Sturm und Drang – Vilde Frang

Irgendwo weit draußen muss es eine Quelle geben, der von Zeit zu Zeit aparte Fräuleinwunder entspringen, die eine Geige in die Hand nehmen und die Welt mit Musik verzaubern. Sie sind von klein auf im Reich der Töne zuhause, vollbringen Außerordentliches auf ihrem Instrument. Voila, hier also ist Vilde Frang.

Die Norwegerin, zarte 24 Jahre jung, studierte bei Kolja Blacher, und die Namen ihrer Mentoren flößen Ehrfurcht ein: Gidon Kremer, Martha Argerich, Anne-Sophie Mutter. Ein Glückskind betritt die Szene, und hat uns nun zwei CD’s geschenkt. Zeigt keine Angst, sondern greift sich zunächst nahezu grimmig entschlossen große Virtuosen-Brocken: die Violinkonzerte von Sibelius und Prokofiev (Nr.1).

Wie schnell fliegen da die Finger, wie präzise, wie zwingend ist ihre Gestaltungskraft. Süchtig aber macht ihr Ton, der fahl verhangen schimmert oder strahlend glänzt. Der schneidend-attackierend oder uns ganz schroff ans Ohr kommt. Gerade richtig für die kühne, wilde, satt-lyrische Musik eines Sibelius. Und dann erst die Fratzenhaftigkeit in Prokofievs Scherzo: Ein Spuk ist das, eine böse, garstige Narretei. Vilde Frang liebt kernige Akzente, zuckt aber (noch) zurück vor Schwebendem, etwa vor der finalen Entrückung des letzten Satzes. Eine junge Frau agiert im Geiste des Sturm und Drang. Schade nur, dass das WDR Sinfonieorchester Köln unter Thomas Søndergård teils brav und klanglich wenig präsent dieses Bild trübt.

Grieg, Bartók, Strauss – es ist nicht gerade die gängige Violinsonaten-Literatur, die sich die junge norwegische Geigerin Vilde Frang für ihre Kammermusik-CD ausgesucht hat. Doch ihres Mottos getreu, im unerschöpflichen Fundus klassischer Musik stets neues zu entdecken, bleibt uns das gängige Repertoire eines Beethoven, Schumann oder Franck verwehrt. Macht aber nichts: Das Hineinhören ins Frangsche Raritätenkabinett öffnet Horizonte – was gleichermaßen für drei außergewöhnliche Werke wie auch für das Spiel der Künstlerin gilt, ihren kongenialen Partner und Mitgestalter am Klavier, Michail Lifits, selbstredend eingeschlossen.

Griegs 1. Violinsonate mag in ihrem romantischen Gestus an Schubert erinnern, doch der bisweilen fahle, schneidig folkloristische, auch melancholische Ton kann das Nordische nicht verleugnen. Faszinierend wiederum zu hören, wie Vilde Frang zwischen verhangenem und strahlend jubilierendem Klang zu wechseln weiß. Saubere Technik und kristalline Intonation tun ein übriges. Weit mehr aber berührt, ja erschüttert ihre Deutung der Bartókschen Solosonate, ein Jahr vor seinem Tod komponiert. Schroff, brüchig, zerklüftet kommt die Musik daher – technisch höchst komplex. Frang schafft es mit ihrem analytischen Zugriff, diesen Schwanengesang in höchster Expressivität zu vermitteln. Zwischen Melancholie, Schmerz und Raserei irrlichtern Figurationen und Klänge, wie unter Atemnot herausgepresst.

Richard Strauss‘ jugendliche, frische Sonate ist herber, verwirrender Kontrast. Wunderbar hell funkelt die Geige, zudem in allerlei Schattierungen kann das Instrument klingen. Und das Aufblitzen eines kecken Konversationstons im Finale zeigt, wie auch Michail Lifits aller technischen Raffinesse gewachsen ist.

Die beiden CD’s sind bei EMI Music erschienen.

 

Der Text war in veränderter Form auch in der WAZ zu lesen.

 




Über dem Abgrund

Obwohl sie oft nur wenige Straßen voneinander entfernt wohnten, sind Franz Schubert und Ludwig van Beethoven sich wohl nur flüchtig begegnet. Zur Verehrung des 27 Jahre jüngeren Schubert für den großen Meister, der auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stand, gesellten sich Respekt und Scheu bis hin zur Verzagtheit („Wer vermag nach Beethoven etwas zu machen?“).

Wie sehr er gleichwohl über Beethoven hinaus wollte, hinaus musste, klingt in seinen drei letzten Klaviersonaten an, geschrieben in den zwei Monaten vor seinem frühen Tod im November 1828. Schmerzlich schwanken diese Sonaten zwischen Dur und Moll, zwischen zarter Anmut und donnerndem Ausbruch. Ihre Melodien stocken, reißen oft gänzlich ab, lauschen ins Nichts hinein.

Die japanische Pianistin Mitsuko Uchida interpretiert Schuberts letzte Klaviersonaten im Konzerthaus Dortmund als Resümee einer lebenslangen Auseinandersetzung. Mit Schwung geht die Künstlerin die Sonate c-Moll D 958 an, verleiht ihr eine prasselnde Prägnanz, die Mozarts kristalline Klarheit mit Beethoven’schem Ingrimm vereint. Das entbehrt nicht einer gewissen Aggressivität, rückt den modernen Steinway-Klang indes auch an den des historischen Hammerklaviers. Uchidas Spiel klingt zupackend, aber auch nach Übungsfleiß und Exerzitien. Dass sie sich dabei überhastet, zieht leichte Fehlgriffe nach sich.

Im Kopfsatz der Sonate A-Dur D 959 wirkt diese Unruhe nach. Einigen duftig eingestreuten Skalen zum Trotz bleibt Uchidas Fingerfertigkeit überpräsent. Das Andantino bringt stille Melancholie ohne Weltschmerz. Aber im Schlusssatz gönnt die Pianistin uns eine jener Schubert-Melodien, die scheinbar leicht daher geschlendert kommen und sich doch ins Unendliche verströmen. Im Fluss dieses Legato-Spiels leuchtet das Genie des Komponisten auf, der einer ganzen Epoche mit kindlicher Unschuld den Todesstoß versetzt.

Von hier aus greift die Pianistin nach dem Höchsten. Schuberts Schwanengesang, die Sonate B-Dur D 960, breitet unter ihrem nun samtig unterfütterten Anschlag die Flügel aus. Uchida ist jetzt keine Pianistin mehr: Sie ist ein Mensch, der von Wehmut und Verzicht erzählt, von den Schmerzen unerreichten Glücks. Im Andante sostenuto öffnet sie mit jeder harmonischen Wendung neue Welten. Uchida erzählt vom Schweben über dem Abgrund, vom letzten, wehmütigen Blick zurück. Das Finale ist bei ihr die tastende Suche nach einem ungewissen Neubeginn. Das weist weit über das Klavier, weit über Schuberts Zeit, weit auch über diesen Konzertabend hinaus.

Programm des Konzerthauses: http://www.konzerthaus-dortmund.de




Lisztiana II – Wunderkind wider Willen

Die Musikwelt feiert heuer den 200. Geburtstag Franz Liszts. Das Bild über ihn scheint klar: der Frauenheld, der Tastenlöwe, zuletzt der gottesfürchtige Abbé. Doch wer war dieser Künstler wirklich? Michael Stegemann, Professor für Historische Musikwissenschaft an der TU Dortmund, weiß zu differenzieren. Hier ein Gespräch mit ihm – über Liszt den Neuerer, den Eitlen und Verzweifelten.

Franz Liszt, der Verführer und Virtuose – ist das alles, Professor Stegemann?

Natürlich nicht. Viele haben leider ein Bild über den Komponisten, das sich auf die Zeit zwischen 1830 und 1845 beschränkt und nur etwa zwei Dutzend Werke berücksichtigt. Dabei hat er mehr als 800 geschrieben.

Warum ist das so?

Liszt wurde bereits zu Lebzeiten demontiert, etwa von den publizistischen Gegnern seiner „Zukunftsmusik“. Das Publikum wiederum hat ihm nie verziehen, dass er seine Virtuosenkarriere im Alter von 36 Jahren aufgab. Und schließlich: Seine Tochter Cosima hat ihn kaltgestellt. Sie wollte ihn gegenüber Wagner bewusst klein halten. Man muss sich das vorstellen: Als Liszt in Bayreuth beerdigt wurde, erklang keine einzige Note seiner Musik, sondern nur die Richard Wagners.

Wie war Liszt eigentlich?

Er wollte nie Pianist werden. Sein Vater hat ihn in die Wunderkind-Karriere gedrängt. Natürlich hat Liszt sich später die Huldigungen gefallen lassen; er war durchaus eitel. Doch es gibt Briefstellen, in denen er sich angeekelt darüber zeigt, gewissermaßen als dressierter Affe pianistische Kunststückchen abliefern zu müssen.

Später flüchtete er in die Religion?

Nein, mit religiösen Fragen hat sich Liszt Zeit seines Lebens beschäftigt. Er war Franziskaner. Das Erlangen der niederen Weihen – seither durfte er sich Abbé nennen – war Endpunkt einer langen Entwicklung.

Was ist das Neue an Liszt, dem Zukunftsmusiker?

Er hat die klassischen Formmodelle radikal aufgehoben. Das Dur-moll-System hat er schon in seinem Frühwerk, etwa der Dante-Sonate, ausgehebelt. In seiner Programmmusik hat er poetische und musikalische Ideen verknüpft, nicht jedoch irgendwelche Bilder platt übertragen. Schließlich: Liszt hat sich mit fernöstlichen, fremden Harmonien beschäftigt. Sein Klavierwerk, das nach 1880 entstanden ist, war pures Experimentieren, für Aufführungen nicht gedacht.

Das Klavier-Festival Ruhr wird uns Liszt als Liedkomponisten vorstellen…

Ja, Gott sei Dank. Die etwa 100 Lieder, in sieben Sprachen komponiert, sind heute fast völlig vergessen. Dabei hat Liszt Texte vertont, die auch Brahms oder Schumann angeregt haben. Allein die Beschäftigung mit den Liedern reicht aus, um ein völlig anderes Bild von Franz Liszt zu bekommen.

Infos zum Klavier-Festival gibt es unter http://www.klavierfestival.de

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen).




Lisztiana I – Faustisches Ringen

Khatia BuniatishviliSie ist eine Pianistin, die keine Kompromisse kennt. Die genau weiß, was sie will. Sich hineingräbt ins Klavier, um sich mit allen gespielten Linien, Läufen oder Akkorden zu umhüllen. Wer sie auf der Bühne erlebt hat, weiß um ihre Präsenz, Kraft und Hingabe. Khatia Buniatishvili scheint introvertiert, doch die aufrauschenden oder zärtlich innigen Klänge, die sie hervorzaubert, lassen Distanz nicht zu.

Nun hat die junge Georgierin, gerade mit üppigstem Beifall bedacht zur Eröffnung des Klavier-Festivals Ruhr 2011, ihre erste Solo-CD (Sony) eingespielt. Mit Werken einzig von Liszt. Das mag den Anschein haben, die Solistin wolle stürmischen Schrittes den Gipfel des Virtuosentums erklimmen. Nichts jedoch ist falscher als das. Alles Flirren und Flittern um seiner selbst willen liegt ihr fern. Hier geht´s um die Kunst, nicht um schönen Schein.

„Das Klavier ist das schwärzeste Instrument, ein Symbol musikalischer Einsamkeit“, hat Buniatishvili einmal gesagt, und beim Hören dieser CD erweist sich der Satz als allzu wahr. Wie sich aus dunklem Fluss in größter Ruhe das Thema des 3. Lisztschen Liebestraums entfaltet, wie sich das expressive Thema zur Ekstase steigert bis zum Schmerz und am Ende alles erstarrt: Das hat viel von Leere, Melancholie.

Dahinter steckt zugleich faustisches Ringen. Die Pianistin versteht Liszt als Künstler, der nach Wahrheit strebte, in sich zerrissen war, die Liebe suchte, die er letzthin nur im Glauben finden konnte. Eindrucksvoll dokumentiert Buniatishvili dies im Booklet. Ihre Deutung etwa des 1. Mephisto-Walzers oder der weitgespannten h-moll-Sonate ist die Konsequenz dieses Denkens.

Dass sie mit großer Umsicht und unglaublicher technischer Reife zu Werke geht, sei nur am Rande bemerkt. Doch wie die Georgierin der Motorik die Sporen gibt, wie sie im Diskant messerscharf artikuliert, wie sie Phrasen, die vielleicht von Liebe zeugen, ins Leere laufen lässt, hat Seltenheitswert. Es ist, als spiele sie um ihr Leben, um uns Liszts Dasein als tragisches zu illustrieren.

Dieses Debüt ergreift, rüttelt auf, zwingt zum Nachdenken. Ein beachtlicher Einstand.

Das Programm des Klavier-Festivals, das sich ausführlich den Kompositionen Franz Liszts widmet, findet sich unter www.klavierfestival.de

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen).




Zeche Carl feiert Evil Horde Metalfest – Ruhrpott-Metal kehrt zurück ins Kulturzentrum

Erstmalig findet das Evil Horde Metalfest in der Zeche Carl statt. Was in Oberhausen startete, wird damit nun in Essen-Altenessen fortgesetzt und der Ruhrpott-Metal erhält wieder Einzug an der Stelle, an der die Reise vor mehr als 25 Jahren begann. Am 14. Mai ist es soweit. Ab 15 Uhr lautet das Motto „Metal aus dem Ruhrgebiet – von Fans für Fans“. Neben Konzerten wird es auch Lesungen und Aktionen geben. Ein Gespräch mit Veranstalter Martin Wittsieker.

Martin Wittsieker

Martin Wittsieker

Wann und wie ist die Idee für das diesjährige und damit dritte Evil Horde Metalfest entstanden?

Die Idee entstand bereits 2007. Damals hatte Jens Basten von Night In Gales und ex-Deadsoil, die Idee, ein kleines Festival auf die Beine zu stellen, um seinen 30. Geburtstag zu feiern. Das erste Evil Horde fand im Dezember selbigen Jahres im Oberhausener Druckluft statt. Seinerzeit rockten Motorjesus, Deadsoil, Butterfly Coma, The Very End und viele weitere namenhafte Bands der Ruhrgebietsszene die Hütte.

The Very End

The Very End

2008 fand es ebenfalls im Drucklufthaus statt, dann folgten zwei Jahre Pause.

Genau. Der Hauptgrund war, dass wir schlicht keine Kapazitäten hatten, um uns angemessen um die Sache zu kümmern. Wir betreiben ja auch noch unsere eigenen Bands, spielen Konzerte und feilen an beruflichen Zukunftsplänen. Ein anderer Grund ist, dass das Evil Horde bislang nicht als jährliche Veranstaltung angedacht war. Wir hoffen aber, am Samstag das Ganze erfolgreich über die Bühne zu bringen und einen Grundstein für die Zukunft des Festivals zu legen.

Und dieser Grundstein soll in der Zeche Carl gelegt werden. Warum habt ihr euch für diese Location entschieden?

Harasai

Harasai

Da das Festival unter dem Stern „Metal aus dem Ruhrgebiet“ steht, schien es uns folgerichtig das Konzert in der Zeche Carl zu veranstalten. Die Zeche ist einfach so originell wie das Ruhrgebiet selbst. Zudem ist sie eine Location, die als Spielstätte harter Sounds Tradition hat und tief in der Region verwurzelt ist.

Nachdem die alte Betreibergesellschaft vor einigen Jahren Insolvenz amelden musste, war dort in Sachen Metal leider nicht mehr viel los, was viele Leute sehr vermisst haben, da die Zeche einen unverwechselbaren Klang und Charakter besitzt. Seit einiger Zeit wird versucht den alten Gemäuern neues Leben einzuhauchen und deswegen waren Marcus Kalbitzer und die Crew der Zeche Carl auch sofort von unserem Vorschlag begeistert, das Evil Horde Metalfest dort wieder aufleben zu lassen.

Motorjesus

Motorjesus

Ihr konntet hochkarätige Bands, wie zum Beispiel Motorjesus als Headleiner, verpflichten. Wie habt ihr die Musiker für das Festival begeistert?

Wir wollten die aktuell besten und umtriebigsten Bands aus dem Ruhrgebiet zusammentrommeln. Dies hat sich als relativ leicht herausgestellt, da so gut wie alle auftretenden Bands seit Jahren ein freundschaftliches Verhältniss untereinander pflegen – sowohl auf privater als auch auf professioneller Ebene. Dass das Ganze in der guten alten Zeche Carl, der wohl schösten und geschichtsträchtigsten Location für Stahl und Leder stattfindet, ist natürlich auch ein absoluter Pluspunkt. Denn: Wer möchte nicht auch mal die Bühne beackert haben, auf der etwa Kreator und Sodom erwachsen geworden sind?

Night In Gales

Night In Gales

Mit wie vielen Besuchern rechnet ihr?

Das können wir leider nicht genau sagen. Wir haben bewusst auf einen Vorverkauf verzichtet, um den Charakter des Selbstgemachten zu erhalten und das lokale Publikum nicht unter Druck zu setzen. Aber von mindestens 250 Leuten gehen wir aus, irgendwas zwischen 300 und 400 zahlenden Gästen wäre schön! Die alte Kaue, in der die Bands spielen werden, hat ein Fassungsvermögen für zirka 550 Leute.

An dem Tag werden elf Bands zu sehen sein. Der Eintritt ist mit fünf Euro günstig.

Final Depravitiy

Final Depravitiy (Pressefoto)

Es geht uns vor allem darum in einem großen Miteinander für alle Beteiligten einen schönen Abend zu bewirken, von dem wirklich alle profitieren können. Egal ob es das Publikum ist, das für kleines Geld enorme Qualität zu Gesicht bekommt oder eben die Bands, die dank kleinem Eintritt vor mehr Publikum spielen, als es lokal leider mittlerweile üblich ist.




Das pralle Leben: Dortmunder Konzerthaus-Saison 2011/12

Die Farbe des neuen Programmbuchs des Dortmunder Konzerthauses ist rot. Doch keine knallig monochrome Fläche leuchtet uns entgegen, vielmehr bilden sich in feinster Farbabstimmung Gebilde wie Blutkörperchen. Auch auf den Innenseiten sind sie immer wieder zu sehen. Zwischen all den berühmten Dirigenten, Geigerinnen oder Sängern, die sich in der Saison 2011/12 die Ehre geben werden. Die Botschaft: Das Haus lebt.

Intendant Benedikt Stampa drückt das so aus: „Wir wollen uns mehr und mehr in der Stadt verankern und ein Musik-Milieu schaffen.“ Bewusst habe man noch einmal an der Programmschraube gedreht, um nicht nur Gewohntes und Beliebtes zu präsentieren, sondern auch Außergewöhnliches, besondere Werke sowie bemerkenswerte Interpreten.

Neu ist Stampas Ziel, der Urbanität ein starkes künstlerisches Flair beizumengen und dem Publikum gewissermaßen ein Identifikations-Angebot zu machen, natürlich nicht. Schon über Jahre propagierte etwa Kulturdezernent Jörg Stüdemann die Musikstadt Dortmund. Auf dem Weg dorthin waren der Bau des Konzerthauses und später des Orchesterzentrums wichtige Ereignisse. Inzwischen aber hat Stampa es vermocht, das Profil seiner Wirkungsstätte deutlich zu schärfen.

Quantitative und qualitative Vergleiche mit den Philharmonien in Köln und Essen, mit der Düsseldorfer Tonhalle, mögen in diesem Zusammenhang müßig sein. Das exklusive Pop-Abo allerdings, die Konzeption der Reihe „Junge Wilde“ oder die Zeitinseln sprechen in Dortmund eine ganz eigene Sprache.

Der eigentliche Coup aber ist die Verpflichtung des vielseitigen, experimentierfreudigen Dirigenten und Komponisten Esa-Pekka Salonen als Exklusivkünstler. Im September 2010 hatte diese Residenz, die sich über drei Jahre erstreckt, u.a. mit einer von Video-Installationen begleiteten „Tristan“-Aufführung begonnen. Dieser Linie, Musik zu visualisieren, wird er auch in der kommenden Konzerthaus-Spielzeit treu bleiben. Seine Multimedia-Installation „re-rite“, bezogen auf Strawinskys Ballettmusik „Le sacre du printemps“, zieht für vier Wochen ins Dortmunder U. Halbszenisch ist unter Salonens Stabführung Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg“ zu sehen. Und nicht zuletzt wird das Publikum mit mehreren Werken des finnischen Dirigenten  Bekanntschaft schließen dürfen.

„Wir sind breit aufgestellt“, sagt Benedikt Stampa und verweist auf einen Werkkanon, der von mittelalterlicher Marienmusik bis zu „Lichtes Spiel“ des Zeitgenossen Wolfgang Rihm reicht. Dahinter verbirgt sich zumindest eine kleine Sensation: Denn keine Geringere als Anne-Sophie Mutter wird dieses „Sommerstück“ für Violine und Kammerorchester in deutscher Erstaufführung präsentieren. Mutter und die Moderne – das ist ein spannendes Kapitel, das uns bisher vorenthalten blieb.

Alle näheren Informationen zur Konzerthaus-Saison 2011/12 gibt es unter www.konzerthaus-dortmund.de




Schumann-Abend in Essen: Ans Herz gedrückt, ans Herz gelegt

Zum gestrigen Schumann-Abend
des Pianisten András Schiff und seiner musikalisch kongenialen Freunde in der Philharmonie Essen

Wann hat man schon die ausgiebige Gelegenheit, an einem Abend nur Lieblingswerke zu hören? Wann schon die Gelegenheit, mehr als 150 Jahre alte Werke ein und desselben Komponisten zu hören und sie dennoch allesamt zu keiner Sekunde ihrer hellstwachen Darbietung als alte Musik zu empfinden? Nein, Schumann war durchweg ganz nah und ganz gegenwärtig. Ob nun beim Klavierquartett op. 47 oder beim Eichendorff- Liederkreis op. 39. Oder ob nach der 1. Pause bei Schumann-Heines „Dichterliebe“ op. 48 bzw. nach der 2. Pause beim abschließenden (wie alles zuvor) ganz großartig (oder doch noch etwas besser?) gespielten Klavierquintett op 44.

Bei all diesen Werken war umsichtig und maßgeblich – so feinfühlig kammermusikalisch wie ggf. energisch bestimmt – András Schiff beteiligt, ohne sich in Szene zu setzen, jederzeit allenfalls primus inter pares bleibend, der Erste unter Gleichen, der Erste mitten unter den (Schiffs eigenem Gestus nach) ihm Ebenbürtigen. Besonders kennzeichnend für ihn scheint mir seine spontane Geste zu sein unmittelbar nach dem auf die Darbietung der „Dichterliebe“ folgenden 2. Applaus: kurz entschlossen nahm er die Partitur beim Abgang von dem Podium mit und drückte sie ununterbrochen an sein Herz, bis die Tür sich hinter ihm schloss. So, als demütigen Diener großer Musik sieht er sich; den Applaus verdiene primär vor allem sie selber, die Musik als Komposition, scheint er uns, den ihm und dem Sänger Applaudierenden, zu sagen, wenn sie als Musik tatsächlichlich so groß und so bedeutend ist wie die eigens für diesen Abend ausgewählten Kompositionen des wohl zu oft immer noch unterschätzten Robert Schumann. Indem er Schumanns Partitur der „Dichterliebe“ demütig-selbstbewusst an sein Herz drückte, legte er uns Hörern die Musik Robert Schumanns ans Herz. Aber dafür waren wohl die allermeisten ohnehin schon gewonnen. Am Schlussbeifall nach dem Klavierquintett wurde dies überdeutlich: massierter, mehrfacher und lange anhaltender Applaus des gesamten Auditoriums, in standing ovations für die Künstler mündend. Dabei war es schön, zu beobachten, wie sich schon vor diesem Applaus die unerhört engagiert spielenden, sich durchweg optimal aufeinander einstellenden Künstler erkennbar selber über ihr Gelingen freuten.

Alle Künstler dieses Sternstundenabends verdienen es namentlich genannt zu werden: für den Eichendorff-Liederkreis Ruth Ziesack, Sopran; für den Heine-Liederzyklus Hanno Müller-Brachmann, Bariton. Für das Quartett Es-Dur für Klavier, Violine, Viola und Violoncello (op. 47) Yuuko Shiokawa, Violine, Hariolf Schlichtig, Viola und Christoph Richter, Violoncello. Beim Klavierquintett Es-Dur, op. 44 gesellte sich als zweite Geigerin noch Ulrike-Anima Mathé hinzu. Und überall dabei – als primus inter pares, wie gesagt – war: András Schiff, Klavier.

Selten genug, dass man diese beiden großartigen Liederzyklen Robert Schumanns an ein und demselben Abend hören kann! Und noch dazu umrahmt von so herrlichen, den Liederzyklen ebenbürtigen Werken wie das Schumannsche Klavierquartett und -quintett!

Bald – am 15. Mai nämlich – können wir, wir im Ruhrgebiet zumindest, diese beiden Liederzyklen an einem einzigen Abend abermals hören, in einer anderen, ganz sicher ebenfalls sehr hörenswerten Darbietung. Auf diesen Tag nämlich wurde das letzte Kammerkonzert mit dem Dirigenten Jonathan Darlington als Pianisten verlegt, weil das eigentlich für den 10. April vorgesehene Konzert mit dem Tenor Christoph Prégardien wegen dessen plötzlicher Erkrankung leider nicht stattfinden konnte. So freuen wir uns nach der gestrigen Sopran- und Bariton-Darbietung der beiden Schumann-Liederzyklen auf eine weitere mit einem so exzellenten Tenor wie Christoph Prégardien und auf eine neuerliche Begegnung mit diesen uns von András Schiff so nachdrücklich ans Herz gelegten Werken.




Vorfreude: Bamberger Symphoniker in Essen

Ahnen konnte ich es schon, dass man sich auf diese Gastkonzerte am 28. Mai und am 21. Oktober 2011 in der Essener Philharmonie wirklich freuen darf; dann nämlich, wenn die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jonathan Nott jetzt bald Gustav Mahlers 7. Symphonie und im Oktober Mahlers Vierte und Schuberts „Unvollendete“ aufführen werden. (Nebenbei: Jonathan Nott wird am 17.02.2012 noch einmal nach Essen kommen, zwar mit einem anderen Orchester, nämlich dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, aber wieder mit einer Symphonie Gustav Mahlers, dann mit der Zweiten.)

Inzwischen habe ich bemerkt, dass bei Tudor bereits eine beträchtliche Anzahl von CDs veröffentlicht worden sind, die die langjährige gute Zusammenarbeit der Bamberger Symphoniker mit ihrem derzeitigen Chefdirigenten eindrucksvoll bekunden. Die Mahler- und Schubert-Aufnahmen ziehen mich dabei besonders an, dennoch habe ich die Mahler-Aufnahmen vorerst noch ausgespart, um mich zunächst ganz auf den ja recht bald möglichen Live-Eindruck einlassen zu können. Da im Oktober Schuberts „Unvollendete“ und nicht die Große C-Dur-Symphonie auf dem Programm stehen wird, habe ich bei letzterer nicht länger gezögert. Seit meiner ersten Bekanntschaft mit dieser Symphonie zählt sie unbedingt zu den mir liebsten. Meine allererste Aufnahme war die auf einer Heliodor-Schallplatte mit Eugen Jochum und dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Die vermochte mich sofort zu begeistern. Dennoch habe ich es mir nie nehmen lassen, gerade diese Symphonie unbedingt nur in voraussehbar guten Aufnahmen zu hören. Über Wilhelm Furtwängler, Karl Böhm, Sergiu Celibidache, George Szell, Günter Wand, Michael Gielen, John Eliot Gardiner und Charles Mackerras … kam da schon eine beträchtliche Reihe von guten, ja sehr guten Aufnahmen zustande – zu der ich nun die überaus gut durchhörbare, klangvolle Neuaufnahme der Bamberger Symphoniker unter Nott ohne zu zögern hinzufügen kann.

Zwar sei zuzugeben, dass ich bei erstrangigen Aufnahmen diese nur selten akribisch untereinander vergleiche; immerhin mag es schon ein Kriterium sein, dass ich beim Anhören einer bestimmten Interpretation mich nicht gleich schon wieder nach einer bestimmten mir bereits bekannten zurücksehne, sondern die je eigene Nuancierung der gerade von mir gehörten zu schätzen weiß und mich ihr ganz überlasse. Und bei der CD der Bamberger war es genauso; beim Hören habe ich zu keinem Zeitpunkt irgendetwas bereits Vertrautes vermisst. Im Gegenteil: Es handelt sich ganz sicher um eine Interpretation, die auch einen etwaigen Ersthörer dieser Symphonie für diese sofort gewinnen, ja erobern könnte.

Auch mit zwei anderen in der gleichen Koppelung von Dirigent und Orchester eingespielten CDs bin ich vollauf zufrieden, ja von der jeweiligen Aufnahme geradezu angetan: von Igor Stravinskys „Le Sacre du Printemps“ … und Leoš Janáčeks „Sinfonietta“ … . Außerdem habe ich unlängst per Zufall einen Ausschnitt aus dem zur Zeit anscheinend laufenden Beethovenprojekt Notts mit seinem bewährten Bamberger Orchester mitbekommen: Im Sender Deutschlandradio Kultur wurde gerade die Eroica gegeben, eine neue Aufnahme, die mich aufhorchen ließ.




Oper Dortmund: Zauber des Neuanfangs

Nach dem eiligen Weggang der bisherigen Dortmunder Opernchefin Christine Mielitz will der designierte Nachfolger, Jens-Daniel Herzog, den Blick des Publikums zu neuen Ufern lenken, weil doch die alten Gestade kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervorlocken.

Denn dass das Musiktheater, von den tüchtigen Erfolgen des Balletts einmal abgesehen, oft nur noch zur Hälfte gefüllt ist, gehört längst zum kulturpolitischen Allgemeinwissen. Mielitz, mit großen Erwartungen nach Dortmund geholt, hat darauf allerdings nicht das alleinige Recht. Wer weiter zurückblickt, mag sich an John Dew erinnern, der das Publikum auch nicht gerade in Scharen anlocken konnte – um es vorsichtig auszudrücken.

Jens-Daniel Herzog will sich also der Aufgabe stellen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, die Menschen wieder ans Haus zu binden. Dabei will er klotzen: Zehn Premieren gibt´s in der kommenden Saison auf der Opernbühne. Zehn Werke, die allesamt Bezug nehmen auf den Verlauf der Gattungsgeschichte, angefangen vom Barock bis hin zum Beginn der Moderne. Das klingt für sich gesehen nach bunter Beliebigkeit – Herzog selbst sagt „Oper für alle“. Aber der neue Mann denkt auf fünf Jahre voraus (so lange währt zunächst einmal sein Vertrag).

Konkret: Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ zum Beginn der Spielzeit ist zugleich Auftakt für eine Wagner-Reihe, über die Jahre gesehen. Francesco Cavallis „L’Eliogabalo“ eröffnet eine barocke Serie, in historischer Aufführungspraxis. Bellinis „Norma“ steht für Belcanto, Mozarts „Cosi fan tutte“ für die weitere Beschäftigung mit dem Genius, Operette und Musical dürfen nicht fehlen, Berthold Goldschmidts Rarität „Beatrice Cenci“ läutet den Moderne-Reigen ein usw.

Das neue Profil der Oper Dortmund muss sich also nicht erst finden, es ist schon da. Die Historie gibt den Weg vor. Spannend bleibt indes, wie sich alles mit Leben füllt, wie sich ein beinahe komplett neuformiertes, etwa 25 Köpfe starkes Ensemble, den Aufgaben stellen wird.

Interessant ist aber auch, dass Herzog in Zukunft solch ein üppiges Premieren-Konvolut beibehalten will. Das funktioniert indes nur, weil annähernd jede Produktion privat gesponsert wird. Zudem will man sie, nach einer gewissen Laufzeit, möglichst an andere Häuser verkaufen – sei es gegen Bares oder im Austausch. Absprachen mit Mannheim, Erfurt oder Kassel gibt es da bereits, selbst eine Kooperation mit den Schwetzinger Festspielen hat Herzog auf den Weg gebracht.

Wichtig aber ist, was dabei herauskommt. Wird man das Publikum, über die Phase der Neugier hinaus, halten können (Christine Mielitz ist nicht zuletzt daran gescheitert)? Vieles dürfte an Herzogs Außenwirkung hängen. Immerhin: Mit seinem Verweis auf die Wagner-Tradition des Hauses, in Verbindung mit dem Namen Horst Fechner, dem bis heute verehrten ehemaligen General-Intendanten, hat Herzog geschickt den Blick auf bessere Theaterzeiten gelenkt. Und wer während der Programmvorstellung genau hingehört hat, wie die anderen Spartenleiter schon jetzt Herzogs integrative Fähigkeiten lobten, mag tatsächlich an Aufbruchstimmung glauben. Hoffentlich wirkt der Zauber des Anfangs auch noch in ein paar Monaten.

Das genaue Programm findet sich auf der Homepage des Theaters unter www.theaterdo.de




Essener Philharmonie: Hoffnung auf Glücksgefühle

Als im Juni 2004 der alte Essener Saalbau, entkernt und als Philharmonie zu neuem Glanz gekommen, seine Pforten wieder öffnete, versprach Gründungsintendant Michael Kaufmann “reihenweise Glücksgefühle”. Da sollte der Zauber des Anfangs möglichst lange halten, doch der forsche, selbstbewusste, für die Musik brennende Kaufmann musste schon 2008 seinen Hut nehmen. Wegen Überziehung des Etats, wie es offiziell hieß.

Seitdem ist Johannes Bultmann der Chef des Hauses, in seiner Ruhe gediegen, wie ein emotionsloser Verwalter eines Kunstbetriebes wirkend. Gleichwohl verbirgt sich hinter dieser Zurücknahme unbedingtes Engagement. Mit Bultmann mag eine Art neue Sachlichkeit in die Philharmonie eingezogen sein, doch das Ziel, einem breiten Publikum vielfältige Klangwelten zu erschließen, ist ihm gewichtiges Anliegen.

Jetzt hat Bultmann das Programm der Saison 2011/12 vorgestellt – dabei mit den Worten Sensation oder Star äußerst sparsam umgehend. Überhaupt leitet er Konkretes vom Allgemeinen ab, spricht zunächst von der Motivation des Philharmonie-Teams, von einigen Grundprinzipien, was die Auswahl der Künstler angeht. Sätze wie “Wir legen Wert auf Qualität”, oder “Wir wollen Interpretation statt mechanisches Abspulen von Musik” klingen ein wenig nach Allgemeinplatz. Doch dann wendet sich der Analytiker unter den Intendanten dem Publikum zu, redet über Kommunikation, Dialog und Partizipation.

Hehre Worte, die indes in Verbindung mit konkreten Beispielen greifbare Bedeutung gewinnen. Da sei etwa die Residenz von Sol Gabetta genannt: Die argentinische Cellistin wird nicht nur vier Konzerte geben, sondern auch zwei Meisterklassen an der Essener Folkwang Universität. Oder nehmen wir den Neue-Musik-Schwerpunkt “Now!”, der die amerikanischen Minimalisten Steve Reich und John Adams, den Aleatoriker John Cage sowie Frank Zappa vorstellt. Hier soll das Publikum an einem Abend selbst zum Komponisten werden.

Bultmanns Anliegen ist, mit neuen Formaten den starren Konzertbetrieb ebenso aufzubrechen wie unsere Hörgewohnheiten. So wollen sich das Kuss Quartett und das Stadler Quartett auf einen Dialog einlassen, indem sie beide dieselben Werke (von Mozart und Beethoven) spielen und über ihre musikalischen Vorstellungen sprechen – ein Interpretationsvergleich auf offener Bühne.

Bald wird klar: Bultmann meint längst nicht mehr ausschließlich Kinder und Jugendliche, wenn er zum Thema Education spricht. Natürlich werde weiterhin mit Schülern gearbeitet. Doch ebenso gebe es eine Kooperation mit der Universität Duisburg/Essen. Und genauso intensiv will der Intendant den Blick auf die Erwachsenen richten. Mit Werkeinführungen, die die Interpreten selbst im großen Saal der Philharmonie anbieten, oder mit Künstlerbegegnungen.

Das summiert sich über die Saison auf etwa 110 Konzerte. Themenreihen widmen sich den Komponisten Franz Schubert und Gustav Mahler, dem Lied, der Alten Musik, dem hoffnungsvollen Interpreten-Nachwuchs. Den Knaller aber, um es ein wenig salopp auszudrücken, präsentiert Bultmann beinahe zuletzt: Zur Saison-Eröffnung am 6. September wird Christian Thielemann mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden Anton Bruckners monumentale 8. Sinfonie aufführen.

Der Dirigent ist nur ein Beispiel im Reigen bedeutender, ja berühmter Interpreten, deren Aufzählung hier Seiten füllen würde. Wir dürfen sie mit Spannung erwarten und hoffen, dass sich beim Hören auch das eine oder andere Glücksgefühl einstellt.

Detaillierte Einblicke ins neue Programm gibt es unter www.philharmonie-essen.de




Musikstreiflicht (1): Kerzenlos gute Musik

Vor kurzem wurde in der Essener Philharmonie das in der laufenden Spielzeit letzte Konzert der Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ gegeben. Wer die noch weiter gehende Abo-Reihe 3 „Erlesene Ensembles“ gebucht hat, konnte wegen einmaliger, ausnahmsweiser Überschneidung beider Abo-Reihen dieses Konzert ebenfalls mitbekommen. So war das in meinem und meiner Frau Falle auch. Allerdings: Mich hätte das Konzert auch dann interessiert und mir hätte es auch dann mindestens so gut gefallen, wenn es bei anderer Beleuchtung stattgefunden hätte. Und ich gebe auch zu, dass mich der Reihentitel „Alte Musik bei Kerzenschein“ nicht besonders angezogen hat. Mir kommt es immer nur auf die Qualität der Musikdarbietung selber an. (Die übrigens überzeugend stark vorhanden war.) Und Atmosphäre hat die Essener Philharmonie auch so schon. Gewiss ist es aber so, dass so manchen anderen gerade diese wohlbedachte Koppelung von „alter Musik“ und „Kerzenschein“ besonders angezogen haben mag, ob nun anheimelnd oder pseudoromantisch oder pseudonostalgisch. Dennoch: Werbetrick hin oder her, was zählt, ist der Umstand, dass wieder einmal im Revier so gute Musik mit hinlänglichem Besucher…zustrom auf höchstem Niveau zu Gehör gebracht werden konnte.

Auch die halbstündige Einführung unmittelbar vor dem Konzert durch den Orchesterleiter Andrea Marcon – unter anregend instruktiver Zuhilfenahme des Orchesters – ist ganz besonders hervorzuheben. So viel Sachkunde und so hohem Übermittlungsgeschick begegnet man selten. Hauptsächlich Vivaldi, aber auch Tartini und Carl Philipp Emanuel Bach waren die Komponisten des Abends. Mehrfach – will sagen: in 3 Cellokonzerten und einem für 2 Celli, Streicher und Basso Continuo – durfte Gautier Capuçon als Solist glänzen, ohne dass man sagen dürfte oder müsste, dass die Solisten des Ensembles in irgendeiner Weise gegen ihn qualitativ abgefallen wären. Einmal, beim aufbrandenden Applaus unmittelbar nach dem Ende eines dieser Cellokonzerte konnte der Dirigent den Solisten gerade noch vor einem gefährlichen Sturz mitsamt dem Cello bewahren, als dieser nämlich im Halbdämmer des Kerzenscheins beim Verlassen des Podiums urplötzlich ins Straucheln geraten war. –




Schlingensief: Erst kommt das Chaos des Lebens

Der Regisseur Christoph Schlingensief ist mit 49 Jahren an Krebs gestorben. Im November 2006 hatte er einen nunmehr doppelt denkwürdigen Auftritt im Dortmunder Konzerthaus. Dieser zwangsläufig noch nicht pietätvolle Artikel des jetzt trauernden B. B. stand am 15.11.2006 in der Westfälischen Rundschau und lässt vielleicht ein wenig ahnen, wie vital und springlebendig Schlingensiefs irrlichternder Geist gewesen ist. So viele überschießende Ideen wie er haben jedenfalls nur wenige Menschen. Längst nicht alle hat er ins Werk setzen können.

Dortmund. Konzerthauschef Benedikt Stampa hat das Publikum gewarnt: Heute werde es kulturell „ans Eingemachte“ gehen. Kein leeres Versprechen. Denn der Mann, der danach die Bühne betritt, ist Christoph Schlingensief. Dieser umtriebige Aktionskünstler, Theater- und Filme-Macher („Terror 2000“) gilt vielen als „Provokateur“ und „Enfant terrible“ der Szene. Wegen des enormen Andrangs ist der Auftritt (in der Reihe „Lektionen zur Musikvermittlung“) vom Foyer in den großen Saal verlegt worden.

Schlingensief (46) ist gebürtiger Oberhausener – wie Hape Kerkeling. Noch so ein witziger „Entlarver“. Kommt ‚rein, wirft Rucksack und Jacke achtlos hin, entert wie im Handstreich das Rednerpult. Eine Performance beginnt. Schlingensief spricht ohne Punkt: über Gott, Gesellschaft, Kindheit, Welt. Erst kommt das Leben mit Urängsten, Urantrieben. Dann vielleicht Kultur. Zum Schluss die blöden Kritiker.

Oft macht er den Klassenkasper, doch stellenweise erinnert er an einen sendungsbewussten Power-Prediger, freilich um Selbstironie bereichert. Schlingensief als „Maschinengewehtr der Anarchie“? Mit Chaos und Taumel ist er jedenfalls per Du. „Deswegen mögen mich Leute mit Bausparvertrag nicht.“ Das Leben sei nun mal ungeordnet und rasch vergänglich. In sieben Jahren (so führt er ein Zitat von Joseph Beuys fort) könne sowieso alles zerstört sein, dann gebe es statt des Konzerthauses vielleicht wieder den Drogenstrich…

Und inhaltlich? Schwer zu sagen. Ein paar Vorlieben und Abneigungen kristallisieren sich jedoch heraus. Alle Wege, die geradeaus führen sowie einfach belichtete Filme, Menschen und Dinge sind Schlingensief ein Graus.

Schluss mit den Festlegungen! Her mit den vielfach überblendeten, undeutlichen Verhältnissen; mit dunklen Momenten zwischen den (Film)-Bildern. Oder mit dem Übermaß, in dem man sich vor andrängenden Bildern nicht mehr retten kann. Hier geschehe, ob in Kunst oder Leben, das wahrhaft spannende.

Sein manischer Redefluss gefällt nicht jedem. Alsbald stürzt ein erboster Herr aus dem Saal und ruft Schlingensief zu: „Machen Sie weiter mit Ihrem Geschwätz!“ So nennt er, was durch den kreativen Kopf kreist und schnell zur Zunge drängt. Dabei hat Schlingensief etliches erlebt und gelesen. Ganz gewiss kein Dummkopf, sondern einer, der aus Wirrnis munter schöpft. Einer, der sich alle (Narren)-Freiheit nimmt und das wilde Denken zelebriert.

Zudem ist er ein Entertainer, begabt auch fürs spontane Impro-Theater. Wie er den Stil der Dirigenten von Bayreuth (Boulez, Thielemann) parodiert, wo er als Regisseur den „Parsifal“ in Bilderfluten getränkt hat! Übrigens: Auch Richard Wagner sei unsteter Chaot gewesen und somit lebensnah.

Wenn Schlingensief durch assoziative Achterbahnen saust, von Wagner auf seine eigenen Eltern, Marihuana und katholische Demut kommt, dann blitzt es zuweilen – oder läuft ins Leere. Egal.

Den Spruch, er sei ein „Provokateur“, mag Schlingensief nicht mehr hören: „Wenn ich einer bin, was sind dann die Politiker?“ Für den wohlfeilen Satz gibt’s Szenenapplaus.

Schließlich noch sein kurzer Dialog mit Holger Noltze, der den Dortmunder Studiengang „Musikjournalismus“ leitet und tapfer versucht, Schlingensiefs Gedanken ein wenig zu sortieren. Zwecklos.

(Bild: Schlingensief bei der Verleihung des Nestroy-Preises, 2009 – Copyright Manfred Werner/Tsui – Wikipedia Creative Common Lizenz)




Musiker-Anekdoten: Mi-mi-mi-mausetot

Man denke nur: Auch den großen Musikern entfährt schon mal ein Fluch – oder es unterläuft ihnen sogar ein falsches Tönlein. Und die Tücke des Objekts (Instrument, Aufnahmetechnik) kommt immer mal wieder der hehren Kunstanstrengung in die Quere. Teufel auch!

Ein neues (das abertausendste?) Buch mit „Musiker-Anekdoten“ strotzt nur so vor lauter lauen „Ach was!“-Effekten, verabreicht unter heftigem „Augenzwinkern“. Es zeugt damit offenbar vom allgemeinen Übelstand der vermeintlich humorigen Gattung: Solche Anekdoten sind nicht nur überwiegend fade, sie sind tot. Mausetot. Röchelnd und rasselnd atmen sie den Geist einer Zeit, als Sänger noch unentwegt „Mi-mi-mi“ machten und als sich überhaupt Musikant wie Musikus klischeegerecht zu verhalten hatten.

Mal ein beliebiges Beispiel:

„Karl Böhm kam 1980 nach einem Liederabend, den Dietrich Fischer-Dieskau in der New Yorker Carnegie Hall gegeben hatte, in die Garderobe des Sängers und sagte: „Darf man denn so schön singen? Und rauchen tun Sie auch noch!“

Hehe. Nein, da fehlt nichts. Das war’s bereits. Bitte j e t z t schmunzeln oder lachen! Köstlich, oder etwa nicht?

Bleiben wir bei der traurigen Wahrheit: Das Zitat ist vergleichsweise noch wohltuend kurz. Meist werden die schmalen Sachverhalte langatmiger, tapsiger und treuherziger erzählt. Die Haltung aber ist typisch: Insgeheim bebend vor Ehrerbietung, was die bloßen großen Namen anbelangt. Dazu passt das nervtötende name dropping (hier: Böhm, Fischer-Dieskau, Carnegie), eine angebliche Beglaubigung durch die Nennung der Jahreszahl – und eine derart schwachbrüstige, ja schwindsüchtige „Pointe“, dass Gott erbarm.

Noch eine gefällig? Was richtig Schlagfertiges? Bittschön:

„Als Michael Gielen mit den Wiener Philharmonikern ein Stück moderner Musik probte, hörte er einen der Musiker murren: „Mein Gott, der ist aber präpotent!“ Gielens Antwort: „Immer noch besser als impotent.“

Da schweigt, wie man früher übers musikalische Metier hinaus zu sagen pflegte, des Sängers Höflichkeit.

Die Beispiele sind wahrhaftig keine extremen „Ausreißer“ nach unten, sie halten in etwa noch die wacklige Mittellage. Man findet hier noch weitaus umständlichere, betulichere, tranigere Passagen. Die Kollektion scheint sich ohnehin zufällig gehäuft zu haben. Die vor allem nach Instrumenten (Bläser, Streicher, Pianisten, Organisten) gruppierte Auswahl lässt ansonsten kaum ordnende Struktur oder Leitgedanken erkennen. Das akribische Namensverzeichnis im Anhang riecht auch deshalb nach vergeudetem Fleiß.

Ermüdend geht es Seite um Seite. Die mitunter gravitätisch stolzierende Sprache kann nicht verbergen, dass hier kaum tiefere Erkenntnisse zu gewinnen sind. Vielfach handelt es sich nicht einmal um Anekdoten im eigentlichen Sinne, sondern um reichlich angestaubte Kuriosa oder um schlichte Kurzmeldungen, bekannte und berühmte Musiker betreffend. So erfährt man (beileibe nicht zum ersten Male), dass Leonard Bernstein ein Hallodri und Franz Liszt ein wilder Gesell’ gewesen sein muss, welcher hin und wieder Klaviere ramponiert hat. Potztausend! Übrigens: Urheber und Interpreten experimenteller Musik stehen in diesem kläglich gestrigen Kontext fast immer im Ruch des Übergeschnapptseins. Aus welcher Zeit diese reaktionäre Denkungsart wohl herrühren könnte?!

Manche mühevollen Witzchen sind zudem von zweifelhafter, ranziger Komik. Etwa „Karajans trockener Kommentar“ (Zitat) über eine Beschwerde des Paukisten Werner Thärichen, der fand, seine Sitzposition bei einer Aufführung sei zu sehr dem Orchester-Lärm ausgesetzt. Und nun aber Karajan: „Das hätten Sie sich früher überlegen müssen, ob Sie zur Artillerie gehen wollen!“

Ja, so haben sie wohl einst geklungen – die von ganz oben herab ausgeteilten Kasino-Scherze eines sattsam bekannten Herrenreitertums…

„Fortissimo“. Musiker-Anekdoten. Herausgegeben von Friedrike C. Raderer und Rolf Wehmeier. Reclam Verlag, Stuttgart. 96 Seiten. 6,90 Euro.




Den Unmut erst am Schluss bekunden – Benimm-Experte Uwe Fenner über richtiges Verhalten in Oper, Theater und Konzert

Von Bernd Berke

Dortmund. Einen „Knigge“ für Theater und Oper – gibt es das überhaupt noch? Oder darf man sich heutzutage in allen Bühnenhäusern ganz leger betragen? Nicht schrankenlos, sagt der Benimm-Experte Uwe Fenner (65), mit dem die WR gesprochen hat. Wir protokollieren seine Ratschläge:

Wie sieht die „Kleiderordnung“ für die Oper aus?

Fenner unterscheidet nach Ort und Anlass. In der Münchner Staatsoper beispielsweise, „wo 90 Prozent der Männer Smoking tragen“, solle man sich möglichst anpassen. „Ein dunkler Anzug mit Krawatte ist das Mindeste.“ In anderen Opernhäusern, etwa in Berlin, seien die Sitten nicht ganz so streng. Doch auch hier sei ein Anzug ratsam. Faustregel: „Der wahre Gentleman bewegt sich immer etwas oberhalb des Durchschnitts – aber auch nicht zu sehr.“ Gleiches gelte für die Dame von Welt.

Und was darf man im Sprechtheater anziehen?

Hier sind die Stil-Maßstäbe sehr viel lockerer. Das Publikum ist meist jünger als in der Oper, Jeans können statthaft sein. Aber: „Der Banker in mittleren Jahren, der abends ins Theater geht, sollte dort den Anzug beibehalten – gelegentlich auch einmal ohne Krawatte.“

Was ist von tiefen Dekolletés zu halten?

Besonders in der großen Oper sind derlei Einblicke laut Fenner „durchaus in Ordnung“. Die Grenze liege dort, wo es schamlos und obszön werde. Angela Merkels seinerzeit viel beredeter tiefer Ausschnitt in der Oper von Oslo sei durchaus schicklich gewesen.

Wie verhält es sich mit der Parfümierung?

Die Dame, so Fenner, dürfe getrost mehr auflegen, der Herr solle dezent vorgehen.

Wie pünktlich sollte man zur Vorstellung erscheinen?

Nicht zu früh im Zuschauerraum sein, sonst muss man nachher ständig für die Anderen aufstehen – und das könnte denen womöglich peinlich sein. Fenner: „Das ist überhaupt eine Grundregel: Man sollte anderen Menschen Peinlichkeiten ersparen.“ Erst recht aber soll man nicht zu spät kommen. Falls man einen Platz in der Mitte hat, müssen dann viele Leute aufstehen. Allgemein gilt: Wer durch eine weitgehend besetzte Zuschauerreihe geht, soll seinen Mitmenschen dabei das Gesicht zuwenden. Anders herum betrachtet: „Den Po zur Bühne.“

Und wenn die Vorstellung schon begonnen hat?

Wer erst eintrifft, wenn die Aufführung läuft, sollte möglichst bis zur ersten Pause im Foyer warten oder (wenn die Logenschließer es zulassen) allenfalls den Zuschauerraum leise betreten und an der Seite stehen bleiben – sich aber nicht durch die Reihe quälen.

Wie sieht’s mit Speisen und Getränken aus?

Grundsätzlich nicht im Zuschauerraum. Zum Essen und Trinken sind die Pausen vorgesehen. Auch Kaugummi sei tabu. Erlaubt und manchmal sogar wünschenswert: Hustenbonbons.

Was ist vom Tuscheln in der Vorstellung zu halten?

Gar nichts. Fenner: „Meine Meinungen und Mitteilungen sollte ich bis zur Pause für mich behalten.“ Und wenn man Bekannte hinten in Reihe 18 grüßen will? Nur vor der Vorstellung: Nicht rufen, sondern winken – und mit Handzeichen zur Pause verabreden.

Sind Beifall oder Buhrufe auf offener Szene erlaubt?

Im klassischen Konzert gar nicht. Da sollte man warten, bis das Stück vorüber ist. Also: Nicht zwischen zwei Sätzen einer Sinfonie jubeln! Anders in der Oper: Dort ist es üblich, nach einer bravourösen Arie Beifall zu spenden. Etwaigen Unmut sollte man immer erst nach Schluss der Aufführung äußern. Wenn der Vorhang gefallen ist, darf auch gebuht werden. Fenners extremste Erfahrung: „Einmal hat im Theater eine ältere Dame neben mir gesessen, die hatte eine Trillerpfeife dabei – und hat sie benutzt.“

Wann darf man das Theater verlassen?

Nicht bevor der letzte Beifall verklungen ist, meint Uwe Fenner. Es sei eine Unart, sich vorzeitig durch die Reihen hinauszuzwängen, um rasch die Garderobe oder den Parkplatz zu erreichen.

Wie geht man im Theater mit Handys um?

Überhaupt nicht! Unbedingt ausschalten! „Kluge Intendanten blenden vor der Aufführung ein Dia oder eine Durchsage ein, damit niemand das Abschalten vergisst.“

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ZUR PERSON

Stil-Fachmann in Dortmund aufgewachsen

  • Der Benimm-Experte Uwe Fenner wurde 1943 in Waren/Müritz (Mecklenburg) geboren.
  • Er ist Mitinhaber einer Firma für Karriereberatung in Potsdam, die sich u. a. auch mit Stil- und Benimmfragen befasst.
  • Fenner ist in Dortmund aufgewachsen und hat hier sein Abitur gemacht. In München, Bochum und Münster studierte er Jura. Zeitweise war er später als Personalberater in Dortmund tätig.
  • Internet: www.institut-fuer-stil-und-etikette.de



Was Musiker krank macht

Davon weiß man als Hörer und Konzertbesucher nichts: Viele, sehr viele Musiker spielen sich krank. Und: Häufig kommt im Klassik-Bereich der Missbrauch von Tabletten oder Alkohol vor. Solche dringlichen Probleme behandelt die Musikmedizin, die als eigenständige Disziplin noch recht jung ist. Nachgefragt beim Berliner Professor Helmut Möller, einem führenden Vertreter dieser Fachrichtung.

Musikalische Talente und Routiniers so etwa zwischen 12 und 60 kommen in Möllers Sprechstunde. Erst kürzlich saß ein junger Freund und Kollege des chinesischen „Wunderpianisten” Lang Lang dort; völlig verzweifelt, weil er den eigenen Ansprüchen nicht mehr zu genügen glaubte. Die psychosomatischen (leiblich-seelischen) Symptome dürften auch daher rühren, dass dieser Mann sich ständig am weltweiten Erfolg seines Freundes misst.

Damit sind wir schon bei einem Kernpunkt. In kaum einem Beruf ist die Konkurrenz so unerbittlich und täglich spürbar wie in der so genannten E-Musik. Prof. Möller über den Dauerstress: „Die meisten beginnen ungefähr im sechsten Lebensjahr mit dem regelmäßigen Üben. Es folgen immer neue Prüfungen im direkten Vergleich mit anderen. Nach vielen Jahren harter Arbeit dürfen diese Musiker dann ein paar Minuten vorspielen, falls eine Orchesterstelle frei ist – und da heißt es fast immer: ,Nein, danke. Der Nächste bitte!’”

Etliche Orchester sind eingespart oder verkleinert worden. Folge: Auf eine Stelle bewerben sich heute etwa 50 bis 70 Musiker. Zusätzliche Konkurrenz kommt aus Osteuropa und Ostasien – Musiker, die noch härter gedrillt worden sind und oft den Vorzug erhalten. Der Verdrängungswettbewerb ist gnadenlos wie nie – und macht zahlreiche Bewerber krank. Rund 25 bis 30 Prozent, so wird geschätzt, greifen zu Tabletten oder Alkohol. Tendenz offenbar steigend.

Im Tourneefilm „Trip to Asia” der Berliner Philharmoniker geschah das Ungeahnte: Ein Soloklarinettist sprach freimütig über berufsbedingte Ängste und sein Alkoholproblem. Seitdem ist das bisher strenge Tabu (Möller: „Musiker reden sonst nicht darüber – auch nicht untereinander”) ein wenig porös geworden.

Nicht gegen gewöhnliches „Lampenfieber” („Das gehört unbedingt dazu”), wohl aber gegen leistungsmindernde Formen der Auftrittsangst verschreibt Möller gelegentlich Beta-Blocker, die Herz und Kreislauf beruhigen. Allerdings nicht jahrelang, sondern für eine gewisse Zeit. Möller: „Dazu stehe ich.”

Manchmal möchte der Experte am liebsten frühzeitig von einer Musikerlaufbahn abraten. Dann sucht er das Gespräch mit Eltern und Musiklehrern. Doch einige Eltern seien im Namen ihrer Kinder so verbissen ehrgeizig, dass selbst das behutsamste Zureden fruchtlos bleibe. Der Professor: „In solchen Fällen muss ich äußerst vorsichtig sein, sonst wird mir ein Prozess angehängt – weil ich den Kindern angeblich seelische Schäden zugefügt habe.” Dabei könnte ein Abschied von überzogenen Karriereträumen wohl oft lebenslange Leiden verhindern.

Unverkennbar sind jedenfalls gewisse Parallelen zum Hochleistungssport. Musik- und Sportmedizin arbeiten denn auch eng zusammen. Lehre von der Skischanze: Wer einmal böse gestürzt ist, soll nicht gleich wieder auf den Turm steigen. Desgleichen ein Musiker, der beim Konzert „versagt” hat. Bloß nicht schon in ein paar Tagen den nächsten Auftritt riskieren!

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FRAGE UND ANTWORT:

Welches sind die häufigsten Krankheiten bei Musikern?

– Akute Auftrittsangst, die sich leistungsmindernd auswirkt und damit einen „Teufelskreis” auslöst.
– Gehörschäden (für deren Abwehr es inzwischen strikte Orchester-Richtlinien gibt).
– Schädigungen des Muskel-Skelett-Systems: vor allem Schultergürtel, Hände, Hals.
– Spezielle Leiden wie Stimmbandentzündung (Sänger), Kieferprobleme (Bläser).

Wodurch werden Muskeln und Skelett geschädigt?

Von Musikern wird eine äußerst feine Motorik verlangt. Bereits eine geringfügig falsche Haltung kann zu bleibenden, schmerzhaften Verspannungen führen.

Welchen Fehler sollte man möglichst vermeiden?

Prof. Möller warnt prinzipiell davor, täglich mehr als vier Stunden zu üben. „Alles, was darüber hinausgeht, hat keinen vernünftigen Effekt mehr – ganz im Gegenteil.”

Sind Medikamente gegen die Auftrittsangst ratsam?

Gegen bestimmte Formen der Angst und nach eingehender ärztlicher Beratung: eventuell ja. Allerdings nur für einen kurzen Zeitraum.

Was tun berühmte Spitzenmusiker, um etwa ihren Tourneestress zu mildern?

Einige treiben zwischendurch maßvoll Sport, andere schwören auf Yoga und ähnliche Entspannungstechniken. Außerdem zeichnen sich viele Stars dadurch aus, dass sie ohnehin eine günstige Disposition (Veranlagung) haben und Stress besser „wegstecken”.

Was ist sonst noch wichtig beim Vorbeugen?

Unverzichtbar ist Regelmäßigkeit. Mediziner empfehlen, Teile des Tagesablaufs zu „ritualisieren”. Also: Stets zur gleichen Zeit ein wenig Sport oder Meditation, nicht nur ab und zu.

Betreffen Probleme und Ratschläge nur Profi-Musiker?

Keineswegs. Sie gelten auch für mehr oder minder ambitionierte Amateurmusiker, also für Zigtausende (mit Einschränkungen auch schon für Kinder).

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WEITERE INFOS:

  • Nächster Kongress zur Musikermedizin: 10. und 11. Oktober an der Musikhochschule Köln. Das Tagungsmotto lautet: „Was hält Musiker gesund?”
  • Weiterführende Informationen gibt es vor allem bei der 1994 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin. Auf deren Internet-Seite finden sich auch Literaturlisten und etliche Link-Verknüpfungen zum Thema:

http://www.dgfmm-online.de/




Jane Birkin: Die ganze Fülle des Lebens

Wenn Jane Birkin singt, sind Geister gegenwärtig. Dann wird Musik schon mal zur gehauchten Beschwörung.

Nein! Diese knabenhafte Frau in Cargo-Hosen und T-Shirt, die fast zwei Stunden ohne Pause auf der Bühne des Dortmunder Konzerthauses steht, kann keine 61 Jahre alt sein. Niemand mag es glauben.

Und besagte Geister? Nun, natürlich schwingt vor allem die Erinnerung an ihren langjährigen, 1991 gestorbenen Lebens- und Bühnenpartner Serge Gainsbourg mit. Obwohl sie sich einst von ihm getrennt hat: Diese Liebe wirkt spürbar nach – schier grenzenlos. Jane Birkin ist denn auch so klug, seither mit keinem anderen das berüchtigte Stöhn-Lied „Je t’aime – moi non plus…“ (Skandal von 1969) darzubieten. Darauf müssen wir also verzichten.

Sonst aber enthält das Konzert so ziemlich alles, was man sich von ihr wünschen kann. Flankiert wird sie von einem famosen Trio: Die drei Herren beherrschen neben Klavier, Gitarre, Geige und Schlagzeug manche andere Instrumente virtuos. Eine ideale Tragfläche für Jane Birkins sanft-brüchigen Gesang, der zwischen Liebes-Melancholie und kindlicher Freude etliche Schattierungen umfasst.

Eine Glockenstimme hat Jane Birkin nicht. Aber es klingt ihre ganze Lebensfülle an – und das ist mehr. In dieser Liga, in die auch eine Marianne Faithfull gehört, zählt erfahrene, erlittene Individualität. Auch politische Appelle (gegen die Diktatur in Birma) haben da ihren Platz, weil sie von Herzen kommen.

Sie trifft genau die richtige Mischung aus englischen und französischen Akzenten, angejazzten Rock- und Chanson-Elementen. Titel aus neueren Alben und Rückgriffe bis in die 70er Jahre runden sich zum bewegenden Ereignis. Bravo!

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Der Onkel Bumba aus Kalumba tanzt nur Rumba

Essen. Schlager, Schmachtfetzen, Swing und höherer Blödsinn – aus solchen Quellen schöpften die „Comedian Harmonists“ in den 1920er Jahren ihre unvergleichlich Sangeskünste. Jetzt greift das Essener Schauspiel im Grillo-Theater auf die intelligente Erfolgsmischung zurück.

Franz Wittenbrink (Musik-Arrangements) und Gottfried Greiffenhagen (Texte) haben bereits 1997 das Stück um die berühmte Gesangsgruppe kreiert, das seither seine Runden durch deutsche Theater zieht. Auch in Dortmund war’s schon mal zu sehen.

Just 1997 war auch das Jahr, in dem Joseph Vilsmaiers famos besetzter Film über die „Comedian Harmonists“ herauskam und Maßstäbe setzte. Man hat diesen Film auch im Sinn, wenn sie nun in Essen die Geschichte des A-cappella-Ensembles erzählen -von entbehrungsreichen Gründungstagen über glanzvolle Erfolge bis zur erzwungenen Auflösung unter dem NS-Regime im Jahr 1934. Die Nazis verfemten die Musik der „Comedian Harmonists“ als „entartet“, weil drei der sechs Gruppenmitglieder jüdischer Herkunft waren. Es war einer von zahllosen Akten der NS-Kulturvernichtung. Diese Wunden verheilen nicht.

Gegen besagte Kino-Erinnerungen käme das Theater nur unter vehementer Aufbietung all seiner spezifischen Mittel an. Doch in Essen dauert’s schon mal rund 40 Minuten (eine gefühlte Ewigkeit), bis der erste vollständige Song erklingt. Bis dahin sieht und hört man die Genese der Gruppe nach einer Zeitungsannonce (sogar Johannes Heesters sang – vergebens – vor). Man erlebt mühsame Proben, absichtliches Falschsingen. Dazu köcheln Konflikte der 1928 noch im Werden begriffenen Gruppe. Hie unbezahltes Üben bis tief in die Nacht; da der Traum, der US-Formation „Revelers“ nachzueifern, sie sogar zu übertreffen.

Das Sechser-Ensemble ist eine Mixtur aus Essener Sprechtheater-Schauspielern und Gästen. Die unterschiedlichen Charaktere sind passend ausgewählt (neudeutsch: gecastet), sie decken ungefähr das tatsächliche Spektrum ab. Auch bekommt diese sympathische Truppe das Liedgut erstaunlich gut hin. Doch ebenso verblüffend ist stellenweise die holprige Darstellung. War’s Lampenfieber? Vielleicht gibt sich das in den Tagen und Wochen nach der Premiere.

Regisseur Gil Mehmert setzt die Lieder mit wechselndem Geschick in Szene, am besten gelingt die Umsetzung beim „Onkel Bumba“ (der reimgerecht nur Rumba in Kalumba tanzt). Überhaupt bricht irgendwann das Eis, wenn endlich launige Klassiker wie „Schöne Isabella von Kastilien“, „Mein kleiner grüner Kaktus“, „Wochenend und Sonnenschein“ und „Veronika, der Lenz ist da“ geschmettert oder gesäuselt werden. Da geht das Publikum frohsinnig mit.

Wenn schließlich die Gruppe sich unter diktatorischem Druck spaltet, gewinnt das sonst kitschverdächtige Lied „Irgendwo auf der Welt (gibt’s ein kleines bisschen Glück)“ die ungeahnte Qualität eines utopischen Gegenentwurfs zu den schrecklichen Verhältnissen. Stoff zum Heulen.

Termine: 7., 15., 16., 26., 31. Dezember; 12., 25. Januar. Karten: 0201/8122-200.

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(Der Beitrag stand am 6. Dezember 2007 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Eine Studentin berichtigt Beethoven – im Kinofilm „Klang der Stille“

Genies zeigt man im Kino gern so: allzeit wirr, unwirsch, nicht alltagstauglich, in einsamer Eiseskälte das Unbedingte anstrebend. Erst recht, wenn es um einen wie Ludwig van Beethoven geht. Im neuen Film „Klang der Stille“ ist’s nicht anders.

Der späte Beethoven (Ed Harris) wütet wie ein Berserker gegen die Wiener Mitwelt, die nach seinem gottähnlichen Ratschluss von Musik keine Ahnung hat. Der Junggeselle haust in einer Chaos-Bude, Rattenplage inbegriffen. In diesem Siff vollendet der Meister gerade seine „Neunte“ und das letzte Streichquartett, dessen Tonsprünge das Fassungsvermögen seiner Zeit überfordern.

Die genialisch hingekrakelten Noten müssen für die spielbare Partitur säuberlich abgeschrieben werden. Keinem traut Beethoven das zu – bis die zarte Kompositions-Studentin Anna Holtz (Diane Kruger) auftaucht. Sie wagt es gleich beim ersten Kopierversuch, eine seiner Notenfolgen zu „berichtigen“, denn er habe das doch gewiss anders gemeint, als es da steht . . .

Beethoven schluckt seinen Zorn herunter, denn er sieht ein: Dieses Elfenwesen kennt seine Werke und ist wirklich recht begabt. Also darf sie ihm Tag für Tag dienlich sein. Sie erblüht im Abglanz des Tonschöpfers – und entfernt sich innerlich von ihrem heimlichen Liebhaber, einem Architekten, der (wie Beethoven wettert) nur „seelenlose“ Brücken entwirft.

Jetzt die frauenbewegte Seite des Films: Beethoven ist als Mann in seiner Epoche befangen. Deshalb muss er sich weibliche Konkurrenz vom Halse halten. Beispielsweise, indem er sie schockiert. Ungeniert zeigt er Anna seinen blanken Hintern, um das Wort „Mondscheinsonate“ zu illustrieren. Und als sie ihm scheu ihre eigenen Kompositionsversuche zeigt, verhöhnt er sie dröhnend. Natürlich will uns die Regisseurin bedeuten, dass eine Frau gegen derlei Widerstände ihren Traum verwirklichen soll. Jaja, ist schon korrekt.

Wie man weiß, war der Meister damals schon fast völlig taub. In diesem Film wirkt es freilich nicht existenziell, sondern eher anekdotisch. Wie denn überhaupt die Grenze zum Geschmäcklerischen öfter gestreift wird. Regisseurin Agnieszka Holland hat einen Hang zu weichgespülten Genrebildern, die der extremen Hauptperson gerade nicht entsprechen.

Ed Harris muss derlei Defizite durch forcierte Darstellung wettmachen. Augenrollend herrscht er alle an, die ihm nicht zum genialen Willen sind. Im Widerspiel mit Anna Holtz wird daraus eine bewährte Rollenverteilung: die Schöne und das Biest.

Immerhin hat der Film auch ein paar große Momente. Sie fließen vor allem aus der grandiosen Musik. Davon inspiriert, findet Agnieszka Holland auch schon mal zu bewegenden Sequenzen. Wenn Anna Holtz die Uraufführung der „Neunten“ rettet, indem sie dem tauben Beethoven vordirigiert, wirkt die gestische Zwiesprache im verzückten Wogen der Töne wie eine geschlechtliche Vereinigung der beiden. Für derlei Lebenslagen gibts eben nicht nur Ravels „Bolero“.




Die Klassik lockt mit Sex-Appeal – Während der CD-Absatz insgesamt schrumpft, wächst das Segment der E-Musik

Von Bernd Berke

Die Nachricht lässt aufhorchen: Während der CD-Absatz insgesamt seit Jahren rückläufig ist, ist der Markt für Klassikplatten zuletzt spürbar gewachsen. Woran könnte es liegen?

Die Deutschen haben 2006 rund 11 Millionen Klassik-Scheiben und damit 6 Prozent mehr gekauft als im Jahr zuvor. Der Absatz von Klassik-DVDs ist im selben Zeitraum sogar um 28 Prozentpunkte gestiegen. Auch der Klassik-Fan will seine Favoriten nicht nur hören, sondern sehen. Möglicherweise ist dies eine Nach- und Nebenwirkung der Videoclip-Kultur.

Peter Michalk, Sprecher des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft, mutmaßt: „Es gibt ja eine Renaissance der Bürgerlichkeit. Vielleicht hat der Trend zur Klassik damit zu tun.“ In diesem Zusammenhang erfahre offenbar der Musikunterricht für Kinder wieder höhere Wertschätzung. Denkbar sei also auch, dass manche Eltern Klassik-CDs erwerben, um sie ihrem Nachwuchs ans Herz zu legen.

Pop-Business prägt Konsumverhalten

Wir spekulieren mal mit: In den neuen Verkaufsziffern deutet sich wahrscheinlich an, dass das gesamte Publikum der Platten-Käufer im Schnitt etwas älter ist als früher. Klassikfans sind in der Regel gediegene Leute, die sich die meist nicht ganz billigen CDs leisten (können). Jedenfalls surfen sie wohl nur sehr selten durchs Internet, um dort Raubkopien ihrer Lieblingsmusik zu ziehen.

Andererseits ist auch diese etwas ältere Generation größtenteils mit Rock- und Popmusik aufgewachsen. Das prägt Hör-, Seh- und Konsumgewohnheiten. Da trifft es sich, dass die heutigen Klassik-Stars sich häufig wie Pop-Größen geben. Man muss hier gar nicht an wildere Vertreter wie etwa den Geiger Nigel Kennedy denken. Ein Mann wie der chinesische Pianist Lang Lang begreift sich ganz unverkrampft als Teil der weltweiten Pop-Kultur und viele andere ebenfalls. Mehr noch: Die strahlende Diva Anna Netrebko wird global glitzernd vermarktet – auf einem manchmal schmalen Grat zwischen zwischen seriöser Ausstrahlung und verhaltenem Sex-Appeal.

Auch hat sich hie .und da eine Hit- und Häppchen-Denkweise im Klassikbereich durchgesetzt. Gewisse „Format-Radios“ liefern unentwegt lediglich die „schönsten Stellen“ aus umfangreichen Werken. Nicht nur für puristische, konservative Hörer ist diese Praxis ein Graus, doch sie funktioniert im Sinne einer leichten Konsumierbarkeit.

Auch die HiFi-Technik spielt wohl eine Rolle

Wenn man sich die Plattenhüllen ansieht, ahnt man, wohin die Reise geht. Interpreten der klassischen Musik wirken längst nicht mehr so wirr-genialisch, weltenfern oder knorrig wie einst. Sie werden (mehr oder weniger dezent) erotisch in Szene gesetzt – in erster Linie natürlich die schönen Frauen der Zunft. Man denke nur an all die zierlichen Asiatinnen mit ihren schmucken Violinen. Aber auch so mancher Latin Lover spreizt sich da auf dem Cover. Imagepflege dieser Sorte ist fast schon inflationär.

Ähnliche Tendenzen zur glamourösen Oberfläche setzen sich im Literaturbetrieb gleichfalls durch. Gut aussehende Autor(inn)en haben am Markt erhöhte Chancen. Wenn sie überdies schreiben können, dürfte es in der Regel kein Hindernis sein…

Zurück zu den Klängen: Wer sich ernsthaft mit ambitionierter Rockmusik befasst, müsste sich über kurz oder lang ohnehin auch dem Jazz und der Klassik zuwenden. Hier finden sich eben die anderen Wege der Vollendung. Große, hinreißende Könner sind in all diesen Sparten zugange – um nicht gleich vollmundig von Genies zu reden.

Und noch eins kommt schließlich hinzu, nämlich die Segnungen der Technik. Wer sich eine bessere HiFi-Anlage gönnt, kommt an Klassik eigentlich gar nicht mehr vorbei. Denn die Dynamik guter Lautsprecher lässt sich mit einer Beethoven-Sinfonie ja noch mal ganz anders ausschöpfen als etwa mit den Beatles oder Beyoncé.

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HINTERGRUND

Zahl der Downloads steigt ständig

  • 2005 wurden in Deutschland insgesamt rund 124 Millionen CDs abgesetzt. Die Klassik oder so genannte „E-Musik“ hatte daran einen Anteil von immerhin rund 10 Prozent –  mit offenkundig steigender Tendenz.
  • Im ersten Halbjahr 2006 sank der gesamte Tonträger-Absatz um 3,4 Prozent. Im Vorjahreszeitraum war der Verkauf sogar um 10,1 Prozentpunkte gesunken.
  • Die abschließende Bilanz fürs Jahr 2006 wird erst Ende März vorliegen.
  • Unterdessen steigt die Zahl der Downloads im Internet Im ersten HalbJahr 2005 wurden 7.5 Millionen Einzeltracks legal heruntergeladen, im ersten Halbjahr 2006 rund 10,2 Millionen Titel.
  • Die Statistiken führt der Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft.



Helge – der Schamane des Unsinns / Programm „I Brake Together“: Auftakt zur langen Tournee in Paderborn

Von Bernd Berke

Paderborn. „Paaaderboorn – Bi-hie-lefeld – Minden.“ Der Kerl macht sogar aus den Ortsnamen seiner ersten Tournee-Stationen noch einen kleinen Song. Helge Schneider ist wieder unterwegs, und die Reise soll bis ins Jahr 2008 dauern.

Jetzt gab’s den Auftakt just im kreuzbraven Paderborn. Ein Testgelände abseits der kulturellen Hauptrouten. Helge treibt natürlich seine kleinen Scherze mit der Stadt. Mal nennt er sie „Kaff“, mal „kafkaesk“. Alles furchtbar nett gemeint. Daran, dass hier und andernorts nichts los ist, sei ohnehin nur Angela Merkel schuld, bemerkt er feixend.

„I Brake Together“ heißt sein neues Musikprogramm. Das kann man kaum übersetzen. Genau genommen, hieße es nicht „Ich breche zusammen“, sondern etwa „Ich bremse zusammen.“ Aber bei Helge Schneider darf man nicht zum Wortklauber werden. Kichernde Sinn-Zerstäubung ist seit jeher sein Pläsier.

Hauptsächlich besteht der Abend aus exzellent dargebotenen Jazz-Spielarten, Blues und traditionssattem Rock’n’Roll – meist in schön verjaulte Schräglage versetzt, was die Musik oft erst richtig auf den Begriff bringt.

Dass Helge (51) ein Virtuose auf vielen Instrumenten (Klavier, Saxofon, Trompete, E-Gitarre etc.) ist, hat sich herumgesprochen. Und wer einen Pete York in seiner (betagten) Begleitband hat, muss sich erst recht keine Sorgen um den Sound machen. Der seit den frühen 1960er Jahren aktive Drummer (Spencer Davis Group, Hardin & York etc.) bekommt auch bei Helge sein bärenstarkes Solo. Wow!

Vor allem aber lechzt das überwiegend junge Publikum nach Helge Schneiders Liedtexten und Überleitungen. Es giert nach herrlich hirnrissigen Titeln wie „Lady Suppenhuhn“ oder „Telefonmann“, die dieser Schamane des Unsinns schlichtweg gekonnt herunter-eiert. Sein neuer Hit vom „super-sexy Kä-Kä-Käsebrot“ zerrt einen biederen Tonfall („Käsebrot ist ein gutes Brot“ – das klingt wie aus den 50er Jahren) über alle Zwischenzeit hinweg ins Jetzt. Er bringt auch solche halsbreçherischen Sachen halbwegs heil um die Kurve.

Gipfelpunkt ist seine ingeniöse Parodie auf Udo Lindenberg. Da scheint tatsächlich „uns‘ Udo“ zu röhren – im schlingernden Dialog mit einem gewissen Helge Schneider. Der bringt es sogar fertig, beide Singstimmen (fast) auf einmal ertönen zu lassen. Und beim neuen Lied „Trompeten von Mexiko“ („sie laden dich ein“) spielt er dieses Blasinstrument und das Piano zugleich. Solche simultanen Zauberstücke macht ihm so leicht keiner nach.

Man spürt, dass er mittlerweile entspannt in sich ruht. Er muss sich und uns nichts mehr beweisen. Wo er ehedem schon mal etwas krampfhaft witzelte, lässt er’s heute durchweg locker laufen. Und es blitzen sogar Zwischentöne durch – allerhand Sottisen gegen Konsumwahn und TV-Flachsinn inbegriffen. Besser so. Heute ist heute, morgen improvisiert er gewiss wieder ganz anders. Und bei all dem wird dieser Chaot unversehens zum Perfektionisten.

Blöd ist er sowieso nicht. Es springen gar hinterhältige (Anti)-Weisheiten heraus. Etwa diese Erkenntnis über Einsamkeit, die auf Gelegenheiten lauert: Liebe bestehe doch oft darin, dass man jemanden „irgendwo abfängt“. Oder zum Ladenschlussgesetz: „Endlich kann man mal bis 20 Uhr pennen.“ Zur Weihnachtszeit mahnt er als oberstes Ziel „Zufriedenheit“ an. Was man jetzt überhaupt nicht gebrauchen könne, seien Leute, die „ins Tannenbaumzimmer rasen und in die Ecke pinkeln“. Ist doch wahr!

Das Publikum in der ausverkauften Paderhalle ist lachlustig. Die Fans goutieren ja praktisch alles, was Helge so treibt. Doch enthusiastisch steigert sich der Beifall nur stellenweise. Vielleicht liegt’s ander mitunter bedächtigen ostwestfälischen Wesensart?

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HINTERGRUND

Platte, Buch, Kinofilm und Tournee

  • Helge Schneider kommt jetzt in diversen Medien auf uns zu:
  • Die CD zur Tournee „I Brake Together“ kommt am 19. Januar 2007 heraus.
  • Kürzlich ist sein neues Buch „Die Memoiren des Rodriguez Faszanatas“ erschienen.
  • Am 11. Januar 2007 startet Dany Levys Kino-Tragikomödie „Mein Führer“ – mit Helge Schneider in der Rolle Adolf Hitlers…
  • Die langwierige Tournee führt u. a. nach Mülheim (16. und 17. Dez. 2006), Essen (15.2.2007) – und erst im Herbst 2007 nach Gelsenkirchen, Olsberg, Attendorn, Hamm, Dortmund und Hagen.

 




Im Dschungel der Musik-Gebühren – GEMA-Niederlassung in Dortmund ist für ganz NRW zuständig

Von Bernd Berke

Dortmund. Wenn die GEMA zweimal klingelt, gibt’s manchmal Ärger. Denn dann werden meist Gebühren fällig. Ganz egal, ob Live-Band, gekaufte und gebrannte CDs oder MP3-Datei via Internet: Wer öffentlich Musik abspielt, muss mit der GEMA rechnen.

Diese Gesellschaft (siehe Infos am Schluss) zieht Urheberrechts-Gebühren im Namen von Komponisten, Textern und Musikverlegern ein. Die Dortmunder GEMA-Geschäftsstelle mit über 100 Mitarbeitern ist für ganz NRW zuständig. Was tut sich hier?

Bezirksdirektor in Dortmund ist Erich Wulff, der zuvor in der Geschäftsleitung einer Brauerei tätig war. Die Kundschaft blieb teilweise gleich: Früher hat Wulff den Gaststätten Bier liefern lassen, heute lässt er von rund 40 Außendienstlern prüfen, welche Musik dort gespielt wird.

Manchmal gibt es Reibereien

Die GEMA ist ungefähr so beliebt wie die Gebühreneinzugszentrale (GEZ). Jüngst gab es beispielsweise Reibereien mit dem Dortmunder Kulturbüro, weil die GEMA bei der Berechnung stets von ausverkauften Sälen ausgeht. Kommen weniger Besucher, so stehen – je nach Aufwand – zuweilen Verluste an. Mögliehe Folge: Veranstalter könnten künftig ambitionierte Programme scheuen.

Gelegentlich kommen bei Streitfällen auch die Juristen ins Spiel, manche Sache geht bis vor Gericht. Wulff bevorzugt allerdings die sanftere Gangart: „Weg von der bloßen Kontrolle, hin zur Beratung.“ Die meisten Klienten seien ja auch einsichtig…

86 verschiedene Tarife

Nicht weniger als 86 (!) verschiedene Tarife werden von der GEMA berechnet. Ein wahrer Dschungel. Das Spektrum reicht vom privaten Fest in der Kneipe bis zum Stadion-Auftritt der Rolling Stones. Auch musikalische „Warteschleifen“ am Telefon sind für den Betreiber kostenpflichtig. Und, und, und.

Die GEMA-Leute kennen örtliche Veranstaltungskalender genau. Wichtiges Bezahl-Kriterium (neben der bespielten Fläche) ist der Nutzen, den jemand aus seiner Veranstaltung zieht: Wenn einer Geschäftsfreunde einlädt und dazu Musik erklingt, fallen in der Regel Gebühren an. Wenn jemand sehr viele Gäste „beschallt“ oder Eintritt verlangt, gilt dies erst recht.

Mit zahlreichen Tanzschulen, Restaurants, Supermärkten oder Kaufhäusern (säuselnde Hintergrundmusik) hat die GEMA Pauschalverträge abgeschlossen, da wird nicht mehr auf jeden Song geachtet. In etlichen Discos werden nach dem Zufallsprinzip (das angeblich nicht manipuliert werden kann) Programme mitgeschnitten. Welcher Hit erklingt wie oft? Der ermittelte Mix dient dann als Berechnungsbasis für rund 3500 erfasste Tanzflächen in Deutschland.

Für Mozart muss man nichts bezahlen

„Für Mozart muss man nichts bezahlen“, stellt Erich Wulff klar. Das Urheberrecht erlischt 70 Jahre nach dem Tod eines Komponisten. Wenn man allerdings eine moderne Mozart-Bearbeitung verwendet, sieht die Sache schon wieder anders aus.

Akute Sorgen bereitet der GEMA das geplante neue Urheberrecht, das die Existenz mancher Tonschöpfer gefährden könne. Der Entwurf zur Kopier-Abgabe (z. B. für DVD- Brenner oder DVD-Recorder sei industriefreundlich und urheberfeindlich, findet die GEMA. Hier will man den Bund noch mit Lobbyarbeit zur Umkehr bewegen.

Komplizierte Ideen aus Brüssel

Außerdem droht ein Konflikt mit der EU. Brüssels Hüter des freien Wettbewerbs wollen erreichen, dass sich jede Verwertungsgesellschaft (wie etwa die GEMA) auch in allen anderen Mitgliedsländern entfalten kann. Wulff: „Das gäbe ein heilloses Durcheinander in Europa.“

Apropos internationale Beziehungen. Bizarres Beispiel: Sollten in Nordkorea deutsche Schlager gespielt werden, könnte man den Obolus schwerlich eintreiben. Immerhin aber kooperiert die GEMA mit ähnlichen Organisationen in über 60 Ländern. Alle, die im globalen Musikmarkt eine größere Rolle spielen, sind dabei – auch China.

Gar so weit reichen die Dortmunder Kompetenzen meist nicht. Wulffs Stellvertreterin Barbara Gröger: „Wir sind hier im relativ ruhigen Fahrwasser.“ Um neue Techniken (Podcasting, Handy-Klingeltöne), kümmert sich die in Berlin und München ansässige Bundeszentrale.

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HINTERGRUND

852 Mio. Euro eingenommen

  • Die GEMA heißt im Volltext „Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte“.
  • Sie macht keine Gewinne. sondern schüttet die Einnahmen nach Abzug der Verwaltungskosten an rund 60 000 Mitglieder (Komponisten, Texter, Musikverleger) aus – nach ausgeklügelten Verteilungsschlüsseln.
  • Die Gesamterträge lagen im Jahr 2005 bei 852 Mio. Euro, verteilt wurden 731,9 Mio. Euro.
  • Die GEMA steht unter Aufsicht des Deutschen Patentamtes und des Bundeskartellamtes.
  • Die Gründung geht zurück aufs Jahr 1903. Treibende Kraft war damals der Komponist Richard Strauss.
  • GEMA-Bezirksdirektion in Dortmund: Südwall 17-19, Tel.: 0231/577 01-0.

 




Baltische Szene: „Beneidenswert jung, vital, aufregend“ – Internationale Kulturtage mit Estland, Lettland, Litauen / Dortmund als Zentrum des Festivals

Dortmund. (bke) Den gesellschaftlichen Wandel haben sie im Zeitraffer vollzogen. Nun stellen die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ihre Kultur in NRW vor. Zentrum dieses „Scene“-Festivals ist Dortmund.

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann warb gestern für die vielfältigen Gastspiele des Baltikums – beinahe zum eigenen Leidwesen: Derart „jung, vital und aufregend“ sei die Kulturszene der drei Ostsee-Länder, dass man im Revier und in Westfalen geradezu neidisch werden könne.

Tatsächlich haben die Stadt und das Land NRW mit 123 Kooperations-Partnern vieles gestemmt. Erste Einzelveranstaltungen beginnen Ende April, Ausläufer des Festivals reichen bis zum September. Kernzeiten: Mai und Juni.

Besonders das musikalische Programm der Balten reizt sämtliche Geschmacksnerven. Es reicht von Klassik über Neue Musik und Jazz (Festival „europhonics“ im Dortmunder „domicil“ ab 5. Mai) bis hin zu elektronischen Experimenten und DJ-Aktionen.

Theaterspektakel in der Dortmunder Zeche Zollern II/IV: Der litauische Regisseur Gintaras Varnas bringt am 26. Mai „Das Wüste Land“ von Tankred Dorst auf die Bühne. Zuvor gibt’s am 14. Mai eine Gala im Dortmunder Opernhaus, mit Ballett und Musik aus allen baltischen Breiten.

Gewichtiges Ausstellungs-Doppel: Das Museum am Ostwall und die Phoenixhalle (früheres Hoesch-Gelände) präsentieren ab 14. Mai rund 20 baltische Medienkünstler, die mit Videos, Internet und wall und anderen Techniken Phantasieräume schaffen wollen. Die Schau heißt „mit allem rechnen“ und lässt somit Überraschungen erwarten.

Auch Film und Literatur füllen einige Seiten des üppigen Programmheftes. Andere NRW-Städte wie Münster, Duisburg, Bielefeld, Düsseldorf oder Bonn sind am Reigen beteiligt. Das Land gibt auch unter schwarzgelber Regierung weiterhin Zuschüsse.

Dortmund ist jedenfalls der Dreh- und Angelpunkt: Vor allem hier wird man erleben, wie sich die Menschen im Baltikum ihrer Identität mit kulturellen Mitteln vergewissern. Vielleicht ein dreifaches Vorbild für uns?

Infos/Programm/Tickets: Tel. 0231/50 277 10. www.scene-festival-nrw.de




Auch Bochum will ein Konzerthaus bauen – Finanzielle Vorbehalte / „Konkurrenz“ reagiert gelassen

Von Bernd Berke

Bochum. Auch Bochum möchte ein Konzerthaus bauen – für 21,4 Mio. Euro. Dies hat gestern der städtische Kulturausschuss im Grundsatz bekräftigt.

Allerdings wurde auf die im November 2006 anstehenden Haushaltsberatungen verwiesen. Falls das Projekt dann bejaht wird: Würde eine neue Konkurrenz für die Philharmonien in Dortmund und Essen drohen?

Die WR fragte nach und vernahm betont gelassene Stimmen. Dortmunds Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa findet den Vorgang undramatisch und sagt sogar: „Das wäre eine Supersache. Die Bochumer Symphoniker hätten es verdient.“

Bisher muss das Orchester (Leitung: Steven Sloane) zwischen diversen Bochumer Spielstätten „tingeln“. Mit dem Neubau neben der Jahrhunderthalle bekäme es endlich eine feste Bleibe. Das Bochumer Haus mit rund 1100 Plätzen (Dortmund: fast 1600, Essen: 1800) würde zudem in einer anderen Liga spielen, meint Stampa: „Da dürfte es keine großen Publikums-Bewegungen geben.“

Ähnlich unaufgeregt sind die Erwartungen bei der Essener Philharmonie. Und Prof. Franz Xaver Ohnesorg, Chef des Klavierfestivals Ruhr, findet: „Die Entscheidung wäre längst überfällig. Wenn man es intelligent anfängt und eigene Profile findet, so ergänzen sich die Häuser.“

Bochums Kulturdezernent Hans-Georg Küppers stellt klar: „Wir wollen kein Konzerthaus im eigentlichen Sinne, sondern in erster Linie eine feste Spielstätte für unsere Symphoniker.“ Gewiss könne es auch Fremdveranstaltungen geben, doch eher im Jazz- oder Kammermusik-Bereich.

Hat es im Vorfeld Absprachen zwischen den Revier-Kommunen gegeben, die sich gemeinsam anschicken, Europäische Kulturhauptstadt 2010 zu werden? Offenbar ja. Mit seinen Dezernenten-Kollegen Jörg Stüdemann (Dortmund) und Oliver Scheytt (Essen) ziehe er auch in der Angelegenheit „an einem Strang – und zwar in dieselbe Richtung“, versichert Bochums Küppers. Auch mit den Chefs der Philharmonien in Essen und Dortmund herrsche Einvernehmen.

Das Problem ist Bochums prekäre Haushaltslage. Das Konzerthaus soll von der Stadt-Tochter „Entwicklungsgesellschaft Ruhr“ gebaut werden. Ab 2009 würden jährlich 1,3 Mio. Euro Mietkosten zu Lasten der Stadt anfallen. Spätestens bis dahin, so Küppers, müsse man den Etat so weit konsolidieren, dass sich Bochum diese Ausgabe erlauben kann. Unter solchen Vorbehalten wurde denn auch gestern im Kulturausschuss beraten. Denn die Bezirksregierung in Arnsberg überwacht die Bochumer Haushaltsführung genau.

 




Die Liebe zur alten Maschinenhalle: Marie Zimmermann stellt sich als künftige Intendantin der RuhrTriennale vor

Von Bernd Berke

Düsseldorf. So etwas fällt heutzutage richtig auf: Marie Zimmermann (50), die künftige Chefin des Kulturfestivals RuhrTriennale, ist passionierte Kettenraucherin. Als sie sich gestern in Düsseldorf der Presse vorstellte, zündete sie sich etliche Glimmstengel an.Viel Rauch um nichts?

Im Gegenteil: Man ahnt, dass sie einiges bewegen könnte im Revier. Sie kommt nicht mit fertigen Weltbildern oder dröhnenden Gewissheiten daher, sondern entwickelt neue Einsichten offenbar im behutsamen Dialog. Überdies scheint sie eine gute Zuhörerin zu sein und (gesellschaftspolitisch akzentuiert) über die Grenzen der Kulturszene weit hinaus zu denken. Weitere Basis-Qualifikation für die Region: Auch mit Fußball kennt sie sich aus. Na, bitte.

Von Wien ins Revier

Sie steht vor einer großen Herausforderung: Von 2008 bis ins erhoffte Kulturhauptstadt-Jahr 2010 soll sie die Geschicke der Triennale leiten. Über größere Zeiträume mag sie noch nicht nachdenken. Man wird sehen. Im Frühjahr 2007 will sie von Wien, wo sie derzeit den Schauspielbereich der Wiener Festwochen leitet, ins Ruhrgebiet ziehen.

Spekulationen, Marie Zimmermann werde die Intendanz einer etwaigen Europäischen Kulturhauptstadt Essen/Ruhrgebiet gleich mit übernehmen, erübrigen sich. Im Fall des Falles werde die Triennale zur „Hauptstadt“ wesentliche Beiträge leisten. Doch die langjährige Theaterdramaturgin, die nicht selbst Regie führt, stellt auch klar: „Hier muss ein präziser Kreidestrich gezogen werden.“ Sprich: Sie steht für eine klare Abgrenzung der Kompetenzen. Erst müsse jede Institution für sich wirken, dann kämen Gemeinsamkeiten. Dies gelte auch fürs Verhältnis zu den Ruhrfestspielen.

Die besondere Melodie der Region

Die Spielstätten der Triennale, zumeist frühere Industrie-Bauten, haben es ihr schon jetzt angetan. Einige dieser Orte hätten eine geradezu majestätische Aura. Spezielle Liebe auf den ersten Blick: die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck.

„Ich bin eine enthusiastische Regionalistin“, bekennt Zimmermann. Sie werde sich im Revier auf „sucherische Heimatkunde“ verlegen, sich ausgiebig umsehen. Sie nehme das Ruhrgebiet als „lebendige, teilweise auch bedrängte“ Gegend wahr. Die besondere „Melodie“ der Region solle künftige Triennale-Produktionen prägen. Und dann zitiert sie eine Buchweisheit, die auch auf hiesige Breiten anwendbar sein könnte: „Die Desillusionierung ist die haltbarste Form der Erkenntnis.“ Vom Aufbruch reden wir später einmal.

Auch die Freie Szene einbeziehen

Natürlich ist es noch zu früh, um konkrete Einzelheiten zu nennen. Doch will sie erstmals auch der Bildenden Kunst Auftritte bei der Triennale verschaffen – vielleicht in kreativer Verknüpfung mit Theater und/oder Musik.

Obwohl sie keine direkte Erfahrung mit Musiktheater hat, möchte sie diese Sparte weiter pflegen. Sie verlässt sich dabei keineswegs auf frühe hausmusikalische Praxis (als Jüngste von sechs Geschwistern), sondern vor allem auf fachkundige Berater. Gut möglich, dass Marie Zimmermann Projekte aus der „Freien Szene“ rekrutiert, hohes Niveau vorausgesetzt. Sie ist bekannt für Aufgeschlossenheit in diese Richtung.

Doch das Festival (Etat: 38 Millionen Euro pro Dreijahres-Turnus) könne keinen Ausgleich für jede finanziell gebeutelte Truppe schaffen: „Die RuhrTriennale ist nicht das Bankhaus der Szene, und bin nicht die Schnittmenge aus Mutter Teresa und dem Weihnachtsmann.“

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HINTERGRUND

Erfahrung mit anderen Theaterfestivals

  • Die RuhrTriennale wurde 2002 gegründet.
  • Ein Festivaldurchgang umfasst je drei Spielzeiten.
  • Bisherige Intendanten:. Gérard Mortier (2002-2004) und Jürgen Flimm (2005-2007).
  • Die künftige Triennale-Chefin Marie Zimmermann wurde 1955 in Simmerath (bei Aachen) geboren.
  • Sie studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie, war freie Journalistin.
  • Über die Leitung einer Pressestelle (Stadtwerke Aachen) kam sie als Pressesprecherin zur Landesbühne Esslingen – Beginn ihrer Theaterlaufbahn.
  • Sie hat u. a. die Festivals „Theaterformen“ (Hannover/Braunschweig) und „Theater der Welt“ (Stuttgart) geleitet.

 




Essenzen von Liebe und Abschied – Charles Aznavour in der Essener Philharmonie

Von Bernd Berke

Essen. War es ein Abschied für immer? Man mag es kaum glauben.

Der große französische Chansonnier Charles Aznavour hat am Montag Abend in der ausverkauften Essener Philharmonie eine kurze Deutschland-Toumee triumphal beendet. Angeblich soll es sein letzter Bühnenauftritt in unseren Breiten gewesen sein. Doch schon mehrmals hat er auf ähnliche Weise Adieu gesagt. Warten wir’s ab.

Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd. So existenzialistisch erwartet man es von ihm. Dann seine unvergleichliche Stimme, scharf umrissen und doch zartfühlend. Ganz wie früher. Der Mann soll 81 Jahre alt sein? Auch seine Bewegungen lassen beim zweistündigen Konzert keinerlei Müdigkeit erkennen. Er kann es sich leisten, mit vermeintlicher Vergesslichkeit („Wie hieß noch mal diese Zeile?“) zu kokettieren.

In seinen Chansons (rund 1000 hat er inzwischen verfasst) sind Essenzen von Liebesüberschwang, schmerzlichen Abschieden und vergänglicher Jugend auf höchst kultivierte Weise aufgehoben. Untröstliche Momente und die Feier einer wunderbaren Lebensfülle sind hier keine Widersprüche. Vor allem aber: Die Liebe kann niemals lächerlich sein …

Man traut ihm durchaus zu, dass er selbst noch erotisch entflammt. Wenn er auftritt, fühlt man jedenfalls ein aufregend charmantes Paris, seine Boulevards und Bistros immer mit. Klischees also, doch in Vollendung stilisiert.

Natürlich singt er auch einige seiner größten Erfolge: „Les comédiens“, „Sa jeunesse“, „II faut savoir“, „Tu te laisse aller“ (Du lässt dich geh’n), „She“ und „La bohème“. Er hat keine Scheu vor Pathos, vor den ganz großen Gefühlen, beinahe schon im Kitsch-Bezirk. Auch solche Grenzgänge kann sich einer wie Aznavour erlauben. Bei wem sonst erstrahlt selbst die Melancholie so herrlich und würdevoll?

Mit äußerst sparsamen, doch ungemein wirkungsvollen Gesten lenkt Aznavour den rauschenden Beifall des Publikums – und die Band, die zwischen Jazz, Swing, Chanson und gehobenem Schlager so manche Nuancen beherrscht. Zum musikalischen Begleitpersonal zählt auch seine Tochter Katia, mit der er im Duett „Je voyage“ vorträgt. Die junge Frau kann auf jene entzückend französische Weise naiv klingen – wie einst France Gall oder die frühe Françoise Hardy. Hach!




„Bloß nicht in Schönheit sterben“ – Interview mit Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa über Programme und Perspektiven

Von Bernd Berke

Dortmund. Auch das Dortmunder Konzerthaus kommt nicht an der Fußball-WM vorbei. Direkt vor dem Auftakt des sportlichen Großereignisses wird die einschlägige brasilianische Tanzproduktion „Maracana“ in der Westfälischen Philharmonie gastieren. Doch nicht nur darüber sprach die WR mit Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa (40).

Frage: Konzerthaus und Kicken – wie geht das zusammen?

Benedikt Stampa: Berechtigte Frage. Ich bin Fußballfan, und ich bin Kulturfan. Aber im Prinzip bin ich kein großer Freund der Verbindung zwischen Kultur und Fußball.

Warum nicht?

Stampa: Es passt oft nicht. Es funktioniert bestenfalls auf einer höheren Gedanken-Ebene. Die musikalischen Versuche schlagen meistens fehl. Auch gibt es kaum einen authentischen Fußball-Spielfilm. Die Schauspieler sind fast immer schlechte Fußballer und umgekehrt. Am besten geht es wohl gerade im Tanztheater-Bereich. Hier spielt Athletik ohnehin eine große Rolle. Und der Fußball hat ja seine spezielle Choreographie, die allerdings auch vom Zufall bestimmt wird.

Wie muss man sich „Maracana“ vorstellen?

Stampa: Die Hamburger Premiere sehe ich selbst erst am Donnerstag. Fest steht: 16 Tänzerinnen und Tänzer sind dabei. Die Musik ist eine Mischung aus Samba, HipHop und Funk. Der Rasen wird zu sehen sein – in Form einer grünen Wand. Es wird ein „Spiel“ geben, mit Fouls und Fallrückziehern. Als ich hörte, dass diese Produktion entsteht, dachte ich gleich: Die müssen wir nach Dortmund holen. Schließlich spielen die brasilianischen Fußballer ja auch hier. Das wird ein Highlight: Drei Tage vor der WM, wenn die Spannung auf dem Siedepunkt ist, geht es los. Die Tanztruppe gastiert vom 6. bis zum 8. Juni bei uns. Dann werden auch viele Journalisten aus aller Welt hier sein…

Wir freuen uns drauf. Mal was anderes: Wie sehen die aktuellen Auslastungszahlen im Konzerthaus aus?

Stampa: Nun, das Haus hat die Gründungsphase mit einigen – auch schmerzlichen – Erfahrungen hinter sich. Die Zahlen haben sich stabilisiert und beginnen allmählich zu steigen. Wir liegen jetzt alles in allem bei 63 Prozent Auslastung. Wir wissen, dass etwa50 Prozent der Besucher aus Dortmund selbst kommen – ein guter Wert. Aber wir strahlen auch weit in den Kreis Unna, ins Sauerland und Münsterland aus. Wichtig ist die gute Mischung aus Abonnements und freiem Verkauf.

Manche Musikfreunde beklagen, dass Sie zu wenig Kammermusik anbieten.

Stampa: Wir werden auf diesem Feld künftig mehr machen – im wirtschaftlich vernünftigen Rahmen. Kammermusik ist ja die Grundlage des sinfonischen Schaffens.

Trügt der Eindruck, oder haben Sie das Programm in letzter Zeit popularisiert?

Stampa: Wenn man ihn richtig versteht, kann ich am Begriff „populär“ nichts Nachteiliges finden. Wir haben einen Bildungsanspruch, aber wir wollen nicht „in Schönheit sterben“. Übrigens bietet ein Dirigent wie Christian Thielemann, der gerade zweimal mit den Münchner Philharmonikern bei uns gastiert und unter anderem Brahms gespielt hat, auch eine Art Mainstream. Aber eben auf höchstem Niveau. Und es gibt natürlich eine Untergrenze.

Wo liegt die denn? Wen würden Sie nicht einladen?

Stampa (lacht): Das werde ich Ihnen nicht konkret sagen. Aber schau’n Sie einfach mal, wer nicht bei uns auftritt…

Sie haben lange in Hamburg gearbeitet und sind jetzt seit Herbst 2005 in Dortmund tätig. Wie unterscheidet sich das westfälische Publikum vom hanseatischen?

Stampa: Das Publikum in Dortmund ist wesentlich neugieriger, es geht mehr mit. Das hat mir auch Christian Thielemann bestätigt. In Hamburg gibt es eine alte, ehrwürdige Musiktradition. Viele Leute haben dort schon vieles gehört und sind vielleicht ein wenig saturiert.

Ihre bislang schönsten Dortmunder Konzert-Erlebnisse?

Stampa: Es gab einige. Die erwähnten Thielemann-Auftritte gehören unbedingt dazu. Aber natürlich auch das Gastspiel von Anna Netrebko.

Wird sie irgendwann erneut nach Dortmund kommen?

Stampa: Ich habe ihr gesagt, dass alle Türen offen stehen. Eigentlich singt sie am liebsten in Konzerthäusern. Die Frage ist nur, ob sie künftig zu Auftritten in großen Stadien und Arenen gedrängt wird.

Konkurrieren Sie mit Dortmunds Oper ums Publikum?

Stampa: Wohl weniger. Die Last des kulturellen Lebens einer Stadt kann nicht nur auf einem einzigen Haus ruhen. Wenn es gut läuft, ziehen wir uns gegenseitig hoch.

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HINTERGRUND

„Fußballer sind die besten Tänzer der Welt“

  • Die brasialianische Tanzproduktion „Maracana“ ist benannt nach dem weltgrößten Fußballstadion in Rio de Janeiro (Fassungsvermögen heute etwa 120 000 Zuschauer).
  • Die Auftrags-Produktion, offizieller Beitrag zum FIFA WM-Kulturprogramm, hat just heute in Hamburg Weltpremiere und gastiert vom 6. bis 8. Juni im Dortmunder Konzerthaus. Einziger weiterer Spielort in NRW ist Köln (ab 9. Februar).
  • Die renommierte Choreographin Deborah Colker (43) aus Brasilien ist nicht nur ausgebildete Tänzerin, sondern auch Pianistin und überdies Diplom-Psychologin.
  • Ausgiebig studierte sie für ihr Tanzstück die Bewegungsabläufe im realen Fußball. Ihr Eindruck: „Fußballer sind die besten Tänzer der Welt.“

 

 

 




Musik ist wie ein Wunder der Natur – Gespräch mit dem Cellisten Mischa Maisky vor seinem Gastspiel in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Am 7. November wird er im Dortmunder Konzerthaus auftreten: Mischa Maisky (57), der als einer der weltbesten Cellisten gilt. Die WR erreichte ihn telefonisch in Brüssel.

Hat er schon einmal in Dortmund gespielt? „Moment, da muss ich meinen Computer einschalten“, sagt Maisky in dem auf Englisch geführten Gespräch. Insgesamt 2705 eigene Konzerte (!) verzeichnet sein PC am Tag unseres Telefonats. Tatsächlich kommt auch Dortmund vor. Doch das Konzerthaus hat Maisky noch nicht so genau kennen gelernt. Hier hatte er am Oktober 2003 lediglich einen Kurzauftritt bei der Gala zum „Echo Klassik“-Preis.

Nun freue er sich aufs „beautiful Konzerthaus, wie ich mich auf jedes Konzert freue.“ Doch gerade der 7. November sei für ihn ein ganz besonderer Tag: „Es ist praktisch mein zweites Geburtsdaturn. Am 7. November 1972 bin ich nach meiner sowjetisshen Haft (siehe Info-Anhang, d. Red.) in Wien eingetroffen. Danach habe ich mich in Israel niedergelassen. Der 7. November bedeutet für mich also immer noch die neue Freiheit von damals.“

Zusammen mit der renommierten Polnischen Kammerphilharmonie (die zudem Werke von Beethoven spielen wird) will Maisky in Dortmund zwei Kompositionen des Romantikers Robert Schumann darbieten. Maisky: „Ich habe mindestens 25 Lieblingskomponisten – von Bach bis Schostakowitsch. Schumann gehört gewiss dazu. Er muss ein ungemein empfindsamer Mensch gewesen sein, und er hat wohl unter schweren Depressionen gelitten.“

Inspiration auch durch Jazz

Schumanns Konzert für Violoncello und Orchester (op. 129) sei denn auch ein höchst persönliches, tief reichendes Stück dieses Komponisten. Maisky erinnert sich: „Ich habe es einmal mit Leonard Bernstein eingespielt. Eine wunderbare Tonschöpfung!“

Was hat es mit dem Cello auf sich, warum wird es in so vielen Filmen als Instrument der Melancholie eingesetzt? Mischa Maisky: „Das Cello hat ganz verschiedene Qualitäten. Es kann melancholisch sein. Doch es kann auch reinste Lebensfreude ausdrücken. Es ist das Instrument, das der menschlichen Stimme am nächsten kommt und damit den Wundern der Natur. Daran orientiere ich mich.“ Zur Inspiration höre er übrigens nicht nur Klassik, sondern auch Jazz.

Noch ein Klischee, das in so manchen Köpfen spukt: Gibt es eine Art erotischer Beziehung zum Cello? Maisky: „So weit würde ich nicht gehen.“ Das Verhältnis zum Instrument sei aber durchaus „sinnlich“ (sensual).

Was bleibt einem Musiker noch zu wünschen übrig, der mit fast allen Berühmtheiten der Zunft in den großen Häusern der Welt gespielt hat? „Ich hege noch sehr viele Wünsche. Ich will immer noch mehr erfahren, mehr erkunden, mehr ausprobieren. Oft fehlt mir aber die Zeit. Manches muss ich wohl aufs nächste Leben verschieben.“

Das Dasein zwischen Hotels und Kontinenten koste jedenfalls Kraft. Maisky: „Wissen Sie was? Mein einjähriger Sohn war fast schon öfter mit mir in Japan als zu Hause in Brüssel.“

Mischa Maisky gastiert am Montag, 7. November (20 Uhr), im Dortmunder Konzerthaus. Karten: 01805/44 80 44.

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Zur Person

• 10. Januar 1948: Mischa Maisky in Riga (Lettland) geboren.

• 1965 Auftritts-Debüt mit den Leningrader Philharmonikern – im Alter von 17 Jahren.

• 1966 Schüler des berühmten Cellisten Mstislav Rostropovich.

• 1970 politische Inhaftierung und 18 Monate Arbeitslager bei Gorki. Danach Emigration aus der Sowjetunion.

• 1973 lässt sich Maisky in Israel nieder.

• 1995 erster Auftritt in Russland nach 23 Jahren Exil.

• 2000 in Zürich: Maisky spielt an zwei Tagen sämtliche Bach-Werke für Cello.




In der Dauer liegt die Kraft – Dortmunds neuer Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa ab heute im Amt

Von Bernd Berke

Dortmund. Heute ist sein offizieller Dienstantritt: Benedikt Stampa (39) bestimmt ab sofort die Geschicke des Dortmunder Konzerthauses. Und er stellt sich auf eine langfristige Arbeit in Westfalen ein: „Ich bin kein Job-Hopper“, versicherte er gestern.

In Hamburg, wo er bislang Chef der altehrwürdigen Laeisz-Musikhalle gewesen ist, habe er ein gewachsenes, stabiles Musikleben vorgefunden.Das im Herbst 2002 eröffnete Dortmunder Konzerthaus sei hingegen noch relativ jung, spiele aber national schon in der ersten Liga mit. Die Akustik sei jedenfalls besser als in Hamburg.

Benedikt Stampa, der vorerst einen Fünfjahresvertrag hat und seit zwei Monaten in der Dortmunder Gartenstadt („sehr urban“) wohnt: „Hier ist das Konzertpublikum so neugierig und aufgeschlossen, wie ich es noch nirgendwo sonst erlebt habe.“ Überhaupt befinde sich „diese vitalisierte Stadt“ spürbar im Aufbruch zu neuen Ufern.

Stampa, der sich „mit Geduld und Visionen“ für seine neue Aufgabe rüstet, möchte ein beständiges, musikfreundliches Milieu rund um das Konzerthaus schaffen. Mögliches Motto: In der Dauer liegt die Kraft. Zudem will der neue Intendant besonders mittelständische Unternehmen aus der Region als Sponsoren gewinnen. „So kann man die Einrichtung am besten in der Stadt verankern.“

Jetzt in die Szene der Stadt eintauchen

Das Konzerthaus-Programm der laufenden Saison hat noch der Interims-Intendant Albrecht Döderlein geplant. Stampa gefällt’s: „Um den Auftritt von Anna Netrebko beneiden uns viele.“

Was er selbst anders und womöglich besser machen will? „Abwarten! Es ist noch zu früh, um darüber zu reden.“ Immerhin lässt er durchblicken, dass es bei ihm keine „Residenz-Künstler“ mehr geben wird, die (nur) für je eine Saison ans Haus gebunden werden. Er strebt größere Kontinuität an und dürfte dabei auch experimentelle Neue Musik einbeziehen.

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann betonte, es gebe von der Stadt keine „Quoten-Vorgabe“ in Sachen Platzauslastung. Doch das erhöhte Jahresbudget (4,9 Millionen Euro inklusive Zinslasten – Stampa dankbar: „Ein Luxus“) müsse eingehalten werden. Fast 600.000 Euro kommen übrigens von Sponsoren.

Ganz ohne Fußball geht die Chose nicht

In die Dortmunder Kulturszene, die er noch nicht so genau kennt, will Benedikt Stampa jetzt „eintauchen“. Am Samstag steht ein Besuch der „Räuber“-Premiere im Schauspielhaus an. Dass es in der Stadt ein reges Jazzleben gibt, ist ihm schon aufgefallen. Vielleicht auch ein Ansatzpunkt für künftige Konzerthaus-Veranstaltungen?

Angst vor dem Wettbewerb mit anderen Konzertstätten hat Stampa nicht. Selbst wenn in Bochum und Münster neue Häuser entstehen sollten, gilt die Losung: „Konkurrenz wirkt belebend.“

Dem sportlichen Wesenskern der Stadt zollt auch der (in Emsdetten aufgewachsene) neue Konzerthaus-Chef Tribut. Stampa ekannt sich als Anhänger von Borussia Dortmund und war (beim 2:1Sieg gegen Köln) auch schon im Westfalenstadion.

Dezernent Stüdemann überreichte Stampa denn auch zum Einstand zwei schwarzgelbe BVB-Trikots mit der Nummer 1 – für den 2,03 Meter großen Intendanten (Stampa: „Ungefähr wie Jan Koller“) und für seinen vierjährigen Sohn. Mal schauen, wie druckvoll Stampa jetzt seine Chancen nutzt.




Fußball im edlen Frack – Experiment der RuhrTriennale: Oratorium „Die Tiefe des Raumes“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Wer wollte bestreiten, dass der Fußball rituelle und mythische, ja quasi religiöse und liturgische Anteile hat? Da liegt es vielleicht doch nahe, diesem phänomenalen Sport ein ehrwürdiges Oratorium zu widmen. Die RuhrTriennale probiert’s mit der in Bochum uraufgeführten Kreation „Die Tiefe des Raumes“.

Wenn hier die Mannschaftsaufstellung verkündet wird, klingt es fast, als riefen Posaunen zum Jüngsten Gericht. Der mit blauweißen bzw. schwarzgelben Schals angetretene, zuweilen ausgelassen tobende TriennaleChor (48 Damen und Herren verkörpern 60 000 Fans) antwortet auf die Vorgabe „Oliver“ mit Donnerhall: „Kaaaaahn“! Dazu lässt Dirigent Steven Sloane die sturmstarken Bochumer Symphoniker zu apokalyptischer Klangmacht anwachsen.

Das Spiel mit der komischen Fallhöhe

Es darf gefeixt werden. Derlei komische Fallhöhe zwischen Thema und Instrumentierung wird sich an diesem Abend häufig ergeben. Es ist ja ein Heidenspaß. Doch irgendwann fragt man sich, ob dem Fußball dieser edle Frack überhaupt passt. Soll das Kicken nachhaltig nobilitiert werden? Oder lässt man sich gnädig-gönnerhaft dazu herab? Ist diese Schöpfung gar blasphemisch, weil sie eine religiös geprägte Form profan ausbeutet? Nun, so päpstlich sollte man nicht denken.

Erzählt wird die Geschichte eines 17-jährigen Spielertalents (Corby Welch, Tenor): Er schwankt zwischen „Tugend“ (Claudia Barainsky, Sopran) und „Laster“ (Ursula Hesse von den Steinen, Mezzosopran). Wird er nach ersten Erfolgen nur noch hinterhältig nach Geld und Weibern gieren, oder wird er dem wunderbar zweckfreien Spiel huldigen, wie es dem Menschen seit Anbeginn der Zeiten gemäß ist? Ein paar Lebensjahre hinzu gerechnet, denkt man dabei jetzt vor allem an Kölns Nationalstürmer Lukas Podolski. Er soll bei der Genese dieses Oratoriums gleichsam Pate gestanden haben: Tonsetzer und Textautor haben angeblich diskutiert, ob es sich bei ihm um eine „Erlöserfigur“ im biblischen Sinne handele…

Doch ein erzählerischer Kern schält sich nicht so klar heraus in dieser Aufführung, die fußballgerecht zweimal 45 Minuten plus 8 Minuten (!) Nachspielzeit dauert und mit dem legendären Resultat 3:2 endet. Es fehlt ein kräftiger roter Faden. Ohne Programmheft (mit komplettem Libretto-Text) haben Zuschauer bei dieser gestisch nur sparsam akzentuierten Nummernfolge kaum eine Chance. Die überfrachtete Story (Autor: Schalke-Fan Michael Klaus) verirrt sich auf ebenso viele Nebenwege wie die Musik (Komponist: Bayern-Anhänger Moritz Eggert).

Wenn die Abseitsregel gesungen wird

Der Text sammelt allerlei Vorfälle aus dem Umkreis eines Fußballspiels ein – bis hin zur gesungenen Erläuterung der Abseitsregel. Zudem wollen drei prominente Rezitatoren als Trainer, Radioreporter und Alt-Internationaler mitmischen: Doch Joachim Król, Christoph Bantzer und Peter Lohmever (Film „Das Wunder von Bern“) dringen mit ihren Sprechstimmen manchmal kaum durch.

Die Musik ist vollends eklektisch. Sie nimmt – mit imponierendem Kunstverstand – ihre Impulse von überall her und begreift alles als Spielmaterial, beileibe nicht nur Schlachtgesänge aus der Stadionkurve. Der hehre Duktus eines barocken Oratoriums (Gipfel ist eine „Hymne an den Ball“) wird in dieser Collage vielfach (post)modernistisch und ironisch gebrochen. Es gellen die Schiri-Pfeifen und Siegesfanfaren à la Verdi dazwischen, oder man wiegt sich auch schon mal in schlagerseligen Rhythmen undskandiert feinsinnige Weisheiten: „Nichts ist scheißer als Platz zwei.“

Meist steigert sich das Orchester aus lyrisch leisen Kapitel-Anfängen in ein anschwellendes Breitwand-Pathos, das freilich immer wieder in den tonalen Zusammensturz getrieben wird. Man ist schließlich avanciert.

Innenminister Otto Schily hat’s kürzlich bei der Vorstellung der WM-Kulturprojekte geahnt: „Die Tiefe des Raumes“ werde sich dem durchschnittlichen Fußballfan nicht leicht erschließen. Tatsächlich behält dieses interessante Experiment eine Zwittergestalt. Auf dem grünen Rasen geht’s drauf und dran. Auf kulturellem Spielfeld aber zählen Zwischentöne. Insofern ist es ein exemplarisches Projekt, das solche Distanzen spürbar werden lässt. Doch damit wird bestimmt keine neue Gattung begründet.

• Weitere Aufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle: 18. Sept. (20 Uhr). Karten  0700/2002 3456. www.ruhrtriennale.de

 




Schräger Poet des deutschen Alltags – Der Liedermacher Funny van Dannen und seine neue CD „Nebelmaschine“

Von Bernd Berke

Mal klingt er heiser wie ein grimmiger Protestsänger aus den 1960er Jahren, mal dröhnend wie ein haltloser Gitarren-Schrammler am Lagerfeuer. Doch so leicht und billig lässt sich der Liedermacher Funny van Dannen nicht einsortieren. Denn er ist ein Phänomen ganz eigener Art.

Ist er nun melancholisch, romantisch, treuherzig, hinterrücks ironisch oder abgründig absurd? Auch auf seiner mittlerweile achten CD „Nebelmaschine“ mischen sich derlei Gefühlsfarben so unverfroren wie bei keinem anderen Sänger.

In seinen schrägen Songs gibt’s zuweilen grausam gereimte Zeilenpaare. Manchen Einfall könnte man für einen bloßen Pennäler-Ulk oder eine grenzdebile Schaffe irgendwo im Dunstkreis zwischen Heinz Erhardt, Mike Krüger und Helge Schneider halten. Im Grunde aber ist der Mann ein sentimentaler Poet, der den deutschen Alltag immer wieder mit sanfter Gewalt auf den Begriff bringt und dabei gelegentlich sogar ganz neue Sinn- oder eben Unsinns-Horizonte aufreißt. Wo er frei assoziiert und kluge mit bescheuerten Gedanken abenteuerlich verknüpft, da wächst kaum noch Gras.

Viele seiner Lieder haben das Zeug zum Klassiker. Von den bisherigen Alben könnte man etliche Beispiele nennen: von „Gib es zu, du warst beim Nana Mouskouri-Konzert“ bis „Als Willy Brandt Bundeskanzler war“, der vielleicht stimmigste aller Retro-Songs über die 70er Jahre. Auch auf der neuen CD (nicht mehr solo, sondern mit Band eingespielt) finden sich solche genialischen Würfe.

Beispielsweise „Infrastruktur“. Die Idee: Da setzen sich in der sonst so grämlichen Jammerrepublik Deutschland auf einmal ganz viele Leute genüsslich hin und freuen sich einfach gemeinsam über die heimische Infrastruktur. Die funktioniert ja noch so einigermaßen. Vielstimmig ertönt der entsprechende Jubel-Refrain. Hinreißend! Die Melodie ist so ungemein eingängig wie beim Zitter-Gesang von den „Bodenunebenhelten“ – die imaginären Schlaglöcher lassen selbst starke Stimmen beben.

Ferner erfahren wir, dass der hehre Bundesadler früher mal ein ganz kaputter Typ war, bis er in Bonn und Berlin groß herauskam. Wir hören Funny van Dannen beim vergeblichen Versuch zu, einen deprimierten Freund mit einem Lied über „Blutige Halme“ (was immer das sei) aufzuheitern. Herzzerreißend die Klage des Mannes, der sein spezielles Sammelalbum verloren hat – mit lauter „Fotos von Ohren“. Für gehärtete Gemüter gibt’s Tracks wie „Dingficker“ oder „Hobbynutte“. Aber man vernimmt auch Träumereien vom Wahren, Schönen, Guten wie „Gelingendes Leben“. Eine gewisse „Kaffee-Hag-Gemütlichkeit“ hat ein Kritiker solchen Sachen mal bescheinigt. Da ist ‚was dran.

Hier finden sich allerlei treffliche Balladen, klappernde Liedlein im nostalgischen Western-Rhythmus oder gaaaanz entspannte Songs im somnambulen Rumba-Stil. Das alles trägt Funny van Dannen betont „uncool“ vor, mit dem Mut zu vermeintlicher Spießigkeit und Banalität. Großer Sport!

Funny van Dannen: „Nebelmaschine“. CD bei Trikont.

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Ehemaliger Holländer

Der Sänger und Liedermacher „Funny van Dannen“ heißt bürgerlich Franz Josef Hagmanns. Er wurde 1958 in Tüddern geboren. Kurios: Damals gehörte dieser kleine Ort zu den Niederlanden, seit 1963 liegt er in NRW.

Erste Lieder soll „Funny“ mit 14 Jahren im südholländischen Dialekt geschrieben haben. Später zog er nach Berlin, wurde Werbegrafiker, spielte in diversen Punkbands und war ein Mitbegründer der legendären Gruppe „Lassie Singers“, aus der später die ebenso starke Frauenband „Britta“ hervorging.

Inzwischen hat Funny van Dannen zuweilen prominente Abnehmer: Er schrieb mehrere Titel für die „Toten Hosen“, und sein „Nana Mouskouri“-Song wurde von Udo Lindenberg gecovert. Heute wohnt der vierfache Vater (lauter Söhne) im denkbar szene-fernen Berliner Bezirk Tempelhof. Noch so eine irgendwie sympathisch „uncoole“ Entscheidung.

 




Adolf Muschg: „Ich bin mit mir selbst nicht identisch“

Der Schweizer Adolf Muschg (71) zählt zu den führenden Köpfen der deutschsprachigen Literatur. Der Büchner-Preisträger ist auch kulturpolitisch einflussreich: Er war Mitglied der Jury, die das Ruhrgebiet bei der Vorauswahl zur Kulturhauptstadt 2010 bereist hat. Und er ist Präsident der hochkarätigen Berliner Akademie der Künste. Eine Gespräch mit Adolf Muschg im Dortmunder Harenberg City-Center – vor einer Lesung aus seinem bei Suhrkamp erschienenen neuen Roman „Eikan, du bist spät“.

Frage: In Ihrem Roman geht es um einen Cellisten, seine Lebens- und vor allem Frauen-Krise. Was hat Sie an dem Thema gereizt?

Adolf Muschg: Das Cello ist von allen Streichinstrumenten das mit dem größten Körper-Engagement. Musik als spirituelles Prinzip – und zugleich das Sinnlichste, was es gibt. Ein interessanter Widerspruch. Außerdem wollte ich mir ein Gebiet erobern, das mit eher fern liegt, ich habe nur als kleiner Junge ein wenig Klavier gespielt. Es läuft hinaus auf das Motiv der Wiederholung, was die Frauengeschichten angeht. Das Wiederholungsmotiv ist im Grunde ein uraltes in der Liebe, man denke nur an Tristan und Isolde. Unser Leben besteht aus Wiederholungen – und wir alle haben den Anspruch, einmalig zu sein.

Ihr Cellist Andreas Leuchter wird aus all seinen Frauen nicht klug…

Muschg (lacht): Das gehört zum Wenigen, was ihn mir sympathisch macht…

Kann ein Mann denn aus Frauen im Wortsinne klug werden?

Muschg: Nein. Aber man könnte im Umgang mit ihnen ein bisschen weiser werden. Doch auch das würde nichts helfen. Ich glaube: Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist nicht dazu geschaffen, „vernünftig“ zu sein – obwohl es ohne Vernunft auch wieder nicht auszuhalten ist. Schon die Erfindung der Zweigeschlechtlichkeit ist ja eine große Kühnheit der Natur, davor hat sie sich mit Kopien und Zellteilungen begnügt.

Leuchter versäumt seine große Liebe…

Muschg: Das ist ein Verdacht, der Männer häufig beschleicht: „Ich bin etwas schuldig geblieben.“ Man kann sich auf triviale Formeln einigen: Die Chemie hat nicht gestimmt. Aber in der Liebe steckt ganz wesentlich eine massive Überforderung der Beteiligten.

Sie kommen in Ihren Büchern immer wieder auf Japan als das ganz Andere, Fremde zurück, so auch diesmal. Die zweite Hälfte des Romans spielt dort.

Muschg: Der erste Impuls liegt ganz lange zurück. Meine Halbschwester, 30 Jahre älter als ich, war Hauslehrerin bei einer schweizerisch-japanischen Familie. Als sie zurückkam, hat sie ein Kinderbuch geschrieben – es war das allererste Buch, das ich in meinem Leben gelesen habe. In dem Buch kam mein eigenes Elternhaus vor, und eines in Kyoto. Japan steht für das Fremde, man hat es sozusagen auch in sich, denn Identität ist nichts Festes, ich bin mit mir selbst nicht identisch. Ich bin überhaupt allergisch gegen das Wort Identität, weil damit auch politisch so viel Schindluder getrieben werden kann. Was ist eine schweizerische, was eine deutsche Identität? Oder eine europäische Identität? Europa hat sich immer wieder verändern lassen: die Germanen durch das Christentum, das Christentum durch die Aufklärung. Europäisch ist die Fähigkeit, sich fremde Dinge produktiv anzuverwandeln.

Von Europa zum Ruhrgebiet. Welchen Eindruck haben Sie bei Ihrer Jury-Reise in Sachen „Kulturhauptstadt“ gewonnen?

Muschg: Ich hatte vorher keine Ahnung, dass das Ruhrgebiet mein Favorit werden würde. Hier erscheint Kultur als fundamentaler Sachverhalt. Dieses ganze Gebiet hat sich neu erfinden müssen. Es ist ein erstaunlich waches Stück Deutschland. Die Menschen waren hier unglaublich erfinderisch. Kultur bedeutet ja nicht nur Theater oder Oper, sondern was man aus sich selber macht! Was das Ruhrgebiet jetzt zu stemmen versucht, das muss auch in Nordfrankreich oder in englischen Industriestädten geschehen. Man wünscht dem Ruhrgebiet so sehr, dass es gelingt. Da ertappe ich mich fast bei einer Art Liebesverhältnis.

Würde sich für die Akademie der Künste bei einem Regierungswechsel etwas ändern? Bundeskanzler Schröder hat Sie ja neulich zur „Einmischung“ in die Politik aufgefordert.

Muschg: Ja, dazu werden wir oft aufgefordert – bis wir es dann tun! Grundsätzlich wird sich wohl nicht viel ändern. Wir müssen weiterhin deutlich machen, dass Kunst kein Luxus, sondern Lebensmittel ist. Was mich am meisten beunruhigt, ist der zunehmende Druck des Marktes auf die Kultur. Da geht es oft nur noch um Neuheiten, Saisonartikel, Events. Übrigens fährt man als Künstler unter der CDU nicht schlechter. SPD-Regierungen sind nicht unbedingt kulturfreundlich. Aber die jetzige Kulturstaatsministerin Christina Weiss, die ja parteilos ist, die würden wir schon sehr vermissen.

(Der Beitrag stand am 25. Juni 2005 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)




Das Konzerthaus an die Spitze führen – Benedikt Stampa vom Dortmunder Rat zum neuen Intendanten gewählt

Von Bernd Berke

Dortmund. Es ist vollbracht: Gestern wurde Benedikt Stampa (39) im Dortmunder Stadtrat mit großer Mehrheit als neuer Konzerthaus-lntendant gewählt – und zwar im ersten Wahlgang.

Die FDP und einzelne CDU-Abgeordnete übten Stimmenthaltung. Doch SPD und Grüne stimmten einmütig für den Mann, der bislang die Hamburger Laeisz-Musikhalle geleitet hat.

Auftamen also in Dortmund. Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer freute sich, dass der neue Intendant in „extrem kurzer Zeit“ gefunden worden sei. Stampa sei der ideale Kandidat. Er könne das Konzerthaus in die „Champions League“ führen, wobei er aber finanzielles Augenmaß beweisen müsse.

Stampa selbst, just nach dem Ratsentscheid noch auf Stippvisite im Konzerthaus und dann eilends ins Rathaus zurückgekehrt, formuliert da noch etwas vorsichtiger. Das Haus gehöre mindestens an die deutsche, in etwa zehn Jahren vielleicht auch an die europäische Spitze.

Ein veritables „Dickschiff“

Was hat ihn bewogen, aus der Hansestadt nach Dortmund zu kommen? Stampa: „Dass das Konzerthaus hier eine ganz zentrale Rolle spielt. Das ist mir erst jetzt richtig bewusst geworden.“ So wichtig sei offenbar die Westfälische Philharmonie in der Stadt, dass er sich schon fast so gefragt fühle wie ein neuer BVB-Trainer. Und dann fällt ihm doch ein Begriff aus seinem bisherigen hanseatischen Wirkungskreis ein: Das Dortmunder Konzerthaus sei gewiss ein „Dickschiff“.

Der im münsterländischen Emsdetten geborene Stampa weiß, dass er mit Werbemaßnahmen fürs Konzerthaus auch ins weite westfälische Umland gehen muss. Er habe in Hamburg ähnliche Erfahrungen gesammelt: „Da reichte unser Einzugsgebiet auch bis hinauf nach Lübeck.“

Der neue Intendant will möglichst im September seine Arbeit in Dortmund aufnehmen, die Planung für die nächste Saison (Start: 15. September 2005) obliegt also noch weitgehend dem Interims-Chef Albrecht Döderlein. Stampa mag jetzt noch nichts über eigene Schwerpunkte sagen. Jawohl, er habe ein Lieblingsprojekt, aber auch davon werde später zu berichten sein.

Vertragsdauer noch nicht geklärt

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann dankte seiner Hamburger Amtskollegin Karin von Welck. Sie lasse Stampa schweren Herzens, doch ohne Komplikationen ziehen. Apropos: Wie man hört, wird’s jetzt an der Elbe ähnlich hektisch wie zuvor in Dortmund. Bereits Anfang Mai soll dort Stampas Nachfolger vorgestellt werden.

Wie lange Stampas Dortmunder Vertrag währt, wurde gestern noch nicht verraten. Jörg Stüdemann: „Wir verhandeln noch darüber und werden uns an bühnenüblichen Gepflogenheiten orientieren.“ Mithin darf man wohl von einem Vertrag für etwa fünf Jahre mit Verlängerungs-Option ausgehen.

Vom Mitte Januar zurückgetretenen und dann gekündigten Vorgänger Ulrich Andreas Vogt war nur noch indirekt die Rede. Stüdemann mag’s sportlich: Seinerzeit habe „der Reiter in vollem Lauf das Pferd verlassen“. Um im Bild zu bleiben: Jetzt sattelt mit Stampa ein neuer Jockey. Mit seinen 2,03 Metern Körpergröße ist er freilich für den Turf-Beruf viel zu stattlich.

 




Günstige Umstände – Dortmunds neuer Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa

Wenn nicht alles täuscht, hat Dortmund seinen neuen Konzerthaus-Intendanten gefunden: Benedikt Stampa aus Hamburg ist ein Mann, der sich besonders mit Marketing-Strategien und der Pflege von Sponsoren auskennt. Das . kann dem gebeutelten Konzerthaus wohl nur zugute kommen. Allerdings: Es gibt in Westfalen leider kein so breites und spendables Bürgertum wie an der Elbe. Aber vielleicht kann Stampa auch jene Finanzhelfer „bekehren“, die schon abspringen wollten.

In Dortmund gilt der noch recht junge Kulturmanager als Wunschkandidat. Freilich verantwortet er in der Hamburger Laeisz-Musikhalle ein anders gelagertes Programm – mit vielen „eingekauften“ Gastspielen von der Klassik bis zu Peter Maffay. Er wird sich in Dortmund umstellen müssen, denn für Pop-Konzerte taugt Westfalens Philharmonie nur sehr bedingt.

Der „Neue“ für Dortmund hat in Hamburg gleichwohl Profil gewonnen. Skeptische (oder missgünstige?) Hanseaten sagen dem beredsamen Stampa gar „Profilsucht“ nach. Vielleicht ist ihm die Entscheidung für Dortmund leichter gefallen, weil man ihm in Hamburg bedeutet hat, dass er nicht die geplante „Elbphilharmonie“ leiten soll.

Jedenfalls findet er nun in Dortmund relativ günstige Bedingungen vor. Das Haus wird schuldenfrei gestellt und bekommt einen deutlich höheren Programm-Etat. Außerdem dürfte Benedikt Stampas Vergütung in Dortmund spürbar über der seines Vorgängers Ulrich Andreas Vogt liegen. Die Umstände des Wechsels mag man noch immer bedauern. Doch nun sollte man dem neuen Chef eine glückliche Hand wünschen.

                                                                                                            Bernd Berke

 




Mit starrem Blick nach vorn – zur weiterhin unübersichtlichen Lage beim Dortmunder Konzerthaus

Von Bernd Berke

Dortmund. Man kann es fast mit Händen greifen: Bei den Konzerthaus-Besuchern in Dortmund herrscht derzeit vielfach traurige Stimmung, es drücken die Zukunftssorgen. Seit der Entlassung bzw. „sofortigen Freistellung“ des Intendanten Ulrich Andreas Vogt (der bis 31. Juli weiter seine Bezüge erhält) gibt’s vorwiegend Molltöne an der der Brückstraße. Doch offenbar regen sich Gegenkräfte.

Abwartende Anspannung – so etwa könnte man die Gemütslage der Konzerthaus-Mitarbeiter umschreiben, einer spricht sogar von „Duldungsstarre“; wobei niemand im Hause namentlich zitiert werden möchte, weil öffentliche Äußerungen mit dem neuen Interims-Intendanten Albrecht Döderlein abgestimmt werden sollen.

Döderlein selbst, hauptamtlich Geschäftsführer des Dortmunder Theaters, wünscht sich nun vor allem „Ruhe für unsere Arbeit.“ Es gelte, „Status und die Aufgliedemng“ des Konzerthauses neu zu definieren, ohne das Niveau zu senken. Zur Auslastung (diverse Gerüchte pendeln zwischen 50 und 70 Prozent) mag er noch nichts verraten, man ermittle die Zahlen gerade. Das mit den 50 Prozent sei Unsinn. Die Auslastung liege im Schnitt höher, sie sei aber gegen Ende 2004 stetig gesunken.

Ein ungenannter Konzerthaus-Mitarbeiter zur WR: „Unser Image ist durch die Vorgänge in den letzten Tagen und Wochen schwer beschädigt worden.“ Es frage sich, ob man da noch einen hochkarätigen Nachfolger für Vogt finden könne.

Erste Sponsoren sind abgesprungen

Unterdessen scheint sich die ohnehin schon prekäre finanzielle Lage des Hauses zu verschärfen, sind doch schon Sponsoren abgesprungen, darunter Prof. Michael Hoffmann, der zugleich erzürnt vom Vorsitz der Theater- und Konzertfreunde Dortmund zurücktrat und die Stadtspitzen für die jetzige missliche Lage verantwortlich machte. Insgesamt steuern Sponsoren rund 600.000 Euro jährlich für Aktivitäten im Konzerthaus bei. Kein Pappenstiel.

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann (SPD) ist betrübt über den Rückzug Hoffmanns, der als Kulturförderer „unglaublich viel geleistet“ habe. Aber, so Stüdemann zur WR: „Die Suche nach einem Nachfolger für Herrn Vogt ist gar nicht so schwierig.“ Bis März will er fündig geworden sein. Er sei in den letzten Tagen kaum in Dortmund gewesen, sondern landauf landab auf Intendanten-Suche unterwegs – in welchen Städten wohl? Einige Interessenten hätten sich aus eigenem Antrieb gemeldet. Stüdemanns Folgerung: „Das Konzerthaus wird bundesweit immer noch hoch geschätzt.“

Gutachten voller Binsenweisheiten

Zwischenzeitlich erregte ein Gutachten die Gemüter, das dem bisherigen Konzerthaus-Management Versäumnisse vorhielt. So habe es zu viele Eigenveranstaltungen gegeben, und finanzielle Warnsignale seien übersehen oder gar ignoriert worden. Weder über den Urheber noch die Kosten dieser im städtischen Auftrag erstellten Studie will sich Stüdemann äußern. Derlei Diskretion sei branchenüblich, so der Dezernent, der versichert: „Es war kein Freund von mir, wie schon gemutmaßt wurde. Ich kannte ihn allerdings, denn er ist aus der Branche.“

Doch diese Studie ist wohl kein tauglicher Leitfaden fürs Kommende. Döderlein: „Es stehen praktisch nur Binsen-Weisheiten darin. Außerdem enthält das Papier erhebliche Rechenfehler. Das ist wohl mit der heißen Nadel gestrickt worden und kann nicht viel gekostet haben.“ Jörg Stüdemann lässt unterdessen wissen, dass gleich vier weitere Gutachten zu verschiedenen Aspekten der Konzerthaus-Zukunft vorliegen…

Ein absurdes Gedankenspiel

Matthias Nowicki, Verwaltungsleiter des Konzerthauses, macht mit einem Gedankenspiel die Absurdität der Lage deutlich: Selbst wenn das Haus sofort geschlossen würde, fielen Kosten fast in Höhe der laufenden städtischen Zuschüsse an.

Denn von den jährlich 3,9 Mio. Euro müssten in jedem Falle Zinslästen (1,2 Mio.) und Abschreibungen (1,5 Mio.) abgezogen werden, also insgesamt bereits 2,7 Mio. Euro, die nicht in die künstlerische Produktion fließen, aber halt gezahlt werden müssen. Hinzu kämen weiterhin Heiz-, Strom- und Wartungskosten, wolle man das Gebäude nicht verkommen lassen.

Eigentlich kein Wunder, dass die Stadt Ende 2004 zusätzliche Subventionen in Höhe von (offiziell) 1,4 Mio. Euro nachreichen musste, um die drohende Insolvenz des Konzerthauses zu vermeiden. Man fragt sich, wie der Konzerthaus-Betrieb überhaupt je ohne solche Defizite hätte laufen sollen. Und man rätselt, warum sich die Stadt und Vogt auf solche Bedingungen verständigen konnten.

 




Ungewisse Zukunft – Dortmunds Konzerthaus-Intendant Vogt kündigt

Kommentar

Die Nachricht kam wahrhaftig überraschend: Dortmunds Konzerthaus-Intendant Ulrich Andreas Vogt hat gestern seinen Vertrag zum 31. Juli 2005 gekündigt.

War es eine Art Kurzschlusshandlung, war er schlichtweg von Debatten um seine Arbeit; genervt? Oder hat Vogt etwa andere Pläne, über die er noch nicht öffentlich sprechen mag? Sind es nur Gerüchte, dass es ihn zu den Salzburger Festspielen ziehe?

Gewiss: In der Stadt hatte es mancherlei Kritik gegeben – nicht einmal so sehr an Vogts engagierter Amtsführung, sondern am zählbaren Resultat. Mit nur rund 70 Prozent Platzausnutzung geriet die „Westfälische Philharmonie“ finanziell ins Schlingern und meldete erhöhten Zuschussbedarf an. Bis Ende dieses Monats sollte Vogt ein neues, tragfähiges Konzept zur Steigerung der Einnahmen vorlegen. Was daraus wird, ist jetzt fraglich.

Nachfolger-Suche braucht Zeit

Stehen wir nun schon vor den ersten Trümmern des kulturellen „Leuchtturms“? Nein, so weit ist es denn doch noch nicht! Letzten Endes ist wohl jeder „ersetzbar“, auch ein so sachkundiger Seiteneinsteiger wie Vogt, der ja noch eine große Reinigungsfirma betreibt. Doch man möchte am liebsten gar nicht darüber nachdenken, was nun geschehen wird. Bis ein kompetenter Nachfolger gefunden ist, dürfte einige Zeit ins Westfalenland gehen. Bis sich der oder die „Neue“ auch noch eingearbeitet und mit den regionalen Verhältnissen vertraut gemacht hat, wird es noch etwas länger dauern.

Ein politischer Kern des Konflikts

Man sollte sorgsam darauf achten, dass Vogt in seiner verbleibenden Amtszeit die Bedingungen für einen halbwegs gleitenden Übergang schafft. Innig zu hoffen bleibt, dass das musikalische Programm nicht unter den Turbulenzen leidet.

Es müssen schon gewichtige Gründe gewesen sein, die Vogt zu seinem Schritt bewogen haben. Gerade in den letzten Tagen und Wochen hatte sich eine politische Bereitschaft bei SPD und CDU abgezeichnet, das Konzerthaus höher zu bezuschussen. Freilich sitzt seit kurzem an der Spitze des Aufsichtsgremiums eine umtriebige Politikerin der Grünen, die das ganze Projekt stets skeptisch bis ablehnend betrachtet hat. Gut möglich, dass in dieser Personalie ein Kern des Konflikts liegt.

                                                                                                                 Bernd Berke

 




Was ist uns die Kultur noch wert? – eine dringliche Frage anlässlich der finanziellen Streitfälle in Dortmund und Hagen

Von Bernd Berke

Man stelle sich vor: Es ist kurz nach 20 Uhr, die Geschäfte haben nun allesamt geschlossen. Wer sorgt dafür, dass die Bürgersteige nicht gleich ganz „hochgeklappt“ werden, dass die Stadt nicht menschenleer und öde daliegt?

Gewiss: Gaststätten, Discos und wohl auch manches schummrige Etablissement. Nun ja. Doch vor allem Opern, Sprechtheater, Kinos, Konzerte oder Lesungen bringen lebhaften abendlichen Betrieb mit sich – und Museen, sofern sie gelegentlich Öffnungszeiten zu späterer Stunde anbieten, wie in echten Metropolen üblich.

In der seit Jahren laufenden Kosten-Debatte. die sich angesichts kommunaler Haushaltsnöte zuspitzt, drängt sich die Frage auf: Wozu brauchen wir Kultur, warum sollten wir sie uns auch „in Zeiten knapper Kassen“ (so die gängige Formel) leisten? Ein Thema mit vielen Aspekten und Emotionen.

Zwei gewichtige Streitfälle in unserer Region erhitzen die Gemüter und füllen Leserbriefspalten: Das Dortmunder Konzerthaus macht abermals erhöhten Zuschussbedarf geltend (morgen Thema im Stadtrat), und das für Hagen geplante Emil Schumacher-Museum droht(e) an Finanzfragen zu scheitern.

Damit die Städte lebendig bleiben

In beiden Städten spielen zwar auch politische und menschliche Klimafragen ihre Rolle doch letztlich geht’s ums Geld. Manche, die schnell fertig sind mit dem Wort, behaupten kurzum, Kindergärten oder Schwimmbäder seien wichtiger als Kultur. Es ist läppisch leicht und irrwitzig, dies gegeneinander auszuspielen. Eins wie das andere gehört zur menschlichen „Daseinsvorsorge“, wie (nicht nur) der Deutsche Kulturrat unermüdlich betont.

Das eingangs skizzierte Szenario lässt es ahnen: Wir brauchen Kultur nicht nur, um uns unseres Herkommens, unserer Werte und Aussichten zu vergewissern. Kulturgenuss gibt’s auch daheim (mit Buch oder CD), vor allem aber belebt er unmittelbar die Städte. Zudem profitieren Wirtschaftszweige davon, so etwa Gastronomie oder Hotels; ganz zu schweigen von der eigentlichen Kulturwirtschaft mit Verlagen, Galerien, Kinos, an denen etliche Arbeitsplätze hängen.

Die Sache mit den „Subventionen“

Wer wollte bestreiten, dass das vor einigen Jahren noch recht finstere Dortmunder Brückstraßen-Viertel durchs Konzerthaus erheblich vitaler und urbaner geworden ist? Davon hat beileibe nicht nur das „gehobene Bürgertum“ etwas.

Zunächst einmal ist es zweitrangig, ob öffentlich finanzierte Häuser, private Einrichtungen oder die „Freie Szene“ das Lebensgefühl steigern. Auch sind Sponsoren, denen es um die Sache geht, jederzeit willkommen. Bei ambitionierten Programmen geht es allerdings kaum ohne öffentliche „Subventionen“. Jedoch: Was gestern noch sperrig schien, ist morgen schon fast Allgemeingut. Kultur bedeutet somit auch Zukunft.

Nicht von ungefähr steht der Begriff „Subventionen“ hier in Anführungsstrichen. Denn eigentlich sind Kulturausgaben Investitionen – längst nicht nur, aber auch im wirtschaftlichen Sinn. Öffentliche Mittel sorgen dafür, dass Eintrittskarten nicht noch teurer werden. Je preiswerter die Tickets, desto breiter die möglichen Zielgruppen. Und am oberen Ende der Gehaltsskala? Nun, unsere Firmen brauchen gute Manager. Die arbeiten meist ungern in Städten, welche kulturell wenig bieten.

Pflichtaufgabe und Staatsziel

Mit landläufige „Schnäppchenjäger-Mentalität“ ist auf kulturellem Felde nichts zu bestellen. Geiz ist gar nicht geil. Umsichtige Sparsamkeit aber schon. Denn natürlich haben auch die Kulturschaffenden eine gewisse Bringschuld: Selbstgefällig gleißende, sündhaft teure Inszenierungen wirken in Zeiten, da manche auf manches verzichten müssen, mitunter obszön. Auch jene eitlen Regisseure, die mit ihrer Weltverachtung Zuschauer vertreiben, sind keine idealen Sendboten der Ästhetik.

Gern schmückt sich der Staat mit etablierter Kultur vom Beethoven-Quartett zur Feierstunde bis zum Kunstwerk in der Amtsstube. Der vormalige Bundespräsident Johannes Rau ist mit sie eben nicht ohne einige Schritte weiter gegangen, und Kulturstaatsministerin kann Christina Weiss ist ihm darin gefolgt: Wir reden von der Forderung, Kultur zur Pflichtaufgabe zu erklären, sie als Staatsziel in den Verfassungen zu verankern – damit sie eben nicht ohne weiteres weggespart werden kann.

Vielleicht lässt sich dies derzeit nicht politisch durchsetzen, doch als Denkimpuls sollte es fruchten. Wann wird man dazu ein paar klare Worte von unserem jetzigen Staatsoberhaupt Horst Köhler hören?




Wolf Wondratschek: Ein Cello erzählt

Wolf Wondratschek (60) zählte zeitweise zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern. Einst galt er, mit Bänden wie „Chucks Zimmer“ und „Carmen oder Ich bin das Arschloch der achtziger Jahre“, als führender „Pop- und Rock-Poet“ des Landes. Außerdem erregte er Aufsehen mit Texten über die ruppigen Milieus der Boxer und Bordelle. Ein Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse.

Sein neuer Roman „Mara“ (Hanser, 202 Seiten, 17.90 Euro) gibt sich thematisch gediegen: „Titelheld“ ist ein berühmtes Stradivari-Cello (Beiname „Mara“ nach dem ersten Besitzer). Es erzählt in Ich-Form seine fast dreihundertjährige Geschichte quer durch die Epochen. Und es schildert das Leben der Virtuosen, die sehr unterschiedliche Temperamente verkörpern.

Das Instrument gibt es also tatsächlich, es ist viele Millionen wert. Heute spielt es der Österreicher Heinrich Schiff, mit dem der Roman denn auch endet. Dass es noch existiert, grenzt an ein Wunder. Denn 1963 ging es bei einer Havarie vor Argentinien über Bord und wurde zu nassem Kleinholz. Wahre Könner haben es wieder restauriert.

Früher schrieb er über Jagger und Zappa, jetzt entstehen Romane über Mozart und Cellomusik. Hat sich Wondratschek mit den Jahren bürgerlich beruhigt? Der Autor wehrt sich gegen diese Annahme: „Ich habe die klassische Musik keineswegs neu für mich entdeckt, sie ist nur in den Vordergrund getreten. Ich habe als Kind selbst Cello gelernt – lange bevor ich die erste Dylan-Platte hatte. Doch die Medien haben mich nun mal als Rock-Poeten inthronisiert.“ Es gebe keinen Bruch, allerdings verschlage es ihn von Zeit zu Zeit in andere Bereiche. Wondratschek: „Das Leben ist ein Festival der Zufälle. Aber der Autor von ,Mara’ kennt sich immer noch sehr gut in ,Chucks Zimmer` aus. Ich höre immer noch Stones, Grateful Dead und Miles Davis. Aber eben auch Haydn. Vieles besteht nebeneinander.“

Überdies gebe es Parallelen zwischen Komponisten, Cello-Virtuosen und Rockstars. Auch früher hätten Musiker in ihrer Kunst Dämonen heraufbeschworen und vielfach Drogen genommen. „Wenn man in der Kunst, egal in welcher, das Äußerste wagt, so ist man stets gefährdet; ganz gleich, ob am Schreibtisch, im Atelier oder auf der Bühne.“ Das heutige Konzertpublikum wisse von diesen Extremen meist nichts. Daher könne es weder diese Musik richtig verstehen noch einen Maler wie Jörg Immendorff. Wondratschek: „Man kann kein angenehmes, friedliches Familienleben führen und dann so denken wollen wie Nietzsche. Das Absolute ist kein Spaß!“

Ihm selbst sei seine Bordell-Thematik als Etikett angeheftet worden. Manche hätten naiv gerätselt, ob er schon mal ein Etablissement aufgesucht habe. Wondratschek: „Lächerlich! Ich bin nicht nur einmal trunken hineingewankt, sondern habe zehn Jahre auf St. Pauli gelebt, war mit Zuhältern und Mädchen befreundet. Ähnlich war es im Box-Milieu. Ich war noch nie ein bloßer Tourist. Ich lasse mich auf Lebensumstände ein. Anders geht es auch gar nicht. Ich kann mir kein Thema vornehmen und dann ein bisschen was zusammen recherchieren.“

Auch der Cello-Roman verlangte tiefes Eintauchen ins Thema. Wondratschek: „In den dreihundert Jahren ist unglaublich viel passiert. Es gab anfangs keine Sinfoniekonzerte im heutigen Sinn, Musik wurde nur im kleinen Kreis gespielt, sie war dem Adel vorbehalten. Also kommt die ganze Gesellschaftshistorie mit hinein. Und natürlich eine Liebesgeschichte…“

(Der Beitrag stand in ähnlicher Form am 10. Oktober 2003 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)




Technik kann die Tagträume beflügeln – Werkschau der Multimedia-Künstlerin Laurie Anderson in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. In den dezent abgedunkelten Räumen des Düsseldorfer Museums „kunst palast“ rumort es beständig aus Lautsprechern. Zudem hängen hier etliche Kopfhörer zur gefälligen Selbstbedienung. Dazwischen flackern Videos in Kabinetten. Ein medialer Overkill, der einen nur nervös macht? Im Gegenteil: Diese Ausstellung wirkt kontemplativ.

Kein Wunder, dass man hier fast mehr zu hören als zu sehen bekommt. Denn die 1947 in Chicago geborene Urheberin heißt Laurie Anderson und hat als Musik-Performerin (Song-Erfolg: „O Superman“) einige Berühmtheit am avantgardistischen Saum des Pop-Sektors erlangt. Seit rund 30 Jahren regt sie sich auf der Szene. Größen wie Peter Gabriel, Brian Eno oder Wim Wenders haben bei gemeinsamen Projekten ihre innovative Kraft schätzen gelernt.

Laurie Anderson äußert sich in zahllosen Medien-Mischungen: Musik, Filme, Fotos, Stimmen, mit Schriftzeichen gefüllte Räume, Objekte, Installationen und theatralische Auftritte gehören zum Arsenal.

Ihre besondere Stärke liegt nicht so sehr auf den einzelnen Feldern, sondern vielmehr in der Kombinatorik, deren Alchemie oft gespenstisehe Einblicke in unbewusste Bezirke eröffnet. Eine Papageien-Figur plappert Worte und Satzfetzen daher, die man sonst höchstens still zu denken wagt – „Unsinns“-Sedimente des Lebens. Doch man lausche nur: Vielleicht kommt hier eine ungeahnte Wahrheit zum Vorschein.

Vielfach exponiert Anderson ihren Körper. So trommelt sie mit den Händen an ihren Kopf, fängt die „Hirnschalentöne“ auf und gibt sie verstärkt zum entsprechenden Videofilm wieder. Der Mensch als schaurig verkabelter Automat, als Anhängsel der Technik – oder als kreatives Wesen, das sich stets mutig in neue Symbiosen begibt?

Die Geige ist ihr Lieblings-Instrument. Es mag formal für Weiblichkeit stehen, was die Künstlerin freilich auch ironisiert, indem sie ihren eigenen männlichen „Klon“ elektronisch erzeugt. Digital gerüstet, entlockt der Strich mit dem Geigenbogen einer Computer-Festplatte präparierte Klänge der astralen Art.

Meditative Momente zuhauf: Auf einem Sockel liegt ein Kissen. Der Besucher soll seinen Kopf darauf betten. Die sphärischen Töne, die nun aus den Federn dringen, könnten seine Tagträume beflügeln. Selbst ein unscheinbarer Tisch beginnt sanft zu vibrieren, wenn man die Ellbogen darauf stützt.

Von Laurie Andersons Qualitäten als technische Tüftlerin zeugen Planskizzen, die auch Performance-Situationen penibel im Voraus kalkulieren. Die reiche Phantasie fußt auf solidem Fundament.

museum kunst palast, Düsseldarf (Ehrenhof). Bis 19. Okt., di-so 11-18 Uhr. Katalog 15 €

 




Silbrig blitzt das Haifischbecken – Frische „Dreigroschenoper“ mit Max Raabe im Dortmunder Konzerthaus

Von Bernd Berke

Und der Haifisch, der hat Zähne; doch die Verhältnisse, sie sind nicht so; nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm. Man kennt nur allzu gut den Herkunftsort dieser Zitatfetzen: „Die Dreigroschenoper“ von Bert Brecht und Kurt Weill zählt eben zum unverbrüchlichen Repertoire. Ist sie etwa „abgenudelt“?

Nicht unbedingt. Im Dortmunder Konzerthaus erklang jetzt eine Tournee-Version von erstaunlicher Frische, die in ihren besten Momenten so frech mit dem Stoff umgeht, wie es Brecht selbst wohl behagt hätte. Dabei spricht der erste Anschein dagegen: kein Bühnenbild, keine Kostüme, statt dessen Sänger(innen) in braver Abendgarderobe, teilweise mit Belcanto-Ambitionen, die Partitur immerzu in den Händen haltend.

Kurt Weill als zweites Zentralmassiv

Kann man Brecht so stockseriös nehmen, sollen wir etwa „romantisch glotzen“, wie der Stückeschreiber es verächtlich genannt hat? Aber was heißt hier Brecht? Der spielt diesmal mit seinen genial-plagiatorisch geschöpften Texten eine noble Nebenrolle. Der Schauspieler Jürgen Holtz übernimmt die epische Füllung und spricht mit sonorer Ironie die Überleitungen. In den Mittelpunkt rückt freilich eben der (konzertant dargebotene) Opern-Anteil – und Kurt Weill wird als weiteres Zentralmassiv neben oder gar vor Brecht sichtbar. So hat man’s noch in keinem Schauspielhaus erlebt.

Dirigent HK Gruber und das „Ensemble Modern“ haben die Partitur runderneuert. Die Musik wirkt auf einmal wieder silbrig blitzend, wie neu geschärft mit herrlich schrägen Jahrmarkts-Tönen und gelegentlich halsbrecherischen Tempi. Zwischendurch jault die auf „Hawaii“ getrimmte Gitarre. 1999 ergab das (seinerzeit noch mit Nina Hagen) eine preisgekrönte Plattenaufnähme. Und immer noch kann man es spüren: HK Grubers Hingabe an die Sache ist um keinen Deut ermattet. Mit diebischer Freude wechselt er die Rollen, gibt mal den vehementen Takt vor, singt mal mit Brechtschem Zeigegestus den „Peachum“.

Schnoddrig Distanz schaffen

Zentrale Figur ist Max Raabe, ansonsten mit seinem „Palastorchester“ unterwegs, hier als „Mackie Messer“ passende Register ziehend. In seiner ganzen Art wirkt er wie ein Sendbote aus den Zeiten der Uraufführung (1928). Wunderbar lässig lässt er das „R“ rollen, behandelt ach so bekannte Zeilen zuweilen beinahe schnoddrig, schnalzend Distanz schaffend – heute wohl die einzige Art, ihre Essenz zu bewahren.

Hätte sie lediglich die raue Ballade von der sexuellen Hörigkeit vorgetragen, könnte man Barbara Sukowa (Frau Peachum) Ähnliches attestieren. Doch hernach gerät sie arg ins Schleifen und presst ihren Part heiser hervor. Dafür aber steigert sich Sona MacDonaId(Polly) zusehends. Auch Ute Gferer (Jenny) und Winnie Böwe (Lucy) mehren das sängerische Kapital, so dass man die ganze Veranstaltung mit einem Brecht-Zitat loben muss: „Es geht auch anders, doch so geht es auch.“




Staunenswerte Fülle – das Revier im Zeichen der Kultur

Von Bernd Berke

Der alte, eigentlich etwas abgegriffene Slogan „Ruhrgebiet – Kulturgebiet“ hat sich am Wochenende mit ungeahntem Leben erfüllt. Fast kann man schon von Angebots-Überfülle sprechen.

Die Ruhrtriennale hat begonnen, Zehntausende waren bei der „Nacht der Industriekultur“ im ganzen Revier unterwegs, die Essener Zeche Zollverein wurde offiziell zum Weltkulturerbe erklärt. Und „ganz nebenbei“ eröffnete in der Essener Villa Hügel die fulminante Schau mit Barock-Stillleben.

In wenigen Tagen wird zudem Dortmund kulturell im Blickpunkt der Republik stehen, wenn vom 13. bis 15. September das Konzerthaus feierlich eingeweiht wird.

Da verblassen sogar Berlin und München

Derlei weithin ausstrahlende Aktivitäten haben nun auch die überregionale Presse von dern Qualitäten der Regio zwischen Dortmund, Hagen und Duisburg überzeugt. In der „Süddeutschen Zeitung“ erschien ein umfänglicher Artikel, der die Triennale und das Konzerthaus mit höchsten (Vorschuss)-Lorbeeren bedachte. Eine solche Philharmonie wie Dortmund, so klagte das Blatt, habe München nicht zu bieten. Auch die Tatsache, dass bei den Berliner Philharmonikern Simon Rattle als neuer Chefdirigent anfängt, werde neben Dortmunds neuem Haus verblassen.

Wer wollte auch direkt nach diesem prallen Revierkultur-Wochenende ins Mäkeln verfallen? Freuen wir uns erst einmal über Vielfalt ,und Lebendigkeit dieser Tage.

Die täglichen „Mühen der Ebene“

Beizeiten allerdings, wenn der Kartenverkauf der Ruhrtriennale nicht noch Höhenflüge erleben sollte, wird auch über das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu reden sein. Schlimmstenfalls wird die NRW-Landesregierung eine gewisse Standfestigkeit brauchen, um weiterhin die hohen Festival-Zuschüsse zu rechtfertigen. Hoffen wir, dass die Triennale nur den richtigen Anschub braucht, dann zum „Selbstläufer“ wird – und die bestehenden Bühnen zu ehrgeizigen Taten beflügelt.

Bei allem Regionalstolz muss zudem an die täglichen „Mühen der Ebene“ erinnert werden: an die oft missliche Lage der städtischen Theater. In Wuppertal herrscht ein rigider Sparkurs, in Dortmund drohen eines Tages vielleicht ebenfalls herbe Einschnitte. Kultur ist eben eine Daueraufgabe, nicht nur der Glanz einiger Wochenenden.