei Klaviere zu acht Händen. Füllig und orchestral kommt diese Musik daher, aber Smetana war doch wohl eher Melodiker als ein Freund kontrapunktischer Herumfeilerei. Die harmonischen Subtilitäten sind bei den Vieren in schön ausbalancierten Händen. Daniel und Anton, zwei sympathische Jungs, können leider – auch in der Zugabe eines Smetana-Rondos – nur beflissenes Teamwork beisteuern. Da die beiden seit 2008 als Klavierduo auftreten, wird es wohl irgendwann die Gelegenheit geben, zu hören, was sie wirklich können.

Ans Ende – vor die drei heftig beklatschten Zugaben – setzen Argerich und Zilberstein acht Sätze aus Tschaikowskys „Nußknacker“: Tanzmusik vom Feinsten, mit Geschmack, blitzender Präzision und einem kleinen Schuss Sentiment veredelt. Noch ein Hinweis: Am 20. Juli erscheint Martha Argerichs neuestes Album. Mit Gidon Kremer (Violine), Yuri Bashmet (Viola) und Misha Maisky (Cello) spielt sie Brahms‘ Klavierquartett op. 25 und Schumanns Fantasiestücke op. 88.




Meilensteine der Popmusik (15): The Rolling Stones

Nur wenige Bands haben ihre Gefühle so offen bloßgelegt, waren so widerspenstig, und doch so ehrlich wie die Rolling Stones. Für sie gab es keine Tabuzonen. Den Grundsatz, nur nichts Persönliches in die Pop-Musik einzubringen, warfen sie einfach über den Haufen. Seit nunmehr 50 Jahren auf der Bühne und bis heute: „shocking“ um (fast) jeden Preis.

Im April 1966 mussten die Feministinnen daran glauben. Die Aussagen des Albums „Aftermath“ trieben die engagierte Weiblichkeit zur Weißglut. Auf einen Punkt: Männer sind Männer, und Frauen sind Sex-Objekte. Alles „under my thumb“, unter meinen männlichen Daumen…

Die Stones als chauvinistische Frauenhasser? Der hämische, rachsüchtige Tonfall ist laut Mick Jagger ganz und gar nicht politisch gemeint. Das ist nur die Art, wie die Stones über die Sachen reden, die sie beschäftigen. Wer so die Texte Stones-mäßig interpretierte, der begriff schnell, dass die Feministinnen nur oberflächlich zugehört hatten – ja, sogar den Fünf eigentlich hätten dankbar sein müssen. Ihr Angriff richtete sich nämlich gegen die hirnlosen Miezen, die wie Katzen schnurren. Gegen den modischen Disco-Darling, die neurotischen, reichen Töchter.

Die Beatles saßen zur gleichen Zeit (1966) im Studio und spielten ihre neue Single „Paperback Writer“ ein. Mitten in den Aufnahmen schickten sie ihren Road-Manager los um die neue Stones-LP zu kaufen, die sie dann gemeinsam durchhörten. Man witterte die mächtig heraufziehende Konkurrenz. Für viele Fachleute war „Aftermath“ die Antwort auf die damals aktuelle Beatles-LP „Rubber Soul“. Doch die Stimmungen dieser beiden Platten trennten Welten.

Die Rolling Stones hatten einen neuen sozialkritischen Höhepunkt erreicht. Zwei aufreibende US-Tourneen hatten ihr Amerika-Bild gründlich verändert. Aus dem riesigen, einsamen Land wurde ein Chrom- und Drogen-Dschungel. Trotzdem produzierten sie weiter in Hollywood, entdeckten die technischen Möglichkeiten der dortigen Studios.

„Aftermath“ brachte nicht nur zum ersten Mal ausschließlich Songmaterial von Mick Jagger und Keith Richards, sondern war auch – man höre und staune – ihre erste Stereo-Platte. Vielleicht der wirkliche Startpunkt einer Weltkarriere, die bis heute anhält. Der musikalische Durchbruch für die Stones kam mit großer Bandbreite: das zarte „Lady Jane“, das düstere „Mother´s little helper“, das hymnische „Out of time“, oder auch die modische Sitar auf „Paint it black“ (nur auf US-Album) – die damals übermächtigen Beatles hatten endlich einen gleichwertigen Gegenpart gefunden.

The Rolling Stones on youtube

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Die bisherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14)




Frust und Tumult in der Philharmonie: Anne-Sophie Mutter musste absagen

Mutter oder gar nichts. Vor dem Konzert des Klavier-Festivals in der Essener Philharmonie spielten sich tumultuöse Szenen ab. Geld zurück, forderten vornehme Damen barsch, denn Anne-Sophie Mutter, die Geigerin mit Kult-Status, war nicht da! Die Damen am Info-Tisch des Klavier-Festivals wurden sogar rüde beschimpft, selbst Intendant Franz Xaver Ohnesorg musste einschreiten. Der Grund: Anne-Sophie Mutter hatte am Morgen anrufen lassen, sie sei ernstlich erkrankt und könne am Abend auf keinen Fall spielen.

Wer die Künstlerin kennt, der weiß: Sie würde nie ohne triftigen Grund absagen. Doch die Enttäuschung mancher Mutter-Fans saß so tief, dass die Fassade kultivierter Contenance unter dem Ansturm von Frust und uneingelöster Erwartung zerbröckelte. Hatte man sich doch so auf den einzigartigen Event gefreut!

In solchen Augen zählte das Wunder nicht, das die Disposition des Klavier-Festivals vollbracht hat: Binnen weniger Stunden waren Julia Fischer und ihre Klavierpartnerin Milana Chernyavska als Einspringer zur Stelle. Fischer hat zwischen Salzburg, München, Berlin und London eine Traumkarriere hinter sich, die von ihrer musikalischen Ernsthaftigkeit voll gedeckt wird. Von „Ersatz“ zu sprechen, wäre abwegig. Mutter und ihre Kollegin können sich auf Augenhöhe treffen.

Das zeigen Fischer und Chernyavska – deren Mentor Alfred Brendel saß im Publikum – selbst unter den ungünstigen Vorzeichen. In Claude Debussys g-Moll-Sonate herrscht nach glühend-dunklem Beginn ein leidenschaftlicher, vielfach schattierter Ton vor: lauernd, brüchig, unheimlich gespannt, schmelzend gelöst. In Camille Saint-Saëns‘ d-Moll-Sonate mit der berüchtigten Fingerakrobatik im letzten Satz scheint Julia Fischer dem Publikum zeigen zu wollen, dass sie sich vor keiner geigerischen Herausforderung fürchtet. Verdienstvoller: Sie hält Saint-Saëns frei von dem ihm immer unterstellten Parfüm.

Der erste Teil des Konzerts stand unter weniger gutem Stern: Bei Mozart (B-Dur Sonate KV 454) und in Schuberts „Rondeau brillant“ bleiben Fischer und die in den Noten klebende Chernyavska unter ihren Möglichkeiten. Da fordert das Einspringen wohl doch seinen Tribut. Jubel und eine sanft verklärte Tschaikowsky-Zugabe.




Meilensteine der Popmusik (14): Aretha Franklin

„Ein Song muss davon handeln, was man selbst erlebt hat oder auch noch erleben könnte. Nur dann ist er gut. Wenn mir etwas fremd ist, dann kann ich gar nichts hineinlegen, denn Soul bedeutet ja Leben – Leben, wie es wirklich ist“. Aretha Franklin sagte es mit ganz schlichten Worten.

Das wirkliche Leben hat natürlich noch viele andere Gesichter. Der reiche Farmbesitzer aus den Südstaaten sah es anders als seine schwarzen Baumwollpflücker mit einem 14-Stunden-Tag. Die Villa im kalifornischen Malibu mit Meerblick bietet eine andere Aussicht als das Ghetto am Rande von Detroit-City. Dort wuchs sie auf, die kleine Aretha mit ihren vier Geschwistern, und gehörte schon zu den Privilegierten. Papa war nämlich C. L. Franklin, ein überregional bekannter Prediger mit einem berühmten Gospel-Chor. Töchterchen Aretha durfte schon früh mitmachen, und erfuhr so, wie man sich das  Leben als Schwarzer vorzustellen hat: fromm und gottesfürchtig. Dass sich bei der Gospelmusik besonders bei jüngeren Leuten auch andere Gefühle regen, davon wollten konservative Baptisten allerdings nichts wissen. Kirchenmusik zum Lob Gottes und nicht für Hitparaden und Tanzschuppen.

Der weißen Musik-Mafia war das gerade recht. Sie hatte sich schon jahrzehntelang bei schwarzer Musik bedient. Dixie, Swing, Rhythm & Blues – alles wurde abgeguckt, glattgebügelt, und mit weißen Topstars wurde aus der „Negermusik“ der eine oder andere Tagesschlager. Doch spätestens seit James Dean und Elvis der weißen Jugend klipp und klar gezeigt hatten, wo’s lang geht, brodelte es auch unter den jungen Schwarzen. Einige von ihnen, die es unter großen Schwierigkeiten versucht hatten in die fast ausschließlich weiße Musikwelt einzudringen, gingen bei den Franklins ein und aus: Sam Cook und Mahalia Jackson zum Beispiel. Sie machten der 18-jährigen Aretha Franklin Mut und schufen die Verbindung zu einer Plattenfirma.

Dort saß schon damals so etwas wie eine graue Eminenz: John Hammond. In einer langen Karriere war er Entdecker von Billy Holliday, Bob Dylan, oder auch später von Bruce Springsteen. Mit Aretha Franklin sollte Mr. Hammond nicht so viel Glück haben. Denn ihre Produzenten zwängten sie in ein süßliches Big-Band-Kostüm. Nichts für die schwarze Seele, die gewohnt war, mit ihren vier Oktaven mal kernig aufzuschreien. Das erlaubten sich zwischenzeitlich schon andere Kollegen wie Otis Redding, Wilson Pickett, oder auch James Brown; so intensiv und auch aggressiv, dass die Seele anfing zu kochen, und den Weißen Angst und Bange wurde.

Atlantic hieß die größte Plattenfirma, die den Mut hatte, all´ das rauszulassen, was Schwarze wirklich fühlten. Dort bekam Aretha Franklin nun auch eine Chance. In einem Studio in Manhattan setzte man sie an ein Klavier und sagte: „Mädchen, nun sing mal wie damals in der Kirche“. ‚I never loved a man‘, so hießen LP und Single, und machten Aretha Franklin auf einen Schlag zur ‚Queen of Soul. Obwohl viele Sängerinnen diesen oder ähnliche Titel immer mal wieder für sich beanspruchten, nur Aretha Franklin ist es für viele bis auf den heutigen Tag geblieben. Zurückzuführen sicherlich auch auf ihren größten Hit, den Otis Redding für sie schrieb. In zweieinhalb Minuten gab sie der farbigen Jugend Amerikas das zurück, auf was die meisten ihrer Vorfahren verzichten mussten: Selbstwertgefühl, Anerkennung, Menschenwürde und Stolz – ein Leben mit Soul und ‚Respect‘.

ARETHA FRANKLIN on Dailymotion

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Die bisherigen „Meilensteine“:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13)

 




Die anderen siegen, ohne zu singen, wir siegen nicht, weil wir nicht singen

Ich hab’s, diverse Politiker haben’s auch, die BILD hat’s und wer hat’s übersehen? WIR konnten ja gar nicht den Titel des Europameisters gewinnen, weil WIR nicht richtig singen können – oder wollen – oder ethnisch so wenig vaterländisch sein mögen, dass WIR zwar Fußball spielen für UNS, also Schland, aber die vaterländische Tradition des kollektiven Chorgesanges nicht mittels Muttermilch in uns aufgenommen haben.

Wutentbrannt stürzten sich bereits vor der schmählichen Niederlage gegen Italien diverse User ganz ohne  Netikette auf Özil, Klose, Kedhira oder Podolski, weil deren Lippen unbewegt blieben, während eine ganze Nation bewegend die Brust schwellen ließ und das weinerliche Singdings vom Inselfelsen Helgoland in jedes sich bietende Wohnzimmer bzw. über jeden sich bietenden Rudelguck-Platz jodelte. Deutschland sucht den Superstar der Hymnen, Schlandlied walle wehrhaft, elf Sänger sollt Ihr sein.

Hingegen intonierten die schwarmintelligenten Mitglieder der Squadra Azzura gläubig ein donnerndes „Italia, Italia“ übers Feld und – gewannen, zumindest gegen die fortgesetzt böswilligen Verschmäher deutschen Hymnengutes.

Also, wir haben’s: Es war nicht die Unfähigkeit eines Trainers, modernen Fußball als siegbringendes Heilmittel zu erkennen, es war nicht die Unfähigkeit vieler Spieler, schnelles, zielgerichtetes Bewegen in Richtung gegnerisches Tor bzw. in Richtung ballführende Spieler als siegbringendes Mittel zu erkennen, es war nicht die seit Jahren siechend humpelnde Fußball-Philosophie in den Vereinen der Republik (einen nehme ich natürlich aus, den großartigen Deutschen Meister), die wieder einmal eine iberische Mannschaft ins Ziel brachte und nicht uns, die wir ja eigentlich dahin gehören. Nein, es war der eklatante Mangel an sängerischer Inbrunst, erzeugt von ganz sicher zu starker germanischer Nichtherkunft einiger Balltreter.

Nun denken (tun die das?) Politiker darüber nach, Singpflicht einzuführen. Damit WIR wieder singend ans Siegen kommen. So einfach kann Fußball sein: Viel Singen, wenig Rennen!

Übrigens, wie machen diese noch viel schwarmintelligenteren Spanier das bloß? Die singen nie. Können sie auch schlecht, weil ihre Ahnen es versäumten, der auch nicht sonderlich anregenden Hymne einen gescheiten Text zu verpassen – so etwa „Spanien, Spanien über alles …“, was in Sachen Fußball ja so weit von der Realität derzeit nicht entfernt wäre. Sie singen nie, sie siegen ständig – das geht doch nicht zusammen, kann den gesangsfördernden Politikern das mal jemand erklären?

Einwurf fürs Team der Antarktis, das nach der EM wieder verstärkt in den Blickpunkt rückt. (Foto: Bernd Berke)

Einwurf fürs Team der Antarktis, das nach der EM wieder verstärkt in den Blickpunkt rückt. (Foto: Bernd Berke)




Hahne + Horn heute in Herne: Tanz und Neue Musik in den Flottmannhallen

Die Flottmannhallen in Herne bieten heute Abend (Daten siehe unten) ein außergewöhnliches Musik/Tanz-Ereignis an. „Rotlicht“ heißt das Programm der Tänzerin/Choreographin Henrietta Horn und der Komponistin Dorothée Hahne. Was uns dort erwartet ist nicht nur getanzte Neue Musik, wir erleben einen vielschichtigen Dialog, der ebenso die Sinne anspricht wie zum Nachdenken anregt.

Als sei der Tanzboden mit Mikrofonen unterminiert, werden in „Schrittweise“ die Bewegungen der Tänzerin zum Rohmaterial des Klangs. Wie überhaupt bei Dorothée Hahne die Live-Elektronik weniger ein Generator von Tönen als ein verwandelnder Reflektor von Vorgefundenem ist. Das klingt manchmal gruselig, wirkt verstörend, oder es kommt witzig daher.

„Portabel x“ spielt mit der „Tür“ und dem, was tragbar und was nicht mehr tragbar ist. Die Stimmen quietschender, knarzender, knarrender Türen werden gedehnt, gestreckt, gepitcht. Ölen wäre ruinös.

„Kanon“ ist unter dem Aspekt althergebrachter Harmonien vielleicht das „schönste“ Stück des Abends. Dorothée Hahne singt ein Gedicht von Christine Lavant aus „Spindel im Mond“ und zeigt dabei die Nähe von Loop und Kanon.

Drei Intermezzi führen kommunikative Standardsituationen mit ungewissem Ausgang vor. Annäherung oder Befremdung, Monolog und einfühlsames Miteinander.

Akustisch und optisch abwechslungsreich gestaltet sich das Programm, das am 3. Mai dieses Jahres im Pina Bausch Theater an der Folkwang Universität der Künste in Essen uraufgeführt wurde und heute Abend in Herne zu erleben ist. Jazz-Atmen, Zischen des Horns und Schmatzen am Mundstück, ein Alphorn wird geknutscht und gerieben; faunisch bläst Hahne das Schneckenhorn, schelmisch das Abflussrohr aus dem Baumarkt. Die verwitternden Eisenschalen von Blindgängerbomben, die nicht detonierten, klingen nun als Glocken. Die Musikerin wirft von Hand Patronenhülsen, Abfall von Projektilen, in einen umgekehrten Stahlhelm, und daneben stehen Eierbecher, die das Ganze ironisieren. Ein Ohren- und Augenspaß, der zugleich zu denken gibt.

Die neunte Nummer, „es geht, was kommt …“, schließt die Klammer, die eine kurze Stunde zuvor mit „es kommt, was geht …“ geöffnet wurde. Warum der Abend mit den neun Programmpunkten aber „Rotlicht“ heißt? Ein rotes Lämpchen „On Air“ aus einem Tonaufnahmestudio, das manchmal in der sparsamen Bühnenausstattung leuchtet, mag einen Hinweis geben.

Dorothée Hahne – Musik
Henrietta Horn – Tanz
am Freitag, 29. Juni 2012, 20:00 Uhr,
Flottmannhallen Herne
Straße des Bohrhammers 5
44625 Herne
Spieldauer: 60 Minuten

 

Die Komponistin Dorothée Hahne




Alltagsnicken (2): Die Showband im Zug

So zwei- bis dreimal die Woche bauen sie sich im Eintrittsbereich des Zugabteils auf, der eine führt eine silberfarbene Trompete zum drucklosen Ansatz vor die Lippen, der andere tippelt mit flinken Fingern wie zum Aufwärmen über die schwarz-weiße Harmonika-Klaviatur – und dann legen sie los. Feuerwerkend, fröhlich lachend, virtuos musizierend tönt das Duo balkanesk anmutende Tonkaskaden in das mehr oder weniger besetzte Nahverkehrsmittel. Meist ist es ein bekannter internationaler Hit älteren Datums, der heimatklingend interpretiert wird. Je länger sein Vortrag andauert, desto wilder sein Rhythmus, um dann zum Ende der Darbietung in ein himmelwärts strebendes Crescendo zu verfallen, das mit einem schmetternden Sforzando seinen Abschluss findet. Meinem aktuellen Hörbuch zu folgen verbietet sich an diesem Punkt, erstens verstehe ich ohnehin kein Wort mehr und zweitens würde ich mich wegen offen vorgetragener, unhöflicher Nicht-zur-Kenntnisnahme gegenüber den tapferen Musikanten schlecht fühlen.

Danach tippelt der Harmonikaspieler wieder sanft über die schwarz-weiße Klaviatur, untermalt gekonnt den nächsten Schritt, sein Kollege mit dem drucklosen Ansatz fingert nach einem ausgedienten Kaffee-Behälter aus schottischstämmiger Fast-Food-Ketten-Schmiede und freundlich lächelnd bittet er um einen Obolus fürs Blechblasen und Harmonika-Tippeln. Ich entscheide dann je nach Tagesform, ob ich seiner Bitte nachkomme oder mich diesmal einer Ablasszahlung enthalte, weil sie eben so zwei- bis dreimal die Woche ihr Morgenständchen ins Abteil blasen bzw. quetschen. Da sie mich als Zuginventar erkennen, verziehen sie auch keine Miene und steigen anschließend mit mir in Unna aus. Wo sie dort das zweite Frühstück einnehmen, entzieht sich meiner bisherigen Beobachtung.

Heute nun geschah etwas bisher noch nicht Geschehenes: Das so zwei- bis dreimal die Woche stattfindende Ritual verlief wie immer. Allerdings hatten mit meiner Balkan-Showband in Schwerte auch die Mitglieder einer Schulklasse das Abteil erobert und gerade ihre Plätze eingenommen, als die ersten Takte kraftvoll erklangen. Das Klassenausflugs-Stimmgewirr versickerte alsbald im balkanesken Trompetenschall, die Kids zeigten wohlgelaunte Zuneigung für diesen wortsinnlichen Auftakt ihrer Schuljahresend-Reise und schnatterten dennoch gegen die Klänge an, sofern ihre Stimmbänder kurz vom dem Stimmbruch es zuließen.

Als das schmetternde Sforzando verebbte, die tippelnden Finger über die Klaviatur huschten und der Dizzy Gillespie der Nahverkehrszüge zwischen Schwerte und Unna seinen verknautschten Kaffeebecher in die Runde schwenkte, ereignete sich ein neuerliches, völlig anderes Sforzando: Die Kinder klatschten begeistert und dankten für die musikalisch fehlerfreie Unterhaltung. Die eine oder andere Münze landete zusätzlich im ramponierten Kaffeebecher – welch ein Triumph!

Ich hatte es noch nie miterlebt, dass meine Musikanten mit Applaus ins nächste Abteil verabschiedet wurden. Meist ernteten sie ein müdes Kopfnicken nebst einer Münze nicht näher bekannter Werthaltigkeit oder von beidem nichts, sondern die totale Ignoranz sich selbst geschäftig aussehen lassender Reisender. Kleinlaut stelle ich mich zumindest in die Reihe der Erstgenannten. Da muss ich mein Verhalten korrigieren, das lehrt mich der liebenswerte Applaus so herrlich unverbrauchter Schülerinnen und Schüler.