Lisztiana V – Akkurate Analysen am Klavier

Nino Gvetadze

Nino Gvetadze stammt aus Georgien. 1981 in Tiflis geboren, gab die Pianistin schon mit sechs Jahren ihr erstes öffentliches Konzert. Das Studium absolvierte sie am Konservatorium ihrer Heimatstadt, bevor sie in die Niederlande ging. Dort begann sie eine Karriere, die inzwischen eine internationale ist.

Ein „normaler“ Werdegang einer aufstrebenden Virtuosin also. Doch den ganz großen Namen hat sich die Künstlerin noch nicht gemacht. Vielleicht liegt es an ihrem eleganten, ein wenig scheu wirkenden Habitus, der sich deutlich abhebt vom lauten Geschäft, das die Klassik ja auch ist. Hier jedenfalls, mit ihrer nunmehr dritten CD (Orchid Classics/Naxos), erscheint uns Gvetadze auffallend zurückhaltend.

Und dies bei einer Platte, die sich ausschließlich dem Werk Franz Liszts widmet. Da gilt der Pianistin Augenmerk der schroffen, sperrigen 10. Ungarischen Rhapsodie und dem dramatischen Erzählgestus der h-moll-Ballade. Da setzt die Künstlerin zwei sanfte Lied-Transkriptionen („Widmung“ von Schumann und Schuberts „Gretchen am Spinnrad“) vor die große, bedeutungsschwere, virtuose h-moll-Sonate.

Man muss inzwischen nicht mehr viele Worte darüber verlieren, dass der Nachwuchs am Klavier über genügend technisches Können verfügt, ein solch gewichtiges Programm mindestens zu bewältigen. Doch bei Nino Gvetadze ist auffällig, dass sie ihre virtuosen Fähigkeiten geradezu exerziert. „Hört her, ich kann’s“ scheint die Devise zu lauten, und so zelebriert sie noch die kühnsten Figurationen, schafft mithin Interpretationen, die von der ersten bis zur letzten Note genauestens durchdacht sind.

Wo soviel Ordnung in der Formgestaltung herrscht, zerfällt die Rhapsodie in Einzelepisoden. Wo das Grollen der Ballade durch Noblesse gewissermaßen unterwandert wird, sich die Pianistin einer gestrengen technischen Sorgfalt verpflichtet sieht, gleitet alle Dramatik ins Banale ab. Manchmal versöhnt uns Gvetadze mit Klangfarben, die auf Debussy verweisen, doch das Unbehagen bleibt.

Über Liszts h-moll-Sonate hat sich Béla Bartók so differenziert wie kritisch geäußert. Sah Dunkles, Großes, Infernalisches neben Banalem, Süßlichem, sprach von leerem Pomp. Die Interpretation der jungen Georgierin lässt uns dies gut nachvollziehen, was indes bedeutet, dass sie den großen musikalischen Bogen des Werks nicht erfahrbar macht. Knallige oder sentimentale Effekte, bisweilen ein Klang, der im Hall zu ertrinken droht: Der Hörer fühlt sich unangenehm berührt. Gvetadzes akkurat analytischer Zugriff macht aus Liszts faustischem Ringen ein Stück absoluter Musik.




Zappa, Varèse, Cage: Alarmsirene schallgedämpft

Rückschau: Das Ensemble musikFabrik spielte Zappa, Varèse und Cage in der Essener Philharmonie

Von „ernster Musik“ zu sprechen, klingt bei Frank Zappa ulkig. Doch hat er, der die Saiten so anzuschlagen verstand, als handele es sich bei jedem Ton um eine Parodie des Rock-Gitarrenspiels, längst seinen Platz unter den Klassikern des 20. Jahrhunderts erobert. Wenn Zappa auf der Bühne auch gern als Komiker improvisierte – die Aufführungen seiner Werke überwachte er stets mit der Strenge eines Perfektionisten. Und sein Album „Does Humor Belong in Music?“ formuliert, nicht nur auf seine Musik bezogen, eine viel diskutierte Sorge.

Wer die Zappa-Stücke, die kürzlich in der Philharmonie Essen aufgeführt wurden, aus den Konzert-Videos der Mothers of Invention kennt oder wer Zappa auf der Bühne erleben konnte, mag überrascht sein, dass diese Musik auch ohne Show-Elemente des Rock und Jazz und ganz ohne Star-Allüren auskommt. Selbst beim fetzigen Solo der E-Gitarre in „RDNLZ“ scheint es den Virtuosen nicht zu reizen, sich an die Rampe der Bühne zu rocken; alle Musiker bleiben an ihren Notenpulten. Ein Konzert von Musterschülern, mochte man bei den ersten beiden Stücken denken – „Big Swifty“ und „T’Mershi Duween“ von der fünfköpfigen Bläsergruppe und Schlagwerk in schnellem Tempo durchgespielt – ohne die Aura des Meisters.

Danach sind erst einmal drei Kompositionen von John Cage an der Reihe. „Radio Music“ von 1956, beim Konzert des Ensemble musikFabrik mit drei Röhrengeräten und einem Kofferradio. Die Frequenzen, die Lautstärken und die jeweilige Dauer sind von der Partitur vorgegeben, was aber auf den Frequenzen ertönt, variiert je nach Aufführungsort. „Credo in US“ (1942) ist geschrieben für präpariertes Klavier, zwei Schlagwerke (Konservendosen, Wecker) und Plattenspieler. Zur Aufführung von „The Perilous Night“, entstanden im Winter 1943/44, betrat mit Benjamin Kobler ein erfahrener Pianist, der lange Zeit mit Karlheinz Stockhausen zusammengearbeitet hat, die Bühne. Das mit Radiergummis, Metallteilen und Holzstückchen präparierte Klavier nähert sich – besonders in der raffinierten Rhythmik des Teils VI – dem von Schlaginstrumenten dominierten Schwerpunkt des Abends an.

Frank Zappas frühe Bewunderung für Edgar Varèse (1883–1965) ist hinlänglich dokumentiert. So war es konsequent, mindestens ein Stück des amerikanischen Komponisten französischer Herkunft in die Reihe „‘Now!‘ – America“ der Philharmonie Essen aufzunehmen. Für „Ionisation“ (1931) wurden die 41 Schlaginstrumente und zwei Sirenen in einem eindrucksvoll beleuchteten Halbkreis aufgebaut. An das zuvor gehörte John-Cage-Stück knüpfte das Werk von Edgar Varèse auch insofern gut an, als hier ein weiterer Konzertflügel auf der Bühne zu den Schlaginstrumenten gerechnet werden kann. Erstaunlich leise, geradezu schallgedämpft anmutend, fügten sich die beiden Kurbelsirenen in die Komposition ein. Der Nachklang bleibt so lange im Raum stehen, als sei das gesamte vorausgegangene Rhythmusstück ein einziger Anlauf, um das Ausklingen erfahrbar zu machen. Der Dramaturgie des Abends kam es sehr entgegen, das nur rund sechs Minuten dauernde Stück zweimal zu spielen, jeweils unmittelbar vor und nach der Pause.

Der gesamte zweite Teil des Konzerts war Frank Zappas Kompositionen gewidmet. „The Black Page“ hat Zappa ursprünglich geschaffen, um die Virtuosität und Notenfestigkeit seiner Schlagzeuger zu testen. Zu deren Qual hat er die Noten so dicht gesetzt, dass die Seite von ihnen geschwärzt ist – daher der Name des Stücks. Am Mittwochabend wurden drei Versionen nacheinander aufgeführt. Die Schlagzeug-Fassung, die wir zum Beispiel aus einer Aufnahme kennen, in der die beiden Zappa-Drummer Terry Bozzio und Chad Wackerman den komplizierten Rhythmus perfekt synchron schlagen, wird in Essen von gleich fünf Schlagzeugern der musikFabrik gespielt. Übergangslos folgt die Variante für großes Ensemble, Black Page # 1 – gestrichener Kontrabass und Cello, drei Geigen, zwei E-Gitarren, Vibraphon, Marimbas, ein E-Piano und eine zehnköpfige Bläsergruppe bestehend aus Querflöte, Klarinette, Oboe, Trompeten, Zugposaune, Horn und Tuba. Black Page # 2, (laut Ansage) „The Easy Teenage New York Version“ gibt einen Einblick in Zappas Art, seine Kompositionen mit der Zeit mehrfach, auch radikal, zu verändern. Und spätestens jetzt ist der erste Eindruck von braven Musterschülern, aus denen sich die musikFabrik zusammensetzt, nicht mehr haltbar. Die Musik ist einfach groß, hymnisch; und die Musiker zeigen, dass sie es mit dieser Größe aufnehmen können.

„RDNZL“, „Echidna’s Art (Of You)“ und „Don’t You Ever Wash That Thing?“ werden grandios in einem Rutsch gespielt, so wie Zappa selbst gern seine Stücke ohne abzusetzen aneinanderfügte. Die Stellen der Partitur, an denen einst Ruth Underwood ihre Vibraphon-Soli lieferte, werden heute freudvoll von Geigern gezupft. Bei „RDNZL“ kommt neben dem Rock-Gitarristen ein mittlerweile historisches erscheinendes E-Piano zur Geltung; in „Echidna’s Art“ zeigt besonders der Schlagzeuger sein Können; und „Don’t You Ever Wash That Thing?“ bietet Raum für ein überzeugendes Bass-Solo. Danach gibt es für die musikFabrik und ihren Dirigenten Carl Rosman Standing Ovations. Als Zugabe spielte das große Ensemble „Sofa # 2“ – ohne Gesang in einer Full-blown-Version – und gleich im Anschluss „Son of Mr. Green Genes“.

Ein gelungenes Konzert. Es gibt nichts zu kritisieren. Allenfalls klingt in so manchem mitgehörten Pausengespräch etwas Bedauern durch, dass 1968 schon so weit zurückliegt. „My Guitar Wants to Kill Your Mama“ hat sich zwar nicht musikalisch, aber inhaltlich überlebt. An dem Zappa-Abend in der Philharmonie dürften neben zahlreichen Müttern auch Großmütter und Großväter ihre Freude gehabt haben, für die der Original-Frank-Zappa auf den Essener Songtagen 1968 noch das Versprechen auf eine nicht nur musikalische Revolution bedeutete. Junge Menschen gab es ebenfalls in nicht geringer Zahl im Publikum. Sie wirkten wie Kenner, nicht wie eine Schar, die aus Vergnügungssucht zu einer Massenveranstaltung strömt.

„Now!“ – America: Cage Reich Adams Zappa. Ensemble musikFabrik: Frank Zappa (Mittwoch, 30. November 2011, 19:30 Uhr in der Philharmonie Essen)

.Das Ensemble musikFabrik spielte in der Philharmonie Essen




Kleine Stadt und große Namen

Dieser Blog heißt ja im Untertitel „Kultur und mehr im Ruhrgebiet“, und deshalb soll hier einmal auf eine erstaunliche Einrichtung am Rande des Reviers hingewiesen werden: In der Kleinstadt Ennepetal im Süden des Ruhrgebiets, fast schon im Sauerland, gibt es eine „Kulturgemeinde“, die mit fast 2.000 Mitgliedern und einer fünfstelligen Besucherzahl im Jahr in einem ungewohnten Verhältnis zur Größe der Stadt steht.

Auch Lew Kopelew war zu Gast. (Foto: Steidl Verlag)

Der inzwischen pensionierte Lehrer Hartmut Köhler hat die einst kleine Gruppe groß gemacht, indem er meist prominente Referenten oder Musiker in seine „Gemeinde“ holte und dort bei freiem Eintritt auftreten ließ. Nur von Mitgliedsbeiträgen und Spenden an den Ausgangstüren wird diese Arbeit finanziert.

Lew Kopelew und Gerd Ruge, Martin Walser und die Schwestern Labeque, Arved Fuchs und Christian Quadflieg, Heiko Engelkes, Wolf Biermann, Frank Plasberg und Max Raabe, Justus Frantz oder das Leipziger Gewandhaus-Orchester und demnächst wieder Reinhold Messner stehen unter anderem auf der langen Gästeliste. Manche Beobachter rümpfen die Nase: Populärkultur und reine Konsumabende seien das, aber auch das ist Kultur im Ruhrgebiet. 50 bis 60 Veranstaltungen organisiert die Kulturgemeinde im Jahr, und dazu gehören auch Besuche in den Schauspiel- und Opernhäusern der umliegenden Großstädte.

Manche Referenten kommen übrigens gern immer wieder, und das liegt auch daran, dass sie im Privathaus der Köhlers wie Freunde begrüßt und bewirtet werden.

Hartmut Köhler (rechts) mit Christian Quadflieg. (Foto: Jo Schöler)




Nigel Kennedy: Faxen mit Vivaldi

Nigel Kennedy und Vivaldis „Vier Jahreszeiten“: Für die Anhänger der „historisch informierten“ Aufführungspraxis war das schon 1989 indiskutabel, als der Brite mit seinem Drei-Millionen-Album eine frech-unbekümmerte Deutung auf den Markt warf. Den Geiger mit dem Drei-Tage-Bart, den rasierten Schädelseiten und den edlen Schlabberklamotten interessiert wenig, was Wissenschaftler und forschende Kollegen aus alten Autographen herauslesen. Er versteht sich als ein genuiner Musiker und begründet in diversen Interviews mit gar nicht so schlechten Argumenten, warum er sich um eine philologisch korrekte Lesart und Spielweise nicht kümmert.

Jetzt setzt der Geigen-Punk noch eins drauf: Vivaldi nicht einmal mehr mit dem „klassischen“ Instrumentarium, sondern mit Konstellationen, die aus Jazz und Rock kommen. Mit Elektrogeige, Drums und gestopfter Trompete, Schlagzeug, E-Bass und Computereinsatz. Mit seinem „Orchestra of Life“ reiste Kennedy den ganzen November durch Deutschland, trat in Düsseldorf und Dortmund auf und besuchte nun am Ende der Tournee Essen: „Very special“ sei für ihn das Gastspiel in der Philharmonie, ließ er das Publikum wissen.

Kennedys Musiker kommen nur zum Teil aus der Klassik-Ecke. Zum Beispiel ist der Pole Duszan Korczakowski auch in elektronischer Musik oder Blues zu Hause. Die Sängerin Xantoné Blacq kommt aus der ehemaligen Band von Amy Winehouse. Orphy Robinson am Marimbaphon spielte in der Funk-Band Savannah, mit Jazz-Größen und einem Trompeter wie Wynton Marsalis, gehörte und gehört zu diversen Londoner Jazz-Formationen, ist aber auch Klassik zugeneigt. Und Adam Kowalewski (E-Bass) gehört wie Krzysztof Dziedzic zu den Jazz-Größen in Polen.

Dass Kennedy mit seinem neu gestylten Vivaldi manche Erwartung enttäuscht hat, zeigt sich an der Fluchttendenz von Teilen des Publikums. Denn zum Frühlingsanfang zwitschern elektronische Vögelchen, legen Drums sachte Patterns unter Vivaldis Melodien, schmachten Vocals in schnödester Sechziger-Jahre-Tradition „duuaah“ im Hintergrund. Dann geht’s schon mal an die elektronische Orgel und eine ziemlich schrill heulende E-Violine, füttert Adam Kowalewksi Vivaldi mit dem E-Bass auf, greifen die Violin-Mädchen des Orchesters kräftig zu, um die Musik so schrubbig wie möglich zu akzentuieren.

Doch wer nur reine Willkür riecht, liegt falsch: Kennedy macht zwar alle möglichen Faxen, ist aber ein zu intelligenter Musiker, um einfach ein Crossover zu starten. Er transformiert Vivaldi mit den Mitteln unseres Jahrhunderts, um den unterhaltenden und theatralischen Charakter der Musik bewusst zu machen. Ein Sturm, wie ihn der „Sommer“ entfesselt, kann nicht brav gezirpt werden, will er in unserer lärmenden Zeit als elementares Ereignis wahrgenommen werden. In gewissem Sinne verrät Kennedy Vivaldi, um ihn zu retten. Dass der Verrat auch in grell gegeigte Selbstdarstellung, in willkürliche Prestissimo-Raserei und in musikalischen Schabernack mündet, das muss der Hörer bei Kennedy in Kauf nehmen.

Nigel Kennedys neue CD "The Four Elements" (Sony Music, ca. 17 Euro)

Nigel Kennedys neue CD "The Four Elements" (Sony Music, ca. 17 Euro)

Die Jahreszeiten haben den Briten – der zum Auftritt mit einer „cup of tea“ hereintapst – dazu animiert, selbst „Four Elements“ zu schreiben: eine sechsteilige Suite mit Ouvertüre und Finale, bunt gemischt aus allem, was Kennedy in seinen 55 Lebensjahren an Musik aufgesogen hat. Das reicht von etwas zu lange wiederholten Patterns aus der Minimal Music bis hin zur Rockballade, zu Blues und Dixie, zur langsamen Meditation und zu softigen Wellness-Klängen. In seinen Soli arbeitet er mit Live-Loops; auch ansonsten kommt der Computer zum Einsatz, um so richtig rockige „Atmo“ zu garantieren. Das klappt mit der Frontsängerin Xantoné Blacq in „Fire“; das wirkt flächig-kitschig in den Klangflächen und Oriental-Andeutungen in „Water“.

Zwischendurch langweilt Kennedy als Talkmaster, plaudert Belangloses mit seinen Musikern und tauscht auch mal Faust-Grüßchen mit Leuten aus der ersten Reihe. Nach fast drei Stunden: Ovationen, aber auch Erschöpfung.




Ludwig Thuille: Erfinderische Musik mit lyrischer Pracht

Vor 150 Jahren wurde in Bozen der Komponist Ludwig Thuille geboren. Seine Werke sind heute weitgehend unbekannt. Als Lehrer jedoch hat er eine ganze Musikergeneration geprägt. Und seine Harmonielehre ist bis heute im Gebrauch.

Ganz eminent habe das Orchester gespielt, berichtete Richard Strauss am 24. Februar 1886 aus Meiningen, „mit solcher Lust, Liebe und Präcision, dass Du Deine helle Freude gehabt hättest“. Der 21-jährige Kapellmeister hatte soeben mit der weltberühmten Meininger Hofkapelle die F-Dur-Symphonie seines Freundes Ludwig Thuille uraufgeführt. Beide Musiker sollten ein Leben lang befreundet bleiben. Doch so intensiv Thuille die musikalische Welt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beeinflusst hat, so nachhaltig vergessen sind seine eigenen Kompositionen. Zum 150. Geburtstag Thuilles erinnert sich kaum eine musikalische Institution des einst bedeutsamen Komponisten, Kompositionslehrers und Musiktheoretikers. Lediglich in seiner Geburtsstadt Bozen spielt das dort ansässige Haydn-Orchester seine „Romantische Ouvertüre“ in einem Konzert unter Johannes Debus am 13. Dezember.

Leider blieb auch der Impuls wirkungslos, den das Stadttheater Hagen 1998 unter dem stets an Entdeckungen interessierten Chefdramaturgen Peter P. Pachl mit der mutigen Ausgrabung von Thuilles Märchenoper „Gugeline“ gegeben hatte. Bis heute steht etwa eine Wiederaufführung seiner Erfolgsoper „Lobetanz“ aus, die Felix Mottl 1898 in Karlsruhe uraufgeführt hatte und die es bis Berlin und New York geschafft hat. „Gugeline“ in Hagen hat damals mit ihrer musikalischen Sprache überrascht: Thuille erreicht schon 1901 Elemente einer klanglichen Raffinesse und harmonischen Komplexität, die man sonst nur mit Richard Strauss identifiziert. Vor allem in der sinnlichen Pracht seiner lyrischen Erfindungsgabe erweist er sich als eigenständiger schöpferischer Geist, der nicht durch Vergleiche mit später wichtiger gewordenen Komponisten aufgewertet werden muss.

Am 30. November 1861 in Bozen geboren, erfährt der Knabe mit dem rätoromanischen Namen im Stift Kremsmünster ersten geregelten Musikunterricht und lernt als Chorsänger eine weitreichende Musiktradition kennen. Entscheidend für seine Bildung wird Pauline Nagiller, Witwe des Tiroler Kapellmeisters Matthäus Nagiller. Sie holt Thuille als 15-jährigen Vollwaisen nach Innsbruck. Durch sie lernt er die Familie Strauss kennen. Sie sorgt auch für Unterricht durch den Bruckner-Schüler Josef Pembauer. Erste Lied- und Klavierkompositionen entstehen. Pembauer empfiehlt den begabten Jungen zu Joseph Rheinberger nach München. Ab 1879 studiert er dort an der Königlichen Musikschule.

Ulrich Urbans Einspielung der gesammelten Klavierwerke von Ludwig Thuille (Telos/Naxos)

Ulrich Urbans Einspielung der gesammelten Klavierwerke von Ludwig Thuille (Telos/Naxos)

Sein Opus eins, eine Sonate für Violine und Klavier, veröffentlicht Thuille als 19-jähriger. Ein Jahr später, 1882, besiegelt er mit seinem selbst gespielten D-Dur-Klavierkonzert ein ausgezeichnetes Examen. Auf Betreiben seines Lehrers Rheinberger – dem er später nachfolgen sollte – erhält Thuille schon 1883 eine Berufung als Klavier- und Harmonielehrer an die Münchner Musikschule. Dort unterrichtet er bis zu seinem plötzlichen Herztod im Jahr 1907. Das Telegramm mit der Todesnachricht klebt Richard Strauss in sein Tagebuch ein.

Der passionierte Jäger führt in München ein bürgerliches Leben in ruhigen Bahnen. Musikalisch zieht es Thuille durch die Bekanntschaft mit dem Wagner-Anhänger Alexander Ritter zu den „Neudeutschen“ und zur Oper. Strauss führt 1897 in München Thuilles erste Oper „Theuerdank“ auf, ein Misserfolg, der dem Komponisten jedoch ein Drittel des Prinzregent-Luitpold-Preises eingebracht hat. Seine Oper „Lobetanz“ wird an der Metropolitan Opera nachgespielt; deren Intendant Giulio Gatti-Casazza bezeichnet Thuille als „deutschen Puccini“. Strauss widmet dem Freund seine Tondichtung „Don Juan“.

Als Pädagoge entfaltet Thuille eine kaum zu überschätzende Wirkung. Gemeinsam mit Max von Schillings sammelt er in der „Münchner Schule“ damals bedeutende Komponisten um sich. Zu seinen Schülern zählt etwa Hermann Abendroth, von 1911 bis 1914 Musikdirektor in Essen, dann bis 1934 Chefdirigent des Kölner Gürzenich-Orchesters. Oder Walter Braunfels, seit 1925 gemeinsam mit Abendroth Direktor der neu gegründeten Kölner Musikhochschule. Hervorgetreten ist Thuille mit einer gemeinsam mit Rudolf Louis herausgegebenen Harmonielehre, die für Jahrzehnte als Standardwerk verwendet wurde. Sie gilt als Wegweiser in ein modernes harmonisches Denken, von dem auch Thuilles rund 200 Schüler profitierten.

Thuilles kompositorisches Schaffen umfasst rund siebzig Werke. Gespielt wird heute nur noch ab und zu sein Sextett für Klavier und Bläser op. 6. Der Komponist hat sich der Kammermusik intensiv gewidmet. CD-Aufnahmen der letzten Jahre zeigen ihn als einen eigenständigen Musiker, der seinen individuellen Weg sucht, ohne zum Sturm auf das Bestehende zu blasen. So hat das Signum Quartett seine beiden frühen Streichquartette von 1878 und 1881 in A-Dur und G-Dur eingespielt (Capriccio C 5049).

Bei cpo gibt es das groß angelegte Es-Dur-Klavierquintett op. 20 in einer Aufnahme mit dem Vogler Quartett und dem Pianisten Oliver Triendl. Dieser hat sich auch für das Klavierkonzert Thuilles eingesetzt: Es ist, zusammen mit der F-Dur-Symphonie, in einer Einspielung mit dem Haydn-Orchester Bozen unter Alun Francis erhältlich (ebenfalls bei cpo). Der Pianist Ulrich Urban hat schließlich bei Telos die Werke für Solo-Klavier auf einer CD zusammengefasst. Und erst vor wenigen Wochen erschienen beim Label Thorofon zwei Platten. Die eine umfasst 25 Lieder: Alle sind zum ersten Mal eingespielt, sieben davon stammen aus Thuilles Nachlass und sind Uraufführungen. Auf der anderen mit dem Titel „Zauberdunkel und Lichtazur“ singt die Sopranistin Rebecca Broberg weitere Thuille-Lieder neben anderen seiner Zeitgenossen Anton Urspruch (1850-1907) und Erich J. Wolff (1874-1913).

Otto Julius Bierbaum, einer der literarischen Großmeister der Jahrhundertwende, hat nicht nur die Libretti zu „Lobetanz“, zu „Gugeline“ und zu dem kühnen Tanz-Melodram „Die Tanzhexe“ geschrieben. Er hinterließ auch einen Nachruf in Gedichtform für den plötzlich verstorbenen Freund. Darin heißt es:

Denken wir an Dich, Ludwig, der du ein Mensch warst, dessen Gegenwart
Heiter den Geist der Schwere vertrieb und die Herzen erwärmte.




Was Georg Kreisler über Gelsenkirchen sang

Der famose,
unvergleichliche
Liederdichter,
Chansonnier,
Schriftsteller,
Vortragskünstler,
Kabarettist etc. etc.
Georg Kreisler ist mit 89 Jahren gestorben.

Am liebsten würde man sich weigern, diese Tatsache zu akzeptieren. Immer und immerzu diese Zumutungen des Todes, in diesem Falle eine monströse Zumutung. Können die höheren Mächte denn nicht mal über andere Maßnahmen nachdenken?

Wir wollen nicht sagen, er habe ein gesegnetes Alter erreicht, denn das hätte er selbst nicht hören mögen und wahrscheinlich sarkastisch beiseite gefegt. Auch ein schlichtes „Ruhe in Frieden“ hätte ihm wohl nicht gefallen. Überhaupt wollen wir nicht das Offenkundige nachbeten: dass er einer der ganz Großen gewesen ist. Stattdessen hier sein grandioses Lied über Gelsenkirchen.

P. S.: Sehe soeben, dass Stefan Laurin von den Ruhrbaronen auf die (für ein Revierblog) nicht eben fern liegende Idee mit diesem Lied gekommen ist. Manchmal laufen gedankliche Wege eben parallel, dann wieder gar nicht.

Eine von vielen hörenswerten Kreisler-Platten versammelt "Die alten, bösen Lieder" (Kip Records)

Eine von vielen hörenswerten Kreisler-Platten versammelt „Die alten, bösen Lieder“ (Kip Records)




Jamiroquai: Acid-Jazz mit Autsch

Ich war so glücklich. Ein Konzert von Jamiroquai. Endlich. Der eigentliche Termin im Frühjahr war wegen einer Grippeerkrankung von Sänger Jay Kay ausgefallen. Also nun Oberhausen, ein Abend voller Sound, Funk, Acid-Jazz – und Ohrenschmerzen.

Die Ausgangslage war schon ein bisschen schwierig. Die Band hatte eine Absage wieder gut zu machen. Und dann das: Dem Schweizer Alleinunterhalter mit Beatboxing-Qualitäten gehört die Bühne viel länger als geplant – die Combo ist gerade erst in Düsseldorf gelandet. Nebel in London.

Die Ende 2010 erschienene Jamiroquai-CD "rock dust light star" (Mercury Universal)

Die Ende 2010 erschienene Jamiroquai-CD "rock dust light star" (Mercury Universal)

Als Jay Kay endlich um halb zehn auf die Bühne stürmt, ruft er eine lautstarke Entschuldigung in die Halle. Lautstark ist leider auch, was folgt: Der Sound ist brutal und schmerzhaft, unausgewogen. Jay Kays Gesang klingt wie aus einer Blechbüchse, Rückkopplungen stören das Konzerterlebnis. Einige Buhs aus dem Publikum werden laut. Immer wieder zeigt Jay Kay selbst auf die Monitore, geht in den Pausen zwischen den Liedern an den Bühnenrand, flucht „What a fuck is this.“

Ärgerlich. Aber ich entscheide irgendwann, mich nicht mehr zu grämen, sondern das Beste aus der Situation zu machen und trotzdem zu feiern. Schließlich zeigt sich „Jamiroquai“ experimentierfreudig: Viele Lieder bekommen einen neuen Anfang oder eine ganz andere Stimmung, überzeugen mit ausgedehnten Improvisationen und engagierten Musikern. Auch Jay Kay in grüner Indianer-Jacke und mit schwarzem Hut will die Situation durch den Flirt mit der Masse retten, tanzt und verteilt Handschläge. Planeten schweben über der Bühne, geniale Videoeinspielungen entführen in die Hippie-Ära, rasante Rennfahrtszenarien oder auf Ausflüge ins All mit dem „Jamiroquai“-Raumschiff – dorthin, wo sicher auch der Sound besser wäre.




Väterchen Franz fehlt uns, trotz alledem

Als Bernd Berke auflistete, „worüber wir inzwischen nicht geschrieben haben“, da stieß mir natürlich sofort Väterchen Franz auf. Bei Facebook gab es zu dem Thema und zur politischen Korrektheit ja schon ausführlichste und strengste Debatten, deshalb will ich hier mal etwas Persönliches beitragen.

So sah der Autor 1969 aus.

Im Jahre 1970 diente ich in der Bundeswehr, weil mein Antrag auf Wehrdienstverweigerung zu spät eingegangen war. Aber im Sommer war es dann so weit, und die Zivildienststelle bei der AWO in Dortmund-Brüninghausen wartete. Dort gab es am Randes des Altenheims statt einer Acht-Mann-Bundesbude eine schnuckelige Zwei-Zimmer-Wohnung für die beiden Zivis, einschließlich einer „Musiktruhe“ mit Plattenspieler, und da liefen immer wieder die Scheiben von Wader, Süverkrüp und Degenhardt, aber auch die Stones und die Beatles und sogar Reinhard Mey. Die „Schmuddelkinder“ und „Tonio Schiavo“ mit seinem Herner Paradies kannten wir natürlich auswendig, und die Diskussion, ob denn die DKP zur Volksfront gehört, die kam erst später im Studium. Emotional war das auf jeden Fall eine tolle Kiste.

Danke, Dr. Degenhardt, „Drecksack mit dem Ulbrichtbart“, wie er selbst mal zornig einen der Schmähbriefe an sich besang.

______________________________________________

Teaserbild in der Artikel-Übersicht: Cover einer posthumen Neuerscheinung. Am 2. Dezember kommt das Boxset mit 4 Degenhardt-CDs unter dem Titel „Gehen unsere Träume durch mein Lied“ (Koch Universal Music, ca. 23 Euro) heraus.




Zum Tod der Musikjournalistin Sonja Müller-Eisold

Rund 55 Jahre lang hat sie für die Westfälische Rundschau (WR) über Oper, Ballett und Konzerte in der Region geschrieben. Welch eine Zeitstrecke, welch eine Lebensleistung! Jetzt ist die Dortmunder Musikjournalistin Sonja Müller-Eisold mit 80 Jahren gestorben. Eigentlich unfassbar, dass sie ihre angestammten Plätze in den Opern- und Konzerthäusern nicht mehr einnehmen kann. Wie sie denn überhaupt aus dem westfälischen Musikleben kaum wegzudenken ist.

55 Jahre lang für dieselbe Zeitung schreiben – solche Betriebstreue gibt es nicht mehr, kann es nicht mehr geben. Sie ging einher mit einer Zuverlässigkeit, wie man sie heute wohl vergebens sucht. Einen Termin ausfallen zu lassen oder sich auch nur zu verspäten, das war für Sonja Müller-Eisold prinzipiell ausgeschlossen. Im täglichen Wirrwarr der Redaktionsarbeit lernt man solche Festigkeit sehr zu schätzen.

Das Wirken der bei Dresden Geborenen ging freilich über derlei „preußische“ Sekundärtugenden weit hinaus. Auf der soliden Grundlage eines Studiums der Musikwissenschaften, das sie in Berlin mit der Promotion abschloss (über Mörikes Lyrik in Hugo Wolfs Vertonung), und eines Redaktionsvolontariats bei der Westfälischen Rundschau, reifte sie zur viel beachteten Kritikerin heran. Doch trotz ihres wachsenden Einflusses blieb die Gattin des früheren WR-Verlagsleiters Hans G. Müller (Heirat 1962, aus der Ehe ging die Tochter Andrea hervor) bemerkenswert unprätentiös. Wenn wir schon bei den Adjektiven sind: freundlich und ausgeglichen müssen hier ebenfalls stehen.

Über zweieinhalb Jahrzehnte durfte ich in der WR-Kulturredaktion mit SME (so ihr weithin bekanntes Kürzel) zusammenarbeiten. Sie war unsere feste freie Mitarbeiterin für alle Sparten der so genannten E-Musik und betreute etwa die Tage Alter Musik in Herne ebenso fachkundig wie die Tage Neuer Kammermusik in Witten. Zwischen solchen Festivals lagen ungezählte Opernpremieren und Konzertereignisse, an Wochenenden waren zuweilen mehrere Termine zu absolvieren. Bis zuletzt hat Sonja Müller-Eisold sich derlei Strapazen zugemutet – vor allem aus tiefer Freude an der Musik. Wer je ernsthaft geschrieben hat, wird wissen, dass bei einem solchen Pensum auch Routinen vonnöten sind.

Alljährlich besuchte Sonja Müller-Eisold die Wagner-Festspiele in Bayreuth. In der ganzen Republik dürfte es schwerlich Menschen geben, die beispielsweise den „Ring“ öfter gehört und gesehen haben als sie. Seit 1990 war sie Vorsitzende des Wagner-Verbandes in Dortmund. Auch nahm sie einen langjährigen Lehrauftrag an der Dortmunder Musikhochschule wahr.

Ihre Kritiken waren in aller Regel sanftmütig, sie taten nicht mutwillig weh. Gelegentlich hat man ihr beim Redigieren zurufen mögen: „Nun sagen Sie dem Regisseur doch mal kräftig Bescheid!“ Doch wenn sie mit einem Auftritt nicht einverstanden war, blieb sie auf noble Weise zurückhaltend und beließ es bei künstler- und also menschenfreundlichen Hinweisen, zarten Andeutungen zwischen den Zeilen. Und wenn man es nur recht bedenkt, hat solcher Zuspruch vielleicht oft mehr gefruchtet, als ein herzhafter „Verriss“ es vermocht hätte.

Durfte sie hingegen aus guten Gründen schwelgen, so war sie vollends in ihrem Element. „Beglückend“ war dann oft eines ihrer liebsten Worte. Es bezeichnet ihr inniges Verhältnis zur Welt der künstlerischen Klänge und zu den Musikschaffenden.

(Einzelne Daten und Sachinformationen, die mir sonst nicht unmittelbar vorgelegen hätten, entnehme ich dem heute in der Westfälischen Rundschau abgedruckten Nachruf).

Historische Grabstätte in Dortmund (Foto B. B.)

Historische Grabstätte in Dortmund (Foto B. B.)




Lisztiana IV – Und wie hält er’s mit der Religion?

Franz Liszt, Fotografie um 1860.

Franz Liszt, Fotografie um 1860.

Die Musikwelt feiert heuer den 200. Geburtstag von Franz Liszt. Das Urteil über ihn scheint klar: der Frauenheld, der Tastenlöwe. Dass er 1865 die niederen Weihen erlangte, sich fortan Abbé nennen durfte – bestenfalls eine Laune. Oder eine Flucht in die Religion? Michael Stegemann, Professor für Historische Musikwissenschaft an der TU Dortmund, weiß zu differenzieren. Gerade hat er das Buch „Franz Liszt – Genie im Abseits“ veröffentlicht. Martin Schrahn sprach mit ihm über den tiefreligiösen, janusköpfigen Komponisten und über dessen kirchenmusikalisches Werk.

Es heißt, Liszt habe schon als Knabe den Wunsch geäußert, Priester zu werden. Ist das glaubwürdig, Herr Stegemann?

Michael Stegemann: Ich denke schon. Der Musikfeuilletonist Joseph d’Ortigue hat dies 1835 in der „Gazette musicale de Paris“ so dokumentiert und beruft sich auf Tagebücher von Liszts Vater.

Die allerdings verschollen sind.

Ja. Doch Liszt selbst hat diese Äußerung auch später noch bestätigt, gegenüber seiner Biographin Lina Ramann.

Was trieb ihn zu diesem Wunsch?

Er suchte Geborgenheit. Schutz im Schoß der Mutter Kirche, wenn Sie so wollen. Denn der Wunderknabe am Klavier, vom Vater durch die Salons gehetzt, war von seiner Mutter getrennt. Wir müssen dies aber auch vor dem Hintergrund sehen, dass Liszt in ein tief katholisches Haus hineingeboren wurde. Ganz bewusst wurde er auf den Namen Franciscus getauft.

Als der Vater plötzlich starb, 1827 in Boulogne-sur-Mer, hätte Franz seinem Leben die erwünschte Richtung geben können.

Theoretisch schon. Doch er musste sich um die Mutter kümmern, die ihm nach Paris nachgereist war. Auffällig aber ist, dass er noch vor dem Tod des Vaters ein Tagebuch begann – das nichts anderes war als eine Sammlung moralisch-religiöser Zitate und Maxime. Er las außerdem „Paradise Lost“, das epische Gedicht des Engländers John Milton.

Dann traf der Komponist in den 1830er Jahren den Abbé Félicité de Lamennais…

Und der Abbé und seine vom sogenannten Saint-Simonismus geprägten Schriften hatten enorme Bedeutung für die spirituelle und künstlerische Entwicklung des Komponisten. Saint-Simon vertrat die Meinung, Kunst und Religion sollten gleichermaßen den Menschen dienen. Er sprach quasi aus dem Geist der Juli-Revolution von 1830.

Und der Abbé?

War verantwortlich dafür, dass Liszt sich dem ernsthaften Komponieren zuwandte. Der Künstler habe die christliche Aufgabe, dem Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen, schrieb Lamennais. Der Komponist selbst wollte fortan zwei Maximen folgen: „Génie oblige“ und „Caritas!“. Das Genie ist verpflichtet, sich für die Kunst einzusetzen wie auch für die Menschen, die Hilfe brauchen.

Alles schön und gut. Aber gleichzeitig begann er die Affäre mit Marie d’Agoult, einer verheirateten Frau. Selbst nach deren Scheidung lebten sie quasi in wilder Ehe, hatten drei Kinder miteinander. Spricht das nicht gegen seine tief verwurzelte Religiosität?

Der Liszt-Forscher Michael Stegemann. Foto: Klavier-Festival Ruhr

In diesem Fall schließt das eine das andere nicht aus. Aus Briefen geht hervor, dass beide durchaus ein gemeinsames Bild von Religiosität hatten. Doch dazu gehörte eben auch Lebensfreude. Liszt hatte allerdings wohl nie die Absicht, Marie zu heiraten, das Verhältnis also zu legalisieren.

Doch später bei Caroline von Sayn-Wittgenstein waren die Hochzeitspläne keine Spielerei?

Nein, sie haben wirklich ernsthaft und über Jahre darauf hingewirkt. Und sie hätten es sich einfach machen können, nach Carolines Scheidung von ihrem Mann, dem Fürsten Nikolai von Sayn-Wittgenstein, Spross eines alten, aber verarmten litauischen Adelsgeschlechts, zum Protestantismus zu konvertieren. Doch sie wollten den Dispens des Papstes, also katholisch heiraten.

Was in letzter Sekunde vereitelt wurde. Warum?

Weil die Familie des Fürsten Hohenlohe – dem Mann von Carolines Tochter aus erster Ehe, Marie – ein übles Intrigenspiel anzettelte. Es ging um Geld und Besitz, Marie hätte nichts geerbt. Und das Sayn-Wittgensteinsche Vermögen in Form von Landbesitz, das Caroline von ihrem Vater geerbt hatte, war unermesslich groß.

Sie hat sich nach dieser Niederlage von der Kirche abgewandt, veröffentlichte sogar eine mehrbändige Abrechnung mit dem Vatikan. Wieso aber hat sich Liszt arrangiert?

Die Kirche war für ihn noch immer ein Schutzraum. Zeitweise lebte er in Rom sogar in einem Kloster. Bei aller Berühmtheit war er doch lieber für sich. Denn Liszt sah sich selbst als Gescheiterten. Sein Werk erfuhr Missachtung, die Beziehung zu Caroline verblasste nach und nach. Schon 1858 war er in Pest in den Franziskanerorden eingetreten.

Lassen Sie uns zur Kirchenmusik des Komponisten kommen. Warum taten sich die Zeitgenossen auch damit schwer?

Zunächst einmal: Liszts Werke auf diesem Gebiet zählen zum Wichtigsten des 19. Jahrhunderts. Seine Reform, die er auch theoretisch untermauert hatte, lief in Richtung einer musikalischen Ökumene. „Via Crucis“ etwa, eine Darstellung der Kreuzwegstationen Jesu, verknüpft gregorianische mit lutherischen Chorälen. Dieses späte Opus ist übrigens bestes Beispiel für den spröden, aber ungemein faszinierenden Altersstil Liszts. Es blieb, mit seinen Klängen, die weit in die Harmonik des 20. Jahrhunderts weisen,  unverstanden. „Via Crucis“ wurde überhaupt erst 1929 uraufgeführt.

Immerhin konnte er mit der „Legende von der Heiligen Elisabeth“ Erfolge feiern. Woran lag das?

Das Werk war eher volkstümlich religiös und protestantisch geprägt, orientiert an der deutschen Oratorientradition, etwa mit Blick auf Mendelssohns „Elias“.

Liszt, der Unverstandene, der Gescheiterte. Es heißt, er habe Selbstmordgedanken geäußert. Wie viel Wahrheit ist daran?

Wir müssen diese Äußerungen sehr ernst nehmen. Er schreibt dies etwa in einem Brief an Olga von Meyendorff, die er 1863 in Weimar kennengelernt hatte. Auch seine Biographin Lina Ramann bestätigte seine Lebensunlust. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Liszt seit 1842 regelmäßig trank, schließlich zum Alkoholiker wurde. Ich wage zu behaupten, dass er im klinischen Sinne depressiv war.

Er genoss das Weltliche und flüchtete sich letzthin in die Religion?

Nein, diese Ebenen existieren gewissermaßen übereinander.  Das oft vorgetragene Bild, Liszt habe erst mit seiner Weihe zum Abbé zur Religion gefunden, ist falsch.

Auch das Komponieren von Kirchenmusik hat ja nicht mit dem Weihejahr begonnen.

Genau. Sein „Psaume instrumental“ (De Profundis) für Klavier und Orchester entstand schon 1834. Der 1833 begonnene, 20 Jahre später veröffentlichte Klavier-Zyklus  „Harmonies poétiques et religieuses“ ist tief religiös geprägt. Darauf folgten die großen kirchenmusikalischen Werke: die Graner Messe, Missa solemnis, das Oratorium „Christus“.

Blicken wir auf das Jubiläum. Warum wird des Meisters Kirchenmusik so gut wie gar nicht aufgeführt?

Insgesamt ist zunächst festzuhalten, dass überhaupt nur der geringste Teil von Liszts 800 Werken in Konzerten zu hören ist. Außerdem gilt: Kirchenmusik ist nicht cool. Der Hype des Virtuosen hingegen ist nahezu ungebrochen. Das Publikum jubelt, wenn sich junge Tastenzauberer etwa in die Ungarischen Rhapsodien stürzen.

Ist das der einzige Grund?

Nein, ein Problem ist natürlich auch, dass das kirchenmusikalische Werk wenig erschlossen ist. Es gibt keine kritische Notenausgabe. Und letzthin: Das gängige Liszt-Bild, das eines Superstars, ist doch bequem. Es gibt wenig Interesse, es zu korrigieren.

Kann das Jubiläumsjahr mit all seinen Publikationen und Sonderkonzerten nicht Abhilfe schaffen?

Vielleicht punktuell. Doch ich fürchte, dass nach dem Liszt-Jahr alles schnell vergessen sein wird.

 

(Das Gespräch wurde in ähnlicher Form in der „Tagespost“, Würzburg, veröffentlicht)

 

 




Ortsbegehungen in Mahlers Welt

Nicht nur im laufenden Mahler-Gedenkjahr, auch lange noch darüber hinaus, werde ich sehr gerne zu dem schönen, geschmackvoll edierten Lebensbuch greifen, das der Residenz Verlag unter dem Titel „Mahlers Welt / Die Orte seines Lebens“ unlängst hat erscheinen lassen. Alle, die sich für Mahlers große Symphonik interessieren, sich für sie zu interessieren beginnen, sie vielleicht sogar schon lieben, werden sich mit diesem stattlichen Band auf Dauer anfreunden können.

Man könnte dieses Buch, wenn man es in einem durch liest, im fortwährenden Ausgang von den akribisch aufgeführten und detailreich kommentierten, recht zahlreichen Wohn- und Aufenthaltsorten und innerstädtischen Wohnadressen Mahlers her als eine besondere Art Mahler-Biographie lesen, oder aber es chronologisch und vom sehr hilfreichen Register her recht vorteilhaft als Nachschlagewerk benutzen. Zudem: Wer im letzten Jahr im Wiener Palais Lobkowitz die Ausstellung „Gustav Mahler und Wien“ gesehen hat oder eine der bedeutenderen Biographien zu Gustav Mahler (z. B. die von Jens Malte Fischer) bereits kennt, findet in diesem Buch eine gute Ergänzung.

Aber auch jener, der ohne allzu große Vorkenntnisse ist, und, ohne dass er den Zugang zu den Mahlerschen Kompositionen bereits gefunden hätte, unversehens auf dieses Buch stößt, könnte bei der fortlaufenden Erkundung und der fortlaufenden, durch etwa 600 Photographien gestützten Besichtigung der Orte von Mahlers Lebens einen zumindest sekundären Zugang zu Mahlers Schaffen gewinnen.

Ohnehin kann einem der Gedanke kommen, ob nicht auch so schon jedes Menschenleben auf seine Weise interessant ist und gebührendes Interesse verdiente; und wie es wäre, wenn man nicht nur das Leben der Berühmten, sondern auch das der Obskuren Revue passieren ließe; ja sogar, wie es wäre, wenn man das Leben Nahestehender oder auch das eigene Leben in der Chronologie der jeweiligen Wohn- und Aufenthaltsfolge in ihrem Leben einmal etwas genauer unter die Lupe nähme. Gewiss: die Vita der bereits Berühmten wird immer – auch buchmarktsmäßig gedacht – von größerem Interesse sein. Aber seit welchem Jahrhundert (wenn nicht dem Zeitalter der Renaissance in Italien) gibt es überhaupt ein Interesse an Künstler…-Viten? Und liegt diesem Interesse am Biographischen bei Künstler…n nicht fast immer die affektiv besetzte Beachtung der von den Künstler…n geschaffenen Kunstwerke ursächlich voraus?

Und war es nicht auch bei Gustav Mahler ähnlich? Wie schändlich lange hat es doch posthum gedauert, bis er in der Öffentlichkeit die ihm und seinem schöpferischen Werk auch nur einigermaßen angemessene Würdigung endlich und erst nach erfolgter Schleusenöffnung geradezu boomartig gefunden hat! Anlässlich des vorliegenden, über 400 Seiten starken Bandes „Mahlers Welt“ (ein Titel, der einen an den des größten Bucherfolgs von Jostein Gaarder erinnert), male ich mir aus, wie ein ähnlich zugeschnittener Band mit Blick auf andere Künstler aussähe, die ähnlich häufig wie Mahler von Ort zu Ort, von Adresse zu Adresse gezogen sind. Mir kommen da auf Anhieb Kleist, Grillparzer, Dostojewskij, auch Kafka, in den Sinn, um von den bedeutenden exilierten Künstlern mal ganz zu schweigen.

Wer also, sagen wir im Ruhrgebiet, z. B. wissen will, was Mahler mit dem Ruhrgebiet zu tun gehabt hat, wird im Register nach Ruhrgebietsstädten Ausschau halten und dabei auf die Seitenhinweise zur Stadt Essen stoßen. Auf Seite 261 erfahren wir, dass Mahler im Januar 1907 in Berlin unter anderem „den Gründer des Essener Folkwang-Museums Karl Ernst Osthaus“ getroffen hat, und auf den Seiten 303f. wird uns ausführlich mitgeteilt, was es mit Mahlers Mai-Aufenthalt 1906 in Essenfür eine Bewandtnis hatte. Auf S. 304 z. B. ist u. a. zu lesen: „Am 27. Mai um 17.30 Uhr fand im Städtischen Saalbau die zwiespältig aufgenommene Uraufführung von Mahlers VI. Symphonie unter der Leitung des Komponisten statt. Das aus 111 Musikern bestehende Orchster setzte sich aus den Städtischen Orchestern Essen und Utrecht zusammen. Mit der Eisenbahn wurde aus Paris von der Firma Musel Père et Fils, Paris IX.ar., 46 Rue de Douai, die in der Partitur vorgeschriebene Celesta herangeschafft, die laut erhaltenem Frachtbrief-Duplikat ein Gewicht von 101 kg hatte und 450 fl kostete.“

Je eine der etwa 600 in Einheitsgröße kleinen Abbildungen des Gesamtbandes findet sich auf den beiden Mahlers 1907er-Aufenthalt in Essen betreffenden Seiten 303 und 304. Auf Seite 304 ist der von 1904 bis 1943 existente zweite Essener Saalbau, ein „Jugendstil-Bau“, abgebildet, in dem Mahlers „Sechste“ 1907 uraufgeführt wurde.
Durchgängig sind die Abbildungen des Bandes kleiner als Postkarten, aber deutlich größer als die Briefmarkenabbildungen in älteren Michel-Katalogen. Dadurch bekommt zwar einerseits der jeweilige Text ein größeres Gewicht, andererseits verkümmert das Bild ein wenig zum bloßen Anhaltspunkt. Mir hat Letzteres allerdings nicht allzuviel ausgemacht. Mir hat die Einheitlichkeit in der jeweiligen Bildgröße des so unterschiedlichen Bildmaterials aus gesamtästhetischen Gründen durchaus gefallen. Zur Not hätte ich mir mit einer Lupe geholfen, wenn nicht ohnehin schon die Internet- und CD-Rome-Gewohnheit, kleine Bilder durch Zoomen jederzeit vergrößern zu können, bei mir inzwischen deutlich innerlich nachwirken und kleinste Bilder wie von selbst auch innerlich weiten würde.

Notorische Zweifler fragen jetzt vielleicht noch: 1.) Ist „Mahlers Welt“ denn nicht vordringlich in der von ihm komponierten Musik zu finden? 2.) Kann man denn erwarten, dass Mahlers „Welt“ sich aus chronologisch aneinandergefügten Stationen und Aufenthaltsorten als „Welt“ im wahrsten Sinne des Wortes zusammensetzen ließe?

Zur 2. Frage ist Folgendes zu sagen:
Erstens schränkt der Untertitel „Die Orte seines Lebens“ den Haupttitel „Mahlers Welt“ schon etwas ein.
Und zweitens wird in allen ortsbezogenen Beiträgen überzeugend und erfolgreich Wert darauf gelegt, sie in deutlichen Zusammenhang mit den jeweiligen Menschen und ihrer Geschichte zu bringen. Briefzeugnisse Gustav Mahlers und anderer werden da, wo ihr Ort ist, in die jeweiligen Artikel ebenso einbezogen wie passende, erhellende Dokumente und in unermüdlicher Akribie erzielte Rechercheergebnisse. Manchmal erfährt man sogar, wie nebenbei, wie eine bestimmte Straße einst zu ihrem Namen gekommen ist (vgl. beispielsweise auf S. 25 die Namensgeschichte des „Rennwegs“ in Wien).
Drittens ist auf diesem strikt faktenbezogenem Wege ein sehr informatives, reichhaltiges und anregendes Buch entstanden. Zur Freude derer, die noch mehr über Mahler erfahren wollen, und als verlockende Möglichkeit für jene, die über unverbiestert zuverlässige Biographie- und Kulturgeschichtsfragmente vielleicht doch noch einmal einen eigenen Zugang zu Mahlers Musikwelt zu finden trachten, auch wenn sie es vorher vielleicht gar nicht erhofft hatten.

Helmut Brenner / Reinhold Kubik: „Mahlers Welt. Die Orte seines Lebens“. Residenz Verlag. 408 Seiten, 39,90 Euro.




Anti-Ideal zur höheren Geigen-Tochter: Patricia Kopatchinskaja und Fazil Say in Essen

Patricia Kopatchinskaja Photo: Marco Borggreve

Patricia Kopatchinskaja Photo: Marco Borggreve

An Patricia Kopatchinskaja scheiden sich die Geister. Die moldawische Geigerin pflegt einen radikalen Stil. Ihr Spiel geht an die Grenzen, die intensiven Ausdruck von schierer Brutalität scheiden. Die Kritik sagt ihr nach, den „Schmutz“ in der Musik zu lieben – das Geräuschhafte, den bis zur Schmerzgrenze aufgerauten Ton. Die sie mögen, bewundern ihre unbedingte Wahrhaftigkeit, ihre kompromisslose Ausdruckssuche. Die sie ablehnen, kritisieren an ihr ungenierten Subjektivismus, gepaart mit dem Abschied von jeder traditionellen Ästhetik.

Nach dem bemerkenswerten Konzert in der Philharmonie in Essen lässt sich feststellen: Beide Sichtweisen haben gute Gründe. Aber: Was ist dann von der geigenden „Wildsau“ – wie sie sich selbst einmal bezeichnet hat – zu halten? Steht sie für den Auswuchs eines nach immer exaltierteren Novitäten gierenden Kunstbetriebs, in dem nur Aufmerksamkeit erzielt, was schräg, extrem und unerhört ist? Oder für einen kompromissloser Zugang zu Musik, die sich allzu leicht ins Ohr schmeichelt, weil ihre ursprünglichen Ausdrucks-Intentionen nicht mehr wahrgenommen werden?

Schon vor gut zwei Jahren hat die moldawische Geigerin gemeinsam mit ihrem Klavierpartner Fazil Say auf einer beim Label naїve erschienenen Disc demonstriert, dass sie von Beethoven und Ravel Politur und Perfektion abkratzt. Wer sich gelegentlich mal ins Konzerthaus Dortmund aufmacht, konnte dort schon 2006/2007 die Kopatchinskaja als „junge Wilde“ bestaunen. Ein Ruf, der ihr von einigen Musikkritikern auch willig vorausposaunt wird.

In Essen waren die Reaktionen im beachtlich gefüllten Parkett des Alfried-Krupp-Saales meist enthusiastisch, teils auch reserviert. Sie spiegeln getreu, wie die so gar nicht dem Ideal der geigenden höheren Töchter entsprechende Musikerin wahrgenommen wird. Nach dem ersten Satz von Schuberts a-Moll-Sonate dürfte klar gewesen sein: Es geht Say und Kopatchinskaja nicht um die Show. Auch nicht um den „Schmutz“ in der Musik. Sondern darum, eine Musik zu vergegenwärtigen, deren Tiefe sich heute in der Masse des Gehörten zu eben jener gepflegten Glätte nivelliert hat, mit der sie als erschütterungsloses akustisches Dessert niemanden verstört. Die nicht mehr aus der Ruhe bringt, es sei denn, es verspielt sich jemand.

Dieses gegenwärtig Setzen geschieht schon in den ersten Perioden: Say entwickelt die weichen Linien des Klavierparts aus dem Nichts. Die Geigerin fährt mit dem eröffnenden Vier-Ton-Motiv unwirsch in die Idylle. Aber im Nachsatz zieht sie sich wie erschrocken ins Träumerische zurück. Ein paar Sekunden machen klar, aus welchen Extremen Schuberts Stück besteht. Say spinnt in seinem ersten Solo den Gegensatz aus: Er lässt ein schwärmerisches Legato fließen, das für sich genommen reinster Kitsch wäre – würde nicht seine Geigenpartnerin die ätherische Schönheit mit dem erneuten Einwurf des verstörenden Anfangsmotivs als Illusion entlarven.

Patricia Kopatchinskaja gibt aber nicht die Hexe vom Dienst: Auch sie kennt die traumverlorenen Arielstöne, veredelt mit feinstem Vibrato. Auch sie kennt den „heiligen Gesang“ des zweiten Satzes, die sanfte Steigerung ins Hymnische, an die sich Fazil Say schüchtern herantastet. Aber sie kennt auch das heftige Temperament zu Lasten der makellosen Politur des Tons.

Bei Beethovens „Frühlingssonate“ hört man, was ein exponiertes Sforzato eigentlich ist. Die Musik drängt im Kopfsatz geradezu verzweifelt vorwärts, als sei ihr ein Dämon auf den Fersen. Kopatchinskaja lässt die Skalen blitzen, Say die Bässe dröhnen – aber man findet schwerlich einen Moment, der sich aus lauter Selbstgefälligkeit gegen die Musik richten würde. In den ruhevollen Kantilenen des „Adagio molto espressivo“ schnurrt der Tiger: Bei allem Furor ist Kopatchinskaja zur erfüllten Sanglichkeit fähig.

Das Programm ist sinnig zusammengestellt: Verbinden sich Beethoven und Schubert durch ihre Suche nach expressiver Erweiterung der Formmodelle, teilen Brahms‘ d-Moll-Sonate und Ravels „Tzigane“ die Idee des „Zigeunerischen“. Brahms‘ Allegro verschwimmt unter Fazil Says Händen in einem zu weichen Wattebett, aber nach der Exposition toben sich die beiden Musiker in erregter Passion aus: Doch selbst wenn Kopatchinskaja den Zusammenhalt der Phrasierung in Frage stellt, bleibt der Eindruck, hier gehe es einer Künstlerin um den unbedingten, selbst im gewagtesten Risiko verantworteten Ausdruck. Man kann diesen Kopfsatz ganz anders auffassen, schwerlich aber authentischer und persönlicher.

Das Adagio stellt in der Musizierhaltung die Rückbindung zu Schubert her: Die Geigerin spinnt hinreißend weite, doch mit Spannung erfüllte Phrasen aus. Im dritten Satz lässt sie hören, wie sie die Töne „reißen“ kann, doch nie überschreitet Kopatchinskaja die Grenze, jenseits derer der Kunst-Charakter des Klangs an die bloße Sensation des Geräuschhaften verraten würde. Und der Beginn von Ravels „Tzigane, rapsodie de concert“ ist wie ein ferner, rauchiger Reflex auf die Folklore, die der Komponist im Ohr gehabt haben mag, als er sich von der Geigerin Jelly d’Arányi und ihren ungarischen Weisen anregen ließ.

Es sind die Aspekte des Gebrochenen, nicht die Imitation des Folkloristischen, die Say und Kopatchinskaja interessieren – bis hin zur furiosen Steigerung und zum gespenstischen Klang-Irrlicht. Dass die beiden Musiker als Zugabe einen rumänischen Tanz Béla Bartóks wählen, steht in der Linie des Programms. Dass Kopatchinskaja in Jorge Sanchez-Chiongs „Crin“ (1996) mit ihrer Geige „schimpft“, amüsiert das Publikum. Und die Lacher haben beide auch mit der überraschenden Bearbeitung von „Für Elise“ von Fazil Say auf ihrer Seite.

Fazit des Konzerts: Der Anspruch der Kunst wird nie aufgegeben zugunsten einer exaltierten Selbstdarstellung. So riskant, so glühend, so entfesselt die beiden auch spielen mögen: Hinter jeder Note steht die Demut vor dem Werk. Ein bedeutendes Konzert, das hörbar macht, wie aufregend gegenwärtig Musik sein kann, wenn man sie aus der wohligen Sphäre berührungslosen Genusses befreit.

Patricia Kopatchinskaja ist in der Region wieder zu erleben: Am 11. November spielt sie im Konzerthaus Dortmund mit dem Philharmonia Orchestra London das Violinkonzert von Esa-Pekka Salonen. Am 29., 30. und 31. Januar ist sie in Köln zu Gast und spielt mit dem Gürzenich-Orchester unter Ulf Schirmer Mozarts D-Dur-Violinkonzert. Nach Essen kommt sie wieder ab 31. Mai zu einer Meisterklasse mit Sol Gabetta (Cello) und Henri Sigfridsson (Klavier). Die drei spielen am 2. Juni 2012 in der Philharmonie Klaviertrios. Mehr auf der offiziellen Webpage der Geigerin: http://www.patkop.ch/




Sole Sentry rocken plugged und unplugged in der Hafenliebe

Kieron Gerbig - Foto: Sabine Musik

Kieron Gerbig - Foto: Sabine Musik

Die bisher im Bam Boomerang beheimatete Dienstag-Reihe „tuesday live“ bietet ab jetzt in der Dortmunder Hafenliebe lokalen Bands eine Bühne. Sole Sentry, die in Kulturcafés, Diskotheken und sogar Heavy-Metal-Kneipen, ein Standbein im Live-Sektor gefunden haben, werden am 11. Oktober in der Hafenliebe plugged und unplugged auftreten. Die Band um den gebürtigen Australier Kieron Gerbig verlangt von sich Tiefe, gepaart mit einem ordentlichen Schuss Rock. Im Interview erzählt Kieron, wie sich die Band entwickelt hat und warum er es liebt, seine Musik so zu präsentieren, wie sie auch geschrieben wurde.

Am 11. Oktober spielt ihr in der Hafenliebe in Dortmund. Die so genannte „Dienstags-Reihe“ soll lokalen Newcomer-Bands eine Plattform geben. Doch so neu seid ihr eigentlich nicht. Seit wann gibt es Sole Sentry?

Kieron Gerbig: Die Band gibt es schon länger, die Konstellation ist allerdings neu. Bevor ich zu Sole Sentry kam, spielte ich in der Band ‚Increase‘. Leider trennten sich unsere Wege und die Band wurde aufgelöst. Es ging mir gesundheitlich nicht gerade gut, doch nach einer erfolreichen Operation wollte ich sofort wieder mit der Musik loslegen. Und das nicht alleine, sondern mit einer Band.

Wie bist zu Sole Sentry gestoßen?

Kieron Gerbig: Ich schaute mir eine Menge Bands an und als ich die Jungs von Sole Sentry kennenlernte, wusste ich: Das ist die Band, mit der ich Musik machen will. Also schrieben wir neue Songs, machten unseren ganz eigenen Stil, es herrschte stetig Austausch zwischen den Bandmitgliedern, so änderte sich schließlich auch der Sound.

In der Hafenliebe werdet ihr plugged und unplugged spielen. Was macht ihr da genau? Ist es euch wichtig zu demonstrieren, dass eure Musik „handgemacht“ ist?

Sole Sentry - Foto: Sabine Musik

Sole Sentry - Foto: Sabine Musik

Kieron Gerbig: Ich für meinen Teil liebe es, die Musik so zu präsentieren, wie sie auch geschrieben wurde. Schnörkellos und an der Gitarre. Zumeist akustisch, um es dann gemeinsam im Kollektiv zu einem fertigen Song zu zaubern. Unplugged kannst du natürlich viel mehr Tiefe in die Songs reinlegen. Selbstverständlich mögen wir es auch zu rocken und zu zeigen wo der Hammer hängt. Daher unplugged und plugged.

Und warum Dortmund und nicht Sidney? Du bist gebürtiger Australier, aufgewachsen in Marl, lebend in Dortmund. Warum bist du im Ruhrgebiet geblieben? Wäre Australien nicht auch ein guter Ort als Musiker?

Kieron Gerbig: Hier bin ich mit meiner Musik etwas Besonderes, in Australien bin ich ein Australier unter vielen die rocken. Australien ist ein guter Ort für Musiker, die Happy-Musik á la Jack Johnson machen.

Vielen Dank für das Interview.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=bJnbgsFI4I4&w=560&h=315]




Murray Perahia: Pianist an Schumanns poetischer Seite

Der Pianist Murray Perahia. Foto: Sony/Klavier-Festival Ruhr

Robert Schumann, Meister musikalischer Poesie, hat in seinen Melodien oft eine rührende Unschuld zum Ausdruck gebracht. Geradezu exemplarisch zeigt sich dies in den 13 Charakterstücken des Klavierzyklus „Kinderszenen“ – romantischer Rückblick auf die ersten, für den Komponisten die schönsten Jahre eines Menschen.

Wenn Murray Perahia in der Philharmonie Essen nun die „Kinderszenen“ spielt, in sanfter Klarheit, die darin enthaltene „Träumerei“ mit Gefühl, aber ohne Süße, dann stellt sich der amerikanische Pianist ganz in den Dienst der Romantik, an die Seite Schumanns. Was auch bedeutet, dass der Interpret die geforderte Virtuosität allein als Mittel zum Zwecke des größten Ausdrucks anwendet.

Perahia, dem die Liebe zur Melodik eigen ist, der Linearität höher stellt als Struktur, entpuppt sich so im Gesamtprogramm dieses Konzerts als leidenschaftlicher, an seinen Grundsätzen nie rüttelnder Romantiker. Wenn er also in Bachs 5. Französischer Suite die Dynamik zurückfährt, erklingt ein poetischer Unterton. Nie würde er sich bei dem barocken Altmeister in Detailarbeit verlieren, hat er er einmal in einem Interview erklärt.

In den empfindsamen Teilen der Beethoven-Sonate op. 90 wiederum schimmern Idylle und Pastorales durch. Natürlich verfügt Perahia auch über ein drängendes Espressivo, doch kaum dürfte er den Klassiker als brachialen Revoluzzer präsentieren. Aber Perahias Ansatz geht nicht überall auf. Brahms’ Klavierstücken op. 119 fehlt das Grüblerische und manches gleitet ins Sentiment. Ein bodenständiger Ernst geht hier von diesem  Spätwerk aus, etwas schwerfällig artikuliert. Man erlebt des Pianisten Ringen mit der Materie, und vielleicht hat dies ja doch etwas mit seiner Geschichte zu tun: Eine Verwachsung des rechten Daumenknochens musste operativ korrigiert werden, was Perahia in den 90er Jahren zu Pausen beim Konzertieren zwang.

So hoch also seine Musikalität einzuschätzen ist, so sensibel er sich den Stücken nähert, so verwuselt er sich doch bisweilen im dichten Klaviersatz. Das führt etwa dazu, dass Chopins Musik manchmal die Eleganz und reflektierende Tiefe fehlt. Herb und spröde tönt es herauf. Perahia also scheint sich in Essen als Romantiker zu präsentieren, dem Schumann wesentlicher Fixstern ist. In den lieblichen „Kinderszenen“ gelingt dem Pianisten die Balance zwischen struktureller Klarheit und lyrischer Empfindung so optimal wie sonst nirgends. Der Komponist sah im Natürlichen der kindlichen Welt (im Sinne einer naturgegebenen Unschuld) die Quelle jeder Poesie. Perahia kommt ihr auf die Spur.

 




Sonnenwochenende im Dunkel – Denovali Swingfest 2011

Die Musikerinnen und Musiker hätten schlechteres Wetter verdient. Wer mochte sich schon an einem Wochenende, an dem sich die Sonne erfolgreich Mühe gab, den bereits verloren geglaubten Sommer nachzuholen, in eine lichtlose Halle zurückziehen? Immerhin einige Hundert oder Tausend, die sich in ihrer musikalischen Ausrichtung den experimentierfreudigsten unter den jüngeren Bands und Solo-Künstlern verbunden fühlen.

Wenn sich am Sonntag bereits zur Mittagszeit die nicht gerade kleine Essener Weststadthalle mit hauptsächlich jungen Menschen füllte, die den Eigenkompositionen des französischen, hierzulande kaum bekannten Klavierquartetts Les Fragments de la Nuit lauschen wollten, darf das als ein Erfolg der Organisatoren von Denovali gewertet werden – einem Label, das die verschiedensten Ausrichtungen abseits der musikalischen Mainstreams in sein Programm aufnimmt.

Einundzwanzig Gruppen und Solo-Musiker – allesamt gut auf ihre Art – forderten an drei Tagen das Durchhaltevermögen der Festivalbesucher heraus. Die Vielfalt verleitete zur Selektion. Bei mir waren es vor allem die eher dem schweren Metall verbundenen Künstler, die durch den Filter meiner Aufmerksamkeit fielen, sowie einige „Public Autistics“ aus dem Ambient/Drone-Bereich, die mit sorgsam ausgetüfteltem, fertigem Klangmaterial angereist kamen. Künstler wie Jefre Cantu-Ledesma, dessen Konzert aus einem 35-minütigen Dauerton zu bestehen schien, mit nur einem sehr empfindlichen Gehör zugänglichen Veränderungen, das durch die dargebotene Lautstärke zugleich in der Wahrnehmung feiner Unterschiede beeinträchtigt wird.

Der Grieche Subheim, der ebenfalls in die Kategorie der musikalischen Autisten gehört, setzte zur Elektronik zusätzlich eine Gitarre und ein mit dem Besen geschlagenes Tom Tom ein, was die Zuhörer ihm dankten.
Nadja, das kanadische Duo in charakteristischer Aufstellung – sie konsequent mit dem Rücken zum Publikum, er demselben zugewandt –, erinnerten einmal mehr daran, dass sich diese Variante des Postrocks nicht allein den Einflüssen von Godspeed!, sondern auch des Krautrocks verdankt – ähnliche Klänge hatte man in Essen vor vierzig Jahren schon recht ähnlich gehört, wenngleich damals noch mit tonnenschweren Geräten generiert.
Das schottische Hidden Orchestra betrat zwar mit vier Musikern die Bühne, darunter doppelte Schlagzeugbesetzung, verdeutlichte bei seinem Auftritt aber, warum es so heißt. Einige der Beteiligten blieben unsichtbar, ihre Gesangs- oder Instrumentalparts wurden auf Knopfdruck eingespielt. Insgesamt kamen die zum Teil auf Traditionen des Cinematic Orchestra zurückgreifenden Klänge zu schön, zu harmonisch, herüber, mit einer oft lächelnden, sich in den Hüften wiegenden Geigerin/Keyboarderin. Als dazu noch Vogelgezwitscher eingeblendet wurde, mochten Teile des Publikums sich gewünscht haben, die Kapuzenmänner von Sunn O))) wären verfrüht auf die Bühne gekommen, um ein paar schrille Doom-Metal-Riffs dazwischenzukloppen.

Im Unterschied dazu brachte das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble am Samstagabend raffinierter das Wechselspiel aus Schmerz und Glück in die Gehörgänge. Wer gegen Ende des vorigen Jahrtausends glaubte, mit Nils Petter Molvaers Album „Khmer“ oder Eivind Aarsets „Électronique Noire“ sei eine bestimmte Rhythmik, ein bestimmter Einsatz der Trompete oder ein bestimmter Sound der Gitarre an ein nicht mehr überbietbares Extrem gelangt, konnte sich beim Auftritt der Amsterdamer Formation davon überzeugen, dass diese Musikrichtung ausbaufähig ist, nicht zuletzt durch die teils trip-hop-haften Partien der Sängerin.

Angesichts der extremen Hell-Dunkel-Kontraste zwischen der Weststadthalle und der Rasenfläche an der Thea-Leymann-Straße entschied ich mich, während drinnen solch schwere monolithische Kompositionen wie die von Kodiak + N abliefen, für eine gute halbe Stunde Sonnenlicht. Generell aber dominierte während des Festivals (wie auf dem Denovali Label) das Dunkel. Bohren & der Club of Gore, beinah von allem Licht befreit, beugten nur selten ihre Hinterköpfe in die wenigen, von oben durch den Bühnennebel herabstrahlenden Lichtsäulen. Die nach eigenem Bekenntnis „unromantischste Band Deutschlands“ rebelliert mithilfe einer extremen Dehnung des Takts gegen das schnelle Vergehen der Zeit. Freilich wird in ihren (selbst so bezeichneten) „Songs“ nicht gesungen, und der spärliche Text erschöpft sich in lakonischen Ansagen („Im nächsten Stück geht es um Engel, die alles kaputt machen“). Dann folgt ein weiteres bass-lastiges Low-Tempo-Stück.

In die dunkelste Ecke gehört auch das Dale Cooper Quartet aus Frankreich, das seine Stücke an David-Lynch-Filmen entlangkomponiert. Die Gitarre ist gestimmt wie im Twin-Peaks-Soundtrack von Angelo Badalamenti, und ein vom Diktaphon eingespielter Musikschnipsel zitiert ein Schmachtlied von der Sorte, wie sie der von Dennis Hopper gespielte Brutalo aus „Blue Velvet“ liebt. Streckenweise nimmt uns das Quartett mit auf einen Trip, um dann im Collagen-Durcheinander die Harmonie zu brechen.

Einer der Höhepunkte des Festivals spielte sich an seinem Rand ab, als Pausen-Act auf einer unscheinbaren Bühne neben der Bar im Merchandising Room. Hier trug in der Umbaupause zwischen dem (sehr guten!) Contemporary Noise Sextet und dem Dale Cooper Quartet der Sänger von Her Name is Calla, Tom Morris, zur akustischen Gitarre einige seiner Lieder vor. Die teilweise an Jeff Buckley erinnernde Stimme könnte ein Stadion ausfüllen. Am Samstag sang er vor kleinem Publikum Stücke aus einem Soloalbum, aus der ersten CD von Her Name is Calla und den mehrfach schon gecoverten Kate-Bush-Klassiker „Running Up That Hill“.
Die UK-Band Her Name is Calla, die am Sonntagnachmittag auftrat, lebt von der Stimme ihres Lead-Sängers, von seinem Variationsreichtum zwischen zartesten Tönen und kräftigsten. Was nicht heißen soll, dass die übrigen Bandmitglieder (diesmal ist der Trompeter leider nicht mit nach Deutschland gekommen) nicht gut wären; sie sind allesamt große Klasse. Geige, Bass und Schlagzeug stellen sich auf die Nuancen ein, die Tom Morris aus seiner Stimme herausholt. Wenn andere Bandmitglieder mitsingen, mal die Geigerin, mal zusätzlich der Bassist und ausnahmsweise auch der sonst wild wirbelnde Schlagzeuger, sind das Accessoires. Die Basis ist die Stimme des Leadsängers. Auch wenn Geige und Schlagzeug im Duett das selbstentfesselte Chaos bändigen, wird der nächste stimmliche Einsatz von Tom Morris bereits erwartet. Entfesselt wird das Mikrofon, damit Gitarrenhälse sich am Mikroständer reiben können. Kalkuliert werden Rückkopplungen herbeigeführt, doch die drohende Zertrümmerung der Gitarren bleibt aus.

Neben den dunklen Schwerpunkten kamen auf dem Fest auch einige fröhliche, lustige, verspielte Töne zum Klingen. So bei den eingangs erwähnten, neo-klassisch orientierten Les Fragments de la Nuit, ebenso wie bei dem Münsteraner Komponisten und DJ Thomas Bücker, alias Bersarin Quartett, der am Freitagabend gemeinsam mit einem Gitarristen und einem Schlagzeuger auftrat. Vor allem aber bei dem Düsseldorfer Hauschka.

Hauschka (bürgerlich: Volker Bertelmann) ist ein vielseitiger Pianist. Er komponierte schöne Stücke, zum Beispiel auf dem Album „Ferndorf“ (2008), mit dem er Frieden mit der Siegerländer Provinz schloss, in der er aufwuchs: Reminiszenzen an ein blaues Fahrrad, an den Nadelwald, ans Freibad, an die Eltern, an verregnete Wochen … Er spielte im vorigen Jahr mit dem Magik*Magik Orchestra aus San Francisco seine durchkomponierten Partituren der „Foreign Landscapes“ ein, schrieb Filmmusik, wird im nächsten Jahr auf Einladung des Goethe-Instituts in Kenia mit afrikanischen Musikern zusammenarbeiten. Auf dem Denovali-Festival präsentierte er sich dagegen musikalisch eher einseitig. Hauschka hat nach eigenem Bekunden eine starke Affinität zu Club-Musik, und sein Lieblingsclub ist der „Salon des Amateurs“ in der Düsseldorfer Kunsthalle. So heißt auch sein aktuelles Album, auf dem er Techno-Rhythmen in die Instrumentalmusik zurückführt. Aber während ihm auf dem Album erstklassige Musiker assistieren, zum Beispiel der Schlagzeuger John Convertino von Calexico, kommen bei den Solo-Auftritten die Drums leider nur aus der Beatbox. Dafür ist die Kamera-Großeinstellung in das Innere seines präparierten Klaviers ein Fest fürs Auge. Kleine Schellen ertönen auf Tastendruck, Tamburins scheppern im Kasten des Flügels, eingeklemmte Holzstäbe schnarren, Kronkorken hüpfen, Klebeband dämpft, und ein Stück lang springen Pingpong-Bälle wie Popcorn aus der heißen Pfanne und sortieren sich neu.

Denovali Swingfest
30.09. – 02.10. 2011
Weststadthalle
Thea Leymann Strasse 23
45127 Essen
Infos: www.denovali.com/swingfest




Duisburger Musik statt Dortmunder Fußball

Hab ich schon geschrieben, weshalb ich gestern das Dortmund-Spiel nicht gesehen habe? Nein? – Ganz einfach. Meine Frau und ich haben gestern das 2. Konzert der Duisburger Philharmoniker – schon unseres Abos wegen, vor allem aber wegen des verheißungsvollen Programms (Mozart + Bruckner) – dem live im Fernsehen übertragenen Fußballspiel natürlich vorgezogen. Und außerdem: War es nicht besser, musikalisch Gutes zu hören, als Dortmunds klägliches Debakel mitanzusehen?

Und dennoch: Akustisch mag es zwar vielleicht an unserem Sitzplatz – unserem immerhin doch gewohnten und längst bewährten Sitzplatz! – gelegen haben, leider aber: das 23. Klavierkonzert Mozarts, das ich doch seit langem so gerne mag, hat mir, von der Art der Darbietung her, nicht vollends gefallen; zumindest nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte. Die Ecksätze waren mir insgesamt eine Nuance zu schnell gespielt, die Orchester- und die Klavierpassagen traten mir nicht markant und durchhörbar genug hervor. Fast monophon erschien mir der Klang. Nur der 2. Satz hielt weitestgehend und durchaus beseligend das, was ich mir von dem gesamten Werk versprochen hatte. Da atmete alles. Und so ähnlich war es dann wieder auch bei der sich an den dritten Satz anschließenden Liszt-Zugabe des Pianisten und gleichzeitigen Dirigenten des Abends, Stefan Vladar.

So beschloss ich, endgültig erst nach der 7. Bruckner-Symphonie über das Gesamtkonzert zu urteilen, die mir nämlich seit langem ebenfalls sehr viel bedeutet: War es doch einmal genau die Siebte, die mich per Radio der großen Musik Bruckners erstmals begegnen ließ und durch die mir früh schon und bleibend mein Sinn für sie geschärft wurde. Wie verwandelt erschienen mir die Interpreten der 1. Hälfte nach der Pause: Diese Musik und die Art ihrer Darbietung zündete sofort und ließ über das ganze gewaltige Werk hin keinerlei kritische Anmerkungen bei mir auch nur ansatzweise in den Sinn kommen. Sehr gut (auf dem gewohnten hohen Niveau der Duisburger Philharmoniker) wurde das gespielt. Dem Orchester und dem Dirigenten sei ausdrücklich dafür gedankt.




Düstere Schönheit – Vorschau aufs Denovali Swingfest in der Essener Weststadthalle

Der Wortbestandteil „Swing“ im Festivalnamen ist pures Understatement. Sicher wird der Beton mitschwingen, wenn die durchdringenden Bässe finsterer Bands wie Bohren & der Club of Gore oder Kodiak durch die Weststadthalle wummern. Mit einer älteren Ausrichtung des Jazz hat die am kommenden Wochenende präsentierte Musik aber rein gar nichts zu tun.

Der Untertitel „Experimental Music Festival“ verrät dagegen schon etwas mehr über die einundzwanzig Gruppen und Einzelkünstler, die vom 30. September bis 2. Oktober in Essen auftreten werden. Aber experimentieren lässt sich ja in den verschiedenen Genres.

Das Bersarin Quartett tritt am Freitag gegen 19 Uhr auf

Mehrere der auf dem Festival vertretenen Musiker greifen Traditionen klassischer Instrumentalmusik auf und variieren sie, oftmals um elektronische Mittel erweitert. So der Münsteraner Komponist und DJ Thomas Bücker, alias Bersarin Quartett, dessen Auftritt für Freitag, 30.09., 19 Uhr, vorgesehen ist. Oder der Düsseldorfer Hauschka (i .e. Volker Bertelmann) mit seiner bestechend schönen, manchmal wehmütigen, manchmal heiteren Klaviermusik (Sonntag, 2.10., 19 Uhr). Der Klassik vielleicht am engsten verbunden ist die französische Formation Les Fragments de la Nuit (Piano, Cello und drei Violinistinnen), die den Sonntagnachmittag bereits gegen 13 Uhr eröffnet.

Der Düsseldorfer Hauschka, alias Volker Bertelmann

Postrock – sofern diese generelle Bezeichnung überhaupt etwas aussagt – ist auf dem Festival durch mehrere Gruppen präsent. Die UK-Band Her Name is Calla, die bereits im vorigen Jahr auf dem Denovali Swingfest im Essener Jugendzentrum durch die kräftige Stimme des Lead-Sängers Tom Morris und durch satten Gitarrenklänge überzeugte, ohne dass die subtileren Töne von Geige und Posaune in den Klanggewittern untergingen, spielt auch in diesem Jahr wieder in Essen (Sonntag, 16 Uhr). Der gleichen musikalischen Kategorie ließen sich die Petrels (UK) zuordnen. Angenehm zu hören, etwas in Richtung Shoegazing weisend, sind auch die schwedischen September Malevolence (Freitag, leider schon um 14.30 Uhr). Ebenso AUN aus Kanada. Wer es gern härter mag, wird von Omega Massif gut bedient.

Her Name is Calla spielen am Sonntag gegen 16 Uhr

Ambient und Drone sind auf dem Essener Fest vertreten durch Künstler wie Jefre Cantu-Ledesma (San Francisco), Tim Hecker (Montreal), Kodiak (Gelsenkirchen) sowie durch den Musiker und Videokünstler Thomas Köner, dessen Performance den Freitag beschließt. Das überragende Duo Nadja aus Toronto tritt am Samstag gegen 16 Uhr auf.

Aus dem Jazz kommt das polnische Contemporary Noise Sextet (Samstag, 17.30 Uhr). Stärker elektronisch geprägten Jazz bringt das Hidden Orchestra aus Edinburgh auf das Essener Festival – voraussichtlich eines der herausragenden Ereignisse am Sonntagabend (20.30 Uhr). Das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble aus Amsterdam dagegen, das den Samstag beschließen soll, trägt den Jazz zwar ebenfalls im Namen, ließe sich aber ebenso in eine Reihe stellen mit experimentierfreudigen, mit dem Abgründigen spielenden Postrockbands. Soundtracks zu nie gedrehten Filmen. In diese Richtung gehen auch die dunklen Sounds des Dale Cooper Quartets (Samstag, 19 Uhr). Nicht nur der Bandname, auch die Musik der Bretonen spielt auf David Lynchs Kult-Serie „Twin Peaks“ an. Subheim aus Griechenland, der am Freitag um 17:30 Uhr auftreten soll, steht ebenfalls schwärzester Harmonik nahe, ebenso wie Lento aus Italien oder die Finsterlinge aus Mülheim, Bohren & der Club of Gore, die den Takt auf das größtmögliche Maß verlangsamt haben (Freitag um 22 Uhr). Das Licht am Sonntagabend machen drei dem Death oder Doom Metal zugewandte amerikanische Kapuzenmänner aus: Sunn O))).

Denovali Swingfest
30.09. / 01.10. / 02.10. 2011
Weststadthalle (U-Bahn: Berliner Platz)
Thea Leymann Strasse 23
45127 Essen
Tickets und Infos: http://www.denovali.com/swingfest

 

 




R.E.M. – R.I.P., liebe Eckkneipe

 

nightswimming / deserves a quiet night / … (1992)

yeah all those stars drip down like butter… (1994)

that sucarcane that tasted good… (2001)

not everyone can carry the weight of the world… (1983)

follow me, don’t follow me… (1988)

where is the road I follow? to leave, leave … (1996)

there’s a progess we have found / a way to talk around the problem … (1986)

you and me / we know about time … (1991)

REM_Alben_83_bis_11

Sie waren immer da. Die Eckkneipe unter den Rockbands. Trends-am-Rande-Wahrnehmer. Sich-selbst-treu-Bleiber.

Ein neues Album, das alte gute Gefühl. R.E.M. sind da. Michael Stipe nuschelt, schreit, wispert, singt. Mike Mills‘ sanft-melodiöse Bass-Läufe. Peter Buck schremmelt, ist noch immer kein virtuoser Gitarrist, war immer noch nicht beim Frisör.

1000 Momente: Das bis heute beste Bandfoto aller Zeiten (von dem ich nur eine komische Kunst-Version im Netz gefunden habe). Das Gratis-Konzert am Kölner Dom. Das alte Album. Das davor. Das noch eins davor. Die anderen, die zurückgehen bis 1983.

R.E.M. sind nicht mehr da. Titel ihres letzten Albums, von 2011, wieder eines meiner liebsten des Jahres: „Collapse Into Now“.

Das müssen wir jetzt wohl tun. Nach 28 Jahren hat die Eckkneipe geschlossen.




Auftakt für den Duisburger Wunschkandidaten

Der Zwang zum Kollektiv fördert unter Orchestermusikern oft die tollsten Eigenwilligkeiten. Nicht selten feiern Cliquenbildung und Querulantentum fröhliche Urständ. Die Duisburger Philharmoniker aber scheint, wenn es darauf ankommt, ein glücklicherer Geist zu vereinen.

Auf der Suche nach einem neuen Chef, der den im Mai 2011 verabschiedeten Publikumsliebling Jonathan Darlington als Generalmusikdirektor beerben könnte, sprach sich das Orchester mit geschlossener Stimme für den 1965 in Rom geborenen Dirigenten Giordano Bellincampi aus. Von der Rheinoper mit der musikalischen Leitung von Giacomo Puccinis „La Bohème“ betraut, muss zwischen Dirigent und Orchester ein so positives Arbeitsklima entstanden sein, dass die Musiker den in Kopenhagen lebenden Römer einmütig zum Wunschkandidaten ernannten.

Glückliches Duisburg, wo der Wille des Orchesters nicht etwa von Macht- und kulturpolitischen Interessen übergangen wurde, sondern den Weg in die philharmonische Zukunft weisen darf. Als neuer Generalmusikdirektor der Stadt soll Bellincampi erst am 1. September 2012 antreten. Doch die aktuelle Interimsspielzeit durfte er jetzt bereits eröffnen: Fast genau ein Jahr vor seinem Amtsantritt.

Seinen Einstand in der Mercatorhalle gibt Bellincampi zunächst mit dem träumerischen „Prélude à l’après-midi d’un faune“ von Claude Debussy. Der Dirigent modelliert das von Licht und Klangfarben durchflutete Orchesterstück mit bloßen Händen, wie er überhaupt den ganzen Abend hindurch auf einen Taktstock verzichtet. Den in der Mittagshitze ruhenden Faun umgibt er mit einem orchestralen Waldweben, das Debussys bewusste Abkehr von der Tonsprache Richard Wagners auf den Punkt bringt. Nicht schwül-sinnliche, sondern silbrig-helle Farben flirren um diesen Faun: Hirte, Faun und Nymphen blicken uns wie aus einem zarten Aquarell entgegen.

Ungemein feinen Klangsinn beweist der Dirigent auch in den sechs Orchesterstücken opus 6 von Anton Webern. Zartgliedrigstes schwebt im Klang von Harfe und Celesta vorüber, Tremoli in den Streichern klingen wie fiebriger Geisterhauch. Aber Bellincampi kann bei aller Delikatesse auch unvermittelt zupacken und zuspitzen: Dann setzen die Blechbläser grelle Kontrapunkte, dann markiert ein dröhnendes Crescendo im Schlagwerk den Mittel- und Wendepunkt des Stücks.

Nicht alles gelingt den Interpreten im Violinkonzert des Amerikaners Samuel Barber. Zu stark unterteilt und daher kurzatmig klingen manche der weit ausgreifenden Melodien. Das tief melancholisch gefärbte Andante kann der unterschwellig hektischen Gestaltungsversuche wegen nicht frei strömen. Die rhythmische Vertracktheit des Finalsatzes legt offen, wo Dirigent und Orchester noch nicht ganz präzise interagieren. Aber Bellincampi bewährt sich als geschickter Begleiter, der dem Solisten flexibel folgt und sich darum kümmert, ihn nicht zu übertönen. Dies kommt Serge Zimmermann zugute. Der gerade einmal 20-jährige Sohn des berühmten Duisburger Geigers Frank Peter Zimmermann ist ein blendender Techniker mit feinem Violinton, der oft noch sehr gezügelt klingt. Ein Öffnen und Aufblühen dieses Klangs, ein packenderer Zugriff im Dramatischen mag sich aber entwickeln.

Mit einem Esprit, der Felix Mendelssohns „Italienischer Sinfonie“ alle Ehre gemacht hätte, fegen Bellincampi und die Duisburger Philharmoniker zum Abschluss durch Robert Schumanns 4. Sinfonie. Bellincampi befeuert die Philharmoniker mit quirligen Bewegungen, nimmt dem Werk durch sein Temperament viel von seiner strengen Ernsthaftigkeit. Es ist die Reaktion der Philharmoniker, die in der Tat schöne Hoffnungen auf die Zukunft weckt. Schäumende, fast überbordende Musizierlust bricht sich da Bahn: Und nicht das Geringste ist von den anstrengenden „Tristan“-Vorstellungen zu spüren, die das Orchester bereits vor diesem Saisonauftakt bei der Ruhrtriennale zu spielen hatte. Solche Leidenschaft reißt nicht nur mit. Sie macht die Musik zum Fest.

 




Geschichten vom Herrn Kaum (2)

UNMERKLICHE BEGEBENHEIT

Kaum zu glauben – und seine Frau, Pauline Kaum-Wenig, die mit dabei war, hat’s ja auch nicht gesehen, es, wie sie nachher ihm gegenüber bekannte, überhaupt nicht bemerkt – , aber er, Johannes Kaum, Zwillingsbruder von Hieronymus Kaum, könnte unverzüglich und jederzeit beschwören, dass es genau so war.
Sieht man denn immer nur, fast immer nur, was man selber für möglich hält? –

Am 13. August, am 50. Jahrestag des Ulbrichtschen Mauerbaus, gab es im Großen Festspielhaus in Salzburg die Generalprobe der Wiener Philharmoniker zur für den folgenden Tag vorgesehenen Aufführung von Guiseppe Verdis „Requiem“. Mit dem 2. Satz, dem „Dies Irae“-Satz, stellte sich bei Herrn Kaum für einige Takte das ein, was sich bei ihm bei wirklich großer Musik – zwar leider zunehmend seltener, beglückenderweise gelegentlich jedoch noch immer – einstellt, ein seinen Rücken urplötzlich überlaufender Gänsehautschauer.

Am Ende des auch in der Generalprobe, nicht nur in Anbetracht des zahlreichen Publikums, vollständig aufgeführten Verdischen Kolossalwerkes bedankte sich der Stardirigent Riccardo Muti bei den Solisten, auch bei einigen Orchestermusikern mit Handschlag: Zuerst bei der Sopranistin, dann bei der Altistin. Auch der Tenor stand schon bereit, trat einen kleinen Schritt vor. Aber der Maestro überging ihn, würdigte ihn keines Blickes, ging ostentativ weiter zum 4. Sänger, dem Bariton, und dankte auch ihm äußerst freundlich und wiederum mit Handschlag.




Bayreuth – Essen und zurück: Die Harfenistin Gabriele Bamberger im Bayreuther Festspielorchester

Sie ist wieder zu Hause. Zwei Monate Bayreuth sind vorbei. Nun probt die Harfenistin
der Essener Philharmoniker für die neue Saison. Gabriele Bamberger hat ihren
Urlaub im Orchester der Festspiele verbracht. Ein Arbeits-Urlaub also? Die
lebhafte Virtuosin der sanften Saiten widerspricht: „Bayreuth ist keine
Anstrengung. Es ist wie Urlaub mit Harfe spielen.“ Seit 1985 ist die gebürtige
Österreicherin – mit wenigen Unterbrechungen – Mitglied des
Festspielorchesters. Nächstes Jahr ist sie zum zwanzigsten Mal dabei. Und freut
sich schon wieder auf die Herausforderung, im berühmten verdeckten Graben fünf
Wagner-Opern hintereinander zu spielen.

Wie viele andere Musiker und Sänger bestätigt auch Gabriele Bamberger: In Bayreuth zu
arbeiten, ist etwas Besonderes. Welches Orchester hat schon vier Harfen, in den
„Ring“-Jahren sogar sechs? In einem normalen Orchester sitzen grade mal zwei.
„Wir sind sonst Einzelkämpfer. Aber in Bayreuth entwickelt sich ein tolles
Gruppengefühl.“ Jeder der Orchestermusiker ist motiviert, sein Bestes zu geben.
„Kollegialität ist wichtig“, sagt die Harfenistin, „schließlich verbringen wir
unseren ganzen Urlaub miteinander.“

Was Gabriele Bamberger in Bayreuth fasziniert, ist die Arbeit mit berühmten Dirigenten. Ihr
erster Maestro war 1985 Giuseppe Sinopoli. Unter ihm hat sie gleich im
„Tannhäuser“ gespielt, für die Harfen die anstrengendste Wagner-Oper. „Das
Beste, was ich an musikalischer Gestaltung erlebt habe, war unter Christian
Thielemann“, schwärmt die Musikerin: „Bei ihm sitzt man auf der Stuhlkante.
Aber gleichzeitig ist es ein ganz entspanntes Musizieren.“ Was macht die Arbeit
mit Thielemann so herausragend? „Jeder Dirigent hat seine besondere Art zu
musizieren. Thielemann hört erst mal, was jeder der Musiker ihm anbietet. Passt
das in sein Konzept, nimmt er das Angebot auf. Thielemann ist ständig mit den
Augen bei den Kollegen. Eine kleine Geste, und man weiß, was er will.“

Gerne erinnert sich Gabriele Bamberger aber auch an die Arbeit mit Größen wie Daniel
Barenboim und James Levine. „Das Spielen mit Barenboim war ein wirklich
nachhaltiges Erlebnis. Er hat einfach Charisma, ist eine musikalische
Persönlichkeit.“ Ähnlich ging es ihr mit Levine: „Er saß da, mit dem Handtuch
über der Schulter, hat gestrahlt, badete in der Musik.“ Sein „Parsifal“ sei
zwar langsam gewesen, aber dennoch ungeheuer spannend: „Da war keine Sekunde
Langeweile drin.“ In diesem Jahr hat der Musikerin vor allem die Arbeit mit
Daniele Gatti im „Parsifal“ gefallen. „Er dirigiert so mitreißend und intensiv,
da empfindet man keine Länge. In diesem Jahr passte einfach alles.“ Aber auch
Andris Nelsons großer Bogen bei gleichzeitiger rhythmischer Konturierung im
„Lohengrin“ hat die Harfenistin sehr überzeugt.

In Bayreuth sitzen Musiker im Orchester, mit denen man keine musikalische Basisarbeit mehr
zu leisten hat. Wie alle anderen wurde Gabriele Bamberger auf eine Empfehlung
hin eingeladen. „Im ersten Sommer spielt man sozusagen für die Kollegen“,
erklärt sie. Denn der oder die Neue müssen in den Klangkörper passen. Wer im
nächsten Jahr wieder eingeladen wird, gehört zum Festspielorchester. Bamberger
erinnert sich: „Ich wurde vom Orchestervorstand angerufen und gefragt, ob ich
mitspielen will. Das war Helmut Schützeichel, der in Mannheim Oboe gespielt
hat. Ich war damals Mitglied der Badischen Staatskapelle in Karlsruhe. Später
habe ich erfahren, dass mich mein damaliger Chef Christof Prick empfohlen hat.“
Unter ihm hatte sie am Badischen Staatstheater bereits das ganze gängige
Wagner-Repertoire gespielt.

Begonnen hat Gabriele Bamberger nach dem Studium in Salzburg 1979 in Gelsenkirchen. Dort
spielt ihr Mann heute noch Geige im Orchester. Und passte früher auf die Kinder
auf, wenn seine Frau nach Bayreuth fuhr. Später wurde die Wagner-Stadt zum
gemeinsamen Urlaubsziel. „Die Kinder haben sich in Bayreuth wohl gefühlt, mein
großer Sohn hat im letzten Jahr hier sogar geheiratet. Uns zieht’s immer wieder
hierher.“

Die Erfahrungen im Festspielorchester nimmt die Harfenistin mit in die Heimat.
Aber: Dank der Bayreuther Eindrücke kann Gabriele Bamberger auch ermessen, wie
gut die Essener Philharmoniker unter ihrem Chef Stefan Soltesz geworden sind.
„Nach der Bereicherung in Bayreuth folgt eben keine Ernüchterung in Essen.
Sondern es macht richtig Spaß, wieder zu Hause zu spielen.“ Sie freut sich,
dass Soltesz Wagner ins Repertoire integriert hat: „Er vertraut mir, er weiß,
dass ich die Partien kenne. Das ist ein schönes Gefühl.“ Ihr
Bayreuth-Engagement hat Soltesz „stets unterstützt“ und sich immer sehr
interessiert gezeigt. Dass er die Werke so genau einstudiert und am Abend so
spontan musiziert, hilft ihr auch für ihren Dienst in Bayreuth. „Stefan Soltesz
hat uns ein Bewusstsein für musikalische Qualität beigebracht. Das müssen wir
jetzt an die jüngeren Kollegen weitergeben.“

(Der Artikel ist in kürzerer Form auch in der WAZ Essen erschienen)




Francesco Tristanos Gebrauchsmusik – Klangmixturen mit Klavier

Francesco Tristano. Foto: Matthew Stansfield

Crossover? Das war gestern. Als Waldo de los Rios 1970 den „Song of Joy“ herausbrachte, die seichte Variante des Schlusssatzes von Beethovens 9., mit der „Ode an die Freude“. Oder als drei Jahre später das Electric Light Orchestra einen alten Chuck-Berry-Hit, „Roll over Beethoven“ coverte, mit den Anfangstakten der schicksalsträchtigen 5. Sinfonie als Intro. Oder etwa als der japanische Synthesizer-Guru Tomita die „Bilder einer Ausstellung“ Mussorgskys in ganz andere Sphären hob (1975).

Alles längst vergangen. Heute steht Francesco Tristano in den Startlöchern. Der junge luxemburgische Pianist (der seinen Nachnamen Schlimé abgelegt hat), der sich als ein Techno-Nerd sieht und Crossover ablehnt. Einer, der sich in Klangtüftelei und rhythmischem Minimalismus auslebt. Dem der Sound das wichtigste ist, unabhängig davon, ob die dazugehörigen Noten barocken, klassischen oder modernen Ursprungs sind.

Was das bedeuten kann, hat Tristano nun während der Ruhrtriennale in zwei Konzerten – oder besser: Performances – klar gemacht. Zum einen bei einem Soloauftritt mit Klavier, Keyboard und elektronischer Zuspielung, andererseits in Kooperation mit Instrumentalisten der Duisburger Philharmoniker sowie den Club-Musik-Berühmtheiten Carl Craig und Moritz von Oswald.

Tristano solo: „… Towards Meditation“ will er sich begeben, gewissermaßen auf eine Klangstraße Richtung Erleuchtung – mit einer Mixtur aus dröhnendem Bass-Sound, schwebend hohen Keyboard-Klängen (als wär´s ein Stück von Jean Michel Jarre), darin eingeflochten Werke von Bach, Debussy oder John Cage. Der Weg ist das Ziel, und der 30jährige Pianist lässt keinen Zweifel daran, dass er auf dieser Strecke ein Suchender ist. Sonst wäre die teils holprige Bach-Rhetorik ebenso wenig zu erklären wie der bisweilen manieristisch verzärtelte Impressionismus Debussys.

Was schwerer wiegt, ist die Tatsache, dass Tristano nur dann frei aufspielt, ja sich in Trance musiziert, wenn er die Gefilde einer gleichförmigen Rhythmik erreicht hat. Darauf scheint alles hinauszulaufen, auf eine Meditation im Geiste des Maschinellen, letzthin des Stupenden. Wer da über eine Mischung von Hochkultur mit, ja was eigentlich (niedererer Kultur ?) schreibt, formuliert floskelhaft am Problem vorbei.

Das macht das zweite, großbesetzte „Konzert“, wie der Soloauftritt Tristanos erneut in Bochums Jahrhunderthalle erklingend, überaus deutlich. Da ist der teils sphärische Klang und der Beat, da ist zwischendrin ein wenig Klaviermelos, da bettet sich Streicher- oder Bläsersound ins rhythmische Geschehen ein. Die Duisburger Symphoniker, das klassische Orchester also, wird zur Staffage eines Events.

Der Eindruck will sich einstellen, dass hier jemand sehr wohl auf alte Crossover-Zeiten schielt, als Welthits der Rockmusik ein orchestrales Gewand bekamen. Das letztendlich aber alles in die Dominanz des Rhythmus mündet. Die Jahrhunderthalle wird zum Dancefloor. Wer stille sitzen bleibt, entbehrt des ästhetischen Zugewinns. Insofern sind Francesco Tristanos Mixturen nicht mehr als ein Stück Gebrauchsmusik. Wie etwa die seichten Salonstücke des 19. Jahrhunderts. Ist dies die große Versöhnung von „E“- und „U“-Musik?

 




Reges Konzertleben in Bochum: Anton Bruckner als Urvater des Minimalismus

Steven Sloane, GMD der Bochumer Symphoniker

Stets sucht das Team um Bochums Generalmusikdirektor Steven Sloane nach kreativen Ideen, um die Jahreshefte der „BoSys“ auch optisch zu etwas Besonderem zu machen. Auf Überraschungen müssen Musikfreunde dabei immer gefasst sein: Die Programmübersicht kam in vergangenen Jahren schon im Gewand einer Kochrezept-Sammlung daher, in Einzelheften wie die Unterlagen zu einer Fernreise oder auch als Buch mit ehrwürdigem Leineneinband.

Die Nachricht vom Bau des Musikzentrums in der Innenstadt, am 9. März 2011 vom Rat der Stadt Bochum beschlossen, gab jetzt den Anstoß für ein Jahresprogramm in Form einer Zeitung. Zwischen graue Pappdeckel gefasst, informiert die 80-seitige „Bosy Times“ im ersten Teil über die Konzerte der Saison 2011/2012. Der zweite Teil zeichnet in einer „Sonderausgabe“ den langen Weg zum Musikzentrum nach. Was an der Victoriastraße entstehen soll, ist mehr als „nur“ eine längst verdiente Heimat für das renommierte Bochumer Orchester. In der Marienkirche wird ein Multifunktionssaal errichtet, der eine bauliche Einheit mit dem neuen Konzertsaal (mit rund 1000 Plätzen) bilden soll. Die Politik bezeichnet das als „KreativQuartier“, unter dessen Dach die freie Szene ebenso Platz finden soll wie Musikschul-Aktivitäten und musikalische Bildungsangebote für Kinder und Erwachsene.

Viele Musikfreunde, das zeigt diese Sonderausgabe, setzten sich kaum minder unermüdlich ein als Steven Sloane selbst: darunter der Förderkreis der Bochumer Symphoniker, die „Stiftung Bochumer Symphonie“ und namhafte Bürger der Stadt. Handschriftlich bekunden NRW-Kulturministerin Ute Schäfer, Bochums Kulturdezernent Michael Townsend und die Konzerthaus-Intendanten der Nachbarstädte Sympathie und Unterstützung. Im Umkehrschluss zeugt die Zeitung aber auch davon, dass noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist. So ungemein treu das Publikum der „BoSys“ auch zum Orchester steht, so groß scheint die Bevölkerungsgruppe jener, die Kunst und Kultur nicht als Notwendigkeit begreifen, sondern ihr mit dem Verweis auf bröckelnden Straßenbelag und verrottende Schulgebäude die verbale Keule übers Haupt ziehen.

In der „Bosy Times“ aber steht die Kunst an erster Stelle. Die kommende Konzertsaison der Bochumer Symphoniker stellt Anton Bruckner von einer überraschenden Seite vor, nämlich als „Urvater des Minimalismus“. In der Gegenüberstellung von Bruckner-Werken mit Kompositionen typischer Minimalisten wie Steve Reich, Philip Glass und John Tavener wollen Steven Sloane und sein Orchester verwandte Kompositionsschemata aufzeigen. Weil diesen Komponisten zudem ein starkes Interesse an Fragen geistlicher Natur gemein ist, trägt der Themenschwerpunkt der neuen „BoSy“-Saison den Namen „Spiritual Loops“: ein Begriff, der sich in dieser Kürze und Prägnanz nicht ins Deutsche übertragen lässt. Stehen „Loops“ in der Musikwelt doch für kleine, immer wiederkehrende Strukturen, die obsessiv um sich selbst zu kreisen scheinen. Der Sogkraft, die von den Wiederholungen ausgeht, spürt das Orchester unter anderem in nächtlichen Konzerten in einer Synagoge, einer Moschee und einer Kirche nach.

Prominentes Zugpferd für einen weiteren Themenschwerpunkt ist der Schauspieler und Moderator Harald Schmidt, den Steven Sloane für vier verschiedene Projekte gewinnen konnte. So kommt es im November zunächst zu einer „BosySchmidt Show“, in der das Orchester zur Big Band wird und der RuhrCongress zum Studio. Einer szenischen Einrichtung von Mozarts „Le nozze di Figaro“ im AudiMax der Ruhr Universität folgt im März 2012 eine Text-Musik-Collage zum Thema „Faust“. Und in einem Familienkonzert übernimmt Harald Schmidt Moderation und Klavierpart zu Benjamin Brittens berühmtem „Young Person’s Guide to the Orchestra“.

Bekannte Sänger und Solisten verleihen der Saison weiteren Glanz. Der Tenor Christoph Prégardien ist mit Orchesterliedern von Gustav Mahler zu erleben. Die Sopranistin Simone Kermes singt virtuose Arien von Vivaldi bis Bernstein, und in einem Gastspiel in der Philharmonie Essen begleiten die „BoSys“ im Oktober den derzeit stark gefragten Tenor Jonas Kaufmann durch einen Arienabend. Unter den Instrumentalisten ragen zum Beispiel die Pianisten Jonathan Gilad, Nikolai Tokarev und Alexander Lonquich hervor. John Adams’ Konzert „Dharma at Big Sur“ für elektrische Violine und Orchester wird Tracy Silverman interpretieren. Solist im Violinkonzert von Erich Wolfgang Korngold ist der in Moskau und der New Yorker Juilliard School ausgebildete Wahl-Amerikaner Philippe Quint. Kammerkonzerte und die an die Jugend gerichteten Angebote des „Ohrenkneifers“ vervollständigen das Angebot.

Wie sich das Musikzentrum auf die Arbeit der Bochumer Symphoniker und die oft beklagte Verödung der Bochumer Innenstadt auswirkt, wird noch zu beobachten sein. Steven Sloane, der seinen Wohnsitz in Bochum trotz seines Umzugs nach Berlin behalten hat, formuliert selbstbewusst: „Die Musik steht im Zentrum unseres Tuns – und bald auch im Zentrum unserer Stadt.“

(Informationen im Internet: www.bochumer-symphoniker.de, Kartenbestellung: 0234/ 33 33 55 55.)

 




Der Dirigent im kalten Bachwasser

Zum Thema Sergiu Celibidache läuft in der Westfälischen Rundschau derzeit eine interessante Sonderseite „Kultur extra“. Dazu hier eine erweiternde Anekdote:

Sergiu Celibidache

Als nach dem Ende des Krieges 1945 in den Großstädten des Rhein-Ruhrgebietes die Opern und Konzertstätten durch Bomben und Brände zerstört waren, mussten Theaterensemble und Orchester auf umliegende Kleinstädte ausweichen.

So kam es, dass in der Industriegemeinde Milspe (gehört seit 1949 zu Ennepetal) das ehemalige „Gefolgschaftshaus“ der Firma ABC („Spax“-Schrauben) unter dem neuen Namen „Haus der Kunst“ ein vielbesuchter Veranstaltungsort wurde. Mehr als 40 000 Besucher kamen in den ersten beiden Nachkriegsjahren, um Schauspieler aus Wuppertal, Düsseldorf oder Essen zu sehen.

Zu den „Gastspielern“ gehörten mehrfach auch die Berliner Philharmoniker. Ihr Dirigent war Sergiu Celibidache, der vor seinem ersten Auftritt an einem warmen Sommerabend den Wunsch nach einem erfrischenden Bad im Freien äußerte. Man führte ihn zu einem nahen Hammerteich, den auch die Kinder und Jugendlichen des Dorfes zum Schwimmen nutzten. Natürlich war das Bachwasser ziemlich kalt, aber Celibidache war zufrieden und schritt am Abend erfrischt zum Dirigat.




Von Vermittlung und Verblödung

Für sein Buch „Die Leichtigkeitslüge“ hat Holger Noltze, Professor für Musikjournalismus an der TU Dortmund, viel Beifall erhalten – aber auch ein paar Buh-Rufe aus der Branche. In dem Band mit dem Untertitel „Über Musik, Medien und Komplexität“ vertritt er eloquent seine These: Kunst- bzw. Musikgenuss ist nicht so leicht zu haben, wie viele Programme zur Musikvermittlung es behaupten. Wer ästhetische Erfahrungen machen wolle, müsse auch Anstrengung zulassen. Ein Großteil der gut gemeinten Programme laufe nicht nur ins Leere, sondern banalisiere auch noch das Werk, um dessen Vermittlung es eigentlich gehen solle. Ein vermittelndes Gespräch mit dem streitbaren Professor.

Geredet wird zurzeit ja viel davon, aber was ist das eigentlich: Musikvermittlung?

Noltze: Musikvermittlung ist alles, was zwischen einem musikalischen Kunstwerk und uns Hörenden passiert. Das kann Musikunterricht sein, eine klassische Konzerteinführung, eine Konzertbesprechung in der Zeitung, aber wenn ich Ihnen erzähle, was ich gestern Abend gehört habe, ist das auch Musikvermittlung. Auch eine Fernsehsendung, auch ein Youtube-Video sind Musikvermittlung. Musikvermittlung ist vieles, und sie ist sehr wichtig.

Mögen Sie den Begriff? Er ist ja sehr technisch, wo es doch eigentlich darum geht, Faszination für Musik zu wecken …

Ich habe sehr viel darüber nachgedacht … ach, eigentlich habe ich nichts gegen den Begriff. Auch bei Goethe kommt ein Mittler vor, es ist ein ehrwürdiges Wort. Meine Kritik setzte da ein, wo etwas passiert, was ich als Projektion bezeichne: Ich habe hier einen schwierigen Inhalt: Neue Musik, oder den späten Beethoven, oder die Kunst der Fuge. Und dort habe ich das Publikum. Und ich habe ein Problem: Das Publikum wird älter. Es wird weniger. Die Musikvermittler wollen glauben machen, mit ihnen werde alles gut, mit ihnen werde sich der Gegenstand schon erschließen und weiterleben. Dagegen ist erstmal  nichts zu sagen. Musik ist schließlich stark an die Aufführung gebunden. Ich kann sie eben nicht wie eine Werkausgabe ins Regal stellen oder an die Wand hängen, sondern sie ist präsent. An die Aufführung gebundene Musik verlangt danach, dass der Zugang zu mir gelegt wird. Das ist ja auch das, was wir hier lehren und erforschen wollen: Musikjournalismus als logischer zweiter Flügel neben der Musiklehrerausbildung; Kommunikation über Musik, die über Medien geht.

Was ist dann das Problem?

Durch die Einführung des Wortes Musikvermittlung fühlten sich plötzliche viele Leute dafür zuständig. Es macht ja auch Spaß, über Musik zu reden. Jetzt passiert etwas Merkwürdiges: Es gibt zwar ein Problembewusstsein unter den Musikvermittlern, aber auch eine große Bereitschaft, sich toll zu finden und permanent auf die Schulter zu klopfen, denn man macht etwas mit Kindern, Mozart ist eh gut, man hat einen fraglos guten Inhalt … Dabei läuft durchaus nicht alles so toll, wie die Fotos mit den glänzenden Kinderaugen glauben machen. Ich finde, es gibt zu viel Zufriedenheit und zu wenig Selbstkritik. Es bildet sich eine Blase, eine heile Welt der Musikvermittlung, und draußen passiert etwas ganz anderes. Aber das will man nicht sehen, denn das ist unkomfortabel.

Was passiert denn da draußen?

Es gibt zum Beispiel musikalische Programme, die an die Schule angedockt sind. Nur in der Schule kann man alle erreichen – jedenfalls da, wo es Musikunterricht gibt. Aber jenseits der Schule erreichen Sie nur noch spezielle Milieus, die Kinder der Abonnenten. Und die haben die Neigung, sich unter sich wohl zu fühlen und das Draußen auszuklammern.

Sie haben im Schwerpunkt Germanistik und Spanisch studiert. Wer hat denn Ihnen Musik vermittelt?

Es gab Musik in der Familie; mein Opa war Musiker. Aber als ich Klavier lernen wollte, musste ich anklopfen und darum bitten. Mein Vater war Bergmann, ein Klavier im Haus war nicht selbstverständlich. Deshalb habe ich das auch eine Art Geschenk empfunden, ich wollte es gerne. Ich bin nicht belämmert worden. Und irgendwann hatte ich das Gefühl, Musik ist für mein Leben wichtig. Da tut sich ein anderes Feld auf, das mich bereichert, das mich durch Krisen trägt und mir wichtig ist. Mein bester Freund Christoph war Fußballfan. Er hat mir von Westfalia Herne erzählt und ich habe ihm das Meistersinger-Vorspiel vordirigiert. Das war ein selbstverständlicher Austausch, und so geerdet gefällt mir das gut.

Wenn Sie sagen, Sie seien nie mit Musik „belämmert worden“, meinen Sie damit Ihre Eltern. Gab es damals Musikvermittlungsprogramme, etwa in Schulen?

Meinen Musikunterricht würde man heute wohl als abschreckend empfinden. Der Inhalt wurde einem hingestellt: friss oder stirb. Wenn ich sehe, was heute im Musikunterricht bei meinem Sohn passiert, dann läuft das oft anders herum: Macht doch mal ein Referat über eure Lieblingsband. Das ist ja auch in Ordnung. Aber wenn Sie den Kindern dann mit Mozart kommen, klappen die Ohren wieder um. Die Kolleginnen und Kollegen, die hier in Dortmund schon seit Jahren Musiklehrerausbildung machen, sind ausgesprochen findig darin, wie man neben der Freude am Wiederfinden des Bekannten auch eine Freude am Entdecken von etwas Neuem entwickeln kann. Zusammen mit dem neuen Studiengang Musikjournalismus ist das ein riesiges, sehr praxisorientiertes Labor für Vermittlungsfragen.

Was sollten Musiklehrer denn Ihrer Meinung nach tun?

Ich versuche die angehenden Musiklehrer, die in meinen Seminaren sitzen, zu ermutigen, mit erhobenem Haupt in die Schule zu gehen. Nicht zu denken, Mathematik sei das Wichtige und Musik nur die Zugabe. Nein! Ihr seid wichtig. Musik ist kein Orchideenfach. Die Leute, die wir hier ausbilden, sollen das, was sie tun, mit Passion tun. Und diese Leidenschaft, das Entzündlich sein für eine Sache, kann auch andere anstecken. Was wir nicht mehr machen können: Beethoven als Bildungsinhalt ausweisen, den man verinnerlichen muss, weil das eben so ist. Das wird nicht funktionieren, da man heute traurigerweise sehr gut durch diese Welt kommt, ohne etwas von klassischer Musik gehört zu haben.

Musikunterricht ist ja nichts Neues – woher kommt die beschriebene Blase, der Boom an Musikvermittlung?

Im Jahr 2002 kam der Dokumentarfilm „Rhythm is it“ heraus: Die Berliner Philharmoniker und der Choreograf Royston Maldoom machten mit Berliner Brennpunkt-Kindern ein Tanzprojekt zu Strawinskys „Le Sacre du Printemps“. Diesen Film haben unglaublich viele Menschen gesehen, es war der erfolgreichste Dokumentarfilm in diesem Jahr. Viele haben geweint – ich auch, denn es war rührend zu sehen, wie sich Fenster auftun bei denen, die Strawinsky eigentlich so fern sind, wie man sich das nur vorstellen kann. Es war der Beweis: Musikvermittlung kann gelingen, wenn man nur entschieden genug ist. Wenn man auch klar macht: Es ist eine ernste Sache. Es ist nicht nur Spaß. Da gibt es diese Szene, wo das Projekt fast kippt, weil es nicht voran geht. Es gibt eine Grundsatzdiskussion, eine Gruppe Mädchen giggelt, und da sagt der Choreograf: Was lacht ihr denn da so? Die Mädchen antworten: „Wie, det soll doch Spaß machen hier. Lachen is jesund, wa?“ Und dann sagt Maldoom: „Das könnt ihr so sehen. Aber für mich ist es ernst.“ Und er erklärte ihnen, warum das Tanzen für ihn so eine Lebenswichtigkeit hat. Das Projekt ging dann weiter.

Eine wunderschöne Erfolgsgeschichte…

Ja, aber daraufhin haben viele, die eben nicht die Berliner Philharmoniker sind, gedacht, wir müssen auch so etwas machen. Und wo ein Bedarf ist, sind sofort auch Leute, die ihn füllen. Jeder Boom schwemmt auch Mittelmaß nach oben, und die Gefahr ist, dass man darüber den Maßstab verliert und sich nicht mehr traut, weiterzugehen. Was ist kritisiere, ist, wenn Vermittlung bloß noch über Vereinfachung läuft. Dass sie den Gegenstand so sehr verkleinert, bis er eine Pille ist, die man noch reinkriegt. Ich kann aber nicht den Wert von Bach oder Mozart ständig behaupten und dann die Sache selber so abschaben, bis gar nichts mehr übrig bleibt.

Ein Beispiel?

2006 war Mozart-Jahr, und die Medien waren voll von ihm. Was aber da von Mozart übrig geblieben ist, ist schon sehr traurig. Mit Musik hatte das gar nichts mehr zu tun, gar nichts. Aber ich glaube schon, dass es eine Chance gegeben hätte! Man darf nur nicht so mutlos sein, man muss eine Faszination wecken auch für das, was nicht so einfach ist. Jeder Mensch hat Bedürfnisse, und ich behaupte, es gibt noch das Bedürfnis nach Musik, es gibt auf jeden Fall das Bedürfnis nach anderen Erfahrungen. Und die mache ich, wenn ich meine Alltagswahrnehmung hinter mir lasse. Das kann ich aber nicht, wenn alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht wird. Der ist uninteressant. Damit speist man das Publikum ab, nimmt es nicht ernst.

Aber ist es nicht erst einmal gut, die Leute über die Schwelle zum Beispiel eines Konzerthauses zu führen? Man kann sie dort dann ja ruhig stehen lassen – und hoffen, dass sie nun Eigenmotivation entwickeln, denn ohne die geht es eh nicht weiter.

Ja, aber was meiner Meinung nach nicht geht, sind Vermittlungsmodelle à la Elke Heidenreich, über die ich in meinem Buch ein großes, bisschen böses Kapitel geschrieben habe. Sie hat die Oper entdeckt. Und dass sie in jeder Oper weinen kann. Sie vermittelt: Wenn du auch weinen willst, dann geh mir nach. Es gibt Leute, die ihr glauben und die ihr nachgehen. Sie macht das ja auch eloquent und immer beglaubigt durch ihre eigene Rührung. Ich behaupte aber und kann das auch belegen: Sie bringt die Leute bis an das Portal, an dessen Ecke sie steht und redet und weint, und die Leute gehen durch, und dann sind sie tatsächlich allein. Sie merken, sie müssen gar nicht weinen. Stimmt irgend etwas nicht mit ihnen? Das ist dann ein fauler Zauber, ein falsches Versprechen, das gemacht wird.

Aber sie waren da in der Oper, und es hätte passieren können. Immerhin waren sie da!

Es hätte passieren können, aber wenn, dann nicht wegen Elke Heidenreich. Ich glaube, dass die Enttäuschung: hat nicht geklappt mit dem Weinen,  bei den Menschen letztlich dazu führt, dass sie nicht mehr wiederkommen werden. Und über Inhalte zu reden, vermeidet Elke Heidenreich konsequent. Sie redet nur über Emotionen.

Ein Kollege von Ihnen hat in der Neuen Musikzeitung (nmz) ebenfalls den „Vermittler-Hokuspokus“ kritisiert und behauptet, klassische Musik könne man erst mit reifen Ohren ernsthaft hören. Stimmen Sie zu?

Ich glaube, das hat er jedenfalls nicht exkludierend gemeint. Mein Kollege Hans Christian Schmidt-Banse, der das geschrieben hat, hat natürliche Jahrzehnte von Erfahrung und misstraut der schönen neuen Vermittlungswelt… Immerhin sind wir ja schon etwas schlauer. Ein Kollege in Paderborn hat festgestellt: Es gibt eine Phase der Offenohrigkeit für alle Arten von Musik, und die geht, raten Sie mal: Von null Jahren …

… bis 13 Jahren?

Genau. Wenn die Pubertät ihr grässliches Haupt erhebt, ist es erstmal vorbei. Mein Sohn war ein großer Fan von Strawinsky, und zwar, weil er den Disney-Film „Phantasia“ gesehen hatte, in dem „Le Sacre du Printemps“ vorkommt. Und wenn ich ihm, dem damals Fünfjährigen, einen anderen Strawinsky aus der gleichen Phase vorgespielt habe, dann sagte er: Das ist die Dino-Musik. Er fand es toll. Diese Phase ist nun vorbei, jetzt gibt es nur noch Hard-Rock, in Abgrenzung zu Papa. Faszinierend ist jedenfalls, dass in dieser Phase Musik existenziell wichtig wird. Auf einmal definiert man sich über Musik. Die Frage ist nur, was nach der Pubertät passiert. Und ob man vorher auch mal eine positive Erfahrung mit anderer Musik gemacht hat.

Wie könnte Musikvermittlung das erreichen?

Ich habe auch keine Patentrezepte, aber man sollte erst einmal gewisse Fehler vermeiden. Zum Beispiel den, Musik als Zwangs-Bildungsinhalt zu behandeln. Es kann eine so tolle Erfahrung sein, schöne Klänge zu hören. Vermittlung sollte sich verstehen als Zugangserforschung an musikalischen Kunstwerken. Dabei müssen sich die Zugänge an der Kreativität der Kunstwerke messen und nicht an dem, was im Konzertführer steht. Natürlich geht das nicht ohne Anstrengung; wir müssen uns ein bisschen reinhängen, wenn wir etwas von der Sache haben wollen. Es wird aber gern vorgegaukelt, das sei nicht so, denn alle wollen ihre Projekte verkaufen.

Was würde wohl Beethoven über die heutigen Formen der Musikvermittlung denken?

Beethoven ist vielleicht nicht das typische Beispiel, der wollte ja die Menschheit erreichen, aber Künstlern ist meist relativ egal, was um sie herum passiert. Das kann ich auch verstehen. Wer sich auf seine Kunst konzentrieren will, der muss nicht dauernd als Postbote seiner Botschaft unterwegs sein. Genau dafür wollen wir unsere Studenten hier ja auch ausbilden. Wir wollen Leute, und das ist unser Alleinstellungsmerkmal, die sich am Ende formal, technisch, handwerklich in Musik auskennen und die auch das Mediengeschäft kennen. Musikjournalismus war bisher kein Lehrberuf, sondern immer eine Art biografischer Unfall. Und ich bin sicher, dass für Kommunikatoren über Musik ein Bedarf da ist, der sogar noch steigen wird. Aber es geht auch ein bisschen darum, die Welt zu retten.

„Der Musikjournalist nach Dortmunder Art ist auch Therapeut, Dolmetscher und Muntermacher. Er glaubt an die Genesung der Klassik“, schreibt die ZEIT. Stimmen Sie der Charakterisierung zu?

Ja. Ich will Motivation generieren. Und ich bin grundsätzlich optimistisch, allerdings kritisch mit dem Zustand des Betriebs. Kürzlich gab es ein Streitgespräch für die Zeitschrift „Das Orchester“, und da fragte mich mein Gegenüber, warum immer meckere. Ich antwortete, dass sich bei einem Arztbesuch doch auch nicht erzähle, was alles nicht weh tut. Da sagte er: Aber der Patient ist grundsätzlich doch gesund! Genau das glaube ich eben nicht. Der Patient kränkelt stark, der Umgang der Gesellschaft mit dem Gegenstand Musik ist nicht so, wie es sein könnte. Aber ich bin Optimist, denn wir haben ein großes Kapital. In jeder mittleren Stadt gibt es ein Orchester. Das ist ein unglaublicher Reichtum, der uns vergleichsweise gar nicht viel kostet, aber man muss diesen Schatz heben. Das macht mich kribbelig. Ich habe das Gefühl, da kann man mehr machen.

Zur Person

Dr. Holger Noltze hat als Professor für Musikjournalismus seit 2005 den Studiengang „Musik und Medien / Musikjournalismus“ am Institut für Musik und Musikwissenschaft aufgebaut. Die ersten zehn Studierenden des Fachmaster-Studiengangs sind derzeit im zweiten Semester. Noltze studierte Germanistik und Hispanistik in Bochum und Madrid. Er promovierte über den „Parzival“-Roman Wolframs von Eschenbach. Nach einem Volontariat beim WDR wurde er Redakteur und Moderator verschiedener Kulturmagazine im WDR-Radio und –Fernsehen und arbeitete als Ressortleiter Aktuelle Kultur beim Deutschlandfunk. Am Dortmunder Konzerthaus gründete er die Vortragsreihe „Dortmunder Lektionen zur Musikvermittlung“..

Das Interview erschien zuerst in „mundo – Das Magazin der TU Dortmund“, Ausgabe 14/11

 




Ein Blick in den Bochumer Herbst

Im Schauspielhaus Bochum herrscht jetzt Ruhe, doch man kann schon eine Vorschau auf den Herbst bekommen.

Deshalb hier eine ganz sachliche und nicht vollständige Aufstellung dessen, was auf uns zukommt:

Ab 8. September Vorverkauf für Oktober
16. September Nachtflohmarkt
24. September Spielzeit-Eröffnungsfest
6. Oktober Premiere „Drei Schwestern“ (Tschechov), auch am 12., 20. und 29. Oktober
8. Oktober „Die Dreigroschenoper“ (Brecht/Weill), auch am 16. und 22. Oktober
9. Oktober „A Tribute to Johnny Cash“
13. und 14. Oktober Bochumer Symphoniker
15. Oktober Premiere Tanztheater „Der verlorene Drache“ (Airaudo), auch am 20. und 30. Oktober
15. Oktober „Amerika“ (Kafka)
16. Oktober „Die Jungfrau von Orleans“ (Schiller)
21. Oktober „Haus am See“ (Finger)
23. Oktober „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (Brecht)
28. Oktober „Woyzeck“ (Büchner) und Leseabend Tschechov mit Rolf Boysen
30. Oktober „Faust“ (Goethe)
1. November „Die Ratten“ Hauptmann.

Ich hoffe, dass ich einige Mitmenschen neugierig machen konnte.




Bochum total voll

Nach dem gelungenen Auftakt am Donnerstag feierten Zigtausende gestern TGiF* im Bermuda-Dreieck. Die Schulferien hatten begonnen, der Regen vorerst beendet, bekannte Acts warfen ihre Schatten voraus – nie in den vergangenen 25 Jahren war Bochums Innenstadt so voll.

Die Enge besonders an den Zu- und Abgängen war zeitweise grenzwertig. Genauso hatte ich es mir bei Bochum Total vorgestellt. Der Freitag hatte einen Headliner, den die Veranstalter als solchen lange nicht erkannt haben. Der Bielefelder Rapper Benjamin Griffey aka Casper.

Casper, EIns-Live Bühne, 22.07.2011

Sein Anfang Juli veröffentlichtes Album XoXo schaffte es schnell an die Spitze der Charts, plötzlich kennt ihn jeder, namhafte Feuilletons interpretieren seine Stücke und erfinden ver-casper-te Wortspiele. Alle reden über den „Überraschungserfolg“, auch der Veranstalter. Man hätte sich vielleicht vorher mal informieren sollen – in der Altersgruppe der 14-20jährigen. Dort ist Casper schon länger ein Star, das Album wurde ungeduldigst erwartet, die Zahl der Vorbestellungen bei Amazon sprach für sich. Sein früheres Album „hin zur Sonne“, längst vergriffen, erzielte Mondpreise bei Ebay, eine Karte für den geplanten Auftritt in Dortmund im Herbst zu bekommen, glich einer Zitterpartie.

Dass Massen strömen würden am Bo-To Freitag, vor allem Massen von konzertunerfahrenen Besuchern, war zu erwarten. Natürlich dachte so mancher an die Worte der Bochumer Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz, die bei der Absage der Loveparade in Bochum damals erklärte, dass Bochum Total das Äußerste sei, was ihre Stadt stemmen könne. Und auch den Massenandrang am Freitag haben sie gut gemeistert. Es war zwar streckenweise kein Vor-und Zurückkommen mehr, Teenies mussten aus der Masse herausgezogen werden, das Handynetz brach zusammen. Aber Polizei und Ordner waren gut präsent, ordneten und beruhigten besonnen, die Security vor der Bühne reichte Wasser durch und hatte kein Nachsehen mit jugendlichen Stage-Divern, die sich auf Händen nach vorne durchreichen liessen. Die Ansagen von der Eins-live Bühne taten ein Übriges, dass alles gut ging.

Die von uns gehörten Konzerte im einzelnen. Auf der Pottmob-Bühne:
Pottmob-Bühne, 22.07.2011

Benzin: Klarer, gradliniger deutscher Punkrock „fürs Volk“. Die sympathischen Jungs begeisterten nicht nur ihre noch recht überschaubare Fangemeinde, sondern auch den neugierigen Konzertbesucher. ( Neugierig bin ich im übrigen auch, was den „Gießkannentanz“ angeht. Wäre reizend, wenn mir das jemand erklären könnte…. )

 

 

Pottmob-Bühne, 22.07.2011

Kellermensch: In ihrer Heimat Dänemark auf dem Weg zum ganz großen Erfolg,in Deutschland noch eher als Geheimtipp gehandelt. Einer ihrer ersten Live-Auftritte in Deutschland nun bei Bochum Total, zeitgleich mit Casper. Ihr Publikum hatten sie aber schnell gefunden und begeistert. Einem Genre kann man die Combo nicht zuordnen, der Stilmix ist eigenwillig und läßt Genre-Grenzen ineinander fliessen.

 

 

Auf der Eins-live Bühne:

Casper: Begann sinnigerweise mit „der Druck steigt“ und war schnell eins mit seinem begeisterten Publikum. Fast schien es, als könne er selbst noch nicht fassen, welche Massen ihm da zujubeln. Sie singen jedes Wort mit und sind mehr als gerne bereit, mit ihm zusammen dem Bassisten einen „400-Euro-Job“ zum Geburtstag zu schenken. Die Frage, ob Casper wirklich den deutschen HipHop neu zu erfinden in der Lage ist, vermag ich nicht zu beantworten. Ich frage mich allerdings, ob er  das überhaupt will. Mein Eindruck ist, dass er in diesem Genre neue, eigene unverwechselbare Akzente setzt und sich auch über seine sorgfältigen Texte definiert. Vor allem aber ist er ein Star, der die klassische Ochsentour gegangen ist und von seinem Publikum und nicht von einer Casting-Show entdeckt wurde. Von daher gönnen wir ihm und seinen jungen Fans, dass ihr Star weiter so „unzerbrechlich“ seinen Weg „hin zur Sonne“ findet.

Jupiter Jones: Gerne hätten wir mehr mitbekommen vom angekündigten Headliner. Jedoch – der beschriebenen Enge geschuldet – verfolgten wir das Konzert eher aus weiter Ferne. Den Vieren, die sich nach einer Figur aus die drei ??? benannt haben, fiel die für eine Punk-Rock-Band ungewöhnliche Aufgabe zu, die Massen in ruhigere Bahnen zu lenken. So spielten sie zunächst ruhigere, gradlinigere Stücke und gaben direkt zu Beginn die Parole aus: Passt aufeinander auf, kein Pogo, kein Klettern und entließen das Bochumer Publikum nach dem friedlich gefeierten Konzert schliesslich mit „Wenn alle die Augen aufhalten und aufeinander Acht geben, ist die Welt schon ein wenig besser. Das ist mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt“ in die Off-Stage Partys.

Glückliche Fans nach den Konzerten

 

Das Bochum Total Festival dauert noch bis Sonntag Abend. Auf das Publikum warten u.a. the Frits, Thomas Godoj, Frida Gold, M. Walking on the Water und Kettcar.  EInzelheiten unter  bochum.total.de

Fotos B. Langhoff,  vom Casper Konzert mit Dank ©CarenSpleiter

* Thank God, it’s Friday




Als Heinrich Heine von den Franziskanern lernte

Mitten im Trubel der Düsseldorfer Altstadt gibt es seit etwa fünf Jahren einen sehr ungewöhnlichen Ort der Ruhe – das „Max-Haus“.

Es ist katholisches Stadthaus, Veranstaltungszentrum, Kunstgalerie, Gebetsstätte, Cafe und Konzerthaus in einem. Ungewöhnlich wirkt es nicht nur durch die Ausstrahlung, sondern vor allem durch seine preiswürdige Architektur, seine Offenheit für jedermann und seine Geschichte.

In der Nähe des früheren Hafens hatten Franziskaner auf den Resten der alten Citadelle 1661 ein Kloster errichtet, eine Kirche gebaut und ab 1695 eine Lateinschule eingerichtet, die Vorläuferin der heute noch bestehenden Max-Schule. Die Kirche war ursprünglich dem heiligen Antonius von Padua gewidmet. Als jedoch 1803 durch den Beschluss zur Säkularisation auch Kirche und Kloster abgerissen werden sollten, benannten die Mönche ihren Komplex schnell um nach dem heiligen Maximilian – dem Namenspatron des Kurfürsten. Durch diesen schmeichlerischen Trick (man ist eben in Düsseldorf) konnten die Gebäude erhalten werden, die Franziskaner gingen als Pfarrer in die Gemeinden und die Schule wurde im Sinne der französischen Besatzung als „Lyceum“ weiter betrieben.

Diese Schule nun bekam durch den späteren Dichter Heinrich Heine ein literarisches Denkmal. Der jüdische Junge hieß zu der Zeit noch Harry und besuchte die katholische Einrichtung von 1807 bis 1814. Er erinnert sich an mehreren Stellen seines Werkes, zum Beispiel in den „Reisebildern“, an diese für ihn meist angenehme Zeit, er führt einzelne Lehrer an und klagt über die Schwierigkeiten des Sprachenlernens. Im „Buch Le Grand“ schreibt er unter anderem über seine Probleme mit dem Lateinischen: „In den dumpfen Bogengängen des Franziskanerklosters, unfern der Schulstube, hing damals ein großer, gekreuzigter Christus von grauem Holze, ein wüstes Bild, das noch jetzt zuweilen durch meine Träume schreitet und mich traurig ansieht mit starren blutigen Augen – und vor diesem Bilde stand ich oft und betete: O du armer, ebenfalls gequälter Gott, wenn es dir nur irgend möglich ist, so sieh doch zu, dass ich die verba irregularia im Kopfe behalte.“ Dieses Kreuz hängt übrigens immer noch im Kreuzgang des ehemaligen Klosters.

Nachdem die Franziskaner vor drei Jahrzehnten das Kloster aufgegeben hatten, drohte es zu verfallen oder kommerziell genutzt zu werden. Weil die Düsseldorfer Katholiken und das Erzbistum Köln jedoch auf der Suche nach einem geeigneten Zentrum waren, wurde der Komplex nach einem Architektenwettbewerb renoviert und modernisiert. Der ehemalige Kreuzgang blieb erhalten, und durch ein großes quadratisches Glasdach entstand im Innenhof ein wetterfester, lichtdurchfluteter Veranstaltungsraum, der unter anderem für die „Mittwochsgespräche“, aber auch für Konzertreihen wie „Bach beflügelt“ genutzt wird. Besucher können das Haus jederzeit betreten, lesen, Kaffee trinken oder in einem „Raum der Stille“ meditieren oder beten. Außerdem gibt es im ehemaligen Kreuzgang ständig Ausstellungen verschiedener Künstler. Zur Zeit läuft noch bis zum 20. August 2011 eine Gemeinschaftsausstellung von fünf Künstlern unter dem Titel „Graffiti im Kreuzgang“. Kurator für diesen Teil des Zentrums ist der Düsseldorfer Künstler Christoph Pöggeler, dem man im Stadtbild überall begegnet: Er schuf die lebensgroßen und lebensechten Figuren, die man in der Düsseldorfer Innenstadt an vielen Stellen auf Litfasssäulen stehen sieht.

Zur Straße hin wurde die Fassade des ehemaligen Klosters unverändert gelassen. Auch das bronzene Erinnerungsschild an den berühmten Schüler Heinrich Heine hat man gelassen. Nebenbei: Weil der Umbau des Klosters zum „Katholischen Stadthaus“ so gelungen sei, hat der Düsseldorfer Architekten- und Ingenieursverein 2010 dem Max-Haus die jährliche Auszeichnung „Bauwerk des Jahres“ verliehen.

Ein Besuch in diesem Ensemble lohnt sich also, auch wenn man als Atheist oder Protestant oder sonst etwas keinen Bezug zum Katholizismus hat.




200 Jahre Franz Liszt: Biografie über einen Visionär

Franz Liszt gehörte nie ganz zu den von mir besonders hoch geschätzten oder gar geliebten Komponisten. Für mich war seine Klaviermusik, wenn ich sie gelegentlich hörte, immer wieder etwas zu sehr und leider oft genug nahezu ausschließlich mit reiner Virtuosenmusik verwechselbar.

Ziemlich früh allerdings, schon in meiner Kindheit, muss ich zumindest seinen Namen mit Hochachtung in meiner Salzburger Umgebung gehört haben. Vor allem mit den „Ungarischen Rhapsodien“, die mir in der Orchesterfassung sofort gefielen (und unter dem Dirigat Hermann Scherchens immer noch), den beiden Klavierkonzerten und dem (von heute aus gesehen) so leicht verkitschbar spielbaren „Liebestraum“ wurde ich schon früh im direkten Verbund mit Liszts Namen per Radiowunschkonzert vertraut. Dennoch: Schubert, Schumann, Brahms und auch Chopin, um von Beethoven, Mozart, Haydn und Bach, später auch von Ravel, Debussy, Szymanowski, Janáček und Bartók einmal ganz zu schweigen, bedeuteten mir von je her deutlich mehr. Und eigentlich ist das bis heute so geblieben.

Immerhin: Ich bekam mit, dass von mir sehr bewunderte Pianisten, wie z. B. Claudio Arrau und Alfred Brendel und sogar manchmal auch Wilhelm Kempff, sich immer wieder stark bis sehr stark für die Musik Franz Liszts eingesetzt haben. Und so war und bin ich bis heute dafür offen, mich eines Besseren belehren zu lassen. Ich sage mir, vielleicht tue ich der Musik Liszts ja auch Unrecht und ich habe meinen entscheidenden Zugang zu ihr nur noch nicht gefunden.

Und so kommt mir die lesenswerte Liszt-Biografie des Pianisten Jan Jiracek von Arnim gerade recht. An ihr vermochte sich nämlich zu erweisen, dass eine stärkere Annäherung nicht nur an den Menschen Franz Liszt, sondern vor allem auch an dessen eigene Kompositionen auf dem Umweg über seine Biographie auch für mich durchaus noch möglich ist. Nach der Lektüre dieses Buches werde ich mich mit weit größerem Interesse als zuvor auf die Musik Franz Liszts einlassen und habe schon gezielter damit begonnen.

Diese Liszt-Biografie ist gut proportioniert: Vier etwa gleich große, ihrerseits jeweils dreiteilige Abschnitte betreffen – zwar so nicht genannt, aber der Sache nach – die Abfolge der vier Lebensabschnitte, also von Kindheit, Jugend, Mannesjahren und beginnendem Greisenalter. Geschickt setzt das Buch, ehe es zu den Wunderkindjahren des Anfangs – vor der vielleicht alles entscheidenden Krise (S.55ff) – kommt, in einem Prolog mit den letzten Tagen Liszts bei seiner in später Versöhnung wiedergewonnenen Tochter Cosima in Bayreuth ein. Insofern geschickt, weil hier gleich zu Anfang spannend erzählt werden kann. Außerdem: Wir werden darauf eingestimmt, ein Leben, das so endet, genauer kennenlernen zu wollen.

Vom klugen Umfang des Buches her – nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig! – ahnen wir schon, dass auch dem bloßen Anschein nach nicht eine ganz umfassende und tiftelig differenzierte Biografie gegeben werden soll, sondern schlaglichtartig entfaltetete, exemplarisch thematische, lebensabschnittsbezogene bewegte Lebensbilder. In einem mit „Nachklang“ überschriebenen, das Ganze symmetrisch abrundenden, angemessen kurzen Epilog wird etwas von der vielfältigen Wirkung und Einschätzung Liszts in Zeitgenossenschaft und Nachwelt vermittelt, ehe wir uns dem aufschlussreichen, abschließenden Teil (Anmerkungen, Literaturangaben, Zeittafel, Danksagung und Bildnachweise) gegenübergestellt sehen. Auf neun umsichtig ausgewählte Bilder beschränkt sich diese Biografie, während die insgesamt zwölf Teile der vier Hauptabschnitte jeweils mit einem durchdacht ausgewählten und anregend sprechenden Zitat als Motto eröffnet werden.

Da diese Biografie erst fast am Ende der ersten Hälfte des laufenden Liszt-Jahres erschienen ist, konnte sie aus diesem Umstand eine Tugend machen: Auch im Jahr 2011 bereits erschienene Liszt-Biografien wie z. B. die von Oliver Hirmes konnten noch einbezogen werden und sei’s auch nur in Form von einigen wenigen, passenden Zitaten. So entsteht der Eindruck einer Biografie auf dem aktuellsten Stand.

Der Untertitel „Visionär und Virtuose“ macht vor allem darauf neugierig, was unter dem „Visionären“ bei Liszt wohl genau zu verstehen ist. Bei der Bezeichnung „Virtuose“ glaubt man zunächst schon relativ genau zu wissen, was das sei, und sieht sich doch alsbald mit einem kontrastierenden Vergleich Liszts mit Paganini konfrontiert, aus dem man sehr klar auch grundlegende Unterschiede zu entnehmen vermag. Der Biograf lässt dabei in einem sich über fünf Seiten erstreckenden Nekrologszitat Liszt selber zu Worte kommen, wodurch man aus erster Hand erfährt, wie sich Liszt – in diesem seinen Nachruf auf Paganini – selbst als Virtuose von dem um eine Generation älteren und dennoch ihm lange Zeit gleichzeitigen Geigenvirtuosen in Form einer Vision „von einer besseren Kunst“ abgegrenzt hat (S.83).

Mir war der Text neu; ob er schon in anderen Biografien vollständig zitiert worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Auch andere bei Jan Jiracek von Arnim ausführlicher zitierte Stellen von Liszt selber und auch anderer Gewährsleute sind mir durchgängig unbekannt gewesen, so dass ich nicht darüber böse sein kann, dass auch sie ausführlich zitiert worden sind. Hieraus folgt, dass als Einstieg in die Lebensgeschichte und in den Umkreis der Künstlereigentümlichkeiten und -fähigkeiten von Franz Liszt diese sehr gute und ansprechende Biografie bestens geeignet ist. Sie versammelt leicht überschaubar die vielfältigsten Informationen, bietet eine vorzügliche Kenntnis- und Verstehensgrundlage und ist geeignet, den Weg zu Spezialuntersuchungen und Binnendifferenzierungen nicht etwa zu verbauen, sondern umgekehrt ein Interesse daran anzuregen und wachzuhalten. So wird zwar Liszts reiches Liedschaffen (anders als so viele andere Teile des Gesamtwerkes, etwa seine geistliche Musik) nicht einmal erwähnt, die eigene mögliche Beschäftigung damit aber geradezu freigehalten. Unerlässliches kommt unabdingbar vor; dennoch a t m e t von Arnims Biografie erkennbar, sie bleibt für Ergänzungen beständig offen.

Von den V i s i o n e n Franz Liszts ist im Verlauf der Biografie mehrfach und vielfältig die Rede, so dass der Titel-Ausdruck „Visionär“ auch im Buch selbst wegen seiner gezielten Vieldeutigkeit nicht ganz ohne Geheimnis bleibt. Um eine nicht bloß virtuose Kunst à la Paganini ist es Liszt in seiner Vision von 1840 zu tun gewesen, so oft er auch zumindest von Zeitgenossen als ein „Paganini des Klaviers“ aprostrophiert worden sein mag. Als er 1848 nach Weimar ging, um die Stelle als Hofkapellmeister zu übernehmen, träumte er gelegentlich (S. 167) von einem 2. Weimar der Musik, das auf das 1. Weimar der sozusagen „Johann Wolfgang Goetheschen Kunst-Periode“ (Heine) folgen sollte: „Weimar schien wie eine weiße Leinwand zu sein, auf die Liszt nun seine Visionen zeichnen konnte.“ (a.a.O., S.152) Mehr und mehr scheitert er damit. (S.164) Auch in einer späteren Lebensphase in den 60er-Jahren in Rom scheitert er mit einer anderen Vision: „In Rom wurden Franz Liszts geistliche Werke kaum aufgeführt. Seine Vision, mit neuer religiöser Musik Kirche und Gesellschaft zusammenzuführen, war gescheitert.“ (S.186)

Liszts Leben ist geprägt vom Gelingen, vom oft triumphalen Gelingen, aber auch das Gefühl, das Bewusstsein, gescheitert zu sein, ist ihm durchaus vertraut. Über seiner Biografie könnte stehen, was Hans Mayer einmal als Untertitel über ein Goethe-Buch gesetzt hat: „Versuch über den Erfolg“.

Ungeschaute, nicht projektierbare Visionen Franz Liszts hingegen werden später gelingen. So schreibt Jan Jiracek von Arnim im Anschluss an seine Charakterisierung des Lisztschen Klavierstücks „N u a g e s g r i s von 1881“: „Hier wird bereits der Weg Richtung Schönberg und Webern gewiesen.“ (S.194).

Orte wie Raiding, Wien, Paris, London, Pest, Gut Woronińce, Weimar und Rom, aber schließlich auch Bayreuth werden biografisch ins Licht gerückt, ebenfalls die (von der Mutter mal abgesehen) drei entscheidenden Frauen seines Lebens, die vielen fruchtbaren, auch kontrastbildenden Begegnungen mit Zeitgenossen verschiedener Länder Europas. Wie viele waren doch darunter, die ich aus anderen Zusammenhängen (literarischen, philosophischen, generell künstlerischen) bereits ein wenig kannte und nun mit anderen Facetten durch diese Biografie neu kennenlernen durfte!

Ich nenne zwei entlegenere Beispiele: Unter der Abbildung „Liszt im zwanzigsten Jahr“ auf S.54 stehen Verse von Moritz Gottlieb Saphir, der seinerzeit sehr bekannt war, dessen Namen im Personenregister aber nicht auftaucht. Dieser Zusammenhang spornt mich geradezu zu weiteren Erkundungen an. Zweitens: die Tochter Marie, die die Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein aus der Ukraine nach Weimar mitgebracht hatte, ist alsbald verheiratete Prinzessin von Sayn-Wittgenstein-Hohenlohe. Bei diesem Namen wurde ich gleich hellhörig. In der Tat, sie ist dieselbe, die später im Briefwechsel mit dem Schriftsteller Ferdinand von Saar stand.

Bewundernswert, wie der Biograf seine eigenen (beachtlichen!) pianistischen Fähigkeiten nicht in die Waagschale wirft. Nur einmal im „Nachklang“ des „Epilogs“ erwähnt er wie nebenbei, dass auch er praktisch-konkrete Erfahrungen mit Werken von Franz Liszt hat, dass er nämlich „ein Werk wie Vallée d’Obermann aus seinen Wanderjahren spiele“ (S.199). Ebenso fällt auf, dass er auch keine anderen zeitgenössischen Interpreten, die heutzutage besonders mit ihrem Liszt-Spiel hervortreten oder bereits hervorgetreten sind, anführt, geschweige denn namentlich erwähnt. (Auch nicht in einer als denkbare Ergänzung zum Hauptteil eben nicht vorhandenen Referenzliste von Liszt-Einspielungen.)

Er lässt uns im Anschluss an seine Biografie entschieden unseren je eigenen Weg zur Musik Franz Liszts suchen. Er scheint sich zwischen den Zeilen ziemlich sicher zu sein, dass sich seine Leser… spätestens jetzt auf diesen Weg machen werden. In meinem Falle hat er sich dabei nicht getäuscht. Als erstes werde ich mich jetzt den Liedern (und Melodramen) Franz Liszts zuwenden, um nach und nach, deutlich gestärkt durch diese mich erfreulich anregende Biografie, meinen eigenen Weg zu Liszt zu finden.

Jan Jiracek von Arnim: Franz Liszt. Visionär und Virtuose. Eine Biografie. Residenz Verlag, St. Pölten – Salzburg 2011. 232 Seiten, 21,90 Euro.




Stil und Geigenspiel – Ritual mit Robe

Stil und Musik - die Geigerin Anne-Sophie Mutter. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Wenn Anne-Sophie Mutter die Bühne betritt, weht stets ein leises Raunen durchs Publikum. Die hochgewachsene, schlanke Geigerin mit dem aristokratischen Habitus ist eben nicht nur exzellente Musikerin, sondern auch Stilikone. Spätestens seit Beginn der 90er Jahre hat sie hehre Kunst und edle Mode nebeneinander gestellt. Die Robe wurde Bestandteil eines Rituals, das sich Konzert nennt.

Ihr jüngster Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr macht da keine Ausnahme. Gleichwohl behält der Satz „Hier gilt´s der Kunst“ seine Gültigkeit. Es gehört eben alles zusammen: die luxuriös anmutende Erscheinung und die Ernsthaftigkeit des Spiels, das kühl erstrahlende Lächeln und die bisweilen klanglich fahlen Interpretationen.

Das Wunderkind Anne-Sophie Mutter begann einst mit Mozart, als sie 1976 von Karajan entdeckt und gefördert wurde. Das junge Mädchen und der weltberühmte Dirigent – es klingt ein wenig nach Märchen, doch die rasche, unaufhaltsame Karriere der Geigerin spricht eine sehr reale Sprache. Mit dem wachsenden Erfolg ging zudem die Verbreiterung ihres Repertoires einher. Längst ist Mutter zur bedeutenden Interpretin der musikalischen Moderne geworden.

Beim Klavier-Festival indes, in Essens Philharmonie, wagt sie sich nur bis zur spätimpressionistischen Klangwelt Claude Debussys vor. Ausgesprochen spröde wirkt dessen Violinsonate, äußerst fragil und seltsam konturlos. Mutter pendelt zwischen zartem Nebelklang und deftigem Legato. Das Werk löst sich auf ins Nirgendwo – so reizvoll, so unbefriedigend.

Überhaupt fällt auf, das gilt hier vor allem für die Mozart-Sonate, dass die Solistin offenbar manch larmoyanten Ton abgestreift hat zugunsten einer herberen Ausdruckswelt. Die Musik gewinnt an Frische, mitunter auch an Witz. Sie wirkt andererseits, in Mendelssohns F-Dur-Sonate, in all ihrer Romantik entschlackt. Schön und gefühlvoll vorgetragen, ohne unangenehme Süße.

Natürlich gibt es auch Anne-Sophie Mutter, die Virtuosin. Obwohl sie das, im Bewusstsein des Vornehmen, niemals zur Schau stellt. Ihr Furor, mit dem sie sich Pablo des Sarasates „Carmen“-Fantasie nähert, ist ein Stück ernsthaft-konzentrierten Musizierens. Ein brillantes Zückerchen für Publikum, allemal seriös verpackt.

Die Künstlerin, die heuer ihr 35jähriges Bühnenjubiläum feiert, zählt den Pianisten Lambert Orkis zu den treuesten Begleitern ihrer Karriere. Hier in Essen agiert er sehr aufmerksam, pointiert und mit großer Klangsensibilität. Vieles steuert er dazu bei, den jeweiligen Werken eine stilkonforme Atmosphäre zu verleihen.

Das Publikum jubelt beseelt. Anne-Sophie Mutters Auftritt mag professionell durchkalkuliert sein, was durchaus zu spüren ist. Am Ende aber entpuppt sich die Stilikone als Herrin über die Musik, über Klänge, die uns nicht gleichgültig sind. Alle Inszenierung dient der Kunst. Das gibt es nicht alle Tage.




Traumzeit in Duisburg und Moers

Die Kraftzentrale und das Zirkuszelt liegen Luftlinie 11,7 km auseinander. Pfingsten und Traumzeit trennten in diesem Jahr nur drei schnell vergangene Wochen. Im westlichen Ruhrgebiet verwöhnt der Frühsommer Liebhaber grenzüberschreitender Musikarten mit zwei Großereignissen.

Beide, das Moers Festival und das Duisburger Traumzeit-Festival, pflegen Musikrichtungen, für die es kaum einen oder sehr viele Namen gibt: Improvisierte Musik, freie Musik zwischen Jazz, (Post-)Rock, Indie, Neuer Musik, Elektronik, „Weltmusik“, Neo-Folk oder Klassik. Wer in der Vorstellung lebt, weit und breit der einzige zu sein, dem eine bestimmte Musikgruppe abseits des Mainstreams bekannt ist, stellt fest, es sind Tausende, die sich im Moerser Festzelt oder in einem der Meidericher Industriegebäude für anspruchsvolle musikalische Experimente begeistern können, Zigtausende sogar, die sich über den Schlosspark (Moers) oder die verschiedenen Aufführungsorte des Landschaftsparks (Duisburg) verteilen.

In diesem Jahr spielten Igmar Thomas & The Cypher an beiden Orten, in Moers und in Duisburg; über die Jahre verteilt, ist die Schnittmenge beider Festivals beachtlich. Die Künstlerischen Leiter, Reiner Michalke in Moers und Tim Isfort in Duisburg, öffnen ihre Festivals einem neuen Publikum, und seit neuestem bietet auch Duisburg – wie in Moers bereits seit Anbeginn üblich – gleich neben dem Festival eine Camping-Möglichkeit.

Wo aber liegen die Unterschiede? Moers überraschte in diesem Jahr gleich doppelt mit hartem Metal. Bei Orthrelm (USA) trifft Thrash Metal auf Minimal Music. Repetitive Klangmuster mit minimalen Variationen und kaum merklichen Entwicklungen tönen hier nicht wie bei Steve Reich mit klarem Vibraphon und festlichem Glockenspiel, sondern werden mit den trashigsten aller übersteuerten Gitarrensounds in rasantem Tempo hingeschmettert, mit einem wirbelnden Schlagzeuger, der ein 45-minütiges Solo hinlegt, nur nicht solo, sondern vervollständigt von einem ruhelos schrammelnden Gitarristen, dessen den Pedalen zugewandtes Gesicht von einem Vorhang langer glatter Haare verdeckt ist. Am nächsten Tag am gleichen Ort präsentieren Monolithic eine norwegische Variante: Ebenfalls im Duo Gitarre – Schlagzeug, mit angenehm unverständlichem Gesang. Auf Audio-Masochisten verschiedenster Couleur hat das Fest in Moers, das seit 1972 die meiste Zeit als „New Jazz Festival“ firmierte, immer schon eine besondere Attraktion ausgeübt. Mit Orthrelm und Monolithic zog in diesem Jahr die bislang härteste Spielart ein.

Neben den Festivalneulingen bleiben sowohl Moers als auch Duisburg Treffpunkte für die alten Hasen der Szene. In der Meidericher Kraftzentrale trieben der bekannte Fusion-Jazzer Mike Stern (Gitarre) und Didier Lockwood (Teufelsgeige) mit dem grandiosen Dave Weckl am Schlagzeug und Tom Kennedy am Bass die Perfektionierung des Sich-überlebt-Habenden auf die Spitze. Branford Marsalis (Saxophon, Klarinette), längst schon aus dem Schatten seines berühmten Bruders Wynton getreten, überzeugte gemeinsam mit dem Pianisten Joey Calderazzo durch Stil, Brillanz, Tempo, Größe.

Branford Marsalis

Branford Marsalis / Foto: Wolfgang Cziesla

 

Drei Wochen zuvor hatte sich in Moers der 71-jährige Ronald Shannon Jackson zwischen Vernon Reid an der Gitarre und Melvin Gibbs am Bass als ein scheinbar von aller Last des Alltags befreites Individuum präsentiert, bei dem ein langes Schlagzeugerleben nicht die geringste Verspannung hinterlassen hat. Warum auch – hatte doch bereits der 76-jährige Abdullah Ibrahim am Piano mindestens ebenso jugendlich gewirkt!

Die absolute Überraschung in Moers aber – nicht im gedruckten Programm aufgeführt und von der Ansagerin als Geburtstagsgeschenk des 40-jährigen Festivals an sein Publikum angekündigt – war Ornette Coleman (81 Jahre alt). Einer Legende gegenüber zu stehen mag beeindrucken; ein solches Highlight völlig unerwartet zu erleben, steigert die Wirkung um ein Vielfaches. Coleman, der 1960 den Free Jazz aus der Taufe gehoben hatte, und sein Quartett boten den Zuhörern allererste Qualität.

Aber mit dem Bemühen, möglichst große Stars in den Westen des Ruhrgebiets zu holen, sind wir wieder bei den Gemeinsamkeiten beider Festivals gelandet. Zurück zu den Unterschieden. Das Traumzeit-Festival verstand sich seit seiner Gründung 1997 immer auch als Bühne der sogenannten Weltmusik (eine fragwürdige Bezeichnung für fraglos spannende Musikrichtungen). Die Duisburger setzten in diesem Jahr den Länderschwerpunkt Myanmar, brachten Musiker aus dem südostasiatischen Land mit Kollegen aus Frankreich, Italien, Deutschland auf eine Bühne und vermittelten dem Publikum einen Klangeindruck von der hierzulande selten gehörten Bogenharfe saung gauk, dem Trommelkreis oder der burmesischen Kegeloboe hne.

Seltene Instrumente – um gleich wieder auf die Gemeinsamkeiten zu sprechen zu kommen – gab es auch in Moers. Mit einer 17- und einer 21-saitigen Koto kam Michiyo Yagi in das Festivalzelt, wo die Japanerin bereits 1992 aufgetreten ist. Diesmal spielte sie im Double Trio: Symmetrischer Bühnenaufbau: rechts und links außen jeweils ein Schlagzeug, halbrechts und halblinks je ein Kontrabass, der in einzelnen Stücken auch durch ein Cello ersetzt werden konnte. Und im Zentrum das Koto und das Bass-Koto von Michiyo Yagi. Perfektes Zusammenspiel, traumhaft.

Das Verwöhntwerden durch zwei herausragende Festivals in so kurzem Zeitraum bringt mit sich, dass ein Bericht über beide Großveranstaltungen selbst erstklassige Acts nur in der Aufzählung würdigen kann – wie Nils Petter Molvaer, Little Red Big Bang, Seun Kuti (alle in Moers); Cyro Baptista, Anne Paceo Triphase, das Portico Quartet, Hundreds, Mogwai oder Stefan Rusconi (in Duisburg).

Erstklassig sein genügt nicht. Was war das Phantastische der diesjährigen Traumzeit?

Caribou schuf fast unglaubliche Momente. Die vier Nerds aus Kanada im Medizinerweiß oder in Parka mit auf den Rücken geschnallter Gitarre schlugen zur Live-Elektronik die Beats präzise auf zwei Schlagzeuge, vergleichbar der US-amerikanischen Band Tortoise, und versetzten am Freitagabend bei einem ihrer seltenen Deutschlandauftritte das Publikum auf den Tribünen wie die Tanzenden gleichermaßen in Ekstase.

Zwei Tage später, gleicher Programmplatz: Der 28-jährige Vielkönner Patrick Wolf und Alec Empire (39) – der ehemalige Noise-Punker von Atari Teenage Riot – bilden ein ungewöhnliches Duo. Zu Wolfs Bluesstimme lebt 80er-Jahre-Elektropop, gebrochen von Empires Noise-Einlassungen, neu auf, und beim Spiel mit dem Bühnenbild verbindet sich alles zu einem popmusikalischen Gesamtkunstwerk. Auch wer sich keine CD der beiden komplett anhören möchte, dürfte vor allem von Patrick Wolfs dandyhaften Entertainer-Qualitäten nicht unbeeindruckt geblieben sein.

Jeweils um 23 Uhr an den drei Tagen traten in der Gießhalle die großen Gruppen auf: Mogwai, Amiina, Hundreds. Gleichzeitig aber wurde die Kraftzentrale von Klangzauberern bespielt. Am Freitagabend erwies sich Ólafur Arnalds als ein solcher. Der isländische Pianist wurde von einem Streichquartett und Elektronik begleitet – raumgreifender Enthusiasmus, Musik, in der man sich verlieren kann. Ebenso wie beim Bestaunen der dazu laufenden Zeichentrick-Videos. Schattenrisse von Vögeln, die sich von Mobiles lösen und frei fliegen, sich wie Kulissen verschiebende Wolken, ein Leuchtturm und Wellen, in denen ein Boot versinkt und verwandelt auftaucht. Vergleichbare Klang-Bild-Poesie hat 2003 an diesem Ort auch das Tin Hat Trio geschaffen.

Die Samstagnacht in der Kraftzentrale gehörte dem Amsterdamer Blockflöten-Trio aXolot. Zur atmosphärischen Vervollständigung sei kurz das Bühnenbild beschrieben: Eine halbe Schwingtür in komplettem Rahmen, ein extrem kleiner Kinderstuhl, ein normalgroßer Kunstleder-Schaukelstuhl, zwei Orientteppiche, ein Sofa und zwei dazu passende Ohrensessel, Kunstlederstühle mit Nieten – das Ganze in verdampfendes Nebelfluid getaucht. Das Programm der drei Flötistinnen bestand aus mittelalterlichen Klängen nicht mehr bekannten Ursprungs und Werken junger Komponistinnen und Komponisten: Dorothée Hahne, Aliona Yurtsevich, Stefan Thomas und des Amsterdamer Komponisten Paul Leenhouts, dessen bezauberndes Zultanas Raizins sie aufgeführten. Nicht-existente Töne schwingen hier mit – wie die Flötistin Kim-José Bode erklärt –, sogenannte Geisttöne, Töne, die als dritte entstehen, wenn man zwei spielt.

Die Samstagnacht ist ein gutes Beispiel, um den entscheidenden Unterschied zwischen den Festivals in Moers und Duisburg zu benennen: Moers konzentriert sich auf das große Zirkuszelt, in dem sich im Wesentlichen das gesamte Festival abspielt, ergänzt durch eine Reihe elektronischer Musik in einem Darkroom sowie durch Nachtprogramme und Matineen an verschiedenen Orten der Stadt. Das Traumzeit-Festival dagegen verteilt sich auf verschiedene Bühnen im nachts wunderbar beleuchteten Lapadu (Landschaftspark Duisburg-Nord): Kraftzentrale, Gießhalle, Open-Air-Bühne am Gasometer, Foyer Pumpenhalle, Gebläsehalle und Hüttenmagazin. Die guten Auftritte konkurrieren miteinander, und der Besucher kann von Luxusnöten gequält werden, wie ich am Samstag kurz vor 23.00 Uhr. In der Gebläsehalle spielten noch Bohren & der Club of Gore, deren Auftritt von 22.15 Uhr auf 22.30 Uhr verschoben wurde. Wer wäre düsterer als die vier Männer aus Mülheim? Während gealterte Virtuosen wie Mike Stern oder Joey Calderazzo in Duisburg losjammten, als hätten sie keine Zeit zu verlieren, verfügen Bohren & der Club of Gore über alle Ruhe der Welt, und nicht nur dieser Welt. Aus der Schwärze der Bühne mit unsichtbaren Gestalten heraus kam eine der spärlichen skurrilen Ansagen: „Es ist Mode geworden, auf junge gutaussehende Mütter, die ihre Kinder zum Fußball fahren, einzudreschen. Wir von Bohren unterstützen das und haben darüber ein Lied geschrieben, erstaunlicherweise schon 2003.“

Ich kann gerade noch die ersten der langgezogenen Doom-Töne auf mich wirken lassen, da flüstert mir eine innere Stimme zu, dass es an der Zeit ist für aXolot. Ein geschlossener Vorhang in der Kraftzentrale, und ein Wächter kündigt mir freundlicherweise an, der Soundcheck werde voraussichtlich noch eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Eine weitere innere Stimme sagt mir, dass aXolots gründliche Vorbereitung meine Chance ist, gegenüber in der Gießhalle ein paar Takte von Aniima wahrzunehmen, den jungen Isländerinnen, die an der Seite von Sigur Rós arbeiten, wenn sie nicht wie heute ihr eigenes Ding machen. Das ursprüngliche Streichquartett ist inzwischen durch eine Vielzahl an Instrumenten erweitert.

Zurück in der Kraftzentrale beginnt aXolot das Konzert mit der neuen Komposition von Dorothée Hahne, dessen Titel die innere Zerrissenheit eines Traumzeit-Besuchers auf den Punkt bringt: Interferences of Inner Voices.

Gut, dass ich kein Partygänger bin, sonst gäbe es zu später Stunde auch noch zwei verlockende Tanzveranstaltungen.




Zur Romantik strebt doch alles

Der Pianist Leif Ove Andsnes. Foto: Felix Broede, EMI-Classics

Der Pianist Leif Ove Andsnes. Foto: Felix Broede, EMI-Classics

Wenn sich der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes ans Klavier setzt, spielt er nicht um sein Leben, sondern um der Schönheit willen. Die Klänge, die er dem Instrument entlockt, schweben uns zu und scheinen ihn selbst zu umhüllen. Andsnes ist kein stolzer Virtuose, der alles wagt, sondern ein feinsinniger Gestalter, bisweilen ein Grübler, immer der romantischen Seele auf der Spur.

Sein Auftritt in Essens Philharmonie, als Gast des Klavier-Festivals Ruhr, lässt dabei keine Gefühlsausbrüche zu, kaum dramatische Zuspitzungen. Das mag in Beethovens Waldstein-Sonate sonderbar klingen, wenn unter des Künstlers Fingern noch die flinkesten Figurationen in edelstem Legato erklingen. Welches sich im virtuosen Geflecht des Finalsatzes hin zu einem gleichsam dekadenten Glissando steigert.

Doch in Beethovens endlosen, formsprengenden Weiten von op. 111 führt uns Andsnes´ Ansatz aufs Schönste in jene Zukunft, die da Romantik heißt. Des Komponisten Wunsch nach innigster Empfindung zollt er großen Respekt, und immer sind es Klangfarben, die verzaubern.

Das Romantische hat er zuvor in vier Brahms-Balladen weltverloren, mitunter düster vor uns ausgebreitet. Der Dichter spricht, der Künstler erzählt, der Fantasie alle Freiheit lassend. Nur manchmal kommen Zweifel, ob dem untergründig Brodelnden nicht doch zu sehr Fesseln angelegt sind.

Einmal träumend unterwegs jedoch, erreicht der Pianist einen scheinbar abseitigen Pfad, der da Moderne heißt. Aber Schönbergs frühe Klavierstücke, schon in den Bezeichnungen Schumann folgend, sind pointierte Aphorismen, in ihrer Aufsplitterung wie Balladen-Fragmente wirkend. Keine Spur von sperriger 12-Ton-Methodik, sondern Musik, deren Ausdruck geist- wie seelenvoll ist.

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen)




Wahnwitzige Wundertüte

„Vision“ selbst hatte es schon als ziemlich irrsinnige Mischung angekündigt. Und tatsächlich bot der Club Sabotage im FZW diesmal eine wahnwitzige Wundertüte, in der zwei englische Bands aufeinander trafen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Die Gallows und Razorlight.

Um das Ganze noch ein bisschen bunter zu machen, bereiteten die vier Kalifornier der Rival Sons mit ihrem klassischen Rock und der Verbeugung vor Led Zeppelin den Boden für das ungleiche musikalische Duell der englischen Combos. Die Trennlinie brachte Gallows-Sänger Frank Carter böse vor den Fans auf den Punkt: „Razorlight ist was für Eure Mami – das hier ist was für Euch!“

Tatsächlich konnte man sich kaum vorstellen, dass das Publikum der Hardcore-Punk Band nach deren Auftritt im Club wirklich rüber in die Halle zu Razorlight wechseln würde, so weit entfernt schienen die beiden Welten.

Bei dem auf Kampf gebürsteten Auftritt der Gallows mit wütender englischer Arbeiterklasse-Attitüde flogen die Plastik-Bierbecher mit den Fans um die Wette, die schon bei den ersten brachialen Klängen einen harten Mosh-Kern formiert hatten. In dem schien auch Sänger Frank Carter ordentlich mitzumischen – denn auf der Bühne tauchte der Rotschopf erst nach den ersten Liedern auf. Von dort aber setzte er zu einem brachialen Dirigat der Masse an: Ausgerechnet mit dem Aufdruck „Pure Love“ auf seinem T-Shirt, riss er die tatöwierten Arme auseinander wie ein wütender Messias, um mit einer gewissen Portion Irrsinn in den Augen seine Zeilen über Gewalt, die Aussichtslosigkeit des Lebens und den Untergang seiner Heimat herauszuschreien. Seiner Aufforderung „Die Bühne gehört euch ebenso wie uns“ folgten die Fans unmittelbar, stürzten sich hoch zu den Musikern und tauchten wieder unter zwischen den erhobenen Fäusten der Feiernden. Die Bandmitglieder revanchierten sich mit Tempoläufen durch die Massen, die keine Rücksicht darauf nahmen, ob irgendein Fan schnell genug zur Seite springen konnte.

Auf die Idee wäre Johnny Borell, selbstbewusster Frontmann von Razorlight, wohl keinesfalls gekommen. Deren Musik wirkte, als solle der eben aufgeputschte Puls wieder einige Runden ruhiger werden. Und während die Gallows jugendliche Verzweiflung und Aggression rausbrüllten, wartete in der Halle die beruhigende Antwort: Alles wird gut! So unbeschwert und lockerleicht zeigte sich die Combo in ihren Melodien, dass der Sommer in der FZW-Halle angekommen schien. Melodien, bei denen der Körper nahezu automatisch zum Mitwippen und –schwingen gebracht wird, getragen von der schönen, klaren Stimme von Burrell. Razorlight zeigte sich von seiner tanzbaren Seite mit durchaus poppigem Retro-Rock. Gefällig, aber vielleicht auch etwas zu wenig herausfordernd.

Dass die Jungs durchaus auch experimentierfreudig und weniger glatt sein können, ließen sie zwischendurch aufblitzen: Da durften die Gitarren jaulen, der Bass schräg wummern, zeigten die Musiker dass sie auch performen und nicht nur glatt und ohrwurmfreundlich sein können. Neben dem lockigen Sänger fiel dabei vor allem der neue Bassist Freddie Stitz (für Carl Dalemo) auf – mit schrägem Aussie-Cowboyhut und geflochtenen Zöpfen – , der ebenso wie Gus Robertson (für Bjorn Agren) an der Gitarre zum neuen Line-Up gehört.  Bleibt die Hoffnung, dass Razorlight auf dem neuen Album mehr davon auspackt – ein paar neue Songs lieferten einen Vorgeschmack auf die Scheibe, für die sich die Band nach dem dritten Album 2008 viel Zeit gelassen hat.

Ihre größten Hits jedenfalls packte Razorlight fast schon verschämt an den Schluss: „America“ und „Wire to Wire“ wirkten eher wie Pflichtübungen für Johnny Borell.

(Artikel aus der Westfälischen Rundschau / http:www.derwesten.de)




Wundersamer Wunderknabe

Er hat alles unter Kontrolle. Die paar Schritte über die Bühne zum Klavier, das Lächeln, die Verbeugung. Und sein Spiel natürlich, das sich über die Strukturen der zu interpretierenden Musik definiert. Ernst wie ein Erwachsener wirkt der 19jährige Kit Armstrong, dieser wundersame Wunderknabe, dem noch so viel Kindliches anhaftet.

Sein größter, überzeugtester, bedeutendster Fürsprecher und Mentor ist Alfred Brendel, der die außergewöhnliche Begabung des jungen Eleven in höchsten Tönen hervorgehoben hat. Das kommt nicht von ungefähr: Die manuellen Fähigkeiten Kit Armstrongs und sein fast instinktives Erkennen musikalischer Verläufe sind von bestechender Aussagekraft.

Nun, wer mit 16 bereits ein abgeschlossenes Musik- und Mathematikstudium vorweisen kann, wer selbst komponiert, wenn auch in arg harmonischen Bahnen, dem dürften Gewissenhaftigkeit, ja die Logik des Interpretierens kaum fremd sein. Armstrong beweist dies beim Klavier-Festival Ruhr zu Ehren des nunmehr 80jährigen Alfred Brendel. Kristallin fließen dem Jungen dabei Bachsche Figurationen aus den Fingern, keine Wendung im polyphonen Geflecht bleibt unbeachtet – nehmen wir nur vier von ihm ausgewählte Präludien und Fugen.

Wer indes an diesem Abend in Mülheims Stadthalle von Kit Armstrong, der zwischen Bach und Liszt pendelt, bilderstürmerisches Aufbegehren eines wunderkindlichen Bühnentiers erwartet, wird enttäuscht. Der Interpret steht über der Musik, beobachtet, analysiert. Er ist nicht in der Musik, geht keine Risiken ein, um etwa der Lisztschen Ausdrucks-Opulenz, in der rauschenden Nr. 10 des großen Etüden-Zyklus, Gewicht zu geben. Mitunter wirkt es, als wolle der Pianist sich selbst Note für Note noch einmal bestätigen, was er doch längst im Kopfe abgespeichert hat.

Armstrong verströmt Disziplin, die in Perfektion münden soll. Er wirkt dabei wie ein Asket des Gefühls. Manche finden das spröde. Doch er macht uns staunen – so oder so.

(Der Text ist in kürzerer Form in der WAZ erschienen)




Zwischen Mozart und Moderne

Mojca Erdmann ist eine Sopranistin der besonderen Art. Wer im Bundeswettbewerb Gesang einen Preis für die Interpretation zeitgenössischer Musik gewinnt, wer in Salzburg mit Mozarts „Zaide“ debütiert (2006) und drei Jahre später in Schwetzingen die Uraufführung von Wolfgang Rihms „Proserpina“ stemmt, verfügt über ein ungewöhnlich kontrastreiches Repertoire. Nicht viele Stimmen halten diesem stilistischen Spagat zwischen Klassik und Moderne stand.

Zwischen Mozart und Rihm hat sie u.a. Strauss, Mahler und Puccini gesungen. Wir hörten sie als Suor Genovieffa, die Vertraute der Suor Angelica in Puccinis gleichnamiger Verismo-Oper. Mit leichter, dennoch ausdrucksstarker Stimme formte sie einen sanft heiteren Charakter. Und in Mahlers 4. Sinfonie, in deren letztem Satz Erdmann von den himmlischen Freuden ganz irden erzählte, ließ sie es geschickt offen, ob des Komponisten Erlösungsmusik nicht doch Zeichen von Resignation in sich birgt.

Nun aber hat Erdmann ihre erste CD vorgelegt und sich dabei vor allem auf Mozart-Arien kapriziert. Daneben erklingt die Musik einiger Klassik-Kleinmeister, denen sich die Sopranistin ebenso ambitioniert widmet. Ja, sie versenkt sich in ihre Rollen, klagt inbrünstig, zürnt herausfordernd, spöttelt sanft. Das also fällt zuerst auf: ihre Identifikationskraft, ihr Sinn für dynamische und gestalterische Nuancen.

Dabei ist die Stimme nur bedingt schön, weil nicht stets balsamisch gülden strömend, in blitzblanker Höhe jubilierend oder in der Mezzolage satt grundiert. Doch hier geht es nicht um zur Schau gestellte Perfektion, auch nicht um jungmädchenhafte Reinheit, sondern ums Modellieren unverwechselbarer Charaktere.

Der vor Zorn bebenden Zaide also möchten wir nicht im Dunklen begegnen. Der zutiefst einsamen Pamina wiederum (aus Mozarts Zauberflöte) gilt unser ganzes Mitleid. Oder Zerlinas milde Versöhnungsgeste gegenüber ihrem Liebsten Masetto (Don Giovanni) – schlicht und erhaben.

Mojca Erdmanns Stimme ist nicht von strahlendem, sondern metallenem Glanz, das mag der Hinwendung zum modernen Repertoire geschuldet sein. Sie ist bisweilen herb und ungenau fokussiert. Doch immer siegt ihre suggestive Kraft. Bestens unterstützt vom Ensemble „La Cetra“ unter Andrea Marcon, das in historisch informierter Aufführungspraxis pointiert musiziert – mit teils geschärften Akzenten, manchmal harsch, dann wieder in samtenem Wohllaut spielend.

 

Die CD wurde von der Deutschen Grammophon veröffentlicht.

 

(Der Text erschien in kürzerer Form in der WAZ).




Lisztiana III – Konzertantes Gipfeltreffen

Manchmal kann er dem Reiz kaum widerstehen. Dann will sich der Pianist Daniel Barenboim der Staatskapelle Berlin zuwenden, die doch sein Orchester ist, und dem Dirigenten Daniel Barenboim zu seinem Recht verhelfen. Doch am Pult steht kein geringerer als Pierre Boulez. Und deshalb muss sich der Mann am Klavier bescheiden. Er hat auch so alle Hände voll zu tun.

Denn wenn es darum geht, beide Klavierkonzerte Franz Liszts an einem Abend zu spielen, sollte die Aufmerksamkeit allein aufs Soloinstrument gerichtet sein. Barenboim weiß dies nur zu gut. Von ihm wird nicht weniger verlangt als kernige Virtuosität, Sinn für lyrische Verläufe sowie der Blick aufs große Ganze dieser beiden einsätzigen Konzerte.

Gleichwohl leitet sich die Spannung des Abends in der Essener Philharmonie maßgeblich von diesem Gipfeltreffen ab. Boulez, von Haus aus Komponist, ein Meister des analytischen Denkens, nun klar konturiert dirigierend, trifft auf Barenboim, dessen pianistischer Glanz ein wenig verblasst scheinen mag. Und dessen Stern als gefühlvoller Dirigent umso heller erstrahlt.

So sehen wir also, vom prima disponierten Orchester her betrachtet, oft Liszt, den Modernen. Dann lässt Boulez Klänge schroff hervortreten oder klare dynamische Akzente setzten. Barenboim aber präsentiert uns Liszt als zutiefst empfindsamen Romantiker, dem Akkordgedonner oder Passagenwerk eher lästige Pflicht ist. Dann setzt der Pianist ganz auf Klang, brillant schillernde Figurationen, feine Verästelungen.

Viele Liszt-Bilder hat das Klavier-Festival Ruhr bereits evoziert, bei diesem Konzert stellen zwei berühmte, eigenwillige Interpreten ihre konträren Vorstellungen in aller Bescheidenheit nebeneinander. Barenboim, im virtuosen Geläuf verbissen auf Präzision achtend, sucht lieber die Nähe zum von Liszt hoch verehrten Chopin, das Filigrane nahezu zelebrierend.

Boulez wiederum mag´s eher dramatisch, zupackend, auch zügig, führt die Holzbläser andererseits zu schönsten Kantilenen. Dafür ist indes ein Preis zu zahlen: Solist und Orchester verhaken sich mitunter in ungleichmäßigen Tempi. Manches klingt schematisch. Doch immerhin: Falschem Pomp und triefendem Sentiment sind alle klug entgangen.

Das Kompliment gilt umso mehr Pierre Boulez und der Staatskapelle im Umgang mit Richard Wagners „Faust Ouvertüre“ und dessen „Siegfried-Idyll“. Die kurzen Stücke, den jeweiligen Liszt-Konzerten vorangestellt, geben dem Orchester einerseits Gelegenheit, ihren weichen, runden, nie aufdringlichen, aber suggestiv vielfarbigen Klang aufs Schönste in den Raum zu stellen.

Zum anderen, dafür sorgt das auf Struktur und Binnenspannung fokussierte Dirigat Boulez´, rückt das „Idyll“ niemals in die Nähe einer verkitschten Naturpostkarte. Und die Faust-Ouvertüre, Schumanns Romantik so wenig verleugnend wie etwa den „Lohengrin“, besticht bei allem Klangvolumen durch stete Transparenz.

Am Ende zwei Zugaben: Daniel Barenboim spielt Liszts „Consolations“ und einen der Valses oubliées. Da ist er ganz bei sich, ein emotionaler Feinzeichner. Barenboim, den Dirigenten, völlig vergessend.

 

Weitere Blicke auf Franz Liszt wagt das Klavier-Festival Ruhr mit einer vierteiligen Hommage zum 80. Geburtstag des großen Liszt-Deuters Alfred Brendel. Till Fellner, Francesco Piemontesi und Kit Armstrong zählen zu den Solisten. Brendel selbst wird über „Liszt – vom Überschwang zur Askese“ sprechen. Alles zu erleben in der Stadthalle Mülheim (14. bis 19. Juni). Weitere Informationen: http://www.klavierfestival.de

 

(Der Text ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Wrestling beim Wacken Open Air – Lesung beim Rock Hard Festival

Während das Wacken Open Air Wrestling ins Programm übernommen hat, versucht es das Rock Hard Festival mit Literatur. Am Pfingstwochenende stellen die beiden Autoren Christian Krumm und Holger Schmenk ihr Buch „Kumpels in Kutten – Heavy Metal im Ruhrgebiet“ den Festival-Besuchern im Gelsenkirchener Amphitheater vor. Ein guter Anlass, um mit Christian Krumm zu sprechen, der bereits an einem Buch über die Plattenfirma Century Media arbeitet.

Am Pfingstwochenende habt ihr vier Lese-Termine beim Rock Hard Festival. Das ist schon etwas Besonderes?

Christian Krumm: Definitiv. Es ist so etwas wie ein Ritterschlag, denn hier ist die Ruhrpott-Szene versammelt und somit gehören wir auch dorthin. Es ist ein einzigartiges Event und wir freuen uns sehr über diese Möglichkeit.

Hören die Metal-Fans in einem Umfeld von lauter Musik und viel Bier überhaupt zu?

Christian Krumm: Wie es auf dem Rock Hard Festival wird, ist natürlich noch schwer zu sagen, denn das ist eine ganz andere Veranstaltung als unsere bisherigen Lesungen. Mit Bobby und Gerre als Gäste wird es vielleicht auch mehr Show als einfache Lesung, aber das Wichtigste ist, dass die Leute Spaß haben.

Wie war die bisherige Resonanz auf das Buch?

Christian Krumm: Wir hatten sicher mit einigen Resonanzen gerechnet, aber was seit der Veröffentlichung passiert ist, hat uns schon überrascht. Neben vielen, fast ausschließlich positiven R ezensionen überraschte besonders die Unterstützung aus der Szene für unser Buch. Die Verkäufe haben entsprechend ziemlich schnell unsere Erwartungen übertroffen.

Vergangenes Jahr habt ihr euer Buch bereits beim Wacken Open Air der Presse präsentiert. Seitdem seid ihr auf Lesereise – mit einigen prominenten Gast-Lesern. Gibt es einen Gast, den ihr besonders in Erinnerung behalten habt?

Christian Krumm: Da kann man sicher niemanden wirklich hervorheben. Wenn Tom Angelripper am Tag nach der Release-Party von „In War And Peaces“ (letztes Sodom-Album) sich mittags um zwölf Uhr mit uns trifft und sich die Zeit nimmt mit uns zwei Lesungen zu machen, dann sagt das viel über die Bodenständigkeit und Leidenschaft für die Szene von Tom aus. Andererseits arrangiert es Bobby von sich aus, ohne dass wir davon wussten, dass auch Gerre bei den Lesungen auf dem Rock Hard dabei ist und macht bei einem Video für Rock Hard Online Werbung dafür. Für wen soll man sich da entscheiden?

Kannst du denn sagen, welcher Ort für euch der schönste war?

Christian Krumm: Das war sicher das Café Nord. Die Kneipe ist seit zwanzig Jahren ein fester Bestandteil der Szene und als wir dort gelesen haben, mit einem Unplugged-Gig von Layment als besonderen Bonus, waren fast 200 Leute da. Das hat schon eine Menge Spaß gemacht.

Aktuell arbeitet ihr an einem spannenden Projekt – der Biografie der Plattenfirma Century Media. Wie ist es dazu gekommen?

Christian Krumm: Das gehört auch zu den positiven Resonanzen auf „Kumpels in Kutten“. Nicole Schmenk – die Ehefrau von Holger – hat zuletzt einen eigenen Verlag gegründet, der sich unter anderem auf Metal spezialisiert. Auf der Suche nach guten Buchthemen kam der Kontakt mit Robert Kampf, dem Chef von Century Media, zustande. Der zeigte sich begeistert von unserem Buch und schnell waren sich alle einig, dass wir die Geschichte der Plattenfirma aufarbeiten werden.

Ein Buch aus der Sicht der Musikindustrie ist selten. Was erwartet ihr an Reaktionen?

Christian Krumm: Das wird sehr spannend. Dieses Buch wird definitiv Geschichten enthalten, die man nicht so einfach in Magazinen oder anderen Szene-Büchern nachlesen kann. Musiker haben oft ein kompliziertes Verhältnis vom Geschäft, wollen vielfach damit so wenig wie möglich zu tun haben. Aber natürlich ist die Arbeit einer Plattenfirma enorm wichtig und ist ebenso ein Teil der Szene. Die Mitarbeiter sind fast ausschließlich selbst Fans, die sich mit Enthusiasmus und viel Herzblut engagieren und einiges dazu beitragen, dass zum Beispiel ein Album ein Klassiker wird, dass Bands das Beste aus sich herausholen oder auch nicht an Konflikten zerbrechen. Diesem speziellen Teil der Szene ist das Buch gewidmet und ich hoffe, dass die Fans sich auch für diesen Aspekt der Musik interessieren und begeistern können.

Vielen Dank an Jörg Litges für die Fotos




Klangmagie im Dämmerlicht

Der Mann am Klavier hüllt sich in sanftes Dämmerlicht. Voller Geheimnis scheint seine Aura, wie er dasitzt, immer ein wenig gebeugt, mit dem Instrument beinahe verschmolzen. So entlockt er ihm in hehrer Anschlagskunst samtene Klänge oder kristalline Figurationen. So zelebriert Grigory Sokolov die Musik Bachs, lässt die tönende Romantik Schumanns aufblühen.

Zum 15. Mal ist der etwas introvertiert wirkende Russe Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und erneut versteht er es, das Publikum zu verzaubern, zu elektrisieren. Mit Bachs „Italienischem Konzert“ etwa: In unglaublicher Perfektion schnurren die Läufe dahin, dynamische Abstufungen und Schattierungen sind subtil gesetzt. Der Mittelsatz klingt wie eine narrative Meditation, im Finale scheint der alte Cembalo-Klang durchzuschimmern.

Sokolov lässt in Essens Philharmonie keine Phrase stiefväterlich unbeachtet. In der „Ouvertüre nach französischer Art“ scheint ihm die barocke Rhetorik wie anverwandt, so nuanciert spricht er. Das führt indes im langsamen Eingangssatz zu unbotmäßigen Zerklüftungen – die Musik findet fast keinen Halt.

Schumanns Humoreske aber, pendelnd zwischen kindlich gelöstem Frohsinn und nachdrücklichem Ernst, umwölkt von melancholischer Reflexion, führt Sokolov zu wundersamer Einheit. Er streichelt die Tasten und es ertönt ein feines, leises Legato. Er entfesselt mit federndem Anschlag ein duftiges Staccato. Und nichts will uns an diesem Abend heiterer erscheinen, als das letzte von Schumanns vier Stücken op. 32: die „Fughette“, ein Tanz dahingetupfter Töne. Grigory Sokolov erweist sich erneut als Meister magischer Klänge. Ovationen, sechs Zugaben.

Der Russe spielt am 24. Juni in der Kölner Philharmonie: http://www.koelner-philharmonie.de

(Der Artikel ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen).

 




Kleistiana (2): Über Haydns Tod

Kleistgedenkjahr 2011 + Joseph Haydns Gedenktag heute

Etwa 2 Monate vor dem von Hardenberg über Raumer bewirkten, abrupten Ende der ersten Berliner Abendzeitung mit ihrer 153. Ausgabe, jener Zeitung Heinrich von Kleists, die seit dem 1. Oktober 1810 erschienen war, erschien unter den Miszellen ein Beitrag zu Joseph Haydns Tod am 31. Mai 1809. Man mag diesen Text als ganzen vermittels folgenden Links bitte nachlesen:
http://modules.drs.ch/data/attachments/2009/090531_Haydn%20heute.pdf

Der Schweizer Rundfunk bzw. Radio (DRS 2) , der den von Kleist übersetzten und geringfügig erweiterten Text ins Netz gestellt hat, hat ihn nach der Sembdnerschen Kleist-Ausgabe zitiert. Nimmt man auch noch die neuere Münchener Kleist-Ausgabe hinzu, wie ich es gerade wohlweislich getan habe, so stellt man vor allem fest, dass das in Kupfer gestochene Haydn-Wort dort in einem anderen Wortlaut zitiert wird: „Meine Kraft ist erloschen, Alter und Schwäche drücken mich zu Boden.“  (Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München 2010, S.467, Z. 16f.)




„Du musst Dein Leben ändern!“

29. 05. 2011: „Du musst Dein Leben ändern!“
Mahlers Siebte mit den Bambergern Symphonikern unter Jonathan Nott in der Philharmonie Essen

Hätte ich genau diese Aufführung der 7. Symphonie Gustav Mahlers schon früher hören können und genau so hören können, wie es gestern Abend in der Essener Philharmonie der Fall gewesen ist, und wäre das noch in sehr jungen Jahren erfolgt und nicht erst jetzt nach einem langen Berufsleben, ab sofort würde ich einen ganz anderen Berufsweg eingeschlagen haben und mein Leben fortan ganz der Musik widmen.

1952, von Salzburg in den Essener Norden gekommen, hätte ich so den zweieinhalb Jahre zuvor begonnenen Klavierunterricht auch unter den widrigsten Bedingungen einer vorherrschend musikfremden Umgebung, in der ich nun weiter aufwuchs, unbedingt fortgesetzt und hätte nicht mehr erst in einem nur vorgestellt zweiten Leben, sondern damals ganz ernsthaft und entschieden (unter Berücksichtigung aller notwendigen Vorstufen) Dirigent oder gar Komponist werden wollen.

Aber hätte ich mit 10 diese Mahler-Musik schon so hören können? Wäre ich dafür schon bereit gewesen, so unmittelbar und so bezwingend nah, wie sie mir gestern Abend endlich gekommen ist? Und hätte es gegen 1952 irgendein Orchester und irgendeinen Dirigenten in der Welt gegeben, die einem ausgerechnet Mahlers Siebte auf diese Weise so hätten nahebringen können? Ich glaube nicht. Und nicht nur, weil der Mahler-Boom, den ich alsbald mitbekommen habe, so recht erst in den 60er-Jahren eingesetzt hat. Auch als ich über Rundfunk und Schallplatte schon längst für die Werke Mahlers gewonnen war, fand ich lange keine einzige Aufnahme der Siebten, die mich wünschenswert überzeugt bzw. begeistert oder gefesselt hätte.

Erst die Begegnung mit der Aufnahme des Utah Symphony Orchestra unter Maurice Abravanel, und nicht schon die mit den Aufnahmen Georg Soltis, Leonard Bernsteins und Rafael Kubeliks, hat maßgeblich etwas daran geändert. Und zwar recht eindrucksvoll schon mit dem Symphoniebeginn. Auf diese Abravanel-Einspielung stieß ich erst in den 70er-Jahren und sie blieb fortan (fast bis gestern) meine persönliche Referenzaufnahme. Aber mein Leben aufwühlend geändert hat auch sie nicht mehr. Erst nach der gestrigen Aufführung der Mahlerschen Siebten durch die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jonathan Nott weiß ich genau: Wäre ich jetzt noch jung, bliebe mir nun gebieterisch nur der Weg in die Musik, so dornig er auch wäre. Ich würde als junger Mensch spätestens jetzt mein Leben daraufhin ausrichten, meine Lebensplanung ändern.

Noch nie hat mich die Komposition und die Darbietung der ersten drei, vier Sätze dieser Symphonie so sehr überzeugt wie gestern. Auch im fünften Satz war die orchestrale Darbietung auf gleichbleibend hohem Niveau, mit dem kompositorisch angestrebten Verhältnis dieses Satzes zu den vier vorausgegangenen indessen habe ich (nur vorläufig?) noch gewisse Schwierigkeiten. Mahler scheint in diesem letzten Satz geradezu Wert darauf gelegt zu haben, hin und wieder ausgesprochen triviale, musikalisch eher minderwertig eingestufte Themen zu zitieren, zu verwenden und ironisch wichtig zu nehmen: „Schlösser, die im Monde liegen“ klingt da operettenhaft an, wie später in Bartóks „Konzert für Orchester“ das populäre „Dann geh ich ins Maxim“.

Im Juli werde ich Mahlers Siebte noch einmal in Essen hören: diesmal mit den hier Heimrecht habenden Essener Philharmonikern unter Stefan Soltesz. Kein Zweifel, dass auch diese Darbietung gut sein wird. Dennoch habe ich ein bisschen Sorge: Denn besser als die gestrige der Bamberger Symphoniker kann sie kaum sein. Gespannt bin ich aber darauf, wie der erste Satz, der mir bei jeder Interpretation anders vorkommt, diesmal klingen wird. Und ob mir der fünfte Satz langsam einzuleuchten vermag.