Minizyklus ohne Mundschutz: Krystian Zimerman spielt in Dortmund die Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven

Krystian Zimerman gibt nicht mehr als 50 Konzerte im Jahr. Er reist fast immer mit seinem eigenen Instrument an und führt auf Tourneen mehrere Klaviaturen mit. (Foto: Bartek-Barczyk)

Als ungebetener Gast hat das Corona-Virus die Feierlichkeiten zu Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag arg durcheinandergebracht. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2020 musste das Bonner Beethovenfest auf das nächste Jahr verschoben werden: Es soll nun vom 20. August bis 10.September 2021 über die Bühne gehen.

Weil ein Großteil der geplanten Veranstaltungen vorerst nicht stattfinden kann, verlängert die eigens gegründete Beethoven Jubiläums GmbH (BTHVN2020) ihr Programm ebenfalls bis September 2021. An Aufführungen des größten Chorwerks des Komponisten, der wuchtigen „Missa solemnis“, ist wegen der nicht ausreichend geklärten Gefahr durch Aerosole kaum zu denken.

Vor der Sommerpause nahezu komplett ins Internet gezwungen, nimmt das öffentliche Konzertleben nun allmählich wieder Fahrt auf: Wenn auch mit angezogener Handbremse. Viele Veranstalter haben ihre Programme gekürzt, bieten 70-minütige Konzerte ohne Pause und ohne gastronomisches Angebot an. Die Säle sind lückenhaft gefüllt, weil die Besucher, die bis zum Konzertbeginn Masken tragen und Hygieneregeln beachten müssen, nur mit entsprechenden Abständen Platz nehmen dürfen. An den Anblick von Dirigenten und Solisten, die das Podium mit Maske betreten und sich per Ellenbogen begrüßen, wird man sich womöglich gewöhnen müssen.

Der Pianist Krystian Zimerman indessen trägt bei seinem jüngsten Auftritt im Konzerthaus Dortmund keinen Mund-Nasen-Schutz. Gemeinsam mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg und dem Dirigenten Gustavo Gimeno zollt er dem Beethovenjahr mit einer Gesamtaufführung der Klavierkonzerte Tribut, verteilt auf drei Termine und verknüpft mit Schlüsselwerken der Zweiten Wiener Schule. Für diese sind jeweils die Streicher des Orchesters zuständig.

Beim Auftakt spielen sie die Fünf Sätze op. 5 von Anton Webern: flüchtige Miniaturen von insgesamt kaum mehr als zwölf Minuten Länge, im Jahr 1909 ursprünglich für Streichquartett komponiert. Die Musiker aus Luxemburg entfalten die fragilen Tonschöpfungen mit viel Fingerspitzengefühl, sind in den schnellen Sätzen aber durchaus fähig zu ruppigen Fortissimo-Ausbrüchen. Trotz der Kürze der Sätze beweisen sie einen ausgeprägten Sinn für deren jeweilige Atmosphäre. Grüblerisch grundiert klingt der zweite Satz, wolkig und diffus der vierte, beide mit der Tempobezeichnung „Sehr langsam“. Der lebhafte dritte Satz endet mit einer nachgerade hektisch auffahrenden Unisono-Floskel. Diffus und dünn, sogar morbide dann der Schluss, in dem die Töne wie kraftlos niedersinken, bevor sie sich ins Nichts verlieren.

Krystian Zimerman tritt zuweilen auch als Dirigent auf. Zu Chopins 150. Todestag gründete er 1999 das Polish Festival Orchestra (Foto: Bartek-Barczyk)

Der weitaus größere Teil des Abends aber gehört Beethovens Klavierkonzerten Nr. 2 (B-Dur) und Nr. 1 (C-Dur), in denen Krystian Zimerman sich als der Grandseigneur am Flügel erweist, als den ihn die Musikwelt kennt und schätzt. Einen Hauch von Exzentrik erlaubt er sich, wenn er im B-Dur-Konzert nachgerade säuselnd einsetzt, wenn er dessen Mozart’schen Figurationen und Verspieltheiten zuweilen mehr Nebel als Prägnanz verleiht. Dabei wirkt die Klangbalance mit dem Orchester nicht immer glücklich. Mancher Lauf im Klavier geht beinahe unter, und manches Tutti trumpft arg mit Lautstärke auf.

Indessen ist Zimerman keiner, der unbedingt brillieren muss. Er kann sich mit der Gelassenheit des Meisters zurücknehmen, mit dem Orchester dialogisieren, im Adagio ein paar hingetupften Tönen edle Ausdruckstiefe und marmorgleiche Schönheit verleihen. Robuster greift er im abschließenden Rondo zu, das dann auch gleich mehr nach Beethoven als nach Mozart klingt. Obschon Zimerman die Moll-Wendungen weit weniger vehement spielt als andere, spricht aus den Vorschlägen sprühende Spielfreude, ebenso wie aus den leuchtenden Trillern im Diskant.

Diese Eindrücke bestätigen sich nach der Pause im C-Dur-Konzert. Vieles klingt kernig, manches aber auch unerklärlich verwaschen. Ein Hauch von Exzentrik fehlt ebenfalls nicht: den Abwärtslauf vor der Reprise spielt Zimerman als Glissando. Hernach blickt er nachdenklich auf seine strapazierten Fingerkuppen. Aber wie er im Adagio kaum mehr Klavier spielt, sondern tönende Gedanken schweifen lässt, wie er auf der friedvollen Klangfläche inwendig singende Schnörkel zieht, ist einfach und groß. Mitreißend im Rondo seine Freude am rhythmischen Drive, am brillanten Furor dieses Finales. Mehrfach lockt ihn das Publikum nach den Schlusstakten durch begeisterten Applaus hervor. Beim letzten Mal hat Zimerman schließlich doch eine Maske in der Hand.

Die Künstler setzen die Gesamtaufführung der Klavierkonzerte am 3. Oktober (Nr. 3) und am 25. Oktober (Nr. 4 und 5) fort. Tickets und Informationen:

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/287/?saison=202021




Neues Album „Rough and Rowdy Ways“ – Bob Dylan auf dem Höhepunkt seines Schaffens

Gastautor Bernd Huber über das neue Album von Bob Dylan:

Bob Dylan legt uns mit „Rough and Rowdy Ways“ die Blaupause seiner künstlerischen Persönlichkeit vor. Er destilliert das, was man von ihm halten darf und bleibt sich selbst treu. Er hatte mit den Musen nie ein Problem, er brauchte sich nie um sie zu bemühen. Aber jetzt ruft er sie an, augenzwinkernd.

Aber so hatte er auch angefangen. Die Musik und die Worte, das war für ihn nie billiger Karneval, kein Tingeltangel, kein Clap your hands und I love you all, immer war das Kunst für ihn. Und weil es immer Kunst war, man in ihm aber einen Botschafter für andere Dinge sehen wollte, schnallte er sich irgendwann die Stratocaster um. Dylan machte aus dem Rock’n’Roll keinen Zirkus, er nahm ihm jeden marktschreierischen Ansatz.

Ich weiß noch, wie er mich als junger Mann erschreckte, so schön war er, und er wusste schon sehr gut, wer er war. So etwas hatte ich nie erlebt. Als er einem Journalisten, der ihm vorwarf, gar nicht richtig singen zu können, antwortete, er sänge schöner als Caruso, war da auch schon Poesie in dieser Antwort.

Melancholie, aber auch Aufbegehren

Von William Blake und Shakespeare bis Jimmy Reed, Dylan hat alles verinnerlicht. Chopin, Beethoven, alles ist in seiner Musik und in seinen Lyrics. „Rough And Rowdy Ways“ ist die Konsequenz seines Schaffens, indem er sich selbst auf die Spitze treibt. Den Preis, den er für das alles bezahlt, nennt er uns, wenn er davon singt, dass man sowohl weinend als auch lachend dichten muss. Und dann ist auch noch der Wunsch unsichtbar zu sein, wie der Wind.

Ich stehe Alterswerken von Rockmusikern skeptisch gegenüber, aber Dylan ist ja kein Rockmusiker im eigentlichen Sinne und wäre er einer, dann wäre er eben auch mit dieser Platte eine Ausnahme, denn er lässt sich nicht hinreißen, „nur“ mit der Altersmelancholie zu kokettieren. Dylan wäre nicht Dylan, wenn da nicht Aufbegehren, ein Anflug von Zynismus und Kraft wären. „How long can it go on?“ Und der nächste Satz: „I crossed the rubicon“. Ich habe mich der Welt geöffnet, singt er, jedoch auch: „Ich zeige Euch vieles von mir, aber nicht alles“.

Den vergessenen Blues neu belebt

Die Musik ist unter all’ diesen Worten ist so wunderbar direkt, druckvoll und verletzlich gleichzeitig. Hier singt ein Narr zu einem Dieb, aber der Dieb hat dem Narren den Text untergeschoben. Haben einmal die Weißen den Blues von den Farbigen geklaut, aus ihm dann Rock’n’Roll gemacht, so steht es Bob Dylan zu, diesen vergessenen Blues wieder aus der Taufe zu heben, ihn mit Country und all’ den großen Songs der amerikanischen Geschichte zu versöhnen. Wenn er singt, er sei kein falscher Prophet, sondern nur einer, der sagt, was er denkt und fühlt, dann bin froh, dass einer so denken und fühlen kann und diesem Denken und Fühlen eine einmalige Form verleihen kann.

Der junge Bob Dylan ist als Intellektueller gestartet. Wenn einer Zimmermann heißt, sich aber selbst zu Bob Dylan macht, dann weiß er schon, wo er hin möchte. Mit seiner neuen CD ist er, wie er singt, ziemlich zwischen Himmel und Erde angekommen. Höher hinauf kommt keiner mehr. Zumindest ist niemand in Sicht, dem das ansteht.

Es ist ein weiter Weg gewesen von ALL ALONG THE WATCHTOWER bis zu ROUGH AND ROWDY WAYS, aber jede Etappe mit Dylan war es wert, dass man sie mitgegangen ist. Sein neues Album ist jetzt schon ein Meilenstein in der Pop-und Rockgeschichte. Wir erleben den größten Songwriter aller Zeiten auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Es gibt nichts Vergleichbares.




Die Kraft der Musik ist zurück: Rudolf Buchbinder beim Klavier-Festival Ruhr in Bochum – unter teils surrealen Umständen

Sehr spezieller Moment nach Rudolf Buchbinders Konzertauftritt: Die Blumen-Übergabe erfolgte diesmal per Roboter. Die Apparatur ist eine Entwicklung des Lehrstuhls für Produktionssysteme im Fachbereich Maschinenbau der Ruhr-Uni Bochum (Prof. Bernd Kuhlenkötter). (Foto: Sven Lorenz)

Gastautor Robert Unger über den Wiederbeginn des Klavier-Festivals Ruhr – unter teilweise surreal anmutenden Bedingungen:

„Endlich sind Sie wieder da!“, begrüßte der Intendant des Klavierfestivals Ruhr, Franz Xaver Ohnesorg, die Konzertbesucher. Voller Spannung wartete das Publikum auf dieses Live-Erlebnis.

Betritt man das Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum für das erste Konzert des Festivals in seiner nun arg verkürzten Spielzeit, fühlt man sich eher wie in einer Quarantänestation. Mit großem Abstand und unter strengen Hygieneregeln verteilen sich im 952 Plätze fassenden Konzerthaus knapp 200 Besucher. Das Foyer, bei den meist ausverkauften Konzerten im Musikforum sonst stets ein proppenvoller, summender Bienenstock, ist an diesem Tag sehr übersichtlich belegt. Hier und da stehen zwei, drei, vier Musikfreunde mit Abstand beisammen, plaudern, begrüßen sich. Dabei ist gerade in schwierigen Zeiten eigentlich das Bedürfnis groß, lebendige Konzertmomente zu erleben. So war das Publikum voller Spannung; eine Reihe von Besuchern ließ auch die Dankbarkeit dem Klavier-Festival Ruhr gegenüber spüren, endlich wieder einem Konzert beiwohnen zu können.

Es scheint wie eine glückliche Fügung, dass das Klavier-Festival Ruhr mit dem renommierten Beethoven-Spezialisten Rudolf Buchbinder und den „Diabelli Variationen“ sowie mit der deutschen Erstaufführung von elf „Neuen Diabelli Variationen“ in die Saison starten konnte. 1819 hatte der Musikverleger Anton Diabelli an bekannte Komponisten seiner Zeit einen simplen Walzer mit der Bitte um eine Variation geschickt. Johann Nepomuk Hummel, Franz Kalkbrenner, der erst elf Jahre alte Franz Liszt, Franz Schubert und einige andere lieferten. Beethoven ließ sich Zeit, schrieb aber dann gleich 33 „Veränderungen“, die als op. 120 in seinen Werkkanon eingingen. 200 Jahre später fragte Buchbinder mit Blick auf das anstehende Beethoven-Jahr zeitgenössische Komponisten nach neuen Variationen. Elf folgten dem Kompositionsauftrag eines Reigens von europäischen Konzerthäusern, unterstützt von der renommierten Ernst-von-Siemens-Stiftung.

Nicht nur schön, sondern auch wahrlich geräumig: das Anneliese Brost Musikforum Bochum. (Foto: Sven Lorenz)

Elf „Neue Diabelli Variationen“

Frappierend genial wirkt der Walzer aus der Feder des Wiener Musikverlegers nicht. Genial war allerdings Diabellis Marketing-Strategie, das Stück den prominentesten Tonsetzern, Virtuosen und Musikhonoratioren des Kaiserreichs zur Bearbeitung vorzulegen. Leider beginnt das Konzert nicht (wie auf dem Programmzettel angekündigt) mit dem Original-Walzer, sondern gleich mit der ersten neuen Variation „Diabellical Waltz“ der einzigen Komponistin in der Liste, Lera Auerbach. Die Neukompositionen zu Beethovens 250. Geburtstag wirken wie ein globales Stilpanorama. Mit dabei sind der Russe Rodion Schtschedrin, der Australier Brett Dean, der Chinese Tan Dun, der Japaner Toshio Hosokawa, der Brite Max Richter und der Deutsche Jörg Widmann. Ob schräg, witzig oder meditativ – immer ist der kreative Umgang mit Diabellis harmlosem „Schusterfleck“ herauszuhören.

Christian Jost nannte seinen Beitrag schlicht „Rock it, Rudi!“, was sich Rudolf Buchbinder denn auch nicht zweimal sagen ließ. Und zu den amüsantesten zeitgenössischen Beiträgen gehört sicher der von Jörg Widmann: Er scheint sich zu fragen, ob das seltsam zackige Thema Diabellis überhaupt das Zeug zum Walzer hat, erkennt dann eine eklatante Verwandtschaft mit dem Radetzky-Marsch und lässt es zu guter Letzt noch zum Boogie-Woogie mutieren. Andere emotionale und sphärische Klänge erklingen bei Hosokawas „Verlust“. Diese erste Hälfte des Konzertes wird im Klang auch beeinflusst durch den fast leeren Saal. Das Klavierspiel von Rudolf Buchbinder wirkt oft laut und stampfend. Ein nicht allzu fernes Echo scheint die ganze Zeit durch den Raum zu strömen.

Kritische Momente beim „Lebens-Motiv“

Nach einer kurzen Pause beginnt für den Pianisten und die Zuhörer die eigentliche Herausforderung. Hans von Bülow nannte die Diabell-Variationen einmal so knapp wie treffend einen „Mikrokosmos des Beethovenschen Genius, ja, sogar ein Abbild der ganzen Tonwelt“. Beethoven widmete dem einfachen Walzer nicht nur eine Bearbeitung. Er nahm das Thema und versah es mit virtuosen Umspielungen, zerlegte es gnadenlos in seine banalen Einzelteile, aus denen er dann ganz Neues baute, etwa einen pompösen Marsch oder eine dreistimmige Doppelfuge. Diese Welt betritt Buchbinder an diesem Abend mit sehr vehementem Schritt. Töne verschwimmen, die Raffinesse Beethovens will sich nicht einstellen.

Buchbinder, der im Rahmen seines Zweiklangs aus neuer CD-Aufnahme und Buchveröffentlichung sagt, „manchmal habe ich den Eindruck, er sitzt neben mir“ (und damit meint er Ludwig van Beethoven), beschäftigt sich seit vielen Jahren akribisch mit dem Werk Beethovens. Die Diabelli-Variationen, die er bereits zum dritten Mal eingespielt hat, nennt er selber sein „Lebens-Leitmotiv“. Ein Lebensmotiv, das er ohne Zweifel durch die Idee der Neukompositionen bereichert hat, aber der Ursprung wirkt dabei an diesem Abend wenig inspiriert. Kaum Tempovarianten bei raschem Spiel bestimmen den Ablauf der 33 Variationen. Nicht immer gelingen das Austarieren der Crescendi, die homöopathisch dosierten Rubati, die harschen Lautstärke-Kontraste.

Aber sind solche kritischen Momente im Konzert das Entscheidende dieses Abends? Wenn sich am Ende der Variationen das Publikum begeistert zu „Standing Ovations“ erhebt, verspürt man eine erleichterte Freude beim Musiker und seinem Publikum über das gemeinsam Erlebte. Nach monatelanger Stille in den Konzertsälen und sich endlos anfühlendem Warten der Musiker auf den nächsten Auftritt kann man dem Klavier-Festival Ruhr und Rudolf Buchbinder nur Respekt zollen für diesen mutigen Auftakt und den Vorstoß in unbekannte Verhältnisse. Die Kraft der Musik kann letztlich nur im Live-Erlebnis ihren Zauber entfalten. Zugleich darf man aber auch weiterhin gespannt sein, wie sich dieser Zauber in luftig gefüllten Sälen mit Abstandsregeln und Mundschutz in den nächsten Wochen entwickeln wird.

Weitere Konzerte in Dortmund, Düsseldorf, Herten

Das Klavier-Festival Ruhr schaut nach Auftritten von Jan Lisiecki in Dortmund und Essen und einem trotz aller Corona-Beschränkungen stimmungsvollen Konzert mit Anika Vavic auf Schloss Gartrop in Hünxe (Niederrhein) voraus auf den mit Spannung erwarteten Abend mit Igor Levit am 18. Juni im Konzerthaus Dortmund). Weiterhin auf dem Programm: Alexander Krichel (24. Juni, Anneliese Brost Musikforum Ruhr), Olli Mustonen (25. Juni, Gebläsehalle im Landschaftspark Nord, Duisburg) und Kit Armstrong (29. und 30. Juni, Schloss Herten).

Am 1. Juli wird in der Philharmonie Essen der Grandseigneur des Tastenspiels, Sir András Schiff, die enge Verbundenheit Bachs und Beethovens im Kontrapunkt aufzeigen. So finden sich im Programm etwa gleich zwei Werke des Kontrapunktikers Bach, darunter die hochvirtuose „Chromatische Fantasie und Fuge“, deren Echo in der epochalen letzten Klaviersonate Nr. 32 von Beethoven widerhallt. Der Höhepunkt ist dann wohl im Juli der Auftritt von Elisabeth Leonskaja am 6. Juli in Düsseldorf. Auf dem Programm die drei letzten Sonaten op. 109 bis 111, der Gipfel des Beethovenschen Klavierschaffens und eine Hommage an den Wiener Großmeister, die nur schwer vergessen lässt, dass eigentlich das Gesamtwerk Beethovens für Klavier solo in diesem Jahr beim Klavier-Festival Ruhr hätte erklingen sollen.

Über sämtliche Konzerttermine und die aktuellen Programme informiert das Klavier-Festival Ruhr tagesaktuell unter www.klavierfestival.de. Dort finden sich auch Informationen über etwaige neue, die Konzerte des Klavier-Festivals Ruhr betreffende behördliche Verordnungen. Um Karten zu erwerben, trägt man sich am besten online in die Warteliste für das jeweilige Konzert ein.

 




Kultur geht notgedrungen weiter ins Netz: Viele Programme online / Ständige Updates: Weitere Projekte (und Absagen)

Das waren noch andere Zeiten: Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Opernhauses – vor Beginn einer Vorstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal wieder ein paar Nachrichten aus dem derzeit stark eingeschränkten (Dortmunder) Kulturleben, kompakt zusammengestellt auf Basis von Pressemitteilungen der jeweiligen Einrichtungen.

Die Mitteilungen werden – im unteren Teil dieses Beitrags – von Tag zu Tag gelegentlich ergänzt und/oder aktualisiert, auch gibt es dort Neuigkeiten aus anderen Revierstädten, vor allem über weitere Absagen, aber auch zu Online-Aktivitäten.

Theater Dortmund: Keine Vorstellungen bis 28. Juni

Das Theater Dortmund bietet auf seinen sämtliche Bühnen (Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater) bis einschließlich 28. Juni 2020 keine Vorstellungen an. Wie es danach weitergehen wird, weiß noch niemand.

Die Regelung schließt die Konzerte der Dortmunder Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund ein. Der Betrieb im Theater läuft jedoch bis zur Sommerpause weiter. Neue mobile Vorstellungsformate sollen ab Mai 2020 bis zum Ende der Spielzeit 2019/20 aufgenommen werden.

Dazu Tobias Ehinger, der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund: „So sehr wir diesen Schritt bedauern, steht die Gesundheit unseres Publikums sowie unserer Kolleginnen und Kollegen im Mittelpunkt. Jedoch dürfen wir auch in der jetzigen Zeit, unser Leben nicht nur auf Funktionalität begrenzen. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die hohe Bedeutung von Kultur. Kultur ist nicht hübsches Beiwerk oder Luxus, sondern elementar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir fordern die Entscheidungsträger in Bund und Land auf, Maßnahmen und Konzepte zur schrittweisen Öffnung unserer Theater und Konzertsäle zu beschließen und die Gesellschaft nicht durch ein zu kurz gegriffenes Verständnis der Systemrelevanz zu trennen.“

___________________________________________________

Unterdessen werden Spielpläne für die nächste Saison online per Video-Präsentation angekündigt:

Philharmoniker, Oper und Ballet

So wird sich – wie die Theater-Pressestelle mitteilt – in der Spielzeit 2020/21 bei den Konzerten der Dortmunder Philharmoniker alles um das Verhältnis zwischen Mann und Frau drehen.

Das Motto der Spielzeit lautet „Im Rausch der Gefühle“. Ergänzend heißt es, die berühmtesten Paare der Weltliteratur, wie Romeo und Julia, Othello und Desdemona, Orpheus und Eurydike sowie Tristan und Isolde, hätten die Komponisten zu großartigen Orchesterwerken inspiriert.

Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar sei, könne es ggf. noch zu „Anpassungen“ kommen.

Textversion des Spielplans unter: www.tdo.li/tdo2021

Generalmusikdirektor Gabriel Feltz erläutert den Spielplan 2020/21, hier ist der Link, der auch zur Präsentation des Opern-Spielplans (durch Opernchef Heribert Germeshausen) und des Balletts (durch Ballettchef Xin Peng Wang) führt: https://www.theaterdo.de/medien/videos/spielzeit-2021/

Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) Dortmund startet mit neun Neuproduktionen und neun Wiederaufnahmen in die neue Spielzeit 2020/21. Als Motto hat sich KJT-Direktor Andreas Gruhn mit seinem Team den „Freien Fall“ gesetzt. In einer Welt, in der politische Systeme ins Wanken geraten und die Natur zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät, scheint sich die Abwärtsspirale immer schneller zu drehen. Aus dem Unglück des Fallens können aber auch ungeahnte Möglichkeiten wachsen.

Auch beim KJT heißt es: „Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar ist, kann es ggf. zu Anpassungen kommen.“

Printversion des Spielplans unter www.tdo.li/tdo2021
Video mit Andreas Gruhn unter www.theaterdo.de/publikationen/videos

_________________________________________

Auch das Konzerthaus Dortmund präsentiert das Programm der nächsten Saison auf digitalem Weg:

In einem Video erläutert Intendant Raphael von Hoensbroech, welche hörenswerten Künstler und Konzerte ab September in der Spielzeit 2020/21 zu erwarten sind. Hoensbroech lädt daher zu einem virtuellen kleinen Ausflug ins Konzerthaus.

______________________________________________

Dortmunds neues Literaturstipendium um drei Monate verschoben:

Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“, Judith Kuckart, wird aufgrund der Corona-Krise erst ab August 2020 für sechs Monate nach Dortmund kommen. Ursprünglich hatte sie ihr Stipendium im Mai antreten wollen. Ihre für den 15. Mai geplante Auftaktlesung im Literaturhaus soll trotzdem stattfinden – allerdings ohne Live-Publikum: Das Literaturhaus am Neuen Graben zeigt die Lesung aus dem aktuellen Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ online am 15. Mai 2020 ab 19.30 Uhr (weitere Infos unter www.literaturhaus-dortmund.de).

Neues Konzertformat „Musik auf Rädern“

Am Dienstag, 5. Mai 2020, startet das Theater Dortmund das der Corona-Pandemie angepasste Konzertformat „Musik auf Rädern“. An verschiedenen Standorten in Dortmund werden die Oper Dortmund und die Dortmunder Philharmoniker jeweils um 16 Uhr kleine Live-Konzerte von ca. 20 Minuten Dauer geben. Die Abstandsregelungen werden dabei eingehalten. Mit dem Programm kommt das Theater Dortmund vor allem zu den Menschen, die aufgrund ihrer Identifizierung als „Risikogruppe“ besonders in ihrem Bewegungsfreiraum eingeschränkt sind. Der erste Auftritt findet mit der Sopranistin Irina Simmes vor dem Seniorenwohnsitz „Kreuzviertel“ 44139 Dortmund-Kreuzviertel, Kreuzstraße 68 / Ecke Lindemannstraße statt.

_________________________________________

Eröffnungsfest im Naturmuseum fällt aus

Die für den 7. Juni geplante große Wiedereröffnung des Naturmuseums nach Jahren des Umbaus fällt aus. Die neue Dauerausstellung soll voraussichtlich im September eröffnen.

„Robin Hood“-Schau bis 20. September

Das derzeit noch geschlossene Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße verlängert seine ursprünglich bis Mitte April geplante Familienausstellung „Robin Hood“ bis zum 20. September.

„Studio 54″ vorerst nicht in Dortmund

Das „Dortmunder U“ kann die ab 14. August geplante Ausstellung „Studio 54″ (Übernahme aus dem Brooklyn Museum) über den legendären New Yorker Nachtclub in diesem Jahr nicht mehr zeigen.

Diesmal kein Micro!Festival

Das Micro!Festival, das sonst immer am letzten Wochenende der Sommerferien stattfand, fällt in diesem Jahr komplett aus.

_________________________________________

Blicke in die anderen Städte des Ruhrgebiets:

2020 keine Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale wird 2020 nicht stattfinden. Der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH hat diesen Beschluss einstimmig gefasst. Das Festival hätte vom 14. August bis zum 20. September stattfinden sollen. Rund 700 Künstlerinnen und Künstler aus 40 Ländern wären an den 33 Produktionen und Projekten beteiligt gewesen. Sowohl die Intendantin Stefanie Carp als auch Ko-Intendant Christoph Marthaler haben Unverständnis über diese Entscheidung geäußert.

ExtraSchicht fällt ebenfalls aus

Auch die ExtraSchicht muss wegen Corona ausfallen. Die Nacht der Industriekultur hätte am 27. Juni zum 20. Mal die Metropole Ruhr bespielen sollen.
Die Ruhr Tourismus GmbH (RTG) hatte bis zum letzten Moment an Alternativkonzepten gearbeitet. Die Durchführung einer Veranstaltung Ende Juni mit über 250.000 Besuchern sei aber derzeit nicht verantwortbar, so die RTG. Eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt in diesem Jahr sei wegen des großen organisatorischen Aufwandes nicht möglich. Das Geld für bereits erworbene Tickets wird zurückerstattet. Mehr Infos unter www.extraschicht.de.

„Mord am Hellweg“ auf Herbst 2021 verschoben

Die zehnte Ausgabe des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ (Zentrale in Unna) wird um ein Jahr verschoben. Die für diesen Herbst geplante Jubiläumsausgabe wird auf die Zeit vom 18. September bis 13. November 2021 verlegt. Weitere Infos unter www.mordamhellweg.de

Moers Festival diesmal rein digital

Auch das renommierte Moers Festival (29. Mai bis 1. Juni) geht diesmal als digitales Festival über die Bühne. Die Konzerte werden als Livestream auf der Website, bei Facebook und bei Arte concert gezeigt. WDR 3 wird wie gewohnt übertragen.
Infos: www.moers-festival.de

Wittener Tage für Neue Kammermusik nur im Radio

Die Wittener Tage für Neue Kammermusik (24. bis 26. April 2020) haben sich ebenfalls umgestellt: In diesem Jahr kamen die Konzerte ausschließlich übers Radio. WDR 3 richtete das Festival als exklusives Hörfunk-Ereignis aus.
Infos unter www.wdr3.de und www.kulturforum-witten.de

Klangkunst in Marl als virtuelle Führung

Das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl zeigt seine Klangkunst-Ausstellung diesmal per Video: „sound + space“ von Johannes S. Sistermanns und Pierre-Laurent Cassère ist online zu sehen. Im Mittelpunkt der virtuellen Führung steht ein Gespräch des Museumsdirektors Georg Elben mit dem Klangkünstler Sistermanns. Das Video ist auf der städtischen Internetseite unter www.marl.de und demnächst mit weiteren Informationen auch unter www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de zu sehen.

Impulse Theater-Festival fällt aus

Das Theater-Festival „Impulse“, das vom 4. bis 14. Juni hätte stattfinden sollen, ist abgesagt worden – besonders schmerzlich, weil zum 30-jährigen Bestehen des Festivals einige besondere Programme geplant waren. Bestimmte Teile sollen als digitale Formate im ursprünglich geplanten Festival-Zeitraum online gezeigt werden. Details dazu demnächst unter: www.impulsefestival.de

Theater Oberhausen: „Die Pest“ als Miniserie im Netz

Das Oberhausener Theater zeigt eine Bühnenbearbeitung nach Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ als Miniserie in fünf Episoden. Gezeigt wird die Serie im Internet ab Samstag, 2. Mai, dann weiter wöchentlich, jeweils ab 19.30 Uhr. Weitere Infos: www.die-pest.de

3Sat zeigt Bochumer „Hamlet“ – jetzt via Mediathek

Im Rahmen seiner Reihe „Starke Stücke“ zeigt der TV-Sender 3Sat am Samstag, 2. Mai., um 20.15 Uhr eine Aufzeichnung von Johan Simons‘ Bochumer „Hamlet“-Inszenierung. Bis zum 30. Juli 2020 bleibt die Inszenierung in der Mediathek von 3Sat greifbar.

Auch hierhin würden Theaterfans im Revier gern wieder pilgern: Schauspielhaus Bochum. (Foto: Bernd Berke)




Pressekonferenz per Video: Programm der Neuen Philharmonie Westfalen rankt sich um Beethoven

NPW-Orchesterchef Rasmus Baumann, aus seinem Home-Office der Pressekonferenz zugeschaltet. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Heute habe ich die erste Video-Pressekonferenz meines doch schon recht langen Berufslebens absolviert. „In den Zeiten von Corona“ (eine bereits völlig ausgelutschte Wendung, ich weiß) ist ein solches Verfahren wohl ratsam. Der Blick in eine mögliche Zukunft des journalistischen Gewerbes ging von Unna aus. Dort wurde heute das Programm 2020/21 der Neuen Philharmonie Westfalen (NPW) vorgestellt, das im Kern aus neun Sinfoniekonzerten besteht. Hier ist der Link, der Einzelheiten erschließt, die wir an dieser Stelle nicht ausbreiten können.

Wie wir alle seit gestern wissen, sind Großveranstaltungen (also auch Konzerte der E-Musik) mindestens bis zum 31. August 2020 generell untersagt. Michael Makiolla, Landrat des Kreises Unna, gab sich heute dennoch zuversichtlich, dass das NPW-Programm im September 2020 beginnen kann. Makiolla betonte, Kultur sei gerade in diesen Zeiten weiterhin wichtig. Man werde alles tun, um das Orchester auch künftig zu erhalten.

Auch Chefdirigent Rasmus Baumann möchte optimistisch nach vorn blicken. Er erläuterte das Programm, das sich um Ludwig van Beethoven (1770-1827) rankt. Der weltberühmte Komponist wurde bekanntlich vor 250 Jahren geboren. Freilich will Baumann kein reines Beethoven-Programm gestalten, sondern einige seiner Schöpfungen mit jenen anderer Komponisten verknüpfen oder auch kontrastieren. Mehrere Abende werden auch gänzlich ohne Beethoven-Musik bestritten.

Keine Beethoven-Inflation also, damit auch etwas für kommenden Spielzeiten übrig bleibt; denn, so Baumann: „Beethoven spielen wir ja eigentlich immer. Seine Werke sind sozusagen eine Bibel.“

Und so kommt es, dass gleich beim 1. Sinfoniekonzert (geplant für den 9. September in der Kamener Konzertaula) beispielsweise auch die Zweite Sinfonie von Robert Schumann erklingt – unter dem sprichwörtlichen Motto des Abends, das aus Goethes Drama „Egmont“ stammt und welches da lautet: „Himmelhoch jauchzend, / Zu Tode betrübt…“ Letztere Stimmungslage fügt sich auf tieftraurige Weise zu Schumanns schizophrenem Seelenzustand jener Zeit. Das andere Hauptwerk des Abends ist just Beethovens Schauspielmusik zum „Egmont“.

Das 2. Sinfoniekonzert umfasst u. a. Beethovens Sechste („Pastorale“), die Überschrift des Abends lautet „Landpartie“. Mit ähnlich lockenden Titeln geht es weiter. So wird man etwa beim 7. Sinfoniekonzert (Losung: „Very British“) die Ouverture zu „Roberto Devereux“ von Gaetano Donizetti hören, die mit der Tonfolge von „God save the Queen“ (britische Nationalhymne) beginnt und sinnigerweise mit einem Werk des Briten Edward Elgar kombiniert wird. Der achte Abend ist ausschließlich Komponistinnen gewidmet, u. a. Sofia Gubaidulina und Clara Schumann. „Hörnerschall“ heißt die Devise zum Abschluss beim 9. Konzert.

Man merkt Rasmus Baumann schon die Vorfreude auf eine hoffentlich ungetrübte neue Saison an, er ist voll des Lobes fürs regionale Publikum – und für die Mitwirkenden der Konzerte, von denen einige zumindest auf dem Sprung zur Weltkarriere stünden. Wenn Baumann nicht die eine oder den anderen schon länger kennen würde, kämen sie wohl schwerlich in die westfälische Provinz, wo man programmlich meist etwas konventioneller ansetzen muss. Raritäten und gewagte Experimente stehen hier nicht im Vordergrund.

Zum Reigen der neun Sinfoniekonzerte kommen beispielsweise noch Crossover-Veranstaltungen wie „Abba Forever“ sowie Kinderkonzerte („Beethoven auf der Spur“) und Familienkonzerte („Dschungelbuch“, „Peter und der Wolf“).

Die 1996 gegründete Neue Philharmonie Westfalen spielt ihre Sinfoniekonzerte traditionell in der Kamener Konzertaula. Diesmal wird man auch einmal im Süden des Kreises Unna gastieren, in der Rohrmeisterei Schwerte. Außerdem ist ein Freiluftkonzert auf dem Marktplatz von Unna vorgesehen. Weitaus mehr noch: Der als NRW-Landesorchester fungierende Klangkörper bespielt außerdem seit vielen Jahren das Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen und vor allem das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR), das zwar ein Ensemble, aber kein eigenes Opernorchester hat.

Landrat Michael Makiolla bei seinem Statement. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Der Subventions-Struktur sei Dank: Durch die Corona-Krise hat das Orchester bislang nur sehr überschaubare finanzielle Einbußen erlitten. Landrat Michael Makiolla verweist allerdings darauf, dass man am Ende des Jahres noch einmal genauer Bilanz ziehen müsse.

Apropos Einnahmen: Wie Mike-Sebastian Janke, Kreisdirektor und Kulturdezernent des Kreises Unna, sagte, nimmt die Zahl der Konzertabonnenten – vornehmlich aus „demographischen Gründen“ – seit Jahren geringfügig ab, je Saison um etwa 20 Abos. Teilweise wettgemacht wird dieser Verlust durch gesteigerte Einzelverkäufe. Dem will man nun durch den erstmals möglichen Verkauf von Einzeltickets übers Internet Rechnung tragen. Auch die Abos werden flexibel gehandhabt. Neben dem Neuner-Paket kann man auch 6 oder 3 Konzerte nach Wahl buchen.

Um auf die Video-Pressekonferenz zurückzukommen: Nach kleinen technischen Hakeleien hat die Sache recht gut funktioniert, passgenaues Umschalten der Kameraperspektiven und verständliche Dialoge inbegriffen. Wenn man in den letzten Jahrzehnten viele Hundert Pressetermine auf herkömmliche Art erlebt hat, mag man bedauern, dass so etwas früher nicht möglich war. Da hat man so manchen Kilometer abgespult, den man sich (und der Umwelt) hätte ersparen können – mit Zeitdruck, Staus und allem anderen „Komfort“. Tempi passati.

Dennoch: Schön wär’s, Pressekonferenzen und Vorbesichtigungen gelegentlich auch mal wieder als physische Präsenzveranstaltungen erleben zu dürfen. Aber wem sage ich das?

___________________________________________

Hier nochmals der Link zum gesamten Programm mit Download des Programmheftes.




Nach all den Absagen: Helft den Kulturschaffenden – und den Leuten im freien Journalismus!

Leerer Zuschauerraum – hier im Bochumer Schauspielhaus. Aufnahme von November 2018, nach Schluss einer Vorstellung. (Symbolfoto: Bernd Berke)

Nachdem allerorten vermeldet wird, welche (Kultur)-Veranstaltungen nicht mehr ausgetragen werden; nachdem man sich dabei tendenziell immer kürzer fassen kann (Es findet ja praktisch nichts mehr statt) – nach all dem muss man in der Tat dringlich über die vielen Freischaffenden in der Kunst- und Kulturszene reden.

Nicht wenige von ihnen hängen von (teilweise ohnehin geringen) Honoraren bzw. Einzelgagen pro Auftritt ab und befinden sich sowieso häufig am unteren Rande des Ein- und Auskommens. Und da sprechen wir nicht nur von den zahlreichen Musikern, Comedians und Kabarettisten, wie sie speziell auch die Kulturlandschaft des Ruhrgebiets mitgestalten.

Wenn „wir“ (Steuerzahler) jetzt mal wieder Teile der Wirtschaft und womöglich auch erneut Banken retten sollen, so mag das in bestimmten Fällen und Branchen recht und billig sein. Nichts dagegen einzuwenden, sofern der Bedarf auch ernsthaft geprüft wird und keine Lobby-Interessen bedient werden.

Ein Unterstützungs-Fonds wird dringend gebraucht

Freilich sollte gerade dann auch ein ordentlich ausgestatteter und möglichst unbürokratisch gehandhabter Unterstützungs-Fonds für all jene aufgelegt werden, die die vielfältige Kultur stets alltäglich und allabendlich am Leben erhalten haben. Hier herrscht ja vielfach nicht nur Bedarf, sondern echte Bedürftigkeit.

Ein Dieter Nuhr, der sich neuerdings über Corona belustigt und weiterhin auftreten will, wird sicherlich mal ein paar Monate ohne zusätzliche Einnahmen klarkommen. Viele, viele andere haben allerdings nichts für solche misslichen Zeiten zurückgelegt. Was soll aus ihnen werden? Sollen sie jetzt allesamt in andere Berufe wechseln, so dass hernach – wenn sich die Lage hoffentlich schrittweise normalisiert – weite Teile der Szene brachliegen? Sollen sie sich mit Hartz IV durchschlagen? Erst haben wir ihnen gelauscht, sie hin und wieder auch bewundert, viel gelacht, uns oft prächtig unterhalten und überhaupt all das goutiert, was Kultur nun mal vermag – dann sollen sie ihre Schuldigkeit getan haben? Das kann ja wohl nicht angehen.

Nicht zu vergessen übrigens die zahlreichen freien Journalistinnen und Journalisten, die von heute auf morgen so gut wie nichts mehr zu schreiben oder sonstwie zu publizieren haben. Wo nichts stattfindet, kann nur anfangs ein- bis zweimal über den Schwund berichtet werden, doch das schleift sich ganz schnell ab. Und dann? Fehlen zumindest auf Wochen hinaus die Einnahmen. Und dann? Sollten wir auch ihnen helfen.

____________________

P. S.: Dass der Appell auch den freien Journalismus umfasst, ist keineswegs pro domo gesprochen. Bei den Revierpassagen basiert sozusagen eh alles auf selbstausbeuterischem „Ehrenamt“. Also ist kein Eigeninteresse im Spiel.




Corona-Update: Alles dicht! – Dortmunder Kultur-Absagen und tägliche Ergänzungen aus dem Revier

Ein Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Konzerthauses, das 1500 Plätze hat und  selbstverständlich auch von Absagen betroffen ist. (Foto: Bernd Berke)

Hier am Anfang zunächst der Stand vom 11. März, ständige Aktualisierungen weiter hinten:

Ausnahmsweise werden hier zwei ausführliche Pressemitteilungen aus den Dortmunder Kulturbetrieben wörtlich und unkommentiert wiedergegeben – weil es hier vor allem auf die sachlichen Details ankommt und nicht auf diese oder jene Meinungen.

Im Anhang folgen weitere Informationen, auch aus anderen Revier-Städten. 

Zuerst eine ausführliche Übersicht zu städtischen Kulturveranstaltungen, die in den nächsten Wochen ausfallen werden, übermittelt von Stadt-Pressesprecherin Katrin Pinetzki.

Danach eine gleichfalls längere Aufstellung aus dem Dortmunder Mehrsparten-Theater, auch das Konzerthaus betreffend, übermittelt von Theater-Pressesprecher Alexander Kalouti.

Wir zitieren:

„Öffentliche Kulturveranstaltungen fallen bis Mitte April aus – Museen, Bibliotheken und U bleiben geöffnet – Unterrichtsbetrieb in VHS- und Musikschule läuft weiter

Die Kulturbetriebe der Stadt Dortmund, das Theater Dortmund und das Konzerthaus Dortmund sagen alle ihre öffentlichen Veranstaltungen bis Mitte April ab. Die Regelung gilt ab morgen (12. März) und ist unabhängig von der Zahl der erwarteten Besucherinnen und Besucher. Damit hofft die Stadt, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Es fallen aus:

  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund,
  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Theater Dortmund: Oper, Ballett, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Konzerte, Akademie für Theater und Digitalität,
  • Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen und Führungen in den Städtischen Museen: Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Westfälisches Schulmuseum, Kindermuseum Adlerturm, Hoesch-Museum, Brauerei-Museum, schauraum: comic + cartoon,
  • städtische Veranstaltungen im Dortmunder U (z.B. auf der UZWEI, in der Bibliothek „Weitwinkel“, Veranstaltungen in der Reihe „Kleiner Freitag“),
  • Veranstaltungen und Festivals im Dietrich-Keuning-Haus (der Kinder- und Jugendbereich hat geöffnet!),
  • Lesungen und andere Veranstaltungen in den Bibliotheken und im Studio B,
  • Konzerte und Veranstaltungen der Musikschule (der Unterricht findet statt!),
  • Vorträge und andere Veranstaltungen der VHS (die Kurse und Workshops finden statt!),
  • Vorträge, Lesungen und andere Veranstaltungen in Stadtarchiv und in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache,
  • Konzerte und andere Veranstaltungen im Institut für Vokalmusik,
  • Spaziergänge und Fahrradtouren zur Kunst im öffentlichen Raum,
  • Veranstaltungen des Kulturbüros (Ausstellungseröffnungen im Torhaus Rombergpark, Gitarrenkonzerte in der Rotunde).

(…)

Der Kartenverkauf für Konzerte und Aufführungen in Theater und Konzerthaus für Vorstellungen nach Ostern läuft weiter.

Alle Theater- und Konzerthauskunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden kontaktiert. Wenn möglich, werden ausfallende Vorstellungen nachgeholt. Die Kunden werden über mögliche neue Termine sowie die Rückgabe von Tickets benachrichtigt.“

Weitere Informationen gibt es auf den Webseiten von Konzerthaus und Theater und auf www.dortmund.de

___________________________________________________________

Blick aufs Dortmunder Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Wichtige Informationen zu den Vorstellungen des Theaters Dortmund und des Konzerthauses Dortmund:

„Alle Vorstellungen bis einschließlich 15. April 2020 finden nicht statt.

Aufgrund des Erlasses der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen finden im Konzerthaus Dortmund und im Theater Dortmund bis einschließlich 15. April 2020 keine öffentlichen Veranstaltungen statt. Konzerthaus-Intendant Dr. Raphael von Hoensbroech und der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund Tobias Ehinger unterstützen diese Vorgabe und bedauern zugleich, dass so viele erstklassige Konzerte und Vorstellungen abgesagt werden müssen.

Alle Kunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden informiert. In den kommenden 14 Tagen arbeiten wir intensiv daran, für die ausgefallenen Vorstellungen Ersatztermine zu finden. Die Ticketingstellen beider Häuser haben weiterhin geöffnet und der Kartenverkauf für Veranstaltungen nach Ostern läuft weiter. Das Restaurant Stravinski und die Klavier & Flügel Galerie Maiwald am Konzerthaus Dortmund bleiben ebenfalls bis auf weiteres geöffnet.

Das Konzerthaus Dortmund bietet für seine Eigenveranstaltungen folgende Regelungen: Für Ersatztermine behalten Tickets ihre Gültigkeit. Sollten Kunden an dem neuen Termin verhindert sein, wenden sie sich bitte telefonisch an das Konzerthaus-Ticketing unter T 0231 – 22 696 200. Sollte kein Ersatztermin gefunden werden, sendet das Konzerthaus an die Kunden einen Gutschein über die Höhe des gezahlten Kartenpreises, der für alle kommenden Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund einlösbar ist. Bei weiteren Fragen zur Rückerstattung steht das Ticketing ebenfalls gerne zur Verfügung. Für Partnerveranstaltungen können abweichende Regelungen gelten.

Das Theater Dortmund bietet folgende Regelungen: Bei Nichtwahrnehmung des Ersatztermins können die Karten vor dem jeweiligen Ersatztermin umgetauscht werden. Darüber hinaus bietet das Theater Dortmund folgende Kulanzregelungen für die Kartenrücknahme an: Kunden können die für diesen Zeitraum im Vorverkauf bereits erworbenen Karten bis Ende der Spielzeit 2019/20 im Kundencenter unter Vorlage der Originalkarten in spätere Alternativvorstellungen eintauschen oder in Wertgutscheine umwandeln. Bei Abonnentinnen und Abonnenten können die Karten in Abo-Gutscheine innerhalb der jeweiligen Sparte umgewandelt werden, die aus Kulanz auch für die nächste Spielzeit einlösbar sind. Karten, die bei externen Vorverkaufsstellen erworben wurden, können nur an diesen zurückgegeben werden. Für Rückfragen steht das Ticketing des Theater Dortmund unter der Telefonnummer 0231 – 50 27 222 gerne zur Verfügung.

Wir stehen weiterhin in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden und informieren auf unseren Websites über alle weiteren aktuellen Entwicklungen, die den Spielbetrieb unserer Häuser betreffen.“

_________________________________________

Ausgewählte Ergänzungen (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit)

12. März:

Die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA hat die für 28./29. März geplante „Maker Faire Ruhr“ abgesagt, ein Erfinder- und Mitmach-Festival, das im Vorjahr einige Tausend Besucher(innen) mobilisiert hat. Nachtrag am 16. März: Die DASA schließt jetzt bis auf Weiteres ganz.

Die in Dortmund ansässige Auslandsgesellschaft streicht bis zum 15. April alle öffentlichen Veranstaltungen.

Das Szenetheater „Fletch Bizzel“ folgt dem Beispiel der städtischen Kultureinrichtungen und sagt alle Veranstaltungen bis Mitte April ab.

Auch im Fritz-Henßler-Haus gibt es bis Mitte April keine öffentlichen Auftritte.

Im Dortmunder Literaturhaus ist ebenfalls bis 15. April Veranstaltungs-Pause.

Die Messe „Creativa“ in den Dortmunder Westfalenhallen ist gleichfalls abgesagt und auf Ende August verschoben worden.

13. März:

Theater Dortmund: Alle Sparten haben ihre Spielpläne für diese und die kommende Saison gründlich umgeschichtet.

Schauspielhaus Bochum: Keine Veranstaltungen mehr (auch nicht mit weniger als 100 Personen). Sämtliche Aufführungen fallen aus – vorerst bis 19. April. Ähnliches gilt fürs Theater an der Ruhr in Mülheim, fürs Theater Oberhausen und das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) streicht alle öffentlichen Veranstaltungen in seinen Einrichtungen und schließt ab morgen (14. März) seine insgesamt 18 Museen, darunter das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, das Westfälische Industriemuseum mit seiner Zentrale in Dortmund (Zeche Zollern) und das LWL-Museum für Archäologie in Herne.

Das Duisburger Lehmbruck-Museum bleibt ab Samstag (14. März) zunächst bis zum 19. April geschlossen.

Das Museum Folkwang in Essen und das Emil Schumacher Museum in Hagen setzen alle Veranstaltungen bis auf Weiteres aus.

Die Kunstmesse Art Cologne (geplant für April) ist abgesagt worden.

14. März:

Das „Dortmunder U“ und das Museum Ostwall (im „U“) haben alle Veranstaltungen gestrichen. (Inzwischen ist das Haus geschlossen).

Dortmund: Keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr

15. März:

In einer Sondersitzung hat der Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund gestern beschlossen, dass ab heute (Sonntag, 15. März) bis auf Weiteres keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen. Gaststätten und Restaurants dürfen vorerst geöffnet bleiben.

Museen, Bibliotheken und Sportstätten geschlossen

Der Krisenstab der Stadt Dortmund hat heute (Sonntag, 15. März) getagt und angeordnet, Kultur- und Freizeiteinrichtungen zu schließen. In diesem Sinne werden bis auf Weiteres die städtischen Museen, die VHS, die Bibliotheken und die Musikschule sowie die städtischen Hallenbäder, Sporthallen und Sportplätze geschlossen.

Siehe dazu auch: www.dortmund.de

16. März

Auch anderorts bleiben ab sofort die Museen geschlossen, so z. B. in Essen (Folkwang), Bochum (Kunstmuseum) und Wuppertal (Von der Heydt).

Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln fällt aus.

_______________________________

Aber machen wir’s kurz:

Jetzt sind alle Museen geschlossen. Und alle Kinos auch. Und alle Bühnen.

________________________________

Weitere Nachträge/Aktualisierungen

24. März

Das Dortmunder Festival Klangvokal (geplant ab 17. Mai) musste ebenfalls abgesagt werden. Möglichkeiten für Nachholtermine (September 2020 bis Juni 2021) werden derzeit geprüft. Das zugehörige Fest der Chöre soll vom 13. Juni auf den 12. September verschoben werden. Einzelheiten: www.klangvokal-dortmund.de

25. März

Die Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis zum 13. Juni in Recklinghausen hätten stattfinden sollen, sind gleichfalls abgesagt. Teile des geplanten Programms sollen nach Möglichkeit im Herbst nachgeholt werden.

Das Klavierfestival Ruhr, ursprünglich ab 21. April geplant, soll nun erst am 18. Mai starten. Die vom 21. April bis 17. Mai geplanten 23 Konzerte sollen nach den Sommerferien und im Herbst nachgeholt werden.

Die Mülheimer Stücketage (geplant 16. Mai bis 6. Juni) sind abgesagt worden.

27. März

Neuester Stand beim Klavierfestival Ruhr: Sämtliche bis Ende Mai geplanten Konzerte werden auf die Zeit nach den Sommerferien bzw. in den Herbst 2020 verlegt. Der Spielbetriebwird voraussichtlich erst Anfang Juni (Woche nach Pfingsten) beginnen. Näheres unter www.klavierfestival.de/nachholtermine

________________________________

Nähere Infos auf den jeweiligen Homepages

 




Corona: Viele Absagen für Theater, Oper und Konzert in NRW – und auch jenseits der Landesgrenzen

Sagt bis 19. April alle Vorstellungen ab: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Werner Häußner)

Für die Kulturszene in NRW hat das Corona-Virus bereits Auswirkungen. Hier ein erster Rundblick:

Die Maßnahmen, die eine weitere Verbreitung von Sars-CoV-2 – so heißt das tückische Kleinteilchen – hemmen sollen, führten bereits gestern, 10. März, zur Einstellung des Spielbetriebs des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen bis voraussichtlich 19. April.

Soeben hat auch das Theater Hagen alle Vorstellungen im Großen Haus – nicht aber in den kleineren Spielstätten – abgesagt. In Dortmunder Konzerthaus sind der Auftritt von Bodo Wartke am heutigen 11. März auf den 23. Juni verschoben und alle öffentlichen Veranstaltungen bis 15. April abgesagt. Und nun hat auch das Beethovenfest Bonn alle Konzerte zwischen 13. und 22. März abgesagt,

Seit dem Erlass des Gesundheitsministeriums vom 10. März sollen die örtlichen Behörden Veranstaltungen mit mehr als 1.000 zu erwartenden Besucherinnen und Besuchern grundsätzlich absagen. Liegt die Zahl darunter, sei – wie bisher – eine individuelle Einschätzung der örtlichen Behörden erforderlich, ob und welche infektionshygienischen Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, heißt es auf der Homepage der Landesregierung.

Düsseldorf deckelt die Zahl der Besucher

Während bei der Theater und Philharmonie (TuP) Essen die Entscheidungsfindung noch im Gang ist, hat sich die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf entschieden, vorerst weiterzuspielen, den Verkauf von Karten aber so zu deckeln, dass die Zahl von 1.000 Menschen im Raum (Besucher und Mitwirkende) nicht überschritten wird. Auch die Wuppertaler Bühnen führen momentan den Spielbetrieb weiter. Die Historische Stadthalle begrenzt ihren Kartenverkauf ebenfalls, damit die 1000er-Marke nicht überschritten wird.

Nicht – oder noch nicht – betroffen scheinen die Museen: Das Essener Folkwang Museum sagt zwar seine Ausstellungseröffnung zu Mario Pfeifer, Black/White/Grey (am 12. März, 19 Uhr) ab, hat aber ansonsten wie üblich geöffnet. Auch die Beethoven-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn bleibt unberührt.

In Sachsen spielt man vorerst weiter

Ein Blick über die Grenzen: In Bayern sind alle Staatstheater geschlossen, die Theater in Bamberg, Würzburg und Regensburg haben bereits nachgezogen und ihre Vorstellungen bis Mitte April abgesagt. In Wien schließen Burgtheater, Staats- und Volksoper. Auch in den drei Berliner Opernhäuser gibt es bis 19. April keine Vorstellungen. Sachsen dagegen meldet derzeit keine Absagen: Semperoper, Staatsoperette Dresden, Theater Chemnitz spielen, und auch die Landesbühnen Sachsen kündigen die Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ in der Regie von Manuel Schmitt – erfolgreicher Regisseur von Bizets „Perlenfischern“ in Gelsenkirchen – weiterhin für den 14. März an.

Fatale Folgen haben die Schließungen und Absagen für freie Künstler, vor allem, wenn Verträge keine Ausfallhaftung vorsehen. Sechs Wochen ohne oder mit deutlich vermindertem Einkommen führen in solchen Fällen schnell in eine prekäre Lage. Es wird sich zeigen, ob die Institutionen bzw. die Geldgeber zu unbürokratischen und großzügigen Lösungen bereit sind. Der Präsident des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, hat bereits einen Notfonds gefordert – „sehr schnell und mit wenig Bürokratie“.




Was macht Corona mit der Kultur?

Sorglos hat man eigentlich noch nie auf den inzwischen so globalisierten Globus blicken können. Jetzt sind mal wieder ein paar neue Sorgen hinzugekommen. (Foto: BB)

Und hier bekommt Ihr wieder ein Bonus-Paket der Revierpassagen, nämlich: Heute gibt’s k e i n e n laienhaften Aufsatz über Corona. Jedenfalls nicht über virologische Fragen oder Quarantäne. Wie denn auch?

Obwohl man da unendlich viel erwägen und bekakeln könnte, aus nichtfachlicher Sicht wohl überwiegend Nutzloses. Aber das geschieht schon andernorts zur Genüge und weit über Gebühr. Man schaue sich nur die Kommentare an, wenn etwa „Zeit“ oder „Süddeutsche“ mit Live-Schaltungen zu allfälligen Pressekonferenzen des Bundesgesundheitsministers und des Robert-Koch-Instituts aufwarten. All die vielen selbsternannten Fachleute im Publikum, die Besserwisser, Hassverspritzer und Paniker aus den Untiefen des Netzes. Und das bei Angeboten dieser seriösen Medien… Das seriöseste aller hiesigen Medien, „Der Postillon“, hat diesen Trend natürlich auch erkannt: „Zahl der Corona-Experten in Deutschland sprunghaft angestiegen“. Wohl irgendwie wahr.

So. Und jetzt, da Ihr Euch vielleicht in Sicherheit wiegt, kommen hier halt doch noch ein paar CoV-19-Absätze. Wir sind schon mittendrin. Aber halb so schlimm. Wir hamstern keine Zeilen. Wir desinfizieren auch nicht eigens die Tastatur. Tippen mit sorgsam gewaschenen Händen (20 Sekunden plus!) ist freilich die leichteste Übung.

Konzerthusten mit neuer Virulenz

Vielleicht erwischt es ja nach dem Sport mit seinen zuschauerlosen „Geisterspielen“ (so auch das Revierderby BVB – Schalke am kommenden Samstag) sehr bald auch Teile des Kulturbetriebs. Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmenden, deren Absage nicht nur von Gesundheitsminister Spahn dringlich angeraten wird und in Frankreich bereits verfügt worden ist, haben wir schließlich auch in Philharmonien, Konzerthäusern und Opernhäusern, erst recht bei manchen Rock-Auftritten etc. Da sitzt oder steht man beim kulturellen Geschehen ziemlich dicht an dicht. Der Konzerthusten ist ja eh ein sprichwörtliches, heftiges und häufiges Phänomen im Bereich der E-Musik. Auch er hat allerdings schon einen bedrohlichen Bedeutungswandel hinter sich. Mit Hustinetten als Gegenmittel ist es nicht mehr getan.

…oder gar daheim zum Buch greifen

Von Veranstaltungen wie dem Literaturfestival Lit.Cologne, der Pariser oder der Leipziger Buchmesse (alle abgesagt) – letztere mit sonst Abertausenden von lesewilligen Hallenflaneuren – mal ganz abgesehen. Und noch mehr zu schweigen von den italienischen Zuständen, wo im ganzen Land Museen, Kinos und Theater geschlossen bleiben. Schon warnen besorgte Publizisten vor nachhaltigen Schäden an der „italienischen Lebensart“.

Just, als ich das schreibe, erreicht mich die Nachricht von der Absage der Museumsnacht im LWL-Museum für Archäologie in Herne am 27. März. Dort wird übrigens – ausgerechnet – noch bis zum 10. Mai die derzeit besonders aufschlussreiche natur- und kulturhistorische Ausstellung über die Pest gezeigt. Apropos: Wie man liest, erlebt zur Zeit auch Albert Camus‘ moderner Klassiker „Die Pest“ einen Auflagenschub sondergleichen.

Schon wird uns auf Feuilleton-Seiten wärmstens anempfohlen, öfter mal daheim zu bleiben und zwecks Kulturgenuss diverse Streamingdienste für Kino und Musik anzuwerfen. Oder gar: zum Buch zu greifen! Man denke nur…

„Inflation öffentlicher Zusammenrottungen“

Es sind keine günstigen Zeiten für kulturgeneigte Adabeis. Wenn ich nicht irre, war es die Neue Zürcher Zeitung, die vor ein paar Tagen geradezu erbittert gegen das ewig amüsierwütige Ausgehen zu Felde zog, und zwar mit einer solchen Formulierung: „Die hedonistische Eventkultur mit ihrer Inflation öffentlicher Zusammenrottungen zu unwesentlichen Zwecken“, hieß es da, solle endlich wieder durch „Vergnügungen in bescheidenerem, privaten Rahmen“ ersetzt oder wenigstens ergänzt werden. Sie raten freilich nicht direkt zum Brettspieleabend, sondern erst einmal zu Netflix-Filmen und Gruppen-Chats. Man will die Leute da abholen, wo sie sind. Mit möglichen Folgen einer zunehmend digitalisierten Kultur hat sich unterdessen auch die Süddeutsche Zeitung befasst. Wir sehen betroffen: Da ist einiges im Schwange.

_______________________________________

P. S.: Hat eigentlich schon mal wieder jemand nachgeschaut, was in den einst so umkämpften Notstandsgesetzen steht, die vor über 50 Jahren schon manchen „Achtundsechziger“ auf die Barrikaden getrieben haben? Kann uns da jetzt was blühen?

Nachtrag: Erstaunlich, dass laut Homepage heute (10. März) im Dortmunder Konzerthaus die Veranstaltung „Sinatra & Friends“ (Trio aus England) stattfinden soll. Sind da wirklich weniger als 1000 Plätze besetzt? Man wird ja mal fragen dürfen. Laut Landesgesundheitsminister Laumann gilt die 1000er-Grenze ohne Wenn und Aber. Bei Überschreitung müsste seit heute abgesagt werden.

_______________________________________

Absagen und Sonstiges

Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) stellt den gesamten Spielbetrieb „bis auf weiteres“ ein.

Das Frauenfilmfest Dortmund/Köln (Programmschwerpunkt diesmal in Köln) soll nach jetzigem Stand vom 24. bis 29. März stattfinden. Pro Filmvorstellung soll die Zahl der Zuschauerinnen auf 100 begrenzt werden. Es werden Anwesenheitslisten geführt und auch sonst diverse Sicherheitsmaßnahmen ergriffen.

 




Mammutprojekt zum Abschluss der Ära von Steven Sloane: Richard Wagners „Ring“ konzertant in Bochum

Nachdem Richard Wagners Tetralogie an der Deutschen Oper am Rhein in der Regie von Dietrich Hilsdorf seine ersten kompletten Zyklen überstanden hat und sich in Dortmund Peter Konwitschny erneut an den „Ring“ machen wird, will auch Bochum nicht hintanstehen.

Sie stellten das Bochumer „Ring“-Projekt bei einer Pressekonferenz vor: Steven Sloane und Norman Faber. Foto: Werner Häußner

In der letzten Spielzeit, in der GMD Steven Sloane die Bochumer Symphoniker leitet, will er die 27-jährige Zusammenarbeit u.a. mit einem konzertanten Nibelungen-Ring krönen. Vorgesehen sind die vier Vorstellungen zwischen 25. September 2020 („Das Rheingold“) und 22. Mai 2021 („Götterdämmerung“). Für eine „Visualisierung“ im Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum wurde der Opernregisseur Keith Warner gewonnen. Unterstützt wird das Projekt von der Familie Norman Faber und die Faber Lotto-Service GmbH. Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Projekts war von einer „bedeutsamen sechsstelligen Summe“ die Rede.

Es soll „ganz, ganz anders klingen als sonst“

Steven Sloane nennt die geplante Umsetzung des „Rings“ mit seinem Orchester in Bochum „die Erfüllung eines Traums“. Er sieht in der Konzentration auf die musikalische Umsetzung der Tetralogie eine große Chance, viele Facetten herauszuarbeiten. Wagner wird nach Sloanes Worten in dem erst 2016 eingeweihten Bochumer Konzertsaal mit einer inzwischen oft gerühmten Akustik „ganz, ganz anders klingen als sonst“. Die Zuhörer hätten die Chance, Wagner als zentrale Figur des Musiktheaters nicht in der Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum, sondern „mittendrin“ in Kontakt mit dem Orchester auf dem Podium zu erleben. Auch Mäzen Norman Faber erhofft sich das Erlebnis eines „einzigartigen Klangs“.

Ergänzt wird der „Ring des Nibelungen“ durch einen „Kleinen Bochumer Ring“ für Menschen ab 10 Jahren. Dabei kooperieren die Bochumer Symphoniker mit Bochumer Schulen und Akteuren aus der freien Kulturszene. Von jeder „Ring“-Oper gibt es vier jeweils einstündige Vorstellungen, beginnend am 31. Oktober mit „Das gestohlene Rheingold“ und endend am 9. Mai 2021 mit „Die mächtige Götterdämmerung“.

Die Besetzung des Bochumer „Rings“ wird erst später bekanntgegeben; genannt wurden jedoch bereits Eva-Maria Westbroek (Sieglinde), Emily Magee (Brünnhilde), Claudia Mahnke (Fricka), Michael Weinius (Siegfried) und Simon Neal (Wotan).

Für den „Ring“ sind Abonnements erhältlich, die ab 3. Juni im Vorverkauf sind. Einzelkarten gibt es ab dem 17. Juni. Info: www.bochumer-symphoniker.de, Tel.: (0234) 910 86 66.




Märchenhaft und phantastisch: Eine konzertante Aufführung der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ in Dortmund

Der Frankokanadier Yannick Nézét-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra sind einander durch zehn Jahre der Zusammenarbeit verbunden. (Foto: Petra Coddington)

Ein grässlicher Schrei entringt sich der Kehle der Amme. Ihr tückisches Spiel ist aus: Von der Kaiserin verstoßen, vom Boten des Geisterkönigs Keikobad verbannt, muss sie die Bühne verlassen, auf der an diesem Abend die Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss gegeben wird. Mit ihrem Abgang ist im Konzerthaus Dortmund der Weg frei für das große Happy End, für den ekstatischen Schlussjubel, der vom Publikum mit tobender Begeisterung erwidert wird.

Über das gewöhnliche Maß gehen diese Bravostürme weit hinaus. Sie sind einerseits Reaktion auf die kolossalen Klangeruptionen dieses Zaubermärchens, das von der Menschwerdung der aus dem Geisterreich stammenden Kaiserin erzählt. Durch den selbstlosen Verzicht auf eigene Kinder – symbolisiert durch den Schatten – wächst diese Frau zu unerwarteter Größe. Andererseits zollt das Publikum einer Interpretenriege Dank, die diese konzertante Opernaufführung zu einem überwältigenden Strauss-Fest erhebt.

Wo anfangen bei so viel Exzellenz? Bleiben wir zunächst bei der Amme, deren mephistophelische Natur durch Michaela Schuster packende Präsenz annimmt. Die Mezzosopranistin, als Sängerdarstellerin ein regelrechtes Bühnentier, gibt diesem Zwischenwesen die lauernde Gespanntheit einer Elektra, die auffahrende Herrschsucht einer Klytämnestra und die schmeichlerischen Zwischentöne einer Schlange.

Die aus Südafrika stammende Sopranistin Elza van den Heever sang die Partie der Kaiserin. An ihrer Seite war der Amerikaner Stephan Gould als Kaiser zu erleben. (Foto: Petra Coddington)

Ihr Gegenpol ist die feenhafte Kaiserin, die Dank Elza van den Heever tatsächlich einer anderen Welt entstiegen scheint. Ihr gläsern leuchtender Sopran bringt es auch nach kraftvollen Flügen durch stratosphärische Höhen fertig, in ein mädchenhaft-zartes Piano zurückzufinden. An ihrer Seite ist Stephan Gould ein Kaiser mit heldischem Tenor, der sich unbedingt Bahn bricht, sei es zuweilen auch mit Überdruck.

Bombenstark bei Stimme ist auch das Menschenpaar. Michael Volle singt den herzensguten Färber Barak, dem die abweisende Kälte seiner Frau arg zusetzt, mit einer vollklingend-sonoren Wärme zum Dahinschmelzen. Lise Lindstrom erhebt die Färberin zur heimlichen Hauptfigur. Unfassbar, mit welchem Volumen sie sich in immer neue Spitzen trotzigen Zorns hineinsteigert, mit welch glühender, zuweilen auch schneidender Leidenschaft sie noch im äußersten Fortissimo-Getümmel triumphiert. Zugleich lässt sie uns die Verzweiflung einer Frau spüren, die sich nicht gesehen und nicht verstanden fühlt.

Eine Ehe voller Spannungen führen der Färber Barak (Michael Volle) und seine Frau (Lise Lindstrom. Foto: Petra Coddington)

Die Nebenfiguren, der Rotterdam Symphony Chorus und der von Zeljo Davutović einstudierte WDR Kinderchor Dortmund tragen sämtlich ihren Teil zum Ausnahmerang dieses Abends bei.

Indessen muss nun endlich vom Rotterdam Philharmonic Orchestra die Rede sein, das unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Yannick Nézét-Séguin die überbordende Phantastik und die raffinierte Instrumentationskunst der Partitur auskostet, dass einem schier die Ohren übergehen. Das Orchester nimmt uns mit auf eine Reise, die im rasenden Galopp durch drei Welten führt, die uns durch finsterste Abgründe bis in silberhelle Sphären der Verklärung begleitet. Es ist ein Rausch, eine prunkvolle, exotisch gefärbte Orgie des Klangs, transparent gehalten bis in die kammermusikalischen Details. Die Musik ist aus, aber ihr ätherisches Glücksleuchten bleibt.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Trauer und Hoffnung sind gegenwärtig: Mitten im Karneval erklingt in Dortmund Giuseppe Verdis Totenmesse

Aus dem Nichts heraus lässt Gabriel Feltz den Ton der gedämpften Celli entstehen, bevor die Männerstimmen des Chors fast unhörbar ihr „Requiem“ in die Weite des Konzerthauses entlassen. Der Dortmunder GMD hat, das muss man ihm lassen, die mit Anweisungen gespickte Partitur von Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ genau gelesen.

Dirigent Gabriel Feltz. (Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures)

So leise wie möglich möchte Verdi an dieser Stelle die „ewige Ruhe“ ausgesungen haben, gleichzeitig verlangt er aber „con espressione“, wenn Violinen und Celli, kontrapunktiert von den Bratschen, ihre großen Bogen aufspannen. Kaum zu bewältigende Gegensätze, wenn man zum Beispiel das Verdi’sche „pppp“ – der Maestro notiert häufig Extreme – als tonlos gehauchte Minimal-Lautstärke versteht und ihm die aus der Interpretations-Tradition erklärbare Sonorität nimmt. Gabriel Feltz nimmt das in Kauf, denn er möchte den schlagenden Kontrast zum folgenden, nicht ganz präzis eingesetzten „Te decet hymnus“ herausarbeiten, das im Forte die letzten beiden Achtel der vom Licht der Ewigkeit singenden Chorsoprane übertönt. Ein Effekt, der unter die Haut geht, aber inhaltlich wenig bringt.

Mitten im Karneval erklingt also im 5. Philharmonischen Konzert Verdis Totenmesse, eine düster drohende, aber auch schmerzlich flehende und von Trost durchzogene Vision jenes Endpunkts der Geschichte, an dem es „carne vale“ heißt – also Abschied zu nehmen von der Existenz „im Fleische“. Mit geschärftem Interpretations-Ehrgeiz animiert Feltz die Dortmunder Philharmoniker und den von Petr Fiala einstudierten Tschechischen Philharmonischen Chor aus der Janáček-Stadt Brno zu einer jederzeit bewusst gestaltenden Tour durch Verdis Ausdruckswelten. Dass sich bei aller suggestiven Macht des Klangs, bei allen filigranen Abstufungen der Dynamik das vollendete Verdi-Glück nicht einstellen wollte, liegt an Momenten, in denen Feltz‘ Begehren nach Effekt mit ihm durchgeht, aber auch an der Gestaltung seiner Tempi.

Balsamisches Verharren

Feltz lässt sich zum Glück nicht darauf ein, das „agitato“ im „Dies Irae“ als Anweisung zu beschleunigtem Galopp durch die musikalisch ausgemalte kosmische Umwälzung misszuverstehen. Er fasst auch das „mosso“ im Andante des Offertoriums zutreffend als Hinweis für Ausdruck, nicht für Tempo auf. Aber in den langsamen Teilen des Requiems frönt er dem balsamischen Verharren: Schon wenn er den Chor im „lux perpetua“ breit und bedeutungsschwer intonieren lässt, stellt sich der Eindruck des Manierierten ein.

In „Judex ergo“ fürchtet man dann um den Atem der versierten, im Klang ihres Mezzosoprans oft sehr metallischen Adriana Bastidas-Gamboa. Feltz lässt das Kölner Ensemblemitglied im Terzett des „Quid sum miser“ beinahe „verhungern“. Adagio hin oder her: Wenn auch der Tenor Sungmin Song verzagt und seine Stütze mit letzter Kraft retten muss, ist das „col canto“, das Verdi ausdrücklich vorschreibt, nicht erfüllt. Auch „Recordare Jesu pie“ und „Quaerens me“ wirken zäh und larmoyant, weil bei Feltz das „animando“ Verdis, jenes seelenvolle Intensivieren von Ton und Tempo, außen vor bleibt. Die belcantistische Flexibilität, die keine Frage der Dynamik, nicht einmal des Tempos ist, sondern innerhalb von Phrasen als Spannungsaufbau und Entspannung gestaltet werden will, bleibt ein Desiderat.

Streichersüße und Bläserattacken

Die Dortmunder Philharmoniker lassen keine Wünsche offen: Die Holzbläser widmen sich schon den differenzierten Begleitfiguren des „Kyrie“ mit Hingabe; bei den Streichern kommt die kantable Süße ebenso zur Geltung wie die brutale Markanz im „Dies irae“, die schwebende Leichtigkeit von Staccato-Ketten ebenso wie Momente höchster Aufmerksamkeit im Wechsel der Dynamik. Allenfalls ließen sich die weiten Bögen, die Verdi geschlagen haben will, hin und wieder intensiver füllen. Das Blech attackiert leuchtend seine Fanfaren, füllt machtvoll die Bläser-Batterie des „Sanctus“. Die „Gran Cassa“ bringt ihr „contrattempo“ in den Pausen der Paukenschläge trocken und kräftig, wie von Verdi gewünscht. Der Chor aus Brünn besteht seine Fugenprobe im „Libera me“, zeigt im „Te decet hymnus“ kernige Männerstimmen, übersteuert das „Dies irae“ nicht, wird aber auch nicht zum Aufbau von Spannung ermuntert.

Den letzten Teil der Totenmesse leitet der Sopran ein: Die Bitte um Befreiung vom ewigen Tod artikuliert Susanne Bernhard mit ihrer abgerundeten, dunkel getönten Stimme in gebremstem Pathos, eher als Gesangsphrase denn als erschüttert ausbrechendes Stoßgebet. Bernhard verfügt über einen gepflegten Verdi-Sopran, der auch in den Ensembles mit kontrolliertem Ton überzeugt. Sungmin Songs sicher gestützter, klangstarker Tenor hat seine Stärken, wo er einen strahlend-kraftvollen Ton projizieren kann. Für die ätherische Lyrik der Piani in „Ingemisco“ oder „Inter oves“ ist er nicht flexibel genug zurückzunehmen. Ante Jerkunica von der Deutschen Oper Berlin singt die Basspartie nicht vordergründig prunkend, aber auch ohne den samtenen Wohllaut eines „basso cantante“.

Beim Publikum blieb der Eindruck, den der Komponist Ildebrando Pizzetti beschrieben hat: Die Musik, so formuliert er, sei „mehr als rein lyrischer Ausdruck; sie ist Vergegenwärtigung von Trauer und Hoffnung.“ Der Beifall war entsprechend: respektvoll und herzlich.

Das 6. Philharmonische Konzert am 3. und 4. März 2020 bringt unter dem Titel „Paris“ George Gershwins „An American in Paris“, Igor Strawinskys „Petruschka“ und Alexander Glasunows Konzert für Alt-Saxophon und Streichorchester Es-Dur op. 109. Info: https://www.theaterdo.de/detail/event/20556/




Formstrenge hüben wie drüben: Pierre-Laurent Aimard verschränkt in Dortmund Musik von Kurtág und Bach

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard hat mit vielen Komponisten unserer Zeit eng zusammengearbeitet. (Foto: Marco Borggreve)

Pierre-Laurent Aimard ist ein großer Meister darin, bekannte Musik in neuem Licht erscheinen zu lassen. Unvergessen ist sein Klavierabend im Liszt-Jahr 2011, bei dem er eine frische Sicht auf die grandiose h-Moll-Sonate des Komponisten ermöglichte.

Indem er sie in den Kontext der „Schwarzen Messe“ von Alexander Skrjabin und der Klaviersonate Opus 1 von Alban Berg stellte, schenkte er dem viel geschundenen Stück seine eminente Bedeutung auf dem Weg zur musikalischen Moderne zurück.

Wie viel Gedankenarbeit der Franzose in seine Programme steckt, war jetzt auch bei der Kurtág-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund zu erleben. Kurze Klavierstücke des Ungarn, entnommen der noch immer anwachsenden Sammlung „Játékok“ (Spiele), verschränkte er mit Musik von Johann Sebastian Bach, vornehmlich mit den Präludien und Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“.

Pierre-Laurent Aimard wurde 2007 mit dem renommierten Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet. (Foto: Marco Borggreve)

Diese Idee ist zwar nicht gänzlich neu: Bereits auf einer 1997 erschienen CD kombinierten Kurtág und seine Frau Márta vierhändige „Játékok“-Stücke mit Bach-Transkriptionen. Gleichwohl verrät die von Aimard getroffene Werkauswahl unendlich viel Sorgfalt. Denn wie sich Spielfreude und Formstrenge bei beiden Komponisten vereinen, zeigt sich oftmals in den Übergängen. Kurtágs Klavierstück für Dóra Antals Geburtstag schließt so passgenau an Bachs leuchtende Fuge Nr. 17 As-Dur (BWV 862) an, als handle es sich um ein zeitgenössisches Echo.

Bei Aimard reiht sich ein erhellender Augenblick an den nächsten. Wenn Bach in Präludium und Fuge Nr. 16 g-moll (BWV 861) mit allmählich schneller werdenden Trillern experimentiert, folgt gleich darauf eine Kurtág-Miniatur, die vom Wechselspiel zwischen zwei Noten lebt. Die gläsernen Spieluhr-Klänge des Präludiums Nr. 23 H-Dur (BWV 868) finden in Kurtágs „Spiel mit dem Unendlichen“ eine direkte Entsprechung.

Wer den Konzeptkonzerten von Pierre-Laurent Aimard folgt, gerät unweigerlich ins Nachdenken. Warum sind die meisten von uns bereit, einer mit mathematischer Akribie konstruierten Bach-Fuge zu folgen, während wir gegen zeitgenössische Musik nur allzu leicht den Vorwurf erheben, sie klinge verkopft und wie auf dem Reißbrett entworfen? Weckt ein komplizierter Kontrapunkt aus Bachs „Kunst der Fuge“ wirklich mehr Emotionen als Kurtágs vielfarbig oszillierendes Stück „In memoriam András Myhály“?

Der Höhepunkt ist erreicht, wenn Aimard das Stück „In memoriam György Szoltsányi“ beinahe ohne Pause in die Fuge Nr. 12 f-moll (BWV 857) übergehen lässt. Man möchte sich die Ohren reiben: Haben die Töne, die der Pianist mit der linken Hand spielt, überhaupt noch einen harmonischen Bezug? Ist das jetzt noch Kurtág oder doch schon Bach? Erst als die Nebenstimmen hinzukommen, erkennen wir den Thomaskantor wieder.

Von Aimards unbedingtem Ausdruckswillen, der zuweilen auch heftiges Schnaufen und Brummen zur Folge hat, von seiner Konzentrationsfähigkeit und vom wunderbaren Farbenreichtum seines Spiels war bis hierher noch nicht einmal die Rede. Indessen ist dies auch als Kompliment zu verstehen. Aimards sensationell kluge Programme lassen alles pianistische Handwerk in den Hintergrund treten.




Herzstück mit Hölderlin: Der Bariton Benjamin Appl bereichert die Kurtág-Zeitinsel in Dortmund mit zwei Uraufführungen

Der Bariton Benjamin Appl reiste nach Budapest, um mit dem Komponisten György Kurtág dessen Hölderlin-Lieder einzustudieren. (Foto: Petra Coddington)

Drei Stunden Probe für einen einzigen Takt Musik. Sechs Tage Arbeit an einem Liedzyklus von lediglich zwölf Minuten Dauer. Wie viel Beharrlichkeit und Einsatzbereitschaft mag der Bariton Benjamin Appl wohl in seinen Koffer gepackt haben, bevor er nach Budapest reiste, um dem legendären Komponisten György Kurtág zu begegnen? Im Vorfeld des aktuellen Zeitinsel-Festivals im Konzerthaus Dortmund hatte er sich darum beworben, die Hölderlin-Lieder des nunmehr 93-Jährigen einzustudieren.

Von einem Filmteam und vom Intendanten Raphael von Hoensbroech begleitet, ließ Benjamin Appl sich auf das Wagnis ein. Kollegen hatten ihn gewarnt vor der minutiösen Genauigkeit des Komponisten, vor seiner zuweilen unerbittlichen Jagd nach feinsten Nuancen des Ausdrucks. Aber der junge Interpret und der hoch betagte Tonschöpfer fanden zu intensiver künstlerischer Verständigung. Das zeigte ein Werkstatt-Abend, der vom Konzerthaus als das Herzstück des Festivals angekündigt wurde.

Im dritten der Hölderlin-Lieder erhält der Sänger Unterstützung durch einen Posaunisten und einen Tubisten. (Foto: Petra Coddington)

Für einen kleinen Kreis von Hörern, die auf der Bühne Platz nehmen durften, sang Appl die aphoristisch kurzen Hölderlin-Lieder gleich zweimal: zu Beginn und zum Abschluss des Konzerts. Er gestaltete seine bezwingend intensive Interpretation beinahe im Alleingang, lediglich im dritten Lied dezent unterstützt von einem Tubisten (Thomas Kerstner) und einem Posaunisten (Berndt Hufnagl). Seinen samtig wohlklingenden Bariton führte der Sänger dabei vom inwendigen Summen über einen gehetzten Sprechgesang bis zu nachgerade heraus gebellten Fortissimo-Ausbrüchen.

Die Kompetenz, die Benjamin Appl von Kurtág persönlich erworben hat, wird ihm so rasch niemand streitig machen. Zwei weitere Hölderlin-Vertonungen des Komponisten brachte er in Dortmund gar zur Uraufführung: „Das Angenehme dieser Welt“ und „Brief an die Mutter“. Die Chance, den Abend als kleinen, aber feinen Beitrag zum Hölderlin-Jahr 2020 zu begreifen, ließ das Konzerthaus Dortmund freilich links liegen. Das Programmheft erwähnt den 250. Geburtstag des Dichters mit keinem Wort.

Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech (l.) und der Bariton Benjamin Appl im Gespräch. (Foto: Petra Coddington)

Der musikvermittlerische Gewinn des Abends ergab sich aus dem Mittelteil. In einem Podiumsgespräch tauschten sich der Sänger und der Intendant lebhaft über ihre Begegnung mit György Kurtág und seiner Frau Márta aus. Die Filmausschnitte von der Probenarbeit zeigten die nachgerade symbiotische Verbindung dieses Paars, das der Tod im Oktober 2019 auseinanderriss – nach mehr als 70 Jahren Ehe.

Seit seiner Gründung im Jahr 1974 wurden dem Arditti Quartet mehrere hundert Kompositionen gewidmet. (Foto: Petra Coddington)

Auf die Frage nach seinem Fazit der Tage in Budapest reagierte der Sänger, zuvor durchaus zu ironischen Kommentaren aufgelegt, auffallend nachdenklich. Kurtág habe etwas zu sagen, das man im auf Äußerlichkeiten und Hochglanzfotos fixierten Musikbetrieb kaum noch finde. „Er trägt ganze Welten in sich, einen unglaublichen inneren Reichtum. Es geht ihm stets um Wahrhaftigkeit.“

Zur Eröffnung des Festivals hatte das Arditti Quartet am Vortag gezeigt, wie Kurtágs Streichquartette sich von den zögerlich-spärlichen Klangereignissen seines Opus 1 bis zu den „Six moments musicaux“ op. 44 immer stärker verdichten. Höchst reizvolle Kontrapunkte auf diesem Weg waren der noch spätromantisch geprägte „Langsame Satz Es-Dur“ für Streichquartett von Anton Webern und das unglaublich farbenreiche, von Humor und tänzelndem Walzercharme durchwehte Streichquartett Nr. 1 von Kurtágs Landsmann und Kollegen György Ligeti.

(Die Kurtág-Zeitinsel setzt sich noch bis 6. Februar fort. Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/kurtag/ )




Das Motto „Macht und Mitgefühl“ passt immer: Ruhrfestspiele 2020 holen bewährte Produktionen nach Recklinghausen

Szene aus Anne Teresa De Keersmaekers Choreographie „Rain (live)“. (Foto: Anne Van Aerschot / Ruhrfestspiele)

„Macht und Mitgefühl“ lautet das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele, und das kann einfach nicht falsch sein. Egal, was folgt, die Überschrift paßt immer. Doch da Festival-Chef Olaf Kröck nun sein Programm präsentierte, wissen wir es genau. In summa sind es 90 Produktionen, die in 220 Veranstaltungen vorgeführt werden, in 13 Abteilungen von Schauspiel bis Kabarett. Vieles ist naturgemäß recht klein (die Kleinkunst zum Beispiel), und deshalb richten wir den Blick weitaus lieber auf das Große im Programm, traditionell also das Theater.

Lars Eidinger als Peer Gynt (Foto: Christiane Rakebrand / Ruhrfestspiele)

Einiges aus Berlin

Fünf hochwertige Produktionen hat man allein in Berlin eingekauft: Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“ und Peter Handkes „Selbstbezichtigung“ beim Berliner Ensemble, René Polleschs „Number Four“ und Cervantes’ „Don Quijote“ beim Deutschen Theater, Ibsens „Peer Gynt“ (oder das, was davon noch übrig blieb) bei der Schaubühne. Jenen Peer Gynt, um kurz dabei zu bleiben, gibt der Bühnen-Exzentriker Lars Eidinger in einem Einpersonen-Projekt des ebenfalls recht exzentrischen Künstlers John Bock. Das wird lustig. Und „Don Quijote“ geht in einer Fassung von Jakob Nolte als Zweipersonenstück mit Ulrich Matthes und Wolfram Koch über die Bühne.

Szene aus „Tao of Glass“ von Philip Glass und Phelim Mc Dermott. (Foto: Tristram Kenton / Ruhrfestspiele)

Philip Glass

„Deutschlandpremiere“ immerhin darf unter zwei Produktionen stehen: „Tao of Glass“ entsteht als Koproduktion mit dem Manchester International Festival und befaßt sich irgendwie mit Kreativität; Phelim McDermott und Philip Glass werden als Väter dieser Produktion genannt, und da Letzterer ein weltberühmter Schöpfer von Minimalmusik ist, sehen wir der Sache mit Interesse entgegen.

Peter Brook

Außerdem ist Peter Brook wieder mit von der Partie. Zusammen mit Marie-Hélène Estienne hat der 95-Jährige, wie im Vorjahr auch, für das Théâtre des Bouffes du Nord in Paris ein Stück verfaßt. „Why?“ heißt es, fragt nach Sinn und Grund für das Theater und wird, so viel ist sicher, von der großen Peter-Brook-Fangemeinde hymnisch gepriesen werden. Premiere schließlich, das paßt jetzt ganz gut hier hin, hat ein „Zerbrochener Krug“ vom Schauspiel Hannover. Man sieht: Das Motto „Macht und Mitgefühl“ trifft es immer.

So oder so ähnlich soll es in der Recklinghäuser Kunsthalle demnächst aussehen: „Womb Tomb (Thema Active), 2015″ von Mariechen Danz. (Foto: Paula Winkler / Courtesy: Mariechen Danz und Wentrup Galerie / Ruhrfestspiele)

Mariechen Danz

Beim Tanz fällt die Choreographie „Rain (live)“ von Anne Teresa De Keersmaeker ins Auge, die seit einiger Zeit schon in der Hamburger Kampnagel-Fabrik gesehen werden kann.

Genderneutral

Drei Produktionen des Festivals, eine davon vom Rapper Robozee, variieren Strawinskys „Le sacre du printemps“, und die Bildende Kunst in der Recklinghäuser Kunsthalle kommt von Mariechen Danz, die sehr ansprechend Körper und Räume in Beziehung setzt. Übrigens glaube ich fest, daß der Name der Künstlerin ein Künstlername ist, der sich vom karnevalistischen (und politisch ganz bestimmt höchst unkorrekten) Befehl „Marieche, danz“ (hochdeutsch: (Funken-) Mariechen, tanz!) ableitet. Ist bestimmt ironisch gemeint, sonst hätten Kröck und die Seinen diese Künstlerin nicht einladen dürfen, war ihre Programmvorstellung doch bis weit über die Grenzen der Peinlichkeit hinaus von dem Bestreben geprägt, „genderneutrale“ Sprache mit besonderer Berücksichtigung der weiblichen Wortformen zu pflegen.

Mehr Unverwechselbarkeit wäre schön

„Kinder- und Jugendtheater“, „#Jungeszene“ (mit Hashtag), „Neuer Zirkus“, „Figurentheater“ und mit Einschränkungen „Für alle“ – viele Abteilungen wenden sich dezidiert an ein junges Publikum, was für sich genommen nicht zu kritisieren ist.  Weitere künstlerische Ansprüche des Festivals sind allerdings kaum auszumachen. Hier wurde zusammengekauft, was gut und teuer, meistens aber auch nicht ganz taufrisch ist.

Eigenproduktionen gibt es nicht, die Kooperationen sind eher finanzielle Beteiligungen. Etwas mehr Unverwechselbarkeit würde den Ruhrfestspielen nicht schaden. Immerhin aber bleibt der Trost, daß man demnächst nicht immer nach Berlin (oder nach Bochum) fahren muß, um gutes Theater zu sehen.

www.ruhrfestspiele.de




Uneitle Spielfreude: Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra begeistern im Konzerthaus Dortmund mit Mozart

Die Pianistin Mitsuko Uchida, Trägerin der „Goldenen Mozart-Medaille“ und des „Praemium Imperiale“, ist seit 2016 Artistic Partner des Mahler Chamber Orchestra (Foto: Justin Pumfrey)

Was hat dieser Wolfgang Amadeus Mozart nicht alles in seine Klavierkonzerte gesteckt! Verschiedenste Welten sind darin enthalten, Biotope eigener Natur, über deren Vielfalt sich nur fassungslos staunen lässt.

In ihnen begegnet uns der Opernkomponist, der Kammermusiker, der Lebemann und der Tragiker, der Konzertpianist und der Sinfoniker. Mit leichter Hand zieht Mozart einen überraschenden Joker nach dem anderen aus dem Ärmel.

Wie schwer das scheinbar Mühelose zu erreichen ist, lassen die Pianistin Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra im Konzerthaus Dortmund völlig vergessen. Die britische Pianistin japanischer Herkunft, die an diesem Abend zwei Mozart-Konzerte vom Flügel aus dirigiert, steckt alle im Saal mit ihrer überströmenden, gänzlich uneitlen Spielfreude an. Sie befeuert das Orchester, das ihr hellwach folgt: mit schlankem Klang, wenig Vibrato und beredter Agogik. Sie spürt Mozarts Partituren bis in die feinsten Verästelungen nach, meist quirlig vital, in den langsamen Sätzen aber auch mit stiller Wahrhaftigkeit.

Das mit zahllosen Charakteren jonglierende Konzert Nr. 17 G-Dur (KV 453) im Innersten zusammen zu halten ist ein Kunststück, das Uchida mit Leichtigkeit gelingt. Von der entwaffnenden Klarheit und Natürlichkeit ihres Spiels fordert die Position des dirigierenden Solisten aber doch einen kleinen Preis. Der Klang des Flügels, mittig und ohne Deckel im Orchester aufgestellt, büßt etwas an Kontur ein und hat im Dialog mit dem Orchester ein paar Probleme mit der Balance zur Folge.

Am hohen Niveau der Interpretationen kommt gleichwohl kein Zweifel auf. Das Konzert Nr. 22 Es-Dur (KV 482) entzückt mit dem imperialen Ton von Pauke und Trompeten, mit wunderbar empfindsamen Dialogen der Holzbläser und mit der trüb gefärbten, milden Klage im Andante. Uchida steigert sich immer weiter in Mozarts virtuose Läufe hinein: Hier brilliert eine Künstlerin, der es völlig fern liegt, glänzen zu wollen.

Die Deutsche Erstaufführung von Jörg Widmanns Choralquartett in der Fassung für Kammerorchester wirkt zwischen den beiden Klavierkonzerten keinesfalls wie ein Einschnitt. Widmann bezieht sich ausdrücklich auf alte musikalische Traditionen, hier insbesondere auf die „Sieben letzten Worte“ von Joseph Haydn. Das Werk beginnt stockend, mit leisen Einzeltönen und vielen Pausen. Das Mahler Chamber Orchestra zaubert auf der nun dämmrig abgedunkelten Bühne eine dichte, wie vom Nebel umflorte Atmosphäre, die von gelegentlich aufzuckenden Klangeruptionen nicht durchbrochen wird. Flöte, Oboe und Fagott steuern vom ersten Rang herab wunderbare Klangfarben bei.

Vermutlich hat Mitsuko Uchida hinter der Bühne interessiert gelauscht. Mit einem kurzen Stück von Arnold Schönberg zeigt sie in einer Zugabe, dass ihre Sympathien nicht nur Mozart, Beethoven und Schubert, sondern auch der musikalischen Moderne gelten.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Kurz, kürzer, Kurtág: Das Konzerthaus Dortmund ehrt Ungarns großen Komponisten mit einem fünftägigen „Zeitinsel“-Festival

György Kurtág und seine Frau Márta bei der Probenarbeit mit dem Bariton Benjamin Appl. (Foto: Konzerthaus Dortmund)

Wie der Zoom einer leistungsstarken Kamera wirken die „Zeitinseln“ im Konzerthaus Dortmund. Wenn das mehrtägige Minifestival Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts in den Fokus nimmt, erscheinen diese plötzlich verblüffend nahe. Ob Alban Berg oder Olivier Messiaen, Béla Bartók oder György Ligeti, George Benjamin oder Bernd Alois Zimmermann: Sie alle nehmen durch diese Konzertreihe faszinierend lebendige Gestalt an.

Daran haben die jeweils eingeladenen Interpreten einen großen Anteil, wie sich auch in der kommenden Zeitinsel zeigen wird. Vom 2. bis 6. Februar ehrt das Konzerthaus Dortmund den Ungarn György Kurtág, einen der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit. Er gilt als Meister der musikalischen Miniatur, als einer, der einen extrem verknappten, nachgerade aphoristischen Stil pflegt, der gleichwohl maximalen Ausdruck erreicht.

Dortmunds Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech zeigt sich von dieser strengen Konzentration auf das Wesentliche äußerst fasziniert: „Es ist unglaublich, wie er mit ein paar Tönen ganze Welten öffnet.“ Mehr als ein Jahr Vorbereitungszeit und mehrere Reisen nach Budapest haben er und sein Team in diese Zeitinsel investiert. Kurtágs Vorstellungen in die nächste Generation zu tragen, sei dabei das Hauptanliegen, sagt der Intendant.

György und Márta Kurtág (Foto: Judith Marjai)

Folgerichtig bildet ein Gesprächskonzert mit dem jungen Bariton Benjamin Appl (3. Februar) das Herzstück der kommenden Hommage. Er wurde von Kurtág ausgewählt, um unter seiner Anleitung die „Hölderlin-Gesänge“ für Bariton, Posaune und Tuba einzustudieren. An den Proben im Budapester Music Center nahm auch Kurtágs Frau Márta teil, die im Oktober 2019 verstarb – nach mehr als 70 Jahren Ehe.

Wie bereichernd diese exklusive, aber auch anstrengende Arbeit letztlich für alle Seiten war, hat das Konzerthaus per Film festgehalten. Wenn Appl die Hölderlin-Gesänge am 3. Februar aufführt, werden Teile dieser Dokumentation im Anschluss zu sehen sein. Ein Podiumsgespräch mit dem Sänger wird weitere Einsichten eröffnen, bevor er das Werk ein zweites Mal interpretiert. Dieser nachgerade musikvermittlerische Abend wird durch die Uraufführung von Kurtágs Hölderlin-Vertonungen „Das Angenehme dieser Welt“ und „Brief an die Mutter“ gekrönt.

Den Startschuss am 2. Februar gibt indessen das Arditti Quartett mit György Kurtágs Streichquartett op. 1, mit dem der Komponist sich aus einer fundamentalen Schaffenskrise befreite. Die vier Streicher, deren Erfahrung auf dem Gebiet der musikalischen Moderne kaum überboten werden kann, lassen diesem wichtigen Meilenstein Quartette von Anton Webern und György Ligeti sowie zwei weitere Kurtág-Werke folgen.

Der Franzose Pierre-Laurent Aimard bereichert die Kurtág-Zeitinsel am 4. Februar durch einen Klavierabend. (Foto: Marco Borggreve)

Péter Halász, Kurtágs Lektor bei der Edition Musica Budapest, wird am 4. Februar die Einführung zu einem Klavierabend von Pierre-Laurent Aimard geben. Der Franzose, der eng mit vielen Komponisten unserer Zeit zusammenarbeitete, wird Kurtágs „Játékok“-Miniaturen im Wechsel mit den Präludien und Fugen aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ spielen, um das Spiel mit Proportionen und Formprinzipien aus der Perspektive zweier Epochen zu beleuchten.

Ähnlich aphoristisch wie Kurtágs Tonsprache sind die Verse der russischen Dichterin Rimma Dalos, die den Komponisten zu seinem Liedzyklus „Szenen aus einem Roman“ inspirierte. Er bildet am 5. Februar den Schluss- und Höhepunkt eines Konzerts der Reihe „Musik für Freaks“. Caroline Melzer (Sopran), Nurit Stark (Violine), Luigi Gaggero (Cymbal) und Uli Fussenegger (Kontrabass) umrahmen den Zyklus mit Musik von Claudio Monteverdi bis Béla Bartók.

Ein moderiertes „Happy Hour“-Konzert gibt das WDR-Sinfonieorchester Köln am 6. Februar. Unter der Leitung des Rumänen Cristian Macelaru erklingen Kurtágs „Grabstein für Stephan“ für Gitarre und Orchester und sein Werk „Stele“ op. 33. Hinzu treten Béla Bartóks Rhapsodie für Violine und Orchester op. 15c sowie „Levante für Orchester“ des 52-jährigen Rumänen Dan Dediu. Bereits ausverkauft ist der Abschluss der Zeitinsel: Die „Kafka Fragmente“ op. 24 für Sopran und Violine werden am 6. Februar im „domicil“ an der Hansastraße aufgeführt, unterstützt von filmischen Installationen. Caroline Melzer (Sopran) und Nurit Stark (Violine) unternehmen diesen musikalischen Streifzug durch die Lebenswelt des berühmten Schriftstellers.

Obwohl der legendäre Komponist seine Wohnung im Budapester Music Center aufgrund seines hohen Alters nicht mehr verlässt, kommt man ihm durch dieses Festival denkbar nahe. Im Konzerthaus-Foyer rundet eine Ausstellung mit Zitaten, Zeichnungen und Manuskripten von Kurtág die Zeitinsel ab. Die Hommage verdankt sich auch der engagierten künstlerischen Planung der Konzerthaus-Mitarbeiterin Marie-Sünje Schade und der Unterstützung durch die Kunststiftung NRW.

(Informationen/Karten: https://www.konzerthaus-dortmund.de/kurtag/ )




Von himmlischen Freuden und Grausamkeiten: Hélène Grimaud und die Bamberger Symphoniker in der Philharmonie Essen

Die französische Pianistin Hélène Grimaud wurde 1969 in Aix-en-Provence geboren (Foto: Mat Hennek)

Ein scharfer Peitschenknall eröffnet Maurice Ravels Klavierkonzert G-Dur. Das für diesen erschreckenden Effekt notwendige Musikinstrument besteht aus zwei Holzlatten mit Griffen, die über ein Scharnier oder einen Riemen miteinander verbunden sind und zur Klangerzeugung gegeneinandergeschlagen werden.

In der Philharmonie Essen fällt dadurch der „Startschuss“ für die französische Pianistin Hélène Grimaud, die derzeit eine kleine Serie von acht Konzerten mit den Bamberger Symphonikern unter Chefdirigent Jakub Hruša gibt. Sie setzt mit quirligen Figurationen ein, deren gleichförmige Motorik sie mit eiserner Disziplin durchhält. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, hätten die Bamberger Symphoniker den rhythmisch vertrackten Beginn dieses übermütigen „Allegramente“ nicht so gründlich verpatzt. Wo die Partitur Präzision benötigt, damit alle Stimmen sich ineinanderfügen, wackelt und klappert dieser Beginn wie eine schlecht konstruierte Mühle.

Aber Hélène Grimaud lässt sich an diesem Abend nicht beirren. Ihr Zugriff auf Ravels Konzert, das in den Ecksätzen so wunderbar kurzweilig ist, setzt mehr auf französische Clarté als auf Jazz-Anleihen à la George Gershwin, wie sie sich in Blues-Klängen und im Aufjaulen der Klarinette bemerkbar machen. Ihr Klavierklang ist gläsern und unsentimental, ihr rhythmischer Drive zwingend. Im tiefgründigen zweiten Satz ist sie aber auch die große Poetin, die ebenso stille wie wehmütige Zwiesprache mit den Holzbläsern hält. Flöte, Englischhorn und Fagott begleiten sie denn auch wunderbar innig und elegisch. Indessen bleiben im Orchester Tempoprobleme bestehen, was umso erstaunlicher ist, als man den Taktstock von Chefdirigent Jakub Hruša zuweilen förmlich hören kann.

Es fehlt die Mahler’sche Morbidität

Mit abrupter Zeichengebung, die oft auf zackig getrimmt wirkt, leitet der Dirigent nach der Pause Gustav Mahlers 4. Sinfonie. Unter seinen zuweilen weit ausladenden Gesten erwächst eine Interpretation, die manches anreißt und zugleich viel vermissen lässt. Zwar sind die Einbrüche des Trivialen in der Partitur erkennbar, aber es fehlt die höhnische Schärfe, der wie ein Messer aufgleißende Spott.

Den schwelgerisch wiegenden Passagen der Streicher mangelt es am Herzenston. Obwohl das Poco Adagio über dem Puls der Bässe ins Schweben gerät, obwohl Oboe und Fagott in ihren Soli melancholischen Trauerflor tragen, fehlt die Mahler’sche Morbidität, der seinem Schönklang innewohnende Stachel der Vergänglichkeit. Der Orchesterklang fächert sich gegen Ende auf wie bei einer Orgel. Aber das kosmische Leuchten aus Mahlers weltabgewandten Weiten bleibt uns verwehrt.

Unter Hrušas Vorgänger Jonathan Nott haben die Bamberger Symphoniker eine ebenso hoch gelobte wie vielfach ausgezeichnete Gesamtaufnahme der Mahler-Sinfonien vorgelegt. Der seit 2016 amtierende Chefdirigent scheint Probleme zu haben, die Musikerinnen und Musiker zu motivieren und für sich zu gewinnen. Zuweilen wirkt er wie mit sich selbst beschäftigt. Das bekommt auch die Sopranistin Kateřina Kneziková zu spüren, die nicht auf größere Rücksichtnahme rechnen darf, wenn sie im Finale die „himmlischen Freuden“ besingt. Aber die sind, folgen wir dem Text aus „Des Knaben Wunderhorn“, auch nicht ganz frei von Grausamkeiten.




Spiel mit barocken Formen: Der Pianist Igor Levit trat mit einem ausgeklügelten Programm im Konzerthaus Dortmund auf

Igor Levit wurde 1987 in Nishni Nowgorod geboren und kam im Alter von acht Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. (Foto: Felix Broede)

Manche Pianisten weichen selten von ihrem kleinen, im Konzertsaal erprobten Repertoire ab. Andere setzen auf Fingerakrobatik, auf den Virtuosenrausch Liszt’scher Prägung, um ihr Publikum zu überwältigen. Wieder andere verwenden viel Mühe auf die Werkauswahl, weil sie einem Konzept folgen: einem gedanklichen Faden, der die Stücke zu einem größeren Ganzen bindet und im Idealfall neue Perspektiven auf bekannte Stücke eröffnet.

Igor Levit, der stets repertoirehungrige Notenverschlinger, stellte bei seinem ersten Auftritt im Konzerthaus Dortmund jetzt hohe Ansprüche an seine Zuhörer. Wer mit barocken Formen wie der Ciaconna und der Passacaglia, mit Kompositionstechniken wie der Fuge und dem Kontrapunkt wenig vertraut ist, dürfte schwer Zugang zu diesem Abend finden. Die Raritäten aus alter und neuer Zeit, die Levit zusammengestellt hat, sind ernsten Charakters und erlauben dem Zuhörer kein wohliges Zurücksinken in den Sitz.

Die Chaconne aus Johann Sebastian Bachs d-Moll Partita für Violine Solo gibt den Grundton vor. In ihr sind Choräle versteckt, die um das Thema Tod und Auferstehung kreisen. Levit spielt sie in der Fassung von Johannes Brahms für die linke Hand allein, gibt ihr Wärme und zugleich stille, eindringliche Askese. Als wolle er sich selbst befeuern für die immer neuen, immer prachtvolleren Variationen, lässt Levit die rechte Hand zuweilen gestisch mitgehen, obwohl er sie für dieses Stück nicht benötigt.

Etwas spröde Kost sind die 2014 entstandenen Klavierstücke „Dreams II“ des Amerikaners Frederic Rzewski, der von einem Film von Akira Kurosawa zu diesem Werk inspiriert wurde. Aber Levit, der sich nachhaltig für die Musik von Rzewski einsetzt und dieses Werk 2015 zur Uraufführung brachte, macht die fünf Episoden zu einer sinnlichen Erfahrung. Er spürt den Klängen intensiv nach, scheint nachzulauschen, wie Rzewskis Impressionen ihre Wirkung im Raum entfalten: mal zart wogend, mal impressionistisch verwischt, dann wieder mit der Strenge alter Formen.

Ein Fest barocker Variationslust ist die um 1670 entstandene Passacaglia von Johann Kaspar Kerll, mit der es nach der Pause weitergeht. In knappen sieben Minuten erklingen darin nicht weniger als 40 Abwandlungen auf einer immer gleichen Bassfigur. Levit lässt sie mit überquellender Spielfreude aufrauschen, mit einer leuchtenden Klarheit des Tons.

Zum Abschluss konfrontiert uns der Pianist mit einem Werk des exzentrischen Italieners Ferruccio Busoni. Aus dessen Arbeit an Johann Sebastian Bachs unvollendeter „Kunst der Fuge“ entstand eine Hommage, die als „Fantasia contrappuntistica“ Eingang in Busonis Werksverzeichnis finden sollte. Ihr Oktavgedonner, das sich bis in expressionistisch zugespitzte Klanggewitter steigert, verlangt das technische Rüstzeug eines Liszt-Interpreten und die Fähigkeit, einen kontrapunktisch komplexen Satz transparent darzustellen. Levit besitzt beides. Vehement schraubt er sich in die Steigerungen hinein, ohne verstörende harmonische Reibungen zu glätten. Dann wieder lässt er die Musik in ein fahles Pianissimo zurücksinken, in dem er sich gleichsam suchend und tastend vorwärtsbewegt.

Die Begeisterungsstürme, die Levit für diesen Abend erntet, sind mit seinem Bekanntheitsgrad allein nicht zu erklären. Er scheint ein Publikum anzuziehen, das für Anspruch und Qualität dankbar ist.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen)




„Dann habe ich meinen Job ja wohl richtig gemacht“ – eine persönliche Erinnerung an Martin Schrahn (1959-2019)

Sein Lachen klingt mir noch im Ohr, wenn wir am Telefon die neuesten Neuigkeiten aus dem Kulturbetrieb ausgetauscht haben.

Martin Schrahn †

Martin Schrahn †

Ich sehe seine hochgewachsene Gestalt vor mir, die mir vom anderen Ende eines Opern- oder Konzerthausfoyers zuwinkt, um mich gemeinsam mit seiner Frau Anke zur Bar zu locken, damit wir vor dem Kulturgenuss noch schnell ein Erfrischungsgetränk zu uns nehmen konnten.

Pointierte, feinsinnige und fachkundige Artikel verfasste er über das Musikgeschehen im Ruhrgebiet und darüber hinaus: Erst lange Jahre in der Kulturredaktion der Ruhrnachrichten in Dortmund und dann (nach seinem gesundheitsbedingten Ausscheiden) als freier Journalist, u. a. für die Revierpassagen. Kritisch waren seine Artikel, aber immer mit Witz und mit Liebe zu den Künstlern geschrieben. Beschwerden von diversen Kulturschaffenden, die sich in ihrer Eitelkeit verletzt oder auf den Schlips getreten fühlten, nahm er immer äußerst sportlich. „Dann habe ich meinen Job ja wohl richtig gemacht“, sagte er und lachte fröhlich.

Wie viele nette Stunden haben wir auf der Terrasse des Ehepaares Schrahn/Demirsoy verbracht oder auf ihrem gemütlichen Sofa. Einmal im Jahr gab es Apfelkuchen für alle Freunde – sozusagen aus dem eigenen Garten. Denn das Bäumchen, das wir beiden zur Hochzeit geschenkt hatten, trug ziemlich schnell Früchte.

Wir sind gemeinsam auf Berge gefahren, wir haben Münchens Museumslandschaft unsicher gemacht. Dabei war Martin Schrahn seit seiner Geburt aufgrund eines schweren Herzfehlers gehandicapt. Doch ich habe nie einen Menschen getroffen, der weniger Aufhebens von seiner Krankheit machte als Martin. Er thematisierte sie einfach überhaupt nicht. Wer nicht wusste, wie es um ihn stand, bemerkte oft gar nichts. Ich glaube, das war ihm wichtig: Seinen Interessen nachzugehen und so gut zu leben wie möglich, ganz ohne Wehleidigkeit.

Letztes Jahr hatten wir schon einmal große Angst um sein Leben: Aber er hat sich tapfer aus dieser Krise herausgekämpft und war schon wieder fast der Alte. Doch diesen Winter schlug das Schicksal erneut zu, auf grausame Art. Die letzten Wochen waren wir sehr in Sorge um ihn, aber hofften alle, dass er auch diesen Angriff auf seine Gesundheit abwehren könnte. Dass er bald aus dem Krankenhaus herauskäme und wir wieder zusammen die Kulturlandschaft durchwandeln würden.

Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt und das ist unendlich traurig; alle Worte, die diesen Schmerz zu beschreiben versuchen, kommen mir unfassbar schal vor.

Wir, seine Freunde, seine Kollegen, seine Weggefährten, seine Angehörigen und bestimmt auch seine Leser werden ihn unsagbar vermissen.




Zum Tod des Journalisten Martin Schrahn – Er wird der Musikwelt des Ruhrgebiets schmerzlich fehlen

Eine sehr traurige Nachricht hat uns erreicht: Der Kollege Martin Schrahn ist gestern gestorben. Mit nur 60 Jahren.

Martin Schrahn hat viel gearbeitet, aber er wusste das Leben auch zu genießen – hier 2016 bei einem Urlaub in Andalusien. (Foto: Privat)

Martin Schrahn hat viel gearbeitet, aber er wusste das Leben auch zu genießen – hier 2016 bei einem Urlaub in Andalusien. (Foto: Privat)

Martin Schrahn war vor allem ein herausragender Kenner der sogenannten E-Musik, er war aber auch mit anderen Kultursparten wie dem Schauspiel vertraut. Mit ihm fehlt dem Ruhrgebiet nun schmerzlich ein Kulturjournalist von Rang, der für etliche Medien und andere Publikationen vor allem Konzert- und Opern-Rezensionen geschrieben hat.

Auch zahlreiche Beiträge für die Revierpassagen zeugen von seiner profunden Sachkenntnis und seinem glänzenden Stil. Hinzu kam eine ebenfalls sehr schätzenswerte Zuverlässigkeit in allen Belangen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals etwas an seinen Texten hätte korrigieren müssen.

Gern möchte ich noch einmal ihm das Wort überlassen – mit seinem am 3. September 2019 erstmals erschienenen Beitrag über einen Auftritt des 92-jährigen Dirigenten Herbert Blomstedt in Essen, der so recht die Begeisterung durch Musik spüren lässt.

(Bernd Berke)

______________________________________________________________

Bruckner unter Spannung, Mahler

weltabgewandt: Herbert Blomstedt

und Christian Gerhaher setzen Maßstäbe

Von Martin Schrahn

Zuallererst muss vom Dirigenten die Rede sein. Von Herbert Blomstedt, der mit 92 Jahren noch immer am Pult steht, hoch aufgerichtet, mit kleinen, gleichwohl intensiven Bewegungen sowie punktgenauen Einsätzen. Der nichts von Strenge hat, vielmehr natürliche Autorität ausstrahlt. Der also ein Orchester verlässlich zu führen versteht. Dem Manier, Theatralik oder gar Egozentrik völlig fremd sind.

Blomstedts Auftritt in der Philharmonie Essen ist außerordentlich, ein kostbares Geschenk, das sich, zur Eröffnung der neuen Saison (2019/20), als Paukenschlag erweist. Weil der Dirigent, gehüllt in eine Aura väterlicher Güte, dem Gustav Mahler Jugendorchester betörende Klangschönheit entlockt, es atmen lässt und so der Musik, den fünf Rückert-Liedern Mahlers, zudem Anton Bruckners 6. Sinfonie, teils Größe verleiht, teils fragile Intimität zuordnet. Blomstedt formt mit Bedacht, das junge Ensemble spielt mit Liebe, in höchster Konzentration und außerordentlich präzise. Ein Glücksfall.

Als wäre dies alles nicht genug, gesellt sich Christian Gerhaher, bester Bariton seiner Generation, dessen Stimme sich auf jede Gefühlsnuance von Mahler einlässt, zu den Interpreten. Todesfahl kann das klingen oder kantig und harsch, bisweilen bittersüß. Manche Ansätze tragen etwas von Sprechen in sich – dem Kunstlied wird gewissermaßen ein kerniger Realismus übergestülpt. Anderes gewinnt nahezu opernhafte Kraft, wenn der Solist die dynamische Entäußerung sucht. Und seine Registerwechsel können gespenstische Wirkmacht entfalten.

„Ich bin der Welt abhanden gekommen“

Mahler hat die Lieder eher sparsam instrumentiert, in transparentem Satz, bisweilen asketisch klar. Gleichwohl hören wir, vom Orchester luzide aufbereitet, den typischen, mal schlichten, mal resignativen oder schmerzhaften Mahlerton. Der Komponist wendet sich ganz nach innen, feiert die Ruhe, die sich indes zu bestürzender Leere ausweiten kann. Dies alles kulminiert im 5. Lied, dem berühmten „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, eine stille Abkehr von irdischen Mühen hin zum Eremitendasein, letztlich zur erlösenden Transzendenz. Das „Ewig, ewig…“ aus dem „Lied von der Erde“ lässt grüßen.

Christian Gerhaher, der hier den Fluss der Zeit gleichermaßen einfriert, damit eine Stimmung herbeizaubert, die zwischen grenzenloser Traurigkeit und wärmender Friedfertigkeit pendelt, wählt als Zugabe das kurze „Urlicht“ aus Mahlers Auferstehungssinfonie. Jede Phrase davon ist sorgfältig, ja geradezu skrupulös gestaltet, mündend in die leidenschaftliche Aufwallung „Ich bin von Gott…“. Ein Bekenntnis, das nicht zuletzt auf den durch und durch religiösen Anton Bruckner verweist, dessen 6. Sinfonie ebenfalls vom weltlichen Mühen und Plagen weiß, von Leere wie von der Inbrunst des Glaubens.

Gottesfurcht klingt mit, doch es ist kein Hochamt

Bruckner bedient sich freilich anderer musikalischer Mittel, schon die opulente Besetzung steht in harschem Kontrast zum spärlichen Mahler-Klang. Zumal das Orchester an diesem Abend mit einem massigen Streicherkorpus aufwartet, der über alle Maßen glänzt und funkelt, schroffe Markierungen setzt oder feurig glüht; der den (nervösen) Puls der vier Sätze vorgibt, andererseits die lyrischen Themen schwelgerisch aussingt. Darüber türmen sich bisweilen die Blechbläser in faszinierenden Schichtungen. Holzbläser, bisweilen auch Horn und Trompete, steuern kantige Einwürfe bei. Jedes Solo ertönt mit gewissermaßen offenem Visier. Brüche tun sich auf und gehörige Spannungsfelder.

Herbert Blomstedt setzt eher auf dezente Tempi, um eben jene Spannung zu transportieren. Doch fällt er damit nicht in musikalische Blockbildung. Wichtig ist ihm der stete musikalische Fluss, die organische Entwicklung. Mag auch der gottesfürchtige Bruckner stets mitgedacht werden, zelebrieren Dirigent und Orchester gleichwohl kein Hochamt. Hymnische Höhepunkte ergeben sich aus dem Vorherigen. Prachtvoll sind sie trotzdem.

Am Ende Jubel, jede Menge Glücksgefühle. Das Orchester der Jungen und der Senior unter den Dirigenten geben allen Grund dazu. Die Saison hat gerade erst begonnen, und schon ist ein erster Höhepunkt zu vermelden. So schnell kann das gehen.

 




Kassenschlager im Doppelpack: Das London Symphony Orchestra spielt Bruch und Tschaikowsky in Dortmund

Janine Jansen stammt aus einer Musikerfamilie. Ihr Großvater leitete einen Kirchenchor, ihre Mutter sang im Kirchenchor, ihr Vater Jan und Bruder David spielen Cembalo, ihr älterer Bruder Maarten Violoncello. (Foto: Harald Hoffmann/Decca)

Rücken und Schulter machen der berühmten Geigerin Janine Jansen häufig zu schaffen. Die aus dem niederländischen Soest (Provinz Utrecht) stammende 41-Jährige pflegt eine sehr bewegungsfreudige Art des Violinspiels, bei der sie die Schultern auffallend hochzieht. Das entspricht dem überbordenden Temperament der Künstlerin, würde jedoch gewiss keine Empfehlung eines Physiotherapeuten erhalten.

Zur Saisoneröffnung Mitte September 2019 hatte sie dem Konzerthaus Dortmund krankheitsbedingt absagen müssen. Nun trat sie mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Gianandrea Noseda auf, im Gepäck eines der meistgespielten und populärsten Violinkonzerte überhaupt: Max Bruchs Erstling g-Moll op. 26, gewidmet dem legendären Joseph Joachim. Die ungeheure Beliebtheit des Werks, die dem Komponisten bereits zu Lebzeiten zum Ärgernis wurde, stellt jeden Interpreten vor die Frage, was aus diesem schier totgespielten Stück noch herauszuholen ist.

Eine völlig neue Lesart zu versuchen, müsste wohl mit Verzerrung, ja Entstellung der Partitur enden. Janine Jansen zielt gar nicht erst darauf ab. Stattdessen vertraut sie auf die Stärken ihres Spiels. Auf den zupackenden Biss ihrer dreistimmigen Akkorde. Auf ihr Vibrato, das in der Introduktion entspannt und weit schwingt, in der Beschleunigung aber eine brennende Intensität erzeugt. Auf die wunderbar gedeckten Farben in der Mittellage ihrer Stradivari, die sie im Adagio in langen ruhigen Bögen ausspielt.

Doppelgriffe mit geradezu sportiver Energie

Besonders authentisch gelingt ihr das Finale mit seinem kraftvoll federnden Hauptthema. Janine Jansen geht das von der Hand wie geschnitten Brot. Ihre Doppelgriffe besitzen eine furiose, nachgerade sportive Energie. Dezimaufgänge schleudert sie mit vollem Schwung in den Raum. Sie setzt nadelfeine Akzente, ihre Läufe sind von quecksilbriger Beweglichkeit, und die Presto-Stretta lässt an Rasanz nichts zu wünschen übrig.

Mit Peter Tschaikowskys 5. Sinfonie folgt nach der Pause ein weiterer Kassenschlager. Hier findet sich das London Symphony Orchestra, das in Bruchs Violinkonzert noch zu recht knalligen Tutti neigte, allmählich besser mit der Akustik des Saals zurecht. Gianandrea Noseda, erster Gastdirigent des Orchesters, animiert das LSO zu einer Fassung, der tänzerische Bewegtheit wichtiger ist als die schwerfällig stapfenden Marschrhythmen. Nichts an dieser Interpretation ist zäh, aber manches Crescendo rauscht so schnell auf, dass auf dem Weg zum Höhepunkt einiges an Spannung verschenkt wird.

Emotionale Extremzustände scheint Noseda eher glätten zu wollen. Gleichwohl führt er das zu Beginn düster vorgetragene Thema der tiefen Klarinetten überzeugend bis zum apotheotischen Schluss-Hymnus. Das Finale bricht aus dem Korsett eines ästhetisch-romantischen Tschaikowsky-Klangs aus. So erhält diese Fünfte zum guten Schluss ein paar eindrucksvolle Ecken und Kanten. Das Blech klotzt selbstbewusst los, die Trompeten schmettern Triumph, die Streicher rasen mit einer weiß glühenden, zugespitzten Schärfe auf die Ziellinie los. Nach dem Schlusston explodiert der Jubel.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Barock-Show mit erlesenen Spitzen: Cecilia Bartoli widmet dem Kastraten Farinelli in der Philharmonie Essen ein Programm

Cecilia Bartoli, Gianluca Capuano und das Ensemble Les Musiciens du Prince. (Foto: Saad Hamza)

Amüsiert schaut Cecilia Bartoli an sich selbst herab. Auf ihre Beine, die in kniehohen Lederstiefeln stecken, als sei sie ein Musketier. Auf ihr feminin zartes Kleid, das sie vorne hoch gerafft hat, damit der Blick auf eben diese Stiefel frei wird. „Was ist das denn bitteschön für eine verrückte Garderobe?“, scheint ihre selbstironische Grimasse zu fragen. Dann zuckt sie die Achseln, wirft lachend ihre Locken zurück und gönnt ihrem Publikum eine mit rasanten Koloraturen gespickte Zugabe.

Natürlich weiß die temperamentvolle Römerin ganz genau, wie gut diese Aufmachung zu ihrem Programm „Farinelli und seine Zeit“ passt. In der Philharmonie Essen huldigt sie dem wohl berühmtesten aller Kastraten, indem sie mit den Geschlechterrollen spielt und mit Lust an der Kostümierung auf dem Grat zwischen Mann und Frau wandelt.

Zu diesem Zweck verlegt sie ihre Künstlergarderobe auf die Bühne. Barock gewandete Zeremonienmeister schaffen einen großen Schrankkoffer herbei, der Schminktisch und Sichtschutz zugleich ist. Sie lässt das Publikum daran teilhaben, wie sie sich vom knabenhaften Octavian in Cleopatra verwandelt, wie sie sich Perücken aufsetzt und mit flinken Fingern ihre Frisur richtet.

Es ist nicht weniger als eine Show, mit der Cecilia Bartoli und das 2016 von ihr gegründete Barockensemble Les Musiciens du Prince aus Monaco unter der Leitung von Gianluca Capuano derzeit auf Tournee sind. Natürlich dient der Aufwand auch der Werbung für die jüngste CD-Einspielung der Diva. Aber die Präsentation ist zu durchdacht und die Gesangskunst der Bartoli zu groß, um den Abend in eine Varieténummer abgleiten zu lassen. Die Abfolge von Orchesterstücken und Arien ist zu zwei großen Blöcken geformt, die den Zuhörern keine Chance lassen, den Spannungsbogen durch Zwischenapplaus zu zerstören.

Cecilia Bartoli wirbt mit ihrem Farinelli-Programm, das sie nun auch in der Philharmonie Essen präsentierte, für ihre jüngste CD-Einspielung. (Foto: Saad Hamza)

So können sich alle an diesem klug konzipierten Gesamtkunstwerk erfreuen, die Puristen ebenso wie die Fans. Denn musikalisch erweist sich dieser Abend über jeden Zweifel erhaben. Cecilia Bartoli ist im raschen Wechsel barocker Affekte zu Hause wie kaum eine andere. In allen Koloraturgewittern bleibt sie souveräne Herrscherin. Sie besitzt jubelnde Höhen, eine staunenswerte Tiefe, vor allem aber ein hoch entwickeltes Feingefühl, das den Arien aus Farinellis Zeit schier unerschöpfliche Nuancen abgewinnt.

Sie gestaltet Geminiano Giacomellis Arie „Sposa, non mi conosci“ zur großen Klage, lässt die Wogen in Nicola Porporas „Nobil onda“ virtuos aufschäumen, packt in den Jagdklängen von Leonardo Vincis „Cervo in bosco“ mit Vehemenz zu. Das exzellente Orchester, das ihr an lebhafter Gestaltung in keiner Weise nachsteht, unterstreicht die jeweilige Atmosphäre durch Effektinstrumente wie Regenmacher, Windmaschine und Vogelpfeifen.

Antonio Caldaras Arie „Quel buon pastor son io“ wird zu einem der anrührendsten Momente des Abends. Zwischen zartbitterer Melancholie und friedvoller Idylle balancierend, erreicht die Bartoli ein Höchstmaß an Innerlichkeit. Hier wird die Quirlige plötzlich still, breitet die Arme aus, verströmt ihre Seele in Gesang. Das klingt noch lange nach.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen zur Konzertreihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ unter https://www.theater-essen.de/philharmonie/themenreihen-2019-2020/alte-musik-bei-kerzenschein/)




Dortmunder Sirenengesänge: Das Konzerthaus installiert mit der Reihe „Curating Artist“ ein kleines Festival im Spielplan

Sergei Babayan war der erste „Curating artist“ im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Petra Coddington)

Diese Einladung dürfte in den Ohren von Musikern wie Sirenengesang klingen: „Komm zu uns, bring deine Freunde mit und spiele, was immer dir gefällt!“ Auf solche Weise versucht Dortmunds Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech, Künstler für seine neue Reihe „Curating artists“ zu gewinnen.

Als Mini-Intendant dieses kleinen Festivals darf der gestaltende Künstler selbst bestimmen, was er wann spielt – und mit wem. Das ist durchaus eine Verlockung im internationalen Konzertbetrieb, der sich eher selten durch Freiräume und Experimentierfreude auszeichnet.

Wenn einer so berühmte Freunde hat wie Sergei Babayan, ist der Festivalcharakter von vorneherein garantiert. Der gebürtige Armenier gilt als einer der größten Pianisten unserer Zeit, was aufgrund seiner Biographie aber eher in den USA bekannt ist als in Europa. Weggefährten wie Martha Argerich, Mischa Maisky, Valery Gergiev und sein Schüler Daniil Trifonov halten indessen große Stücke auf ihn. Sie alle folgten dem Ruf nach Dortmund, um mit Babayan zu konzertieren.

Die gestaffelte Aufstellung der Konzertflügel gestattete den beiden Pianisten räumliche Nähe (Foto: Petra Coddington)

Dem Auftakt mit Martha Argerich folgte ein Abend mit Babayans einstigem Schüler Daniil Trifonov, der längst weltweit große Konzertsäle füllt. Musik für zwei Klaviere stand folglich auf dem Programm, zum Teil mit exzellenter Begleitung durch das Mahler Chamber Orchestra. Die gestaffelte Bühnenaufstellung der Flügel, die gewissermaßen eine Riesen-Klaviatur mit 176 Tasten schafft, hat auch den Effekt, dass Trifonov und Babayan beinahe nebeneinander sitzen statt weit voneinander entfernt.

Das erleichtert das Zusammenspiel, das bei diesen beiden Pianisten ohne einen einzigen Blickkontakt funktioniert. Mag Robert Schumanns Andante und Variationen für zwei Klaviere B-Dur op. 46 zuweilen für den Hausgebrauch komponiert scheinen, so rücken die beiden Interpreten das Stück mit glücklicher Hand in die Nähe der anspruchsvollen Symphonischen Etüden.

Daniil Trifonov, einst Schüler von Sergei Babayan, zählt heute zu den gefragtesten Pianisten der Welt (Foto: Petra Coddington)

Ihre technische Überlegenheit steht auch in den folgenden Konzerten mit Orchester nicht zur Debatte, die Dank einiger Handzeichen der Pianisten gut ohne Dirigenten auskommen. Bestenfalls gäbe es in Mozarts Konzert Nr. 10 Es-Dur KV 365 Stilfragen zu erörtern, denn Trifonov und Babayan setzen mehr auf ihre ungeheuer ästhetisierte Anschlagskultur als auf Prägnanz, wie man sie aus der historischen Aufführungspraxis kennt. Gleichwohl ergibt sich im Dialog mit dem Mahler Chamber Orchestra ein höchst lebendiges Musizieren, das in Johann Sebastian Bachs Konzert c-Moll BWV 1062 bei aller barocken Strenge zu einem regelrechten Groove führt.

Den wahren Zenit erreicht der Abend aber nach der Pause. Es dürfte derzeit extrem schwer fallen, ja vielleicht schier unmöglich sein, bessere Rachmaninow-Interpreten zu finden als Sergei Babayan und Daniil Trifonov. Sie steigern die Suiten Nr. 1 g-moll op. 5 und Nr. 2 C-Dur op. 17 zu einem pianistischen Rausch der Extraklasse. Diese ist keineswegs durch wirbelnde Finger, glitzernde Tonkaskaden und nachgerade frenetische Steigerungen definiert, sondern durch den Grundton einer Schwermut und Leidenschaft, der sich auch in den stürmischsten Akkordgewittern nie verliert. Stets bleibt ein Element des Sanglichen: eine Innerlichkeit, die Virtuosität zur Nebensache macht.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Vor dem Wechsel nach Wien: Letzte Aufführungen von Martin Schläpfers „Schwanensee“-Choreographie an der Rheinoper

Szene aus Schwanensee (Foto: Gert Weigelt/Rheinoper)

Die Geschichte ist märchenhaft, aber auch tragisch: Von einem Prinzen, der gegen alle Konventionen aufbegehrt und sich in ein Schwanenmädchen verliebt, das nicht von dieser Welt ist. Deswegen muss die Liebe scheitern. Das Besondere daran: Die Story wird nur durch Musik und Tanz erzählt, es braucht dazu keine Worte.

Das berühmteste Ballett überhaupt, Peter I. Tschaikowskys „Schwanensee“ wurde jetzt an der Deutschen Oper am Rhein wiederaufgenommen, ab 6. Dezember ist es nochmal am Theater Duisburg zu sehen. Choreografiert hat diesen Ballettabend b 36 Martin Schläpfer, seit zehn Jahren Ballettchef an der Rheinoper, nun aber auf dem Sprung an die Wiener Staatsoper, an die er zur Spielzeit 20/21 wechselt. Eine der letzten Gelegenheiten also, ein solch abendfüllendes Handlungsballett (Musikalische Leitung: Lukas Beikircher) in der typischen Schläpfer-Handschrift zu sehen.

Doch sein Zugriff ist modern: Mit weißen Tutus und niedlichen Schwanenmädchen hat Schläpfer nicht viel im Sinn. Ihn interessiert mehr die Psychologie der Figuren, im Zentrum steht dabei der Prinz und sein Konflikt mit seiner Mutter (Virginia Segarra Vidal tanzt sie herrlich streng, steif und staatstragend). In einer Art physischem Widerwillen zuckt Marcos Menha als Siegfried sogar vor ihren Berührungen zurück.

Klassenunterschiede nahezu aufgehoben

Auch die Klassenunterschiede zwischen dem feiernden Bauernvölkchen und dem höfischen Personal sind bei Schläpfer nahezu aufgehoben: Alle tanzen ausgelassen zusammen und abwechselnd, ihre Kostüme (Florian Etti) unterscheiden sich gar nicht so sehr voneinander. Aber der Prinz interessiert sich ohnehin nicht für die lustige Geburtstagsfeier zu seinen Ehren. Ihn zieht es hinaus in den Wald, den der Schweizer Schläpfer als eine einsame Bergwelt darstellt. Hier begegnet Siegfried zum ersten Mal den Schwänen, die durchaus Federn lassen, allerdings etwas dezenter als in sonstigen Schwanensee-Aufführungen. Trotzdem großartig, wie die Bewegungen der Tiere in die Sprache des Tanzes einfließen, wie ihr ganzes Flügelschlagen, Tauchen und Schwimmen hier zur Körperkunst wird.

Weitere Szene aus Schwanensee (Foto: Gert Weigelt/Rheinoper)

Ein Mädchen hat es ihm besonders angetan, Odette, von der er sofort verzaubert ist, die aber nicht bei ihm bleiben kann, weil sie nur nachts eine Frau ist, tagsüber schwimmt sie mit den anderen als Schwan auf dem See. Grazil, anmutig, entzückend und auch ein wenig traurig – so bezaubert Marlúcia do Amaral in ihrer Rolle. Die Pas de deux der beiden gehören zu den betörendsten Momenten dieses Abends, so innig und sehnsuchtsvoll, weil jeder weiß, bald müssen sie sich wieder trennen. Zumal Odettes Gegenspieler in der Welt des Mystischen, König Rotbart (Sonny Locsin) und die böse Stiefmutter (diabolisch Young Soon Hue) schon einen teuflischen Plan ausgeheckt haben: Auf die Verlobungsfeier des Prinzen, der auf keinen Fall eine der ihm dargebotenen Königstöchter heiraten will, jubeln sie ihm eine falsche Odette namens Odile (Camille Andriot) unter. Siegfried fällt auf den Betrug rein und die echte Odette kann folglich nicht erlöst werden, denn sie hat den wahrhaft treuen Prinzen nicht gefunden.

Einmal tanzen sie noch zusammen, die beiden verlorenen Königskinder, doch Odette wird schwächer und schwächer und lässt zum Schluss die Flügel hängen… Ein Happy End hat dieses Märchen nicht, aber es ist trotzdem zu schön, um wahr zu sein.

Termine in Duisburg: 6., 11. und 14.12.2019
Termine in Düsseldorf: 25.12.2019, 1.1. und 28.6.20

www.ballettamrhein.de




Die Macht der Musik: Ivor Bolton beginnt seine Residenz in der Philharmonie Essen mit Vokalwerken Georg Friedrich Händels

Ivor Bolton hat sich schon in den Achtzigern einen Namen gemacht, als er an der Bayerischen Staatsoper München zeitgeistig luxuriöse Händel-Opernproduktionen dirigierte. Seither hat er die polierte Oberfläche verlassen und ist in die Tiefe vorgedrungen. Davon zeugte zuletzt eine vorzügliche „Agrippina“ bei den Münchner Opernfestspielen 2019 in der Regie von Barrie Kosky.

Ivor Bolton, in der Spielzeit 2019/20 Artist in Residence der Philharmonie Essen. Foto: Nancy Horowitz

Ivor Bolton, in der Spielzeit 2019/20 Artist in Residence der Philharmonie Essen. Foto: Nancy Horowitz

Was liegt für Bolton also näher, als seine Residenz an der Philharmonie Essen mit Georg Friedrich Händel zu beginnen? Für seinen Einstand wählte er zwei bedeutende oratorische Werke: Die „Ode for St. Cecilia’s Day“ eröffnet passend das novemberliche Konzert, kombiniert mit „Alexander’s Feast“ – genauso wie bei der Uraufführung der ausgedehnte Hymne an die Schutzheilige der Musik am 22. November 1739 im Lincoln’s Inn Fields Theatre in London.

Große Emotionen in Musik gefasst

Das „Alexanderfest“ ist ein merkwürdiger Zwitter, weder Oratorium noch Ode, aber ein Hauch großer Oper. Kaum Handlung, dafür eher ein philosophisches Nachdenken über die „Macht der Musik“ mit den Mitteln der Musik: Alexander der Große sitzt „beim königlichen Fest nach Persiens Fall“. Die Lieder eines Sängers rufen unterschiedliche Emotionen hervor. Unabhängig von einer Handlung ermöglicht der Text, erhabene Freude, Wut und Rachegefühle, Heiterkeit, Liebe und Mitgefühl in Musik zu fassen – eine Chance, die Händel mit allem farbigen Reichtum nutzt.

Vom herrschaftlichen Gestus der Ouvertüre bis zum instrumental kühn illustrierten Todesschmerz folgt das Concerto Köln den Ausdrucks-Absichten Boltons mit gewohnter Souveränität. Kein überzogenes Tempo stört die expressive Formung von Tönen und den Fluss der Phrasierung, kein technisches Hindernis beeinträchtigt den Wohlklang der Fagotte, der virtuos beherrschten Hörner oder der Blockflöten. Das Chorwerk Ruhr, einstudiert von John Lidfors, brilliert – auch in der „Ode for St. Cecilia’s Day“ – mit faserlosem Klang, rhythmischer Präsenz und präziser Artikulation.

Vorboten des Weingottes

Unter den Solisten hat der Bass Andreas Wolf mit einem fabelhaften Lob des Bacchus den unterhaltsamsten Auftritt, unterstützt von ausgezeichneten Bläsersolisten, wenn der „Schalmeienklang“ den ewig schönen, jungen (und trinkfreudigen) Weingott ankündigt. Den Kontrast bildet eine Arie des Soprans wenig später, in der Emőke Baráth das traurige Schicksal des sterbenden Perserkönigs Darius schildert. Es ist eine der bewegenden Szenen, in denen sich Händel als expressiver Gestalter von Emotionen erweist. Auch wenn die Sängerin mit ihrem kopfig angesetzten Sopran ein „barockes“ Ideal pflegt, bei dem man fragen darf, wieviel es mit dem Belcanto der Händel-Zeit zu tun hat, gestaltet sie mit ihren Mitteln, ihrer sensiblen lyrischen Wärme und einem kultivierten Timbre die Wirkung des Liedes auf Alexander, der ob des Leids seines Gegners zu Tränen gerührt wird.

Dritter im Bunde der versierten Gesangssolisten ist Allan Clayton, einer der typischen Tenöre mit weißgetöntem Timbre, wie sie für Musik des 18. Jahrhunderts eingesetzt werden. Ein Belcanto-Experte wie Rodolfo Celletti hat für diesen Gesangsstil wenig schmeichelnde Urteile übrig; Clayton gestaltet die Accompagnati des zweiten Teils mit dem Willen, dem Sinn der Worte nachzuspüren, doch er muss sich geschlagen geben, weil Händel in diesem Fall dem Bass den Joker zugeschoben hat: Die Szene der aus der Gruft steigenden Furien und eines Geisterzugs im Schein von Fackeln ist in ihren unheimlich fahlen Farben so plastisch geschildert, dass es Andreas Wolf leicht fällt, daraus einen Thriller des 18. Jahrhunderts zu machen.

Die weiteren Konzert der Spielzeit mit Ivor Bolton

Das Konzert erzeugte Lust auf den 23. November, wenn Ivor Bolton wiederkommt, dann mit einer Reise in die Romantik mit Mendelssohns Vierter Symphonie und Schumanns Klavierkonzert, gespielt von Martin Helmchen. Am 8. Dezember bringt Bolton „sein“ Orchester mit: Das Sinfonieorchester Basel, dessen Chefdirigent er seit 2016 ist, spielt dann Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zum „Sommernachtstraum“ und begleitet Daniel Hope in Ludwig van Beethovens Violinkonzert.

Weiter geht’s 2020 mit einem Konzert am 13. Februar in der Pro Arte Reihe, wieder mit dem Orchester aus Basel und einem reinen Beethoven-Programm, diesmal dem c-Moll-Klavierkonzert mit Alexander Melnikov und Ausschnitten aus der Ballettmusik „Die Geschöpfe des Prometheus“. Die Essener Philharmoniker dirigiert Ivor Bolton am 27. und 28. Februar. Dann zeigt er, dass er mit Anton Bruckner ebenso vertraut ist wie mit Händel, wenn die Vierte – die „Romantische“ – auf dem Programm steht. Eine weitere Bolton-Facette lässt sich am 5. März 2020 erkunden: Mit dem ebenfalls von ihm geleiteten Orchester des Teatro Real Madrid gibt er Musik von Gioachino Rossini zum Besten.

Den Abschluss der Residenz bildet ein Konzert am 29. Mai mit der vollständigen Schauspielmusik Beethovens zu Goethes „Egmont“ mit Ulrich Tukur als Sprecher und flankiert von Beethovens „Eroica“ und der Ouvertüre zu „Lodoȉska“ von Luigi Cherubini. Dabei spielt das Mozarteum Orchester Salzburg, das Bolton bis 2016 geleitet hat und dessen Ehrendirigent er ist.

Tickets für die Konzerte:
Tel.: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de/karten/




Wenn Molly Bloom Konsonanten knattert: Das „Now!“-Festival schmückte sich mit einer Uraufführung von Rebecca Saunders

Das 1990 gegründete Ensemble Musikfabrik zählt zu den führenden Klangkörpern der zeitgenössischen Musik (Foto: Katharina Dubno)

Prozesse des Übergangs rückte das am Wochenende zu Ende gegangene Essener Festival „Now!“ für Neue Musik in den Fokus. Exemplarisch spiegelte sich das diesjährige Motto „Transit“ in den monumentalen Gurreliedern von Arnold Schönberg: Ein Schlüsselwerk an der Nahtstelle zur Moderne, das aufgrund der verlangten Riesen-Besetzung mit mehr als 400 Interpreten nur selten zur Aufführung gelangt. In der Philharmonie Essen war es in der reduzierten Fassung von Erwin Stein zu erleben, gewissermaßen in einer Taschenversion mit „nur“ rund 100 Musikern und 200 Choristen.

Rebecca Saunders, die im Juni 2019 den Ernst von Siemens Musikpreis entgegen nahm, zählt zu den führenden Komponistinnen unserer Zeit (Foto: Astrid Ackemann)

Von Übergängen und von der Faszination an der Zusammensetzung von Klängen sprach die Komponistin Rebecca Saunders in einer öffentlichen Einführung vor Beginn des 11. Festival-Konzerts. Etwa 100 Jahre nach den Gurreliedern komponierte die in Berlin lebende Britin ein Raumklang-Stück nach dem berühmten Monolog der Molly Bloom aus dem Roman „Ulysses“ von James Joyce. Einen Teil daraus mit dem Titel „Nether“ hat sie jetzt überarbeitet und verlängert. Saunders, im Juni 2019 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrt, beschreibt ihr Werk als ein Lauschen auf die Stimmen im Kopf, als Tiefenbohrung in eine verborgene innere Welt.

Kontinuierlich gesteigerte Erregung

Wie ausdrucksstark sie dabei nicht nur mit den Mitteln der Sprache, sondern auch mit den verschiedenen Klangfarben der Instrumente arbeitet, demonstrierte das in Köln ansässige Ensemble Musikfabrik beim „Now!“-Festival. Von einem mystisch fernen Pianissimo-Beginn ausgehend, steigern die fabelhaften Musikerinnen und Musiker die Erregung kontinuierlich. Dabei wandern die Motive so raffiniert durch die verschiedenen Stimmen, dass selbst das aufmerksame Ohr zuweilen zweifelt, welches Instrument gerade welchen Klang produziert. Wie Janet Fraser (Sopran) den Text der Molly Bloom wispert und haucht, ihn zuweilen singt, dann hinter vorgehaltener Hand erstickt murmelt oder in einem wahren Konsonanten-Gewitter heraus knattert, ist ohnehin ein Ereignis.

Dirigier-Spaß der demokratischen Art

Eine konzertante Aufführung von Stephan Winklers kleinem Musiktheater „Schweres tragend“ für zwei Sänger, fünf Instrumentalisten und Elektronik hatte den Abend eröffnet. Die Geschichte von Gisela aus Schwabing, einer Institution der Münchner Nummernkabarett-Szene, zerfällt dabei in zwei Teile. Im Opernteil findet zwischen Sachika Ito (Sopran) und Daniel Gloger (Countertenor) szenische Interaktion statt. Indessen rutschen die Sänger völlig in den Hintergrund, sobald Thomas Hupfer als „Erzähler“ auftritt. Die Lippen zur Stimme von Stephan Winklers Freund Max Goldt bewegend, die vom Zuspiel-Band kommt, verleiht er der Geschichte einen unerwartet nüchternen Anstrich.

Ein nachgerade unterhaltsames Ende findet der Konzertabend mit dem Stück „Intermezzi“ des griechisch-französischen Komponisten Georges Aperghis. Das liegt nicht nur an den mit Doppeltrichtern ausgestatteten Instrumenten der Blechbläser, die ungewöhnliche Spaltklänge erzeugen, sondern auch an der kommunikativen Situation der im Kreis aufgestellten Musikerinnen und Musiker.

Die beweisen reihum ihre Qualitäten, die auch in das Feld der Komik hinein reichen. Da greift die Flötistin Helen Bledsoe plötzlich zur Gitarre und lispelt dazu mit Kleinmädchen-Stimme. Florentin Ginot unterstreicht sein wildes Kontrabass-Solo durch lautes Hecheln und Keuchen. An dem Klarinettisten Carl Rosman, der in sein Instrument hinein brabbelt wie ein Weltmeister, ist ein veritabler Stimmkünstler verloren gegangen. Mit dem Dirigat wechseln sich die Ensemblemitglieder sowieso ab. Anders als bei Wolfgang Amadeus Mozart ist dieser musikalische Spaß offenbar demokratischer Natur.




Leuchtfeuer für die Moderne: Die Essener Philharmoniker und Tomáš Netopil mit Schönbergs monumentalen „Gurreliedern“

Mit einem Feuerwerk neuer Musik endete an diesem Wochenende das Festival NOW!, das sich in den letzten neun Jahren zu einem Hotspot der Erkundung aktueller Wege des Komponierens entwickelt hat. Eröffnet haben es die Essener Philharmoniker allerdings mit einem „Klassiker“ der Moderne, mit Arnold Schönbergs monumentalen „Gurreliedern“.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad

Das Werk ist eines der seltenen Beispiele dafür, wie sich Vergangenheit und Zukunft der musikalischen Entwicklung in einem Moment treffen und einen Funken schlagen, der sich zum Leuchtfeuer für eine ganze Generation entwickelt. Schönberg fasst in dem knapp zweistündigen Zyklus die Gattungen Lied, Musikdrama, Oratorium und Symphonie zusammen, führt mit seinem Riesenorchester (im Original 80 Streicher, 50 Holz- und Blechbläser, 6 Pauken, 4 Harfen, üppiges Schlagwerk und Celesta) die Klangwelt Richard Wagners weiter, orientiert sich im Prinzip der „entwickelnden Variation“ an Johannes Brahms, arbeitet wie Engelbert Humperdinck mit dem Melodram und zeigt mit spätromantischer Klangpracht und dem Hinausrücken aus Tonalitätsgrenzen, wohin er sich auf seinem eigenen Weg vielleicht auch von Richard Strauss hat begleiten lassen.

Genießerisch ausgebreitete Klang-Raffinesse

Doch mehr noch als die wegen des Aufwands seltenen Aufführungen haben nach der umjubelten Uraufführung 1913 in Wien die Gurrelieder wohl die beteiligten, später bedeutenden Komponisten beeinflusst: Anton Webern wirkte 1910 bei der ersten Teil-Uraufführung als Pianist mit; Alban Berg hat schon vor der Uraufführung eine ausführliche Analyse vorgelegt. Und wie Franz Schreker, der Dirigent der Uraufführung, oder Alexander von Zemlinsky mit ihren raffinierten Klangerfindungen mit Schönberg zusammenhängen, lässt sich im Vorspiel des Oratoriums nachvollziehen – zumal, wenn die Raffinesse des Klangs so genießerisch ausgebreitet wird wie von den Essener Philharmonikern unter ihrem Chef Tomáš Netopil.

Der österreichische Komponist, Verlagsmitarbeiter und Schönberg-Schüler Erwin Stein hat mit einer aufführungspraktischen Reduktion viel dazu beigetragen, die Gurrelieder zu verbreiten. Die erste in Deutschland entstandene Gesamtaufnahme – und erst die dritte überhaupt – ist erst 1965 mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Rafael Kubelik erschienen. Heute haben jeder Rundfunkchor und selbst mittelgroße Orchester den Ehrgeiz, Schönbergs wegweisendes Werk aufzuführen.

Tomáš Netopil und das Orchester lassen sich im ersten Teil mit größter Sorgfalt auf die Delikatesse des Klangs, auf die Magie der entrückten harmonischen Erfindung und auf die allmähliche dynamische Entwicklung hin zum pulsierenden, verliebten Schwärmen von Waldemar und Tove ein. Auch der Bruch der Atmosphäre – wenn Waldemar in „Es ist Mitternachtszeit“ den Tod vorausahnt – teilt sich in exquisiten Färbungen im Orchester mit. Die Sänger allerdings stoßen an ihre Grenzen: Burkhard Fritz – am zweiten Abend für Torsten Kerl eingesprungen – hält seinen kraftvoll-trockenen Tenor auf gleicher, bleicher Tonlage.

Urgewaltig gesteigerte Klang-Eruptionen

Und Julia Borchert bleibt so vornehm lyrisch, dass man nicht glauben möchte, von ihr demnächst in Hildesheim eine Isolde hören zu können. Das Zentrum des Soprans bleibt matt, der hymnische Aufschwung in ihrem letzten Lied, die verklärende Todesnähe des „Tristan“ – „So laß uns die goldene Schale leeren ihm, dem mächtig verschönenden Tod“ – wollen sich nicht mitteilen. An der Position der Sängerin im Raum kann es wohl nicht liegen, denn Deirdre Angenent setzt sich als Waldtaube mühelos durch.

Der zweite Teil fiel dann erheblich ab: Die wild verzweifelte Anklage Gottes formuliert Burkard Fritz zwar mit durchsetzungsstarker Energie, und Netopil steigert die Ausfahrt der Toten zur „wilden Jagd“ mit orchestraler Verve und satter Klanglichkeit. Doch für die ergreifende Klage, die wehmütige Erinnerung und den Schmerz des Verlustes fehlen dem Tenor die Farben der Stimme. Und das Orchester peitscht Netopil so insistierend auf, das die kunstvolle Polyphonie, die unheimlich-verhaltenen Töne des Geisterspuks, auch die extremen Klangfarben, die Schönberg in bester Mahler-Manier zum Einsatz bringt, in der Urgewalt einer entfesselten – und dann auch undifferenzierten – Klangeruption überwältigt werden.

Die Sänger aus dem Essener Opernensemble halten wacker dagegen: Heiko Trinsinger gestaltet einen stumpf-abergläubischen Bauern, Albrecht Kludszuweit kleidet Klaus Narr in unerbittlich grelle, schneidend artikulierte, ironisch-bissige Mahler-Klänge. Marie-Helen Joël dürfte als Sprecherin dankbar für das Mikro gewesen sein, ansonsten hätte sich ihr rhythmisch präziser, im Puls der Musik schwingender Vortrag wohl kaum gegen das Orchester durchgesetzt.

Selbst den Höhepunkt des grandios geladenen Chorfinales lädt Netopil mit einer orchestralen Massierung auf, die dem WDR Rundfunkchor, dem Rhein-Main-Kammer- und Opernchor, dem Opernchor des Aalto-Theaters und dem Philharmonischen Chor Essen die Dominanz streitig machen. Über dem strahlenden Sonnenaufgang schlagen die Wellen des Orchesters unerbittlich zusammen.




Überraschungsei: Das Konzerthaus Dortmund verkauft einen geheim gehaltenen Kammermusikabend als „Joker“

Antoine Tamestit, 1979 in Paris geboren, arbeitet schon lange intensiv mit dem in Den Haag geborenen Masato Suzuki zusammen. (Foto: Petra Coddington)

Wer weiß, wie gut dieses kleine Kammerkonzert besucht gewesen wäre, hätte es nicht die große Geheimniskrämerei im Vorfeld gegeben. So gut wie nichts gab das Konzerthaus Dortmund über diesen Abend der Reihe „Musik für Freaks“ bekannt: nicht die Interpreten, nicht die Werkfolge, nicht einmal das musikalische Genre.

Ob Intendant Raphael von Hoensbroech mit diesem „Joker“-Format tatsächlich das Vertrauen der Besucher testen will, das er an diesem Abend wiederholt lobte, oder ob die Marketingabteilung auf die menschliche Neugier als verkaufsfördernden Faktor setzt, sei dahingestellt.

Konzerthausintendant Raphael von Hoensbroech (rechts) lüftet das „Geheimnis“ um die Interpreten und das Programm. (Foto: Petra Coddington)

Auf Unwägbarkeiten mussten Veranstalter und Publikum sich immerhin einlassen. Wie sich zeigte, war auf beiden Seiten Mut vorhanden. Rund 700 Menschen kauften dem Konzerthaus Dortmund die Katze im Sack ab, wie immer in dieser Konzertreihe bei freier Platzwahl und zum Einheitspreis von 20 Euro.

Der Inhalt des werbeträchtig aufgeblasenen Überraschungseis entpuppte sich als klein, aber fein: Der dem Dortmunder Publikum bestens bekannte Bratschist Antoine Tamestit und der japanische Cembalist Masato Suzuki spielten Werke von Johann Sebastian Bach. Die Künstler gestalteten einen ruhigen, kontemplativen Konzertabend, der zu dem vorausgehenden Rummel wohltuend quer stand.

Drei Sonaten für Viola da Gamba hatten die Künstler im Gepäck, durchbrochen von der Französischen Suite Nr. 5 G-Dur für Clavecin und der eigentlich für Violoncello Solo komponierten Suite Nr. 2 d-Moll. Wie unerschöpflich reich Bachs Komponieren war, rückten Tamestit und Suzuki mit großer Musizierlust in den Vordergrund. Obschon die drei Gambensonaten alle um 1720 entstanden, unterscheiden sie sich deutlich im Charakter. Welten liegen zwischen der mit Fugenkunst gespickten Sonate G-Dur Nr. 1 BWV 1027 und der Sonate Nr. 3 g-Moll BWV 1029, in der die Instrumente ganz ähnlich miteinander wetteifern wie im 3. Brandenburgischen Konzert.

Das Bach-Programm, das Tamestit und Suzuki in Dortmund spielten, haben sie im August 2019 bei Harmonia Mundi aufgenommen (Foto: Petra Coddington)

Tamestit und Suzuki harmonieren als Duo nachgerade perfekt. Ihr intensiver musikalischer Dialog funktioniert oft ohne Blickkontakt, sprüht aber besonders helle Funken, wenn er gelegentlich doch zustande kommt. Tamestit weiß den edlen Ton seiner Stradivari-Viola immer stärker zu entfalten, kann sich klanglich aber auch dezent zurücknehmen, um das Cembalo in den Vordergrund treten zu lassen. Das ist ein Geschenk, denn Masato Suzuki, als Bach-Interpret von den Niederlanden bis nach Japan enorm renommiert, spielt auf seinem zweimanualigen, mit Chinoiserien verzierten Cembalo mit höchster Finger- und Kunstfertigkeit. Da funkeln die Praller und Triller, da fliegen die Sechzehntelketten dahin, da malen Auszierungen zärtliche Schnörkel in den Raum.

Vom tänzerischen Impuls der Musik lassen Tamestit und Suzuki sich immer aufs Neue befeuern. Aber in den langsamen Sätzen, den Sarabanden und Adagios, regieren Ernst und Tiefe: eine Beschaulichkeit, die man einst Muße nannte.

Auch solo können die beiden Musiker vollkommen überzeugen. Die Französische Suite Nr. 5 gestaltet Masato Suzuki mit der spielerischen Freiheit des technisch und intellektuell überlegenen Interpreten. Tamestit lässt nach der Pause keinen Zweifel, wie sehr ihm daran gelegen war, die für Cello geschriebene Solosonate Nr. 2 d-Moll auf der Bratsche zu interpretieren. Unter dem Strich seines Barockbogens entfaltet sich der Klang seines Instruments immer voller und vielfältiger. Eine Überraschung ist das nicht. Ein Genuss fürs Ohr aber unbedingt.

(Informationen zur Konzertreihe „Musik für Freaks“: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/255/)




Von der Kunst der Übergänge: Festival NOW! in Essen mit 15 Uraufführungen und einem faszinierenden Analog-Synthesizer

„Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung … Es erklärt, wie alles später so kommen musste“, schreibt Arnold Schönberg über seine „Gurre-Lieder“, die am 24. und 25. Oktober in der Philharmonie Essen erklingen.

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Entstanden zwischen 1900 und 1911, ist in dem riesigen Werk der Übergang vom spätromantischen zur modernen Stil in Schönbergs Komponieren zu verfolgen. Ein passender Auftakt also für das Festival NOW! für neue Musik, das am Donnerstag mit Schönbergs epochalem Werk eröffnet wird. Bis 3. November geht das Festival in 25 Veranstaltungen unter dem Motto „Transit“ den vielfältigen Formen des Übergangs in der Musik nach.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Die Gurre-Lieder erklingen in den beiden Symphoniekonzerten mit den Essener Philharmonikern unter Leitung von Tomáš Netopil. Der WDR Rundfunkchor, der Opernchor des Aalto-Theaters und der Philharmonische Chor Essen stellen die Sängerinnen und Sänger für den kolossalen Klangapparat aus drei vierstimmigen Männerchören und einem achtstimmigen gemischten Chor. Unter den fünf Solisten ist der Tenor Torsten Kerl, der in Gelsenkirchen geboren ist und dort seine internationale Karriere begonnen hat.

Das mittlerweile neunte Festival NOW! hat sich zu einem Schwerpunkt für zeitgenössische Musik in Nordrhein-Westfalen entwickelt und vereint als Projekt inzwischen die Philharmonie Essen mit Partnern wie der Stiftung Zollverein, PACT Zollverein, den Landesmusikrat NRW und vor allem die Folkwang Universität der Künste. Diese bringt sich mit ungewöhnlichen Veranstaltungen ein und zeigt zum Beispiel, wie sich Komponieren – und damit die Musik – auch durch die zur Verfügung stehenden technischen Mittel verändert. So ist der Transit von der Analog- zur Digitaltechnik ein Thema, das an einem „Synthesizer-Wochenende“ auf PACT Zollverein vom 25. bis 27. Oktober in Live-Aufführungen, einem Gesprächskonzert und einem Workshop sinnlich erfahrbar wird.

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

Eine Rolle spielt dabei auch der legendäre analoge Groß-Synthesizer Synlab, der in den siebziger Jahren in Kooperation mit Dirk Reith von der Folkwang Hochschule entwickelt wurde. Die Anlage, eine der größten noch funktionierenden analogen Synthesizer der Welt, wird extra in aufwändiger Arbeit auf der Bühne von PACT Zollverein aufgestellt. Dort beginnt das NOW!-Programm am Freitag, 25. Oktober, 20 Uhr mit der Uraufführung mehrerer Stücke von Dirk Reith, Florian Zwißler und Oxana Omelchuk. Zu erleben ist „Funktion Blau“ von Gottfried Michael Koenig, dem 1926 geborenen „Großvater der elektronischen Musik“, der zehn Jahre lang am Studio für Elektronische Musik des NWDR u. a. mit Karlheinz Stockhausen gearbeitet hat. Von dem 1966 in Essen geborenen Achim Bornhöft, Leiter des Studios für Elektronische Musik am Mozarteum Salzburg, gibt es ein 1991 entstandenes Stück, das dem Konzert den Titel gibt: „Artificial Clichés“.

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Eine andere Art von Transit wird im RWE Pavillon der Philharmonie demonstriert: Eine Installation mit vier selbstspielenden MIDI-Klavieren lässt neue Werke von Günter Steinke, Michael Edwards, Thomas Neuhaus und Dirk Reith erklingen. Hier spielt der Mensch nicht mehr ein Instrument, sondern das „Medium“ verselbständigt sich: Algorithmen generieren musikalische Sätze und zeigen, wo der Computer bereits in den Bereich der Kreativität vorgedrungen ist, die nur noch weit im Hintergrund des Menschen bedarf. Die Installation ist bereits am Mittwoch, 23. Oktober, 18 Uhr, zu erleben; weitere Termine sind am 24. und 25. Oktober, jeweils 19 Uhr, und am Sonntag, 27. Oktober, 19 Uhr.

Zeitgenössische Musik, die ganz „analog“ mit klassischen Instrumenten aufgeführt wird, kommt nicht zu kurz: Am Samstag, 26. Oktober, 19 Uhr, spielt das Ensemble folkwang modern im RWE Pavillon Musik von Karlheinz Stockhausen, Mark Andre und – als Uraufführungen – zwei Auftragswerke der Philharmonie Essen von Michael Edwards und Tamon Yashima. Das JACK Quartet stellt am Sonntag, 27. Oktober, 11 Uhr, im RWE Pavillon Streichquartette von Helmut Lachenmann, Iannis Xenakis und Luca Francesconi vor. Und am Abend um 19.30 Uhr bringt das WDR Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling Bruno Madernas „Aura“ und Gérard Griseys „L’icône paradoxale – Hommage à Piero della Francesca“ in den Großen Saal der Philharmonie. Im Zentrum des Abends steht das Flötenkonzert von Francesco Filidei, einem 1973 geborenen Italiener und Schüler von Salvatore Sciarrino, von dem erst im September an der Pariser Opéra comique die erste Oper „L’Inondation“ aufgeführt wurde.

Am Dienstag, 29. Oktober, 20 Uhr, wird dann in einem Konzert mit der Pianistin Susanne Achilles die Orgel des Alfried Krupp Saales erstmals computergesteuert erklingen – in drei neuen Interludien von Roman Pfeifer, Florian Zwißler und Jagyeong Ryu. Der Bogen des Programms spannt sich von „Studies for Player Piano“ von Conlon Nancarrow, der Ende des 19. Jahrhunderts an den Anfängen der selbstspielenden Klaviere steht, bis hin zu einem neuen Werk für vier selbstspielende MIDI-Klaviere von Ludger Brümmer.

Das Abschluss-Wochenende gestaltet unter anderem das erstmals am NOW!-Festival beteiligte Folkwang Kammerorchester auf Zeche Zollverein mit der Uraufführung eines Konzerts für Violine und Streichorchester mit Akkordeon von Karin Haußmann, gespielt von Liza Ferschtman, am Freitag, 1. November. Am Samstag, 2. November, bringt das SWR Symphonieorchester zwei brandneue Stücke in die Philharmonie Essen mit, die es im Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage am 20. Oktober uraufgeführt hatte: „Melancholie“ für chromatische Mundharmonika und Orchester von Saed Haddad und „Elementar Realities“ von Jürg Frey. Am Sonntag, 3. November, spielt dann das Ensemble Modern unter Enno Poppe Musik von Morton Feldman („Coptic Light“), Anton Webern (Variationen für Orchester op. 30) und Matthias Spahlinger („passage/paysage“ für Orchester).

Für die Veranstaltungen des Festivals NOW! gibt es Karten unter Tel.: (0201) 81 22 200 oder www.philharmonie-essen.de. Mit einem Festivalpass zu 55 Euro können alle Veranstaltungen besucht werden. Tickets für Veranstaltungen an der Folkwang Universität der Künste unter Tel.: (0201) 49 03 231.

 




Poetische Reise durch romantische Gefühlsgefilde: Ein Abend mit Sofja Gülbadamova in Haus Martfeld in Schwelm

Haus Martfeld, ein auf eine kurkölnische Burg zurückgehendes Rittergut, heute im Besitz der Stadt Schwelm und soeben für eine gute Million saniert, begrüßt in seinem Saal vier Mal pro Saison eine kleine, feine, von Mäzenatentum getragene Kammermusikreihe, künstlerisch verantwortet von Liviu Neagu-Gruber, Geiger im Wuppertaler Sinfonieorchester.

Sofja Gülbadamova. Foto: Evgeni Evtyukhov

Sofja Gülbadamova. Foto: Evgeni Evtyukhov

Zur Eröffnung der Reihe hatte er eine Pianistin eingeladen, die nicht nur eine Reihe von Wettbewerben gewonnen hat (da gibt es ja einige), sondern die sich durch Interesse an entlegenem Repertoire und durch eine klug bedachte Programmgestaltung auszeichnet: Sofja Gülbadamova hat etwa ein Doppelalbum mit Klavierwerken Ernst von Dohnányis herausgebracht, mit dem Wuppertaler Sinfonieorchester dessen Zweites Klavierkonzert eingespielt und ist mit prachtvollen Kritiken vom Husumer Festival „Raritäten der Klaviermusik“ heimgekehrt.

Nach Schwelm brachte Sofja Gülbadamova ebenfalls ein erfrischend unkonventionelles Programm mit: Sie kombinierte Miniaturen aus Edvard Griegs „Stimmungen“ op. 73 und seinen „Lyrischen Stücken“ opp. 12, 43 und 71 mit solchen des tschechischen Komponisten (und Schwiegersohns von Antonín Dvořák) Josef Suk. Dessen 1895 entstandene „Nálady“ („Stimmungen“) sind in der Haltung ähnlich: Sie suchen nach einem ursprünglichen, lyrischen Tonfall, einer Einfachheit, die hinter ihrer fasslichen Melodik die Raffinesse anspruchsvoller Harmonik zu verbergen versteht.

Ausgebildet in Moskau und Paris

Die aus Moskau stammende Pianistin, die ihre Ausbildung an der berühmten Gnessin-Musikschule begann und in Paris vervollkommnete, nähert sich diesen Kostbarkeiten mit dem unbedingten Willen, die stilistische Vielfalt im Detail und die Atmosphäre der musikalischen Stimmungsbilder wirken zu lassen. Der Ibach-Stutzflügel des Saales ist ihr dabei ein schwieriger, bisweilen störrischer Partner. Während nämlich der Bass wie eine stählerne Gitarre klingt, gibt es im Zentrum einen warmen, aber nicht immer gleichmäßigen Klang und im Diskant kühle Porzellantöne.

Die Pianistin, so der Eindruck, macht jedoch aus der Not eine Tugend und verwandelt den heterogenen Klang des Flügels in ein Element ihrer Interpretation. Das zeugt von Flexibilität des Anschlags, spontaner Reaktionsschnelligkeit der Finger, aber auch von souveränem Überblick: Keines der Stücke droht klanglich auseinanderzufallen. Das darf ein Steinway-verwöhnter Pianist erst einmal nachmachen!

Der Abend wurde auf diese Weise zu einer poetischen, teils schwärmerischen, teil doppelbödigen Reise durch die Gefühlsgefilde der Romantik. In der Grieg-Etüde op. 73/5 war die „Hommage an Chopin“ deutlich zu vernehmen – im Falle Sofja Gülbadamovas mit sensiblem Nachlauschen feinster Nuancen im Mikrokosmos eines gestalteten Tempos. Die Nummer vier aus Opus 73, ein „Volkslied“, nimmt den Habitus an, den der Titel einfordert, kleidet die kunstvolle Schlichtheit aber in adäquat kunstvoll abschattiertes Spiel. Ähnlich der „Elfentanz“ op. 12/4, bei dem die Mendelssohn-Anklänge unüberhörbar sind, aber im gläsernen Ton das Unheimliche durchschimmert.

Die unheimlichen Seiten des Waldes

Suk und Grieg umkreisen als Zentrum des Konzerts Robert Schumanns „Waldszenen“ op. 82. Nicht unbedingt ein beliebtes Konzertstück, da zu „einfach“ – es sei denn, man hört nach, was etwa Svjatoslav Richter aus solcher pianistischer Simplizität zu formen versteht. Bei Sofja Gülbadamova öffnet sich nach dem bewusst harmlos gefassten „Eintritt“ in den Fantasie-Wald Schumanns das Spektrum zwischen Idylle und Bedrohung, zwischen Geborgenheit und unbehaustem Schweifen.

Schon der „Jäger auf der Lauer“ fasst die unheimlichen Seiten des Waldes musikalisch: Der Beginn mit den bogengebundenen Triolen, die mit einem kraftvollen Akkord-Akzent gestoppt werden; das erste Crescendo mit den einmal betonten, einmal weich zu spielenden triolischen Tonrepetitionen, der rasche Fluss von Achtelketten, den immer wieder ein knallendes Martellato wie ein Schuss verstört: Die Pianistin ist in ihrem Element, wenn sie solche Momente gestalten kann, und sie lässt sich Zeit, diese „mystischen Blumen des musikalischen Zauberwalds“ wunderschön sich entfalten zu lassen.

Die Serie der Konzerte in Haus Martfeld in Schwelm wird fortgesetzt am Sonntag, 17. November, 17.30 Uhr: mit dem Mezzosopran Catriona Morison, dem Martfeld Ensemble und einem Programm, in dessen Zentrum vier Lieder und ein Streichtrio der bedeutenden englischen Komponistin der Romantik Ethel Mary Smyth (1858-1944) stehen.

Info: Tel.: 02336 / 801-273 oder -255, https://www.schwelm.de/bildung-kultur/kultur/veranstaltungen/martfeld-klassik/




Das Böse schürt Panik im Bilderbuch-London: Gothic-Musical „Jekyll & Hyde“ begeistert sein Publikum in Dortmund

Dr. Jekyll (David Jakobs, Mitte) präsentiert den Spitzen der Gesellschaft seine Pläne. Leider vergebens.  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Sein Vortrag ist beherzt, sein Anliegen, gelinde gesagt, ambitioniert. Dr. Jekyll will nichts weniger als das Böse in den Menschen tilgen, ein für allemal. Die Welt wäre dann eine andere, alles Leiden Vergangenheit. Doch das Krankenhaus-Gremium, dem er seine Pläne mit so viel Leidenschaft präsentiert, winkt ab.

Keine Experimente in der Klinik, viel zu teuer, viel zu riskant. Und die Welt ist so, wie sie ist, doch ganz erträglich. Jedenfalls für die Spitzen der Gesellschaft, die hier versammelt sind – für den Bischof, den Offizier, den Richter, die wohlhabende Dame aus dem Großbürgertum und so fort.

Beim Arzt: Lucy Harris (Bettina Mönch) aus dem Rotlichtmilieu, Dr. Jekyll (David Jakobs)  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Selbstversuch

Ihre Ignoranz zwingt Dr. Jekyll in den desaströs verlaufenden Selbstversuch. Er wird zum üblen Mr. Hyde, zu einem Schläger, Vergewaltiger und Mörder. Und er hat keinen Einfluss darauf, wann Gut und Böse wechseln. David Jakobs, ein hoch geschätzter alter Bekannter auf der Dortmunder Opernhausbühne, gibt Jekyll wie Hyde eindrucksvoll Stimme und Präsenz.

Zwei starke Frauenrollen

Vor knapp 30 Jahren, die Welle der Musicalbegeisterung war auf dem Höhepunkt, erlebte „Jekyll & Hyde“ die Uraufführung in Houston, Texas. Der Weg ins Verderben verläuft im Musical etwas anders als in Robert Louis Stevensons Novelle, wo es viel Nebel, Ahnen und Raunen, dafür aber, abgesehen von den Opfern, kaum eine Frauenrolle gibt. Die Amerikaner Leslie Bricusse (Buch und Liedtexte) und Frank Wildhorn (Musik) ergänzten das Personaltableau. Lisa ist die Braut des unglückseligen Dr. Henry Jekyll, Lucy das Mädchen aus dem Rotlichtmilieu, das sich in ihn verliebt und das ihn, wenn sie ihm ihre Wunden zeigt, sein zerstörerisches Alter Ego erkennen lässt.

Dr. Jekyll (David Jakobs, rechts) grüblerisch  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Begeisterungsfähig

Eine veritable Dreiecksgeschichte wird allerdings nicht aus dieser Konstellation, Dr. Jekyll bleibt der Seinen treu. Aber die Songs der Frauen – Milica Jovanovic als Lisa Carew und Bettina Mönch als Lucy Harris – hinterließen in dieser Dortmunder Produktion unter der Regie von Gil Mehmert den stärksten Eindruck und begeisterten das sowieso schon äußerst begeisterungsfähige Publikum im ausverkauften Haus restlos.

Grandiose Bühnentechnik

Düster-schöne Kulissen auf der Drehbühne (Bühne: Jens Kilian) lassen ein tadelloses Musical-London des 19. Jahrhunderts aufleben. Nichts Wichtiges fehlt, nicht die (feuchten?) Backsteinmauern, nicht die schummerige Rotlichtkneipe, nicht die wuchtigen Ledersessel. Und auch nicht die zahlreichen Treppen und Treppchen, die man braucht, um die Künstler trefflich zu positionieren. Wenn aber im Keller gespielt werden soll, wo der Doktor sein Laboratorium hat, fährt sehr eindrucksvoll die gesamte Bühnentechnik nach oben.

Die schöne Braut Lisa Carew (Milica Jovanovic) und ihr problematischer Gatte Henry Jekyll (David Jakobs) (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Märchenhaft

Auch die Kostüme (Falk Bauer) sind zeitgemäß, gemessen an der historischen Wirklichkeit ist die Ausstattung wahrscheinlich hemmungslos übertrieben. Aber das tut dem Ganzen gut und hilft, die blutige Handlung märchenhaft zu halten

In diese Inszenierung kann man sich entspannt hineinfallen lassen, ohne Angst vor unliebsamen Wendungen und Brechungen. Und sich dem glatten Pathos der Melodien hingeben, den kräftig sich reimenden Texten.

Suboptimaler Ton

Leider haperte es aber bei der Textverständlichkeit, was nicht zuletzt – kleines Wermutströpfchen – der Klangmischung anzulasten ist. Sie stieß an ihre Grenzen, wenn mehrere Darsteller sangen, gar noch der Chor beteiligt war. Da wurde es undifferenziert und lästig laut, was der Kunst nicht guttat und in folgenden Veranstaltungen vielleicht zu korrigieren wäre. Die lockere Hand am Lautstärkeregler ging ein wenig auch zu Lasten der untadelig aufspielenden Dortmunder Philharmoniker unter Leitung von Philipp Armbruster, die unter hohen Gesangspegeln mitunter nur eingeschränkt vernehmlich waren.

Mit der Dortmunder Statisterie gelingen eindrucksvolle Bühnenbilder. (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Massenszenen

Bemerkenswert ist übrigens, dass der Böse bei Bricusse/Wildhorn gar nicht ganz so böse ist. Gewiss, er mordet und wird dafür mit seinem Leben bezahlen müssen; doch er ermordet hochstehende Persönlichkeiten, die es nicht besser verdient haben, wie den Bischof, der sich regelmäßig an Messdienern vergreift.

Auf die Morde reagiert das Musical-Volk hysterisch, was der Dortmunder Inszenierung zu einigen schönen Massenszenen verhilft, mit Zeitungsjungen, einfachen Leuten, Honoratioren, Polizisten und Prostituierten. Das Programmheft erwähnt ausdrücklich die „Statisterie Theater Dortmund“, die ihre Sache hier wirklich gut macht.

Nicht endenwollender Applaus

Stehende Ovationen von allen Rängen und nicht enden wollender Applaus. Es ist ein bewegendes Erlebnis, wenn eine Inszenierung die Erwartungen des Publikums so restlos erfüllt wie jetzt „Jekyll & Hyde“ in Dortmund.

  • Termine: 18., 20., 23., 26. Oktober. 3., 16., 22., 29. November. 18., 19., 28., 29. Dezember.
  • www.theaterdo.de



Mett-Igel statt Haifisch: In Bochum bringen Schauspiel und Symphoniker zum 100. Geburtstag wenig auf die Beine

Figuren aus der Vergangenheit: Jonathan Peachum (Martin Horn), Hauer-Hendrik (Dominik Dos-Reis), Jenny (Friederike Becht), Celia Peachum (Veronika Nickl), Polly (Romy Vreden) und der Kommissar a.D. Braun (Michael Lippold, v.l. Foto: Jörg Brüggemann)

Kinder, wie die Zeit vergeht. Der Haifisch trägt keine Zähne mehr im Gesicht, Mack the Knife ist nur mehr ein Mackie ohne Messer und verlebt sein Altenteil mit Frau Polly im Ruhrgebiet. Gemeinsam mit den Schwiegereltern Peachum hängen sie in Bochum in der Kneipe „Zur Ewigkeit“ ab. Sie warten auf den Beginn eines großen Festes, denn angeblich wird die Schenke 100 Jahre alt. Die Ewigkeit ist eben auch nicht mehr das, was sie mal war.

Mit dieser Kneipen-Kantate für Bettler, Bergleute und Betrunkene, die jetzt im Anneliese Brost Musikforum Premiere hatte, feiern das Bochumer Schauspielhaus und die Bochumer Symphoniker gemeinsam ihren 100. Geburtstag. Diesen bedeutenden Anlass hat es gebraucht, um nach vielen vergeblichen Anläufen endlich zu einer Koproduktion zusammen zu finden. Statt nun mit vereinten Kräften ein künstlerisches Großprojekt zu stemmen und beispielsweise Ibsens „Peer Gynt“ samt der Schauspielmusik von Edvard Grieg aufzuführen, gab man beim Komponisten Moritz Eggert ein neues Stück in Auftrag, das sich als inszenierte Ereignislosigkeit entpuppte.

Als Geschäftsführerin der Firma „Bergmanns Freund“ muss Polly (Romy Vreden) viel telefonieren (Foto: Jörg Brüggemann)

So wird „Ein Fest für Mackie“ zwar unentwegt angekündigt, kommt aber mangels Geld und Personal nicht in die Gänge. Der einst gefürchtete Gangster (Guy Clemens) will nicht von seinem Turm aus Kohle steigen, auf dem er in Bademantel und weißen Socken sitzt, als sei er ein Bruder der TV-Comedyfigur Dittsche. Da keift und wettert Romy Vreden als Polly Peachum ganz vergeblich.

Das Geld ist futsch, die Kneipe pleite und Pollys Firma „Bergmanns Freund“ findet keine Mitarbeiter mehr. Es ist Schicht im Schacht. Trotz virtuoser Betrunkenheits-Akrobatik, die Michael Lippold als Tiger Brown und Martin Horn als Jonathan Peachum auf ihren Barhockern vorführen, ist das von Schauspiel-Chef Johan Simons persönlich inszenierte Stück ungefähr so attraktiv wie der Mett-Igel, den Celia Peachum (Veronika Nickl) an der Bar zubereitet, die Simons und Oliver Kroll vor das Orchester gestellt haben.

Jonathan Peachum (Martin Horn,l.) und Kommissar Braun (Michael Lippold, r.) sind virtuos versoffen (Foto: Jörg Brüggemann)

Schmerzlich wenig reicht diese Anhäufung von Klischees an den Geist und das Genie von Brecht/Weill heran. Immerhin färbt die Vorlage ein wenig auf die Musik ab. Wo Moritz Eggert sich hörbar an berühmte Nummern wie den „Anstatt dass“-Song oder das Dreigroschen-Finale anlehnt, entwickeln die Bochumer Symphoniker unter der Leitung von Steven Sloane einigen Schmiss. Gekonnt auch die böse Ironie, mit der Eggert manche Musical-Süßlichkeit zentimeterdick aufträgt. Die Texte von Martin Becker passen sich hingegen ganz dem Niveau einer Ruhrgebiets-Spelunke an. „Wat is denn dat jetz für ne Scheiße?“, brüllen die Figuren gegen Ende zunehmend entnervt. Das wüssten wir in der Tat auch ganz gerne.

Aber mögen diese versoffenen Gestalten auch trostlos in das Jahr 5000 stieren: Der laue Beifall des Publikums brandet herzlich auf, sobald der Ruhrkohle-Chor das Steigerlied anstimmt. Die Frage, ob ein derart mageres Produktiönchen dem Ruf und der Bedeutung zweier kultureller Flaggschiffe wie dem Bochumer Schauspielhaus und den Bochumer Symphonikern gerecht wird, muss freilich gestellt werden dürfen.

Zwei weitere Aufführungen am 13. Oktober 2019. Karten/Infos:

https://www.schauspielhausbochum.de/de/stuecke/3114/ein-fest-fur-mackie

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Verstehen und Verwirren: Die Tage Alter Musik in Herne erschließen musikalische Kommunikation

Das Ensemble La Reverdie. (c) Fabio Fuser

Das Ensemble La Reverdie. © Fabio Fuser

Was sagt uns Musik? Sind die Töne tatsächlich, wie E.T.A. Hoffmann behauptet, das Reich des Ahnungsvollen, Unsagbaren? Ist Musik ein präzises Zeichensystem, eine quasi mathematische Sprache? Hat sie eine Botschaft, die sich wie eine Verlautbarung wiedergeben lässt? Oder entzieht ihr Kunstcharakter sie nicht von vorneherein jeder Festlegung?

Was das „Wesen“ der Musik sei, darüber lässt sich nicht nur trefflich streiten. Dieser Frage nähern sich auch alle Epochen auf jeweils andere Weise.

Für ein so hochkomplexes Thema haben die diesjährigen „Tage Alter Musik“ in Herne einen wunderbar erschließenden Zugang gefunden: Vom 14. bis 17. November dreht sich das konzentrierte, feine Festival um musikalische Kommunikation zwischen „Verstehen“ und „Verwirren“, also um bewusste Klarheit, absichtsvolle Verunklarung, offene Stellen in einem scheinbar ausreichend definierten System von erklärbaren Zeichen.

Die blass scheinende Theorie treibt dabei ihre Blüten am grünen Baum musikalischer Praxis: Ensembles aus ganz Europa – darunter eine Reihe von Festival-Debütanten – richten den Blick in zehn durchweg originellen Programmen auf Musik vom Spätmittelalter bis in die Zeit Claude Debussys. WDR 3 Kulturradio wird in vier Live-Übertragungen und einer Reihe von späteren Ausstrahlungen über die Region hinaus ein internationales Publikum ansprechen.

The Tallis Scholars kommen nach Herne. Das angesehene englische Ensemble tritt am 15. November in der Kreuzkirche auf. © Nick Rutter

The Tallis Scholars kommen nach Herne. Das angesehene englische Ensemble tritt am 15. November in der Kreuzkirche auf. © Nick Rutter

Vokalmusik steht im Zentrum der vier Tage: Zu Beginn erklingen am Donnerstag, 14. November, 20 Uhr, in der Kreuzkirche in Herne Gesänge des blinden Florentiner Komponisten Francesco Landini. Die Mittelalter-Formation „La Reverdie“ stellt Ballate und Madrigale vor, von denen mehr als 150 erhalten sind. Landini war ein universal gebildeter Intellektueller an der Schwelle zur Renaissance, der dank einer zeitgenössischen Biografie auch als Person greifbar ist. Seine Musik spricht von einer reichen inneren Gefühlswelt.

Gefühle nach außen kehren und nachvollziehbar machen: Davon lebt die Oper. Zum Abschluss der „Tage Alter Musik“ findet eine respektable Trouvaille den Weg auf die Bühne des Kulturzentrums Herne: Joseph Bodin de Boismortier schrieb 1736 eine Oper über die Wege der Liebe („Les Voyages de l’Amour“), eine unterhaltsame Bühnenstudie über die Kraft dieses Urtriebs menschlicher Existenz. In Zusammenarbeit mit dem Centre de Musique Baroque de Versailles erlebt dieses Juwel des Musiktheaters am Sonntag, 17. November, 19 Uhr, nach 283 Jahren seine erste Wiederaufführung. Zuvor um 16 Uhr gibt es in der Kreuzkirche repräsentative geistliche Musik: Das Requiem Es-Dur schrieb der Stuttgarter Hofkapellmeister Niccolò Jomelli 1756 aus Anlass des Todes von Maria Augusta, der Mutter Herzog Carl Eugens von Württemberg. Das Werk verbreitete sich damals in ganz Europa.

Die Oper ist es auch, die den „Tagen Alter Musik“ einen Ausflug in die Moderne ermöglicht: Am Freitag, 15. November, 20 Uhr, ist im Kulturzentrum Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ in einer ungewöhnlichen Form zu erleben: Der auch von Debussy gepflegten Gewohnheit, Werke – oder Teile davon – in Aufführungen in Salons zu präsentieren, folgt eine Bearbeitung der Oper für Singstimmen und zwei Klaviere des Neue-Musik-Repräsentanten Marius Constant. Gespielt von Jan Michiels und Inge Spinette an zwei Blüthner-Flügeln führt die Fassung zurück zu den intimen Konzerten, in denen Debussy seinen Freunden seine neuen Kompositionen vorstellte.

Kaum mehr bekannte Bläsermusik spielt das Schwanthaler Trompetenconsort. (c) Reinhard Winkler

Kaum mehr bekannte Bläsermusik spielt das Schwanthaler Trompetenconsort. © Reinhard Winkler

All diese Musik folgt bestimmten Vorgaben oder reagiert auf Anlässe. Am deutlichsten ihrem Zweck verhaftet ist die Musik, die am 17. November, 11 Uhr, im Kulturzentrum vorgestellt wird: Das österreichische Schwanthaler Trompetenconsort spielt vergessene Musik von nicht immer zweifelsfreiem Kunstcharakter: Kriegssignale und virtuos-repräsentative Fanfaren kombinieren die Spezialisten für diverse Blasinstrumente mit unterhaltsam konzertanter Musik, wie sie etwa von Militärkapellen bei Platzkonzerten, im Tanzsaal oder bei offiziellen Feiern gespielt wurde. Komponisten wie der Würzburger Militärmusiker und Arrangeur Joseph Küffner waren zu ihrer Zeit sehr populär, sind aber heute völlig unbekannt.

Am anderen Pol musikalischen Schaffens angesiedelt ist die Musik, die das Ensemble Vintage Köln am Samstag, 16. November, 20 Uhr, im Kulturzentrum vorstellt: Von der „Kunst der Fuge“ Johann Sebastian Bachs über Kontrapunkt-Studien etwa von Henry Purcell oder William Byrd bis hin zu aktuellen Kompositionen des Bratschers des Ensembles, Sebastian Gottschick, bringt es die Kombinationskunst zum Klingen, in der die Musik unbeeinflusst von Wort oder Gefühl, Anlass oder Zweck ganz bei sich bleibt. – Ergänzt wird das Programm von der Ausstellung im Foyer des Kulturzentrums, die sich Blas- und Saiteninstrumenten widmet und einen Überblick über den technischen und künstlerischen Stand des Nachbaus historischer Musikinstrumente geben will.

Infos auf den Webseiten der Stadt Herne und des Westdeutschen Rundfunks. Dort gibt es auch Hinweise zum Kartenvorverkauf bei ProTicket Vorverkaufsstellen, online oder telefonisch unter (0231) 917 22 90.




Neue Exklusiv-Künstlerin am Konzerthaus Dortmund: „Maestra Mirga“ mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra

Das City of Birmingham Symphony Orchestra, geleitet von Mirga Gražinytė-Tyla, im Dortmunder Konzerthaus. © Pascal Amos Rest

Das City of Birmingham Symphony Orchestra, geleitet von Mirga Gražinytė-Tyla, im Dortmunder Konzerthaus. © Pascal Amos Rest

Am Konzerthaus Dortmund ist eine neue Exklusivkünstlerin angetreten: Die aus Litauen stammende, erst 32jährige Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla begann diese drei Jahre währende Partnerschaft mit einem erfreulich ungewöhnlichen Programm.

Mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra und Chor stellte die seit 2016 amtierende Chefin des renommierten britischen Klangkörpers zwei Werke vor, die Leiden an dem Terror, der vor 80 Jahren Europa und wenig später die Welt überzog, mit den Mitteln der Kunst formulieren: Benjamin Brittens Sinfonia da Requiem op. 20 und Michael Tippetts „A child of our time“, beide in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs entstanden.

Mirga Gražinytė-Tyla. Foto: Ben Ealovega

Mirga Gražinytė-Tyla. Foto: Ben Ealovega

Obwohl ihr Name komplizierter zu schreiben als auszusprechen ist, wird Gražinytė-Tyla ein wenig anbiedernd als „Maestra Mirga“ vorgestellt und ein Nähe zum Publikum suggeriert, die sie – anders als ihr mit „Andris“ beworbene Vorgänger beim Birmingham Orchestra und jetzige Gewandhauskapellmeister Nelsons – in Dortmund mit Charme und in einwandfreiem Deutsch einlöst: In Michael Tippetts Oratorium sind fünf Spirituals eingearbeitet; bei zweien war das Publikum zum Mitsingen eingeladen und „Mirga“ dirigierte mit dem Rücken zum Orchester mit sichtlichem Vergnügen das durchaus animierte Publikum in „Steal away“ und „Deep river“.

Das war’s mit dem – in diesem Fall recht sympathischen – Populismus. Denn weder Brittens kurioserweise zum 2600. Jubiläum des japanischen Kaiserhauses in Auftrag gegebene Trauermusik noch Tippetts zwischen Zeitbezügen, Jung’schen Archetypen und christlicher Erlösungshoffnung changierendes Oratorium finden sich häufig auf Konzertprogrammen. Eine willkommene Begegnung mit zwei eher den Eingeweihten – wenigstens dem Namen nach – bekannten Werken.

Komponisten im Schatten Benjamin Brittens

In der direkten Konfrontation wird deutlich, warum Benjamin Britten allen anderen britischen Komponisten des 20. Jahrhunderts den Rang abläuft: Er schreibt die individuellere, ingeniösere Musik mit dem gewissen Etwas, das unschwer zu hören, aber unendlich schwer zu beschreiben ist. In seinem rein instrumentalen Requiem ist das an der Klangfarbendramaturgie der großen „Lacrymosa“-Steigerung zu erleben, an der emotionalen Wirkung des hartnäckig wiederholten, gedämpften Trompetensignals, an der überwältigenden Wirkung des Klangs des Saxophons, an den die Form abrundenden Paukenschlägen, die den schweren Gang eines Trauerkondukts vorgeben. Schließlich auch an den rhythmisch atemlosen Streichern, am Absterben jeder Melodik im „Dies irae“-Satz und an der leuchtenden Transparenz des kammermusikalisch verfeinerten „Requiem aeternam“-Epilogs. Mirga Gražinytė-Tyla und das Orchester verstehen sich glänzend, gestützt durch die nicht gerade sparsame, aber stets auf den Punkt zielende Zeichengebung der Litauerin. Nein, die Dirigenten-Show zieht die Maestra wirklich nicht ab.

Nun gibt es aber neben diesem komponierenden Jupiter noch andere Sterne am britischen Musikhimmel. Dass sie in seinem Glanz gefährdet sind, dass sie beim ersten Blick als blass erscheinen, ist ein ungnädiges, unverdientes Schicksal. Tippett teilt es mit Zeitgenossen wie William Walton, aber auch mit der Generation vor ihm, zu der etwa Arnold Bax mit seinen farbenschillernden Orchesterpoems oder der gerne als allzu distinguiert eingeschätzte Ralph Vaughan Williams gehören, dem wenigstens seine Fantasie auf ein Thema von Thomas Tallis und seine „Greensleeves“-Bearbeitung einen dauerhaften Platz im Repertoire sichern.

Spirituals statt Bachischer Choräle

„A child of our time“ ist nach einer Aufführungswelle in den neunziger Jahren heute wieder eine Rarität. Tippett stellt sich mit der dreiteiligen Form und mit der Funktion von Soli und Chören bewusst in die Oratorientradition von Bach und Händel, reizt die Tonalität aus, ohne sie in fernere Gefilde zu überreizen, bleibt im Chorklang dem treu, was etwa ein Edward Elgar vorgeformt hatte. Die „Turba“-Chöre Bachs sind vernehmbar, nicht aber dessen Choräle: Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Form gemeindlichen Bekenntnisses stieß Tippett – wie er selbst berichtet – durch Zufall im Rundfunk auf ein Spiritual und entschied sich, die afro-amerikanische Form religiöser Musik, eine Musik ausgebeuteter und geschundener Sklaven, in sein Oratorium einzubauen.

Tippett behandelt die traditionellen Melodien dabei nicht wie folkloristische Einschübe. Er verknüpft sie höchst kunstvoll mit seiner originären Musik, gibt ihnen eine je eigene Farbe: „Steal away“ als breit angelegten Chorsatz mit Solisten, „Nobody knows the trouble I see“ beschleunigt und rhythmisch geschärft, „Go down, Moses“ mit großbogigem Pathos, „Oh, by and by“ in der Form des „call and response“ in schwarzen Gemeinden mit der idiomatisch versierten Sopranistin Talise Trevigne, und als kompositorisch ausgefeilten Finalchor dann „Deep river“ – ein Gesang der Hoffnung, ein Hinweis auf das „gelobte Land“ jenseits des Jordans.

Reizvoll zu beobachten, wie sich bei Tippett musikalische Gestaltungselemente finden, die uns ein paar Jahre später etwa auch in Brittens „Peter Grimes“ wieder begegnen, etwa das feine Flirren der Geigen, wenn Joshua Stewart mit kraftvollem, sensibel abfärbendem Tenor von seinen an der grauenvollen Wirklichkeit zerbrochenen Träumen singt. Oder der ostinate Paukenrhythmus zum weit gespannten Quartett der Solisten, zu denen noch Felicity Palmer mit vibratoreichem, gesättigtem Alt und Brindley Sherratt mit klar fokussiertem Bass gehören.

Sympathie für Menschen auf der dunklen Seite des Lebens

"A child of our time" liegt in einer Aufnahme des City of Birmingham Orchestras vor, dirigiert vom Komponisten selbst. Naxos 8557570. Cover: Naxos Records

„A child of our time“ liegt in einer Aufnahme des City of Birmingham Orchestras vor, dirigiert vom Komponisten selbst. Naxos 8557570. Cover: Naxos Records

Die Sympathien des politisch engagierten Komponisten gehörten den Menschen auf der dunklen Seite des Lebens, den Verfolgten, Ausgebeuteten, Chancenlosen. Ödön von Horváths Roman „Ein Kind unserer Zeit“ gibt dem Werk den Titel, die tödlichen Schüsse des 17jährigen Herschel Grynszpan auf einem deutschen Diplomaten in Paris – für die Nazis willkommener Anlass zu den Pogromen der „Reichskristallnacht“ – stoßen die Reflektion über die gesellschaftliche Repression an, die einen verzweifelten Jungen zum Mörder werden lassen: das „child of our time“.

Dass Tippett kein Doku-Oratorium schreibt, ist ein Vorteil: Die Thematik des Sündenbocks, die gewalttätigen Reaktionen der Masse, aber auch die christlichen Assoziationen öffnen das Stück für die Gegenwart. Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert mit flammendem Engagement, führt den Chor, der sich durch einen klaren Klang fern jeden „romantischen“ Murmelns auszeichnet, mit deutlichen, großen Bewegungen. Das Orchester, das 2005 unter Tippetts Leitung eine Einspielung aufnahm, demonstriert tadellose Qualität. Ein Einstand, der gespannt auf die nächsten Konzerte blicken lässt.

Mirga Gražinytė-Tyla und ihr Orchester sind am 12. März 2020 wieder im Konzerthaus Dortmund zu Gast, dann mit Anton Bruckners Sechster Symphonie und dem Dritten Klavierkonzert Béla Bartóks, gespielt von Piotr Anderszewski. Am 29. November 2019 präsentiert sich die Dirigentin als Sängerin, wenn sie (begleitet von Violine, Flöte und der orientalischen Laute Oud) Vertonungen ägyptischer Lyrik zum Thema Liebe vorträgt.

Infos und Tickets: (0231) 22 696 200, www.konzerthaus-dortmund.de/maestra-mirga




Herausforderung glänzend bestanden: Essener Philharmoniker gastierten in Prag und Dresden mit einem Dvořák-Programm

Leichter Regen besprüht die monumentale Fassade des Rudolphinums am Ufer der Moldau. Nobel gekleidete Damen und Herren streben die Stufen empor, Fahnen wehen, die Portale sind geschmückt. Drinnen legen Musikerinnen und Musiker ihre Konzertkleidung an, Notenpulte und Stühle auf dem Podium werden zurechtgerückt. Üblicher Betrieb in einem Konzerthaus – und doch ist die Stimmung anders, festlicher, gespannter.

Das Rudolphinum, Prags historischer Konzertsaal und Auftrittsort der Essener Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Das Rudolphinum, Prags historischer Konzertsaal und Auftrittsort der Essener Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Es ist Festivalzeit in Prag, und ein Orchester wartet auf seinen Auftritt, das nicht zu den üblichen Verdächtigen bei den internationalen Aufmärschen bekannter Klassikstars in Europa gehört: Die Essener Philharmoniker gastieren beim Internationalen Festival Dvořákova Praha, das seit seiner Gründung 2008 eine ganze Reihe Orchester aus der ersten Reihe nach Prag geholt hat: die beiden großen Londoner Orchester, das Orchestre Nationale de France, das City of Birmingham, das Israel Philharmonic – und eben jetzt, zum zweiten Mal nach 2017, die Essener Philharmoniker.

Schlüsselfigur: Chefdirigent Tomáš Netopil

Die sind nun nicht gerade ein zweitrangiges Orchester: Zwei Mal „Orchester des Jahres“, haben sich die Musiker unter Stefan Soltesz eine Spitzenstellung als Opernorchester unter den nicht wenigen Ensembles in Nordrhein-Westfalen errungen, gestalten in der 2004 wiedereröffneten Philharmonie Essen in erstklassiger Konzertsaal-Akustik begehrte Sinfoniekonzerte, haben beachtliche CD-Aufnahmen vorgelegt. Seit 2013 besetzt Tomáš Netopil den Posten des Chefdirigenten. Der Generalmusikdirektor konnte an die Arbeit von Soltesz anknüpfen und die Qualität des Orchesters systematisch weiter ausbauen. Er brachte viel – und nicht nur gängiges – tschechisches Repertoire in Konzerte und Oper ein und will diese Linie auch bis 2023 beibehalten. So lange steht er in Essen unter Vertrag, obwohl oder trotz er an großen Häusern, so auch an der Wiener Staatsoper und der Dresdner Semperoper, regelmäßig gastiert.

Tomas Netopil dirigiert die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche in Dresden. Foto: Hamza Saad

Tomas Netopil dirigiert die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche in Dresden. Foto: Hamza Saad

Netopil ist auch der Mann, der das erste Prager Gastspiel eingefädelt hat. An der Moldau ist der ehemalige Musikdirektor des Nationaltheaters (bis 2012) beliebt und ein häufiger Gast auch beim renommiertesten Klangkörper, der Tschechischen Philharmonie. Das erste Konzert der Essener Philharmoniker 2017 schlug derart erfolgreich ein, dass sie samt ihrem Chef gleich für 2019 wieder unter Vertrag genommen wurden. Und für dieses Konzert ging Netopil aufs Ganze: Ein tschechischer Dirigent spielt mit einem deutschen Orchester Antonín Dvořák, jenen unter den tschechischen Komponisten, der anno 1896 im Rudolphinum das erste Konzert der Tschechischen Philharmonie dirigiert hatte und dessen Namen der gut 1000 Plätze fassende Saal heute trägt.

Der Umgang mit dem „böhmischen“ Klang

Auch vor dem Hintergrund der Geschichte, von der kulturellen Benachteiligung der Tschechen in der Habsburger Zeit bis hin zu den Barbareien der deutschen Besatzer in den dunklen sieben Jahren, darf ein solches Konzert also eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Außerdem: Wie würden die Essener Philharmoniker mit der Herausforderung des Klangs umgehen, mit jenem „böhmischen“ Ideal, das mit weicher, leuchtender Streicherintonation und schmeichelnden Bläsern identifiziert wird? Netopil hat, wie er im Gespräch verrät, in den Proben auf diesen Klang hingearbeitet, ohne ihn den Musikern überstülpen zu wollen: keine Imitation, aber eine Annäherung.

Probe im Rudolphinum in Prag. Foto: Werner Häußner

Probe im Rudolphinum in Prag. Foto: Werner Häußner

Dieses Konzept verträgt sich besonders mit dem sinfonischen Hauptwerk, der Siebten von Dvořák. In diesem für London geschriebenen Werk zeigt sich Dvořák eben nicht als „böhmischer Musikant“, verwendet keine Folklore-Anklänge, sondern demonstriert, dass er sinfonische Musik auf europäischem Niveau komponiert, die jedem Vergleich standhält. Die Eigenprägung der vier Sätze, drei davon in Moll, ihre formale Balance ist ebenso auf höchstem Niveau wie die dichte Satzarbeit besonders im Finale, und verbindet sich mit formaler Klarheit und einem leidenschaftlichen, energischen Puls.

Klarheit und Blick in die Tiefe

Genau so, mit Passion und Blick in die Tiefe, gehen die Essener Philharmoniker das Werk an. Die düster-unwirschen tiefen Streicher, der erste Ausbruch in den Trompeten, die ein lichtes Tongewölbe aufspannende Oboe, der markante Rhythmus, der unverkrampfte Fluss von Motiven und Themen: das Orchester spielt nachdrücklich und energisch. Die Bläser-Einleitung des zweiten Satzes gelingt gelöst und schwingend, im dritten Satz lebt der Rhythmus markant und locker zugleich. Netopil fordert Saft in den Tönen und zupackende Kraft, nimmt aber das Orchester auch zurück, wenn es den hohen, aber relativ kurz gebauten Saal zu überfordern droht. Keine leichte Aufgabe für die Musiker, die sonst in der offenen, freien Akustik der Essener Philharmonie spielen.

Die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche Dresden. Foto: Hamza Saad

Die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche Dresden. Foto: Hamza Saad

Im beliebten H-Dur-Nocturne op. 40 zu Beginn lässt der Saal den verhaltenen Klang der Geigen wärmer leuchten als in Essen; die trefflich aufeinander hörenden Musiker sichern die Balance, der Schluss schwebt leicht und leuchtend. Bei den beiden Sinfoniekonzerten in Essen und bei dem auf Prag folgenden Konzert in der Frauenkirche in Dresden stand das g-Moll-Violinkonzert von Max Bruch mit Arabella Steinbacher in der Mitte des klassischen Konzertprogramms. Was in Essen noch zögerlich im Zugriff und matt im Ton erklang, hatte in der Dresdner Frauenkirche spürbar Freiheit und Frische gewonnen.

Unterschätztes Klavierkonzert

In Prag spielte Ivo Kahánek das Dvořák’sche Klavierkonzert g-Moll. Die rhythmisch bewusst gestaltete, temperamentvolle Darbietung Kaháneks in geglückter Interaktion mit dem Orchester erweist dieses Konzert als unterschätzt. Dvořák schreibt auch hier Musik, die jenseits „nationaler“ Zuneigung oder Vorliebe auf internationalen Podien bestehen kann. Die enge Verknüpfung des solistischen und des orchestralen Materials, die poetische Schwermut des langsamen Satzes und der hinreißende rhythmische Bravour des Finales lohnen es, sich dieses Konzert genauer anzusehen.

Die Essener konnten mit den beiden Konzerten in Prag und Dresden einen erheblichen Erfolg für sich verbuchen. Die Kritiken in Prag waren ausgezeichnet, lobten die Tonqualität, die intensiven Farben, die flexible, kammermusikalische Begleitung des Pianisten. Die Planungen für weitere auswärtige Gastspiele der Philharmoniker laufen – für die Stadt Essen ist das Orchester zweifellos ein Kulturbotschafter erster Güte.

 




Brillante Solistin, beirrtes Orchester: Sol Gabetta und die Sächsische Staatskapelle Dresden im Konzerthaus Dortmund

Sol Gabetta wurde als Tochter französisch-russischer Eltern 1981 im argentinischen Villa María geboren (Foto: Petra Coddington)

Die Maske eiserner Konzentration tragen manche Musiker, sobald sie die Konzertbühne betreten. Ganz auf den Augenblick fokussiert, wirken sie dabei wie Hohepriester ihrer Kunst: ernst, nach innen gekehrt, beinahe streng. Nicht so Sol Gabetta. Sobald die in Argentinien geborene Cellistin die Bühne betritt, erfasst ihre lebensbejahende Ausstrahlung den gesamten Saal. Ihr strahlendes Lächeln spricht, bei aller Professionalität, unverstellt von der Freude am Augenblick und an der Musik.

Mit dieser positiven Energie war sie nach neun Jahren endlich wieder im Konzerthaus Dortmund zu erleben, wo sie erstmals 2008 in der Nachwuchsreihe „Junge Wilde“ auftrat. Wie stark Sol Gabetta seither zu souveränem Format gereift ist, zeigte jetzt ihre Rückkehr mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Daniele Gatti. Sie ist als Interpretin klug genug, das Cellokonzert Nr. 1 des Franzosen Camille Saint-Saëns nicht mit romantischer Emphase aufladen zu wollen, sondern einen objektiveren, mehr auf Geist und Feinheit zielenden Ton anzuschlagen.

Sol Gabetta spielt auf einem Cello von Matteo Goffriller aus dem Jahr 1730. (Foto: Petra Coddington)

Dieser Ansatz kommt dem oft nervös vorwärts drängenden, leuchtend lyrischen und zuweilen vertrackt virtuosen Cellokonzert von Saint-Saëns sehr entgegen. Sol Gabetta setzt ihr Vibrato sparsam ein, lässt Töne zuweilen gar ins Aschfahle erblassen. Aber sie zieht lange sangliche Bögen, ernst und innig, alles Süßliche streng meidend. Energisch packt sie in den kaskadenartig herabstürzenden Triolen des Hauptthemas zu. Aber sie kennt auch Traumverlorenheit, wenn sie das zart hingetupfte Menuett der Streicher mit langen Trillerketten begleitet. Die fingerbrecherischen Tücken im Finale bereiten ihr, der brillanten Virtuosin, offenkundiges Vergnügen. Ins Nachtdunkle lässt sie die „Elegie“ von Gabriel Fauré abgleiten, die sie dem begeisterten Publikum als Zugabe gönnt.

Daniele Gatti interpretierte mit der Staatskapelle die monumentale 5. Sinfonie von Gustav Mahler (Foto: Petra Coddington)

Zwiespältig fällt die Bilanz für die Sächsische Staatskapelle Dresden aus, die nach der Pause Gustav Mahlers 5. Sinfonie spielt. Unter der Leitung von Daniele Gatti nimmt der Edelklang des Orchesters zuweilen überraschend imperiale Züge an. Von Zerknirschung, gar von einem „glühend Messer“ ist im Kopfsatz wenig zu spüren: Gattis Mahler ist feierlich groß, oft schönheitstrunken, aber auch unter Dauerspannung, weil der Dirigent zuweilen eigenwillig mit den Tempi verfährt.

Natürlich bewährt sich die Staatskapelle als das tönende Wunderhorn, das Mahlers komplexe Welt – wie manche Karikatur es trefflich darstellt – eindrucksvoll heraus posaunt. Selbstredend ist an der hohen Qualität der Instrumentengruppen nicht zu zweifeln. Indessen lässt ein zu früh ertönender Beckenschlag im zweiten Satz aufhorchen. Er kündet von Irritationen zwischen Dirigent und Orchester, die sich im weiteren Verlauf dieser Monstremusik steigern.

Gatti nimmt das berühmte Adagietto, das leider viel zu oft verkitscht wurde, in so zügigem Tempo, dass niemand in Versuchung geraten kann, in Sentiment zu baden. Im Gestrüpp des gewaltigen Scherzo, vor allem aber im Finalsatz kommt es dann jedoch zu mancher Konfusion. In den polyphonen Verdichtungen nimmt das Chaos auf eine Weise überhand, die deutlich anzeigt, dass hier mehr schwankt als nur das Tempo. Dass etwas insgesamt nicht mehr rund läuft. Die traditionsreiche Staatskapelle hinterlässt, im doppelten Wortsinn, an diesem Abend keinen durchweg glücklichen Eindruck.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Andris Nelsons in Essen: Bruckners Achte mit einem grandiosen Orchester zum perfekten Produkt aufpoliert

Andris Nelsons beim Konzert in der Philharmonie Essen. Foto: Saad Hamza

Andris Nelsons beim Konzert in der Philharmonie Essen. Foto: Saad Hamza

Bleiben wir zunächst beim Orchester, auch wenn es das Marketing vielleicht gerne anders hätte: Es ist die reine Freude, dem Leipziger Gewandhausorchester zuzuhören. Ein vollkommener Genuss, könnte man sagen, wäre dieser Begriff nicht untertrieben, weil er heute nicht im klassischen Sinn als eine Übereinstimmung des Wahren, Guten und Schönen aufgefasst wird, sondern eher als Umschreibung einer sinnlich-hedonistischen Überwältigung.

Nun eignet sich Anton Bruckner nur bedingt dazu, klippenlos strömenden musikalischen Genuss zu bereiten; dazu sind seine aufgetürmten Akkordgebirge dann doch zu störrisch, seine Lyrismen zu wenig eingängig, und zum Mitsingen hat zumal die Achte Sinfonie wenig Material zu bieten. Die kontrapunktischen Verschachtelungen sind eine Sache für passionierte Analytiker, die auch in der Frage, wie sich formale Zäsuren begründen lassen, bis heute uneins sind. Mit seinen Kontrasten, seinen Schroffheiten und seiner komplexen formalen Detailarbeit rückt Bruckner hier im Jahr 1890 nahe an Gustav Mahler, der ihn – und seine Misserfolge – noch vor seinem Tod mit seinen ersten beiden Sinfonien beerben sollte.

Das Licht, mit dem das Leipziger Spitzenorchester Bruckners Gefilde überzieht, ist das eines strahlenden, glanzvollen Sommertags. Schon das erste Thema in den tiefen Streichern strebt nicht aus herbstnebligem Dunst hervor, sondern sonnt sich in samtigem Glanz. Ideal ausbalanciert steigert sich das Orchester in den ersten klanglichen Triumph. Hörner und Oboe leuchten, der Einsatz der Tuben gelingt ohne eine Spur von Härte, beglückend frei schweben die Stellen, an denen Bruckners Satz sich auflichtet. Groß und klar das erste Auftürmen, organisch pulsiert das Metrum. Das Blech breitet Wagner-Samt aus, keine Fehlfarbe, keine ungeschickte Naht stört den Zauber. Im zweiten Satz artikulieren die Violinen im Piano so leicht, so luftig und dennoch so genau, dass sie die blühende Schönheit, die verhaltene Delikatesse dieser leisen Momente mit purem Glück erfüllen. Und wenn sie im dritten Satz auf die tiefen Saiten gehen, klingen die Töne wie dunkel funkelndes Öl. Man möchte auf Kundry anspielen: Hilft dieser Balsam nicht, dann birgt die Musik nichts mehr zum Heile.

Unerhörte Transparenz und Präzision

Was für ein Klangkörper also, mit dem die Philharmonie Essen gleich zu Saisonbeginn – und nach einem ersten Höhepunkt mit Bruckners Sechster und dem Gustav Mahler Jugendorchester unter Herbert Blomstedt– wieder ein Glanzlicht aufsteckt! Nicht umsonst zählt dieses 1743 gegründete älteste bürgerliche Sinfonieorchester der Welt unter das Dutzend weltweiter Top-Orchester. Nach Essen hat es seinen seit 2018 amtierenden, also durchaus noch „neuen“ Gewandhauskapellmeister mitgebracht: Andris Nelsons, internationaler Dirigierstar aus Riga, gleichzeitig Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra, mit dem er 2016 schon in der Philharmonie zu erleben war. Als Exklusivkünstler des Dortmunder Konzerthauses war er dort 2018/19 vier Mal mit dem Gewandhausorchester zu erleben. Kein seltener Gast also an der Ruhr.

Nelsons ist der Garant für unerhörte Transparenz und eine Präzision, die sich selbst in Momenten extremer Verdichtung, wenn Bruckner in der Coda des letzten Satzes vier Hauptthemen übereinander schichtet und miteinander verwebt, nicht erschüttern lässt. Er ist auch der Meister der Tempi, die sich weder in einer langgezogenen, falschen Feierlichkeit noch in gerne für zeitgemäß verkaufter Hast verlieren. Nelsons steht aber auch für einen musikalischen Stil, der an eine Photoshop-Ästhetik erinnert: bearbeitet unter der Maxime einer makellosen Politur, überzogen mit fleckenloser Schönheit, wohlgeformt in der Proportion, mit reiner, ungestörter, idealer Oberfläche.

Und so klingt sein Bruckner auch, berührungslos über allen Schründen des Lebens schwebend, in perfekter Schönheit sich ergießend, widerstandsfrei strömend. Das ist auf seine Weise transzendent, von allem Irdischen ungerührt. Nelsons liefert ein perfektes Produkt, das Bruckners Erdung vergisst, ja verleugnet. Da fährt nichts dazwischen, da gibt es keine Irritationen, da geraten schmerzende Abbrüche nicht zum Ereignis. Und die Steigerungen haben nichts Bohrendes, keine Anspannung, keinen dramatischen Biss. Wenn sich Flöte und Kontrabass treffen, reißt kein Spannungsraum auf; es bleibt alles wohliger Klang. Und der Glanz der Blechbläser strahlt auch im Finale unverstört. Bruckner, in makelloser Perfektion misslungen.




„Opus Klassik“: Zwei Preise gehen nach Düsseldorf

Im Vordergrund: die Trophäe des Opus Klassik. Foto: Monique Wüstenhagen

Im Vordergrund: die Trophäe des Opus Klassik. Foto: Monique Wüstenhagen

Unser Gastautor Robert Unger (Geschäftsführender Vorstand des Internationalen Kurt Masur Instituts Leipzig) über die Verleihung des Musikpreises „Opus Klassik“:

Gleich zwei Preise des zum zweiten Mal vergebenen Opus Klassik gehen nach Nordrhein-Westfalen, genauer: in die Landeshauptstadt Düsseldorf.

Das musische sozial-integrative Projekt SingPause in Düsseldorf erhält den Preis in der Kategorie „Nachwuchsförderung“. In der Kategorie „Sinfonische Einspielung des Jahres für Musik des 19. Jahrhunderts“ zeichnete die Jury die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Ádám Fischer für ihre Interpretation der Dritten Sinfonie Gustav Mahlers aus.

Der Opus Klassik ist der Nachfolger des Echo Klassik: Diesen Preis hatte der Vorstand des Bundesverbands Musikindustrie (BMVI) 2018 eingestellt, nachdem es für die Verleihung des Echo Pop an die Rapper Kollegah und Farid Bang anhaltende Kritik gegeben hatte. Nicht wenige Kritiker hatten die Texte auf dem prämierten Album „JBG3“ als gewaltverherrlichend, sexistisch und antisemitisch eingestuft.  Der Preis solle nicht als „Plattform für Antisemitismus, Frauenverachtung, Homophobie oder Gewaltverharmlosung wahrgenommen“ werden, begründete der BVMI seinen Schritt. Das Album landete später auch auf dem Jugendschutz-Index.

Ausrichter des Opus Klassik Preises ist der Verein zur Förderung der Klassischen Musik e. V., in dem Labels, Veranstalter, Verlage und Persönlichkeiten aus der Klassik-Welt vertreten sind. Dieser zeichnet außerordentliche Künstler und Leistungen aus dem Genre Klassik aus. Eine unabhängige Jury wählt nach Nominierungen in verschiedenen Kategorien die Preisträger aus. Der Opus Klassik soll dabei „ein Preis von der Klassik für die Klassik sein“, so der Vorsitzende des Vereins zur Förderung der klassischen Musik Dr. Clemens Trautmann, Präsident der Deutschen Grammophon. Die Preisverleihung findet am 13. Oktober im Konzerthaus Berlin statt und wird dann vom Partner ZDF um 22.15 Uhr ausgestrahlt.

Die SingPause als sozial-integratives Bildungsangebot hat das Ziel, ganzen Jahrgängen von Grundschulkindern die Musik zurückzubringen. Sie startete erstmals 2006 und ist heute die größte Singbewegung für Kinder in Europa. Zwei Mal in der Woche besucht in 69 Grundschulen ein in der amerikanischen WARD-Methode ausgebildeter Sänger eine Grundschulklasse und macht mit den Schülern eine SingPause. Durch den gemeinsamen Gesang lernen die Kinder, dass die Stimme ein wunderbares Instrument ist, während sie durch den Gesang selbstbewusst und stark werden sollen. Die Düsseldorfer SingPause ist ein Projekt des vor mehr als 200 Jahren gegründeten Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf.

Ausgezeichnete Aufnahme: Mahlers Dritte Sinfonie mit den Düsseldorfer Symphonikern und dirigiert von Ádám Fischer. Cover: Avi music

Ausgezeichnete Aufnahme: Mahlers Dritte Sinfonie mit den Düsseldorfer Symphonikern und dirigiert von Ádám Fischer. Cover: Avi music

Seit 2015 führen Ádám Fischer und die Düsseldorfer Symphoniker in einem Zyklus alle Sinfonien Gustav Mahlers gemeinsam mit Sinfonien von Joseph Haydn auf. Die Aufnahme von Gustav Mahlers Dritter Sinfonie vom November 2017 aus der Tonhalle wurde nun mit dem Opus Klassik ausgezeichnet. Der Mitschnitt unter Mitwirkung der Altistin Anna Larsson, dem Clara-Schumann-Jugendchor und den Damen des Städtischen Musikvereins entstand in Kooperation mit dem Deutschlandradio und ist erschienen beim Label Avi Music.

Die Aufnahme setzte sich in der Kategorie „Sinfonische Einspielung / Musik des 19. Jahrhunderts“ gegen 16 weitere Nominierte durch. Dies ist bereits die zweite renommierte Auszeichnung für einen Mitschnitt des Mahler-Zyklus: Die 2018 erschienene Sinfonie Nr.1 unter Ádám Fischer erhielt im Januar den BBC Music Magazine Award. Der Zyklus wird am 28. Februar sowie 1. und 2. März mit Mahlers Sechster in der Düsseldorfer Tonhalle vollendet; zum Abschluss dirigiert Ádám Fischer am 15., 17. und 18. Mai 2020 Joseph Haydns „Die Jahreszeiten“.

Die Preise sind ein Achtungszeichen für die Kulturvielfalt in der Rhein-Ruhr-Region, die sich sonst im nationalen Feuilleton neben Metropolen wie München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt schwer tut, Aufmerksamkeit zu erzielen. Für die Kommunen, die unterstützenden Institutionen und die erfreulich ausgebaute Kulturförderung der Landesregierung mögen die Auszeichnungen ein Signal sein: Es lohnt sich, in Kultur zu investieren.




Bruckner unter Spannung, Mahler weltabgewandt – Herbert Blomstedt und Christian Gerhaher setzen in Essen Maßstäbe

Herbert Blomstedt, der jung gebliebene Senior unter den Dirigenten. Foto: Martin Lengemann

Zuallererst muss vom Dirigenten die Rede sein. Von Herbert Blomstedt, der mit 92 Jahren noch immer am Pult steht, hoch aufgerichtet, mit kleinen, gleichwohl intensiven Bewegungen sowie punktgenauen Einsätzen. Der nichts von Strenge hat, vielmehr natürliche Autorität ausstrahlt. Der also ein Orchester verlässlich zu führen versteht. Dem Manier, Theatralik oder gar Egozentrik völlig fremd sind.

Blomstedts Auftritt in der Philharmonie Essen ist außerordentlich, ein kostbares Geschenk, das sich, zur Eröffnung der neuen Saison (2019/20), als Paukenschlag erweist. Weil der Dirigent, gehüllt in eine Aura väterlicher Güte, dem Gustav Mahler Jugendorchester betörende Klangschönheit entlockt, es atmen lässt und so der Musik, den fünf Rückert-Liedern Mahlers, zudem Anton Bruckners 6. Sinfonie, teils Größe verleiht, teils fragile Intimität zuordnet. Blomstedt formt mit Bedacht, das junge Ensemble spielt mit Liebe, in höchster Konzentration und außerordentlich präzise. Ein Glücksfall.

Als wäre dies alles nicht genug, gesellt sich Christian Gerhaher, bester Bariton seiner Generation, dessen Stimme sich auf jede Gefühlsnuance von Mahler einlässt, zu den Interpreten. Todesfahl kann das klingen oder kantig und harsch, bisweilen bittersüß. Manche Ansätze tragen etwas von Sprechen in sich – dem Kunstlied wird gewissermaßen ein kerniger Realismus übergestülpt. Anderes gewinnt nahezu opernhafte Kraft, wenn der Solist die dynamische Entäußerung sucht. Und seine Registerwechsel können gespenstische Wirkmacht entfalten.

Mahler hat die Lieder eher sparsam instrumentiert, in transparentem Satz, bisweilen asketisch klar. Gleichwohl hören wir, vom Orchester luzide aufbereitet, den typischen, mal schlichten, mal resignativen oder schmerzhaften Mahlerton. Der Komponist wendet sich ganz nach innen, feiert die Ruhe, die sich indes zu bestürzender Leere ausweiten kann. Dies alles kulminiert im 5. Lied, dem berühmten „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, eine stille Abkehr von irdischen Mühen hin zum Eremitendasein, letztlich zur erlösenden Transzendenz. Das „Ewig, ewig…“ aus dem „Lied von der Erde“ lässt grüßen.

Bariton Christian Gerhaher kostet bei Malers Rückert-Lieder jede emotionale Nuance aus. Foto: Sony Classic/Jim Rakete

Christian Gerhaher, der hier den Fluss der Zeit gleichermaßen einfriert, damit eine Stimmung herbeizaubert, die zwischen grenzenloser Traurigkeit und wärmender Friedfertigkeit pendelt, wählt als Zugabe das kurze „Urlicht“ aus Mahlers Auferstehungssinfonie. Jede Phrase davon ist sorgfältig, ja geradezu skrupulös gestaltet, mündend in die leidenschaftliche Aufwallung „Ich bin von Gott…“. Ein Bekenntnis, das nicht zuletzt auf den durch und durch religiösen Anton Bruckner verweist, dessen 6. Sinfonie ebenfalls vom weltlichen Mühen und Plagen weiß, von Leere wie von der Inbrunst des Glaubens.

Bruckner bedient sich freilich anderer musikalischer Mittel, schon die opulente Besetzung steht in harschem Kontrast zum spärlichen Mahler-Klang. Zudem das Orchester an diesem Abend mit einem massigen Streicherkorpus aufwartet, der über alle Maßen glänzt und funkelt, schroffe Markierungen setzt oder feurig glüht; der den (nervösen) Puls der vier Sätze vorgibt, andererseits die lyrischen Themen schwelgerisch aussingt. Darüber türmen sich bisweilen die Blechbläser in faszinierenden Schichtungen. Holzbläser, bisweilen auch Horn und Trompete, steuern kantige Einwürfe bei. Jedes Solo ertönt mit gewissermaßen offenem Visier. Brüche tun sich auf und gehörige Spannungsfelder.

Herbert Blomstedt setzt eher auf dezente Tempi, um eben jene Spannung zu transportieren. Doch fällt er damit nicht in musikalische Blockbildung. Wichtig ist ihm der stete musikalische Fluss, die organische Entwicklung. Mag auch der gottesfürchtige Bruckner stets mitgedacht werden, zelebrieren Dirigent und Orchester gleichwohl kein Hochamt. Hymnische Höhepunkte ergeben sich aus dem Vorherigen. Prachtvoll sind sie trotzdem.

Am Ende Jubel, jede Menge Glücksgefühle. Das Orchester der Jungen und der Senior unter den Dirigenten geben allen Grund dazu. Die Saison hat gerade erst begonnen, und schon ist ein erster Höhepunkt zu vermelden. So schnell kann das gehen.