„Everything that happened and would happen“ – bei der Triennale zeigt Heiner Goebbels ein Theater der Versatzstücke

Licht und Schatten, hell und dunkel. Szene aus Heiner Goebbels‘ neuer Produktion. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale

Heiner Goebbels gibt sich generös. Er wolle es gar nicht erst versuchen, mit seiner neuen Arbeit eine Botschaft zu vermitteln. Vielmehr habe er einen Raum mit Bildern, Worten und Geräuschen geschaffen, der das Publikum zu freier Imagination und Reflektion einladen soll. Doch das hehre Ansinnen erzeugt nur Ratlosigkeit: Goebbels’ Gesamtkunstwerk namens „Everything that happened and would happen“ entpuppt sich als kryptische theatralische Installation, als ein ziemlich beziehungsloses Konglomerat aus Musik, Licht, Performance, Sprache, Objekten und Filmen.

Die Produktion wurde 2018 in Manchester erstmals herausgebracht, nun hat die Ruhrtriennale das Werk als Deutsche Erstaufführung ins Programm genommen. Goebbels gibt in Bochums Jahrhunderthalle erneut den Sucher nach ungewöhnlichen Formen des Theatralischen, sieht die leere Spielfläche als Experimentallabor, wie er es schon während seiner Triennale-Intendanz (2012-2014) oft getan hat. Herausgekommen ist diesmal eine arge Zumutung fürs Publikum, eine Aufführung, die vor allem die große Verstörung in sich trägt.

Schon der Titel allein, ins Deutsche übersetzt „Alles was geschehen ist und geschehen würde“, scheint erschaffen aus dem Nebel des Unkonkreten. Etwas Kontur gewinnt diese Sentenz erst mit dem Blick auf die Textquelle, die Goebbels zum Ausgangspunkt seiner Produktion macht, Patrik Ouredniks Roman „Europeana – Eine kurze Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“. Darin vermeidet der tschechische Autor allerdings jegliche Ansätze der linearen Geschichtsschreibung, setzt vielmehr Fakten neben Anekdoten, springt von der Pariser Weltausstellung (1900) zum Leben der Soldaten in den Schützengräben, listet Meinungen zum Berliner Holocaust-Mahnmal auf, oder beschreibt wie in einem Ritual, dass jemand zu irgendeinem Thema gerade irgendetwas sagt.

Tanz der Requisiten. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale

Es ist ein wild zusammengewürfelter, überkomplexer Text, aus dem Goebbels verschiedene Passagen lesen lässt, das Ganze mit rätselhaften Bildern kombiniert. Angereichert wird diese Flut optischer Reize bisweilen mit „No comment“-Einspielungen des Senders Euronews. Kommentarlos flimmern aktuelle Szenen aus allen Winkeln der Welt vor unseren Augen, Szenen von Menschen in der Masse, die demonstriert, die versunken ist in religiösen oder volkstümlichen Ritualen. Auf der Spielfläche werden unterdessen diverse Kisten, Kästen, Säulen, Rohre oder riesige, meist zerfetzte Tücher in undurchschaubarer Choreographie bewegt. Derweil diverse Musiker, mit ihrem Instrumentarium im Raum verteilt auf kleine Inseln der Klangerzeugung, eine hochdifferenzierte Geräusch-Kulisse auffächern.

Am Ende nur Nebel, Rauch und Zerstörung. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale

So entfaltet sich vor uns ein Theater ohne Schauspieler oder Sänger, in einer Atmosphäre, die die Bühne als Werkstätte begreift, wo Arbeiter Requisiten zu immer neuen, üppigen Tableaus formen. Heiner Goebbels mag dem Publikum jegliche Assoziationsfreiheit gestatten, doch liegt der Gedanke an eine Dystopie wohl nicht ganz fern. Schon weil sich die Musik am Ende in einen schier unerträglich lauten Klangflächenschrei hineinsteigert. Und weil das Schlussbild einer verwüsteten Fläche gleichkommt, nichts von friedvoller Idylle hat.

Goebbels’ Generosität, formuliert im Programmheft zu dieser Produktion,  ist ein Trick. Sein Theater der Versatzstücke stiftet vor allem Verwirrung. Und während wir noch rätseln, ist alles bereitet fürs große Katastrophenszenario. Kein Wunder, dass manche dies mit kräftigen Buhrufen quittieren. Im Theater, so scheint’s, ist die Hoffnung und das Gute und Schöne endgültig ausgesperrt.

Weitere Aufführung am heutigen 26. August, 21 Uhr (ausverkauft)




„All the good“: Das Lebensbild von Jan Lauwers als theatrale Kopfreise bei der Ruhrtriennale

Foto: Maarten Vanden Abeele

Szene aus „All the good“ (Foto: Maarten Vanden Abeele)

„,All the good‘ ist eine Chronik von Verlust und Hoffnung“, so sagt es die Ankündigung dieses Ruhrtriennale-Abends in der Maschinenhalle in Gladbeck-Zweckel, einem abgelegenen und dadurch anziehenden Ort für große Bühnenversuche.

Wir sehen das Resümee des Theaterkünstlers Jan Lauwers, der seine Needcompany samt Familie auf die Reise schickt, das bilderreiche Leben auf Teufel komm raus abzubilden und in eine theatrale Form zu bringen. Hier wird mit der Kunst gerungen.

„All the good“ ist eine internationale Koproduktion, an der sich u.a. das Zürcher Theater Spektakel, das Teatro Central de Sevilla, das Kaaitheater in Brüssel, das Toneelhuis Antwerpen und zahlreiche andere beteiligt haben.

Draußen zeugt schon der imposante Tieflader der Needcompany von Größe und Wichtigkeit. Jan Lauwers war und ist einer der Stars des „Freien Theaters“ seit Jahrzehnten, ein eigenwilliger Kreateur, der macht, was ihm in den Sinn kommt – und das ist in diesem Fall ziemlich viel. Manches erinnert an die Hochzeit des belgischen Theaters in Europa und weltweit, Ende der 90er, Anfang der 2000er.

Das Ensemble vereinigt Künstler verschiedener Genres. Die Musik spielt eine große Rolle und ist herausragend zu nennen. Der Cellist Simon Lenski ist maßgeblich verantwortlich. Die Musik insgesamt stammt von Maarten Seghers, der ebenso – wie alle anderen – als Performer in dieser „Familientragödie“ zur Geltung kommt.

Jan Lauwers (Foto: Maarten Vanden Abeele)

Jan Lauwers (Foto: Maarten Vanden Abeele)

Das Auge hat in den zwei Stunden viel zu tun. Versatzstücke werden verschoben und unterschiedlich eingesetzt. Im Mittelpunkt steht eine Skulptur aus Glasbeuteln, die (und hier wieder die Kunstproblematik „Ist das Kunst oder kann das weg?“) auch wie ein umgekippter Weihnachtsbaum anmutet. Darüber verzweifelt der Künstler Benoît Gob, der hier den Künstler Jan Lauwers spielt.

Allein Gobs Stimme ist den Besuch dieser Aufführung wert, die an manchen Stellen drastisch auf die nackte Pauke haut, indem eine gespielte Vergewaltigung gespielt wird, die Vagina per Minikamera untersucht wird und so dem einen oder anderen Zuschauer übel aufgestoßen ist. Einige verließen den Saal, ungeübte Zuschauer, denn diese Etüden des freien Theaters sind aufgewärmt. Aber man verweist eben auch auf Marina Abramovic, sowie es auch sonst allerlei Verweise gibt.

Besondere Szenen sind die, wo die Musik in eine gemeinsame Choreografie hineinführt, die der Tänzer Elik Niv prägt, der ebenfalls mit großen Namen bereits kooperierte wie Susanne Linke, Sascha Waltz oder Constanza Macras. Seine Biografie erstaunlich und ist auch Jan Lauwers einen Mittelpunkt seiner Inszenierung wert. Er war israelischer Elitesoldat und Kriegsveteran, bevor er eine Karriere als Tänzer startete.

Es ist eine zwiespältige Produktion, die manche ratlos macht, andere über die kreative Kraft der Macher zum Staunen bringt. Aber so ist das im freien Spiel der freien Kräfte, die dann aber doch etwas zu eitel daherkommen.

Weitere Aufführungen am 6. Und 7. September in der Maschinenhalle in Gladbeck-Zweckel. Infos hier




Blickrichtung rückwärts – Ruhrtriennale 2019 mit groß angelegter Multimedia-Produktion von Heiner Goebbels

Szene aus Christoph Marthalers Audimax-Inszenierung „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ (Foto: Matthias Horn/Ruhrtriennale)

Bestimmt ist das völlig ungerecht, aber Assoziationen machen ja, was sie wollen: Wenn Stefanie Carp die Produktion „Everything That Happened and Would Happen“ von Heiner Goebbels erläutert, wandern die Gedanken zu Thomas Bernhard und seinem „Theatermacher“, der in Utzbach, wo man tot nicht überm Zaun hängen möchte, sein Stück „Das Rad der Geschichte“ herausbringen will.

Intendantin Stefanie Carp bei der Auftakt-Pressekonferenz der Ruhrtriennale 2019 (Foto: Daniel Sadrowski/Ruhrtriennale)

Anders als er jedoch beginnt Heiner Goebbels, der auch Ruhrtriennale-Intendant der Jahre 2012 bis 2014 war, mit dem 1. Weltkrieg und nicht schon irgendwo in der Antike. Aber dann werden Mittel nicht und Wege gescheut, das Elend der letzten 100 Jahre in einer „neuen, großformatigen Arbeit“ auf die Bühne zu stellen, „in der Musik, Licht, Performance, Sprache, Objekte und Filme zu einer multimedialen Installation vereint sind“. Als die drei wesentlichen „Inspirationsquellen“ werden erstens der Text „Europeana“ des tschechischen Autors Patrik Ourednik genannt, zum Zweiten das Bühnenbild aus Goebbels’ Inszenierung von John Cages „Anti-Oper“ „Europeras 1 & 2“ (Ruhrfestspiele 2012) und zum Dritten unkommentierte, tagesaktuelle Nachrichtenbilder des Fernsehsenders Euronews.

Projekt macht neugierig

Schließlich erwähnt seien 17 Bühnenkünstler beiderlei Geschlechts, und mit einer solchen Mannschaft ist Goebbels dem Theatermacher Bruscon natürlich haushoch überlegen. Doch Scherz beiseite: Wenn Goebbels auch nicht so gefeiert wurde wie seine Vorgänger Flimm, Mortier und, mit Abstrichen, Decker, so hat er doch als Triennale-Intendant etliche sehr bemerkenswerte Produktionen zur Aufführung gebracht, aus eigener, wenn man so sagen darf, wie auch aus fremder Feder. Man muß gespannt sein, was zwischen dem 23. und dem 26. August in der Bochumer Jahrhunderthalle abgeht. Anders gesagt: Das Goebbels-Projekt macht neugierig, anders als viele andere Produktionen der diesjährigen Triennale.

Von Jan Lauwers stammt das Stück „All the Good“ (Foto: Phile Deprez/Ruhrtriennale)

Musik bis zuletzt

Gewiß, bei Christoph Marthaler wird es wieder sehr schön werden, elegisch, stimmig und traurig, auch wenn sein Spielort diesmal das Audimax der Bochumer Universität ist. Hier werden Kompositionen von aus Prag und Wien von den Nazis vertriebenen Komponisten zu hören sein, die emigrieren mußten, ermordet wurden, im Konzentrationslager Theresienstadt landeten. Hier, in Theresienstadt, fand eine schauerliche Musikproduktion statt, verzweifelt wurde musiziert und komponiert bis zum letzten Moment, der für viele der Abtransport nach Auschwitz war. Vieles blieb Fragment, in den Kapellen spielte zusammen, was nach der klassischen Lehre nicht zusammengehörte. Und doch entstand – auch – Schönheit.

Das Weltparlament schaut zu

In Marthalers Einrichtung ist das Audimax ein imaginiertes Weltparlament, das Rückblick hält auf die Zerstörungen des vergangenen Jahrhunderts. So lesen wir es in den Ankündigungen, so erfahren wir es von Stefanie Carp im Pressetermin, und sogar ohne Videoeinspieler haben wir eine Vorstellung davon, wie es wohl werden wird „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ (Titel der Produktion).

Auf einen schönen Abend darf sich freuen, wer Karten für György Ligetis Requiem  hat, das zwischen dem 5. und dem 14. September sechsmal zu hören sein wird; Steven Sloane dirigiert die Bochumer Symphoniker, die freie Theatergruppe Proton Theater und der Staatschor Latvija wirken überdies in „Evolution“ mit.

Manchmal auch bunt. Ebony Bones macht genreübergreifende Musik (Foto: Antonello Trio_1984 Recordings Ltd./Ruhrtriennale)

Autobiographisches Erzählen

„All the Good“ heißt das Stück von Jan Lauwers und der Needcompany, das das „autobiographische Erzählen“ pflegt und dessen Protagonist der ehemalige israelische Elitesoldat Elik Niv ist, der Tänzer wurde. Eine Chronik von Verlust und Hoffnung wird angekündigt, grundiert vom Terror in der Welt und der Kraft des Alltäglichen.

Es gibt, wie immer, Tanz, Schauspiel und Musiktheater, Angebote für Jugendliche, Installationen. 164 Veranstaltungen sind angesetzt, 35 Produktionen und Projekte, davon 16 Eigen- und Koproduktionen. Mehr als 800 Künstler und Künstlerinnen aus 35 Ländern wirken mit.

Enger Themenkanon

Alle würden sie wohl für sich in Anspruch nehmen, mit ihrer Kunst an den radikalen Rändern unterwegs zu sein, sie gar zwangsläufig oder absichtsvoll zu überschreiten. Doch drängt sich auch ein etwas lähmender Eindruck von Gleichförmigkeit auf, oder sagen wir lieber, falls es das Wort denn gäbe: Ähnlichförmigkeit. Gewalt, Emanzipation, Solidarität sind Schlüsselbegriffe des Themenkanons, ebenso Sexismus, Rassismus, Diskriminierung aller Art. Im Vergleich zu den Ruhrfestspielen, wenn der  einmal gestattet sei, wirkt die Blickrichtung stärker rückwärtsgewandt und etwas allgemeiner.

Das ungeliebte Festival

Verkauft sind derzeit, ist zu erfahren, mehr als 50 Prozent der Karten. Damit sei man „zufrieden“, doch Begeisterung sieht anders aus. Allerdings hat die Ruhrtriennale auch mit der völlig absurden Situation zu kämpfen, daß sie als Landesfestival von der Landesregierung ignoriert wird. Stefanie Carp hatte, wie bekannt, in ihrem ersten Jahr eine israelkritische Künstlergruppe engagiert, die sich bei BDS („Boycott, Divestment and Sanctions“) engagierte. Es folgten, kurz gesagt, einige wenig souveräne Diskussionen, und seitdem herrscht Funkstille. Keine gute Situation.

Der Gigantenfries erklingt

Doch enden wir mit einer Installation, auf die man besonders gespannt sein kann: In der Bochumer Turbinenhalle baut Cevdet Erek „Bergama Stereo“ auf, was nichts weniger ist als, stilisiert, der in Berlin befindliche Pergamon-Altar im Maßstab 1:2. Den berühmten Gigantenfries dieses Monuments hat er durch eine Klanginstallation ersetzt, 34 Lautsprecher machen das Relief zu einem Klangerlebnis. Im kultigen Berliner Club „Berghain“ soll es Vergleichbares geben. Zweimal trommelt der Chef selbst, sonst machen andere Programm. Übrigens ist Bergama das türkische Wort für Pergamon, und gleich im Anschluß an die Bochumer Präsentation wird „Bergama Stereo“ im Hamburger Bahnhof in Berlin aufgebaut.




Ernst, streng und abgeklärt: Evgeny Kissin mit reinem Beethoven-Programm beim Klavier-Festival Ruhr

Konzentration und abgeklärter Zugriff: Evgeny Kissin interpretiert Beethoven. Foto: Sven Lorenz

Evgeny Kissin galt als Wunderkind. Er selbst hat diese Bezeichnung freilich abgelehnt. Sie roch ihm zu sehr nach Drill, vordergründiger Brillanz. Und doch: Wenn ein 12Jähriger beide Chopin-Klavierkonzerte hintereinander öffentlich aufführt, wenn er damit nicht nur, ja, brilliert, sondern zugleich Zeugnis beseelter Musikalität ablegt, wenn ihm dazu technisch fast alles gelingt, kann die Bezeichnung Wunderkind nicht ganz abwegig sein.

Allerdings ist schon mancher junge Stern am Pianistenhimmel schneller als gedacht verglüht. Nicht aber Kissin: Der Russe ging seinen Weg so kontrolliert wie konzentriert, behutsam erarbeitete er sich zunächst das romantische Repertoire, gewann Schritt für Schritt an Ausdruckskraft und technischer Souveränität. Die Entwicklung mündete schließlich in der meisterhaften Beherrschung der Klangwelten eines Konzertflügels.

So fand er schnell sein Publikum in den berühmten Sälen der Welt, eroberte sich geradezu eine Fangemeinde zumeist russischsprachiger Natur. Kissin bezauberte, überwältigte, riss die Menschen schon nach den ersten Stücken von den Sitzen. Legendär sind seine Zugabenblöcke, ausufernd, kaum enden wollend, getragen von wahren Anfeuerungen aus dem Auditorium. Nun, bei aller Seriosität, ein bisschen Zirkus durfte es bei Kissin schon sein.

Ernster Blick, seriöse Aura: Kissin am Klavier. Foto: Sven Lorenz

All dies Beschriebene ist ein Blick zurück. Tritt der Pianist heute auf, umgibt ihn eine Aura von unbedingter Ernsthaftigkeit, künstlerischer Reife bis hin zur Abgeklärtheit, nicht zuletzt von Strenge. Der nunmehr 47Jährige hat alles Jungenhafte hinter sich gelassen, verlangt vom Publikum mehr als nur berauschten Taumel, verknappt die Zugaben. Entsprechend mag sich das alte Kissin-Feeling auch während seines diesjährigen Klavierfestival-Auftritts nicht mehr einstellen. Dabei spielt  freilich die Programmauswahl eine Rolle: Der Russe konzentriert sich allein auf Sonaten und Variationen Ludwig van Beethovens.

Lange hat Kissin gebraucht für die Annäherung an den Komponisten. „Beethoven fand ich viele Jahre sehr schwer“, bekannte der Pianist in einem Interview. Kein Wunder, dass er nun, in Essens Philharmonie, mit gehörigem Respekt vor dem Klassiktitanen ans Werk geht, Überzeichnungen ebenso meidet wie die große Geste. Gleichwohl wird es ein spannungsreicher Abend, bereichert durch traumschön poetische Momente. Im Wechselspiel von Klang und Motorik stößt Kissin eine Tür auf,  die den Blick freigibt auf die musikalische Romantik und Moderne.

Seien es die gravitätisch schreitenden Einleitungsakkorde der „Pathétique“ oder die sanften Arpeggien, die am Beginn der „Sturm“-Sonate aufleuchten – die Verdichtung der Klänge erinnert an nahezu impressionistische Farbspiele. Abrupte Stimmungswechsel, ausgelöst durch dynamische Eruptionen oder motorisches Hämmern, reißen uns jedoch schnell los von allem Schwelgen. Beethovens Werk ist eben geprägt von drangvoller Nervosität, nicht selten auch von energiegeladener Wucht.

Am Ende gibt’s Blumen für den Solisten und drei Zugaben fürs Publikum. Foto: Sven Lorenz

Gefordert ist ein ebenso sensibler wie kraftvoller Interpret. Der zudem das Virtuose beherrscht, ohne damit sinnfrei glänzen zu wollen. Dafür ist Kissin die richtige Adresse. Wie er die sich immer mehr verquirlenden Eroica-Variationen meistert, wie er manch improvisatorische Passage auskostet und die finale Fuge (Beethovens Verneigung vor Bach) ausdrucksvoll gestaltet, zeugt von großer Klasse.

Dabei entpuppt sich der Pianist als ökonomischer Gestalter, der auch in den teuflisch schweren Momenten der Waldstein-Sonate nie den Überblick verliert. Sauber und klar konturiert erklingen die pochenden Staccati zu Beginn, ohne Hast perlen die Figurationen. Das Adagio bekommt eine nahezu grüblerische Note, die sich auflöst im poetischen Thema des Finales. Und so sehr Kissin all die Sprünge, Trillerketten oder wuchtigen Ausbrüche dieses Rondos beherrscht, so geschmeidig, ja fast elegant formt er die Sonate als Ganzes.

Ein ungewöhnliches Hörerlebnis in einem außerordentlichen Konzert. Und am Ende gibt es dann doch den großen Jubel im ausverkauften Saal. Freilich ohne die sonst schon ritualisierte frenetische Ausgelassenheit. Kissin wiederum belässt es bei drei Zugaben. Die Abende mit ihm haben sich gewandelt. Sie sind toll, vor allem aber anspruchsvoll. Auf der Stuhlkante haben wir einst jedenfalls öfter gesessen.




Das Revier als Spannungsfeld: Die Schweizerin Barbara Frey wird von 2021 bis 2023 die Ruhrtriennale leiten

Die künftige Ruhrtriennale-Chefin Barbara Frey (rechts) mit NRW-Kultur- und Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. (Foto: Ministerium)

Die künftige Ruhrtriennale-Chefin Barbara Frey (rechts) mit NRW-Kultur- und Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. (Foto: Tobias Kreutzer/MKW)

„Das ist also der Rhein“, sagt Barbara Frey und schaut interessiert aus dem Fenster des NRW-Landtags, an dem der Fluss so behäbig vorbeifließt. „Als Baselerin erinnert er mich an meine Heimat.“

Heute wurde die Theaterregisseurin und ehemalige Intendantin des Zürcher Schauspielhauses von NRW-Kultur- und Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen als künftige Leiterin der Ruhrtriennale für die Spielzeiten 2021-2023 in Düsseldorf vorgestellt – just nach der Sitzung des Aufsichtsrats der Kultur Ruhr GmbH, die Barbara Frey soeben ernannt hatte.

Schon bald erfolgt dann ihr Umzug an einen weiteren Fluss, nämlich die Ruhr: Frey will während der von ihr verantworteten Triennale in Bochum Wohnung nehmen, in diesem Herbst beginnen bereits ihre Vorbereitungen für ihre drei Triennale-Spielzeiten.

Besonders beeindruckt zeigte sich Frey von den Spielorten der Triennale, die sie im Vorfeld besucht hatte: „Man spürt dort immer noch, dass die Menschen damals einen Aufbruch in eine neue Zeit unternommen haben, das Zeitalter der Industrialisierung“, sagt sie. „Gleichzeitig atmet alles eine bleierne Vergangenheit“. Diese Spannung erfülle sie mit künstlerischer Energie, die sie mit ihrem Team in lebendiges (Musik-)Theater umsetzen will.

Viele Erfahrungen, viele Kontakte

Konkretes zum Programm konnte heute naturgemäß noch nicht genannt werden, doch ihre ästhetischen Antennen sind bereits ausgerichtet. Als Musikerin, genauer Schlagzeugerin, philosophierte Frey sogleich über das Spannungsfeld Krach und Stille: „Was für ein Lärm damals in diesen Hallen geherrscht haben mag und wie still sie heute daliegen, das hat mich sofort fasziniert.“ Die Trommel gilt ihr dabei als universelles Instrument: „Sie schlägt unseren Puls – überall auf der Welt.“

Für die Findungskommission und den Aufsichtsrat waren sowohl Freys interkulturelle und interdisziplinäre Ausrichtung zwischen Kunst und Wissenschaft sowie ihre langjährige erfolgreiche Arbeit sowohl als Schauspiel- wie als Musiktheaterregisseurin ausschlaggebend, wie die Ministerin betonte. Nicht zuletzt spreche für die 1963 Geborene, dass sie schon allein als Intendantin des Zürcher Schauspielhauses zehnjährige Erfahrung in der Leitung eines Hauses besitze. In ihrer Ära dort wurde das Schauspielhaus Zürich mehrmals zum Berliner Theatertreffen eingeladen und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Vom Burgtheater über die Semperoper, quer durch Europa bis nach China und Taiwan – Freys Kontakte reichen weit.

Klingt nicht schlecht für die Zukunft der Triennale: Eine renommierte Theaterfrau mit Erfahrung und neugierigem Blick. Nicht total experimentell und „abgespaced“ vielleicht, aber das muss das Ruhrgebiet ja auch nicht unbedingt haben – wir bleiben ja gerne am Boden, oder? Weiße wenichstens, wat dat alles soll!




Zwischen Mineralwasser-Imperium und Hambacher Forst: Jacques Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ in Köln

Im Lager der gerolsteinischen Armee, die in Köln zu Besetzern des „Hambi“ mutiert sind (von links): Miljenko Turk (Baron Puck), Jennifer Larmore (Die Großherzogin), Vincent Le Texier (General Boum), umrundet von Tanzensemble und Chor der Oper Köln. Foto: Bernd Uhlig

Mit „Piff-Paff-Puff“ stellt sich der Herr vor. Es ist der Sound von Platzpatronen, aber zur Vorsicht geht man doch erst einmal in Deckung. Der Mann ist kommandierender General der großherzoglich gerolsteinischen Armee, die sich in akuten Kriegsvorbereitungen befindet. Sein Name, General Boum, ist Programm: Ein „boum“ ist nicht nur der Knall einer Kanone, sondern auch die Bezeichnung für eine nicht immer von Schlüpfrigkeiten freie Fete.

Was um alles in der Welt den französischen Regisseur Renaud Doucet geritten hat, diese ambivalente Offenbach-Figur als einen Art Öko-Turnvater-Jahn in den gelbgrünen Dress eines Senioren-Marathons zu stecken und in einem Hambi-Besetzerlager umhertappen zu lassen, ist die erste von zahlreichen Fragen, die sich mit der Neuinszenierung von Jacques Offenbachs genialer Operette „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ in Köln verbindet. Klar: Wir sind nicht mehr in der Zeit von 1867, der militärische Zauber der Montur ist ebenso verblasst wie die unkritische gesellschaftliche Begeisterung für uniformierte Hierarchen. Auch die von der Zentralstaat-Metropole Paris aus belächelte deutsche Kleinstaaterei mit ihren wichtigtuerischen Fürsten – die sich damals gerade rund um die Weltausstellung an der Seine amüsierten – ist passé.

Aber was dann die Operettenarmee des fiktiven Eifelstaates mit der Hambi-Bewegung und dem Widerstand ökologisch beflügelter Aktivisten gegen den Braunkohleabbau zu tun haben soll, worin der Mehrwert einer Verwandlung der Großherzogin zur Herrscherin eines Mineralwasser-Imperiums bestehen soll, das bleiben uns die Herren Doucet (Regie) und Barbe (Bühne und Kostüme) schuldig. Denn der „gesellschaftskritische“ Ansatz versickert im Dekorativen, die sowieso nur mit knirschender Gewalt aufgesetzte „Aktualisierung“ zerfließt spätestens im zweiten Akt vor der goldenen Monumentalstatue eines Frosches in Belanglosigkeit. Wenig Piff-Paff und ein großes „Puff“.

Einer der besten Momente der Kölner Offenbach-Inszenierung: das Reiterballett des dritten Akts. Foto: Bernd Uhlig

Einer der besten Momente der Kölner Offenbach-Inszenierung: das Reiterballett des dritten Akts. Foto: Bernd Uhlig

Aber wer Renaud Doucet und André Barbe verpflichtet, bekommt den Stil des Teams auch. Und der zeigt in der Kölner „Großherzogin“ zum 200. Geburtstag von Jacques Offenbach genau die Schwächen, die auch bei anderen Inszenierungen der beiden auffallen: Da sind zwar Cécile Chaduteaus Choreographien flott und auf den Punkt gearbeitet – das Reiterballett im dritten Akt ist herzerwärmend putzig –, aber sie bleiben Dekor im geschickten Aufbau von Bewegungsbildern. Da wird ein Transfer in die Gegenwart versucht, bleibt aber halbherzig, weil die Begriffe unscharf sind: Am Ende landen wir mit einem schräg gestellten, üppigen Bild in Plastik-Barock und einem hübsch ausstaffierten Bett eben doch in der „guten“ alten Operettenwelt.

Unverbrüchliche Liebe unter einfachen Menschen: Soldat Fritz (Dino Lüthy) hält seinem Bauernmädchen Wanda (Emily Hindrichs) die Treue, auch als Aufstieg, Macht und aristokratische Zuneigung locken. Foto: Bernd Uhlig

Unverbrüchliche Liebe unter einfachen Menschen: Soldat Fritz (Dino Lüthy) hält seinem Bauernmädchen Wanda (Emily Hindrichs) die Treue, auch als Aufstieg, Macht und aristokratische Zuneigung locken. Foto: Bernd Uhlig

Dorthin weisen auch die Figuren, selbst wenn sie zwischen fantasievoll-opulenten Kostümen auch mal den mittlerweile üblichen blauen Banker- oder Trump-Anzug tragen wie der durchtriebene Baron Puck, bei Miljenko Turk ein eher harmloser Vertreter politischer Ibiza-Fraktionen. Dass diese Offenbach’schen Verschwörer komisch und gefährlich sind, wird nicht berücksichtigt. Stattdessen macht der orgelnd tremolierende Vincent Le Texier aus General Boum einen chargierenden Trottel, dessen Auftreten sich aus dem Repertoire überzogener Komödien-Affektiertheit bedient, ohne hintergründig, witzig oder wenigstens lustig zu sein.

Und bei allem Respekt vor der Lebensleistung von Jennifer Larmore: Die altersmilde Generosität ihrer Großherzogin holt weder die unbekümmerte Naivität der von sich selbst überzeugten Potentatin ein, noch ihre pralle erotische Energie. Doch als die Gerolsteinische First Lady dem mit ökologisch korrektem Naturhaar ausgiebig bepelzten Ex-Gefreiten Fritz – dem tenorblassen Dino Lüthy – ihre Sehnsucht nach authentischer Beziehung offenbart, gelingt der Sängerin ein berührender Moment. Offenbach, der Satiriker, der Spötter, der über den Blumen des Frivolen flatternde Schmetterling, kannte das zarte Sentiment: Er war eben auch ein Familienmensch, der den Wert von Zuneigung, Liebe und Treue zu schätzen wusste.

François-Xavier Roth lässt das Gürzenich-Orchester Köln durchaus mit der leichten Phrasierung und den pointierten Noten spielen, die der Musik ihren unverwechselbaren Esprit geben. Er überzieht auch die Tempi nicht in Richtung hastiger Eile. Es dürfte der Saal im Staatenhaus sein, dessen Akustik Transparenz, deutliche Konturen in den Bläsern und trennscharfe Bässe behindert. Für die Momente der Parodie, für das aufgeblasene Pathos der Szene mit dem „Säbel vom Papa“, für die lustvoll schaurige Verschwörungsszene bringt Roth die Lust an der sanften, aber wirksamen Übertreibung nicht mit. Die Musik klingt, als sei sie ernst gemeint.

Ein umfangreiches Festival zum 200. Geburtstag des Kölner Komponisten

Jacques Offenbach um 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

Jacques Offenbach um 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

„Piff-Paff-Puff“: Das Couplet des Generals gibt auch den Events in Köln rund um den 200. Geburtstag von Jacques Offenbach am 20. Juni das Motto. Das Jubiläum stürzt derzeit nicht nur seine Geburtsstadt in einen ausgiebigen Offenbach-Taumel. Von Argentinien bis China würdigen Opernhäuser den Jubilar mit Aufführungen – meist allerdings nur seiner bekannten Werke wie „Les Contes d’Hoffmann“ oder „Orphée aux Enfers“.

Doch der Schwerpunkt der Offenbach-Feiern liegt in Frankreich und im deutschsprachigen Raum. In Köln sind derzeit in der Volksbühne am Rudolfplatz die beiden durchgeknallten Einakter „Herr Blumenkohl gibt sich die Ehre“ und „Die Insel Tulipatan“ zu sehen – letztere eine unverständlicherweise lange Zeit unbeachtet gebliebene Parodie auf vorschnelle Zuordnung von Geschlechtern, ein passendes Thema also zur Gender-Debatte.

Ein Symposion in Köln und Paris widmet sich ab 19. Juni den Forschungsfragen rund um Offenbachs Biografie und das längst nicht erschöpfend entdeckte und bearbeitete Œuvre des „Mozart der Champs-Elysées“. Bis 27. Juni hat die Kölner Offenbach-Gesellschaft ein vielfältiges Programm auf die Beine gestellt. Die Oper Köln zeigt zwischen 22. Juni und 9. Juli unter dem Titel „Je suis Jacques“ eine Jubiläums-Offenbachiade von Christian von Götz auf der Baustelle des Opernhauses.

Über das ganze Jahr werden sich die Veranstaltungen hinziehen, unter anderem mit der Kölner Erstaufführung der satirischen komischen Oper „Barkouf“, in der ein Hund an die Macht kommt. Der Abschluss wird romantisch: Das Theater Hagen setzt ihn mit einer Neuinszenierung von „Hoffmanns Erzählungen“ ab 30. November.

Die nächsten Vorstellungen von „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ am 20., 23. und 26. Juni. Nähere Infos hier.




In zwölf Minuten von Mahler zu Mahler: In Duisburg und Essen erklangen die Sechste und die Zweite Symphonie

Die Duisburger Philharmoniker. Foto: Zoltan Verhoeven-Leskovar

Die Duisburger Philharmoniker. Foto: Zoltan Verhoeven-Leskovar

Zwei Mahler-Symphonien innerhalb weniger Tage in Duisburg und Essen: Wer den alten Ruhrpott nicht als Flickenteppich diverser städtischer Zentren, sondern die Rhein-Ruhr-Region als großen Kulturraum wahrnimmt, hat nicht nur in Sachen Mahler eine weltstädtische Auswahl. Man muss nur zum Beispiel die zwölf Minuten zwischen den Hauptbahnhöfen von Essen und Duisburg in Kauf nehmen.

Und dann bekommt man demnächst Mahlers Neunte in Dortmund, in der nächsten Spielzeit die Dritte in Gelsenkirchen und Essen, die Vierte in Wuppertal, die Siebte in Dortmund, die Neunte in Duisburg und die Sechste als Abschluss des Mahler-Zyklus mit Adam Fischer in Düsseldorf.

In Essen also die Sechste, ein Werk mit Regionalbezug, wurde es doch am 27. Mai 1906 hier im Herzen des Ruhrgebiets uraufgeführt. Viele Erklärungsmuster legen sich über die Symphonie: Die einen sehen sie als die „klassischste“ der Neun, andere lesen sie mit expliziten biographischen Bezügen oder entdecken in ihr eine prophetische Vorwegnahme eines Komponisten- oder sogar Epochenschicksals. Das hat einiges für sich: Mahler spürte sicherlich die untergründige Unruhe der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, war Zeuge heftig umstrittener Aufbrüche, strebte auch selbst mit jedem Satz jeder seiner Symphonien zu bisher unerreichten Ufern. Alexander von Zemlinsky soll die Sechste Mahlers „Eigentliche“ genannt haben; er selbst hielt sie laut Alma Mahler für sein „allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein“.

Biographie und Musik bei Mahler

Dass biographische Einflüsse – wie auch schon bei Tschaikowsky – eingeflossen sind, wird man schwerlich leugnen können. Die Frage ist, was dieselben für eine Mahler-Deutung heute bedeuten. Tragische Künstlerschicksale haben 108 Jahre nach Mahlers Tod nicht mehr die hypersensible Brisanz von einst; der Weltuntergang wird uns in Breitband und allen tontechnischen Raffinessen im Kino vorgespielt. Bleibt die Musik, das „Material“, das wir, je nach Standort, distanziert interessiert oder mit innerer Emphase anhören, auf uns wirken lassen.

Eine gewisse Materialfixierung mag der Grund sein, warum Mahler-Deutungen derzeit als gut empfunden werden, wenn sie technisch makellos daherkommen – wie jüngst die Achte unter Kirill Petrenko im Bregenzer Festspielhaus (und im Januar 2020 wohl auch die Sechste in Berlin). In Essen lässt sich Tomáš Netopil nur zum Teil auf eine solche – überspitzt gesagt – technizistische Lösung ein. Er lässt Wut und Depression, Melancholie und Aufschrei zu, ohne in jedem Moment auf plastische Balance, auf das „strukturelle“ Hören zu achten.

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Da dürfen die vorzüglich disponierten Essener Philharmoniker auch einmal „loslassen“, die Magie des Moments auskosten, Klänge ausspielen und kombinieren. Mahler hat ihnen dazu genug Gelegenheit in seine Partitur geschrieben: Die böse kleine Trommel, die den Bläsern ihren Marschrhythmus aufdrückt, kaum dass die Wucht der Pauken einmal verstummt ist; die Klarinette, die sich mit den Kuhglocken aus der Ferne für wenige Takte für eine trügerische Idylle vereint; die Streicher mit ihrem verzerrten Schlager oder ihren gespenstischen Tremoli – schon der erste Satz fordert Klang- und Struktursinn heraus, und Netopil entscheidet sich, eher die Wirkung als die Ursache zu erforschen.

Das mag in diesem „Allegro energico“ hie und da zu bedauern sein, in den anderen Sätzen nicht. Denn zum Beispiel im letzten Satz erfasst der Essener Generalmusikdirektor, wie der vorher schon fast allgegenwärtige Marsch alles niederwalzt, was an thematischen Erinnerungen oder gar harmonischen Abfolgen erkennbar ist. Hier komponiert Mahler die brutale Überwältigung, den alles überflutenden Tumult, der sich in „irrer Geschäftigkeit“ (Peter Gülke) selbst verschlingt. Netopil hält diese Exuberanz allerdings so im Zaum, dass der Eindruck nicht verloren geht, der musikalische Formwille wehre sich gegen das allüberall lauernde Chaos, gegen den mit Ruten gepeitschten und mit den berühmten Hammerschlägen – in Essen partiturgerecht hölzern-trocken – übersteigerten Rhythmus. Tamtam und Harfe – welche Kombination „magischer“ Instrumente! – markieren einen wesentlichen Zusammenbruch, dem nur noch stockendes Aufflackern, finaler Donnerschlag und verzuckendes Pianissimo folgen. Verdienter Jubel.

Knöcherner Marsch und überlegtes Formbewusstsein

Ein Marsch, wenn auch weit weniger formbestimmend, findet sich auch im ursprünglich „Todtenfeier“ genannten ersten Satz der Zweiten Symphonie Mahlers, mit der sich die Duisburger Philharmoniker unter ihrem neuen GMD Axel Kober der fünf Wochen vorher erklungenen „Konkurrenz“ aus Düsseldorf stellen. In der Mercatorhalle klingt diese „Marcia“ noch fahler, knöcherner als in der Tonhalle; auch in den spannungsvollen leisen Momenten der Violinen, in dem elektrisierend unwirschen Eröffnungsakkord der tiefen Streicher, den kantabel geführten Holzbläsern und den Choralanklängen zeigen die Duisburger Philharmoniker fein abgestuften Klangsinn und ein Gespür für Spannungen und Stimmungswechsel.

Axel Kober, jetzt auch GMD der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Axel Kober, jetzt auch GMD der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Im zweiten Satz zelebriert Kober das Gemütlich-Naive des Dreiertakts, betont damit den Kontrast zu ersten, rückt ihn aber auch in die Nähe einer maliziösen Ironie. Man weiß nie, ob die properen Horn-Staccati und das leichtfüßige Stricheln der Geigen nicht eine Spur zu idyllisch gemeint sind. So fängt Kober in einem Satz, der gerne als unkompliziert dargestellt wird, die mehrdeutige Mahler-Welt ein, die sich dann im dritten Satz eindunkelt, wenn die drehenden Dreier fast dämonisch aufgeladen werden.

Kober macht – auch in den wilden Steigerungen, die noch folgen – den Formwillen klar, hebt die motivtragenden Schichten stets hervor. Bei allen fabelhaften Momenten von Horn und Klarinette, Celli, Kontrabässen und Fagott bis hin zu Harfe und Tuba: Im Lärm des ersten, in etwas zu unverbindlichen Klang des dritten und im eher zum Spröden neigenden Blechbläserklang des vierten Satzes kommen die Duisburger an ihre Grenzen; auch die Intonation scheint in der Riege der Bläser nachzulassen, wenn nicht Verwerfungen der Akustik das Ohr täuschten.

Für die vokalen Anteile der Symphonie stehen der Philharmonische Chor Duisburg und der LandesJugendChor NRW ein: ansatzrein, ausgeglichen, mit schimmernd gehaltenen Klängen, saftigen Steigerungen und einem wundervoll plastisch-mystischem „Was erstanden ist, das muss vergehen“. Hoheitsvoll lässt Ingeborg Danz im „Urlicht“ die Stimme strömen und flutet die Töne mit purer Schönheit; Anke Krabbe kündet Mahlers Glaubensbotschaft mit leuchtend präsentem Sopran. Entschweben zum Licht: Bei solcher Schönheit wird diese Vision in Tönen erfahrbar.

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Das nächste Konzert der Duisburger Philharmoniker bringt am 5. und 6. Juni in der Mercatorhalle ein Konzert für Streichquartett und Orchester des in Zürich geborenen und in New York lebenden Daniel Schnyder, György Ligetis Concert Românesc und Sergej Prokofjews Siebte Sinfonie. Karten: (0203) 283 62 100, Info: www.duisburger-philharmoniker.de

Bei den Essener Philharmonikern heißt es am 20. und 21. Juni „Vive La France“ mit Werken von Camille Saint-Saëns, Arthur Honegger und Maurice Ravel. Solist im Ersten Cellokonzert a-Moll op. 33 von Saint-Saëns ist Gautier Capuçon. Karten: (0201) 81 22 200, Info: https://www.theater-essen.de/philharmonie/spielplan/vive-la-france-77124/2570/




Feuervogel spreizt farbenfrohe Federn: Das Konzerthaus Dortmund heißt „Maestra Mirga“ willkommen

Mirga Gražinytė-Tyla wurde bereits mit 29 Jahren Chefin des CBSO. (Foto: Pascal Amos Rest)

Ihre Füße stecken in schwarzen Ballerina-Schühchen. Klein, zierlich und mädchenhaft jung wirkt die Frau, die jetzt im Konzerthaus Dortmund aufs Dirigentenpodest steigt und sich verbeugt. Beinahe möchte man um sie fürchten angesichts der schieren Masse von Orchestermusikern, der sie sich an diesem Abend gegenüber sieht: verlangen doch zwei der drei aufgeführten Werke eine ausgesprochen üppige Besetzung. Aber derlei Gedanken verpuffen, sobald die Künstlerin den Taktstock hebt.

Als „Maestra Mirga“ begrüßt das Konzerthaus Dortmund seine neue Exklusivkünstlerin aus Litauen, deren komplizierter Nachname so manchen bei der Aussprache ins Schwitzen bringt. Mirga Gražinyté-Tyla (sprich: Mirga Graschiniiiite-Tilá) kehrt mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra zurück, das sie seit September 2016 als Chefin leitet. Die 32-Jährige tritt am Pult des CBSO in große Fußstapfen: vor ihr formte Andris Nelsons diesen Klangkörper, den Simon Rattle ab 1980 von eher provinziellem Niveau zu internationaler Klasse führte.

Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech heißt die neue Exklusivkünstlerin mit Blumen willkommen. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nicht zufällig eröffnet sie diesen Konzertabend mit Musik von Mieczysław Weinberg. Die Litauerin setzt sich stark für das Werk des polnisch-jüdischen Komponisten ein, das sie für nicht minder bedeutend als das Schaffen von Bach oder Beethoven hält. Weinbergs „Rhapsodie über Moldawische Themen“ gleicht unter ihrer Leitung einem temperamentvollen Ausrufezeichen voller folkloristischer Klänge. Die Dirigentin scheut sich nicht vor ausladenden Gesten, kann aber auch so knapp und präzise sein, dass kein Zweifel aufkommen kann, wie sehr sie den großen Orchesterapparat im Griff hat.

Einer spannungsreichen Einleitung, in der Kontrabässe, Celli und Bratschen im Pianissimo raunen, folgen feurig wirbelnde Tänze, die sich nahe an der Welt von Zoltán Kodály und Béla Bartók bewegen. Hinreißend verführerisch geraten die ruhigeren Passagen, in denen das Tambourin effektvolle Akzente setzt. Das CBSO breitet eine luxuriöse Klangpracht aus, als gelte es, die Salome von Richard Strauss im Tanz der sieben Schleier zu begleiten.

Für die erkrankte Yuja Wang sprang kurzfristig der Pianist Kit Armstrong ein: freilich nicht mit dem 5. Klavierkonzert von Sergej Prokofjew, sondern mit dem Klavierkonzert von Robert Schumann. Der von Alfred Brendel stark geförderte Künstler, der selbst komponiert und neben Musik auch Physik, Mathematik, Chemie und Biologie studierte, bevorzugt in seiner Interpretation kristalline Klarheit statt romantische Emotionalität. Unter seinen Fingern klingt Robert Schumann, als sei er ein direkter Nachfahre von Johann Sebastian Bach.

Kit Armstrong sprang mit Robert Schumanns Klavierkonzert für die erkrankte Yuja Wang ein. (Foto: Pascal Amos Rest)

Das führt zu gläserner Transparenz und introvertiert-leisem Spiel, das sich von Gefühlen bewusst fern zu halten scheint. Der langsame Satz (Intermezzo) klingt eher weltabgewandt als verträumt. Nicht immer wirkt Armstrongs Fingerfertigkeit in den vollgriffigen Akkordfolgen souverän. Aber er hat sein Ohr stets nahe am Orchester, sucht wach und aufmerksam den kammermusikalischen Dialog. Das kommt dem rhythmisch vertrackten Schluss-Satz zugute, der das auch dynamisch sehr ausgewogene Zusammenspiel mit dem Orchester noch einmal unterstreicht.

Zum Abschluss spreizt Igor Strawinskys „Feuervogel“ seine Federn. Es ist ein wahres Prachtvieh, das hier vor unseren Ohren zu tanzen beginnt. Wir hören flirrende Delikatesse, zauberische Leichtigkeit, irisierende Farben. Mirga Gražinyté-Tyla begnügt sich nicht mit der verkürzten Fassung der allseits bekannten Suiten, sondern spielt die Ballettmusik in voller Länge. Daraus wird ein packendes Abenteuer, das über quirlige Holzbläser-Arabesken, ferne Hornsignale und märchenhafte Idylle in den Höllentanz des bösen Zauberers Kaschtschei führt. Frenetischer Beifall.

Informationen zu weiteren Konzerten mit Mirga Gražinyté-Tyla: 

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/276/?gclid=EAIaIQobChMIjpPYgZei4gIVBeN3Ch2uMQrJEAAYASABEgLv-_D_BwE)

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).




Jonathan Meese mit „Lolita“ – und manches mehr: Theater Dortmund stellt sein Programm für die nächste Spielzeit vor

Die Optik betont die Unterschiede. Hier die neuen Programmhefte von Philharmonikern, Schauspiel und Ballett (Foto: Pfeiffer)

Was hat Jonathan Meese mit Dortmund zu tun? Nun, bisher eigentlich nichts. Allerdings hätte sich das in diesem Jahr ja ändern sollen, weil Edwin Jacobs – noch, aber nicht mehr lange Chef des „Dortmunder U“ – den Künstler eingeladen hatte, die Sammlung nach seinem Geschmack neu zu hängen. Daraus wird jedoch nichts.

 

Den Meese soll es aber auf jeden Fall geben, wenn auch im Theater und erst im nächsten Jahr. Für den 15. Februar 2020 plant das Schauspiel die Uraufführung des Stücks „Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer Selbst!“ aus der Feder des nämlichen Artisten. Man ahnt: Das wird konzeptionell. Erste Absichts-Erklärungen waren jetzt im Theater zu hören, bei der Spielplanpräsentation für 2019/2020, im Programmheft kann man sie nachlesen. Wie immer es auch werden mag – Meeses (erhoffter) Auftritt ist fraglos ein Höhepunkt im ansonsten nicht unbedingt prickelnden neuen Programm.

Wolfgang Wendland kommt wieder. Hier ist er noch in „Häuptling Abendwind“ zu sehen, in der neuen Spielzeit erleben wir ihn und seine Kapelle „Die Kassierer“ in der Punk-Operette „Die Kassierer und Die Drei von der Punkstelle“. Das kann ja heiter werden. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Voges hält Rückschau

Schauspielchef Kay Voges verabschiedet sich mit „PLAY / Abriss einer Reise“ von Dortmund, einer Produktion, in der Rückschau gehalten wird auf fast 10 Jahre Theaterarbeit in dieser Stadt. Uraufführung soll am 11. Oktober sein, und ganz unsentimental wird es dabei wohl nicht abgehen, denn das Ende einer Intendanz bedeutet fast immer auch das Ende für das Ensemble. Mit Spannung sehen wir den Plänen von Julia Wissert entgegen, die Voges’ Nachfolge antreten wird, besonders in Hinblick auf das Bühnenpersonal.

Neuer Schimmelpfennig

Dostojewskis „Dämonen“ kommen auf den Spielplan, ebenso „Hexenjagd“ von Arthur Miller und ein neues Stück von Roland Schimmelpfennig. „Das Reich der Tiere“ erzählt von fünf Schauspielerinnen und Schauspielern, die in einer mäßig erfolgreichen Tier-Show auftreten und sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Eine „Komödie mit Live-Musik“, die hervorragend in die Dortmunder Wechselsituation paßt.

Beethoven zum 250. Geburtstag

Die zehn Konzerte der Philharmoniker sind in dieser Spielzeit Weltstädten gewidmet, beginnend mit New York und endend mit (na?) Dortmund und Belgrad. Gegeben wird am 28. Juni 2020 der „Beethoven-Marathon 2020“, alle neun Sinfonien an einem einzigen Tag, weil Ludwig van Beethoven 2020 vor 250 Jahren geboren wurde. Um 10 Uhr fangen die Dortmunder Philharmoniker an, um 20 Uhr schließlich wird die neunte Sinfonie angestimmt. Dann arbeiten die Dortmunder mit den Belgrader Philharmonikern, dem Slowakischen Philharmonischen Chor Bratislava und vier Solisten zusammen. Die Ost-Beziehungen haben ihren Grund darin, daß Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz auch Chefdirigent der Belgrader Philharmoniker ist.

Die Optik hat sich stark verändert

Was in den unterschiedlichen Sparten gespielt wird, suche man im Internet (www.theaterdo.de). Es steht aber auch in den gedruckten Programmheften, die es jetzt gibt und die beinahe die größte Überraschung der Präsentation sind. Das Theater Dortmund hat seinen medialen Auftritt grundlegend überarbeitet, was dazu führt, daß es jetzt fünf Programmhefte gibt statt eines einzigen dicken Programmbuchs wie bisher, und daß die Sparten Philharmoniker, Ballett, Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater sich nun in ihrem optischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.

Geschwundene Liebe zum Orange

Mit unterschiedlichen feinen Serifenschriften auf dem Cover und in den Überschriften präsentieren sich Oper, Philharmoniker und Ballett, während die Theaterabteilungen eine fette serifenlose Typographie bevorzugen. Das knallige Orange, lange Jahre „Logo-Farbe“ des Theaters Dortmund, dominiert nur noch das auf orangefarbenes Papier gedruckte Service-Heft. Übrigens ist es eine gute Idee, so all die Service-Angaben (Kartenvorverkauf, Preise, Aboreihen etc.) zu bündeln und in den Programmheften uneingeschränkten Raum für die Kunst zu lassen. Sinnvoll war überdies, die summa sechs Hefte in einen wertig wirkenden weißen Standschuber zu stecken. Vielleicht etwas teuer, sieht aber wirklich gut aus.




Mörderischer Goldschmied, getarnter Zar: Theater Hagen stellt Programm für die Spielzeit 2019/20 vor

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

192 Seiten, vollgepackt mit Programm: Ironisch signalisiert das Theater Hagen mit dem Reclam-Heft-Format seiner Spielzeit-Übersicht 2019/20 wieder Sparsamkeit. Inhaltlich allerdings fächert es den ganzen Reichtum auf, den das in den letzten Jahren arg gebeutelte Haus mit dem Team um Intendant Francis Hüsers aus seinem 18-Millionen-Etat zaubert. Eine bunte Vielfalt tut sich auf, die gleichwohl einige durchgehende Linien sichtbar werden lässt, die sich in den nächsten Jahren in den Spielplänen abzeichnen sollen.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das "Datenheft" des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das „Datenheft“ des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Im Musiktheater schreitet Hüsers vom Schwerpunkt der Romantik in der laufenden Spielzeit weiter in Richtung des Beginns der Moderne: Die Spielzeit eröffnet am 21. September 2019 Paul Hindemiths „Cardillac“, basierend auf dem romantischen Stoff des „Fräuleins von Scuderi“ E.T.A. Hoffmanns, komponiert aber in bewusster Abkehr von romantischer Einfühlung, in einem betont objektivierenden, „neusachlichen“ Stil. Der Stil der Oper, auch als „Bauhausbarock“ bezeichnet, passt zum 100-Jahre-Jubiläum des Bauhauses, das auch in Hagen gefeiert wird.

Den zweiten Schritt in die Moderne signalisiert Richard Strauss‘ „Salome“ ab 4. April 2020, inszeniert von Magdalena Fuchsberger, die in dieser Spielzeit mit Verdis „Simon Boccanegra“ als ambitioniertes Kopftheater für kontroverse Kritiken sorgte. Die Hindemith-Oper ist Jochen Biganzoli anvertraut, der momentan mit seiner Inszenierung von „Tristan und Isolde“ dem Theater Hagen überregionale Aufmerksamkeit sichert.

Mit dem Beginn der Moderne könnte man auch Franz Lehárs „Der Graf von Luxemburg“ verbinden – eine Operette, die wie die „Lustige Witwe“ ironisch mit der Auflösung scheinbar althergebrachter gesellschaftlicher Strukturen und Werte spielt. Roland Hüve inszeniert den Erfolg von 1909, der am 26. Oktober Premiere hat. Als Kontrapunkt zur Operette „Pariser Leben“ in dieser Spielzeit und als Abschluss des Offenbach-Jahres kommt „Hoffmanns Erzählungen“ auf die Hagener Bühne. Susanne Knapp inszeniert die Reminiszenz an die Romantik, die in der Zerrissenheit ihres Helden auch in die Moderne vorausweist; Premiere ist am 30. November. Auch das Ende der Spielzeit im Sommer 2020 hat mit der Moderne zu tun: In Jerry Bocks „Anatevka“ geht auch eine alte Welt unter, die viel mit nostalgischen Träumen zu tun hat, und muss der neuzeitlichen Brutalität organisierter Pogrome weichen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Eine andere Linie, die in dieser Spielzeit mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ (Premiere am 18. Mai) bedient wird, führt Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ am 29. Februar 2020 weiter. Kerstin Steeb übernimmt die Aufgabe, in ihrer Inszenierung die Inhalte freizulegen, die eine Oper an der Schwelle der Aufklärung mit unserer Zeit verbindet. Um einen aufgeklärten Herrscher geht es auch in „Zar und Zimmermann“, mit dem am 1. Februar 2020 endlich wieder einmal eine Oper Albert Lortzings in der Rhein-Ruhr-Region zu sehen ist. Denn Zar Peter der Große schleicht sich inkognito in eine niederländische Hafenstadt ein und mischt die kleinbürgerliche Gesellschaft ordentlich auf – alles natürlich versteckt unter harmlosem Gedöns, um die damalige Zensur nicht aufmerksam zu machen.

Neue Ballettdirektorin choreografiert zwei Abende

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Mit Marguerite Donlon tritt in Hagen eine neue Ballettdirektorin ihre Aufgabe an und stellt sich am 5. Oktober mit einem Abend um eine starke Frau vor: „Casa Azul“ nennt die gebürtige Irin Donlon ihren Einstand den sie der mexikanischen Malerin mit deutschen Wurzeln Frida Kahlo widmet – einer Künstlerin, die lange als „exotische Blume am Knopfloch des großen Meisters Diego Rivera“ galt und erst in den Siebziger Jahren im Zuge der Frauenbewegung in ihrer wirklichen Bedeutung erfasst wurde.

Eine weitere Choreografie, die Donlon bereits 2009 in ihrer Zeit als Ballettdirektorin in Saarbrücken entwickelt hatte, bildet den Abschluss der Hagener Ballettabend-Trias: „Schwanensee – Aufgetaucht“ in einer Kombination der Musik Tschaikowskys mit elektronischen Sounds von Sam Auinger und Claas Willeke (Premiere am 9. Mai 2020). Dazwischen, am 13. Februar, zeigen die Tänzer*innen (das Heft ist konsequent mit Sternchen durchgegendert) der Compagnie in kurzen Szenen einer „kreativen Werkstatt“ ihr choreografisches Können. „Substanz“ heißt dieser Abend.

Rock-Shows und sinfonische Neugier

Im Schauspiel setzt das Haus neben einer eigenen Produktion – Shakespeares „Sommernachtstraum“ in der Regie von Francis Hüsers – auf Gastspiele. Im Programm finden sich auch die bewährten Kabrett-Abende sowie als Wiederaufnahme die erfolgreiche Rock-Show „Take a Walk on the Wild Side“, fortgesetzt durch die Neuproduktion „Wenn die Nacht am tiefsten (… ist der Tag am nächsten)“ am 14. März 2020, eine Bühnen-Party, in der nach den amerikanischen Titeln nun deutscher Rock und Punk zu seinem Recht kommt – von den Toten Hosen bis Nena.

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Der Blick ins orangefarbene Heft zeigt auch, dass GMD Joseph Trafton mit dem Orchester Hagen ein Programm auflegt, das so gar nichts von verstaubter Abonnenten-Bedienung an sich hat, sondern pfiffig und vielseitig Neugier weckt: Ob eine von Bauhaus-Künstler Wassily Kandinskys Bühnenentwürfen inspirierte Video-Show von Arthur Spirk zu Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“, ein russisches Programm mit dem von Steven Isserlis gespielten Cellokonzert Nr. 2 von Dmitri Kabalewsky oder Robert Schumanns „Das Paradies und die Peri“, ergänzt von „Blue Cathedral“, einem von bisher über 400 Orchestern gespielten Klangpoem der Amerikanerin Jennifer Higdon aus dem Jahr 2000. Orchesterdirektorin Antje Haury bestätigt die Beobachtung: Im sinfonischen Repertoire stehen diesmal viel mehr Werke von Frauen als sonst üblich: Neben dem Klavierkonzert der Jahres-Jubilarin Clara Schumann, gespielt am 19. Mai 2020 von Alexander Krichel, enthalten die Programme Werke von Lili Boulanger, Fanny Hensel-Mendelssohn und Kaija Saariaho.

Das abwechslungsreiche Programm des Kinder- und Jugendtheaters im Lutz, zwei große Vermittlungsprojekte gemeinsam mit dem Orchester, die Gründung einer neuen Jugendtanzgruppe und einer Orchesterakademie zeigen: Das Theater Hagen geht gut aufgestellt in die neue Spielzeit und wirkt mit seinen großen, ambitionierten Produktionen, aber auch mit seinen kleinen ehrgeizigen Projekten hinein in die Stadtgesellschaft.

Info: www.theaterhagen.de




Auf der Suche nach Neuland: Raphael von Hoensbroech stellt seine erste Saison im Konzerthaus Dortmund vor

Raphael von Hoensbroech hat nun vollends die Führung im Konzerthaus Dortmund übernommen (Foto: Pascal Amos Rest)

Er geht die Dinge behutsam an. Fügt Neues hinzu, ohne Bestehendes abzuschaffen. Zugleich steckt Dortmunds Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech, der jetzt sein erstes eigenverantwortlich verfertigtes Programm im Rahmen einer Pressekonferenz vorstellte, in einem luxuriösen Dilemma.

Der aus einer alten Adelsfamilie stammende Musikwissenschaftler und Kulturmanager hat von seinem Vorgänger Benedikt Stampa einen derart gut funktionierenden Betrieb übernommen, dass dieses Privileg beinahe zur Bürde wird. Was anders anpacken, wenn alles nahezu optimal läuft? Wie ein eigenes Profil entwickeln, wo alle noch auf die mammutgroßen Fußspuren des nach Baden-Baden Entschwundenen starren?

Die litauische Dirigentin Mirga Gražinyté-Tyla kommt als Exklusivkünstlerin nach Dortmund (Foto: Ben Ealovega)

Doch Kontinuität ist von Hoensbroech wichtiger. Er setzt alle etablierten Formate und Konzertreihen fort, mithin die erfolgreiche „Dortmunder Dramaturgie“, die unter anderem einen Residenzkünstler für jeweils drei intensiv gestaltete Spielzeiten an das Haus bindet. Ein erster Coup gelang ihm, als er dafür die junge litauische Dirigentin Mirga Gražinyté-Tyla verpflichtete, die derzeit wie ein Wirbelwind durch Europas Orchester- und Festivallandschaft fegt. Mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dessen Chefdirigentin sie seit September 2016 ist, wird „Maestra Mirga“ dreimal in Dortmund gastieren. In der ungewohnten Rolle als Sängerin tritt sie in der Reihe „Musik for Freaks“ auf, während sie im unterhaltsamen „Salon“ öffentlich Rede und Antwort steht.

In den Orchesterzyklen finden sich viele bekannte Konzerthausgäste wieder: vom Mahler Chamber Orchestra, Rotterdam Philharmonic, Budapest Festival Orchestra, Mariinsky-Orchester bis zum London Philharmonic und dem London Symphony Orchestra. Die Wiener und Berliner Philharmoniker sind nicht dabei, auch keines der „Big Five“ genannten Spitzenensembles aus den USA, die einzuladen freilich ein eminent teures Unterfangen wäre. Ein gemeinschaftliches Projekt wie die Ruhr-Residenz der Berliner Philharmoniker, das nur durch die Zusammenarbeit mit der Philharmonie Essen Wirklichkeit werden konnte, ist laut von Hoensbroech erneut denkbar, aber derzeit nicht in Sicht.

Der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard wirkt im Februar 2020 an der fünftägigen Zeitinsel zum Werk von György Kurtág mit (Foto: Marco Borggreve)

Auf die „Zeitinsel“ müssen die Besucher indes nicht verzichten: Herausragende Interpreten wie der Pianist Pierre-Laurent Aimard, das Arditti Quartet, der Bariton Benjamin Appl und viele andere widmen sich an fünf Tagen ganz dem Schaffen des ungarischen Komponisten György Kurtág. Neu hinzugekommen ist die Reihe „Curating Artist“, in der ein ausgewählter Künstler mehrere Konzerte mit seinen musikalischen Freunden kuratieren und gestalten darf. In der neuen Saison wird der in Armenien geborene, US-amerikanische Pianist Sergej Babayan im Verbund mit Martha Argerich, Daniil Trifonov, Mischa Maisky und dem Mariinsky-Orchester unter Valery Gergiev auftreten.

Vom Willen zur Innovation kündet insbesondere die Reihe „Neuland“, die konventionelle Aufführungsformen klassischer Musik durchbrechen und zu einem anderen Musikerleben führen soll. Eröffnet wird sie am 19. November 2019 durch den finnischen Geiger Pekka Kuusisto und das Mahler Chamber Orchestra, die sich in einem inszenierten Konzert mit Live-Elektronik musizierend durch den Saal bewegen. Ähnlich hält es das Stegreif.orchester aus Berlin, das Beethovens 9. Sinfonie mit Klängen aus anderen Kulturen verweben wird. Die Sopranistin Caroline Melzer singt György Kurtás „Kafka-Fragemente“, die samt filmischer Installation im Jazzclub Domicil zu erleben sind.

Das Stegreif.orchester aus Berlin sprengt die herkömmliche Aufführungssituation klassischer Musik (Foto: Roman Novitzky)

Am Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 kommt auch das Dortmunder Konzerthaus nicht vorbei. Daher findet sich das Sonderprojekt „B250hoven“ im Programm, das sich nicht mit den Abspulen der „Greatest Hits“ begnügt, sondern eine möglichst tiefe Auseinandersetzung mit dem Werk und der Persönlichkeit des Komponisten anstrebt. Zu diesem Zweck rekonstruiert Dirigent Thomas Hengelbrock mit seinem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble Beethovens legendäres, knapp vierstündiges Akademiekonzert von 1808. Das Mahler Chamber Orchestra bringt unter der Leitung von Gustavo Dudamel eine konzertante Aufführung der Oper „Fidelio“ auf die Bühne.

Nach welchen Regeln und Gesetzmäßigkeiten Beethoven komponiert hat, macht das Performance-Ensemble „Nico and the Navigators“ auf großer Leinwand sichtbar, wenn das Kuss-Quartett die Große Fuge B-Dur op. 133 und das späte Streichquartett F-Dur op. 135 spielt. Welch wichtiges Experimentierfeld die Gattung des Streichquartetts für den Komponisten war, zeigen das Quatuor Ébène und das Belcea Quartet im Rahmen eines durch Pausen unterbrochenen Konzertmarathons.

Yannick Nézet-Séguin dirigiert am 20. Februar 2020 „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss (Foto: Hans van der Woerd)

Als Großtat im Bereich der Oper sei noch die konzertante Aufführung der „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss durch das Rotterdam Philharmonic Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin erwähnt. An die Stelle der Weltmusik tritt die Reihe „Soundtrack Europa“ mit fünf Künstlern bzw. Bands aus Bosnien, Österreich, Polen, der Türkei und von den Färöer Inseln.

Vom reichhaltigen Musikangebot der Jazz-Nights, Orgelkonzerte, Liederabende, des Pop-Abos, der Meisterpianisten und der Jungen Wilden möge sich jeder selbst ein Bild machen – ebenso wie vom veränderten Erscheinungsbild des Programmhefts. Eher fliegt wohl ein Nashorn durch ein Türkis umrahmtes Rechteck, als dass ein neues Design auf ungeteilte Zustimmung träfe.

(Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/saison-2019-20/)




Lebende Legenden und Aufsteiger: Das Klavier-Festival Ruhr startet am 7. Mai in Bochum den Reigen seiner Konzerte

Eröffnet am 7. Mai das Klavier-Festival Ruhr in Bochum: Daniel Barenboim, hier bei einem Konzert des Festivals im Jahr 2014. Foto: Mark Wohlrab

Eröffnet am 7. Mai das Klavier-Festival Ruhr in Bochum: Daniel Barenboim, hier bei einem Konzert des Festivals im Jahr 2014. (Foto: Mark Wohlrab)

Gastautor Robert Unger über das bevorstehende Klavier-Festival Ruhr:

Drei Komponenten machen einen Star im klassischen Sinne aus: Erfolg, Kontinuität und Image. Kommen diese Elemente zusammen und reift eine Persönlichkeit mit einem lang andauernden Erfolg, spricht man von einer Legende. Solche will das Klavier-Festival Ruhr vorstellen, das am 7. Mai unter dem wenig spezifischen Motto „Living Legends“ und „Rising Stars“ startet.

Klassik und Jazz, Recitals, Liederabende, Kammer- und Orchesterkonzerte finden sich im außerordentlich vielfältigen Konzertangebot des Festivals, das vom Initiativkreis Ruhr gefördert wird. Das Klavier-Festival Ruhr 2019 rückt diesmal kein Land und keinen Komponisten in den Fokus, sondern richtet den Blick auf die Biografien seiner Künstler. So stellt es die Verbindungen zwischen den Generationen und zwischen Menschen verschiedener Herkunft her und schaut auch auf ein Weltbürgertum, das in der Musik wie im Leben seine Wurzeln kennt, aber seine Entfaltung jenseits zwischenstaatlicher Grenzen findet.

Das ausverkaufte Eröffnungskonzert am kommenden Dienstag, 7. Mai (im Anneliese Brost Musikforum Ruhr, Bochum), steht ungewollt exemplarisch für diese Verbindung. Ursprünglich sollte Menahem Pressler, einer der großen Pianisten unserer Zeit, das Festival eröffnen. Doch seine gegenwärtige gesundheitliche Verfassung lässt dies leider nicht zu. Daniel Barenboim übernimmt das Eröffnungskonzert und lässt es in Verbundenheit zu dem legendären Gründer des Beaux Arts Trios zu einer Hommage für seinen anwesenden Freund werden. Die Freundschaft geht zurück bis ins Jahr 1954, als der damals 31-jährige Menahem Pressler in Tel Aviv mit dem 12-jährigen Daniel Barenboim einen Duo-Abend gab.

Zum Glück noch keine Legende, sondern vitale Gegenwart: Krystian Zimerman kommt am 10. Mai in die Philharmonie Essen. Foto: Bartek Barczyk

Zum Glück noch keine Legende, sondern vitale Gegenwart: Krystian Zimerman kommt am 10. Mai in die Philharmonie Essen. (Foto: Bartek Barczyk)

Gleich in den ersten Tagen, am 10. Mai, spielt Krystian Zimerman eines seiner raren Konzerte in der Philharmonie Essen mit einem Brahms-Chopin-Programm. Mit Emanuel Ax im Anneliese Brost Musikforum Ruhr ist am 14. Mai eine weitere Klavier-Legende zu erleben. „Poetische Stimmungsbilder“ kreiert die Preisträgerin des Klavier-Festivals Ruhr 2018, Elena Bashkirova, mit Mozart, Dvořák und Bartok im Gustav-Lübcke-Museum Hamm am 19. Mai.

Im Konzerthaus Dortmund ist am 24. Mai mit Hélène Grimaud eine weitere angesehene Pianistin zu erleben. Nicht weniger aufregend werden wohl die Konzerte mit Größen wie Marc-André Hamelin am 5. Juni in Mülheim, Jean-Yves Thibaudet am 6. Juni in Wuppertal mit der deutschen Erstaufführung eines Orchesterwerks von Richard Dubugnon und dem Grandseigneur des Tastenspiels Grigory Sokolov in der Historische Stadthalle Wuppertal am 14. Juni. Evgeny Kissins Auftritt mit Beethoven-Sonaten am 3. Juli in der Essener Philharmonie ist so gut wie ausverkauft; auch die Konzerte von „Living Legends“ wie András Schiff am 2. Juli in Düsseldorf und Martha Argerich – mit dem Cellisten Mischa Maisky am 16. Juli in Essen – dürften das Publikum locken.

Till Hoffmann steht am Beginn seiner Karriere. Foto: Matthias Matthai

Till Hoffmann steht am Beginn seiner Karriere. (Foto: Matthias Matthai)

Die Nachwuchspianisten dieser Festival-Saison als Ausdruck des Mottos „Rising Stars“ zeigen die Vielfalt an Talenten und zugleich wohl den größeren Mut für ein breiteres Repertoire. So spielt der gebürtige Sizilianer Giuseppe Guarrera, der zugleich Stipendiat des Klavier-Festivals Ruhr 2018 ist, am 17. Juli im LEO Theater im Ibach-Haus in Schwelm selten aufgeführte Sonaten von Domenico Scarlatti sowie Werke von Ferruccio Busoni und Franz Liszt.

In den beiden Abo-Konzerten der Reihe „Die Besten der Besten“ stellen sich am 20. und 21. Juni im Haus Fuhr in Essen-Werden die Preisträger bedeutender internationaler Wettbewerbe, Changyong Shin und Nicolas Namoradze, mit ausgewählten Programmen vor. Sein Debüt beim Klavier-Festival Ruhr gibt auch der erst 23jährige Till Hoffmann am 15. Juni in Bottrop mit einem Programm, das über fünf Jahrhunderte reicht: von Bachs Englischer Suite Nr. 6 über Rachmaninow bis hin zu den so unterschiedlichen Variationszyklen von Brahms, Webern und dem jungen Jakob Raab, der in Karlsruhe bei Wolfgang Rihm Komposition studiert.

Das Festival vergibt auch regelmäßig Kompositionsaufträge. Rund 100 neue Werke wurden so in den letzten Jahren ur- und erstaufgeführt. Dieses Jahr steuert der Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr 2017, Philip Glass, ein neues Werk bei: Am 4. Juli erklingt im Salzlager des Zollvereins Essen die erste Klaviersonate des mittlerweile 82jährigen Amerikaners, gespielt von der mit der Musik Glass‘ seit Jahren vertrauten Pianistin Maki Namekawa.

In der Reihe der „Rising Stars“ finden sich auch Grenzgänger, die in den letzten Jahren immer wieder große Erfolge gefeiert haben, die aber ihren kontinuierlichen Willen zur Weiterentwicklung und ihre Beständigkeit noch unter Beweis stellen müssen. 2009 war Khatia Buniatishvili nur den Insidern der Klavierszene ein Begriff. Doch dann sprang sie für die erkrankte Kollegin Hélène Grimaud beim Klavier-Festival Ruhr ein und gab damit ihr Deutschland-Debüt. Es sollte der Startschuss für eine rasche Karriere sein. Heute – zehn Jahre später und bei ihrem 12. Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr am 4. Juni in der Philharmonie – gehört die Georgierin zu den aufregendsten Pianistinnen der Gegenwart. Im Konzert spielt sie ihren Paradekomponisten Franz Liszt.

Auch die Karriere von Joseph Moog ist schon lange mit dem Festival verbunden. Er ist bereits regelmäßiger Gast in großen Konzerthäusern etwa in Amsterdam, London und New York. Beim Klavier-Festival Ruhr ist der 31-Jährige bereits zum achten Mal zu erleben – in ununterbrochener Folge seit 2013. Seitdem hat er sich vom „Rising Star“ zu einem anerkannten Pianisten der jungen Generation entwickelt. Deshalb spielt er in diesem Jahr erstmals das Abschlusskonzert am 19. Juli in der Stadthalle Müllheim, für das er ein facettenreiches Programm zusammengestellt hat: mit Werken von Schubert, Brahms, Chopin und Ravel.

Eine frische Farbe in der JazzLine: Der 24jährige Tausendsassa Jacob Collier kommt nach Gelsenkirchen. Foto: Morgan Hill-Murphy

Eine frische Farbe in der JazzLine: Der 24jährige Jacob Collier kommt nach Gelsenkirchen. (Foto: Morgan Hill-Murphy)

Ebenso prominent besetzt ist die schon lange etablierte Jazz-Line. Till Brönner tritt mit seinen Partnern Jacob Karlzon und Dieter Ilg im Konzerthaus Dortmund am 5. Juli auf. Jacob Collier, der 24jährige Pianist, Sänger, Arrangeur und Komponist, den der englische Guardian einmal „Jazz’s new messiah“ nannte, hat in den letzten Jahren eine atemberaubende Karriere hingelegt. Sie begann 2011 mit selbstproduzierten YouTube-Clips, in denen er sämtliche Instrumente selbst spielte und sich per Multitrackingverfahren sogar in einen ganzen Chor verwandelte. Nun zeigt er sein Können am 8. Juli im Musiktheater im Revier.

Was wäre ein Klavier-Festival ohne die großen Klavierkonzerte? Der 1. Preisträger des Chopin-Wettbewerbes, Rafał Blechacz, präsentiert gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung des renommierten Dirigenten Christoph Eschenbach das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 24 von Wolfgang Amadeus Mozart. Das letzte Klavierkonzert von Mozart in B-Dur (KV 595) ist der Hauptprotagonist im Konzert mit Lars Vogt und der Neuen Philharmonie Westfalen in der Erich-Göpfert-Stadthalle in Unna am 9. Juli.

Leider fehlt in diesem Jahr eine gewisse Würze aus thematischen Bezügen. So hätte es einem Klavier-Festival gut angestanden, den 200. Geburtstag der Komponistin und damals legendären Klavierspielerin Clara Schumann nicht zu ignorieren.

Tickets sind telefonisch unter der Hotline (0221) 280 220 erhältlich oder können im Internet gebucht werden: www.klavierfestival.de

 




Farben, Tänze und Etüden: Die Pianistin Beatrice Rana interpretiert in Essen Werke von Chopin, Ravel und Strawinsky

Die junge italienische Pianistin Beatrice Rana gab ein sehr eindrucksvolles Debüt in der Essener Philharmonie. (Foto: Marie Staggat)

Mit der jungen italienischen Pianistin Beatrice Rana erobert eine Neue Sachlichkeit die Konzertpodien. Der Befund gilt ihrer Außendarstellung, die so gar nichts von Gehabe hat.

Die Künstlerin wirkt ernst und konzentriert, doch münzt sie das nicht um in körperliche Akrobatik oder introvertiertes Abkapseln. Weder müssen die Hände unsichtbaren Girlanden nachspüren, noch spinnt Rana einen Kokon zum Zwecke des Abtauchens in einen Zustand der Trance. Stattdessen Schnörkellosigkeit, uneitles Interpretieren, Virtuosität wie naturgegeben. Und natürlich Emotion, Gestaltungskraft, kluge Gewichtung musikalischer Proportionen.

Jetzt hat Beatrice Rana in der Philharmonie Essen debütiert. Als leidenschaftliche Musikerin, die das Material beherrscht, ohne dabei eine das Spiel hemmende Dauerkontrolle zu benötigen. Die am Beginn, mit den 12 Etüden op. 25 von Frédéric Chopin, nichts überhitzt, sowieso jeden Kitsch meidet, den Komponisten vielmehr aus den Salonmusikklischees heraushebt.

Souverän fließt ihr alles technisch Vertrackte aus den Fingern, sodass sich der Fokus ganz auf den Gehalt dieser „Übungsstücke“ richten kann. Rana entdeckt hier die geradezu orchestrale Wucht mancher Passagen, lässt Diskantfigurationen bisweilen aufschimmern, als sei Chopin ein früher Wegbereiter des Impressionismus, und illustriert nicht selten den Revolutionston des polnischen Komponisten, dessen Land immer wieder, oft vergebens, gegen Okkupanten rebellierte.

Rana muss sich allerdings in ihre Interpretation erst einschwingen. Am Beginn steht viel gleichförmiger Fluss und wenig Kontur. Doch stets schwebt über allem eine sehnige Spannung, herausgekitzelt durch dynamische Variabilität. Der motivisch-thematische Verlauf wird schnell klarer und unschön manierierte Rubati bleiben außen vor. Manche Zuspitzung aus der Abteilung Attacke verweist direkt auf Liszt, andererseits haben wir die Schlusswendungen einiger Etüden, pendelnd zwischen Lakonik und melancholischer Subtilität, selten so berührend ausformuliert gehört.

Gleichwohl ist Chopins Musik nicht von transzendenter Natur. Um in diese Sphären vorzurücken, bedarf es etwa der Miroirs eines Maurice Ravel. Interpretiert von einer Solistin, die im rechten Moment die Zeit anzuhalten vermag. Beatrice Rana zeigt sich hier von ihrer sensiblen Seite, mit Sinn für die Klangfarbe. Wie mäandernde Gebilde stehen diese „Spiegelungen“ im Raum, tönende Reflexionen diffuser Bilder wie „Nachtfalter“ oder „Traurige Vögel“. Griffiger im doppelten Sinne ist hingegen das mit spanischem Kolorit ausgezierte Stück „Alborada del gracioso“, jenes „Morgenständchen eines Narren“, das markante Akkorde mit den rezitativischen Linien des andalusischen Cante jondo mischt. Aus diesem Ineinandergreifen schöpft die Solistin die Spannung dieser Miniatur, ohne jedoch in einen auftrumpfenden Machismo abzugleiten.

Beatrice Ranas programmatischer Weg führt vom polnischen Emigranten Chopin im mondänen Paris über Ravel, der annähernd sein ganzes Leben in der französischen Metropole verbrachte, hin zum Russen Igor Strawinsky, der eben dort 1910 seinen „Feuervogel“ in die Welt setzte. Und über allem schwebt, in mehr oder weniger erfahrbarer Intensität, das Flair des Impressionismus. In Strawinskys Suite, von Guido Agosti für Klavier gesetzt, zeugt die Berceuse von jener Macht der zarten Andeutung. Doch Rana lässt es zunächst ordentlich krachen: Der „Danse infernale“ entpuppt sich unter ihren Händen als wahrhafter Höllenritt, wenn auch auf Kosten einer verwischten musikalischen Struktur. Fast majestätisch gelingt der Pianistin hingegen das machtvolle Finale.

 

 




Dortmund im Juni: Kunst, Kultur und Kabarett beim Evangelischen Kirchentag

Wiederkehr zum Kirchentag: Pop Oratorium „Luther", hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015 – mit Frank Winkels (Mitte) in der Titelrolle. des Reformators.

Zum Kirchentag wieder zu erleben: das aufwendige Pop-Oratorium „Luther“ – hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015, mit Frank Winkels (vorn Mitte) in der Titelrolle des Reformators. (© Stiftung Creative Kirche, Witten)

Vier Bundespräsidenten, neben dem amtierenden drei seiner Vorgänger, die Bundeskanzlerin, der NRW-Ministerpräsident, zahlreiche Bundes- und Landesminister, sie alle haben zwischen dem 19. und 23. Juni Termine in Dortmund. Während der fünf Tage ist die Stadt Gastgeber des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags, der mit geballter Polit-Prominenz aufwartet.

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hält einen der Hauptvorträge und befasst sich mit „Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne“, Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht über die Frage „Vertrauen als Grundlage internationaler Politik?“ NRW-Ministerpräsident Armin Laschet findet sich zur Bibelarbeit ein, Bundesaußenminister Maas diskutiert mit Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, wie es sich mit der Verantwortung Deutschlands zum Schutz von Frauen und Kindern verhält – und Arbeitsminister Hubertus Heil erörtert mit Verdi-Chef Frank Bsirske, wie es um den Wert der Arbeit bestellt ist.

Insgesamt 2500 Veranstaltungen

Die Auftritte der Politiker sind Teil eines Programms mit rund 2.500 Veranstaltungen. Täglich werden rund 100.000 Besucher erwartet. Neben Debatten und Podiumsgesprächen gehören Gottesdienste, Workshops und Konzerte ebenso dazu wie Ausstellungen und Installationen. Kulturelle Angebote machen mit rund 600 Veranstaltungen fast ein Viertel des Programms aus. Mit dabei sind z. B. die Schauspielerin und Sängerin Anna Loos, der Musiker und Songwriter Adel Tawil, die Band Culcha Candela und das Bundesjugendjazzorchester. Konzertbühnen werden auf dem Hansa- und Friedensplatz sowie dem Alten Markt stehen.

Das „Depot“ an der Immermannstraße soll zu einer „Kulturkirche“ werden. Die Schwerpunktthemen sind hier Heimat und Kunstfreiheit. Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Programmchef des Deutschland Radio Kultur, Hans-Dieter Heimendahl, der Intendant der Ruhrfestspiele, Olaf Kröck, und Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), sind zu Gesprächsrunden eingeladen. Das Programmkino des Depots zeigt eine Reihe von aktuellen Filmen, unter anderem „The Cleaners – Im Schatten der Netzwelt“. Die Dokumentation berichtet über die Arbeit Zehntausender von Menschen, die im Auftrag von Internetkonzernen belastende Fotos und Videos auf den Portalen von Facebook, Twitter etc. löschen. Darüber hinaus wird der Regisseur Züli Aladag über seinen Film „Die Opfer – Vergesst mich nicht!“ sprechen, der sich mit den NSU-Morden befasst.

Vertrauen auch als literarisches Thema

Im Freizeitzentrum West (FZW) an der Ritterstraße gibt‘s Kabarett aus der und über die Kirche, die Gruppe Klangwerk aus Bayreuth bringt Deutschpop zu Gehör, der Dortmunder Liedermacher Fred Ape ist zu Gast und zudem wird die Veranstaltungsstätte Ort für einen Techno-Gottesdienst sein, Thema: „Menschenrechte – Gottes Wort!?“ Eine bunte Musikvielfalt bieten zahlreiche Songwriter im „domicil“ an der Hansastraße, in dem auch abends um 22.30 Uhr ein kabarettistischer Tagesrückblick gehalten wird. In den Westfalenhallen wird sich der Kabarettist Serdar Somuncu an einer Runde zur #MeToo-Debatte beteiligen. Eckhardt von Hirschhausen diskutiert mit Jugendlichen über Klima und Umwelt.

Im Industriemuseum Zeche Zollern (Stadtteil Bövinghausen) setzt sich unter dem Leitgedanken „Erinnern, Begegnen, Bedenken“ eine Ausstellung mit der Geschichte des Reviers auseinander. Darüber hinaus sind Aufführungen vorgesehen, die weltweite historische Ereignisse eingehen. Das Hoesch-Museum zeigt eine Ausstellung, die dem Thema „Migration und Religion im Ruhrgebiet“ gewidmet ist.

Da der Kirchentag das Motto „Was für ein Vertrauen“ trägt, steht auch das Literaturfest der Großveranstaltung unter dieser Losung. Zahlreiche Autoren aus der Region lesen aus ihren aktuellen Büchern passende Passagen. Nachmittags ab 15 Uhr sind Kinder eingeladen, sich zu einem Mitmachprogramm einzufinden, Zeit für Erwachsene nehmen sich Frank Goosen, Sarah Meyer-Dietrich, Ralf Thenior und weitere Autoren ab 19 Uhr.

Gewaltiges Pop-Oratorium über Luther

Freunde elektronischer Musik können sich auf die Uraufführung der Kammeroper „Nova – Imperfection Perfection“ des zeitgenössischen Komponisten Franz Danksagmüller freuen. Das Pop-Oratorium „Luther“ mit 2.000 Mitwirkenden erlebt eine weitere Aufführung am 20. Juni in den Westfalenhallen.

Während der gesamten Dauer des Kirchentages ist am Fredenbaumplatz eine Installation aus Klang und Licht zu sehen, die die evangelische Jugend aus dem Osten Berlins geschaffen hat. Die Klanginstallation Kuckucksuhrenorgel des Künstlers Erwin Stache, wird am Donnerstag von 10 bis 22 Uhr zwei Mal pro Stunde an St. Nicolai (Lindemannstraße) zu hören sein. Südkoreanische Künstler stellen ein Projekt vor, das das Thema Frieden in den Fokus rückt. Darüber hinaus öffnen Museen ihre Türen. Im Dortmunder U ist eine interaktive Ausstellung zur Skate-Kultur zu sehen.

Mit drei Gottesdiensten (am Ostentor, auf dem Hansa- und dem Friedensplatz) wird der Kirchentag am 19. Juni eröffnet, gefolgt vom Willkommensfest, das die Stadt und die Evangelische Landeskirche von Westfalen ausrichten. Der Abschluss erfolgt im Westfalenpark und im Westfalenstadion („Signal Iduna-Park“).

Infos unter https://www.kirchentag.de/




Ernste Gesänge: Angela Denoke und Hendrik Heilmann in der Reihe „Große Stimmen“ in der Philharmonie Essen

Angela Denoke erhielt ihr erstes Engagement am Theater Ulm. Weitere Stationen führten über Stuttgart und Wien zur großen internationalen Karriere. (Copyright: Johan Persson)

Auf der Opernbühne verkörpert sie häufig traumatisierte Frauen: Salome, Kundry, Jenufa, Katja Kabanova, die Marie aus Alban Bergs „Wozzeck“, die „Lady Macbeth von Mzensk“ von Schostakowitsch. Angela Denoke mag die abgründige Tiefe dieser Figuren, die Kraft ihrer Geschichten, die in Verbindung mit der Musik einen nachgerade unwiderstehlichen Sog entwickeln. Die Sängerin mit der rotblonden Kurzhaarfrisur und der norddeutschen Ausstrahlung – sie wurde 1961 in Stade bei Hamburg geboren – feierte mit ihren intensiven Rollenporträts weltweit triumphale Erfolge.

In der Philharmonie Essen war Angela Denoke zuletzt im Herbst 2018 in Arnold Schönbergs „Erwartung“ zu erleben. Nun kehrte sie als Liedinterpretin zurück, in der Reihe „Große Stimmen“, begleitet von dem Berliner Pianisten Hendrik Heilmann. Nachgerade vorösterlich geprägt schien die Werkauswahl der beiden Künstler. Die „Vier ernsten Gesänge“ von Johannes Brahms, die von letzten Dingen und der Eitelkeit alles Irdischen künden, gaben dabei den Weg vor. Nebenstraßen führten zu Alexander von Zemlinsky, Richard Strauss und Alban Berg.

Zentrale Bibelstellen hat Brahms in seinen „Vier ernsten Gesängen“ vertont. Texte wie „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh“ oder „O Tod, wie bitter bist du“ inspirierten den Komponisten ein Jahr vor seinem Ableben zur musikalischen Bußübung, zum klingenden Lebewohl von dieser Welt. Angela Denoke trägt das ruhig schwingend vor, mit innigem Gespür für die tiefe Religiosität dieser Musik. Unterstützt von Hendrik Heilmann, der den anspruchsvollen Klavierpart zu atmosphärischer Dichte webt, steigt sie in die staunenswerten, volltönenden Tiefen ihres Stimmregisters hinab. Dabei erreicht sie einen Ausdruck von Wahrhaftigkeit, der alle Emotion hinter sich lässt – sogar die im Text formulierte Bitternis.

Denokes Mittellage ist so reich wie ihre Gestaltung schnörkellos. Das kommt den Liedern Alexander von Zemlinskys zugute, deren Wehmut und Melancholie sich fern aller Larmoyanz entfalten können. Ein Kunststück auch, wie die Sängerin „Geduld“ von Richard Strauss mit einem verhaltenen, aber intensiven Drängen erfüllt. Sich vom Grabesdunkel in lichte Höhen aufzuschwingen, bereitet ihr dabei leichte Probleme. Indes ist die teils etwas tief angesetzte Intonation sofort vergessen, wenn Gottfried Heinrich Stölzels „Bist du bei mir“ in balsamischer Schönheit dahin strömt. Das ehemals Johann Sebastian Bach zugeschriebene Stück (BWV 508) umhüllt den Hörer mit samtiger, vollkommener Harmonie.

Mehr Licht gönnt uns der zweite Teil des Abends, in dem es vor allem der Liebe gilt. In „Rote Rosen“ und „Die erwachte Rose“ beweist die Kammersängerin der Wiener Staatsoper ihre große Strauss-Kompetenz. Üppig und farbenreich rauscht das auf, ohne Höhenprobleme, dafür mit einem abgeklärten Glücksleuchten in „Freundliche Vision“. Stilsicher bereitet Hendrik Heilmann Rosen und Nachtigall eine duftige Klangkulisse, ohne ins Parfümierte abzugleiten. Aus vier weiteren Brahms-Liedern tönt die Wehmut wie ein fernes Echo. Dann legen Denoke und Heilmann blitzschnell einen Schalter um. Keck und leicht kommt ein Frühlingslied von Alban Berg daher. Mit changierenden Farben lockt Bergs „Das stille Königreich“, während Liebesglück und -leid in „Fraue, du Süße“ überströmend sinnlich besungen wird.

Den Schlusspunkt unter diesen Abend sollte Johannes Brahms mit seiner Vertonung aus dem „Hohelied der Liebe“ setzen. Aber die Künstler gönnen ihrem Publikum zwei Zugaben, die an den ernsten Beginn des Abends erinnern: „Allerseelen“ von Richard Strauss und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ von Gustav Mahler. Die Denoke lässt ihre Stimme ins Nichts gleiten: still und gänzlich unprätentiös.

(Am So. 12 Mai setzen Christiane Karg, Thomas Quasthoff und Justus Zeyen die Reihe „Große Stimmen“ fort. Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/christiane-kargthomas-quasthoffbelles-amours-83658/)




Zweifel und Bekenntnis: Adam Fischer dirigiert in Düsseldorf Mahlers „Auferstehungs-Symphonie“

Bekenntnisse sehen anders aus. Sie haben vielleicht den erhabenen Ernst, mit dem Joseph Haydn die „Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ umkleidet. Nicht aber den grellen Zweifel des „wüsten Traums“, der das Leben durchdringt, und den Gustav Mahler in einer programmatischen Erläuterung zu seiner Zweiten Symphonie erwähnt.

Der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf und die Düsseldorfer Symphoniker unter Adam Fischer in der Tonhalle. ©Tonhalle Düsseldorf/Susanne Diesner Fotografie

Der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf und die Düsseldorfer Symphoniker unter Adam Fischer in der Tonhalle. ©Tonhalle Düsseldorf/Susanne Diesner Fotografie

Und doch klingt im letzten Satz eine geradezu verzweifelt festgehaltene Zuversicht in der ätherischen Schönheit des Chorgesangs mit: In heißem Liebesstreben entschweben zum Licht, in das kein Aug‘ gedrungen. Hier dichtet Mahler selbst – und was man auch immer über seinen Wechsel zur katholischen Konfession raunt: Was der Komponist hier in unerhörten, Glaubensgewissheit verströmenden Klang fasst, sind persönliche Worte, die von seinem Fühlen und Denken nicht zu trennen sind.

Adam Fischer steigert diesen letzten Satz der c-Moll-Symphonie ins Monumentale, ohne ihn zu bloßer musikalischer Überwältigung degenerieren zu lassen. Wie er überhaupt in diesem vorletzten Mahler-Konzert seines Düsseldorfer Haydn-Mahler-Zyklus eine mustergültig beherrschte Auffassung zeigt: Er pflegt weder den technizistisch geglätteten, perfekt polierten Mahler-Sound moderner Breitband-Dirigenten, noch reißt er die Faktur der Symphonie in wilder, greller Übersteigerung auf. In der Zweiten sind die Märsche und Tänze weit weniger grotesk oder ironisch als in anderen Mahler-Symphonien, die Unruhe ist nicht so kantig formuliert, die lyrischen Teile sind eher von Wehmut und Schmerz als von Sarkasmus geprägt. Fischer hält in allem Maß, ohne unverbindlich zu werden.

Adam Fischer. Foto: Tonhalle, Susanne Diesner

Die Düsseldorfer Symphoniker finden unter Fischers Stab zu „böhmischen“ warmen Klangfarben, etwa im zweiten Satz mit seiner weichen, beinah zärtlichen Ländler-Erinnerung. Da tönt eine Bruckner’sche Idylle herüber, sacht und ohne Ironie. Die dramatisch gesteigerten Trios wirken – inklusive kraftvoller Harfen – scharf zugeschnitten, aber nicht katastrophisch gesteigert. Den Beginn des fünften Satzes mit seiner „wild herausfahrenden“ Streicherfigur bringt Fischer in Bezug zu dem schneidend forsch formulierten Motiv der tiefen Streicher in der Exposition des ersten Satzes; er arbeitet mit dem vortrefflich flexibel agierenden Orchester die Kontraste aus, steigert gelassen, majestätisch und unerschütterlich hin zu den dröhnenden Tutti-Schlägen, welche die Akustik der Tonhalle dann endgültig klirrend überreizen.

Und dann tritt der Chor ein, wie aus einer anderen Welt, ein allmählich sich artikulierendes Pianissimo, rein und licht. Der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf leistet sich keine Trübung des Klangs, keinen Schorf in der Artikulation. Groß und leuchtend formuliert er den Appell Mahlers: „Bereite dich, zu leben“, bevor die Solisten Nadine Weissmann (Alt) und Tünde Szabóki (Sopran) den bezwungenen Tod besingen. „Tod, wo ist dein Sieg?“, fragt auch die christliche Osterliturgie. In diesem Moment ruht der Zweifel, der sich vorher – kaum hörbar von fern – doch immer wieder eingemischt hat, und sei es nur als ein Nachhall einer Welt, die jetzt in leuchtender Musik überwunden ist. So kommt Mahler am Ende dann doch zum Bekenntnis seines Sehnens „über die Dinge dieser Welt hinaus“.

Das letzte Mahler-Konzert des Zyklus mit der Sechsten Symphonie und Haydns f-Moll-Symphonie Nr. 49 findet am 28. Februar und 1./2. März 2020 statt. Abgeschlossen wird der Zyklus mit Joseph Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ am 15./17./18. Mai 2020 in der Tonhalle Düsseldorf. Info: www.tonhalle.de

 




Nächste Spielzeit in der Düsseldorfer Tonhalle: Junge Dirigenten, Finale beim Mahler-Zyklus, musikalischer Humor

Die Tonhalle Düsseldorf. Foto: Werner Häußner

Die Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Werner Häußner)

Das Abo lebt. Davon ist jedenfalls Tonhalle-Intendant Michael Becker überzeugt. Mit einem gründlich renovierten System von Abonnements ist es den Düsseldorfern gelungen, innerhalb von vier Jahren die Zahl ihrer Abo-Kunden mehr als zu verdoppeln und in dieser Spielzeit mit 5.200 noch einmal gut 200 mehr als im letzten Jahr zu gewinnen.

Möglich wird dieser Aufschwung durch flexiblere Angebote: Wer sich für einen Dauerplatz entscheidet, muss nicht zwölf Mal im Jahr ins Konzert gehen, sondern kann sich mit dem Sieben- oder dem Fünf-Sterne-Abo auf die entsprechende Zahl musikalischer Abende beschränken. Auch die Kammermusik – inzwischen regelmäßig im großen Mendelssohn-Saal – und das lockere Format „Ehring geht ins Konzert“ mit dem Kabarettisten gleichen Namens sind im Abo zu buchen.

Christian Ehring übrigens, so wurde angekündigt, nimmt ein Sabbatical und schickt dafür gute Freunde in den Ring: Marco Tschirpke, René Heinersdorff, Martin Zingsheim, Torsten Sträter und Anke Engelke werden die Konzerte moderieren – für Freunde des Genres also eine Gelegenheit, den jeweiligen Musik-Humor der Protagonisten zu genießen.

Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Programms der Tonhalle und der Düsseldorfer Symphoniker 2019/20 (von links): Uwe Sommer-Sorgente (Dramaturg Tonhalle), Hans-Georg Lohe (Kulturdezernent Landeshauptstadt Düsseldorf), Alexandre Bloch (Dirigent), Michael Becker (Intendant Tonhalle). Foto: Susanne Diesner

Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Programms der Tonhalle und der Düsseldorfer Symphoniker 2019/20 (von links): Uwe Sommer-Sorgente (Dramaturg Tonhalle), Hans-Georg Lohe (Kulturdezernent Landeshauptstadt Düsseldorf), Alexandre Bloch (Dirigent), Michael Becker (Intendant Tonhalle). (Foto:  Tonhalle / Susanne Diesner)

Bei allen Erfolgen: Kunst lebt nicht von Zahlen, und so verwies Tonhallen-Dramaturg Uwe Sommer-Sorgente auf einige spannende Linien und Ereignisse der kommenden Spielzeit 2019/20. Das Orchester zeigt sich offen für junge und (noch?) nicht am Jet-Set-Karussell beteiligte Dirigenten.

David Reiland etwa dirigiert beim Konzert mit dem Chor des Städtischen Musikvereins mit Alexander von Zemlinskys 13. Psalm und Robert Schumanns Zweiter Symphonie am 4./6./7. Oktober. Reiland ist Chefdirigent in Metz und Lausanne und regelmäßig an der Opéra in Saint Etienne tätig und hat eine beeindruckende Liste von Assistenzen anzuführen, u.a. bei Pierre Boulez, Dennis Russell Davies, Mariss Jansons, Simon Rattle und Sir Roger Norrington. Sein Interesse an Ungewöhnlichem zeigt sich etwa in einer Aufnahme in Zusammenarbeit mit dem Entdeckungs-Zentrum für die französische Romantik Palazzetto Bru Zane mit sinfonischen Werken von Benjamin Godard.

Aber auch andere Namen stehen auf der Liste: Jesko Sirvend etwa, einst Student in Köln, jetzt am Orchestre National de France und in Düsseldorf kein Unbekannter dirigiert Jean Sibelius‘ Fünfte und zwei Rhapsodien – die berühmte in Blue von George Gershwin und die auf ein Paganini-Thema von Sergej Rachmaninow mit Kirill Gerstein am Flügel (13./15./16. Dezember). Oder Joana Mallwitz, GMD in Nürnberg, eine in letzter Zeit stark beachtete Dirigentin. Sie kommt am 10./12./13. Januar 2020 mit Franz Schuberts „Unvollendeter“ und dem Zweiten Violinkonzert von Dmitri Schostakowitsch mit dem Geiger Vadim Gluzman.

Alpesh Chauhan, der im April 2018 ein „fulminantes“ Deutschland-Debüt bei den Düsseldorfer Symphonikern gegeben hatte, kehrt zurück und dirigiert Antonín Dvořáks Siebte und das Cellokonzert. Chauhan, Chefdirigent der Filarmonica Arturo Toscanini im italienischen Parma, ist selbst Cellist – so dürfte die Zusammenarbeit mit dem Solisten Pablo Ferrández ein spannendes Ergebnis zeitigen (31. Januar/2./3. Februar 2020). Chauhan leitet auch das Neujahrskonzert der Düsseldorfer Symphoniker am 1. Januar 2020.

Adam Fischer. (Foto: Tonhalle / Susanne Diesner)

Seinem Abschluss strebt der Haydn-Mahler-Zyklus mit Adam Fischer entgegen: Am Ende steht Haydns Hommage an die Offenbarung Gottes in der Natur. „Die Jahreszeiten“ erklingen am 15./17./18. Mai 2020. Mit der Sechsten wird am 28. Februar und 1./2. März 2020 die Serie der Mahler-Symphonien abgeschlossen; dazu gesellt sich Haydns Nr. 49.

Eine Rarität präsentiert Axel Kober am 24./26./27. April gemeinsam mit Felix Mendelssohn Bartholdys „Schottischer“ Symphonie und Brittens „Sea Interludes“: ein Konzert für zwei Harfen des 1808 in Devonshire/England geborenen Harfenvirtuosen Elias Parish Alvars. Der bereits 1849 in Wien gestorbene Alvars war Kaiserlicher Kammervirtuose und Solist an der Wiener Hofoper und genoss in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts einen internationalen Ruf als Harfenist, der die moderne Spieltechnik auf dem Instrument mit entwickelte.

Auch ein Blick auf die Kammermusik lohnt: Zur Eröffnung der „Raumstation“-Reihe treffen sich am 30. Oktober so glanzvolle Solisten wie Bertrand Chamayou (Klavier), Daniel Müller-Schott (Cello) und Sabine Meyer (Klarinette) und spielen Beethoven und das d-Moll-Trio Alexander von Zemlinskys. Am 2. Dezember musizieren Elisabeth Leonskaja und das Jerusalem Quartet Werke von Mozart, Dvořák und die Fünf Stücken für Streichquartett von Erwin Schulhoff. Seltenes aus der Feder des Jahresjubilars Ludwig van Beethoven spielen am 4. Februar 2020 „Les Vents Français“, ein Quintett mit so klingenden Namen wie Francois Leleux (Oboe), Paul Meyer (Klarinette), Gilbert Audin (Fagott) Radovan Vlatković (Horn) und Eric Le Sage (Klavier).

Eine „Sternstunde“ will das Bach Collegium Japan bereiten, das am 14. März 2020 die Johannes-Passion des Thomaskantors aufführen wird. Und unter dem Titel „X-Mas Contemporary“ haben sich der Bariton Dietrich Henschel und das ensemble unitedberlin etwas Originelles einfallen lassen: Zwölf Komponistinnen und Komponisten aus unterschiedlichen kulturellen und religiösen Traditionen haben Weihnachtsstücke geschrieben, die am 17. Dezember erklingen.

Infos auf der Seite www.tonhalle.de unter den Reitern Reihen und Abos.




Steinbruch und Hölle: Yannick Nézet-Séguin dirigiert in Dortmund Werke von Mahler und Schostakowitsch

Gern gesehener Gast im Dortmunder Konzerthaus: Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin am Pult des Rotterdam Philharmonic Orchestra. Foto: Hans van der Woerd

Am Beginn stand der fast manische Tatendrang, die hemdsärmelige Attitüde, eine Leidenschaft zudem, die sich in gewaltiger Körperlichkeit ausdrückte. Das war im Jahr 2008, als der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin erstmalig im Dortmunder Konzerthaus gastierte und wirkte, als sei das Agieren am Pult Schwerstarbeit, um eine wuchtige Orchestermaschinerie in Gang zu setzen und unter Dampf zu halten.

Schnell, in seiner unverwechselbaren Mischung aus Dynamik und Charme, wurde der Musiker zu Publikums Liebling. Unter den Fittichen von Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa hat Yannick, wie er im Stile der Dortmunder Kumpelmentalität gern genannt wird, indes eine ziemlich spannende Entwicklung vollzogen: vom jungenhaften musikalischen Bilderstürmer zu einem ernsteren, ja abgeklärteren Orchestermotivator. Natürlich lodert da noch das alte Feuer, gleichzeitig jedoch hat sich sein Blick für Details geschärft, setzt er mehr auf Transparenz denn auf vordergründige Knalleffekte.

Nézet-Séguin kam 2008 mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra, dessen Chef er damals gerade geworden war. Im Gepäck hatte er Musik von Händel, Beethoven, Ravel und Strawinsky – eine über drei Jahrhunderte gespannte Mixtur ohne strengen dramaturgischen Überbau. Nun aber sind Dirigent und Orchester nach Dortmund zurückgekehrt, um die sinfonischen, spätromantischen Muskeln spielen zu lassen. Mit Gustav Mahlers „Totenfeier“ und Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie („Babi Yar“) zieht das Düstere, Melancholische, Sarkastische ins Konzerthaus ein, zudem eine gewisse monströse Übersteigerung. Mahler, der große Weltenzimmerer, trifft auf Schostakowitsch, den politisch verstrickten Meister des Kommentierens aus dem Geiste der Musik.

Gleichwohl fehlt bei diesem Programm die klare Verklammerung. Richtig ist zwar, dass der Russe den tönenden Kosmos des aus Böhmen stammenden Österreichers überaus schätzte, doch zu verschieden sind eigentlich beider Sprachen. Mahlers Naturlaute, Durchbrüche, Raumklänge, derbe Folklore und seine Hinwendung zum Transzendenten sind etwas anderes als Schostakowitschs rhythmische Bruitismen, gefahrvolle dunkle Streicherlinien oder die markigen Schreie in gleißend hoher Lage. Darüberhinaus ist mit „Totenfeier“ nichts anderes gemeint als eine Frühfassung des ersten Satzes der „Auferstehungssinfonie“.

Großer Applaus für eine tolle Interpretation von Schostakowitschs groß besetzter 13. Sinfonie. Foto: Konzerthaus Dortmund

Wir befinden uns also in Mahlers Steinbruch, etwa 20 Minuten lang, um dann in die Konzertpause entlassen zu werden. Was folgt, umschreiben wir mutig mit dem Begriff Schostakowitschs Hölle: „Babi Yar“ erzählt von (russischem) Antisemitismus, vom Witz, der den Mächtigen ein Dorn im Auge ist, von Armut und (Kriegs)-Angst, schließlich von unfähigen Karrieristen. Jewgeni Jewtuschenko, kritischer und von der Obrigkeit drangsalierter Kopf zu Sowjetzeiten, verfasste die lyrischen Texte. Der Komponist schrieb dazu ein massiges Werk in fünf Sätzen, für Bass-Männerchor, solistischem Bass und Orchester. „Babi Yar“, der Kopfsatz, reflektiert das Massaker in der gleichnamigen Schlucht nahe Kiew, bei dem 1941 etwa 34 000 jüdische Menschen von der Gestapo und ukrainischen Kollaborateuren ermordet wurden.

Schostakowitsch wusste, was er hier komponiert hatte. Vor allem sein Leben unter Stalins Herrschaft war geprägt von Ängsten, materieller Not, vom Zwang, sich zumindest in gewissem Umfang anzupassen. In der „Babi Yar“-Sinfonie spiegeln sich diese Nöte, mithin Schostakowitschs Hölle, beinahe exemplarisch wieder. Entsprechend emotional aufgeladen gerät die Interpretation des Werks im Konzerthaus, mit dem fulminanten (Männer)-Chor des Bayerischen Rundfunks und dem Bassisten Mikhail Petrenko. Schnell finden sie den richtigen Ton, in markiger, wuchtiger, äußerst plastischer Artikulation, pendelnd zwischen Grabesstimmung, Melancholie und beißendem Spott (in teils idyllischer Tarnung).

Mikhail Petrenko, ein markiger Bass von Format. Foto: Alexandra Bodrova

Das Rotterdamer Orchester wiederum lässt das Schlagwerk nach russischer Revolution klingen, unterfüttert vom Furcht transportierenden, nervösen Raunen der (tiefen) Streicher, lässt die Bläser schreien oder elegisch klagen, findet dabei dennoch zu einem ziemlich transparenten Klangbild. Yannick Nézet-Séguin hält alle Fäden des musikalischen Verlaufs gut zusammen, mit Übersicht und Energie. Mikhail Petrenkos Stimme ist in der Tiefe so schwarz wie in hoher Lage geschmeidig. Und der Chor singt mit großer Kraft und feinem rhythmischen Gespür. Die Aufführung ist ein beeindruckendes Erlebnis, hinter dem Mahlers „Totenfeier“ klar zurückfällt. Sperrig und etwas spröde in seiner Formsprache, fehlt in diesem Sinfoniesatz-Vorläufer zudem die Farbe der tiefen Harfen, die perkussive Wucht und die räumliche Dimension der Klangexplosionen. Vielleicht wäre die Verzahnung beider Komponisten besser gelungen mit den unsagbar traurigen Kindertotenliedern zu Beginn.

 




Wir-Gefühl durch die Musik? Dortmunder Festival „Klangvokal“ will sich am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen

Titelmotiv des Klangvokal-Programmbuchs (©Sandra Spitzner_gerasimov174_shutterstock_1019676943)

Titelmotiv des „Klangvokal“-Programmbuchs (© Sandra Spitzner_gerasimov174_shutterstock_1019676943)

Ohne Motto geht es nicht mehr. Ein solches signalisiert Gedankentiefe, höhere Zusammenhänge, dramaturgische Kompetenz. Das Festival „Klangvokal“ in Dortmund mag da nicht zurückstehen: „Wir!“ steht in diesem Jahr über der elften Ausgabe vom 16. Mai bis 16. Juni.

Wo allerdings die Bedeutung dieses selbst bei wohlwollender Betrachtung ziemlich lapidaren Leitthemas liegen soll, wird nicht klar. Man wolle sich am aktuellen gesellschaftlichen Diskurs über Gemeinschaft und Solidarität beteiligen, heißt es. Nun denn! Die innere Spannung zwischen Ich und Wir, zwischen Uns und Euch, steckt in so ziemlich jeder Musik, von der virtuosen Bravourarie bis hin zum üppigen Klangfeld, in dem Einzelnes nicht mehr wahrnehmbar ist.

Entsprechend bunt gemischt sind auch die knapp zwei Dutzend Veranstaltungen. Wer der Oper den ersten Rang einräumt, wird sich auf Georges Bizets „Les Pêcheurs de Perles“ am 31. Mai im Konzerthaus freuen – eine Oper, die derzeit noch am Musiktheater im Revier in einer ambitionierten szenischen und musikalischen Realisation zu sehen ist.

Ekaterina Bakanova singt in George Bizets "Perlenfischern". Foto: Georg List

Ekaterina Bakanova singt in George Bizets „Perlenfischern“. (Foto: Georg List)

Ob die „internationale Topbesetzung“ mit der Russin Ekaterina Bakanova (Sopran), dem Italiener Francesco Demuro (Tenor) und dem US-Amerikaner Lucas Meachem (Bariton) der Musik Bizets stilistisch gewachsen ist, wird man hören.

Auftakt am 16. Mai gehört der Oper

Auch der Auftakt des Festivals gehört der Oper. Am 16. Mai singen Anna Pirozzi (Sopran), in Deutschland selten zu erleben, dafür im Sommer in der Arena di Verona und im Herbst als Lady Macbeth an der Met, und Teodor Ilincai (Tenor), zuletzt in „Madama Butterfly“ an der Wiener Staatsoper, „unsterbliche“ Arien und Duette – und man darf davon ausgehen, dass die üblichen Reißer das Publikum im Konzerthaus in Raserei versetzen.

Weniger populär, dafür mit subtileren Noten, verspricht die konzertante Aufführung von Georg Friedrich Händels früher Oper „Agrippina“ am 8. Juni im Orchesterzentrum NRW ein Genuss für Liebhaber zu werden: Christophe Rousset bringt das exzellente Ensemble Les Talens Lyriques mit; in der Titelrolle debütiert die spanische Mezzosopranistin Maite Beaumont.

Noch zwei Mal Händel hat das „Klangvokal“-Festival im Programm: Die Mezzosopranistin Vivica Genaux – 2017 mit dem Händel-Preis ausgezeichnet – präsentiert am 30. Mai mit der Lautten Compagney Berlin und Countertenor Lawrence Zazzo im Orchesterzentrum NRW ein Programm mit dem zeitgeistigen Titel „Gender Stories“: Das 18. Jahrhundert hatte die „künstliche“ Gestaltung von Geschlecht und Rolle zum Prinzip erhoben und so ergeben sich erstaunliche Parallelen zu den „konstruierten“ Geschlechtern von heute und den mit ihnen verbundenen Rollen. Händel und seine Zeitgenossen setzten Kastrat, Frau und Mann nach Konventionen ein, die am natürlichen Geschlecht der Darsteller kein Interesse hatten.

Chormusik vom Feinsten

Den Abschluss der Händel-Trilogie bildet eine „Barockfeier de luxe“ mit illustren Gästen aus Großbritannien: Das britische Topensemble „The King’s Consort“ und die Sopranistin Carolyn Sampson lassen am 14. Juni in der Maschinenhalle der Zeche Zollern Händels Heroinen lebendig werden.

Der Lettische Rundfunkchor. Foto: Bülent Kirschbaum

Der Lettische Rundfunkchor. (Foto: Bülent Kirschbaum)

Auch wer die Chormusik – geistlich oder weltlich – liebt, wird beim „Klangvokal“ auf seine Kosten kommen: Das Konzert mit dem Chor des Lettischen Rundfunks in der St. Reinoldikirche verspricht am 16. Juni Gesangskultur vom Feinsten. Davor schon singt am 26. Mai das Vocalconsort Berlin in der Marienkirche unter dem Titel „Psalmen Davids“ die entsprechenden Vertonungen des flämischen Renaissance-Meisters Orlando di Lasso.

Mit geistlicher Musik aus Europa präsentiert sich am 1. Juni in der Propsteikirche der Jugendkonzertchor der Chorakademie Dortmund unter Felix Heitmann. Am 9. Juni ist in der St. Nicolaikirche mit dem von Hans-Christoph Rademann gegründeten und geleiteten Dresdner Kammerchor ein Spitzenensemble mit A-cappella-Chorwerken von Johannes Brahms über Gustav Mahler bis John Cage zu Gast.

Am Samstag, 15. Juni, zeigen mehr als 150 Chöre und Vokalensembles aus Dortmund und Umgebung zum elften Mal auf Open-Air-Bühnen, an Singhaltestellen, in Kirchen, in der U-Bahn und in Geschäften zwischen der St. Reinoldikirche und der St. Petrikirche ein breites Spektrum vokaler Ausdruckformen vom klassischem Volkslied und Chorsatz bis zu Schlager, Shanty, Jazz- und Popsong. Das 11. „Fest der Chöre“ ist nach Auskunft der Veranstalter Deutschlands größtes städtisches Chorfest.

Daneben offeriert das Festival von Jazz- bis Weltmusik ein breites Spektrum an Musikveranstaltungen für jeden Geschmack: Ob Jordi Savall mit seiner „Hommage an Syrien“, einem „Klangdialog zwischen Juden, Christen und Muslimen“ am 19. Mai im Konzerthaus, ob alte und neue Gospels mit der afro-amerikanischen Sängerin Michelle David und ihrer Gruppe „The Gospel Sessions“ am 24. Mai in der Pauluskirche, ob Soul aus den Niederlanden mit der Sängerin Kovacs am 6. Juni im Freizeitzentrum West in der Ritterstraße am Dortmunder U oder arabisch-andalusischer Jazz aus Valencia mit dem Trio NES im Jazzclub Domicil am 7. Juni.

Vorverkauf über das Internet-Portal www.klangvokal.de, telefonisch unter 01806/57 00 70, bei allen bekannten VVK-Stellen und bei Dortmund-Tourismus, Kampstr. 80, 44137 Dortmund.




Die Flöte als „Faden im Webstoff“: Thomas Hengelbrock und das Royal Concertgebouw Orchestra in Dortmund

Thomas Hengelbrock zählt zu den Stammgästen im Konzerthaus Dortmund (Foto: Pascal Amos Rest)

Thomas Hengelbrock zählt zu den Stammgästen im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Pascal Amos Rest)

Als Opernkomponist fand Franz Schubert zeitlebens nicht die ersehnte Anerkennung. Acht vollendete Bühnenwerke und acht Fragmente hinterließ er der Nachwelt, darunter die Oper „Alfonso und Estrella“, die es zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung nicht aus dem Schatten von Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ herausschaffte. Erst 26 Jahre nach Schuberts Tod verhalf Franz Liszt „Alfonso und Estrella“ zur Uraufführung.

Mit der Ouvertüre zu diesem selten gespielten Werk eröffnete der Dirigent Thomas Hengelbrock jetzt einen Abend im Konzerthaus Dortmund, zu dessen Stammgästen er bereits seit 2003 zählt. Er hat sich hier ein treues Publikum erobert, nahezu eine Fangemeinde: Das ist bei seiner erneuten Rückkehr mit dem Royal Concertgebouw Orchestra deutlich zu spüren. Der Dirigent seinerseits schwärmt von der Frische, der Neugier und der aktiven Musizierlust der Musiker aus Amsterdam, wie einem Interview auf der Internetseite des Konzerthauses zu entnehmen ist.

Tatsächlich ist diese Musizierlust sofort präsent, wenn auch in auffallend starker Besetzung. 13 erste Geigen und sechs Kontrabässe bietet Hengelbrock für Schuberts Ouvertüre auf, die ganz konventionell mit langsamer Einleitung und schnellem Hauptteil daherkommt. Alles tönt sprühend vital, strahlend hell, aber mit recht knalligem Forte. Während manch stürmische Passage überraschend nach Felix Mendelssohn klingt, scheint der Schluss nahezu unverblümt Mozarts „Zauberflöte“ zu kopieren. Wer Schuberts Genie kennt und verehrt, registriert es mit leiser Enttäuschung.

Der deutsche Flötist Kersten McCall wuchs als Sohn des Komponisten Brent McCall in Donaueschingen auf. (Foto: Pascal Amos Rest)

Nach verschiedenen Stoffarten sind die drei Sätze des Flötenkonzerts „Soie“ („Seide“) von Lotta Wennäkoski benannt. Fasziniert von der Analogie zwischen gewebten und komponierten Meisterwerken, hat die 1970 in Helsinki geborene Finnin ein hoch virtuoses Konzert geschrieben, das zu einem Höhepunkt des Abends wird. Atmosphärische Dichte, raffinierte Instrumentation, reiche Detailarbeit und das souveräne Spiel mit den klanglichen Möglichkeiten eines Orchesters sind so staunenswert und packend, dass das Ohr nicht eine Sekunde von den akustischen Ereignissen auf der Bühne loskommt.

Einen mit allen Wassern gewaschenen Solisten benötigt dieses Konzert natürlich auch. Kersten McCall, erster Soloflötist des Royal Concertgebouw, beherrscht Instrument und Partitur, dass es jeder Beschreibung spottet: von rasend schnellen Figurationen bis zu intensiv ausgehaltenen Tönen, vom seidenweichen Piano bis zum schrillen Pfiff, von der heftig überblasenen Attacke bis zu Effekten wie der Flatterzunge. Mal intensiv mit dem Orchesterklang verwoben, mal solistisch hervortretend, stellt er seine überragende Kompetenz kompromisslos in den Dienst des Werks. Das ist große Kunst, frei von Star-Allüren.

Aus dem Off lässt Thomas Hengelbrock das eröffnende Hornmotiv von Schuberts 8. Sinfonie C-Dur („Die Große“) spielen. Ein Vorgriff auf die Fernklänge von Gustav Mahler mag dies sein, denn Hengelbrocks Interpretation macht auch in der Folge musikhistorische Bezüge deutlich. Diese sprechen von der Vergangenheit, wenn sich im Andante plötzlich ein Abgrund à la Don Giovanni öffnet, oder wenn Beethovenscher Ingrimm durch das Scherzo zittert. In die Zukunft weisen von Wehmut vergiftete Holzbläsersoli (Mahler) und blockhafte Tempowechsel (Bruckner). Hengelbrock hält alles wunderbar leicht und tänzerisch in Schwung. Silbern wirbeln und flirren die Triolenketten der Geigen im Finale dahin. Großer Beifall.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Paris zum Ersten, Zweiten und Dritten: Kent Nagano dirigiert das Orchestre Symphonique de Montréal in Essen

Kent Nagano, seit 13 Jahren Chef des Orchestre Symphonique de Montréal, bleibt den Kanadiern noch bis 2020 verbunden. (Foto: Wilfried Hösl)

Bis heute scheint das Orchesterstück „Jeux“ von Claude Debussy überschattet von dem beispiellosen Skandal, den Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ auslöste. Nur zwei Wochen lagen zwischen den beiden Uraufführungen im Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées. Beide Stücke entstanden für das berühmte Tanzensemble „Ballet Russes“, beide wurden von Pierre Monteux dirigiert, beide gelten auf ihre Weise als Schlüsselwerke der Moderne. Gleichwohl hat Debussys einaktiges Tanzpoem bislang nicht ins gängige Konzertrepertoire hineingefunden.

Ob dies allein am unglücklichen Zeitpunkt der Premiere liegt oder auch am Ballettlibretto von Vaslav Nijinsky, dessen ästhetische Vorlieben weit entfernt waren von den Ansichten und dem Geschmack Debussys, sei dahingestellt. Doch bildeten „Jeux“ und „Sacre“ jetzt die Klammer für ein Konzert in der Philharmonie Essen, das trotz starker Konkurrenz als Höhepunkt der Saison durchgehen kann. Erhellend, ja in höchstem Maße aufschlussreich war die Programmfolge, die das Orchestre Symphonique de Montréal unter seinem langjährigen Chefdirigenten Kent Nagano im Gepäck hatte.

Debussys Partitur, von Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez ob ihrer Fortschrittlichkeit hoch geschätzt, erfährt dabei eine späte, aber wunderbare Würdigung. Bereits die ersten Takte von „Jeux“ lassen aufhorchen. Es kann kein Zufall sein, dass hier eine archaische Atmosphäre anklingt, die Strawinskys „Sacre“ ungeheuer verwandt wirkt. Die frühlingshaft lichten Holzbläsersoli, die rätselhaft-raffinierten Klänge und Harmonien erscheinen wie eine Vorwegnahme dessen, was zwei Wochen später in die Welt hinaus dröhnen sollte.

Gewiss, es fehlen die schockierenden Schlagzeug-Eruptionen, die dem „Sacre“ rasch zur Unsterblichkeit verhalfen. Aber Kent Nagano und die Musiker aus Montréal machen Debussys Partitur zu einem ungeheuer vielschichtigen Ereignis, das harmonisch und auch seiner Form nach kaum weniger mutig erscheint als das Skandalstück des Exil-Russen.

Der Franzose Jean-Yves Thibaudet spielte das „Ägyptische Konzert“ von Camille Saint-Saëns. (Foto: Decca/Kasskara)

Es folgt eine Sternstunde des Pianisten Jean-Yves Thibaudet, der als einer der profiliertesten Saint-Saëns-Interpreten gilt. Diese Kompetenz kommt dem fünften Klavierkonzert des Franzosen („das Ägyptische“) in höchstem Maße zugute. Thibaudet trumpft mit Fingerfertigkeit und brillanter Virtuosität auf, ohne jemals in den Verdacht zu geraten, sich in bloßem Tongeklingel zu gefallen. Mit großem Feingefühl spürt er dem poetischen Tiefgang dieses farbenreichen Klavierkonzerts nach: seinen schillernden Exotismen, gipfelnd in arabischen Tonleitern und einem nubischen Liebeslied, das Saint-Saëns in Kairo den Schiffern auf dem Nil ablauschte.

Unter Thibaudets Zugriff hält zusammen, was weniger kundigen Interpreten leicht zu zerfallen droht: Passagen von Schubertgleicher Schlichtheit, kraftvolle Ausbrüche à la Rachmaninow, Liszt’sche Campanella-Glöckchen im Diskant. Der Franzose, seit langem eine feste Größe in der internationalen Pianistenszene, stellt sich mit dieser exzellenten Interpretation ein blitzsauberes Zeugnis aus.

Strawinskys Frühlingsopfer („Le Sacre du Printemps“), das im Untertitel „Bilder aus dem heidnischen Russland“ beschwört, lässt mindestens ebenso aufhorchen wie der Beginn dieses erstaunlichen Abends. Denn zunächst hämmert uns keineswegs der harte Sound des anbrechenden Maschinenzeitalters um die Ohren. Die Ostinati klingen vergleichsweise weich, die Klangflächen sind geprägt von französischer Clarté. Das mag zunächst verblüffen, hält den Fokus dieses Abends aber mit äußerster Konsequenz auf Paris. Die Wahlheimat des Exil-Russen drückt dieser Interpretation ihren Stempel auf.

Da Nagano auf erhöhte Podeste für die Bläser verzichtet, mithin alle Musiker auf der gleichen Ebene sitzen, entsteht zwischen den Gruppen eine erstaunliche Balance. Die gestopften Trompeten bringen im zweiten Teil Fernklänge mit purem Gänsehaut-Effekt. Manches Instrument scheint sich beinahe zu verstecken, und doch knüpfen Englischhorn und Bassflöte plötzlich an das ägyptische Kolorit des zuvor gehörten Klavierkonzerts an.

Hartes und Barbarisches muss der „Sacre“-Freund übrigens keineswegs ganz vermissen: Wenn die Pauken simultan losdröhnen, fährt es dem Hörer regelrecht in die Magengrube. Den Tanz des Opfers steigert Nagano bei vollkommener Kontrolle zu einem Hexenkessel, aus dem die Piccoloflöte heraus schrillt. So endet ein grandioser Abend mit einem zutiefst russischen Stück aus dem Geiste französischer Tonkunst.

(Die Reihe „Sinfonische Höhepunkte“ endet am 6. April 2019 mit dem Russian National Orchestra unter Dirigent Alain Altinoglu. Auf dem Programm stehen die „Chowantschina“-Ouvertüre von Modest Mussorgsky und Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie. Der Pianist Mikhail Pletnev spielt Sergej Rachmaninows 2. Klavierkonzert. Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/mikhail-pletnevrussian-national-orchestrarac-81418/2531/)




Schauriges Vergnügen mit Hexen und Geistern: Aalto-Opernchor Essen singt Musik der „dunklen“ Romantik

Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Die Damen sind nicht unattraktiv: Rosige Wangen, wunderweiße Haut gleich Schwänen auf einem Teich, liebliches Nicken und Küsschen. Nur die grünen Haare sind etwas seltsam. Kein Wunder, dass der Schäferknab‘ seine Herde im Stich lässt. Das Ende ist weniger hold: Da senkt der Dichter Siegfried Kapper Grabesstille über den Wald.

Der heute kaum mehr bekannte Österreicher Robert Fuchs, bei dem von Korngold über Mahler und Schreker bis Richard Strauss viele Berühmtheiten studierten, hat das Gedicht „Die Waldinnen“ vertont. Erzählende Strophen, dichter Satz, kaum „romantische“ Effekte: Es wird hörbar, warum Fuchs (fälschlich) als Brahms-Epigone gilt. Der Essener Opernchor bringt die ins Unheimliche gebrochene Idylle geteilt in zwei Chöre: Die Stimmen der Waldfrauen sind aus der Erzählung ausgegliedert.

Ein gutes Dutzend solcher Kompositionen, dazu einige bekannte Nummern aus Opern präsentierte der Aalto-Openchor unter Leitung von Jens Bingert bei einem Konzert im ausverkauften Foyer des Theaters. Der Klangkörper hat es mehr als verdient, einmal einen eigenen Auftritt zu genießen. Denn Opernchöre haben es nicht leicht: Sie müssen ein vielfältiges Repertoire beherrschen. Abend für Abend erwartet man von ihnen präzises und klangvolles Singen, manchmal in akustisch ungünstigen Bühnenbildern.

Die Sängerinnen und Sänger brauchen viel Flexibilität für den raschen Wechsel von musikalischen und szenischen Proben zu Abendvorstellungen. Da gilt es, sich auf die Atmosphäre des Stücks einzustellen, ob skurrile Heiterkeit oder tragische Verdunkelung. Und dann geht die Kritik, wenn überhaupt, gerade mal in einem Satz auf das Ergebnis wochenlanger Arbeit ein.

Das Mägdlein folgt dem feuchten Kerl

Das Thema der 90 Minuten war Chormusik der „dunklen“ Romantik, unbegleitet oder vom Klavier (Christopher Bruckman) statt dem Orchester gestützt. In den Texten spielen Elfen, Hexen, und Wassergeister eine Rolle, so in Max Regers harmonisch anspruchsvollem „Jäger und Nixe“. In Robert Schumanns „Wassermann“ ist das Verführungs-Verhältnis auch einmal umgekehrt – da folgt das Mägdelein dem feuchten Kerl in den Neckar.

Bingert nutzt den Raum, um den Chor variabel aufzustellen und die Akustik auszureizen. Die wohl bekannteste Nummer, Friedrich Silchers „Loreley“ kommt vom Rang: Der Klang bricht sich und wird weich, während beim frontalen Singen, etwa in Heinrich von Herzogenbergs beschaulichem „Wie schön hier zu verträumen die Nacht im stillen Wald“ sich die Stimmen nicht ausreichend mischen und manch tremolierender Sopran überdeutlich heraustritt. Für den Mondchor aus Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ verteilen sich die Sängerinnen und Sänger im Raum. Der Zuhörer hat den Eindruck, vom Klang umflossen zu werden – ein Erlebnis, das die Bühne nicht bietet.

Gemessener Schauder in der bürgerlichen Stube

Deutlich wird, dass die „dunkle“ Romantik zwar mit dem Schauder spielt, ihn aber meist in wohliger Harmonie und gemessener Melodik zähmt. Zwei historische Balladen sprechen von der Sehnsucht nach vergangener Zeit, in Ludwig Uhlands „Harald“ von entrücktem Heldentum, in Friedrich Rückerts „Der alte Barbarossa“ mit einer deutlichen, damals wohl politisch virulenteren Sehnsucht von „des Reiches Herrlichkeit“. Joseph Rheinberger und Friedrich Silcher vertonen diese Texte mit einer musikalischen Imagination der Szene – dem Reiter-Rhythmus in „Harald“ etwa, oder der geisterhaften Atmosphäre und der „altertümlichen“ Tonart im „Barbarossa“ – und der Chor singt diese Momente mit Theater-Instinkt und einer klanglichen Bandbreite zwischen satter Präsenz und geisterhaftem Piano.

Grusel für die Bürgerstube; die Ausnahme schaffen Giuseppe Verdi und Richard Wagners. Die Hexen aus „Macbeth“ mögen zunächst harmlos, fast tänzerisch klingen, aber das scharfe Martellato der Begleitung und die basslosen, fahlen Stimmen machen sie zu unwirklichen Wesen einer Sphäre jenseits des Fasslichen. Und Wagners „Holländer“-Gespenster sind unheimlich-aggressive Wesen. Da teilt sich der Aalto-Chor, singt von unten, und aus dem Treppenhaus steigt Nebel des Grauens auf. Fazit: Schauriges Vergnügen mit meist kaum mehr bekannter Musik.




Buchstabierter Bruckner und „exotischer“ Ravel bei den Essener Philharmonikern

Fremde Worte, flirrende Klänge, freche Rhythmen, fließendes Melos: Der Exotismus hatte das musikalische Europa im Griff, als der junge Maurice Ravel mit den „Großstadtindianern“ der Gruppe „Les Apaches“ durchs nächtliche Paris zog.

Die Mezzosopranistin Julie Boulianne. Foto: Julien Faugère

Die Mezzosopranistin Julie Boulianne. Foto: Julien Faugère

Auch Griechenland war im Sinne des faszinierend Fernen „exotisch“: Ravel lernte durch einen Apaches-Freund, den griechischstämmigen Michel-Dimitri Calvocoressi – dem er „Alborada del gracioso“ gewidmet hat – die Melodien kennen, die von der Insel Chios stammen sollen. Er umkleidete sie mit einer zart-farbigen Instrumentierung und harmonisierte sie satt von Chromatik und prickelnd spannungsreichen Akkorden.

Die Lied-Miniaturen „Cinq mélodies populaires grecques“ eröffneten das Siebte Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker und Julie Boulianne ließ sich nicht auf vordergründig folkloristischen Ton ein: Sie hält ihren Mezzosopran neutral in der Farbe, gestenarm in der Artikulation, ohne rhetorische Effekte. Da war der distanzierte Ton zu vernehmen, wie ihn etwa Teresa Berganza pflegte, wenn sie spanische Lieder sang: eine verhaltene Glut im Stimmklang, delikates Sfumato, aber eben keine naive Erzählhaltung.

Auch Ravels „Shéhérazade“-Gesänge – Reflexe auf eine geplante Oper, von der nur eine fertiggestellte Ouvertüre zeugt – bleiben frei von Effekt. Julie Boulianne singt sie wie eine noble Arie von Cherubini, nicht wie Miniatur-Theaterszenen. Das ist letztendlich eine Frage des Geschmacks: Eine Sängerin von anderem Temperament würde sicher das Doppelbödige, die feine Ironie, auch die erotische Innenspannung von „L‘ indifférent“ schmeichlerischer, rhetorischer zum Ausdruck bringen.

Die Essener Philharmoniker sind sensible Partner in der fragilen Balance von Stimme und Instrumentalklang, ob in schwebendem Pianissimo der Streicher oder in den Dialogen von Flöte und Oboe mit der Singstimme.

Die Sinfonie findet nicht zu sich selbst

Hans Graf, Gast am Pult der Philharmoniker, hatte für Ravels ziselierte Klanglandschaft eine glücklichere Hand als für das sinfonische Hochgebirge aus seiner Heimat Österreich, Anton Bruckners Dritte Sinfonie, leider wieder einmal in der verbreiteten, für das Gastiergewerbe wohl daher idealen dritten Fassung von 1889, die dem Musikwissenschaftler Egon Voss zufolge „unübersehbar pragmatischen Charakter trägt“. Es drängte sich der Eindruck einer routiniert einstudierten Aufführung auf, die weder en detail ausgearbeitet noch gar mit einer persönlichen Signatur versehen war.

Schon der Beginn mit den punktierten Achtelgruppen der Violinen, den leisen Wellen der Bratschen, den weiten Holzbläserlinien, dem sanften Horn-Einsatz und der Solo-Trompete mit ihrer thematisch wichtigen Triole startet nicht „misterioso“, sondern so laut, dass die Crescendo-Wirkung zum fortissimo-marcato Höhepunkt lasch bleibt. Die weit geschwungenen Streicher bleiben spröde, auch wenn das „Gewirk“ der Polyphonie von Graf durchhörbar gehalten wird. Dem Rhythmus fehlt der Impetus, der ihm einen drängend-dynamischen Charakter geben könnte; erst im hymnischen Höhepunkt der Durchführung und mit der Reprise stellen sich Bezüge ein, die so etwas wie eine innere Logik hörbar machen.

Der innige Beginn des zweiten Satzes gelingt ruhevoll und durch eine behutsame Betonung der tiefen Streicher apart üppig; auch das allmähliche Anwachsen innerer Bewegung vermittelt Graf sinnig. Dann aber gerät der Satz – bei durchaus schlüssigem Tempo – zu sehr ins Buchstabieren disparat wirkender Teile. Das Scherzo hat mehr Temperament und eine von abwechslungsreicher Dynamik gestärkte Kontur; im Finale triumphiert der Wille zum Brachialen, weniger zur Beleuchtung der zerrissenen Gegensätze von Polka und Choral. Verrauchter Glanz im Blech beendet eine Sinfonie, die nicht zu sich gefunden hat.

Im April bringt das 8. Sinfoniekonzert am 4. und 5. April in der Philharmonie Essen Werke von Hans Werner Henze, Georg Muffat und Antonio Vivaldi; am 25. und 26. April stehen Carl Orffs „Carmina burana“ mit dem Collegium Vocale Gent unter Ivor Bolton auf dem Programm. Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de




Es geht noch viel: TuP-Festtage in Essen mit Aribert Reimanns „Medea“ und einer spartenübergreifenden Uraufführung

Freuen sich auf die TUP-Festtage 2019: Schauspielintendant Christian Tombeil, TUP-Geschäftsführer Berger Bergmann, der stellvertretende Ballettintendant und Ballettmanager Marek Tuma, Musiktheater- und Philharmonieintendant Hein Mulders sowie Oliver Bohnenkamp, Vorstandsmitglied der Sparkasse Essen. Foto: TuP

Freuen sich auf die TUP-Festtage 2019 (v. li.): Schauspielintendant Christian Tombeil, TUP-Geschäftsführer Berger Bergmann, der stellvertretende Ballettintendant Marek Tuma, Musiktheater- und Philharmonieintendant Hein Mulders sowie Oliver Bohnenkamp, Vorstandsmitglied der Sparkasse Essen. Foto: TuP

Rien ne va plus – das ist ein aus dem Casino geläufiger Satz, wenn im laufenden Spiel nichts mehr geht. Ein etwas gekünstelter Titel für die TuP-Festtage Kunst in Essen. Denn zum Glück geht in der Zeit vom 22. bis 31. März eine Menge: Premiere der Reimann-Oper „Medea“ am Aalto, drei beliebte Ballettproduktionen, die deutsche Erstaufführung von Robert Menasses Europa-Stück „Die Hauptstadt“ im Grillo-Theater. Und erstmals ein spartenübergreifendes Projekt.

Musiktheater, Ballett und Schauspiel realisieren in der Casa im Grillo eine gemeinsam erarbeitete Inszenierung: „Schließ deine Augen – Rien ne va plus“ heißt das Stück, in dem Tänzer, Sänger und Schauspieler gemeinsam agieren und ihre Spartengrenzen ein wenig überschreiten. Für die Uraufführung am Mittwoch, 27. März, 19 Uhr, dürfte es ratsam sein, sich rasch Karten zu sichern: Die Casa hat ein begrenztes Platzangebot. Weitere Vorstellungen: 30. März und 5. Mai.

Fünf Sparten sind am Programm beteiligt

Verdis "Luisa Miller" wird zum letzten Mal wiederaufgenommen: Szene aus der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs. Foto: Matthias Jung

Verdis „Luisa Miller“ wird zum letzten Mal wiederaufgenommen: Szene aus der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs. Foto: Matthias Jung

Für alle anderen Vorstellungen sind noch ausreichend Tickets zu bekommen. Bei manchen heißt es nach den TuP-Festtagen tatsächlich „rien ne va plus“: Dietrich Hilsdorfs Inszenierung der Verdi-Oper „Luisa Miller“ (Wiederaufnahme am 30. März) verabschiedet sich nach dieser letzten Vorstellungsserie aus dem Repertoire des Aalto-Theaters; dafür kündigt Intendant Hein Mulders die Rückkehr des einstigen Essener Stamm-Regisseurs in der Spielzeit 2019/20 an. Abschied nehmen müssen die Ballett-Fans auch von Stijn Celis‘ Choreografie von „Cinderella“. Sie steht am 31.März letztmals auf dem Spielplan des Aalto-Theaters.

Mit Spannung erwarten dürften Opern-Liebhaber die Neuinszenierung von Aribert Reimanns „Medea“, uraufgeführt 2010 an der Wiener Staatsoper und dort – wie bei der Übernahme in Frankfurt und bei einer zweiten Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, geleitet vom Bochumer GMD Steven Sloane – vom Publikum gefeiert.

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Peter Andersen

Der 83jährige Komponist hat sein Kommen angekündigt. Premiere ist am Samstag, 23. März, 19 Uhr. Am Tag zuvor, 22. März, eröffnen um 16.30 Uhr die Intendanten der fünf TuP-Sparten die Festtage; anschließend gibt es eine „Teatime“ im Aalto-Foyer mit einer Einführung in die auf Franz Grillparzers „Das goldene Vlies“ fußende Oper Reimanns.

Zerstörte Existenzen, Schicksal und Schuld als Themenkomplexe

Zerstörte Existenzen, Schicksal und Schuld, aber auch glückliche Fügungen: Um diese Themenkomplexe kreisen die Vorstellungen der TuP-Festtage. In der Uraufführung „Schließ deine Augen – Rien ne va plus“ nehmen die Regisseure Marijke Malitius und Sascha Krohn gemeinsam mit dem ehemaligen Aalto-Tänzer und Choreografen Igor Volkovskyy die Frage auf, wie es wohl wäre, ewig Kind zu bleiben, die Träume der Kindheit zu leben und die von Macht strukturierte Welt der Erwachsenen zu meiden. Die Sicht der Kinder Medeas, die Weigerung, erwachsen zu werden in „Peter Pan“ und die geheimnisvolle Marionettenwelt in Maurice Maeterlincks „Der Tod des Tintagiles“ sind die stofflichen Kreise, um die sich die von Gesa Gröning ausgestattete Produktion drehen soll.

Star-Sopran Maria Agresta singt Verdi. Foto: Alessandro Moggi.

Star-Sopran Maria Agresta singt Verdi. Foto: Alessandro Moggi.

Musikalisch bietet die Philharmonie Essen ein Jugendkonzert mit Filmmusik am 22. März mit der Neuen Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann, am 23. März eine „Hommage á Bach“ mit dem Organisten Christian Schmitt und am 24. März, 11 Uhr, das Debüt der Geigerin und Stipendiatin von Anne-Sophie Mutter, Noa Wildschut. Die 18jährige Niederländerin bringt als Klavierpartnerin Elisabeth Brauß mit, ein Klaviertalent der jungen Generation. Am Abend ist eine Geigerin mit internationaler Karriere zu erleben: Isabelle Faust spielt das Brahms-Violinkonzert, am Pult agiert Philippe Herreweghe.

Geballte Musik-Highlights gibt es auch am Sonntag, 31. März: Um 11 Uhr spielt der Trompeter Gábor Boldoczki mit der Philharmonia Prag reizvolle Konzerte aus dem böhmischen Raum, u. a. von Johann Baptist Georg Neruda, Johann Nepomuk Hummel und Johann Baptist Vanhal. Und am Abend ab 19 Uhr verzaubern Star-Sopran Maria Agresta und die Essener Philharmoniker mit Ouvertüren und Arien von Giuseppe Verdi, darunter nicht nur die üblichen Schlager, sondern etwa die Ballettmusik aus „Macbeth“ und einer Szene aus Verdis erster Oper „Oberto, Conte di San Bonifacio“.

Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de

 




Botschaften aus Theresienstadt: Der Bariton Benjamin Appl und Liedpianist James Baillieu zu Gast im Konzerthaus Dortmund

Der Bariton Benjamin Appl stammt aus Regensburg und lebt in London (Foto: Uwe Arens)

Wer Benjamin Appl unbedingt in eine Schublade stecken möchte, wird damit Schwierigkeiten bekommen. Zwar gilt der 37-jährige Bariton aus Regensburg als exzellenter Liedsänger, aber er tritt auch in der Oper und im Konzert auf.

Das Etikett vom „hoffnungsfrohen Lied-Talent“ bleibt gleichfalls nicht recht haften an einem, der in den großen Konzertsälen Europas singt, bereits an der renommierten Guildhall School of Music & Drama in London lehrt und seit 2016 bei einem großen Plattenlabel unter Vertrag steht.

Sein Debüt im Konzerthaus Dortmund gab der letzte Privatschüler von Dietrich Fischer-Dieskau im Februar 2016 in der Reihe „Junge Wilde“. Jetzt kehrte er mit dem Pianisten James Baillieu zurück: Im Gepäck ein Programm, das wagemutig zwischen Kunstlied, Operette und Chanson balanciert. Orientalische Lyrik des persischen Dichters Hafis, vertont von den Komponisten Victor Ullmann und Johannes Brahms, trifft darin auf die opulente und todessehnsüchtige Romantik von Erich Wolfgang Korngold, auf einige „Wunderhorn“-Vertonungen von Gustav Mahler und auf Lagerlieder aus dem KZ Theresienstadt.

Für Victor Ullmanns „Liederbuch des Hafis“ stimmt Appl zunächst einen ironischen Tonfall an. Herrlich heuchlerisch klingt das, wenn er den Dichter über die Größe Allahs räsonieren lässt: Dessen vorausbestimmende Allmacht mache es ihm ja ganz unmöglich, nicht durch Wein und Weib zu sündigen. Das Zeugnis, das der Poet sich im Lied „Betrunken“ selbst ausstellt, fällt gleichwohl miserabel aus. Wut und Scham über die eigene Schwäche brechen sich Bahn. Appl findet für sie ingrimmig bebende, ja gallig gefärbte Töne.

Danach wird die Stimmung weicher, träumerischer. Frauenschönheit, Liebe und Güte klingen an, bei Victor Ullmann frei zwischen Dur und Moll schwebend, bei Johannes Brahms mit inniger, gleichwohl verhaltener Glut. Dank der Kunst des vorzüglichen Pianisten James Baillieu dringt Appl hier bis zu jenem abgeklärten Tonfall vor, wie man ihn aus den Intermezzi von Johannes Brahms kennt. Baillieu gehört zu jenen Zauberern, die ganze Seelenlandschaften entstehen lassen, sobald sie nur die Tasten berühren. Er ist einer jener wundersam diskreten Kulissenschieber, die jedem Kunstlied nahezu unbemerkt, aber äußerst wirkungsvoll die Szene bereiten.

Benjamin Appl war 2014 „New Generation Artist“ der BBC und erhielt 2016 den „Gramophone Award“ als „Artist of the Year“.(Foto: Uwe Arens)

Ein Lied von Hans Gál, einem Enkelschüler von Johannes Brahms, leitet über zur üppigen Romantik des nach Amerika emigrierten Österreichers Erich Wolfgang Korngold. Nun wird der Abend beinahe zu samtpfötig. Appls Bariton klingt schmeichlerisch sonor, aber zuweilen auch gleichförmig glatt. Der Dialog in „Der Knabe und das Veilchen“ erschließt sich dem Programmheftleser, aber nicht dem Hörer, weil Appl kaum die Stimmfarbe wechselt. Da fehlt es (noch) an charakteristischer Ausformung und Gestaltung.

Weit wirkungsvoller rühren Sänger und Pianist in Gustav Mahlers „Wunderhorn-Liedern“ die Kriegstrommel. Tieftraurig ist das Licht, das sie auf den einfachen Soldaten werfen, der Abschied nehmen muss von Heimat und Liebe. Das scheinbar fröhliche „Trallalei“, mit dem er dem Tod entgegen marschiert, schwillt bei Appl und Baillieu zu einem bitterbösen Schreckensgesang. Ferne Hornsignale, Verzweiflung, Trauermarsch. Erstaunlich, wie Appl es danach schafft, in den beinahe operettenhaften Plauderton des „Terezin Song“ zu wechseln.

Einen Stimmungswechsel bringt diese anonyme Komposition aber nicht: Sie leitet vielmehr über zu den erschütternden Theresienstadtliedern von Ilse Weber und Adolf Strauss. Mit diesen sentimentalen, zuweilen der Schnulze nahen Petitessen geht das Duo Appl/Baillieu bewundernswert feinfühlig und rücksichtsvoll um. So ist es nicht die Banalität mancher Melodie, die im Gedächtnis bleibt, sondern die Botschaft vom unermesslichen menschlichen Leid, das im Konzentrationslager Alltag war. Der Überlieferung nach soll Ilse Weber ihr berührendes Wiegenlied „Wiegala“ für die Kinder angestimmt haben, die gemeinsam mit ihr in die Gaskammer gingen.

Man wagt danach kaum weiter zu atmen. Indessen hält das Duo noch zwei Trostpflaster für sein Publikum bereit: Das „Urlicht“ von Gustav Mahler und, als Zugabe, „Morgen“ von Richard Strauss.

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Der nächste Liederabend im Konzerthaus Dortmund gilt der ungewöhnlichen Konstellation von Stimme und Harfe: Gemeinsam mit Xavier de Maistre interpretiert die Sopranistin Diana Damrau am 14. Mai 2019 unter anderem Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy und Sergej Rachmaninow.

(Informationen: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/14-05-2019-diana-damrau-xavier-de-maistre-221783/)




Ein Ort für böse Träume – „Schade, dass sie eine Hure war“ von Anno Schreier an der Rheinoper uraufgeführt

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Märchenland oder Traumfrabrik? Auf jeden Fall ist es ein Ort für böse Träume, in die uns die Uraufführung „Schade, dass sie eine Hure war“ von Anno Schreier an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf versetzt.

Die Bühne (Jo Schramm) ist mit wie zufällig zusammengeschobenen Filmkulissen vollgestellt, wie Hänsel und Gretel turnen die Geschwister Annabella (Lavinia Dames) und Giovanni (Jussi Myllys) auf einem überdimensionalen Fliegenpilz herum. Dabei sind sie selber in rote Kostüme mit weißen Punkten gewandet, als würden sie gleich am Set eines Disney-Films gebraucht (Kostüme: Michaela Barth).

Doch es spielen offenbar nicht alle im selben Film mit (Inszenierung: David Hermann): In Moden unterschiedlicher Zeiten gewandete Herren tauchen auf und beginnen um Kinderstar Annabella zu werben. Aber sie will keinen von ihnen heiraten, obwohl Vater Florio (Günes Gürle) sehr den Edelmann Soranzo (Richard Sveda) favorisiert, der ganz passabel aussieht und ein schickes Loft bewohnt.

Aber das Mädchen kann keiner begeistern. Weder er noch Grimaldi (Sergej Khomov), ein wildgewordener Degenkämpfer, und schon gar nicht der geckenhafte Bergetto (Florian Simson), ein Bürger von Parma, der die Schöne durch Sangeskünste zu erringen hofft. Denn sie hat ein unerhörtes Geheimnis: Geschwisterliebe. Die Fliegenpilzkinder sind in inzestuöser Leidenschaft verstrickt, niemand darf es wissen und niemand kann sie trennen. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf.

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Die Story geht zurück auf John Fords Schauerstück „’Tis Pity She’s a Whore“ von 1633, aus dem Kerstin Maria Pöhler das Libretto geformt hat. Musikalisch ist die Komposition eine Art Potpourrri mit dramatischer Zuspitzung: Man hört Anklänge an die verschiedensten Komponisten aus unterschiedlichen Epochen von Rossini über Wagner bis hin zu Strauss, auch Musicalklänge und Filmmusik gehören dazu.

Trotzdem wirkt die Oper wie aus einem Guss und packt einen sowohl von der musikalischen als auch von der emotionalen Seite, nicht zuletzt wegen der großartigen Solisten der Rheinoper, die mitsamt dem Chor eine gute Ensembleleistung vollbringen. Doch eines ist die Musik von „Schade, dass sie eine Hure war“ nicht: originell. Doch vielleicht ist das auch gar nicht ihre Absicht?

Ebenso unterhaltsam wie schockierend geht es nun weiter, als würde man sich eine Art Gewaltkrimi mit tödlichem Ausgang reinziehen. Annabella wird schwanger und willigt deswegen in die Ehe mit Soranzo ein, den man inzwischen als üblen Chauvi kennengelernt hat. Erst spannt er einem anderen Mann die Frau aus (Hippolita, gesungen von Sarah Ferede), dann lässt er sie fallen und muss das vermeintlich unschuldige Mädchen haben. Im Prinzip benimmt er sich wie ein Studioboss in Hollywood – #MeToo lässt grüßen.

Der betrogene Ehemann Hippolitas fährt derweil mit der Kutsche aus Tarantinos Film „Django Unchainend“ über die Bühne (daran erinnert sie jedenfalls) und sorgt mit shakespearehaften Spaß-Einlagen dafür, dass sein Rachefeldzug nicht allzu fad gerät. Doch hier kommt der Inzest-Bruder als tickende Zeitbombe ins Spiel. Seiner Schwester Kind ist von ihm, da bleibt nur ein Doppel-Selbstmord, den er auf die denkbar drastischste Weise vollzieht: Er reisst seiner Schwester das Herz aus dem Leibe, bevor er zugrunde geht.

Uff! Was lehrt uns diese Uraufführung nun über unsere Zeit? Hollywood ist verkommen und Geschwisterliebe nimmt kein gutes Ende? Alte Schauerstücke können immer noch schocken? Unterhaltung muss keinen tieferen Sinn haben? Bald ist ja auch Karneval…

Karten und Termine: www.operamrhein.de




Wagemutige Weiträumigkeit: Das London Symphony Orchestra unter Sir Simon Rattle in der Philharmonie Essen

Sir Simon Rattle dirigiert Anton Bruckners 6. Sinfonie (Foto: Hamza Saad)

Sir Simon Rattle dirigiert Anton Bruckners 6. Sinfonie. (Foto: Hamza Saad)

„This is Rattle“ hieß es im September 2017, als das London Symphony Orchestra (LSO) seinen neuen Musikdirektor mit einer zehntätigen Konzertreihe willkommen hieß. So begeistert der Einstand von Sir Simon Rattle einerseits gefeiert wurde, so kompliziert sind andererseits die Verhältnisse, denen sich der Ex-Chef der Berliner Philharmoniker bei seiner Rückkehr an die Themse stellen muss. Das Barbican Center, seit 1982 fester Spielort des Orchesters, hat eine so kleine Bühne, dass der Dirigent dort auf ein Fünftel seines Wunschrepertoires verzichten muss.

Ein Neubau ist nicht in Sicht. Stattdessen wirft der Brexit schwere Schatten voraus: Nach Rattles eigener Aussage bewerben sich deutlich weniger Musiker aus Europa beim LSO. Ein Jammer, auch mit Blick auf die glanzvolle Tradition des ersten unabhängigen und selbstverwalteten Orchesters von England. Edward Elgar gehörte einst zu seinen Chefdirigenten; ihm folgten viele große Künstlerpersönlichkeiten, zum Beispiel Arthur Nikisch, Pierre Monteux, Claudio Abbado, Sir Colin Davis und zuletzt Valery Gergiev.

Der Philharmonie Essen bescherte das Gastspiel der Londoner Symphoniker unter Sir Simon Rattle jetzt ein ausverkauftes Haus. Zu Beginn erklingt eines der bedeutendsten Werke von Béla Bartók: die „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“, in Auftrag gegeben vom Schweizer Mäzen Paul Sacher, berühmt für ihre formale Strenge und ihre enigmatische Tonsprache. Mit größter Disziplin formt das LSO den gesamten ersten Satz zu einem an- und abschwellenden Bogen. Aber diese Fuge ist hier mehr als die Studie einer staunenswerten klanglichen Verdichtung. Sie gibt einen Tonfall vor, der die Ohren öffnet und für hohe Konzentration im Publikum sorgt.

Die Gipfel erregen Staunen, aber keine Furcht

Mit Harfe, Celesta und einem Konzertflügel als Mittelachse, steigern sich die geteilten Streicher im zweiten Satz zu brennenden Klängen innerer Erregtheit. Das Schlagwerk, von Sir Simon links hinter dem Orchester postiert, schafft im dritten Satz eine entrückte Atmosphäre. Die Tonwiederholungen des Xylophons, die dumpfen Paukenglissandi, die verwischten Klänge der Celesta und des Klaviers machen dieses Adagio zu einem zauberischen Nachtstück. Durch das tänzerische Finale mit seinem so genannten „bulgarischen Rhythmus“ wirbeln die Musiker des LSO mit Temperament und virtuoser Sicherheit.

Sir Simon Rattle bedankt sich beim Konzertmeister des London Symphony Orchestra. (Foto. Hamza Saad)

Eine Phalanx von acht Kontrabässen schiebt das musikalische Geschehen nach der Pause von hinten an. Für die 6. Sinfonie von Anton Bruckner hat Simon Rattle sie an die Rückwand der Bühne postiert. Seine Deutung des Werks lässt erahnen, warum die Sechste in Anlehnung an Beethoven zuweilen „Bruckners Pastorale“ genannt wurde: So wenig monumental, so wenig martialisch oder auftrumpfend klingen Bruckners Sinfonien selten. Heitere Abgeklärtheit liegt über dem musikalischen Geschehen.

Die Höhepunkte, die Rattle mit dem LSO anstrebt, weisen den Menschen nicht ab. Die Gipfel erregen Staunen, aber keine Furcht. Alles ist Klang, der sich erst bildet, der zu wagemutiger Weiträumigkeit wächst. Unter der Leitung von Simon Rattle füllen sich diese Weiten mit sanglicher Wärme, ja mit einem Glücksleuchten, gegen das sich kein Dunkel hält.




Freudiger Schluss, verklärte Wonne: Duisburger Philharmoniker und Axel Kober erkunden die Romantik

Ob Anton Bruckners Siebte Symphonie tatsächlich einer „romantischen Vision“ entspringt, wie der Titel des Sechsten Philharmonischen Konzerts der Duisburger Philharmoniker andeutet, sei dahingestellt: Der Begriff der Romantik ist in der Musik unscharf – und Bruckners gewaltiges Gebilde ließe sich aus guten Gründen ebenso als komplexe Weiterentwicklung formaler Prinzipien der „klassischen“ Komponisten lesen.

Axel Kober, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein und Chefdirigent der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Axel Kober, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein und Chefdirigent der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Selbst der „sehr feierliche“ und „sehr langsame“ zweite Satz verbirgt hinter seinen Wagner-Anklängen einen Sonatensatz, ist also weit mehr als deskriptive Musik von Trauer und Trost.

Aber genau jener zweite Satz, den Bruckner unter dem Eindruck von Wagners Tod am 13. Februar 1883 vollendete, schlägt die Brücke zu Carl Maria von Webers Romantik: Die besteht ja auch nicht nur aus eingängigen Melodien, behutsam dosierter Chromatik, Laut- und Stimmungsmalerei – das beherrscht François Adrien Boieldieu in seiner „Dame blanche“ auch –, sondern aus satztechnisch anspruchsvoller thematisch-motivischer Arbeit. Und die beweist Weber selbst in einem Konzert wie demjenigen in f-Moll für Klarinette, geschrieben für einen der größten Virtuosen aller Zeiten, Heinrich Joseph Bärmann.

Technische Brillanz und Empfindungstiefe

Mit diesem Konzert stellte sich ein junger Solist vor, der seit 2016 Erster Soloklarinettist der Duisburger Philharmoniker ist: Christoph Schneider. Und er erfüllte Webers Komposition mit einer technischen Brillanz und Empfindungstiefe, die eine musikalische Beschreibung schnell an ihre Grenze führt: Das Höhere, Andere, das E.T:A. Hoffmann mit seinem Bonmot vom Ende der Sprache mit romantischem Pathos ausdrücken wollte: Hier ist es spürbar. Der Begriff des „Romantischen“ in der Musik: Hier ist er unmittelbar zu erfahren.

Christoph Schneider. Foto: Duisburger Philharmoniker

Christoph Schneider. Foto: Duisburger Philharmoniker

Bleiben wir also beim dürr beschreibenden Handwerk des Kritikers und bewundern wir den klaren, schwerelosen, aus dem Nichts keimenden Ton im Beginn des Konzerts, der an eine geheimnisvolle Opernszene erinnert. Oder die Läufe, die nicht nur makellos geformt, sondern dazu noch unterschiedlich charakterisiert werden. Oder den ariosen Atem, der manchem Opernsänger blanken Neid ins Herz pflanzen könnte. Den Adagio-Satz, im Tempo treffend, adelt ein ätherisch weicher Ton, ein delikates Piano, schattierungsreicher Klang und eine scheinbar endlos ausgespannte Phrasierung. Und der letzte Satz, ein „Rausschmeißer“ à la Rossini, ist mit Verve gestaltetes Virtuosen-Futter. In der Zugabe, einem Adagio von Bärmann, zeigt Christoph Schneider noch einmal, was mit „Geschmack“ vielleicht ein wenig altmodisch, aber treffend beschrieben werden kann.

Zu Beginn des Konzerts hätte man sich eine der weniger populären Ouvertüren Webers gewünscht, aber diejenige zum „Freischütz“ steht nicht nur emblematisch für die Romantik, sondern verbindet sich durch den Einsatz der Bläser (Hörner, Klarinette) mit dem Solo-Konzert und Bruckners Siebter, in der die „Wagner-Tuben“ eine prominente Rolle spielen. Die Philharmoniker zeigen keine Schwächen im füllig-seidigen Hörnerklang; Chefdirigent Axel Kober lässt allerdings die tiefen Streicher nicht markant genug hervortreten. Das Ganze schließt, wie von Weber vorgesehen, freudig.

Bruckners Satzkunst klar ausmodelliert

In Bruckners Siebter zeigt sich Kober als formsensibler Dirigent. Er nutzt den Klang nicht als Ausrede für mangelnde Artikulation oder nachlässige Ausformung der kontrapunktischen Teile, verfällt aber auch nicht der Gefahr, Bruckners Satzkünste unsinnlich vorzuführen. Im ersten Satz stellt Kober die Themen deutlich vor, macht ihre Gliederung erlebbar und markiert deutlich etwa den Übergang vom ersten zum zweiten Komplex oder den Abbruch vor dem dritten.

An den Höhepunkten, an denen Klang und thematische Dichte kulminieren, drängt sich der Eindruck auf, die Mercatorhalle neige dazu, die Konturen weich zu zeichnen, aber der zweite Satz, das berühmte Adagio, legt nahe, dass auch das Orchester zu wenig entschieden modelliert. Den Höhepunkt mit dem Beckenschlag bereitet Kober dynamisch sorgfältig vor und erklärt ihn damit für strukturell notwendig, nicht lediglich durch den Effekt motiviert. Im schnellen dritten Satz mit dem betonten Trompetenthema und dem frühlingshaft durchsichtig beginnenden, kontrastreichen vierten Satz wählt Kober stimmige Tempi und hält den Blick aufs Geschehen klar.

Die Philharmoniker zeigen schon im aufstrebenden Cellothema zu Beginn, dass sie Bruckner nicht dumpf-massiv, sondern kammermusikalisch leicht, ja bisweilen mit wienerischer Eleganz zu nehmen beabsichtigen. Den Streichern gelingt das ausnehmend schön im zweiten Thema des ersten Satzes und in lyrisch gelösten Momenten des vierten. Die Wagner-Tuben wirken bei ihrem Auftritt eine Spur zu zurückhaltend, aber ihr spröder Ernst wandelt sich im Cis-Dur des ausklingenden zweiten Satzes zu verklärter Wonne.

Beim nächsten Philharmonischen Konzert am 6. und 7. März in der Mercatorhalle Duisburg erklingt Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem mit Christoph Pregardien als Dirigent. Info: https://duisburger-philharmoniker.de/Konzerte/mozarts-requiem-7pk-2018-19




Geld, Produktionen und Zeit – von allem etwas weniger: Intendant Olaf Kröck stellt Programm der Ruhrfestspiele vor

Am 4. Mai wird in Recklinghausen ein Laufsteg für die Bürger aufgebaut. „What is the City but the People?“ heißt die Aktion. Vorbild ist der Laufsteg, den Regisseur Richard Gregory am 29. Juni 2017 für das MIF Manchester International Festival schuf. Dort entstand auch das Foto. (Bild: John Super/Ruhrfestspiele)

Jetzt wissen wir, was gespielt wird – bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen unter neuer Intendanz. Olaf Kröck, so heißt der Neue, hat sein Programm vorgestellt, es steht auch schon im Internet. Erster Eindruck: Halbwegs solide, aber auch etwas dünn.

Kröck muß mit deutlich weniger Geld auskommen als Amtsvorgänger Frank Hoffmann. Die Grundstruktur hat er nicht verändert, der Schwerpunkt liegt eindeutig im Bereich Schauspiel. Und das soll auch so sein, unterstreicht der neue Intendant. Die Ruhrfestspiele seien eben ein Theaterfestival, in deutlicher Unterscheidung zu anderen Festivals im Land.

Virginia Woolf

Die attraktivste Produktion auf dem Spielplan dürfte wohl „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ sein, inszeniert von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg mit Maria Schrader und Devid Striesow und von der überregionalen Kritik heftig, wenn auch nicht gefeiert, so doch wahrgenommen.

Weitere Glanzpunkte sind „Hochdeutschland“ nach dem Roman von Alexander Schimmelbusch, von Regisseur Christopher Rüpling auf die Bühne der Münchner Kammerspiele gestellt und bei den Ruhrfestspielen nun als „Gastspiel der Uraufführung“ angekündigt. Es geht im Stück um Victor, einen frustrierten Investmentbanker, der (stark verkürzt) kaum vierzigjährig und millionenschwer in deutschem Populismus macht. Bei diesem Stück ahnt man ein Streben nach Aktualität, was sich bei „Virginia Woolf“ kaum erkennen läßt.

Max und Moritz

Ebenfalls aus der ersten Liga der deutschen Schauspielhäuser kommen Max und Moritz nach Recklinghausen. „Eine Bösebubengeschichte für Erwachsene“ wird als Koproduktion mit dem Berliner Ensemble angekündigt, ist eine Regiearbeit des Spaniers Antú Romero Nunes. Lustig wird es werden und irgendwie auch gesellschaftskritisch, weil die Inszenierung auf die braven Bürger im Lausbubenumfeld fokussiert.

Szene aus der Tanztheaterproduktion „Grand Finale“ (Bild: Rahi Rezvani/Ruhrfestspiele)

Alte Bekannte

Vieles aber, was auf dem Programmzettel steht, weiß keineswegs in gleicher Weise zu begeistern. Da gelangt unter dem Titel „Istanbul“ eine Produktion zur Aufführung, die wesentlich von Liedern der türkischen Sängerin Sezen Aksu getragen wird und die das Licht der Bühnenwelt vor nicht all zu langer Zeit im Bochumer Schauspielhaus erblickte, als der dortige Interims-Intendant Olaf Kröck hieß.

Roberto Ciulli, seit ewigen Zeiten Mülheimer Theaterdirektor mit unbestreitbaren Verdiensten, ehrt man in einer „Werkschau“ mit der Aufführung von gleich drei Regiearbeiten: „Immer noch Sturm“, „Clowns 2 ½“, „Othello“. Das alles konnte und könnte man auch in Mülheim sehen, vielleicht auch auf dem NRW-Theatertreffen. Aber für die Ruhrfestspiele, die (jedenfalls früher) so viel Wert auf ihre Internationalität legen, ist dieser Programmschwerpunkt doch arg regional.

Szene aus „Ein wenig Leben“ (Bild: Jan Versweyveld/Ruhrfestspiele)

Müller und Wuttke

Vom Berliner Ensemble kommt als „Heiner Müllers letzte Regiearbeit“ Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Premiere war 1995, aber immerhin spielt Martin Wuttke die Titelrolle.

Zwei Einpersonenstücke hat man ins Schauspielprogramm gehoben: Zum einen Patrick Süskinds „Der Kontrabaß“ mit dem Schauspieler Roland Riebeling, den man als bürokratischen Sidekick Jütte aus dem Kölner „Tatort“ kennt, zum anderen eine Hofmannsthal-Adaption mit dem Titel „Jedermann Reloaded“, die Philipp Hochmair ganz alleine spielt, unterstützt allerdings von einer Kapelle mit dem Namen „Die Elektrohand Gottes“.

Szene aus „The Prisoner“ (Bild: Simon Annand/Ruhrfestspiele)

Peter Brook, unverwüstlich

Als „Koproduktion mit dem International Theater Amsterdam“ ist „Ein wenig Leben“ nach dem Roman von Hanya Yanagihara zu sehen. Ivo van Hove inszenierte die Viermännerromanze in Niederländisch, was die Befürchtung nährt, daß dieser „Deutschlandpremiere“ nicht sehr viele Aufführungen hierzulande folgen werden.

Peter Brook schließlich, 94jährige und immer noch sehr lebendige internationale Theaterikone, bringt ein Stück mit dem Titel „The Prisoner“ zur Aufführung, das er selbst auch, zusammen mit Marie-Hélène Estienne, geschrieben hat. Es geht um einen Gefangenen, der nicht ins Gefängnis darf und nun vor dessen Toren leidet, es spielt das Théâtre des Bouffes du Nord Paris, in Englisch. Ahnt man hier Migrantisches, so ist es in Jean Raspails „Das Heerlager der Heiligen“ handfest vorhanden. Schon in seinem 1973 veröffentlichten Roman ging Raspail der Frage nach, was es mit einer Gesellschaft macht, wenn plötzlich viele tausend Elendsflüchtlinge mit ihren Booten anlanden. Hermann Schmidt-Rahmer, den man als Gastregisseur von etlichen NRW-Bühnen gut kennt, hat den Stoff am Schauspiel Frankfurt dramatisiert. In Recklinghausen ist jetzt Uraufführung.

Ein Laufsteg für Recklinghäuser Bürger

Nicht zu vergessen: Auch das Eröffnungsspektakel am 4. Mai ist unter Schauspiel einsortiert. An diesem Tag sollen 100 handverlesene Recklinghäuser über einen Laufsteg in der Stadtmitte schreiten, quasi ein Querschnitt der Stadtgesellschaft. „What is the City but the People?“ heißt die Aktion, mit „Wer ist die Stadt, wenn es nicht die Menschen sind?“ könnte man das Motto übersetzen. Regisseur Richard Gregory hatte seinen Laufsteg erstmalig auf dem Manchester International Festival aufgebaut, und es soll eine sehr vergnügliche Angelegenheit gewesen sein. Also sind wir gespannt.

Tanztheater, wie von Rembrandt gemalt. Szene aus „The Great Tamer“ (Bild: Julian Mommert/Ruhrfestspiele)

Kulturgeschichte

Fünf Tanzproduktionen sind angekündigt, von denen zwei besonders ins Auge stechen. Zum einen „Grand Finale“ der Hofesh Shechter Company aus London, ein Stück, das die endzeitliche Menschengemeinschaft in der Krise thematisiert, zum anderen „The Great Tamer“ von Dimitris Papaiannou, wo nichts weniger als 2000 Jahre Kulturgeschichte zur Aufführung gelangen. Ein bildmächtiges, manchmal akrobatisches, manchmal komisches Programm wird angekündigt, und das Foto im Programmheft, das die Compagnie wie in einem Rembrandt-Bild mit großen Dunkelzonen zeigt, läßt Unterhaltsames erhoffen. Choreograph Papaiannou war in jüngster Zeit auch im Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch aktiv, wo er seine überwiegend nicht gelobte Tanztheater-Produktion „Seit Sie“ inszenierte. Um die 13 Festivals (die nicht konstante Interpunktion macht das genaue Zählen schwierig) und Institutionen listet das Programmheft als Produzenten auf, erster in der Liste ist das Onassis Cultural Centre, Athen. Wörtlich übersetzt heißt die Produktion übrigens „Der große Zähmer“, was sich zumindest nicht spontan erschließt.

Die Zukunft der Arbeit

Musik, Kabarett, Literatur, Diskussionen, Kindertheater und Bildende Kunst gibt es nach wie vor im Programm, auch „Fringe“ hat – abgespeckt – überlebt und heißt jetzt „Neuer Zirkus“. Aber alles ist etwas weniger geworden, eine Woche weniger, ein Zelt weniger, und vom Programm war ja schon die Rede. Hinzugekommen jedoch ist unter dem fetzigen Titel „#jungeszene“ ein Projekt in Recklinghausen und Windhoek, Namibia, in dem unter künstlerischer Leitung von „Kaleni Kollectiv“ die „Zukunft unserer Arbeit“ untersucht werden soll. Was genau dabei herauskommt weiß man natürlich noch nicht, zur Vorführung jedoch gelangt es Mitte Mai in Recklinghausen und Anfang Juni in Windhoek. Den Deutschen Gewerkschaftsbund als Gesellschafter der Ruhrfestspiele wird es freuen.

 




Kampfmusik oder komplexe Symphonik? Gabriel Feltz mit einer unideologischen Siebten von Schostakowitsch in Dortmund

Die Dortmunder Philharmoniker spielen unter Gabriel Feltz die "Leningrader" Symphonie Schostakowitschs. Foto: Dortmunder Philharmoniker

Die Dortmunder Philharmoniker spielen unter Gabriel Feltz die „Leningrader“ Symphonie Schostakowitschs. Foto: Dortmunder Philharmoniker

Was wurde nicht alles mit der Siebten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch verbunden: Eine Feier des heldenhaften Kampfes der ausgehungerten Leningrader Bevölkerung gegen die Truppen der Wehrmacht. Ein Fanal des Durchhaltewillens gegen Nazi-Deutschland.

Und weiter: Eine ideologisch aufgeladene Auftragsmusik Stalins. Eine „kodierte Botschaft des Widerstands gegen die kommunistische Tyrannei“. Eine Abrechnung mit der Gewalt an sich in ihrem Zynismus, ihrer Bösartigkeit und ihrer Faszination. Oder, wie es Schostakowitsch selbst schrieb, ein „Bild unseres kämpfenden Volkes in Musik“?

Wie auch immer: Jede dieser Auffassungen hat Spuren in der Interpretation dieser wohl beliebtesten unter den 15 Symphonien Schostakowitschs hinterlassen. Doch Gabriel Feltz hat offenbar entschieden, sich keiner der vorgeprägten Deutungen anzuschließen, sondern die Musik für sich sprechen zu lassen.

Ohne die Last der vielen Bedeutungen

Entlastet von Bedeutung, präsentiert sich die Siebte als ein komplexes Werk, das die Formen von Variationen, Scherzo, Choral aufnimmt und im letzten Satz eine dicht verarbeitete Reminiszenz an das thematische Material des Vorhergegangenen entwickelt. Dass Feltz dazu die emotionale Aufladung der Musik zurücknimmt, mag ihm den Vorwurf einer unverbindlichen, ja blassen Interpretation einbringen.

Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk

Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk

Ein Vorwurf, der jedoch nicht trägt: Im ersten Satz hört man weder die Invasion der Deutschen ins friedliche Bauernland noch den Triumph der Dummheit, sondern die allmähliche Durchsetzung eines scharf geschnittenen Marschthemas. Feltz meidet die Idylle, indem er die einfach wirkenden ersten Perioden laut und zügig nimmt, aber die Eintrübung mit den ersten Pianissimo-Wirbeln der kleinen Trommel stark zurücknimmt und sich damit Reserve für das riesige Crescendo schafft.

Ein transparentes Gewebe

Der Orchesterapparat entfaltet allmählich seinen dynamischen Sog, aber Feltz hält das Gewebe so transparent, dass vom Piccolo bis zu den konturscharfen Kontrabässen, vom gedämpften Blech bis zum klagenden Fagott jeder Akzent, jede Linie sich deutlich abzeichnen. Auch plötzliche Rückungen und Attacken, grelle Bläserstrecken und entspannte Violinpassagen gelingen. Schostakowitschs Musik hat auf einmal den ideologischen Ballast nicht mehr nötig und fasziniert mit ihrer kompositorischen Qualität.

Ebenso überzeugend halten die Dortmunder Philharmoniker die Spannung in den empfindlichen, leisen Ausklängen des ersten Satzes mit dem Morendo der Klarinette und dem resignierten Fagott. Der Wirbel des Scherzos mit seinen ironischen Zirkusmusik-Anklängen wird von Pianissimo-Fanfaren, Harfe und Bassklarinette in unheimlicher Stille begraben. Die Philharmoniker erweisen sich auch den unterschiedlichen klanglichen Welten des Adagio und der Architektur des Finalsatzes bravourös gewachsen – von der kraftvollen Homophonie der Violinen über die gleißenden Bläserakkorde bis hin zur klanglichen Schichtung des wellenförmig sich steigernden Höhepunkts.

Als der Krieg noch unbekümmert schmettern durfte

Gabriel Feltz und sein Orchester zeigen sich in dieser auf die Formen und Strukturen der Musik konzentrierten Wiedergabe beeindruckend bewusst gestaltend. So auch in der passenden Einleitung des Konzerts unter dem Motto „Teurer Triumph“ mit Peter Tschaikowskys „1812“-Ouvertüre op. 49. Wird die Siebte Schostakowitschs mit der Hitler-Invasion in dies Sowjetunion verbunden, so bezieht sich Tschaikowsky explizit im Titel auf den Einmarsch Napoleons ins zaristische Russland – ein wahnsinniges Unternehmen, das ebenfalls Tod und Verderben brachte und mit dem völligen Scheitern der Franzosen endete. Feltz zelebriert – wenn auch ohne echte Kanone – Kriegslärm und Siegesglocken, flutend triumphale Crescendi und herrische Attacken. 60 Jahre vor Schostakowitsch darf der Krieg hier noch unbekümmert schmettern.




Der Weg zur Synthese: Yuja Wang und Leonidas Kavakos mit einem Duoabend im Konzerthaus Dortmund

Im „Allegro brusco“ fallen die Fesseln. Brusco, das bedeutet auf deutsch barsch oder grob. Und so hämmert Yuja Wang dreimal den Ton C in den Konzertflügel, stanzt ihn kraftvoll ins Bassregister des Instruments. Leonidas Kavakos antwortet auf seiner Stradivari mit der gleichen, lustvoll aggressiven Energie. Schrubbt Akkorde in die Saiten, deren grelle Dissonanz einer Attacke auf Ohren und Nerven gleicht.

Sergej Prokofjews 1. Violinsonate, gewidmet dem legendären Geiger David Oistrach, scheint den beiden berühmten Interpreten Befreiung zu bringen. Die radikale, ja anarchische Kraft, mit der sich das Genie des Komponisten hier Bahn bricht, führt ihr Spiel im Konzerthaus Dortmund auf einen ersten Gipfel.

Kavakos dreht sich für das heroische Seitenthema stärker dem Publikum zu, die brennende Intensität seines Violintons zu voller Glut steigernd. Dieser Klang wirkt umso stärker, als der Geiger das einleitende Andante assai nur wenige Minuten zuvor mit eiskalt rieselnden Läufen beendet hatte: mit gespenstisch fahlen Tonleitern, die dem Willen des Komponisten nach einem Wind gleichen sollten, der über einen Friedhof streicht.

Grabesdunkel also, abgelöst von unirdisch weißem Licht. Träumerisch zarte Melodien und wild tobende Motorik. Derlei Kontraste fegen die vornehme Eleganz davon, mit der Wang und Kavakos zu Beginn die Sonate B-Dur 454 von Wolfgang Amadeus Mozart interpretieren. Gleichwohl kündet ihre Lesart nicht allein von heiter-verspieltem Rokoko, sondern auch von Abgründen, wie Mozart sie zum Beispiel in seinem „Don Giovanni“ aufriss. Als wollten die Künstler der beseelten Idylle des Andante nicht recht glauben, treiben sie die Musik mit unterschwelliger Nervosität voran. Der Violinton klingt zuweilen gläsern. So leichtfüßig Läufe und Triller auch dahin perlen mögen, streifen zuweilen doch Schatten vorüber.

Seit ihrer 2013 aufgenommenen Brahms-CD (siehe Cover-Abbildung) treten Leonidas Kavakos und Yuja Wang immer wieder zusammen auf. Sie deswegen ein Duo zu nennen, scheint gleichwohl gewagt ob des weltweiten Ruhms, den beide als Solisten genießen – und angesichts der Tatsache, dass Enrico Pace als Kavakos‘ langjähriger musikalischer Partner gilt.

Gleichwohl finden die glamouröse Chinesin und der stets mit einem Schuss reservierter Strenge auftretende Grieche nach der Pause zu bemerkenswerter musikalischer Einheit. In Béla Bartóks Rhapsodie für Violine und Klavier Nr. 1 steigern sie tänzerische Rhythmik und feurigen Volksliedton, bis alles nur noch wirbelnde, rauschhafte Virtuosität ist. Darf Kavakos hier nachgerade zigeunerisches Temperament ausspielen, so kommen die viel gerühmten „fliegenden Finger“ der Yuja Wang in der Violinsonate von Richard Strauss zum Zuge. Was der 23-jährige Komponist der Pianistin abverlangt, gleicht einem halben Klavierkonzert: rauschhafte Tonkaskaden und Arpeggien, kapriziöse Einsprengsel und plötzliche Beleuchtungswechsel in voller Fahrt.

Aber eine Yuja Wang hat dergleichen souverän im Griff. Wie im Gleitflug segelt sie durch den vertrackt schweren Part, trumpft grandios auf, ohne die Violine zu übertönen. Im Gegenteil blüht der Ton von Leonidas Kavakos noch einmal auf, dass es zum Staunen ist. Süffig und schwelgerisch tönt uns das Jugendwerk entgegen, dem Vorbild von Johannes Brahms noch nahe. Beide Künstler wirken nun vollkommen gelöst, finden in dieser Freiheit aber zur packenden, über jeden Zweifel erhabenen Synthese.




Weitaus mehr als Barcarole und Can Can: Ein Blick auf das Offenbach-Jubiläumsjahr 2019

Jacques Offenbach um 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

Jacques Offenbach um das Jahr 1870, Reproduktion Rheinisches Bildarchiv Köln

Jacques Offenbach ist kein Unbekannter: Wer jemals die Barcarole aus „Hoffmanns Erzählungen“ gehört hat – und sei es nur als Werbe-Untermalung – wird die träumerisch-irisierende Melodie nie mehr vergessen. Wer nur einmal den Sog des Cancan aus „Orpheus in der Unterwelt“ gespürt hat, wird die Beine nie mehr ruhig bekommen.

Und dennoch: In seinem 200. Geburtsjahr 2019 ist der Kölner „Judenpursch“, der in Paris eine märchenhafte Karriere gemacht hat und nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 unter vielen Anfeindungen einen Absturz erleiden musste, als Komponist immer noch lückenhaft erschlossen, als Mensch oft nur als Klischeefigur präsent und in seiner Wirkungsgeschichte in längst nicht allen Aspekten beleuchtet. Von seinen zwischen gut 100 bis 140 geschätzten Werken für die Bühne sind höchstens zehn Prozent hin und wieder präsent, für viele gäbe es nicht einmal Noten- oder gar Aufführungsmaterial.

Motto des Festjahres in Köln: „Yes, we cancan“

Mit einem groß angelegten Festjahr will die Stadt Köln ihren wohl bedeutendsten musikalischen Sohn neu ins Bewusstsein rücken. Zahlreiche Partner bringen Mittel und Know-how ein, allen voran die Kölner Offenbach-Gesellschaft, das Land Nordrhein-Westfalen, Förderer aus der Wirtschaft, den Medien und der Kultur – und auch die Katholische Kirche. „Yes, we cancan“, ist das Motto des Jahres, das den „Erfinder der Operette“ endlich als einen der großen Komponisten des 19. Jahrhunderts öffentlich wirksam machen will.

Das tut not: Denn während etwa Richard Wagner omnipräsent auf der Bühne und in der Literatur ist, Werk und Person in nahezu allen Details ausgeleuchtet und kontrovers diskutiert sind, während sich Gioachino Rossini weltweit und immer mehr auch im deutschen Sprachraum steigenden Interesses erfreuen kann, während Giacomo Meyerbeers epochemachende Opern gerade in aufregenden Inszenierungen neu entdeckt werden, steckt eine umfassende Offenbach-Rezeption noch in den Anfängen.

Auch die seit 20 Jahren beim Verlag Boosey & Hawkes laufende monumentale Offenbach- Edition Jean-Christophe Kecks änderte das nur zeitweise und in einigen prominenten Fällen. Noch bis vor kurzem gab es Theater, die selbst Offenbachs Hauptwerk „Les Contes d’Hoffmann“ und seine bahnbrechenden Operetten nach altem, heutigen kritischen Standards nicht genügendem Material spielten.

Sein Musiktheater war für das Hier und Jetzt gedacht

Das hat vielfältige Gründe: Offenbach verstand sich nicht, wie Wagner, als Schöpfer überzeitlich gültiger Werke, sondern produzierte für sein Hier und Jetzt, für die Gesellschaft des französischen Zweiten Kaiserreichs. Sein Stern sank nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, nach dem er in Frankreich wie in seinem Heimatland Deutschland gesellschaftlich angefeindet wurde und den zunehmenden Antisemitismus zu spüren bekam.

Offenbach konzipierte sein Musiktheater neu, setzte auf märchenhafte, opulent ausgestattete Féerien. Seine zeitaktuellen, satirischen Werke hatten ihre große Zeit hinter sich. Spätere Generationen konnten nichts mehr damit anfangen. Die Kritik konzentrierte sich im Schatten Wagners auf die angeblich „seichte“ Musik und übte sich in moralischer Empörung.

Die großen Erfolgsoperetten degenerierten zu harmlos-heiteren Vergnügungen. Nationalismus und Antisemitismus als treibende Kräfte sorgten dafür, dass gerade die politisch-satirische Seite seines Œuvres, die schon zu seinen Lebzeiten von der Zensur klein gehalten wurde, auf den Bühnen kaum eine Chance mehr hatte.

In alle Winde verstreutes Material

Dass „Orpheus in der Unterwelt“ oder „Pariser Leben“ als relativ viel gespielte Werke nicht nur burleske Parodien der versunkenen Antike oder einer historisch gewordenen Gesellschaft sind, sondern aufmüpfiges Potenzial haben, wurde zwar seit den siebziger Jahren wieder entdeckt. Aber die Nach-68er-Kultur suchte sich andere Ausdruckswege als ausgerechnet Operetten.

So erfreute sich Offenbach zwar eines gewissen Respekts, der sich aber – so jedenfalls in der Erinnerung – nicht in Zahl und Qualität der Aufführungen niederschlug. Dazu kommt die Abwertung der Gattung Operette in den letzten Jahrzehnten, die zwar vor allem dem – seit der Nazizeit geförderten – sentimentalen Genre galt, aber dafür sorgte, dass die Sparte des unterhaltsamen Musiktheaters an den meisten Theatern auf eine oder zwei Produktionen pro Spielzeit schrumpfte, wenn sie nicht ganz aufgegeben wurde, und die spezialisierten Ensembles verschwanden. Und ein Problem ist auch die archivalische Überlieferung: Das Material ist in alle Winde verstreut, nicht zugänglich oder überhaupt nicht bekannt.

Das Problem mit der Aktualisierung

Zu ihrer Zeit waren Jacques Offenbachs Operetten – präziser ist der Begriff der opéra bouffe – topaktuell. Deswegen klappt es mit der Modernisierung meistens nicht. Zwischen laschem Historismus und bemühter Zeitgenossenschaft führt eine tückische Straße geradewegs in Belanglosigkeit, glitschig gepflastert mit groben Gags oder völlig überdreht in den Klamauk abdriftend. Offenbach zu inszenieren gehört in die Königsklasse des Regiehandwerks, und an Figuren wie der Großherzogin von Gerolstein mit ihrer zweifelhaften Entourage oder König Bobèche („Barbe-bleue“) in den Gedärmen seiner Macht scheitern Regisseure unter Umständen erbärmlicher als an Parsifal oder Elektra.

Derzeit in Hagen im Spielplan: Jacques Offenbachs "Pariser Leben". Die Regie von Holger Potocki lässt das nostalgische Paris nur noch als Zitat zu. Veronika Haller und Kenneth Mattice als Ehepaar Gondremarck in der Aufführung in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Derzeit in Hagen im Spielplan: Jacques Offenbachs „Pariser Leben“. Die Regie von Holger Potocki lässt das nostalgische Paris nur noch als Zitat zu. Veronika Haller und Kenneth Mattice als Ehepaar Gondremarck in der Aufführung in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Christoph Marthaler hat in Basel an „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ vorgeführt, was es heißt, die Figuren Offenbachs in ihren ambivalenten Charakteren ernst zu nehmen, ohne Humor, Ironie und Parodie zu verraten. Und auch an kleineren Theater gelingt der eine oder andere Offenbach-Abend, etwa jüngst in Hagen, wo Holger Potocki in „Pariser Leben“ jede Form von Historismus meidet und das damals aktuelle, heute historisch-nostalgisch verklärte Paris nur als sanft ironisches Zitat zulässt.

Der „Sittenverderber“ aus dem frivolen Paris

Inzwischen passé sind die Argumente gegen den Meister des satirischen Humors, wie sie nicht zuletzt in kirchlichen Kreisen lange vorgebracht wurden: Offenbach als „Sittenverderber“ stand für ruchloses Treiben auf (und wie geargwöhnt hinter) der Bühne, für verdammenswerte sexuelle Freizügigkeit, für das Verderben einer für unschuldig gehaltenen Jugend. Dazu hat Manuela Jahrmärker unter dem Titel „Vom Sittenverderber zum ewig klassischen Komponisten“ in einem lesenswerten Band von Rainer Franke über „Offenbach und die Schauplätze seines Musiktheaters“ zahlreiche Quellen gesammelt, die nicht nur das christliche Milieu betreffen.

Offenbach ist in seinem völlig säkularen Musiktheater in der Tat ein Komponist der Moderne. Aber über allen moralischen Verdikten wurde übersehen, wofür seine beißende Kritik steht: Er entlarvt die moralische Heuchelei, das Bemänteln von Machtwille, Gier, narzisstischer Egozentrik oder eiskaltem ökonomischem oder politischem Kalkül mit „höheren“ Werten. Er führt Machthaber und ihre subalternen Schmarotzer vor, die Staat und Gesellschaft, Regeln und Gesetze nur als Mittel verstehen, mit denen sie sich Macht oder Lust verschaffen. Der Jupiter in „Orphée aux Ènfers“ ist eben kein drollig parodierter antiker Gott, sondern ein Scheusal, das selbst die – moralisch nicht weniger fragwürdigen – Stützen seiner Macht gegen sich aufbringt.

Dass Offenbach in den wenigen stillen, sentimentalen Momenten die Sehnsucht seiner Figuren nach einer wahrhaftigen, menschlichen Welt durchschimmern lässt, in der vielleicht sogar echte Liebe möglich sei, gibt seinen Operetten einen zutiefst humanen Zug und lässt, was seine Kritiker meist übersehen haben, in der Verderbtheit seiner Welten die „Sehnsucht nach dem Heil“ durchscheinen – nur eben viel menschlicher als bei Wagner.

Entdeckungen auf den Spielplänen der Opernhäuser

Der Blick auf die Spielpläne der Opernhäuser bis Juli 2019 zeigt noch wenig von dem innovativen Impuls, den sich Kenner und Liebhaber Offenbachs vom Jubiläumsjahr erhoffen. Der Opern-Klassiker „Les Contes d’Hoffmann“ steht sowieso im internationalen Repertoire – so von Buenos Aires über Peking, Moskau und Wrocław bis Neapel, in Deutschland in Gera und Karlsruhe. Aber seine erst in jüngerer Zeit wiederentdeckte Oper „Les Fées du Rhin“ („Die Rheinnixen“) wird derzeit lediglich in Biel-Solothurn, sein „Fantasio“ nur in Montpellier und Eindhoven (ab Mai 2019, geplant ist auch ein Gastspiel in Köln) gespielt.

Die nie veröffentlichte, erst jüngst von Jean-Christophe Keck wiederentdeckte und publizierte köstliche Polit-Satire „Barkouf“ – ein Hund regiert als Vizekönig im indischen Lahore – erlebte im Dezember 2018 Strasbourg ihre moderne Erstaufführung und wird 2019/20 in Köln zu sehen sein. Und in Hannover treibt in einer weiteren bissigen Satire auf unfähige Herrscher und korrupte Cliquen „Le Roi Carotte“ sein Unwesen.

Seltenes kündigen auch die Pariser Bühnen an: das Théâtre des Champs-Elysées „Maître Peronilla“ und die Opéra Comique „Madame Favart“. Und mit Hilfe des Palazzetto Bru Zane, einem Zentrum für die Erforschung und Wiederentdeckung der romantischen französischen Oper, führt das Théâtre Marigny unter dem Titel „Bouffes Bru Zane“ von Januar bis Juni eine Serie von einaktigen Werken der opéra-bouffe auf.

Von der „Prinzessin von Trapezunt“ bis zum regierenden Hund „Barkouf“

Nur in Würzburg bis April und ab Mai 2019 in Hamburg wird im deutschsprachigen Raum derzeit Offenbachs Erfolgsoperette "La Belle Hélène" gespielt. In Alexandra Burgstallers Ausstattung ist die fern gerückte Antike nur noch dekorative Assoziation. Foto: Nik Schölzel

Nur in Würzburg bis April und ab Mai 2019 in Hamburg wird im deutschsprachigen Raum derzeit Offenbachs Erfolgsoperette „La Belle Hélène“ gespielt. In Alexandra Burgstallers Ausstattung ist die fern gerückte Antike nur noch dekorative Assoziation. Foto: Nik Schölzel

In Deutschland zeigt das rührige Theater Hildesheim ab 3. März 2019 „Die Prinzessin von Trapezunt“. Andere beschränken sich bisher auf das, was von Offenbach in den Spielplänen überlebt hat: „Die Großherzogin von Gerolstein“ (Aachen, Halle, Köln), „Die schöne Helena“ (Hamburg, Würzburg), „Pariser Leben“ (Hagen, Trier) und „Orpheus in der Unterwelt“ (Bielefeld, Krefeld-Mönchengladbach, Mannheim, Oldenburg).

In Köln umfasst die Liste der Veranstaltungen in nächster Zeit eine Podiumsdiskussion am 22. Januar im Domforum mit dem Kölner PresseClub und dem Katholischen Bildungswerk, bei der das deutsch-französische Verhältnis im europäischen Kontext thematisiert wird. Das Institut Français in Köln eröffnet am 25. Januar eine Veranstaltungsreihe zum Offenbach-Jahr mit dem jungen Kölner Ensemble VivazzA. Das Konzert stellt Offenbach in den Kontext der Musik seiner Zeit.

„Divertissementchen“ zur Karnevalszeit

Ein Riesenspaß dürfte ab 2. Februar „Offenbach – ein Divertissementchen“ der Oper Köln werden, das die Karnevalszeit bis 5. März mit schmissiger Musik und Ballett-Choreografien auf die übliche Kölner Weise ausfüllen wird. Am 16. März nimmt die Kammeroper Köln ihre Produktion von „Orpheus in der Unterwelt“ wieder auf. Am 9. Juni feiert dann „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ ihre Premiere in der Oper Köln. Ab 17. Juni zeigt die Volksbühne am Rudolfplatz in Köln zwei der hintersinnig-amüsanten Einakter: „Die Insel Tulipatan“ und „Salon Pitzelberger“. Und ab 19. Juni stehen Leben und Werk Offenbachs im Zentrum eines Symposions der Hochschule für Musik und Tanz in Köln.

Info: https://www.yeswecancan.koeln/veranstaltungen




2019 beginnt für Dortmund wenig verheißungsvoll: Torhaus ohne Kunst und Musik, Naturkundemuseum bleibt geschlossen

Ansicht des Torhauses im Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

Ansicht des Torhauses im Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

Das schmucke Dortmunder Torhaus Rombergpark, 1681 erbautes Relikt des einst stolzen Schlosses Brünninghausen und immerhin schon seit 1968 Schauplatz kleinerer Kunstausstellungen, kann nicht mehr kulturell genutzt werden. Auch die langjährige Reihe der Gitarrenkonzerte entfällt an diesem Ort. Zudem wird es dort keine Ambiente-Hochzeiten mehr geben.

Dies alles hat offenbar mit Erfordernissen des Brandschutzes zu tun. Im Fall eines Falles wäre die schmale Wendeltreppe, die hinauf zum Ausstellungsraum bzw. hinunter führt, wohl wirklich kein tauglicher Fluchtweg. Man stutzt freilich beim Gedanken, warum der Pressetermin, bei dem das „Aus“ für die genannten Veranstaltungen offiziell verkündet wurde, ausgerechnet im besagten Torhaus stattfinden musste. War’s ein vorerst letztes Mal der „Geist des Ortes“, der da rief?

Jedenfalls hat man zweierlei Ersatz gefunden, jeweils in der Innenstadt. Die Ausstellungen regionaler Künstler ziehen (nach Ende der „Pink Floyd“-Schau) in den neuen Pavillon am „Dortmunder U“, die Gitarristen werden künftig in der Rotunde des Museums für Kunst und Kulturgeschichte auftreten. Ob das denkmalgeschützte Torhaus selbst eines Tages wieder zur Verfügung stehen wird, ist noch ungewiss.

Tags zuvor wurde bekannt, dass die Wiedereröffnung einer weiteren Kultur-Einrichtung sich abermals schmerzlich verzögert. Das 2014 zwecks gründlichen Umbaus geschlossene Naturkundemuseum, vordem eine der bestbesuchten Kulturstätten der Kommune, wird vermutlich erst im Frühjahr 2020 wieder zugänglich sein. Etliche Misshelligkeiten im Verlauf der Bauarbeiten haben das Projekt immer wieder verzögert. Und jetzt bitte keine billigen Vergleichsscherze mit dem schier ewig unfertigen Berliner Flughafen BER.

Bliebe allerdings zu hoffen, dass das noch junge Jahr 2019 der Stadt keine weiteren Kulturnachrichten dieser weniger erfreulichen Sorte beschert.

 




Ein Fest des Rhythmus: Kirill Petrenko und das Bundesjugendorchester in der Philharmonie Essen

Das Bundesjugendorchester machte auf seiner Tournee in Essen Station. Foto: Selina Pfruener

Das Bundesjugendorchester machte auf seiner Tournee in Essen Station. Foto: Selina Pfruener

Es war eines von nur vier Konzerten mit Kirill Petrenko am Pult: Nach Luxemburg und vor Hamburg und Berlin gastierte das Bundesjugendorchester in der Philharmonie Essen auf seiner Wintertournee zum Beginn seines 50-Jahre-Jubiläums. 1969 gegründet, ist das Orchester nicht mehr aus der Bildungslandschaft für angehende Profi-Musiker wegzudenken.

14 bis 19 Jahre alt sind seine Mitglieder, und manches Gesicht auf dem Podium der Philharmonie wäre noch als ein gutes Stück jünger durchgegangen. Andere wiederum hatten schon ganz die Attitüde des versierten Berufsmusikers angenommen – und tatsächlich schlugen 83 Prozent der Jugendlichen im BJO (so eine Statistik von 2013) erfolgreich diesen Weg ein.

Kirill Petrenko leitete das Bundesjugendorchesterbei seinem Konzert in Essen. Er ist künftiger Chef der Berliner Philharmoniker, die auch Patenorchester des BJO sind. Foto: Wilfried Hösl

Kirill Petrenko leitete das Bundesjugendorchesterbei seinem Konzert in Essen. Er ist künftiger Chef der Berliner Philharmoniker, die Patenorchester des BJO sind. Foto: Wilfried Hösl

Wo also mit Kritik ansetzen, wenn ein musikalischer Perfektionist ein jugendlich hochmotiviertes Orchester anspornt? Kirill Petrenko, einer der am höchsten gehandelten Dirigenten der Gegenwart und ab Sommer 2019 neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, entfesselt ein Fest des Rhythmus: Leonard Bernsteins sinfonische Tänze aus der „West Side Story“ als Nachklang zum 100. Geburtsjahr des Amerikaners 2018. Ein Konzert für Pauken und Orchester von William Kraft, früher Solo-Pauker beim Los Angeles Philharmonic Orchestra. Und zum Abschluss die Apotheose des Rhythmus am Beginn der Moderne, Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“.

Bei so viel Sorgfalt, bei so viel Enthusiasmus lässt sich nur sagen: Es war mitreißend. Sicher: Man bibberte mit manchem jungen Solisten, wenn es vom Fagott bis zum Tamtam heikle Einsätze und nervstrapazierende Soli gab. Man störte sich nicht, wenn im jugendlichen Schwung manche dynamische Feinheit ausfiel, weil die Musiker zwei Stufen auf einmal zum glanzvollen Fortissimo nahmen.

Man vermisste über dem punktgenauen Zusammenspiel kaum, dass manche agogische Freiheit, manch lasziver oder brutaler Tonfall der Genauigkeit geopfert wurde. Aber die leisen Stellen, auf die Petrenko offenbar ebenso viel Wert legte wie auf kantenscharf gefeilte Konturen, waren wunderbar ausbalanciert und öffneten bei Strawinsky Raum für plastisch gestaffelte Klangwirkungen. Petrenko ließ die Musiker keinen Moment alleine. Seine Zeichen waren präzis, unterstützend und frei von Dirigier-Getue.

Wieland Welzel, Pauker der Berliner Philharmoniker und selbst einmal Mitglied des BJO, zeigte in William Krafts Konzert, wie die moderne Pauke als Solo-Instrument brillieren kann: Zu Beginn eine schwebende, mit den Händen erzeugte Kadenz, später virtuoses Spiel mit diversen Schlägeln, zündende Steigerungen, magische Rhythmen und raumlos-ätherische leise Klänge. Das alles mit einer Finesse, die man einem so statischen Instrument wie der Pauke nie zutrauen würde.

Ein gelungener Einstieg in das Jubiläumsjahr, dessen Höhepunkt am 25. April in Köln mit einem Fest für die Ehemaligen und einem Konzert tags darauf mit Ingo Metzmacher gefeiert wird.

Info: www.bundesjugendorchester.de

 




Heino wird 80 – Sind denn alle Geschmäcker nivelliert?

Auch nicht mehr der Jüngste: Heino. (© ZDF / petersohn, michael)

Auch nicht mehr der Jüngste: Heino. (© ZDF / petersohn, michael)

Kinder, wie die Zeit vergeht! Denkt euch nur: Morgen (13.12.) wird Heino schon 80. Obwohl: Etliche Leute haben bereits vor vier bis fünf Jahrzehnten gesagt, er sei ein Mann des Ewiggestrigen und wirke ziemlich alt.

Was sonst nur ganz wenigen – *räusper, räusper* – Kulturschaffenden widerfährt: Das ZDF hat ihn jetzt mit einer 45-Minuten-Sendung zur Prime Time gewürdigt. Darin wird der sonore Volkslied-Barde überwiegend im milden Licht der (Lebens)-Abendsonne betrachtet. Selbst die meisten Achtundsechziger, so erfahren wir, hätten irgendwann und irgendwie ihren Frieden mit Heino gemacht. Ein Rebell von damals ist sogar seit Jahren sein Produzent und hat ihn offenbar als Profi schätzen gelernt.

Hat sich also alles relativiert, sind alle Unterschiede nivelliert und alle einst so tiefen Gräben zugeschüttet worden? Je nun. Jörg Müllners Film mit dem schulterklopfenden Titel „Mensch Heino!“ spart auch kritische Fragen nicht gänzlich aus – und nicht alle haben sich mit der Zeit ohne weiteres erledigt; wenngleich Heino selbstzufrieden meint, der Erfolg gebe ihm in jedem Sinne Recht.

Eine von Heinos ersten Autogrammkarten aus den frühen 1960er Jahren. (© ZDF/Privatbesitz Heino)

Eine von Heinos ersten Autogrammkarten aus den frühen 1960er Jahren. (© ZDF/Privatbesitz Heino)

Trotz Apartheid in Südafrika aufgetreten

In die äußere rechte Ecke gehört er wohl wirklich nicht. Jedoch: Zumindest „blauäugig“, naiv und fahrlässig, hat Heino (bürgerlich Heinz Georg Kramm) gelegentlich Liedgut ausgegraben und neu zu beleben versucht, das schon in der Nazizeit zum forschen Absingen und Marschieren taugte. Auch ist er gegen alle Vernunft und wider allen Anstand in Südafrika aufgetreten, als dort noch die rassistische Apartheid herrschte.

Immer wieder zog es ihn nach Namibia (zu Kolonialzeiten „Deutsch-Südwest“), um dem dortigen Deutschtum dienstbar zu frönen und dabei stets das historisch anrüchige „Südwester-Lied“ anzustimmen. In und um Windhoek hat er seine vielleicht treueste Fangemeinde, allenfalls annähernd erreicht von Scharen ehemaliger DDR-Bürger, die ihn früher partout nicht hören sollten (worüber sogar die Stasi wachte). Filmemacher Jörg Müllner präsentiert auch ein schräges Archiv-Fundstück aus der Fernseh-Steinzeit: Karl-Eduard von Schnitzler (berüchtigt als „Sudel-Ede“) mit einem harschen Verdammungsurteil über Heino im „Schwarzen Kanal“, dem legendären DDR-Propagandamagazin.

Liaison mit einer bildhübschen Prinzessin

Schlagerkollege Roberto Blanco hingegen huldigt ihm auf fast schon ergreifend schlichte Weise. Heino habe Millionen glücklich gemacht. Neben Weggefährten und Managern kommt selbstverständlich auch Gattin Hannelore (seit 1979 seine dritte Ehefrau) zu Wort. Fotografien zeigen sie als bildhübsche, in ihrer ersten Ehe adelig angeheiratete Prinzessin von Auersperg. Die Boulevard-Presse überschlug sich damals ob dieser Promi-Liaison. Freilich drohte zugleich ein Imageschaden beim rückständigen Publikum. Hatte der treudeutsche Heino nicht auch ehelich felsenfest zu bleiben?

Überzeichnet wie eine Comicfigur

Ein Deutungsansatz des Films besagt, dass dieser Heino sich zu einer Art Comicfigur habe stilisieren lassen, alles an ihm sei auf gewisse Weise übersteigert – das Blonde, das Deutsche, das Heimattreue; auch die monströsen Sonnenbrillen, die er als Markenzeichen weiter trug, als seine Augenkrankheit längst geheilt war. Just dieses Übertriebene zog wie von selbst den Spott auf sich – bis hin zum berühmten Gruft- und Zombie-Auftritt eines erschröcklich vervielfältigten Heino in „Otto – der Film“.

Vaterlos aufgewachsen: Kindheitsbild aus der frühen Nachkriegszeit mit Mutter Franziska und Schwester Hannelore. (© ZDF/Privatbesitz Heino)

Vaterlos aufgewachsen: Kindheitsbild aus der frühen Nachkriegszeit mit Mutter Franziska und Schwester Hannelore. (© ZDF/Privatbesitz Heino)

Längst ist Heino souverän und selbstironisch genug, um beispielsweise Cover-Versionen alter Rocksongs zum Besten zu geben oder auch mit den Brachial-Typen von „Rammstein“ gemeinsam aufzutreten – und das vor 80.000 Hardrock- bzw. Metal-Fans beim Wacken Open Air. Natürlich steckt aber vor allem geschicktes Marketing hinter derlei forcierten Crossover-Bestrebungen. Heinos Karriere, die schon zu verblassen schien, lebte damit noch einmal kultverdächtig auf.

Ärmliche Kindheit in Düsseldorf

Der Film blendet auch weit zurück zu den Anfängen – in die recht ärmliche, vaterlose Düsseldorfer Kindheit, zur nicht so sehr geliebten Bäcker- und Konditorlehre, zu den ersten Auftritten mit dem Trio OK Singers. Um die schmale Kasse aufzubessern, mussten Heino und seine Mitstreiter anfangs auch schon mal im Hafen Säcke schleppen oder sich auf dem Schrottplatz verdingen.

Der Durchbruch kam 1965 in Quakenbrück. Dort traf Heino den Schlagersänger und Produzenten Ralf Bendix („Babysitter-Boogie“), der ihn allmählich zum unverkennbaren Markenzeichen formte. Heino machte demnach widerspruchslos alles, was Bendix wollte. Und tatsächlich: Alsbald hatte Heino sein frühes Vorbild Freddy Quinn nicht nur erreicht, sondern auch überflügelt, was die Verkaufszahlen anging. Spätere Bilanz: 50 Millionen abgesetzte Tonträger in Deutschland, dazu ein Bekanntheitsgrad von angeblich 98 Prozent.

Wenn er so sein Bankkonto betrachtet…

Der junge Heino wurde von Bendix gezielt als Kontrastprogramm zur Beat-Musik und zu den nachfolgenden Richtungen aufgebaut – mit der schwarzbraunen Haselnuss, dem blau, blau, blau blühenden Enzian und allem volltönenden Karamba Karacho. Ihr wisst schon: diese manchmal arg dröhnenden Klänge fürs tümliche oder tümelnde Volk.

Finanziell sollte er das alles nicht bereuen. Wenn er so sein Bankkonto betrachte, sinniert der in der Eifel lebende Heino nun rückblickend im Film, dann habe er wohl alles richtig gemacht. Doch das ist eine gewagte, wenigstens einseitige Schlussfolgerung. Denn es liegen, wie der Film gleichfalls verrät, auch einige Schatten auf seiner Familiengeschichte. Alles hat seinen Preis…

In der Mediathek ist der ZDF-Film „Mensch Heino! Der Sänger und die Deutschen“ noch für ein Jahr abzurufen – bis zum 10. Dezember 2019.

 

 

 

 




Nicht mehr neu, aber noch jung: Konzertreihe in Düsseldorf würdigte Bernd Alois Zimmermann zum 100. Geburtstag

(c) Tonhalle Düsseldorf

Das Plakat zur Konzertreihe (© Tonhalle Düsseldorf)

Mancher Mensch wäre, vom Alter gebeugt, glücklich, erginge es ihm so wie der Musik des 20. Jahrhunderts. Sie mag komponiert sein, als die Großmütter der Zuhörer noch kleine Mädchen waren, doch sie bleibt ewig „neue“ Musik. Wer wäre nicht gerne ebenso alterslos?

Dabei ist Musik, die vor fünfzig, sechzig Jahren geschrieben wurde, eigentlich längst „alte“ Musik: Zu Mozarts Zeiten wäre es niemanden eingefallen, etwa Georg Friedrich Händel in Spezialkonzerten für „neue“ Musik zu spielen. Aber Bernd Alois Zimmermann etwa geht immer noch irgendwie als Zeitgenosse durch. Das ehrt ihn, zeigt es doch, wie zukunftsweisend seine Art zu komponieren war.

Aber der Mann wurde 1918 geboren und hat sich 1970 – vor fast 50 Jahren! – das Leben genommen. Dennoch ist seine Musik beim breiten Publikum noch nicht richtig angekommen. Das scheint sich soeben zu ändern: Die Neuinszenierungen seines Hauptwerks, der Oper „Die Soldaten“ in Nürnberg und Köln in seinem 100. Geburtsjahr waren Publikumsrenner mit ausverkauften Vorstellungen.

Bei den drei Konzerten, die in der Tonhalle Düsseldorf ein kleines Bernd-Alois-Zimmermann-Festival bildeten, ließ sich ein solcher Zulauf nicht feststellen. Das liegt sicher nicht daran, dass sich in Düsseldorf ein in Köln beheimateter Komponist nur mit Mühe vermitteln ließe. Es dürfte auch nicht an der attraktiven Dramaturgie der drei Abende liegen: An den zwei ersten spielte der kundige Pianist Udo Falkner Zimmermanns Gesamtwerk für Klavier – also Musik, die zwischen 1939 und 1956 entstanden ist. Dazu kombinierte er Stücke von Schülern Zimmermanns, Werke von tatsächlichen Zeitgenossen wie Wolfgang Rihm und Jörg Widmann sowie Musik von wichtigen Kollegen Zimmermanns wie Hans Werner Henze und Dieter Schnebel. Das dritte Konzert gehörte dem notabu.ensemble neue musik.

Bernd Alois Zimmermann. Foto: BAZ-Archiv

Bernd Alois Zimmermann. (Foto: BAZ-Archiv)

Bewandertes Publikum

An diesem Abend zeigten sich im weiten Rund der Tonhalle nur wenige der kulinarisch auf das Wiedererkennen beliebter Melodien geeichten Düsseldorfer Konzertgänger. Manch würdiger Herr, manch hoheitsvolle Dame dürften Zimmermann noch selbst erlebt haben. Ansonsten waren Aufmerksamkeit und Kenntnisreichtum zu spüren. Die Musiker konnten sich glücklich schätzen: Ein so bewandertes und gespannt lauschendes Publikum haben sie nicht jeden Tag.

Das notabu.ensemble neue musik. Foto: Hellmut Schlingensiepen.

Das notabu.ensemble neue musik. (Foto: Hellmut Schlingensiepen)

Schon die Rarität zu Beginn hätte den Besuch des Konzerts gelohnt: Es war gelungen, eine Aufzeichnung von „Metamorphose“ des Schweizer Filmemachers Michael Wolgensinger zu bekommen. Der Schwarz-Weiß-Film aus dem Jahr 1954 reiht ohne Handlung und ohne Worte Bilder aneinander, deren Verknüpfung assoziativ bleibt. Einzelne Szenen scheinen erzählen zu wollen, werden aber unterbrochen oder abgeschnitten durch Einblendungen, Grafiken und andere abstrakte Elemente oder archaische Landschaftsbilder.

Die sechs Sätze der Musik Zimmermanns tragen Bezeichnungen, wie sie in alten Suiten zu finden sind, etwa Invention, Kanon oder Gigue. Der dritte Teil ist eine „Romanza“, der fünfte eine „Habanera“: Zu Bildern von Geburt und Tod – ein Kalb kommt auf die Welt und ein Stier wird im Kampf getötet – findet Zimmermann spanisch anmutende Rhythmen; zu ruhigen Bildsequenzen und langen Einstellungen schreibt er schwebende, hochdifferenzierte Klänge. Zum Saxofon, einem typischen Instrument des Jazz und des Schlagers, tritt eine opulent besetzte Schlagzeuggruppe, ansonsten beschränkt sich Zimmermann auf die gängigen Orchesterinstrumente. Immer wieder klingen Jazz-Elemente durch und zeigen, dass er keine Scheu hatte, sich aus der „U-Musik“ zu bedienen und ihre Stilformen als Material in anspruchsvolles Komponieren zu integrieren.

Flirt mit Jazz und U-Musik

Abzulesen ist diese Offenheit auch im „Monolog für zwei Klaviere“, in dem Frederike Möller und Yukiko Fujieda stilistische wie pianistische Kompetenz bewiesen. Das 17-minütige Stück aus dem Jahr 1964 ist ein „Flirt mit U-Musik und Jazz“, aber auch eine ausgefeilte Studie über die Möglichkeiten der Zitat- und Collagetechnik. Zimmermann legt Debussy und Beethoven, Messiaen und Bach übereinander und verarbeitet sie formal staunenswert komplex.

In dieser Klavierstudie, aber auch im Konzert für Trompete und Orchester auf der Basis des bekannten Gospel-Melodie „Nobody knows the trouble I’ve seen“ verbindet Zimmermann Komplexität und Leichtigkeit auf wunderbare Weise: Das Schwere scheint ganz selbstverständlich und ungezwungen, die Musik „schwitzt“ an keiner Stelle, sondern fließt, als hätte es für sie nie einen anderen Weg gegeben. Ein Kennzeichen wirklich souveränen Komponierens. Der Trompeter Ferenc Mausz, Dirigent Mark-Andreas Schlingensiepen und das Orchester lassen – ebenso souverän – keine Anstrengung erkennen, spielen Zimmermann mit Freiheit und Bravour.

Ein Solitär im Programm ist die berührende Violasonate von 1955, ein persönlich gehaltenes Requiem, aber auch eine Studie über die Möglichkeit, alte Techniken der Komposition in die Gegenwart zu transformieren. Yuri Bondarev spielt das gebrochene Choralthema „Gelobt seist Du Jesu Christ“ deutlich heraus und nutzt seine eminenten tontechnischen Möglichkeiten vom satten Klang bis zu resonanzlos ausgedünnten Tönen, vom ruhevollen Grundpuls bis zu grellen Akzenten, um die Struktur des Werks zu verdeutlichen. Das ist keine „neue“, aber wirklich nach wie vor „junge“ Musik.




Bahn frei für das Akkordeon: Gespräch mit der Folkwang-Professorin Mie Miki, Trägerin des neuen Opus Klassik Preises

Mie Miki. Foto: Marco Borggreve

Konzertprogramme für Essen und Duisburg zusammengestellt: Mie Miki. (Foto: Marco Borggreve)

Das Akkordeon rückt in den Mittelpunkt: Vom 30. November bis 4. Dezember finden am Folkwang Campus Essen-Werden sowie am Folkwang Campus Duisburg fünf Konzerte, ein Meisterkurs, Workshop, Vortrag und der Folkwang Akkordeon Wettbewerb für Studierende der Folkwang Akkordeonklassen statt.

Das Programm zusammengestellt hat Mie Miki, Professorin für Akkordeon und Prorektorin für künstlerische Exzellenz an der Folkwang Universität der Künste. Miki wurde im Oktober mit dem neuen Opus Klassik Preis ausgezeichnet, der nach dem Scheitern des Echo-Klassik als unbelasteter Nachfolgepreis gegründet wurde. Ausrichter des Preises ist der neu gegründete Verein zur Förderung der Klassischen Musik e.V., in dem Labels, Veranstalter, Verlage und Personen aus der Klassik-Welt vertreten sind. Mie Miki erhielt den Preis als „Instrumentalistin des Jahres“ für ihr Album „Das wohltemperierte Akkordeon“. Unser Gastautor Robert Unger sprach mit der in Japan geborenen Akkordeonistin.

Frage: Frau Miki, wann haben Sie mit dem Spielen des Akkordeons begonnen?

Mie Miki: Ich bekam zum zweiten Geburtstag ein Toy-Piano von meinen Eltern geschenkt. Ich war anscheinend so begeistert, dass ich immer wieder versuchte, auf diesem Piano Kinderlieder zu spielen. Daher plante meine Mutter, mir ein Klavier oder eine Geige zu geben. Doch mein Vater wollte auf keinen Fall ein Instrument wählen, das man später studieren und mit dem man professionelle Musikerin werden kann. Der Grund: Seine Schwester wollte Konzertpianistin werden, und eine solche harte Jugend wollte er mir ersparen. So bekam ich mit vier Jahren das Akkordeon und Unterricht bei Herrn Ban in Tokyo.

Sie wurden mit dem Opus Klassik in der Kategorie „Instrumentalistin des Jahres (Akkordeon)“ ausgezeichnet. Welchen Stellenwert hat dieser Preis für Sie?

Mie Miki: Natürlich einen hohen! Ganz besonders, weil es sich um eine Einspielung von Johann Sebastian Bachs „Das Wohltemperierte Klavier“ handelt.

Das Besondere an Bach

Bachs Werk scheint für Sie eine besondere Rolle einzunehmen. Wie kam es zu dieser Vorliebe?

Mie Miki: Nach fünf Jahren intensiver Vorbereitung bin ich endlich an einem Punkt angelangt, wo ich mich entscheiden konnte, diese Auswahl aus dem „Wohltemperierten Klavier“ auf dem Akkordeon aufzunehmen. Doch eigentlich begann mein Lernweg zu diesem Werk bereits vor 40 Jahren in meinem Klavierstudium bei Bernhard Ebert in Hannover. Für kein anderes Stück meines Repertoires habe ich jemals so viel Zeit gebraucht, bis ich es vortragen konnte, obwohl ich die „technischen“ Schwierigkeiten in Bezug auf den Notentext nicht auf der höchsten Ebene einstufe. Denn diese Musik ist mit ihren Präludien und Fugen sehr klar und übersichtlich in der Architektur, und die 24 Tonarten bilden eine harmonische Vollständigkeit.

Dann, an einem Sommertag in Tokyo, hatte ich plötzlich das Gefühl, alles zu verstehen und alles zu können! Ich weiß nicht, woher dieses Gefühl so plötzlich, aber mit großer Zuversicht zu mir kam, doch von diesem Zeitpunkt an begann ich, mit Freude, Respekt und Leidenschaft zu üben. Meine Erkenntnis dazu ist: Diese Stücke sind in ihrer Schönheit, ihrem Zauber, in Überraschung und Abenteuer so differenziert dicht und vieldimensional komponiert, dass der Interpret immer wieder etwas Neues entdecken kann. Somit funktioniert ein Übe-Plan leider wenig und ich ergab mich für meine Arbeit der Zeitlosigkeit. Deshalb hat es so lang gedauert.

International erfolgreiche Akkordeon-Klasse

Sie haben den originalen Fingersatz des „Wohltemperierten Klaviers“ für Ihre Aufnahme genommen.

Mie Miki: Das moderne klassische Akkordeon hat in beiden Händen Einzeltöne, und der Tonumfang ist fast so groß wie beim Klavier, daher kann man Literatur für Tasteninstrumente genau in ihren Originaltexten wiedergeben. Es hat lange gedauert, bis der Notentext mein Instrument erreichte, und mein Instrument die Musik erreichte. Es wird nicht bearbeitet, denn nur so kann man vergleichen, wie unterschiedlich die Klangergebnisse sind, ob beim Cembalo, Klavier oder Akkordeon.

Beim Label BIS erschienen: Mie Mikis Akkordeon-Aufnahme von Bachs "Das wohltemperierte Klavier". Cover: BIS Records

Beim Label BIS erschienen: Mie Mikis Akkordeon-Aufnahme von Bachs „Das wohltemperierte Klavier“. (Cover: BIS Records)

Was bedeutet es für Sie, an der Folkwang Universität das Akkordeon-Spiel zu unterrichten?

Mie Miki: Ich habe im Jahr 1981 die Akkordeonklasse gegründet. Damals waren einige Studenten sogar älter als ich, aber mit großer Hoffnung und viel Leidenschaft habe ich versucht, auch durch das Unterrichten dieses in der Klassik jüngste Instrument noch mehr zu erforschen. Inzwischen habe ich eine international sehr erfolgreiche Klasse mit vielen Preisträgern. Viele von mir ausgebildete Studenten sind weltweit Professoren und Dozenten geworden.

Seit 2013 sind Sie auch Prorektorin für künstlerische Exzellenz. Was zeichnet für Sie die Folkwang Universität aus? Welche Wünsche und Ziele haben Sie für die Entwicklung der Universität?

Weltweit eine der interessantesten Kunsthochschulen

Mie Miki: Die Umgebung prägt entscheidend die Entwicklung eines jeden Künstlers. Wer Musik studiert, hat oft nicht genügende Möglichkeiten, die mannigfaltigen Aspekte der Kunst „außerhalb der Musik“ mitzuerleben. Ob Theater oder Tanz, Physical Theatre oder Musical, Fotografie oder Design, hier an der Folkwang Universität der Künste mit den Standorten Essen-Werden, Essen Nord Zollverein, Duisburg, Bochum und Dortmund kann sich jeder Musiker in einem wunderbar kreativen Arbeitsklima entwickeln und eigene Zukunftsvisionen gewinnen. Für mich als Musikerin bedeutet es sehr viel, in welcher Umgebung ich lebe und junge Musiker ausbilde. Die Folkwang Universität ist für mich eine der schönsten und interessantesten Kunsthochschulen der Welt.

Haben Sie im Ruhrgebiet eine Heimat gefunden?

Mie Miki: Als Musiker kennt man, glaube ich zumindest, mehrere Aspekte von „Heimat“. Meine erste Heimat ist Tokyo, wo ich geboren bin, aber das Ruhrgebiet gehört auf jeden Fall auch zu meiner Heimat.

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Die Aufnahme „Das wohltemperierte Akkordeon“ von Mie Miki ist bei BIS Records mit der Nummer BIS-2217 erschienen.

Das Programm der Akkordeonwoche findet sich hier: https://www.folkwang-uni.de/en/home/hochschule/news/vollanzeige/news-detail/folkwang-akkordeonwoche-mit-hochkaraetigen-gaesten-1/




Beklemmendes Nachdenken: Concerto Köln und Joachim Król zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren

Flotte Märsche klingen durch das Foyer der Philharmonie Essen. Das Concerto Köln intoniert Joseph Haydns „March for the Prince of Wales“, danach zwei Märsche für das Derbyshire Cavalry Regiment und einen „Ungarischen Nationalmarsch“. Fröhliches Dur, die Zuhörer wippen im Takt mit. Man hat viel getan, um den Menschen im 18. Jahrhundert den Krieg schmackhaft zu machen, damals, als in manchen deutschen Territorien junge Männer verkauft wurden, um für andere Potentaten ins Scharmützel zu ziehen.

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Übermütig ging’s auch anno 1914 zu, als die Männer Europas in den Krieg zogen. Sie hielten den Krieg für ein Abenteuer. Den Gesichtern auf den über das Podium projizierten seltenen Farbfotos aus der Sammlung Reinhard Schultz ist es abzulesen. Die schneidigen Burschen in buntem, blinkendem Waffenrock lockten die jungen Frauen. Jaja, der „Zauber der Montur“.

Nichts von all der Kriegsfolklore war wahr. Schon vor 500 Jahren nicht. Auf der Bühne des Großen Saales las Joachim Król, was Erasmus von Rotterdam zum Krieg geschrieben hatte. „Wer ihn erfahren hat, schaudert allein bei der Vorstellung über die Maßen“. Dazu wird das Luftbild Essens in herbstlicher Sonne überblendet vom Blick auf die Ruinenlandschaft 1945. „Über Wunden“ hieß dieses Gedenkkonzert zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Hier waren zunächst nur die Wunden im Stadbild zu erkennen. Dachlose Häuser, hohl wie verfaulte Zähne, klaffende Löcher in Straßenzügen.

Die 90 Minuten Programm – eine Mischung aus Lesung und Konzert – hatten Ilka Seifert und Folkert Uhde zusammengestellt. Die Betroffenheit sollte ein Gesicht bekommen: Verarbeitet wurden nicht nur literarische Texte wie aus dem bekannten Anti-Kriegs-Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, sondern vor allem Erinnerungen, die in den Familien der Musikerinnen und Musiker des Concerto Köln weitergegeben wurden. Aus aller Herren Ländern kommen sie, und kaum jemand war nicht vom Schlachten und Morden der beiden Weltkriege betroffen. Manches haben wir Europäer gar nicht im Blick: Etwa die Gräuel im japanisch-chinesischen Krieg, die Vorfahren einer japanischen Musikerin erlitten.

Bombenwetter, Schusslinie und Marschrichtung

Dass es den lustigen Operettenkrieg der Propaganda nie gegeben hat, brachte Król seinen betroffen stillen Zuhörern mit diesen Texten aus Familien-Erinnerungen nahe. Es schnürt die Kehle zu, wenn die Großmutter einer Geigerin einen Brief mit wundervoll liebenden Worten an ihren Mann im Felde richtet. Er hat ihn nie gelesen, denn er war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Das Schreiben kam zurück – ohne Vorwarnung. Mit dem zynisch beschönigenden Vermerk „gefallen für Großdeutschland“.

Bis heute sind die Spuren des „Jahrhunderts der Grausamkeiten“ präsent, zum Beispiel in der Sprache: Wer weiß schon, was er sagt, wenn er von einem „Bombenwetter“ spricht? Nehmen wir einen Politiker „aus der Schusslinie“ oder geben wir die „Marschrichtung“ vor? Wir sind groß geworden mit solchen Begriffen, deren wahre Bedeutung nicht mehr bewusst ist.

Der Abend am Volkstrauertag war eher eine Zeit beklemmenden Nachdenkens als ein Konzert. Die Musik mit dem wie stets untadelig aufspielenden Concerto Köln war ernst und gesammelt: Eine Fantasie Henry Purcells über John Taverners damals beliebtes „In nomine“-Thema, ein kaum bekannter düsterer Triumphmarsch Beethovens zum noch unbekannteren Schauspiel „Tarpeja“, dazu die Stimme Kaiser Wilhelms II. mit der verlogenen Ankündigung des Waffengangs 1914.

Ein tragischer Zug klingt in der Ouvertüre zu Mozarts „La Clemenza di Tito“, und die wundervolle Perfektion der „Jupiter“-Sinfonie KV 551 klingt zu einem solchen Anlass geradezu schmerzend schön. Ob das alles reicht, immer wieder vor dem Verderben des Krieges zu warnen? Man muss es hoffen, auch wenn die lebenden Generationen das Inferno nur aus Games, Hollywood-Filmen und Schwarzweiß-Dokus kennen. Ob wir kapieren, welch unverschämtes Glück wir mit 73 Jahren Frieden haben?




Zorn und Geiz, Hochmut und Wollust: Bei den Tagen Alter Musik stand Herne vier Tage im Zeichen der sieben Todsünden

43.Tage Alter Musik in Herne: Der Dirigent und Stradella-Experte Andrea De Carlo. Foto: WDR/Thomas Kost

43. Tage Alter Musik in Herne: der Dirigent und Stradella-Experte Andrea De Carlo. Foto: WDR/Thomas Kost

Die Sünde war in der Geistes- und Glaubensgeschichte der christlichen Welt stets ein Thema, auch als ihr Begriff – nicht erst im Zuge der Aufklärung – präzisiert wurde und sich der Blick bisweilen auf den sexuellen Bereich verengt hat. Heute ist von „Sünde“ in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft eher anekdotisch die Rede: Das Bewusstsein, der Mensch müsse sich vor einer höheren Macht verantworten, ist geschwunden; die Reichweite von Verantwortung ist angesichts ernsthafter humanwissenschaftlicher Erkenntnisse, aber auch in einem neuen, sich naturwissenschaftlich avanciert gebenden Determinismus nicht mehr so eindeutig bestimmbar wie einst.

Dennoch bleibt es sinnvoll, sich mit der Sünde zu beschäftigen, selbst wenn man nicht an einen gerechten und ausgleichenden oder gar strafenden und rächenden Gott glaubt: Denn Sünde ist keine magisch-mythische Verfehlung gegen etwas Numinoses, das der aufgeklärte Mensch aufs Abstellgleis der Geistesentwicklung schieben könnte. Zumindest im christlichen Sinn sind „Sünden“ der Vernunft und ihrem Urteil zugänglich, haben also eine Bedeutung, die mit dem Menschen selbst und seinen Bezügen zur Gesellschaft und seiner Umwelt zu tun hat.

Der Versuch, grundlegende Bedrohungen zu analysieren und zu benennen, hat im Falle der „Todsünden“ zu Begriffen geführt, die im Christentum nicht allein eine prinzipielle Störung im Verhältnis des Menschen zu Gott bestimmen. Sie betreffen auch die Entwicklung des einzelnen Menschen, gehen aber über individuelles Verhalten hinaus und entfalten ihre verderbliche Wirkung in zwischenmenschlichen Bezügen und dem Gefüge der Gesellschaft. Stets gehen dabei Augenmaß und Balance verloren, stets dominiert ein bestimmender Impuls: Bei der Habgier etwa ufert die vernünftige materielle Daseinsvorsorge aus zu einem Besitzstreben, das alles andere aus dem Blick verliert. Und der Unterschied zwischen einem gesunden Selbstbewusstsein und einer alles niederwalzenden Egozentrik lässt den altertümlichen Begriff des „Hochmuts“ oder der „Hoffart“ in bestürzend aktuellem Licht erscheinen.

Die Todsünden im Spiegel der Musik

Den „Tagen Alter Musik“ in Herne ging es an vier Tagen darum, „herauszufinden, wie sich das, was der kirchliche Todsünden-Kanon im Sinn hatte, in der Musik vergangener Zeiten widerspiegelt“, so Richard Lorber, der Künstlerische Leiter des von der Stadt Herne und dem WDR veranstalteten Festivals. In neun Konzerten und zwei konzertanten Opern richteten renommierte Solisten und Ensembles den musikalischen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele, auf das Misslingen menschlicher Beziehungen, aber auch auf das vergiftete Verhältnis zu Gott.

Dem „Zorn“ war das Eröffnungskonzert in der Kreuzkirche in Herne gewidmet: Die acht Sängerinnen und Sänger des „Ensembles Polyharmonique“ und das 2012 in Katowice gegründete [OH!] Orkiestra Historyczna krönten die zwei Teile des Konzerts mit je einer „Dies Irae“-Vertonung des Venezianers Giovanni Legrenzi und des vor bald 400 Jahren geborenen, aus dem Vogtland stammenden Wahl-Venezianer Johann Rosenmüller. Wie in den dargebotenen Psalm-Vertonungen geht es um den Zorn Gottes, der am Tag des Jüngsten Gerichts hereinbricht.

Direkter auf menschliches Fehlverhalten und seine destruktiven Folgen verweisen die mittelalterlichen Texte aus den „Carmina Burana“ und den „Augsburger Cantiones“: Die Ensemble „Candens Lilium“ und „Les Haulz et les Bas“ haben sich unter Leitung von Norbert Rodenkirchen intensiv mit den beiden im 13. Jahrhundert entstandenen Quellen befasst, mit großer Sorgfalt Melodien rekonstruiert und vor allem Texte ausgewählt, die gegen den Geiz des Klerus und die Korruption der Mächtigen aufbegehren.

Glanzvolle Musik für einen brutalen Egomanen

Das Vocalconsort Berlin unter James Wood in der Kreuzkirche Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Vocalconsort Berlin unter James Wood in der Kreuzkirche Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Für den „Hochmut“ steht im Programm der englische König Heinrich VIII., der sich von Rom lossagte und im Lauf seiner Regentschaft vom allseits geliebten, universal gebildeten jungen Mann zu einem „brutalen Egomanen“ entwickelt hat. Aus einer Handschrift, die 1516 für Heinrichs erste Ehefrau, Katharina von Aragon, als Geschenk erstellt wurde, sang das Vocalconsort Berlin geistliche Kompositionen, beginnend mit dem „Magnificat regale“, einem frühen Werk von Robert Fayrfax, dem zur Zeit Heinrichs VIII. prominentesten Mitglied der Chapel Royal. Dieses Werk – das Gegenbild des Hochmuts – ist geprägt vom Wechsel gregorianisch schlicht vertonter Verse mit blühend mehrstimmigen Abschnitten. Der Dirigent James Wood sorgte mit Positionswechseln der Sänger für eine jeweils angemessene, optimale akustische Balance. Nur Notbehelf kann der Einsatz von Frauen- statt Knabenstimmen sein: Wenn sie die Höhe nur mit Kraft und entsprechend laut erreichen, gefährden sie die Ausgewogenheit des Klangs.

In wechselnden Besetzungen – mit und ohne die beiden Frauenstimmen – erklangen Motetten von John Taverner, Richard Sampson und Philippe Verdelot. Die untadelige Intonation des Ensembles präsentiert die süßen Harmonien, aber auch die Reibungen der Durchgänge und die kühn dissonanten Akkorde etwa in der Sampson zugeschriebenen Motette „Salve Radix“ strahlend rein. Der diskrete Wechsel der führenden Stimmen belebt eine Komposition wie „Quam pulcra es“, für die Sampson, damals Dekan der Chapel Royal, einen bekannten Abschnitt aus dem Hohelied der Liebe als Grundlage wählte. Die abschließende Motette „See Lord and behold“ verbindet die üppige Harmonik von Thomas Tallis mit einem Text der letzten Gattin Heinrichs, Catherine Parr – eine Entdeckung, die erst vor einem Jahr gelungen ist.

Der Wollust gehört die Oper

Welche Sünde ließe sich in der Oper besser beschreiben als die „Wollust“, wo es doch stets um Liebe und Beziehungen geht? Die „Tage Alter Musik“ in Herne haben gleich zwei konzertante Produktionen gezeigt. Antonio Vivaldis 1734 im venezianischen Karneval uraufgeführte „L’Olimpiade“ präsentierte das Barockorchester La Cetra aus Basel mit Andrea Marcon am Pult und dem Countertenor Carlos Mena als zügellosem Licida, der bei den Olympischen Spielen seinen sportlichen Freund unter seinem Namen in den Wettkampf schickt und damit unabsehbare Verwicklungen hervorruft. Tempelfrevel und ein Attentat, inzestuöse Liebe und verdeckte Homoerotik: Pietro Metastasio hat das elegante Libretto mit den krudesten Verbrechen gefüllt – und Vivaldi schreibt dazu eine Musik, die empfindsam und sensibel die seelischen Qualen der Figuren ausdeutet.

Die bedeutendere Entdeckung jedoch war eine bis dato völlig unbekannte Oper, die erst vor kurzem nach akribischer Forschungsarbeit in der Biblioteca Vaticana wiederentdeckt und Alessandro Stradella zugeschrieben werden konnte: „Amare e fingere“ – also „Lieben und Heucheln“ ist der Titel der 1676 in Siena uraufgeführten und seither vergessenen Oper.

Vier Menschen königlichen Geblüts treffen „in den ländlichen Gefilden Arabiens“ aufeinander. Eine Königin und zwei Prinzen leben inkognito als Hirten in diesem exotischen Arkadien. Unerkannt liebt der Bruder die Schwester und wird so unwissentlich zum Konkurrenten seines eigenen Freundes. Gegenseitig heuchelt man sich Liebe oder Ablehnung, verbirgt echte Gefühle, unterdrückt mühevoll Leidenschaft. Vermeintliche Standesunterschiede quälen die Liebenden noch, als sie sich endlich ihre Zuneigung eingestanden haben. Gewalt, Streit, Entführung, ein altes Orakel, rätselhafte Medaillons und Briefe: Die Intrige schürzt sich, bis sich die heillose Verwirrung auflöst und die richtigen Paare zueinander finden. Die Moral der Geschicht‘ heißt: „Nichts versteht von der Liebe, wer nicht zu heucheln weiß“.

Innovative Musik eines exzentrischen Komponisten

Stradella selbst hätte es wohl nicht besser sagen können: Der 1639 in Nepi nördlich von Rom geborene Komponist war beruflich wie biografisch ein exzentrischer Typ. Jacques Bonnet hat 1715 die wundersame Geschichte des ausschweifenden Musikers erzählt, der mit der Geliebten eines venezianischen Patriziers durchbrennt. Der gehörnte Liebhaber lässt ihn von gedungenen Mördern durch Italien hetzen, die ihn schließlich beim dritten Anschlag töten können. Bekannt wurde die Geschichte nicht zuletzt durch die romantische opéra comique „Alessandro Stradella“ Friedrich von Flotows von 1844, der auch das Motiv der zauberhaften Musik Stradellas aufgreift: Ihre sinnliche Macht rührt selbst die Häscher, so dass sie beim ersten Mal nicht in der Lage sind, ihr Opfer zu meucheln.

Tatsächlich ist über das offenbar turbulente, von Liebesaffären und Spielschulden durchwebte Leben Stradellas kaum etwas bekannt – außer, dass er 1682 in Genua an den Folgen einer gewaltsamen Attacke auf der Straße starb. Aber er hat unvergleichliche Musik hinterlassen: Opern und Oratorien für die römische Aristokratie, Symphonien und Serenaden. Andrea De Carlo, der gemeinsam mit Arnaldo Morelli „Amare e fingere“ gefunden und identifiziert hat, verglich ihn einmal mit Caravaggio: So wild, so grell, so revolutionär und so spirituell wie der römische Maler soll auch Stradella gewesen sein.

Das Ensemble Mare Nostrum und die Solisten der modernen Erstaufführung von "Amare e fingere" von Alessandro Stradella in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Das Ensemble Mare Nostrum und die Solisten der modernen Erstaufführung von „Amare e fingere“ von Alessandro Stradella in Herne. Foto: WDR/Thomas Kost

Zumindest die Spiritualität und das Revolutionäre sind bei der Aufführung im Kulturzentrum der Ruhrgebietsstadt deutlich zu vernehmen. De Carlo dirigiert sein 2005 gegründetes Ensemble „Mare nostrum“ und verpasst den hinterlassenen Noten Stradellas eine streicherbetonte Instrumentierung plus Cembalo, Theorbe, Arciliuto (Erzlaute), Harfe und, wohl nicht so ganz historisch, aber klanglich passend, Orgel.

De Carlo, Gründer eines Stradella-Festivals in Nepi – seit 2017 in Viterbo – hat sich den Ruf eines Spezialisten erworben: Er hat dort die Oper „Doriclea“ aufgeführt und eine Reihe von Aufnahmen eingespielt. Sein Orchester entspricht den Formationen, wie sie von zeitgenössischen Stradella-Aufführungen überliefert sind; dass man hin und wieder den Bläserklang vermisst, ist wohl modernen Ohren geschuldet. Die Musiker des Ensembles jedenfalls agieren mit fein abgestuften Nuancen und einer variablen Balance, die vielfältige Charakterisierungen zulässt.

Feurige Kraft der Kontraste

Das verhindert nicht, dass die Fülle der Rezitative trotz aller sängerischen Finesse vor allem im ersten Teil ermüdet – so tief und differenziert manche von ihnen gestaltet sind. Aber auf der anderen Seite hört man, wie frei Stradella mit Harmonien umgeht, wie packend emotional er die Gesangslinien führt. Die Arien wirken ungewöhnlich, weil sie einen modernen Begriff von Emotionalität vermitteln. In der Tat: Diese Subjektivität hat etwas von der feurigen Kraft der Kontraste, wie sie auch Caravaggios Gemälde auszeichnen.

Stradella überrumpelt den Zuhörer geradezu und wirft ihn mitten hinein ins Geschehen: Ohne Ouvertüre beginnt die Oper mit einem erregten Wortwechsel zwischen Fileno und seiner von ihm begehrten Clori, die seine unerkannte Schwester ist. Mauro Borgioni zeigt hier wie in seiner folgenden Arie und dem ausgedehnten Rezitativ, dass er stilistisch souverän einen klaren Bariton einsetzen kann, der aber wenig italienischen Schmelz mitbringt und in der Höhe anfangs leicht unsicher wirkt. Clori muss einen weiten Ambitus von Emotionen durchschreiten, von Sehnsucht und glühendem Glück bis hin zu impulsivem Ärger, edlem Schmerz und tiefer Resignation. Paola Valentina Molinari gefällt mit einem schlanken, sicher geführten Sopran, aber die Töne sind nicht immer klanglich gefüllt und technische Raffinessen wie die messa di voce geraten zu zaghaft und flach.

Luca Cervoni als Rosalbo setzt einen klaren, gut fokussierten Tenor ein und hat mit seinen Arien und einem Duett in der zweiten Szene des ersten Aktes großartige Möglichkeiten, Ausdruck und kunstvollen Gesang zu zeigen. Josè Maria lo Monaco legt als Celía Farbe und Leidenschaft in ihren Mezzo, wenn die getarnte Königin Arabiens bekundet, dass ihr Herz „Freiheit“ singe: „Libertá, libertá canta’l mio core …“. Chiara Brunello füllt mit feurigem Alt als Darstellerin in der zweiten Reihe die wichtige Rolle des Silvano aus; als Erinda darf sich Silvia Frigato in einigen frechen Kommentaren, zwei originellen Arien und einem wundervollen Rezitativ am Ende der Oper als schlagfertige Gestalterin erweisen.

Die Konzerte bei den „Tagen Alter Musik“ wurden aufgezeichnet und werden teilweise noch auf WDR 3 ausgestrahlt: am 22. und 29. November, 6. und 13. Dezember, jeweils um 20.04 Uhr. Info: www1.wdr.de/radio/wdr3/musik/tagealtermusikherne/tage-alter-musik-herne-174.html




Eine Stimme, die vom intensiv gelebten Leben zeugt: Marianne Faithfulls großartiges Album „Negative Capability“

Also Leute, ich kann natürlich nur für mich sprechen, doch sage ich es frei heraus: Soeben habe ich die wohl beste Popmusik seit längerer Zeit gehört. Zumindest rangiert sie auf der allseits offenen Skala sehr, sehr weit oben. Wobei ich mich scheue, dafür das reichlich abgenutzte und gewöhnliche Wort „Pop“ zu verwenden. Ich meine Marianne Faithfulls neues Album „Negative Capability“. Der Titel verweist übrigens auf eine literaturtheoretische Formel von John Keats. Wer will, möge weiter nachforschen.

„Negative Capability": Cover des neuen Albums von Marianne Faithfull (© BMG Rights)

„Negative Capability“: Cover des neuen Albums von Marianne Faithfull (© BMG Rights)

Welch eine Weisheit und Erfahrung ist in dieser Stimme aufgehoben, welche Würde, welches Scheitern und welch ein Neubeginn trotz allem; welch ein ahnungsvolles Wissen um Liebe, Leben und Tod. Dies alles sollte man bevorzugt zu nächtlicher Stunde hören. Nachfühlend und nachdenkend.

„As Tears Go By“ revisited

Die inzwischen 71 Jahre alte Frau verbirgt beileibe nicht, dass sie derzeit einen Gehstock braucht, sie steht sehr offensiv zu ihrer Schwächung und zeigt sich auch auf dem Plattencover mit der stilvollen Stütze. Sie singt mit zunehmend brüchiger, ungemein rauchiger und belegter Stimme. Doch wage es niemand, ihr und ihrem Gesang Schönheit abzusprechen. Sie verleiht noch jedem klassischen Titel eine ganz andere, ungeahnte Färbung und Tönung. Man höre ihre jetzige Version des Stones-Songs „As Tears Go By“ (den sie 1964 erstmals aufgenommen hat) oder von Bob Dylans „It’s all over now, Baby Blue“. Das ist einfach groß und zeugt von gelebtem Leben.

Über die Abgründe des Terrors

Auch die neuen Songs sind überwiegend von besonderer Güte. Sie handeln nicht nur immerzu von Liebe, Einsamkeit und Tod, sondern etwa auch von den Abgründen des Terrorismus – am Beispiel des furchtbaren Anschlags auf das Pariser Musikzentrum „Bataclan“. Der entsprechende Titel heißt „They Come at Night“. Und es wäre bei weitem zu wenig gesagt, wollte man aufs Klischee zurückgreifen, dass er „unter die Haut“ ginge.

Mir fallen nur wenige ein, die in den letzten Jahren ebenbürtig gewesen sind. Der späte Leonard Cohen wäre zu nennen, gewiss. Der späte Johnny Cash der „American Recordings“ desgleichen. Das also ist die erhabene, ja Schwindel erregende Höhe, auf der sich auch Marianne Faithfull mittlerweile bewegt. Mit mancher Silbe bangt man um sie, mit jeder Silbe triumphiert sie – auf ganz und gar uneitle, stille, nah am Schweigen liegende, doch umso eindringlichere Weise.

Die Stones-Zeit weit hinter sich gelassen

Und dabei haben wir die steigernde Dimension der melancholischen Texte noch nicht einmal eigens berücksichtigt, nicht die Instrumentierung (vielfach Cello und Klavier) gewürdigt und auch nicht die wundervoll stimmige Phrasierung näher erwähnt.

Kein Wunder, dass Marianne Faithfull nicht mehr nach ihren wild bewegten Zeiten mit Mick Jagger und den anderen Rolling Stones befragt werden mag. Wie weit hat sie das hinter sich gelassen! Wie eigen ist der Weg, den sie seither beschritten hat.

Dieses Album ist Anfang November erschienen, also noch ganz neu – und doch schon ein Klassiker.

Zwischen CD, LP, Streaming und Tournee

Und nein: Ich habe kein womöglich korrumpierendes Rezensions-Exemplar erhalten, sondern habe alles per Streaming gehört. Natürlich jeden Titel von Anfang bis Ende, wie es sich für ein solches Album gehört. Mithin so, dass diese großartige Künstlerin finanziell nicht ganz leer ausgeht. Denn der Dienst honoriert die Urheber ja erst dann halbwegs reell, wenn jemand 45 Sekunden eines Titels gehört hat. Ein leidiges Thema für sich…

Bleibt innig zu hoffen, dass Marianne Faithfull demnächst auf Tournee geht und auch in deutschen Städten auftritt.

Marianne Faithfull: „Negative Capability“. BMG Rights. Als CD ca. 14,99, als LP 23,99 €.

Eine Kostprobe: https://www.youtube.com/watch?v=ndseNmYb4s0