Tonhalle Düsseldorf: Konzertreihe zum 100. Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann

(c) Tonhalle Düsseldorf

Plakat zur Konzertreihe (© Tonhalle Düsseldorf)

Mit einer Serie von drei Konzerten würdigt die Tonhalle Düsseldorf Bernd Alois Zimmermann als einen der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Aus Anlass des 100. Geburtstags Zimmermanns, der am 20. März 1918 in Erftstadt-Bliesheim geboren wurde und bis zu seinem Tod 1970 an der Kölner Musikhochschule unterrichtete, spielt der Pianist Udo Falkner am Samstag, 10. November und am Mittwoch, 14. November, jeweils 20 Uhr, im Helmut-Hentrich-Saal der Tonhalle das Gesamtwerk Zimmermanns für Klavier.

Am ersten Abend erklingen Zimmermanns „Extemporale“, „Drei frühe Klavierstücke“ und „Capriccio“, ergänzt durch Klavierstücke seiner Schüler Oskar Gottlieb Blarr, York Höller, Georg Kröll und Dimitri Terzakis.

Bernd Alois Zimmermann. Foto: BAZ-Archiv

Bernd Alois Zimmermann. (Foto: BAZ-Archiv)

Den zweiten Abend gestaltet der in Düsseldorf unterrichtende Pianist, der in seinen Konzerten ausschließlich moderne Musik spielt, mit Zimmermanns zweiteiligem „Enchiridion“ als Hauptwerk und kombiniert damit Klavierwerke von Wolfgang Rihm, Jörg Widmann, Hans Werner Henze und Dieter Schnebel.

Udo Falkner. Foto: Klaus Neelen

Udo Falkner. (Foto: Klaus Neelen)

Der dritte Abend am Freitag, 16. November, 20 Uhr, im Mendelssohn-Saal der Tonhalle bringt bedeutende Werke für verschiedene Besetzungen: Die 1954 entstandene „Metamorphose“ für kleines Orchester ist eine von zwei Filmmusiken Zimmermanns, entstanden für eine Arbeit des Schweizers Michael Wolgensinger.

Die „Monologe für zwei Klaviere“ auf der Basis von Material aus der Oper „Die Soldaten“, gespielt von Frederike Möller und Yukiko Fujieda, sind ein Paradebeispiel für Zimmermanns Technik des Zitierens und der Collage. Yuri Bondarev spielt die Sonate für Viola solo, entstanden als ein Requiem auf Zimmermanns kurz nach der Geburt gestorbene Tochter Barbara.

Den Abschluss bildet das Trompetenkonzert „Nobody knows the trouble I see“. Ferenc Mausz spielt mit dem Notabu.Ensemble Neue Musik unter Leitung von Mark-Andreas Schlingensiepen.

Die Karten kosten 26 Euro, für Studenten 12, für Schüler 7 Euro. Info: https://www.tonhalle.de/reihen/reihe/Supernova1/

 




Zorn, Hochmut, Wollust und mehr: Die sieben Todsünden stehen im Mittelpunkt der „Tage Alter Musik“ in Herne

Das Ensemble Mare Nostrum kommt mit einer bisher unbekannten Oper von Alessandro Stradella nach Herne. (c) Antonio Scordo

Das Ensemble Mare Nostrum kommt mit einer bisher unbekannten Oper von Alessandro Stradella nach Herne. (Foto: © Antonio Scordo)

Herne ist unter den Ruhrgebietsstädten nicht gerade als ausgeprägte Kulturmetropole bekannt. Einmal im Jahr rückt die Stadt mit ihren 156.000 Einwohnern aber ins überregionale Interesse, wenn mit kräftiger Unterstützung von WDR 3 die „Tage Alter Musik“ veranstaltet werden. In diesem Jahr widmen sich die Konzerte und Opern dem Thema der Todsünden in der Musik vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert.

Mit den Sünden ist das so eine Sache: Moraltheologisch sind sie genau definiert; doch in Alltagssprache und gesellschaftlichem Umgang verschwimmt der Begriff. Sünden und ihre Vermeidung waren in der Geschichte des Christentums häufig ein die Menschen bedrängendes Thema.

Die Sorge um das ewige Heil trieb die Gläubigen immer wieder an zu heute absonderlich anmutenden Praktiken der Buße, der Läuterung und der Bestrafung. Das Höllenfeuer als Mittel der Drohung und der Disziplinierung verlor im Zuge der Aufklärung seine seelensengende Hitze. Eine moderne Theologie kommt ohne dieses Druckmittel aus – zum Leidwesen mancher konservativer Kreise, die sich die Botschaft von der ewigen Verdammnis wieder präsenter in der kirchlichen Lehre wünschten.

Der „Zorn“ eröffnet das Festival

Völlerei oder Depression? Gioachino Rossini wird gerne als unersättlicher Gourmet dargestellt. Stefan Irmer (Foto: WDR) präsentiert am 11. November, 11 Uhr, ein pianistisches Menü aus den »Péchés de vieillesse« von Rossini, dessen 150. Todestag am 13. November begangen wird.

Völlerei oder Depression? Gioachino Rossini wird gerne als unersättlicher Gourmet dargestellt. Stefan Irmer (Foto: © WDR) präsentiert am 11. November, 11 Uhr, ein pianistisches Menü aus den »Péchés de vieillesse« von Rossini, dessen 150. Todestag am 13. November begangen wird.

Die „Tage Alter Musik“ in Herne arbeiten von Donnerstag, 8. bis Sonntag, 11. November den klassischen Siebener-Katalog ab: Zorn, Hochmut, Wollust, Neid, Völlerei, Trägheit und Geiz werden in elf Veranstaltungen musikalisch thematisiert. Nur schade, dass die hochkarätigen Konzerte nicht durch eine Veranstaltung ergänzt werden, bei der das Thema der „Sünde“ auch geistesgeschichtlich und theologisch aufgearbeitet wird. Denn was die Todsünden konkret sind, die den Menschen von Gott und seiner Liebe trennen, ist so einfach heute nicht zu beantworten. Der Begriff bedürfte der inhaltlichen Konkretisierung, statt in assoziativem Ungefähr lediglich als Stichwort oder Überschrift zu dienen.

Eröffnet wird das Festival am Donnerstag, 8. November, um 20 Uhr in der Kreuzkirche in Herne. Zum Thema „Zorn“ präsentieren das Vokal-Ensemble Polyharmonique und das [OH!] Orkiestra Historyczna Geistliche Musik des 17. Jahrhunderts von Francesco Cavalli bis Johann Rosenmüller.

Die „Wollust“ als Thema von zwei Opern

Ein Höhepunkt im Festivalprogramm ist die moderne Erstaufführung der 1676 in Siena uraufgeführten Oper „Amare e fingere“ („Lieben und Heucheln“) von Alessandro Stradella am Freitag, 9. November, 19 Uhr im Kulturzentrum Herne. Unter Andrea del Carlo widmen sich das Ensemble „Mare nostrum“ und sechs Solisten dem lange verschollenen Werk, das erst vor kurzem in der Bibliotheca Vaticana wiedergefunden wurde. Es widmet sich der Begierde und ihrer Beherrschung und spielt in seinem Titel auf die ehrenhafte Form der Heuchelei an, die vor der erdrückenden Stärke der Mächtige schützt.

Der Dirigent Andrea Marcon. Foto: Marco Borggreve

Der Dirigent Andrea Marcon. (Foto: © Marco Borggreve)

Der Komponist selbst ist eine der farbigsten Figuren der Musikgeschichte. Er wurde wohl wegen einer Liebesaffäre mit der jungen Geliebten eines venezianischen Patriziers in Genua ermordet. Kein Wunder, dass die Aufführung unter dem Motto „Wollust“ firmiert. Stradella – der sogar Titelfigur einer romantischen Oper von Friedrich von Flotow wurde – schrieb eine Musik, die sich durch eine weit in die Zukunft vorausweisende emotionale Impulsivität auszeichnet.

Die zweite Oper – ebenfalls mit der „Wollust“ als Thema – schließt am Sonntag, 11. November, 19 Uhr im Kulturzentrum die „Tage Alter Musik“ ab. Das renommierte Barockorchester „La Cetra“ aus Basel unter Andrea Marcon und sechs Solisten führen Antonio Vivaldis „L‘ Olimpiade“ auf. Geschrieben für eines der acht venezianischen Opernhäuser und im Karneval 1734 uraufgeführt, schildert das Libretto des wohl berühmtesten Operndichters des 18. Jahrhunderts, Metastasio, eine turbulente Mischung aus Betrug, Blasphemie, Mord und Selbstmord, Homoerotik und inzestuöser Liebe. „Feinste musikalische Wollust“, die auch heutige Ohren zu entzücken weiß.

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Über die Veranstaltungen informiert die Webseite https://www1.wdr.de/radio/wdr3/musik/tagealtermusikherne/index.html.

Tickets für die Konzerte gibt es bei der ProTicket-Hotline, Tel.: (0231) 917 22 90, www.proticket.de.

Das Kulturradio WDR 3 sendet die Konzerte am Freitag, Samstag und Sonntag (9., 10. und 11. November) jeweils um 20 Uhr sowie am Sonntag, 11. November um 16 Uhr live. Parallel zum Festival Herne veranstaltet die Stadt vom 9. bis 11. November eine internationale Musikinstrumenten-Messe mit Tasteninstrumenten der Alten Musik sowie ein Werkstattkonzert am 10. November.

Die Sendetermine und weitere Informationen gibt es im Internet unter www.tage-alter-musik.de und am WDR-Hörertelefon unter
(0221) 56 789 333.

 




Die Bewältigung einer Überwältigung – Wagner und Mahler an einem Abend mit dem Mariinsky Orchester und Valery Gergiev

Dirigent Valery Gergiev inmitten seines Orchesters. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Der Mann ist wahnsinnig. Setzt zwei Stücke für einen Konzertabend an, die für sich allein schon wie gewaltige Monolithe im Raum stehen. Platziert den ersten Aufzug aus Richard Wagners „Die Walküre“ neben Gustav Mahlers sechste Sinfonie.

Beide Male geht es um Leben und Tod, insgesamt bald zweieinhalb Stunden lang, geht es also wieder einmal ums Ganze. Das scheint dem Manne am Pult, dem Dirigenten Valery Gergiev, gerade das rechte Maß. Mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg ist er nach Essen gekommen, in die Philharmonie. Es wird ein Abend, der insgesamt beeindruckt, im Einzelnen aber manche Schwäche offenbart. Kein Wunder.

Gergiev wirkt als Dirigent immer ein wenig archaisch. Wie er dasteht mit seinem Zahnstochertaktstock, wenig Körperlichkeit zeigt, nur ab und an einen Einsatz aus den Armen rüttelnd. Manchmal raunt er in sich hinein, zischt oder bläst hörbar die Luft durch die Backen. Von ihm geht eine gewisse Zuchtmeister-Aura aus, die letzthin auch bedeutet, dass seine Disziplin die des Orchesters sein muss. Musizierende „Indianer“ zeigen eben keine Schwächen, sei ein Konzert auch noch so lang. Doch Heldentum ist das eine, die physische Belastbarkeit eines Instrumentalisten die andere Seite der Medaille. Und dann kann schon Mal etwas aus dem Ruder laufen.

So wie im „Walküre“-Aufzug. Der ruppige Streicherbeginn, die Sturm- und Gewittermusik, von höchster Not kündend, wirkt ein wenig holprig und nicht wirklich tief schwarz. Überhaupt scheint Gergiev in erster Linie in Strukturen zu denken, was die zunehmende musikalische Raserei bisweilen ausbremst. Andererseits gönnt sich der Dirigent die feine psychologische Ausdeutung des personellen Beziehungsgeflechts und agiert betont sängerfreundlich. Die wiederum danken es mit klarster Diktion und einem unaufdringlichen Spiel, das die Spannung allein durch Blickkontakte hält.

Anja Kampe (Sieglinde) und Mikhail Vekua (Siegmund), einander noch fremd, im 1. Aufzug von Wagners „Walküre“. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Denn dieser Teil aus Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ handelt nicht zuletzt vom Wiedererkennen. Siegmund flieht vor Feinden und Wetter in Sieglindes Heim. Beide ahnen zunächst, erlangen zunehmend Gewissheit, dass sie einst als Zwillingspaar auseinandergerissen wurden. Die Freude über das Wiedersehen steigert sich zur inzestuösen Liebesbeziehung. Wenn da nur nicht der widerliche Hunding wäre, Sieglindes Gatte durch Zwangsheirat und Siegmunds Todfeind.

Dies alles untermalt Wagner mit rauschhafter Glut und  sehrendem Melos, das sich förmlich beißt mit der archaischen, dunklen Akkordik des Hunding-Motivs. Lyrische Episoden, die von Liebe künden, stehen neben exzessiver Leidenschaft, neben Parlando- und Belcanto-Elementen. Ja, ausdrucksstark und schön darf hier gesungen werden, oder, im Falle Hundings, arg bedrohlich. Das löst Mikhail Petrenko in großer Finsternis ein, wie andererseits die wunderbare Anja Kampe eine Sieglinde gibt, die jugendliche Unbekümmertheit ausstrahlen kann wie auch  die weit gefächerte Emphase. Ihr Sopran ist gut fundiert, blüht herrlich auf, schillert in verführerischen Farben. Nur schade, dass Mikhail Vekua (Siegmund) sich vor allem mit den deutschen Vokalen arg müht. Der Tenor verfügt über jede Menge Metall und Kraft, sucht aber oft sein Heil in der gekünstelten Exaltation, im Affekt.

Sei’s drum: Nach einer guten Stunde dieses emotionalen Aufbegehrens hat das Publikum – und das Orchester – eine Pause redlich verdient. Einige wollen sich das Schwelgen in Wagners Leitmotiven auch nicht zerstören lassen und verzichten auf Mahlers 6. Das ist durchaus nachvollziehbar. Denn es folgen weitere 75 Minuten wild hämmernde Rhythmik, Destruktion und Endzeitstimmung, nur kurz unterbrochen von einer vermeintlichen Idylle, die alsbald schon ins Dramatische abgleitet. Ja, Mahler wollte mit seiner Musik eine Welt zimmern, doch vom puren Paradies war dabei nie die Rede. Schon Schönberg erkannte in der 3. Sinfonie die nackte Seele eines Menschen, „wie eine geheimnisvolle, wilde Landschaft“, mit „grauenerregenden Untiefen“ und „idyllischen Ruheplätzen“.

Am Ende großer Applaus. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Und so ist auch die Nr. 6 ein in musikalische Tableaus gegossener Daseinskampf, der indes in der Katastrophe endet. Zwei wuchtige Hammerschläge im Finale besiegeln das Desaster eines imaginären Helden, zugleich stehen sie für den Zerfall tönender Struktur. Es ist ein Schlagen und ein Toben, Aufjaulen und Zerbröseln im Orchester, dass wir den Wagner vom Beginn des Konzerts nur noch einer fernen Vergangenheit zuordnen wollen.

Fast stoisch allerdings steht Valery Gergiev das alles durch, legt auch hier Strukturen frei, nimmt dem Ganzen jedoch die letzte Entäußerung. Das Orchester gerät konditionell und in puncto Genauigkeit ohnehin an seine Grenzen. Mahlers Raumklangeffekte wollen sich nicht einstellen. Und den wenigen, von Herdenglocken durchtränkten Idyllen, fehlt die Nähe zur Transzendenz, zur Erhabenheit.

Am Ende (natürlich) jede Menge Applaus, doch ein wenig darf sich das Publikum auch selbst feiern. Für die Bewältigung einer Überwältigung.

 

 

 




Mit Leoš Janáček in die neue Spielzeit: Die Essener Philharmoniker eröffnen die Reihe ihrer Sinfoniekonzerte

Er tritt für die Musik seiner Heimat ein: GMD Tomáš Netopil stand am Pult beim ersten Sinfoniekonzert der Spielzeit 2018/19. Foto: Hamza Saad.

Er tritt für die Musik seiner Heimat ein: GMD Tomáš Netopil stand am Pult beim ersten Sinfoniekonzert der Spielzeit 2018/19. Foto: Hamza Saad.

Mit einer Aufführung der „Glagolitischen Messe“ von Leoš Janáček und von Ludwig van Beethovens gerne vernachlässigter Zweiter begann Generalmusikdirektor Tomáš Netopil die Serie der zwölf Sinfoniekonzerte der Essener Philharmoniker.

Mit Janáčeks „Glagolitischer Messe“ stellt Tomáš Netopil ein weiteres wichtiges Werk aus dem hierzulande viel zu wenig bekannten Repertoire seiner tschechischen Heimat vor. Eine Serie, die hoffentlich in den nächsten Jahren – Netopils Vertrag wurde bis 2023 verlängert – weitere Begegnungen ermöglicht. Die Messe trägt ihren Namen, weil der glühende Panslawist Janáček den Messtext im uralten Kirchenslawisch vertont hat.

Liturgisches Werk oder Konzertmusik?

Im Westen wurde die Komposition nie richtig heimisch: Ihr hing wie so manch anderer wertvoller Musik östlicher Nachbarn das zweifelhafte Prädikat des „Nationalen“ an. Nicht für die Liturgie geschaffen und selbst für semiprofessionelle Chöre sehr schwer, dazu weder schmeichelnd melodisch noch offensichtlich fromm, passte sie als merkwürdiger Zwitter weder in die kirchliche Musikpflege noch in den bürgerlichen Konzertbetrieb.

Das hat sich durch einige verdienstvolle Einspielungen – von Rafael Kubelik bis Pierre Boulez – zum Glück geändert. Aber die aufgelockert besetzten Reihen im Alfried Krupp Saal belegen, dass die Messe das Publikum nicht anzieht – ein Schicksal, das sie kurioserweise mit Beethovens Zweiter Sinfonie teilt. Dabei spart Janáček nicht mit hymnischem Überschwang: in den Fanfaren des Beginns etwa, die sich am Ende wiederholen, aber auch im aufgewühlten Credo, das die slawische Glaubensformel „Vĕruju“ stets aufs Neue wiederholt.

Vielfältige Farben der Blechbläser

Dazwischen nimmt Janáček die Musik oft zurück. Aber der raue Samt flächiger Violinen und die dunklen Bläser-Piani werden kontrastiert von Paukensoli und heftigen Orgelakkorden (Friedemann Winklhofer). Die Farben der Blechbläser setzt er vielfältig ein, kontrastiert filigrane Streicher mit der tiefen Glut von Posaunen und Tuba. Die heftigen rhythmischen Akzente, die ostinat wiederholten Figuren, das drängende, oft atemlose Tempo ist als expressives Mittel aus seinen Opern wohlbekannt.

Netopil lässt die Philharmoniker die spröden Seiten des Klangs nicht überbetonen, sondern sorgt für eine eher weiche, aber nicht glattpolierte Artikulation. Almuth Herbst bietet unter den Solisten trotz ihrer nur marginalen Aufgabe den schönsten, weich grundierten Stimmklang. Carlos Cardoso mit kräftig-festem Tenor und Almas Svilpa mit muskulösem Bass sind ihren Partien gewachsen; Andrea Danková zeigt harte Tongebung und flackerndes Vibrato, das dem Kern ihres Soprans dennoch nicht hilft, das Orchester zu überstrahlen.

Alle Anzeichen panischer Gottesfurcht

Patrick Jaskolka und Jens Bingert haben ihre Chöre vorzüglich einstudiert: Die Sängerinnen und Sänger pflegen eine weitgehend klare Aussprache des fremden Idioms. Die Lobpreisungen des „Gloria“, die Glaubenssätze des „Credo“ fasst Janáček nicht in die Form feierlicher Hymnen oder erhabener Anrufungen: Sie erklingen wie hervorgestoßene Aufschreie, atemlos, hektisch, erregt und grell. Da äußert sich keine balsamische Glaubensgewissheit, sondern eine fast panische Gottesfurcht. Der kirchenskeptische Janáček schreibt, ähnlich wie Giuseppe Verdi in seiner „Missa da Requiem“, eine Musik des Zweifels, aber auch der existenziellen Hoffnung am Rande des Nichts. Die Hoffnung, am Ende möge doch nicht alles umsonst gewesen sein, verbindet Janáčeks Messe mit Beethovens Ouvertüre zu Goethes „Egmont“, die den Abend eröffnete, voll Wehmut und Passion.

So haydnisch heiter wie oft beschrieben klingt Beethovens Zweite Sinfonie an diesem Abend auch nicht: Die Violinen artikulieren frisch und markant im ersten Satz, im Scherzo trifft das Orchester die Eleganz á la Haydn, aber auch die unwirschen Akzente und dynamischen Überraschungen, die über die Surprisen des älteren Meisters hinausgehen.

Während Netopil die Einleitung genüsslich ausbreitet, findet er im Allegro con brio des ersten Satzes den forschen Schritt, der gleichwohl nichts überhetzt, gibt im zweiten Satz mehr Atem als Zeit und macht so aus dem „Larghetto“ kein „Largo“. Der letzte Satz wird erhitzt getrieben und hält die Spannung bis zum Ende. So gespielt steht die Zweite keineswegs in der zweiten Reihe der Sinfonien Beethovens.

Saisonausblick: Dominanz des Bewährten

Mit dem Schlagzeug steht in der beginnenden Saison ein Instrumentarium im solistischen Vordergrund, das erst im 20. Jahrhundert zu derartigen Ehren gekommen ist: Alexej Gerassimez, inzwischen in die führende Riege der Schlagzeuger aufgestiegen, widmet sich „Sieidi“, einem Konzert des Finnen Kalevi Aho. Dieses Konzert ist auch in einem neuen „Einsteiger-Abo“ mit vier Konzerten enthalten, mit dem die Vorteile eines fest gebuchten Platzes schmackhaft gemacht werden sollen.

Die weiteren Konzerte bis Juli 2019 bieten Neues oder Überraschendes nur in homöopathischen Dosen, verlassen sich auf die Dominanz des Bewährten und eine Prise von Randständigem: Tschaikowsky etwa zieht immer und kommt mit seiner Fünften, kombiniert mit dem Violinkonzert mit Julian Rachlin als Solist und Dirigent, am 14./15. Februar zu Ehren. Dazu tritt am 11./12. Juli das b-Moll-Klavierkonzert mit Boris Berezovsky. Mozarts „Jupiter“, Bruckners Dritte unter Hans Graf, Mahlers Sechste und Schostakowitschs Fünfte, beide mit Netopil am Pult, umschreiben den Kreis der Sinfonien.

Namhafte Solisten wecken Erwartungen

180 Jahre alt wird der Philharmonische Chor Essen, der mit Janáčeks Messe eine erste Bewährungsprobe erfolgreich bestanden hat und sich am 22./23. November Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ stellen wird. Erwartungen wecken die Namen der Solisten, unter ihnen der amerikanische Pianist Tzimon Barto mit dem B-Dur-Klavierkonzert Johannes Brahms‘ am 10./11. Januar 2019, Christiane Karg mit Maurice Ravels „Shéhérazade“ am 7./8. März, der Geiger Daniel Bell mit Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ am 4./5. April oder Gautier Capuçon, der am 20./21. Juni das Erste Konzert für Violoncello und Orchester op. 33 von Camille Saint-Saëns spielt.

Selten zu hörende Werke wie Arthur Honeggers witzige Sport-Adaption „Rugby“ oder Ottorino Respighis musikalische Annäherung an den magischen Lichtglanz bunter Kirchenfenster „Vetrate di Chiesa“ stehen eher am Rand – in diesem Fall etwa als Einleitung zu Carl Orffs unverwüstlichen „Carmina burana“ mit Ivor Bolton und dem Collegium Vocale Gent am 25./26. April.

Schon am 27. und 28. September setzt sich die Reihe der Sinfoniekonzerte fort, wenn Gastdirigent Alexander Liebreich als zentralen populären Programmpunkt Modest Mussorgskys „Bilder eine Ausstellung“ dirigiert.

Tel.: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de




Wo die legendären Alben lebendig werden: Dortmund lockt mit „The Pink Floyd Exhibition“

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd"-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer bricht durch die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall" nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd“-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer durchbricht die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall“ von 1981 nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Ein berühmter Song von Pink Floyd trifft hier und jetzt besonders zu: „Wish You Were Here“, eh schon eine der eingängigsten Schöpfungen der 1965 gegründeten britischen Kultband. Ja, man wünscht sie sich zurück, am liebsten gleich und genau hierher: die alten Zeiten, die eigene Jugend, all die verheißungsvollen Aufbrüche der damaligen Pop- und Rockmusik.

Tatsächlich wird einem jetzt in Dortmund dabei aufgeholfen: „The Pink Floyd Exhibition“ mit dem britisch-sarkastischen Untertitel „Their Mortal Remains“ (Ihre sterblichen Überreste) erweist sich als durchaus anregendes Unterfangen, das so manche Phase und manchen Moment der über 50-jährigen Band-Historie überraschend lebendig werden lässt. Auch jüngeren Besuchern dürfte sich bei der Zeitreise hoch droben auf der sechsten Ebene des „Dortmunder U“ der eine oder andere Zugang zum Werk der Supergruppe eröffnen.

Dritte Station nach London und Rom

Die Abfolge der Ausstellungsstationen klingt geradezu märchenhaft: erst London (Victoria and Albert Museum), dann Rom, jetzt Dortmund. Schon einmal hat Dortmund ziemlich zentral im „Pink Floyd“-Universum gelegen: 1981 gab es in der Westfalenhalle gleich sieben Aufführungen der gigantischen Show „The Wall“. Ansonsten stemmten damals nur Los Angeles, New York und London die ungemein aufwendige Konzertserie.

Schier endlos gespiegelt: das ohnehin schon vielschichtige Cover des „Pink Floyd"-Albums „Ummagumma". (Foto: Bernd Berke)

Schier endlos und überlebensgroß gespiegelt: das irritierende Cover des „Pink Floyd“-Albums „Ummagumma“. (Foto: Bernd Berke)

Auch an diesen Mythos, an den sich etwas ältere Dortmunder noch heute mit leuchtenden Augen erinnern, konnte „U“-Direktor Edwin Jacobs anknüpfen, als er Aubrey Powell (Gestalter vieler legendärer „Pink Floyd“-Plattencover) von einem lohnenden Gastspiel der Schau in Dortmund überzeugte. Powell fungiert denn auch auch Ko-Kurator der Ausstellung. Und wer, wenn nicht er, könnte den Geist der Cover (und somit auch der Musik) gleichsam wieder einfangen und staunenswert neu aufleben lassen?

Auf einmal erhebt sich die Mauer

Hier und da steht man beim Rundgang ganz plötzlich inmitten altbekannter Szenarien; da wird etwa das ohnehin schon rätselhaft vielschichtige Cover von „Ummagumma“ beiderseits endlos gespiegelt. Am spektakulärsten ist jedoch der Effekt, wenn sich auf einmal ein nachempfundenes Stück der Mauer aus den „Wall“-Konzerten vor einem erhebt – mitsamt dem grässlichen Lehrer und dem erbärmlich leidenden Schüler.

Ganz klar: Da erinnern sich Kenner natürlich sogleich an die – zugegeben – auch etwas wohlfeile Zeile „We don’t need no education“ (Wir brauchen keine Erziehung) und den Schlachtruf „Hey! Teachers! Leave them kids alone“ (Ey, Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe). Überhaupt ist die Verschränkung von Sound und Bildern in dieser Ausstellung streckenweise besonders stimmig gelungen. Eins hebt das andere hervor, hebt es auf eine neue Stufe.

Die Musiker als Ingenieure und Tüftler

Wer sich entsprechend Zeit nimmt, kann gut und gerne zwei bis drei Stunden durch diese Ausstellung streifen, die eine labyrinthische, abgedunkelt höhlenartige Anmutung hat – fast wie so ein Underground-Club seligen oder auch erschröcklichen Angedenkens.

Reichlich Exponate: Eine von vielen Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd"-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Reichlich Exponate: Eine von vielen gut gefüllten Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd“-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Ziemlich getreulich chronologisch, sozusagen Album für Album (siehe Anhang), kann man hier voranschreiten – von den psychedelischen Anfängen durch alle (über)ambitionierten Klangexperimente und bombastischen Aufgipfelungen von quasi wagnerianischen Gesamtkunstwerk-Ausmaßen, die freilich bei dieser Band mit den Jahren nicht immer mit überbordendem Erfindungsreichtum einher gingen. Dass und wie „Pink Floyd“ auch Anschluss an die Avantgarde der E-Musik suchte, hat längst nicht alle Kritiker gleichermaßen überzeugen können.

Nicht ohne fliegendes Schwein

Die Mannen von Pink Floyd, so zeigt sich hier abermals, waren nicht zuletzt kreative Ingenieure und ehrgeizige Soundtüftler, die stets das jeweils neueste elektronische Equipment bis an die Grenzen austesteten. Zahlreiche Gerätschaften sieht man hier, die heute liebenswert altmodisch und reichlich verwittert aussehen, die zu ihrer Zeit aber der letzte Schrei und State of the Art waren – vom heute vorsintflutlich wirkenden „Azimuth Co-ordinator“ bis zum frühen Synthesizer.

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U". (Foto: Bernd Berke)

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U“. (Foto: Bernd Berke)

Ansonsten sieht man einen vielfältigen medialen Mix aus Fotografien, Filmausschnitten, Plakaten, Bühnenskizzen, Briefen und weiteren Objekten. Hie und da sind es eher bloße Devotionalien, doch manch ein Stück gibt auch näheren Aufschluss. Und ja: Das fliegende Schwein hat selbstverständlich auch seine gebührenden Auftritte, und zwar erstmals schon ganz unten überm Foyer.

Der Gentleman Nick Mason gab sich die Ehre 

Offenbar hat man sehr zeitig und vorausschauend begriffen, dass es zur sich immer mehr entfaltenden Band-Geschichte jede Menge aufhebenswerte Gegenstände gibt. So gehören denn auch zahlreiche Gitarren zu den Exponaten, aber auch ein im Stile des japanischen Malers Hokusai verziertes Schlagzeug oder gar hübsch aufgefächerte gebrauchte Drumsticks von Nick Mason und ein halb zerfetztes Schlagfell, das er offenbar etwas wuchtiger traktiert hat.

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Dabei hat sich dieser Nick Mason, der mitten aus der aktuellen Tournee heraus als einziges Band-Mitglied zur Ausstellung nach Dortmund kam, in der Gruppe musikalisch zumeist vornehm im Hintergrund gehalten, jedoch dem großen Ganzen ein höchst solides rhythmisches Gerüst und Fundament verliehen. Er macht übrigens den sehr angenehmen Eindruck eines feinsinnigen, mit Ironie gesegneten britischen Gentleman. Indeed!

Wechselvolle Bandgeschichte

Die Alphatiere der Gruppe, Roger Waters und David Gilmour, sind – nach allem, was man so hören und lesen kann – hingegen ganz andere, mächtig auftrumpfende Kaliber. Roger Waters, der seit etlichen Jahren im Sinne der dubiosen Organisation BDS für einen rigiden Boykott gegen Israel eintritt, wehrt sich übrigens in einem just heute veröffentlichten Interview der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ-Magazin) nochmals gegen den oft erhobenen Vorwurf des Antisemitismus‘. An dieser Stelle genug davon.

Die wechselvolle, oft sehr turbulente Bandgeschichte, die anfangs Syd Barrett früh in den Drogenwahn trieb und später in mancherlei persönliche und juristische Grabenkämpfe mündete, wollen wir hier auch nicht im Detail nachbeten. Teile kann man sich in der Ausstellung erschließen, anderes wird man füglich nachlesen können. Vom optischen und akustischen Genuss des finalen Konzertfilms sollte man sich jedenfalls nicht abhalten lassen.

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd" und Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd"-Drummer Nick Mason,, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U") und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd“ und Ko-Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd“-Drummer Nick Mason, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U“) und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Ob die Schau doch noch eine oder mehrere weitere Stationen ansteuern wird, steht dahin. Gespräche laufen offenbar. Man könnte den Verdacht haben, dass die USA noch an die Reihe kommen werden.

Dortmund aber hat die Exklusivität in ganz West- und Mitteleuropa für sich. Die Besucherzahl könnte und sollte deshalb weit oberhalb der 100.000er-Marke liegen. Viele Gäste werden wohl vor allem aus den Niederlanden, aus Belgien, der Schweiz und Österreich anreisen – und wer weiß, woher sonst noch. Wie schön, wenn die Stadt mal außerhalb der Fußball-Zusammenhänge dermaßen viele Leute anlockt.

„The PINK FLOYD Exhibition. Their Mortal Remains“. Ausstellung im „Dortmunder U“, 6. Ebene, Leonie-Reygers-Terrasse. Tel. 0231 / 50-247 23. www.dortmunder-u.de

15. September 2018 bis 10. Februar 2019. Geänderte Öffnungszeiten: Mo-Mi 10-18, Do/Fr 10-20 Uhr, Sa/So 10-22 Uhr. Letzter Einlass jeweils eine Stunde vor Schließung.

Tickets gibt es im Vorverkauf über die Firma Eventim, die sonst vor allem Konzertkarten anbietet. Die ungewöhnlichen Preise: Normal 29,76 Euro, ermäßigt 23,16 Euro. www.eventim.de Bestell-Hotline 01806 / 57 00 70.

Durch den Rundgang geleitet wird man übrigens von hochmodernen Audioguides, die jeweils die passenden Sounds zu den gerade besehenen Ausstellungsstücken liefern – ganz gleich, wie und in welcher Richtung man sich bewegt.

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Die wichtigsten Alben von Pink Floyd“

The Piper at the Gates of Dawn (1967)
A Saucerful of Secrets (1968)
Ummagumma (1969)
Atom Heart Mother (1970)
Meddle (1971)
The Dark Side of the Moon (1973)
Wish You Were Here (1975)
Animals (1977)
The Wall (1979)
The Final Cut (1983)
A Momentary Lapse of Reason (1987)
The Division Bell (1994)




„Das Floß der Medusa“ – 50 Jahre danach: Hans Werner Henzes Oratorium von 1968 bei der Ruhrtriennale

Szenenbild aus der besprochenen Henze-Aufführung (Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale)

Théodore Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“ (1819) hängt im Pariser Louvre: Zuletzt ist es mir zweimal kurz hintereinander begegnet.

Einmal in einer Video-Arbeit von Marcel Odenbach in der Ausstellung „Entfesselte Natur“ in der Kunsthalle Hamburg: Er filmte Geflüchtete, die übers Mittelmeer nach Europa gekommen sind, im Louvre beim Betrachten des monumentalen Schiffbruch-Dramas. Und nun war es das „Aufmacher Bild“ von Hans Werner Henzes gleichnamigem Oratorium, das bei der Ruhrtriennale aufgeführt wurde. Kein Zufall, denn die Flucht übers Mittelmeer beschäftigt, schockiert und klagt Europa an.

So gewinnt Henzes klassenkämpferisches Werk von 1968 eine neue Aktualität und erweist sich beinahe als zeitlos. Denn das Libretto von Ernst Schnabel macht noch immer deutlich: Es geht um die „vielzahligen“ Armen, die nichts zu sagen haben und die den Interessen der Reichen und Mächtigen geopfert werden.

Gläsernes Wasserbecken als zentrales Bühnenelement

Im konkreten Fall retten sich die Offiziere, Priester und reichen Kaufleute nach dem Schiffbruch der Fregatte Medusa auf ihrem Weg in den Senegal in die Beiboote, während alle anderen auf einem grobgezimmerten Floß einfach ihrem Schicksal überlassen werden. Von 150 überleben nur 15 die Strapazen auf See bei glühender Sonne. Hunger und Durst führen zu Kannibalismus und Gewalt.

Sorgfältig und dezent in Szene gesetzt haben Henzes Musik Kornél Mundruczó und Márton Ágh (Bühne), die Musikalische Leitung lag bei Steven Sloane, der die Bochumer Symphoniker sowie die jungen und erwachsenen Sänger von Chorwerk Ruhr und der Züricher Singakademie zu einem packenden emotionalen Zusammenspiel vereinte.

Zentrales Bühnenelement ist ein gläsernes Wasserbecken, durch das der Sprecher Tilo Werner mit hochgekrempelten Hosen watet, indem er uns das ganze Ausmaß der Katastrophe auf dem Schiff nach und nach erzählerisch entfaltet. Durch die Spiegelungen an Wänden und Decken hat man als Zuschauer das Gefühl, in einem Aquarium zu sitzen – allerdings in einem mörderischen.

Klage und Anklage aus dem Reich der Toten

Nach und nach wechseln immer mehr Choristen von der linken Seite (die Lebenden) auf die rechte (in das Reich der Toten). Sie klagen durch die Sprache der Musik. Doch sie klagen auch an, denn es ist nicht nur Verzweiflung, die aus ihnen singt, sondern auch Wut. Zorn auf diejenigen, die sie verlassen haben, die sie in diese Situation gebrachten haben, die sie selbst zu Gemeinen gegenüber ihren Mitleidenden werden lässt. Hier zündet der revolutionäre Impetus, den man Henze 1968 vorwarf, auch heute wieder.

Umgekehrt behalten vielleicht auch Henzes damalige Kritiker aus dem linken Lager recht, die die Uraufführung als bourgeoise Kulturveranstaltung verurteilten. Dass mit dem Bewusstwerden der Missstände durch die künstlerische Darbietung hat zwar wieder einmal gut geklappt, allein: geändert hat sich dadurch noch nichts. Dafür sind nun die Politiker zuständig…oder?
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Leise Lieder von Abschied und Vergehen – Marthalers „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ bei der Ruhrtriennale

Ein leerer Raum mit schrägen Oberlichtern, im Hintergrund ein Personenaufzug und eine hohe Flügeltür: Das könnte ein Museum sein oder eine leergezogene Fabrikhalle, auf jeden Fall ein uneingeschränkt funktionaler Ort. Hier wirkt der Mann im grauen Hausmeisterkittel, schiebt Rollwagen herein mit undefinierbarer folienverhüllter Fracht.

Was wird das werden? Mit der Antwort kann es dauern, wie stets in den Stücken Christoph Marthalers, denen viel Gemächlichkeit eigen ist. Dieses heißt „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ und war jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) als funkelndes kleines Programmglanzlicht der Ruhrtriennale zu sehen.

Letzte Arbeit für die Berliner Volksbühne

„Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ war Marthalers letzte Arbeit an der Berliner Volksbühne. Mit dem Ausscheiden des Intendanten Frank Castorf endete auch die lange währende Kooperation, die 1993 mit „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ ihren seinerzeit stark beachteten Anfang hatte. „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ ist deshalb ein Stück der Rückschau geworden, die einen natürlich schwermütig stimmen kann, auf der Bühne wie im Zuschauerraum.

Doch sie leben noch

Doch die gut verpackten Figuren leben noch, wenn man sie nur lässt! Und nichts anderes tut der Mann im grauen Kittel, als sie in des Wortes wörtlichem Sinn aus Folie und Holzkiste auszupacken und auf die Bühne zu stellen.

Dann bewegen sie sich, dann singen sie, dann spielen sie gar auf Klavier und Cembalo. Und unerwartet sportlich sind einige von ihnen, Damen zumal, und keineswegs ohne erotischen Reiz. Wenn das ganze kulminiert, formieren sich die Weggepackten gar zu einer Art erotisch-lüsterner Laokoon-Gruppe auf dem Rollwägelchen, und jeder möchte dabei sein. Dem Kittelmann wird das zu viel, er packt ein, rollt hinaus, die Erinnerungen kommen zurück ins Magazin. Doch die Personen kehren wieder.

Alles schon einmal gebraucht

Für Bühne und Kostüme griff Marthalers großartige Ausstatterin Anna Viebrock auf den Fundus zurück, verwendete also nur Dinge, die in seinen früheren Produktionen schon einmal eingesetzt waren. Und vielleicht sind auch alle Lieder dort schon einmal gesungen worden, die im weiteren Verlauf des Abends zu hören sind, wer will das so genau wissen? Händel, Satie, Mahler und Schubert nennt der blaue Programmzettel, der in Orange noch ungleich mehr, mit Bach beginnend und mit Wagner endend.

Eher gehaucht als gesungen

Musik – und da vor allem Gesang – findet in Marthalers Theater aber nicht als schmetternde Nummernrevue statt, sondern ist fein und leise in den Gang des scheinbar Bedeutungslosen hineingesetzt, das „Handlung“ zu nennen einem manchmal widerstrebt.

Leise, sehr leise erklingen viele Lieder, und viele werden auch nie lauter. Der feine Ton macht sie nur noch eindrücklicher, und manchmal erzählt er geradezu Geschichte – etwa, wenn „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ kaum wahrnehmbar, eher gehaucht als gesungen, erklingt. Ja, die donnernde Revolution ist ausgeblieben, an der Volksbühne und anderswo, und vielleicht ist es sogar gut so.

Wenn dieser vorwiegend a cappella vorgetragene Gesang in der zweiten Stückhälfte nicht so schön wäre, so filigran und sanft, dann könnte man schon trübsinnig werden ob der Inhalte, mitleiden etwa mit dem jungen Mann, dessen Freundin „In einem kühlen Grunde“ (Text von Eichendorff) die Beziehung beendet hat und der nun am liebsten tot wäre. Oder, im Kirchenlied, verzweifeln an der Aussichtslosigkeit der eigenen gottlosen Existenz.

Düsternis und Heiterkeit

Die Musikauswahl, man kann es nicht anders sagen, kreist sehr um Trennung, Verlust, Abschied, Niedergang, was nach einem Vierteljahrhundert kreativer Arbeit an der Berliner Volksbühne nicht verwundern kann. Auch das Schlussbild ist kein Trost. Alle, die auf der Bühne sind, müssen ihre Schuhe abgeben, Symbole für Leben, Beweglichkeit, Erdung, ein düsterer finaler Akt.

Heiterkeit wiederum erregten manche Personenzeichnungen – alte Männer im clownesken Altmänner-Outfit mit Hosenträgern und Pantoffeln, füllige Damen in neckischer Pose; Marthaler weiß souverän mit der Spannung zwischen ernst und lustig zu spielen, um das Bühnengeschehen dramatisch zu überhöhen. Bei ihm ist gemächlich nicht das Gegenteil von kurzweilig, eher im Gegenteil.

In der großen Halle

Wenige Tage zuvor konnten Triennale-Besucher in der Bochumer Jahrhunderthalle, ebenfalls von Marthaler inszeniert, das symphonische Fragment „Universe, Incomplete“ von Charles Ives erleben, eine theatralische Materialschlacht (siehe dazu auch Martin Schrahns ausführliche Rezension in den Revierpassagen). Der Schweizer Theatermacher kann beides, große Halle wie kleine Theaterbühne. Aber dem typischen Schaffen dieses feinnervigen Musikerzählers begegnet man sicherlich eher in Produktionen wie, eben, „Bekannte Gefühle…“.

Was wird aus der Intendantin?

Wo werden wir zukünftig dieses in seiner Art einmalige Gesangstheater erleben können? Der Stuhl von Stefanie Carp, die seit vielen Jahren Marthalers kongeniale Dramaturgin und außerdem derzeit Triennale-Intendantin ist, wackelt. Sollte sie gehen, geht Marthaler – vermutlich – auch. „Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt, man hat die Mittel“, zitiert ein Mitspieler in einer der heitereren Passagen des Stücks Wilhelm Busch. Angesichts der politischen Entwicklung ist das ein geradezu seherischer Aphorismus.

Keine weiteren Vorstellungen in Gelsenkirchen

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Gewagter Dreiklang: Das Rotterdam Philharmonic Orchestra und Yannick Nézet-Séguin eröffnen die Konzertsaison in Essen

Yannick Nézet-Séguin (l.) und der Pianist Yefim Bronfman. (Foto: Sven Lorenz)

Bemerkenswert früh startet die Philharmonie Essen in die aktuelle Konzertsaison. Noch zeigt das Kalenderblatt nicht September, noch weilt ein Großteil der Mitarbeiter in den Spielzeitferien, da öffnet das Haus bereits seine Pforten, um mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra einen Klangkörper von internationaler Klasse zu präsentieren.

Der Herbst wird weitere illustre Gäste aus dem Ausland bringen: das Mariinsky Orchestra und die St. Petersburger Philharmoniker, das Orchestre des Champs-Elysées, das Mahler Chamber Orchestra, das City of Birmingham Symphony Orchestra und die Londoner Philharmoniker.

Im Jahr des 100. Geburtstags haben die eingangs erwähnten Musiker aus Rotterdam Grund zu feiern. Andererseits gilt es, Abschied zu nehmen. Das Essener Konzert ist eines der letzten unter Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin, der das Orchester nach nunmehr zehn Jahren verlässt, um zur New Yorker Met zu wechseln. Sein Nachfolger, der 29-jährige Lahav Shani aus Tel Aviv, wird der bislang jüngste Leiter in der Geschichte des Orchesters.

Yannick Nézet-Séguin dirigiert das Rotterdam Philharmonic Orchestra. (Foto: Sven Lorenz)

Wie ein gewagter Dreiklang scheint die Essener Programmfolge auf den ersten Blick. Haydn, Liszt und Tschaikowsky – kann das denn gut gehen? Muss Joseph Haydns 49. Sinfonie (mit dem Beinamen „La Passione“) nicht erdrückt werden von orchestralen Schlachtrössern wie dem 2. Klavierkonzert von Franz Liszt und der 4. Sinfonie von Pjotr Tschaikowsky? Droht sie nicht zur bloßen Aufwärmübung zu verkommen, zum kleinen klassischen Pflichtstück vor der großen romantischen Kür?

Gründlich und mühelos beweisen die Gäste aus Rotterdam das Gegenteil. Mit höchster Sorgfalt wird hier musiziert, mit geistsprühender Vehemenz und so feiner Phrasierung, dass Haydns Musik unterhaltsamste rhetorische Qualitäten entfaltet. Der fahle, nahezu ohne Vibrato gestaltete Kopfsatz zeugt von der Kenntnis historischer Aufführungspraxis. Seufzermotive klingen edel, Tonrepetitionen bestechend präzise, das Menuett federnd elegant. Es ist ein Auftakt nach Maß: Mit dieser Haydn-Sinfonie präsentiert sich das Orchester in hervorragender Verfassung und glänzender Spiellaune.

Der Pianist Yefim Bronfman, 1958 in Tashkent geboren, ist heute US-Amerikaner. (Foto: Sven Lorenz)

Aus dem 2. Klavierkonzert von Franz Liszt tönt uns erfrischend wenig Theaterdonner entgegen. Dank Yannick Nézet-Séguin und der Kunst des vorzüglichen Pianisten Yefim Bronfman ist Franz Liszt endlich einmal in kompetenten Händen: Wir hören Opulenz statt Schwulst, Verfeinerung statt Kitsch, Triumphales statt Triviales. Wohl gönnt Bronfman uns donnernde Oktaven, dämonisch grollende Bässe und lichtes Geklingel im Diskant. Aber diese Effekte sind eingebunden in eine sinnstiftende Interpretation, die den oft unterschätzten Komponisten als ebenbürtigen Zeitgenossen von Richard Wagner zeigt. So grüßt aus manch zackig punktiertem Rhythmus, aus mancher schimmernd gebrochenen Akkordfolge die Walküre herüber.

Tschaikowskys 4. Sinfonie klingt unter der Leitung des Frankokanadiers eher französisch-elegant als russisch-rau. Machtvolle Fanfaren im Blech, glutvolle Melodik in den Streichern, fein schwebende Holzbläser-Soli zeigen noch einmal das bestechende Können des Orchesters, das Tschaikowskys Sinfonie frei strömen lässt, statt sie blockhaft darzubieten. Freilich klingt uns auch manch extremes Pianissimo, mancher Knalleffekt im Forte entgegen, während die Höhepunkte zwar sehr klangvoll gestaltet sind, jedoch ohne alarmierende oder bestürzende Dramatik. Aber im Allegro con fuoco gibt der sportlich agierende Nézet-Séguin noch einmal ordentlich Gas – und reißt das Publikum damit prompt von den Sitzen.

(Informationen zum Spielplan: https://www.theater-essen.de/philharmonie/spielplan/)




Im Konfettiregen: Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa verabschiedet sich nach 13 Jahren in Dortmund

Adieu Dortmund: Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa zieht gen Baden-Baden (Foto: Pascal Amos Rest)

Die Schulterblätter von Intendanten sind offenbar besonders robuster Natur. Innerhalb weniger Stunden stecken sie hundertfach Schläge mit der flachen Hand weg, kräftige Klapse männlich anerkennender Art, ausgeführt von Sponsoren, Künstlern, Kollegen, Politikern, Wegbegleitern, Freunden und Förderern.

Das muss echte Liebe sein, und mit solcher hat Dortmunds scheidender Konzerthausintendant und BVB-Fan Benedikt Stampa selbstredend Erfahrung. 13 Jahre als Chef der Philharmonie für Westfalen endeten jetzt mit einem Abschiedskonzert, das sich zum finalen Belastungstest für die Dreiecksknochen auswuchs, aber auch zu einem künstlerisch glanzvollen Ereignis mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Dirigent Yannick Nézet-Séguin.

Konfetti zum großen Finale im Konzerthaus (Foto: Pascal Amos Rest)

Lob, Dank und Konfetti mit seinem eigenen Konterfei regnen an diesem Abend auf Stampa nieder, der nun zum Festspielhaus nach Baden-Baden wechselt.

Seinem Nachfolger Raphael von Hoensbroech, der nicht anwesend sein konnte, hinterlässt Benedikt Stampa eine Spielstätte in hervorragender Verfassung: mit unverwechselbarem Profil, mit guten Auslastungszahlen, einem trefflich eingespielten Team und hoher Wertschätzung in internationalen Musikerkreisen.

Oberbürgermeister Ullrich Sierau (l.) und Benedikt Stampa (Foto: Pascal Amos Rest)

Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau trägt dazu viele schöne Worte vor. Indessen scheint niemand an die vielleicht größte Leistung des Kulturmanagers erinnern zu wollen, der das Steuer 2005 zu einer Zeit ergriff, als das Zerwürfnis zwischen der Stadtspitze und Gründungsintendant Ulrich Andreas Vogt den Erfolg des Konzerthauses zu gefährden drohte. Eine gehörige Portion Skepsis schlug Vogts Nachfolger damals entgegen. Stampa jedoch gelang es, Vertrauen neu aufzubauen und den ins Schlingern geratenen Musiktanker mit ruhiger Hand und klarer Linie wieder auf Kurs zu bringen.

Yannick Nézet-Séguin ist dem Konzerthaus und Benedikt Stampa freundschaftlich verbunden (Foto: Pascal Amos Rest)

Yannick Nézet-Séguin gehört zu den Künstlern, die er bereits zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Karriere zu gewinnen verstand – ganz im Sinne der „Dortmunder Dramaturgie“, die auf eine langfristige Zusammenarbeit setzt. Mit sportlichem Überschwang dirigiert der neue Chef der New Yorker Met zunächst die Ouvertüre zu BedřichSmetanas Oper „Die verkaufte Braut“. Rasant flirren und wirbeln die Sechzehntelketten der Streicher, aber die Fortissimo-Passagen geraten unter seinem befeuernden Dirigat zu lärmig. Im Violinkonzert von Antonín Dovřák stellen sich Dirigent und Orchester dann besser auf die Konzerthaus-Akustik ein.

Veronika Ederle spielte das Violinkonzert von Antonin Dvorak (Foto: Pascal Amos Rest)

Das kommt dem feinen Violinspiel von Veronika Eberle zugute, die zu bemerkenswerter Souveränität gereift ist. Mit untadeliger Intonation und energisch akzentuiertem Portato-Strich gibt sie dem Kopfsatz Ernst und Tiefe, steigert virtuose Doppelgriffe und Kadenzen zu feierlicher Grandezza. Ein süffig-romantischer Klang auf der G-Saite mag ihre Sache nicht sein, aber die Künstlerin bleibt sich und ihren Fähigkeiten wunderbar treu. Ihr klarer Violinton ist von einer Energie erfüllt, die berührend fragil klingt und die weit gespannten Melodiebögen des Adagio zum Leuchten bringt. Nachgerade perfekt liegt ihr das tänzerische Finale, in dem sie alle virtuosen Trümpfe ausspielen kann: wendig, blitzschnell und mit dem hellen Klang jubelnder Lebensfreude.

Das Chamber Orchestra of Europe, das die die Solistin mit edlen Holzbläser-Soli, sonorem Blech und rhythmischer Präzision unterstützt, läuft in der 3. Sinfonie von Johannes Brahms endgültig zu großer Form auf. So episch strömt das Werk dahin, so bruchlos und ohne Pausen, dass man als Hörer von Takt 1 an gepackt und nicht wieder losgelassen wird. Denn wir erleben mitnichten eine rund geschliffene, glatt gebügelte Brahms-Deutung, sondern höchst spannende Modulationen eines Orchesterklangs, der keinen Vergleich zu scheuen braucht. Yannick Nézet-Séguin formt ihn wie eine Skulptur, fordert mal sonore Erhabenheit, mal samtige Transparenz, mal massige Schwere, die wie ein Vorausgriff auf Anton Bruckner klingt. Nichts klingt ruppig, gleichwohl können sich unversehens gewaltige Abgründe öffnen. Die Wehmut des Poco Allegretto entfaltet sich so diskret und verhalten, so fern jeder Sentimentalität, dass einen schiere Dankbarkeit erfüllt.

Dem Guten, Wahren und Schönen, nach dem zu suchen Benedikt Stampa sich verpflichtet fühlt, konnte er nach 1300 Konzerten in der Brückstraße noch einen letzten Mosaikstein hinzufügen. Es sind fürwahr keine kleinen Fußstapfen, in die Raphael von Hoensbroech nunmehr tritt. Wir sind gespannt.

(Der Bericht ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.
Informationen zum Konzerthaus Dortmund: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/)




„Intuitive Kommunikation wie in der Familie“ – Lambert Orkis ist seit 30 Jahren Klavierbegleiter von Anne-Sophie Mutter

Gastautor Robert Unger (Pressesprecher beim Kurt Weill Fest Dessau) im Gespäch mit Lambert Orkis, Experte für historische Instrumente und seit dreißig Jahren Klavierpartner der Geigerin Anne-Sophie Mutter:

Lambert Orkis ist ein international anerkannter Kammermusiker, Interpret zeitgenössischer Musik und Experte für Aufführungen auf historischen Instrumenten. Seit 1988 tritt er als Klavierpartner der weltbekannten Geigerin Anne-Sophie Mutter auf; über elf Jahre lang spielte er zuvor an der Seite des Cellisten Mstislaw Rostropowitsch. Am Donnerstag, 7. Juni 2018, tritt er gemeinsam mit Anne-Sophie Mutter im Konzerthaus Dortmund auf.

Lambert Orkis mit Anne-Sophie Mutter. (Foto: Deutsche Grammophon / Dario Acosta)

Lambert Orkis mit Anne-Sophie Mutter. (Foto: Deutsche Grammophon / Dario Acosta)

Frage: Herr Orkis, Sie sind den letzten Jahren mit bedeutenden Musikern, Orchestern und Ensembles aufgetreten. Haben Sie schon immer das gemeinsame Musizieren einer Solokarriere vorgezogen?

Lambert Orkis: Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich ein wenig ausholen. Aufgewachsen bin ich in einer einfachen Arbeiterfamilie. Mein Vater bekam jeden Monat einhundert Dollar, was nicht viel war. Dennoch unterstütze meine Familie, besonders meine Mutter früh schon mein musikalisches Talent. Diese auch immaterielle Unterstützung war ein großer Ansporn und ich war fest entschlossen, alles zu tun, um erfolgreich zu sein.

Sehr früh bekam ich die Chance, am Curtis Institute of Music zu studieren. Das Konservatorium war zu dieser Zeit eine der wenigen Hochschulen, die keine Gebühr verlangten, sondern im Gegenteil jedem Schüler ein volles Stipendium gewährten. Voll jugendlichen Elans und einer Portion Übermut dachte ich natürlich an eine große Solo-Karriere. Zu dieser Zeit studierte auch der junge David Cole am Curtis Institute. Eines Tages begannen wir einfach zusammen Musik zu spielen, und es war fabelhaft. Zu dieser Zeit realisierte ich das erste Mal, wie wunderbar und natürlich es sich anfühlt, mit anderen Musikern zu spielen, und wie viel man dadurch gewinnen kann. Ich lernte schnell, meinen musikalischen Partnern zuzuhören und auf sie einzugehen.

War das wie ein Geschenk für Sie?

Lambert Orkis: Auf jeden Fall. Viele Leute sahen in der damaligen Zeit keine große Möglichkeit, als Klavierbegleiter erfolgreich zu werden, aber mir war das egal. Mit 19 beendete ich das Studium und wusste nicht gleich weiter. Ich bekam dann das Angebot, als Klavierbegleiter Studenten bei ihren Abschlussprüfungen beizustehen. Im ersten Jahr waren es 47 Prüfungen. Es war eine fast schon verrückte Herausforderung: die unterschiedlichen Ansprüche an die Musik, die verschiedenen Rhythmen und natürlich auch die Vielfalt der Charaktere. Das war keine einfache, aber eine unglaublich gute Schule. Dadurch habe ich gelernt, andere Menschen besser „klingen“ zu lassen.

Eines Tages hörte mich Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch. Er kam nach dem Konzert zu mir und umarmte mich. Es fühlte sich an wie die Umarmung eines russischen Bären, warm und ganz flauschig, zugleich aber auch Respekt einflößend. Ich sollte für sein Orchester, das National Symphony Orchestra, spielen und mit ihm Duo-Partnern zur Seite stehen. Das war der Beginn einer wunderbaren Zeit.

Lassen Sie uns trotzdem kurz auf ihre Solo-Einspielungen schauen. Die „Appassionata“ von Ludwig van Beethoven haben Sie auf CD mit drei verschiebenden historischen Flügeln aufgenommen. Wie kam es zu diesem Projekt?

Lambert Orkis: Mit dieser CD bin ich selber auf eine Entdeckungsreise gegangen. Die historische Aufführungspraxis liegt mir sehr am Herzen und ich unterrichte seit vielen Jahren am Boyer College der Temple University in Philadelphia das Klavierspiel auf alten Instrumenten. Ich wollte mir selber bewusst machen, inwieweit der Flügel mit seiner ganz eigenen Mechanik das Klavierspiel, also Tempo, Dynamik, Rhythmik und vieles mehr, beeinflusst. Ich war selber davon überrascht, wie sehr mein Spiel durch die Instrumente beeinflusst wird. Das war eine einmalige Erfahrung!

Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr im Dortmunder Konzerthaus

Beim Klavier-Festival Ruhr spielen Sie gemeinsam mit Anne-Sophie Mutter in Dortmund. Seit 1988 treten Sie gemeinsam mit ihr als Klavierpartner in Rezitals auf, also mittlerweile seit 30 Jahren. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und wie hat sie sich über die Jahre entwickelt?

Lambert Orkis: Ja, wir feiern im Dezember diesen Jahr unser Jubiläum und ich freue mich darauf. Herbert von Karajan schlug Rostropowitsch für sein National Symphony Orchestra damals Anne-Sophie Mutter als Solistin vor. In einer Klavierprobe für das Konzert lernten wir uns kennen und fast schon erschreckenderweise klappte alles auf Anhieb. Nach dem Konzert hörten wir erst einmal nichts voneinander. Eines Tages kam Rostropowitsch auf mich zu und fragte, ob ich mich an Anne-Sophie erinnere. Er erzählte mir, dass sie einen Duo-Partner suche, und ich war sofort Feuer und Flamme.

Es gibt einen kleinen, aber feinen Altersunterschied zwischen uns (lacht). Ich konnte am Beginn unserer Zusammenarbeit meine Erfahrungen mit alter Musik und der historischen Spielweise an sie weitergeben. Ich muss sagen, dass unsere Zusammenarbeit immer angenehm und bereichernd ist. Natürlich sind wir auch nur Menschen und haben gute und schlechte Tage miteinander.

Über die Jahre ist unser Zusammenspiel sehr viel intuitiver geworden. In den Konzerten reichen die kleinsten Gesten, um miteinander zu kommunizieren. Wir ergänzen uns aber auch in den Proben. Ich bin eher der ruhige Typ, sie redet gerne über die Dinge. Es ist eine Art Kommunikation, die es vielleicht sonst nur unter Familienmitgliedern gibt. Ich höre ihr gerne und aufmerksam zu und dann versuchen wir es zusammen. Ganz bescheiden gesagt: Das Ergebnis ist hervorragend.

Sie spielen in Dortmund Johannes Brahms, André Previn, Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Krzysztof Penderecki. Ein unkonventionelles Programm, oder?

Lambert Orkis: Seine zweite Klaviersonate hat Penderecki für uns komponiert. Sie ist ein echter Meilenstein in unserer Zusammenarbeit. Das Werk ist komplex in seiner rhythmischen Varianz. Als klassischer Musiker muss man sich erst an die ungewöhnliche Struktur gewöhnen. Seit dem wir das Werk uraufgeführt haben, haben wir sehr hart daran gearbeitet und es auch ein wenig auf eigene Faust variiert.

Bei einem Konzert in Warschau war Penderecki anwesend. Ich kenne ihn schon lange, aber bei diesem Konzert habe ich ihn das erste Mal lächeln sehen. Er war sehr überrascht, aber auch glücklich mit unserer Interpretation. Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass unser „klassisches“ Publikum absolut fasziniert ist von diesem erst einmal sperrig wirkenden Werk. Das ganze Programm ist nicht einfach, aber wir brennen für die Musik. Die Menschen erwarten viel in unseren Konzerten. Das spornt uns an und wir versuchen, immer unser Bestes zu geben.

Bleibt ein Duo-Partner eher unbeachtet im Hintergrund?

Oft bekommt man das Gefühl, dass bei Tourneen bekannter Künstler wie Diana Damrau, Jonas Kaufmann oder auch bei Ihnen mit Anne-Sophie Mutter der Duo-Partner eher im Hintergrund steht und nicht wirklich zur Geltung kommt. Wie gehen Sie damit um? Nehmen Sie diesen Umstand überhaupt noch wahr?

Lambert Orkis: Ich habe über viele Jahre jede Kritik zu meinen Konzerten gesammelt. Es müssen mittlerweile mehrere Tausend sein. Beim Lesen der Artikel ist mir dieser Umstand natürlich immer wieder aufgefallen. Aber ich habe auch andere Erfahrungen gemacht. Anne-Sophie und ich gaben ein Konzert in New York. Zu diesem Konzert kamen fünf Kritiker. Jede Kritik zeigte ein anderes Bild. Eine lobte besonders das Spiel von Frau Mutter und ignorierte mich total. Eine andere Kritik schrieb, Frau Mutter könnte sich glücklich schätzen, einen so tollen Partner zu haben, sonst wäre der Abend ein Flop geworden. Ich spiele nicht für den großen Ruhm. Ich spiele für die Musik und liebe meinen Beruf. Die Musik zählt mehr als Aufmerksamkeit und Ruhm.

30 Jahre Klavier-Festival Ruhr, ist das auch für Sie ein Grund zur Freude? Kommen Sie gerne immer wieder ins Ruhrgebiet?

Lambert Orkis: Ich erinnere mich gerne an besondere Momente und die Atmosphäre beim Festival. Ich bin immer wieder beeindruckt vom Publikum. Es ist sehr aufmerksam, emotional und zeigt eine unglaubliche Offenheit für die Musik. Das Festival präsentiert für mich die Kunst des Klavierspiels in allen Facetten der Klassik – nicht nur das große Solo-Repertoire für Pianisten, sondern viel mehr die Entwicklung im Lied, in der Kammermusik und in anderen Gattungen, die das Klavierspiel und die Komposition für das Klavier vorangetrieben haben. Franz Xaver Ohnesorg und seine Partner haben für das Ruhrgebiet eine erstklassige Kulturinstitution geschaffen. Es ist für mich und wahrscheinlich auch für Anne-Sophie eine besondere Ehre, Teil des Festivals zu sein.

Karten für das Konzert am Donnerstag, 7. Juni (20 Uhr im Konzerthaus Dortmund), sind zu Preisen zwischen 35 und 125 Euro erhältlich bei den bekannten Vorverkaufsstellen, über die Tickethotline (01806/500 80 3) oder direkt und platzgenau im Internet unter www.klavierfestival.de




Verblüffung im Konzert und auf der Kirmes

Zwei kleine Vorfälle sind zu vermelden. Einfach so. Entnehmt und folgert daraus, was Ihr wollt. Ob sie an irgend einer Stelle zusammenhängen? Ich weiß es nicht. Vielleicht bloß durch meine subjektive Wahrnehmung?

Herrrreinspaziert... (Foto: BB)

Herrrreinspaziert… (Foto: BB)

Zum einen war ich dieser Tage in einem Chorkonzert, das ich wegen fachlicher Unzuständigkeit an dieser Stelle nicht rezensieren werde – und auch in keinem anderen Kontext.

Doch mir fiel eine Kleinigkeit auf. Alle Sängerinnen und Sänger hatten ihre Noten dabei, schlugen sie auf und blätterten an den passenden Stellen um, wie man das so kennt. Nur ein Sänger hatte keine Doppelseite vor sich, sondern lediglich eine einzige; und das auch noch in einem kleineren Format. Nanu?

Bei näherem Hinsehen erwies sich, dass er auch nicht umblätterte, sondern jeweils kurz mit einem Finger nach oben wischte. Richtig: Er hatte seine Noten auf einem Tablet dabei, vielleicht war’s auch ein iPad. Egal. Einstweilen kommt einem das im Bereich der E-Musik noch ziemlich ungewohnt vor, und ich habe mich gefragt, ob diese Art, eine Partitur zu lesen, nicht gar eine minimale Einbuße an „hochkultureller Würde“ mit sich bringt, wenn Ihr wisst, was ich meine. Ist nicht, wenn man derart ein Tablet in den Händen hält, buchstäblich auch die Haltung zur Musik eine andere? Aber vielleicht irre ich mich auch gründlich.

Nach dem alten (und bewährten) Goethe-Motto „Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“ (ersetze „nach Hause“ durch „auf die Bühne“) ist es außerdem wohl bedeutend sicherer, die Singvorlage auf Papier bei sich zu haben. Man denke nur, was geschieht, sollte der Akku schwächeln oder die vermaledeite Technik sonstwie haken. Dann kann man nur inständig hoffen, dass der Sänger seine Partie vollkommen „intus“ hat.

Solche Gedanken beschäftigen einen dann also. Hauptsache, sie lenken einen nicht vom Eigentlichen des Konzerts ab. (Im Comic stünde an dieser Stelle: „*Hüstel*“).

Unverhoffte Begegnung mit einer „kopflosen Frau“

Zweiter Vorfall, völlig anderes Milieu, ganz anderes Genre, nämlich ein nostalgischer Dortmunder Jahrmarkt im Zeichen der „Steampunk“-Szene. Es waren Schausteller dabei, die – wie in längst verflossenen Zeiten – nicht nur eine schwebende Jungfrau, sondern auch eine „Dame ohne Unterleib“ und eine „Frau ohne Kopf“ zu zeigen versprachen, und zwar nicht etwa als Präparate oder einbalsamierte Relikte, sondern als leibhaftig lebende Wesen. Die bizarre (Gratis)-Veranstaltung nahm also im wohlweislich abgedunkelten Raume ihren Lauf. Manchen Kindern war’s – angesichts der einigermaßen geschickt inszenierten Trugbilder besagter Monstrositäten – des Grusels mehr als genug.

Doch dann tritt man ins Freie und sitzt kurz darauf im hellsten Sonnenschein vor dem Ort des Geschehens. Aber wer stöckelt denn da stiekum aus dem Bühneneingang nach draußen, sich scheu und verstohlen umblickend? Unverkennbar die „Frau ohne Kopf“, und zwar selbstverständlich m i t Kopf. Oha!

Immerhin wusste das Kirmes-Trüppchen mit einer „mentalen Konzentrationsübung“ zu verblüffen, bei der eine Frau auf der Bühne beliebige Geburtsdaten aus dem Publikum erriet. Lag’s an der Art der Fragen ihres Bühnenpartners (Wortanzahl, Wortstellung, Betonung und dergleichen), der sich die Ausweise zeigen ließ und vielleicht versteckte Hinweise übermittelt hat? Oder hatte sie einen winzigen „Knopf im Ohr“? Aber wer hätte ihr vorsagen sollen? Im Vorfeld eingeweihte Besucher kann man wohl ebenfalls ausschließen. Wenn sich das herumspräche! Also hat man doch noch staunen dürfen.




Die Kunst kämpft am Limit: Theater Hagen stellt trotz harter Kürzungen einen ehrgeizigen Spielplan für 2018/19 vor

Hier wird, so kommt es einem vor, mit einem Mut gekämpft, der sich bewusst ist, dass er nichts mehr verlieren kann. Die verordneten Kürzungen treffen das Theater Hagen in der kommenden Spielzeit in vollem Umfang und müssen bis 2022 realisiert sein. 1,5 Millionen sind für einen Etat von rund 14,25 Millionen Euro eine gravierende Summe. Und dennoch kündigt Intendant Francis Hüsers für 2018/19 die gleiche Zahl von Vorstellungen und sogar mehr Produktionen an.

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Wie soll das funktionieren angesichts des notwendigen Abbaus von künstlerischem Personal, etwa in Orchester und Ballett? Hüsers, Intendant seit der Spielzeit 2017/18, will die Ressourcen des „sehr gut aufgestellten Theaters“ ausschöpfen, will Doppelfunktionen des Personals „noch exzessiver“ nutzen. Das Publikum soll nicht merken, was Geschäftsführer Michael Fuchs bei der Vorstellung der kommenden Spielzeit sehr realistisch beschrieb: „Das Hemd ist dünner geworden, die Risiken steigen“. Sagen wir es deutlicher: Das Hemd ist nur noch ein Spinnfädchen, und ob die Risiken einer solchen Null-Reserve-Politik noch zu bewältigen sind, wird das kühne Führungsteam des Theaters Hagen ab Herbst zu beweisen haben.

Selbstausbeutung

Was das alles für die Menschen am Haus bedeutet, muss ungeschminkt ausgesprochen werden. Es ist ja nicht so, dass der künstlerisch erfolgreiche frühere Intendant Norbert Hilchenbach hätte aus dem Vollen schöpfen können. Ein Chronist könnte die Sparwellen aufzählen, die bereits über das Theater hinweggerollt sind. Jetzt geht es wohl nur noch um Selbstausbeutung am Limit. Und die Künstlerinnen und Künstler an diesem Haus verdienen allein dafür Anerkennung, dass sie sich – um der Kunst oder der eigenen Existenz willen – diesen Zumutungen unterwerfen.

Dennoch wäre simple Politikerschelte wohlfeil – und man könnte ihr leicht entgegenhalten, dass Hagen froh sein darf, überhaupt noch ein Theater mit eigenem Ensemble halten zu können. Die Ursachen dieser Krise liegen tief in einer seit langem defizitären Kulturpolitik. Hoffnungen ruhen auf der Landesregierung: Theoretisch könnte sie mit den Baukosten von 300 Metern Autobahn die Finanzierung des Hagener Theaters mit einem Schlag sanieren und den Abbau von hoch kreativen Arbeitsplätzen in dieser nicht gerade von Kultur strotzenden Stadt rückgängig machen.

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. Foto: Theater Hagen

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. (Foto: Theater Hagen)

Doch zurück zur Kunst. Hüsers kündigt einen Spielplan mit Schwerpunkt auf „romantischer“ Oper an – was man eben so landläufig darunter versteht. Darunter fallen sicherlich Antonín Dvořáks „Rusalka“ (ab 1. Dezember 2018) und Richard Wagners „Tristan und Isolde“, ab 7. April 2019 fünf Mal sonntags auf dem Spielplan, mit GMD Joseph Trafton am Pult und Jochen Biganzoli als Regisseur.

Besonderes Profil zeigt Hüsers damit nicht, aber es ist ihm zugute zu halten, dass er bei der Top-Riege der Komponisten nicht zu den populärsten Titeln greift: Von Giuseppe Verdi etwa setzt er „Simon Boccanegra“ an (ab 29. September, Regie Magdalena Fuchsberger), von Gioachino Rossini „Il Turco in Italia“ (ab 2. Februar 2019), für den er Christian von Götz als Regisseur gewonnen hat. Cole Porters „Kiss me, Kate“, „Pariser Leben“ zum Offenbach-Jahr, Richard O`Briens „The Rocky Horror Show“ und Duncan Sheiks „Spring Awakening“ nach Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ in Zusammenarbeit mit der Hochschule Osnabrück markieren einen Schwerpunkt auf dem unterhaltenden Musiktheater – was Sinn und sicher auch Spaß macht und in der Region eine eigene Farbe setzt. Der beliebte „Zauberer von Oz“ als weihnachtliches Fantasiestück dürfte bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen Beifall finden.

Spannendes Projekt mit dem Osthaus Museum

Ein spannendes Projekt realisiert das Theater gemeinsam mit dem Osthaus Museum. Zu Ostern 2019 kombiniert es auf der Bühne Claudio Monteverdis berührendes dramatisches Madrigal „Combattimento di Tancredi e Clorinda“ mit einer Präsentation von Skulpturen aus dem Museum und will mit dieser Verbindung der Künste die existenziellen Motive von Liebe, Tod und Auferstehung umkreisen.

Ab 18. Mai 2019 arbeiten Ballett und Oper zusammen in einem Doppelabend mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ und Georg Friedrich Händels „Wassermusik“. Alfonso Palencia übernimmt die Inszenierungs-Choreografie und wird mit Sängern und Tänzern einen dialogischen Abend erarbeiten, der mit Mut zum Risiko die Schranken zwischen den Sparten einzureißen verspricht. Das Ballett eröffnet Alfonso Palencia zu Beginn der Spielzeit am 15. September mit der Wiederaufnahme eines Klassikers: „Cinderella“ mit der Musik Sergej Prokofjews (Premiere war am 14. April).

„Trotz aller Unkenrufe – es gibt das Schauspiel in Hagen und es wird es weiter geben“, verkündete Hüsers bei der Pressekonferenz. Im Programm stehen Shakespeares „Wie es euch gefällt“ mit der bremer shakespeare company und eine Adaption des Romans „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum vom Rheinischen Landestheater Neuss, aber auch ein Solo-Abend mit Marilyn Bennett, der einer Figur aus James Joyces „Ulysses“, Molly Bloom, gewidmet ist. Als Eigenproduktion kündigt Hagen Friedrich Schillers „Die Räuber“ ab 12. Januar 2019 an – und zwar mit Kristine Larissa Funkhauser aus dem Sängerensemble als Amalia.

In den Sinfoniekonzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. Foto: Fritz J. Schwarzenberger

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. (Foto: Fritz J. Schwarzenberger)

Ein Blick ins Programm der zehn Sinfoniekonzerte lohnt sich: Beim ersten Konzert der Saison am 11. September dirigiert Joseph Trafton Gustav Mahlers Erste und das Mandolinenkonzert von Avner Dorman, der 2017 mit der Oper „Wahnfried“ in Karlsruhe einen grandiosen Erfolg feiern konnte. Im dritten Konzert am 13. November spielt ein „rising star“ der Klavierszene, Adam Laloum, das B-Dur-Konzert von Johannes Brahms; zuvor erklingen John Adams‘ „The Chairman Dances“ – ein Echo auf die künstlerisch so ergiebige Reihe amerikanischer Opern der letzten Jahre am Hagener Theater. Am 28. Mai 2019 kombiniert Trafton Adams‘ „Harmonielehre“ mit Richard Strauss „Ein Heldenleben“.

Auch in den anderen Konzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken, ob Sinfonien von Luigi Boccherini, die Uraufführung eines Konzerts für Horn und Trompete von Wolf Kerschek am 9. Oktober, verbunden mit Dvořáks Sechster Symphonie, Werke von Ralph Vaughan Williams oder am 18. Juni 2019 ein Abend mit HK Gruber und dem Pianisten Frank Dupree mit amerikanischer Musik von Gershwin und Weill bis Duke Ellington. Und wer sich für regionale (Musik-)Geschichte interessiert, dem sei das Gedenkkonzert an den ersten Großangriff auf Hagen 1943 am 1. November 2018 ans Herz gelegt. Darin erklingt die „Trauermusik“ des damaligen Hagener GMD Hans Herwig.

Info: www.theaterhagen.de




Das Geheimnis des Liedes heißt Konzentration: Pianist Graham Johnson tritt jetzt zum 50. Mal beim Klavier-Festival Ruhr auf

Gastautor Robert Unger, seines Zeichens Pressesprecher beim Kurt Weill Fest in Dessau,  über den Pianisten Graham Johnson, mit dem er ein längeres Gespräch geführt hat – vor allem über die Kultur des Kunstliedes:

Seit gut einem Monat ist das Klavier-Festival Ruhr im Gange und feiert sein 30-jähriges Bestehen und viel mehr noch die Kunst des Klavierspiels. 2018 jährt sich der 100. Todestag Claude Debussys; somit ist es nicht verwunderlich, wenn Intendant Franz Xaver Ohnesorg einen Schwerpunkt auf diesen Komponisten und auf französische Musik im Allgemeinen legt.

Der Pianist Graham Johnson (© Malcolm Crowthers)

Der Pianist Graham Johnson (Foto: © Malcolm Crowthers)

In der kommenden Woche, vom 14. bis 16. Mai (jeweils um 20 Uhr) präsentiert im Schloss Herten ein „Urgestein“ des Festivals, Graham Johnson, gemeinsam mit einer exquisiten Auswahl an Sängern französische Lieder und begeht damit seinen 50. Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr.

Graham Johnson ist, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, einer der maßgeblichen Liedpianisten der Gegenwart. Geboren im damaligen Rhodesien, studierte er an der Royal Academy of Music, bei Gerald Moore und Geoffrey Parsons. 1972 besuchte der Pianist die Meisterklasse von Peter Pears und Benjamin Britten. Seither legt er seinen Schwerpunkt auf die Liedbegleitung.

1976 gründete Graham Johnson mit Felicity Lott, Ann Murray, Anthony Rolfe Johnson und Richard Jackson den Songmakers’ Almanac, um vernachlässigte Vokalmusik wieder aufzuführen. Aus dieser Arbeit erwuchsen allein über 250 verschiedene Liederabend-Programme. Zu seinen Verdiensten zählt u.a. die Gesamtaufnahme des Schubert‘schen Liedschaffens auf dem Label Hyperion Records. Ähnliche Projekte wurden mit Liedern Robert Schumanns und Gabriel Faurés umgesetzt. Darüber hinaus nahm er zahllose CDs mit englischen Kunstliedern auf. Seine ausgezeichnet recherchierten fachlichen Erläuterungen sind sehr geschätzt, sein 2014 veröffentlichtes Kompendium des Liedschaffens von Franz Schubert in drei Bänden gilt als Standardwerk.

Am Anfang stand ein ungeliebter Bösendorfer-Flügel

Seit 1996 ist der Pianist mit einer einzigen Ausnahme jedes Jahr beim Klavier-Festival Ruhr aufgetreten und hat immer wieder das Publikum fasziniert und bewegt. Für ihn ist das Festival eine Herzensangelegenheit, bei der Intendant Franz Xaver Ohnesorg eine entscheidende Rolle spielt. Ohnesorg, so Johnson, „legt großen Wert darauf, das Lied als einen Teil des Festivals und als einen wesentlichen Aspekt der Kunst des Klavierspiels zu pflegen“.

Sein erster Aufritt war alles andere als ein Routineauftritt, erinnert sich Johnson: „Der Bösendorfer-Flügel war nicht mein Fall, ich bevorzuge einen Steinway. Damals im August war es brütend heiß. So war das erste Konzert eine schwierige Geburt. Seit damals hat sich viel geändert – und zum Glück ist dieses Konzert keine Eintagsfliege geblieben. Heute können wir in ganz anderer Weise konzentriert arbeiten.“

Drei Konzerte auf Schloss Herten

Dieses Jahr spielt er sein Jubiläumskonzert und zwei Liederabende mit Kompositionen von Claude Debussy und Camille Saint-Saëns im Schloss Herten. An Herten gefällt ihm besonders die „intime Atmosphäre und ein bewusst zuhörendes Publikum, das sehr treu ist und in dem wir im Lauf der Jahre loyale Unterstützer gefunden haben“. Johnson schätzt Herten als „eine kleine, versteckte Insel mittelalterlicher Schönheit am Rande des Ruhrgebiets“.

Gemeinsam mit Soraya Mafi (Sopran) und François Le Roux (Bariton) präsentiert er am ersten Abend, 14. Mai, einen Liederreigen von Camille Saint-Saëns. Der Franzose verfasste zahlreiche Werke in den verschiedenen Gattungen der Musik, darunter Sinfonien, Klavier- und Violinkonzerte und vielfältige Kammermusik, in denen er sich immer wieder mit den unterschiedlichsten Musiktraditionen auseinandersetzte, um stilistische Elemente in Form von Bearbeitungen zu integrieren.

Große Bewunderung für Camille Saint-Saëns

Johnson bewundert das Schaffen dieses Komponisten besonders: „Ich bin ein großer Bewunderer von Saint-Saëns. Er ist kein Avantgardist, kein weltveränderndes Genie, aber er war ein unglaublich begabter Pianist und Komponist und auch eine musikpolitisch wichtige Persönlichkeit. Seine Melodien haben Eleganz und Charme, er steht in der Tradition wie Bizet, Gounod und Fauré, den er lebenslang unterstützt hat – ein schönes Beispiel dafür, wie ein Komponist einem anderen zur Seite steht.“

Claude Debussy, dem Zeitgenossen Saint-Saëns‘, ist der zweite Liederabend am 15. Mai gewidmet. Sarah Fox (Sopran) und François Le Roux an der Seite von Johnson zeigen die Meisterschaft Debussys, die gekennzeichnet ist durch eine unpathetische, freie, jedoch immer noch tonale Musiksprache. Debussy, der sich selbst nicht als „Impressionist“ verstand, begriff Musik als ein sinnliches Klang- und Farbenspiel, das nur im Einklang mit den Geheimnissen der Natur und der Fantasie existieren kann. „Debussy wälzte die musikalische Welt um“, stellt Johnson dazu fest.

Franz Schubert bleibt der wichtigste unter den Liedkomponisten

Das persönlichste Konzert der Trilogie am 16. Mai ist Komponisten gewidmet, die Johnson stets begleitet und beschäftigt haben: „Mein Leben lang habe ich die Werke von Franz Schubert studiert. Er war ein großer Meister von Anfang an und bleibt für mich vielleicht der wichtigste unter allen Komponisten. Benjamin Britten möchte ich mit diesem Programm einen Dank abstatten: Ich durfte mit ihm studieren und er schrieb mir, als ich 22 Jahre alt war, eine Empfehlung. Über die Lieder von Gabriel Fauré habe ich 2009 ein Buch veröffentlicht. Das Manuskript zu ,Francis Poulenc The Life in his songs‘ habe ich gerade fertiggestellt, es erscheint 2019. Und mein dreibändiges Werk über Franz Schubert und seine Lieder kam 2014 heraus. Ich bin an der französischen Musikwelt ebenso interessiert wie an der deutschen oder englischen.“

So erklingen an diesem ausverkauften Abend, Johnsons Jubiläumskonzert, zwei Zyklen, die ihm besonders am Herzen liegen: Schumanns „Dichterliebe“ und Brittens „Seven Sonnets of Michelangelo“, mit denen der Komponist die Belcanto-Tradition aufgriff und im 20. Jahrhundert neu interpretierte. Mit dabei sind zwei erfolgreiche junge Sängerpersönlichkeiten: Erstmals die österreichische Mezzosopranistin Sophie Rennert, die u.a. bei den Salzburger Festspielen aufhorchen ließ. Die „Welt“ schwärmte von der „wunderbar warm geschmeidigen Glut ihres edlen Mezzosoprans“. Dazu kommt der nicht weniger gefeierte Tenor Ben Johnson.

Stille Begeisterung für eine kleinteilige Kunstgattung

Drei Abende in der intimen Atmosphäre von Herten, die das Lied als eine konzentrierte Kunstform voll emotionaler Kraft präsentieren, aber auch gleichzeitig vor Augen führen, wie selten diese wunderbare Kunstform sich präsentieren kann. Fern der großen Lieder-Tourneen von Sängern wie Jonas Kaufmann, Diana Damrau oder Elīna Garanča sind die Säle bei Liederabenden selten gefüllt. Die Begeisterung für diese kleinformatige, doch sehr bewegende Kunstgattung ist eine stille, immer mehr gepflegt von Kennern und Liebhabern.

Für Johnson ist der Rückgang eines früher durchaus verbreiteteren Interesses direkt verbunden mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung: „Das ist eine Frage der Bildung. Der Schwund des Publikums hängt mit dem Rückgang des allgemeinen Bildungsniveaus zusammen. Früher wurden in der Schule Gedichte auswendig gelernt. Heute halten Schüler Goethe für einen langweiligen alten Mann. Wie soll jemand, der sich nie mit einem Goethe-Gedicht befasst hat, ein Lied Schuberts auf einen seiner Texte mit Interesse hören? Die kulturelle Form des Liedes kann nur genießen, wer die Bildung dafür mitbringt. Dafür braucht es eine gewisse Neugier. Das Geheimnis des Liedes heißt Konzentration!“ Graham Johnson wird nicht müde werden, die faszinierende Kunst des Liedes weiter zu pflegen.

Karten zum Preis von 30 Euro sind für den 14. und 15. Mai noch erhältlich, das Konzert am 16. Mai ist hingegen ausverkauft. Tickets: 01806/500 80 3. Buchung im Internet direkt und platzgenau unter www.klavierfestival.de




Parallelwelt, Schwanensee, Taubensuppe – Theater Dortmund stellt sein Programm für die kommende Spielzeit vor

Auch wenn es auf diesem Foto nicht so scheint – im Dortmunder Opernhaus tobt in der kommenden Spielzeit wieder das Leben (Foto: Philip Lethen / Theater Dortmund)

Gabriel Feltz fehlte. Ein wichtiger Termin auf dem Balkan hinderte den Orchesterchef  daran, an der Programmpressekonferenz des Theaters Dortmund teilzunehmen. Doch Feltz hatte ein sehr nettes Video mit Musikumrahmung vorbereitet, in dem er seine Pläne schilderte. „Krieg und Frieden“ sei das Leitthema des Orchesters in der kommenden Spielzeit, verkündete er, und deshalb gelangt nun viel Musik zur Aufführung, die auf die eine oder andere Weise damit zu tun hat – von Beethovens „Eroica“ bis zu Schostakowitschs „Leningrader“.

Thorsten Schmidt und Philip Pelzer in „Tschick“. Das Stück wird auch in der Spielzeit 2018/2019 im Kinder- und Jugendtheater gespielt (Foto: Birgit Hupfelf/Theater Dortmund)

Konzert zu „Panzerkreuzer Potemkin“

Die Reihe Wiener Klassik macht die europäischen Metropolen Wien, Paris und Berlin zu Themenschwerpunkten der einzelnen Abende und bedient so das Thema ganz mustergültig, weil Metropolen immer mit Krieg und Frieden zu tun haben. Start ist in „Wien“ am 3. Dezember 2018 mit Beethovens „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria op. 91“, immerhin.

Ansonsten im Programm: schöne Sonderkonzerte, unter denen das Stummfilmkonzert „Panzerkreuzer Potemkin“ (26.3.2019) besonders auffällt, Kammerkonzerte, Familienkonzerte, Babykonzerte („Maxi“ und „Mini“). Es findet sich alles im einwandfrei strukturierten Programmbuch und im Netz, deshalb erspare ich mir hier das Aufzählen der weiteren Highlights und Merkwürdigkeiten.

Auslastung nahe an 80 Prozent

Das Orchester habe zahlreiche Gastspiele in fernen Landen absolviert, Mahler und Rachmaninow seien jetzt gänzlich eingespielt, die 80-Prozent-Marke bei der Auslastung sei so gut wie erreicht. Als Feltz in Dortmund anfing, erinnert er sich, lag die Marke bei 65 Prozent. Da kann man schon stolz sein.

Das Ballett plant wieder zwei Premieren. Zum einen gibt sich Chef Xin Peng Wang an Dantes Göttliche Komödie und inszeniert im ersten Teil „Inferno“. Bis 2021 soll jedes Jahr ein weiteres Teilstück hinzukommen (Musik von Michael Gordon und Kate Moore, Uraufführung Samstag, 3.11.2018).

Die zweite Premiere ist wieder ein Gemeinschaftswerk dreier Choreographen. Douglas Lee, Jacopo Godani und Wubkje Kuindersma haben „Visionen“ (erstmalig am 9.3.2019).

Wiederaufnahme des Balletts: „Alice“ (Foto: Theater Dortmund)

„Alice“ bleibt

„Schwanensee“, in Xin Peng Wangs Einrichtung erstmalig 2012 in Dortmund zu sehen, ist ebenso bei den Wiederaufnahmen wie „Alice“ nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventures in Wonderland“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti mit Musik der Gruppe Assurd. Zwei internationale Ballettgalas sind für Mitte Oktober 2018 und Juli 2019 eingeplant. Außerdem, in Stichworten: Sommerakademie, Seniorentanztheater, Open Classes und etwas Drumherum.

„Echnaton“ von Philip Glass

In der Oper „Aida“, Der Barbier von Sevilla“, „Das Land des Lächelns“, „Turandot“ und (immerhin) „Echnaton“ von Philip Glass. Regie und Choreographie bei „Echnaton“ führt Demis Volpi, und es steht zu hoffen, daß ihm Besseres gelingt als Laura Scozzi in Bonn mit ihrer verunglückten Verlagerung des Stoffes in eine Schulklasse mit submotivierten Pubertierenden.

Neben den erwähnten unverwüstlichen Ohrwürmern findet sich mit „MusiCircus“ nach John Cage oder „Fin de partie – Endspiel“ von György Kurtág auch Experimentelles im Spielplan, doch ist so etwas wie ein Stil des Hauses nicht recht erkennbar. Anders als sein Vorgänger Jens Daniel Herzog inszeniert der neue Intendant Heribert Germeshausen nicht selber, sondern plant in großen Würfen. Die Oper werde sich zukünftig in die Stadtgesellschaft öffnen, sagt er, und ab 2020 stehe Wagner verstärkt im Fokus. Von 2021 bis 2024 soll ein kompletter „Ring“ neu entstehen.

Neue Ästhetik im Sprechtheater?

Im Sprechtheater arbeitet Schauspielchef Kay Voges an einer Koproduktion mit dem Berliner Ensemble, Titel „Die Parallelwelt“. Das Projekt, erläutert er, basiere auf der Grundkonstellation, daß an zwei Orten zur gleichen Zeit zwei identische Aufführungen stattfinden. Und daß diese miteinander, via Glasfaserkabel und Videokunst, miteinander in Verbindung treten. Nach dem Weggang Claus Peymanns steht der neue Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, solchen experimentellen Projekten positiv gegenüber. Man darf also gespannt sein, ob es beim technischen Spiel bleibt oder ob mit seiner Hilfe eine neue Ästhetik, neue Kunst mithin, erwächst.

Das Schauspiel zeigt weiterhin „Das Internat“. Bild mit Ensemble und Studenten der Folkwang UniversitäŠt der KŸünste (Foto: Birgit Hupfeld  /Theater Dortmund)

Horror – frei ab 18

Jörg Buttgereit, „der Papst des deutschen Horrors“ (O-Ton Voges), setzt mit dem Stück „Im Studio hört Dich niemand schreien“ zu neuen Schandtaten an, und sicherheitshalber hat das Theater hinter diese Ankündigung schon mal den „ab 18 Jahren“-Vermerk geschrieben. Eine „Hedda Gabler“ sticht ins Auge, die der Regisseur Jan Friedrich im Studio zur Aufführung bringen will, ebenso ein Stück des Dortmunder Sprechchores, in dem es „über Fußball und heimliches Begehren“ geht. Genauer gesagt geht es in „Echte Liebe“ um Homosexualität, die im Fußball nach wie vor kaum akzeptiert wird.

Viele Wiederaufnahmen

Diverse größere und kleinere Sachen stehen in der Ankündigung, einige noch etwas unfertig, daneben etliche Wiederaufnahmen: „Das Internat“, „Biedermann und die Brandstifter/Fahrenheit 451“, „Der Theatermacher“, „Die Show“, „Zerline“, „Der Kirschgarten“, „Endspiel“, „4.48 Psychose“ und weitere.

Gerburg Jahnke führt Regie

Ja und dann ist da Gerburg Jahnke, die man vielleicht noch als eine Hälfte der „Missfits“ in Erinnerung hat, die treffsicheres Frauenkabarett macht und regelmäßig auch Regie führt. Jetzt tut sie das in Dortmund, im Stück „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“. Das Stück entstand nach dem gleichnamigen Roman von Anna Basener und beschreibt launig das Aufeinandertreffen der hippen Nichte aus Berlin, die eine vielversprechende, aber erfolglose Designerin von Damenschlüpfern ist, mit – eben – Oma, die einen Großteil ihres Erwerbslebens als Puffmutter verbrachte. Die Musik macht, wie in vielen anderen Produktionen auch, Tommy Finke, und den Kostümverantwortlichen, wenngleich er schon lange im Geschäft ist, muß man einfach seines „märchenhaften“ Namens wegen einmal wieder nennen: Michael Sieberock-Serafimowitsch, die Bühne gestaltet er auch.

Anke Zillich wechselt vom Schauspielhaus Bochum an das Theater Dortmund (Foto: Schauspielhaus Bochum)

Abiturstoff im Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) schließlich tritt mit acht Premieren an, von denen zwei – „Fast Faust“ nach Goethe und „Der Sandmann“ nach einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann – demnächst auch Abiturstoff sein sollen. Alle Produktionen sind präzise auf Altersgruppen zugeschnitten, was durchaus auch als künstlerische Herausforderung gesehen werden muß.

„Cinderella“ ist das neue Weihnachtsmärchen (ab 6 Jahren). Als Autor zeichnet KJT-Chef Andreas Gruhn selbst, und er bediente sich der Vorlage Charles Perraults. Uraufführung ist am 15. November, glücklicherweise jetzt wieder im renovierten Schauspielhaus, wo hoffentlich genug Platz für die erwarteten Besucherscharen sein wird.

Weitere Programminfos, noch einmal sei es gesagt, stehen im dicken Programmbuch. Lediglich eine Personalie sei noch erwähnt: Schauspielerin Anke Zillich wechselt vom Bochumer Schauspielhaus nach Dortmund. Fraglos eine Bereicherung des Ensembles.

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Ruhrtriennale in „Zwischenzeiten“ – die neue Intendantin Stefanie Carp präsentiert ihr Programm

Zu den Eigentümlichkeiten der Ruhrtriennale gehört der radikale Stabwechsel, also der alle drei Jahre fällige Übergang von einer Intendanz zur nächsten. Da sitzen dann plötzlich vier fünf, neue Gestalten auf dem Podium, die alten sind weg und finden auch keinerlei Erwähnung mehr. Außerdem ändert sich das Graphik-Design alle drei Jahre so grundlegend, daß man glatt glauben könnte, einer Stunde Null beizuwohnen.

Die Intendantin und ihr Künstler: Stefanie Carp und Christoph Marthaler (Foto: Edi Szekely/Ruhrtriennale)

Beigeordneter Künstler Marthaler

Nun also saßen Stefanie Carp und Christoph Marthaler auf der Bank. Stefanie Carp, wir berichteten, ist die neue Intendantin, Christoph Marthaler „Artiste associé“, also sozusagen der beigeordnete Künstler. Im wirklichen Leben war es meistens umgekehrt, war Frau Carp Dramaturgin bei Marthaler, doch nun ist es an ihr, wichtige Worte zu sprechen. Von rasend schnell sich verändernden Lebensumständen raunt sie, von Verteilungskriegen und unvorstellbarer Grausamkeit, welche Gesellschaften und Kulturen zerstöre. Und weil das nicht lange gutgehen kann und die Forderungen der Geknechteten nach Beteiligung, Gleichheit und Freiheit eine Frage des zivilisierten Lebens seien und deshalb nicht mehr lange überhört werden könnten, befänden wir uns, bis es so weit ist, in einer „Zwischenzeit“.

Zwischenzeit? Klingt eindrucksvoll, stimmt irgendwie immer – war der Frau Intendantin dann aber wohl doch zu wuchtig, als daß sie es in Leuchtbuchstaben über ihr Festival geschrieben hätte. Aus der Zwischenzeit wurden lediglich einige Zwischenzeilen im Programmheft, was dem konkreten Angebot wohl auch eher entspricht.

Choreographin Sasha Waltz (Foto: André Rival/Ruhrtriennale)

Unvollständiges Universum

Der erste Eindruck vom neuen Programm ist, sagen wir mal, guter Durchschnitt. Namen, die nicht nur der Fachwelt ein Begriff sind, finden sich kaum. Aber immerhin gibt es zwei Produktionen von Marthaler zu hören und zu sehen, und erstmalig, man glaubt es kaum, ist die in der Tat berühmte Berliner Choreographin Sasha Waltz bei der Ruhrtriennale zu Gast.

Marthaler, um mit ihm zu beginnen, hat aus der unvollendeten „Universe Symphony“ des amerikanischen Komponisten Charles Ives (1875-1954) die auf jeden Fall durch schieren Aufwand beeindruckende Musiktheater-Kreation „Universe, Incomplete“ geschaffen. Ab 17. August wird sie das Publikum in der Bochumer Jahrhunderthalle dazu einladen, „aus einer entfernten Zukunft auf unser jetziges Leben zurückzublicken“ (O-Ton Programmankündigung). Anna Viebrock sorgt für das Bühnenbild, Titus Engel dirigiert die Bochumer Symphoniker, und fraglos wird dies die gewichtigste Veranstaltung der Triennale 2018 sein.

Warum Schauspiel?

Außerdem gibt es von Christoph Marthaler „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ zu sehen, sein Abgesang auf die Berliner Volksbühne, wo er lange zur künstlerischen Community Frank Castorfs zählte. „Bekannte Gefühle…“ ist ein wunderschöner, lyrischer, leiser, präziser Marthaler, ein Stück, in dem gesungen wird und Choreographie eine große Rolle spielt und das einen berührt, ohne daß man sagen könnte, worum genau es eigentlich geht. Stichworte wie Abschied, Abschied von der Volksbühne, Abschied von den Idealen der Revolution, Selbstvergewisserung und so fort geben da nur Hinweise.

Kelly Cooper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma (Foto: Ditz Fejer/Ruhrtriennale)

Stadt im Dschungel

Erstaunlicherweise läuft dieser zweite, überaus hybride Marthaler in der Abteilung „Schauspiel“, was nur deshalb geht (systematisch betrachtet), weil es „richtiges“ Schauspiel bei dieser Triennale gar nicht gibt. „Diamante. Die Geschichte einer Free Private City“ des Argentiniers Mariano Pensotti etwa wird als sechsstündiges Theaterereignis angekündigt, für das der Regisseur einen Teil der Privatstadt Diamante nachgebaut hat, welche vor 100 Jahren von einem anthroposophisch orientierten deutschen Industriellen mitten im argentinischen Dschungel errichtet wurde. Die Zuschauer sollen den Ort selbst erkunden und selbst herausfinden, warum diese sozial-kapitalistische Utopie scheiterte.

Off-off-off-Broadway

Ganz tief im Westen, in der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel, darf möglicherweise gelacht werden. Hier hat sich nämlich die Off-off-off-Broadwaygruppe „Nature Theater of Oklahoma“ aus New York mit ihrem Stück „No President. A Story Ballet of Enlightment in Two Immoral Acts“ angekündigt. Inhalt: Zwei Sicherheitsfirmen haben arbeitslose Schauspieler bzw. Ballett-Tänzer als Mitarbeiter rekrutiert, die nun zu den Klängen von Tschaikowskis „Nußknacker“ ihrer Arbeit nachgehen. Was das genau werden wird, ist nicht ganz klar; jedenfalls werden derzeit noch Tänzerinnen und Tänzer im Ruhrgebiet gecastet. Und das ganze läuft, wie gesagt, als Theater.

Schorsch Kamerun gentrifiziert die Dortmunder Nordstadt (Foto: Michel-Bo-Michel/Ruhrtriennale)

Nordstadt gentrifiziert

Jetzt kommt Dortmund ins Spiel, der problematische Norden, genauer gesagt, dem der Künstler Schorsch Kamerun die Entwicklung zum Trendquartier andichtet. Resultat seiner Bemühungen ist ein begehbares Filmset mitten in der Nordstadt – „mit Live-Soundtrack, echten Anwohner*innen und gefakten Kulissen“. Jede Aufführung endet mit einem Konzert im hippen „Club Kohleausstieg“. Klingt gut.

Am ehesten noch Schauspiel, doch, doch, wir sind immer noch in dieser Fachabteilung, mag wohl „The Factory“ von und mit den beiden Syrern Mohammad Al Attar und Omar Abussada sein. In dem Stück geht es um die profitable französische Zementfabrik Lafarge in Syrien, die während des Krieges ungehindert weiterarbeitete, weil Schmiergeld an den IS floß.

Wanderungsbewegungen

Größere Produktionen des Musiktheaters, die bisher unerwähnt blieben, sind „The Head and the Load“ von William Kentridge in der Kraftzentrale Duisburg und „Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze in der Jahrhunderthalle. Erstgenannte Produktion befaßt sich mit der Rolle Afrikas im Ersten Weltkrieg, mit rund zwei Millionen Afrikanern, die in Europa kämpfen mußten. Ganz ähnlich gilt Henzes Oratorium als Metapher für die Unterdrückung der „Dritten Welt“, und als es 1968 (!) uraufgeführt werden sollte, kam es zu Tumulten. Die werden wohl ausbleiben, wenn jetzt Steven Sloane die Bochumer Symphoniker dirigiert und Chorwerk Ruhr, Zürcher Sing-Akademie und Knabenchor der Chorakademie Dortmund die Stimmen erheben.

Szene aus „The Head And The Load“ (Foto: Stella Olivier/Ruhrtriennale)

Zwischenformen

Ein paar Namen noch aus der Musikabteilung: Laurie Anderson wird in der Lichtburg Essen auftreten, das Ensemble Modern der britischen Komponistin Rebecca Saunders mit einem Konzert im Salzlager auf Zollverein huldigen. In der Turbinenhalle Bochum wird der amerikanische Multiinstrumentalist Elliott Sharp unter dem Titel „Filiseti Mekidesi (In Search of Sanctuary)“ „eine raumgreifende Zwischenform aus Oper und Installation, die eine Brücke zum visionären Fragment der ,universalen Symphonie’ von Charles Ives schlägt“ realisieren.

Choreographie ohne Begrenzung

Ach ja, Sasha Waltz. Die Produktion in der Bochumer Jahrhunderthalle heißt „Exodos“. Das Wort, entnehmen wir der Programminformation, bedeutet im Griechischen sowohl Flucht als auch Nacht- und Partyleben, und auf den Theater heißt es Verlassen der Bühne. Mit dieser Bedeutungsvielfalt will die Berliner Choreographin die gewaltigen Bochumer Räumlichkeiten beseelen, von einer „Choreographie ohne Bühnenabgrenzung“ ist zu lesen. Und ein bißchen hat das alles auch mit „Wanderungsbewegungen“ zu tun, wie die meisten anderen Stücke in der Abteilung Choreographie. Weitere, weniger bekannte Tanzkompagnien kommen aus Burkina Faso, Kapstadt und von den Kapverden.

Zum Schluß Mauricio Kagel

Es gibt eine junge Triennale und einige Installationen, von denen das im Bau befindliche Flugzeug vor der Jahrhunderthalle wohl am beeindruckendsten sein wird. Am Schluß dann noch einmal Chorwerk Ruhr. Der Klangkörper will Mauricio Kagels (1931-2008) „Chorbuch“ zu Gehör bringen, was nicht einfach sein soll. Singen mit geschlossenem Mund oder mit „Babystimmen“ so ist zu hören, zählten da noch zu den einfacheren Aufgaben.

Viel zu hören, viel zu sehen- und im Programm steht noch einiges mehr als das, was hier Erwähnung finden konnte. Viel gute Kunst, gar keine Frage; doch will auch das Gefühl nicht weichen, nur mehr vom immer Ähnlichen serviert zu bekommen. Gewiß ist es noch zu früh für finale Wertungen. Halten wir es also mit Franz Beckenbauer und schauen wir mal.




Alles andere als Mainstream: Die Dortmunder Philharmoniker und Andreas Boyde stellen Clara Schumanns Klavierkonzert vor

Am 13. September 2019 wird die musikalische Welt ein markantes Datum feiern können, den 200. Geburtstag von Clara Schumann, geborene Wieck. Als Klaviervirtuosin wie als Komponistin kann sie eine unübersehbare Größe in der Musik des 19. Jahrhunderts für sich beanspruchen.

Clara Wieck im Alter von 15 Jahren. Vor Clara aufgeschlagen ist der Solopart mit dem Beginn des 3. Satzes aus ihrem Klavierkonzert a-moll op. 7. Abbildung von Julius Giere.

Clara Wieck im Alter von 15 Jahren. Vor Clara aufgeschlagen ist der Solopart mit dem Beginn des 3. Satzes aus ihrem Klavierkonzert a-moll op. 7. (Abbildung von Julius Giere)

Clara Schumann ist eine Frau, die durch ihr Lebensschicksal, durch ihre Ehe mit Robert Schumann, durch die vielfältigen Konflikte zwischen herkömmlichem Rollenbild und moderner Emanzipation, in der Spannung zwischen liebender Gattin und arrivierter Künstlerin auch für die Gesellschaftsgeschichte bedeutsam ist.

Die Dortmunder Philharmoniker nahmen das Jubiläum schon vorweg und setzten das einzige Klavierkonzert Clara Schumanns, ihr Opus 7 in a-Moll, ins Zentrum ihres siebten Sinfoniekonzerts.

„weit_sicht“, so das typographisch etwas künstlich aufgepeppte Motto, ist nicht nur im Blick auf 2019 berechtigt, sondern auch in Bezug auf die Musik Schumanns. Das Konzert wirkt alles andere als bloß im damaligen Musik-Mainstream mitschwimmend: Die gerade mal 16jährige Clara Wieck zeigt sich auf Augenhöhe mit Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Dirigenten der Leipziger Uraufführung, mit ihrem künftigen Gatten Robert Schumann oder mit komponierenden Klaviervirtuosen wie John Field. Weitsichtige Musik also, die erahnen lässt, wohin es Clara hätte bringen können, wenn sie nicht „eine Dame“ gewesen wäre und ihr Robert Schumann nicht das Komponieren ziemlich radikal ausgetrieben hätte.

Distanz von sehnsuchtsvoller Romantik

Der Pianist Andreas Boyde öffnet also im Konzerthaus eine musikalische Welt, die geschickt zwischen brillantem Virtuosentum, klassischer kompositorischer Dichte und bewegenden romantischen Anflügen pendelt. Boyde sieht das Stück offenbar weniger in die Farbe sehnsuchtsvoller Romantik getaucht. Die kraftvollen Triolen-Akkorde des Beginns werden nicht durch das glitzernde Leggiero der in die Virtuosenhand geschriebenen Zweiunddreißigstel kontrastiert. Auch die weit ausschwingenden Melodien stellt Boyde eher sachlich fest als sich ihrem schwärmerischen Sog zu überlassen. Aber das „risoluto“ im ersten Satz nimmt er beim Wort, auch den geforderten markanten Anschlag setzt er um.

Andreas Boyde. Foto: Thomas Malik

Pianist Andreas Boyde. Foto: Thomas Malik

Die Crescendo-Decrescendo-Angaben, die scheinbares bloßes Spielwerk beleben sollen, gehen oft unter. Das liegt wohl auch am Dirigenten Cristian Mandeal, den das „Maestoso“ des ersten Satzes zu satt-fülligem Orchesterklang verleitet, der auch ein zähes Tempo wählt, das keine Innenspannung aufkommen lässt. Dem Mittelsatz fehlt die Innerlichkeit, da ist der distanzierende Zugriff zu weit getrieben. Leider fehlt eine Angabe zu der sensiblen Solo-Cellistin – war es Franziska Batzdorf? Und die „Polacca“ im Schlusssatz hätte rhythmischen Biss durchaus vertragen. Man wird, so ist zu hoffen, das Klavierkonzert Clara Schumanns in ihrem Jubiläumsjahr öfter hören und dann vergleichen können.

Verhaltene Delikatesse – öliges Tempo

Passend eröffneten die Philharmoniker ihr Konzert mit Carl Maria von Webers nicht eben häufig gespieltem Konzertstück f-Moll op. 79, ein Werk, das sich eher dem erzählend-variativen Fortspinnen als einer materialorientiert-thematischen Ausarbeitung widmet und das damit für 1821 „modern“ war. Wieder fällt auf, dass die Philharmoniker ihren Klang kaum plastisch staffeln und das ölige Tempo die Wellen spannungsfördernder Agogik glättet.

Der Dirigent Cristian Mandeal war kurzfristig eingesprungen. Foto: Virgil Oprina

Der Dirigent Cristian Mandeal war kurzfristig eingesprungen. Foto: Virgil Oprina

Boyde realisiert am Flügel die verhaltene Delikatesse, die an den irischen Virtuosen John Field erinnert, auch die innere Dynamik seines Parts, vernachlässigt aber das Cantabile und scheut sich davor, auch mal leuchtende Brillanz um ihrer selbst willen zu zeigen. Ein schönes Fagott-Solo und die weich rhythmisierenden Streicher sprechen für die Philharmoniker und ihre Sensibilität für den klanglichen Hintergrund von Webers Musik.

Die Erste Symphonie Johannes Brahms‘ war ebenfalls eine sinnige Wahl, war der gebürtige Hamburger doch offenbar sehr verliebt in Clara Schumann, lebte zeitweise in einer Wohnung mit ihr und ihrer Familie und verkehrte mit ihr, wie viele Briefe bezeugen, als intimer Seelenfreund fördernd, stützend und wohl auch tröstend.

Cristian Mandeal, kurzfristig für den erkrankten Leo McFall eingesprungen, hatte wohl kaum Zeit, das komplexe Werk auszuarbeiten: So blieb es bei einem soliden Dirigat eines erfahrenen Routiniers, ohne persönlich Note, wenn man das ungestaltete Tempo nicht als solche nehmen möchte. Fülliger, pastoser Klang, saftig ausgebreitet, ohne innere Differenzierung, orientiert an den vordergründigen Melodiestimmen, wenig Tiefenstruktur und Trennschärfe: Ein Brahms, der auch in der Behandlung etwa von Bläserstellen im dritten Satz oder den breit ausgekosteten Hörner – die Philharmoniker sind voll bei der Sache – ein wenig „old fashioned“ wirkt. Immerhin gibt’s eine grandiose Steigerung im Finale – der Beifall war gesichert!

Das nächste Philharmonische Konzert in Dortmund am 8. und 9. Mai 2018 bringt unter dem Stab von Gastdirigent Marc Piollet eine weitere Rarität, das Tubakonzert von Ralph Vaughan Williams, dazu Leonard Bernsteins Divertimento für Orchester und die die große Tondichtung „Die Planeten“ von Gustav Holst. Info: https://www.theaterdo.de/detail/event/8-philharmonisches-konzert-sphaeren-reigen/




„Memory Alpha“ und „Schöpfung“ – digitale Überlegenheit und die Schönheit des Gehirns im Dortmunder Theater

Hirn, Schöpfung, Erinnerung, digitale Zukunft – mit großer Anstrengung arbeitet sich das Dortmunder Theater in seinen jüngsten Produktionen an den allerletzten Menschheitsfragen ab, die hier nicht mehr jenseitiges Sein oder Jüngstes Gericht zum Thema haben, sondern die Existenz in der Informationsgesellschaft, mit all ihren Ungeheuerlichkeiten, vielleicht aber auch Chancen und Verheißungen.

Nach Unfall im Schlüpfer: Institutsleiter Dr. Gerd Stein (Uwe Schmieder) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Großes Rad

Den Anfang machte am Freitag das Stück „Memory Alpha oder Die Zeit der Augenzeugen“ von Anne-Kathrin Schulz auf der Studiobühne. Am nächsten Tag folgte im Großen Haus eine „Schöpfung“, die in der Tat Joseph Haydns Oratorium (samt Text) mit einer Art Handlung verbindet, inklusive ein machtvoller, aber doch etwas unvermittelter Monolog zum Ende hin. Fraglos drehen sie hier das ganz große Rad. Oder sagen wir lieber: Der Versuch ist erkennbar.

Totalüberwachung

„Memory Alpha“ ist etwa zehn Minuten länger als „Schöpfung“, und in den gut 100 Minuten Spielzeit läßt Anne Kathrin Schulz ihre vier Darsteller eine Menge von dem vortragen, vorspielen, was auf dem großen Themenfeld zwischen Autonomie, Manipulierbarkeit und vorgeblich freier Forschung derzeit so alles zu erzählen wäre.

Da gibt es natürlich die Chinesen, die der Totalüberwachung durch ihre Regierung freudig entgegensehen, da gibt es Forschungen, die Menschen falsche Erinnerungen einpflanzen, welche sie in der Folge zu falschen, möglicherweise gar kriminellen Handlungen verleiten werden, da gibt es einige Wenige, die HSAM haben und deshalb gegen solche Manipulationen immun sind (HSAM, der Begriff taucht auch im Bühnenbild auf, steht für Highly Superautobiographical Memory und bezeichnet Menschen mit ausgeprägtem episodischem Erinnerungsvermögen, die gleichsam jeden Tag ihres Lebens im Format eins zu eins zu memorieren vermögen).

Gedächtnisforscherin Prof. Johanna Kleinert (Friederike Tiefenbacher), Proband Sebastian Grünfeld (Christian Freund) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

So viele Verknüpfungen

Wäre der kriminelle Datendeal bei Facebook schon auf dem Markt gewesen, als Schulz ihr Stück schrieb, hätte er sicherlich auch gebührende Erwähnung im Stück gefunden (Spekulation). Kurz: Hirn und Digitalität sind in den falschen Händen saugefährlich und deshalb müssen wir alle achtsam sein. Weil das menschliche Gehirn doch so einzigartig ist, und so schön, mit seinen Milliarden von neuronalen Verknüpfungen, die nirgendwo sonst in der Natur so eng und komplex sind.

Tödlicher Autounfall

Es ist an Friederike Tiefenbacher, die Schönheiten des Gehirns in einer Art Prolog zu preisen. Ihre Ansprache leitet über in den Handlungsteil des Stücks, denn tatsächlich gibt es hier eine Handlung, oder doch zumindest die Andeutung davon. In dieser Handlung ist Frau Tiefenbacher die Gedächtnisforscherin Prof. Johanne Kleinert, die traurig zu vernehmen hat, daß ihr Chef bei einem Autounfall in Brüssel ums Leben gekommen ist, „zwischen Borke und Stoßstange“.

Uwe Schmieder, bekleidet lediglich mit einer Unterhose, gibt den Institutsleiter Dr. Gerd Stein, der nun gefälligst ins Totenreich zu wechseln hat, das aber gar nicht will. Also hält er eine flammende Rede, dieselbe, die er auch schon erfolgreich vor dem Europaparlament gehalten hat und in der er einen Großteil dessen, was dem Stück ja offenbar ein Anliegen ist, vor Fachpublikum referierte. Hütet euch vor Manipulationen, könnte man den Kern seiner Botschaft umreißen – und vielleicht haben seine Appelle finstere Mächte bewogen, ihm nach dem Leben zu trachten. Vielleicht war es aber auch einfach nur Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort usw.

Ensemble (v.l.): Uwe Schmieder, Christian Freund, Friederike Tiefenbacher, Caroline Hanke vor der Videowand von Julia Gründer  (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Herrlich aufgedreht

Die anderen beiden Mitspieler sind Caroline Hanke als HSAM-Expertin und Christian Freund als Proband 42, der bei den Erinnerungsversuchen Streß macht und einen Hund umgebracht haben soll. Wenn die Erinnerung nicht täuscht.

Das durchgängig präsente Spiel dieser Darstellerriege, vor allem das des herrlich aufgedrehten Uwe Schmieder unter seiner putzigen Glatzenperücke, bereitet großes Vergnügen und sorgt passagenweise für Heiterkeit.

Mit der Botschaft des Abends indes tun wir uns schwer. Vieles, was Darstellerinnen und Darsteller aufsagen müssen, ist eifrig mitgeschriebenes Wissenschafts-Feuilleton, Internetweisheit, Biologieunterricht und alles in allem recht wohlfeil. Wenn Frau Tiefenbacher ihren Prolog über die Wunderbarkeit des menschlichen Gehirns am Schluß, wenig variiert, noch einmal aufsagt, so wirkt dies trotz untadeliger Vortragskunst deshalb eher wie ein unentschlossener Versuch nachlaufender Sinnstiftung.

Eindrucksvolle Videotechnik

In besonderer, guter Erinnerung bleibt die im Grunde leere Bühne (Susanne Friebe) mit ihrer bemerkenswerten Decken- und Rückwandkonstruktion aus 36 bzw. neun in etwa quadratmetergroßen Projektionsflächen in einem solide wirkenden Holzgestell. Hier tauchen – sinnhaft und maßvoll gesetzt – Bilder auf: Köpfe, Dortmunder Stadtlandschaften, unvergeßliche Katastrophenszenen (Breitscheidplatz, Lady Dis Unfall, 9/11 etc.). Das Programmheft nennt Julia Gründer für die Videotechnik und Lucas Pleß für „Engineering“, was immer damit gemeint sei.

„Die Schöpfung“, ganz am Anfang (v.l.): Bjöšrn Gabriel, Uwe Rohbeck, Bettina Lieder, Ekkehard Frey, Frank Genser, Marlena Keil  (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Aus der Tiefe

Die „Schöpfung“ bot am nächsten Abend noch etwas mehr für Auge und Ohr, und einmal mehr sei der Freude darüber Ausdruck verliehen, daß das Dortmunder Theater wieder in einem funktionierenden Haus spielen kann.

Langsam hebt die Technik aus dem Bühnenboden eine Menschengruppe empor (Bühne: Andreas Auerbach), den Chor und die Sänger, wie bald schon deutlich wird. Sängerin und Sänger – Maria Helgath (Sopran), Ulrich Cordes (Tenor) und Robin Grunwald (Baß) – werden ihrem Haydn weitestgehend treu bleiben, indes wird Pianistin Petra Riesenweber an der elektronischen Orgel ab und zu auch die undankbare Aufgabe haben, den Gang der Schöpfung mit mißlichen Rhythmen zu stören. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß der naturgemäß nicht immer verständliche Text bei alledem sorgfältig über die Bühne projiziert wird.

Ulkige Nummer

Der Chor (also die Schauspieler) nun ist „die Schöpfung“, und da es während der Schöpfung bis zur Individualisierung der Geschöpfe ja einige Tage dauert, ist er zunächst quasi amorphe Masse. Claudia Bauer (Regie) macht eine ulkige Nummer daraus, wenn sich die Chormitglieder gegenseitig als „Schöpfung“ vorstellen.

Ensemble im Video (oben) und in der Video-Kiste (links), rechts (sitzend) die Sänger (v.l.) Ulrich Cordes, Maria Helgath, Robin Grunwald. Am Piano sitzt Petra Riesenweber, die musikalische Leitung hat T.D. Finck von Finckenstein. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Überhaupt finden sich die Damen und Herren der Schöpfung – Ekkehard Feye, Björn Gabriel, Franke Genser, Marlena Keil, Bettina Lieder und Uwe Rohbeck – immer wieder zu putzigen Konstellationen zusammen, die wir leider jedoch, zunächst jedenfalls, nur auf der Videoleinwand sehen (Video: Tobias Hoeft). Tatsächlich finden sie in einer Art Holzhütte auf der Drehbühne statt, doch die hat nach vorne hin nur zwei Bullaugen. Später allerdings sind doch direkte seitliche Einblicke möglich, immerhin.

Eva digital

Nun ja. Der Herr schöpft und schöpft, und schließlich hat er den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen, der aber erstaunlicherweise, es muß etwas Zeit vergangen sein, auf eine Computerfrau trifft. Die ist zwar nett, aber eben nur digital, auf jeden Fall jedoch: überlegen. Und das liegt daran, daß bei der Schöpfung so viele Pannen passiert sind und die Krone der Schöpfung nichts weniger ist als dies. Bettina Lieder erklärt es ihrem unglücklichen Adam und dem Publikum in einem ausführlichen Video, und da dieses „hybride“ (Programmankündigung) Stück aus Theater und Musik „unter Verwendung von Szenen aus ,Die Ermüdeten’ von Bernhard Studlar“ entstand, wollen wir ihr die Zwangsläufigkeit der Dinge einmal glauben.

Unterhaltsam

Was auf jeden Fall in guter Erinnerung bleibt, sind einige schöne Bühnenbilder ohne Video, etliche kongeniale Regieideen und zu Herzen gehender Gesang, der die elektronische Verstärkung via Mikroports gewiß nicht nötig gehabt hätte. Kurz, der Theaterabend war unterhaltsam und vergnüglich. Viel freundlicher Applaus für Sänger und Ensemble.

  • “Memory Alpha“. Termine: 13.4., 4. und 20.5., 2. und 22.6., 4. und 12.7.
  • “Schöpfung“. Termine: 13. und 29.4., 20.5., 2. und 22.6., 4. und 12.7.
  • www.theaterdo.de



Kindliche Wundertüte: Doppelabend des Künstlerkollektivs „1927“ an der Rheinoper

Das Kind aus „L’enfant et les sortilèges“ fliegt im Garten umher. (Foto: Hans Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein)

Ein kindliches Gemüt ist etwas Wunderbares: Alles ist immer neu, das Leben leicht und die Welt ein Spielzeug.

„Ravel war ein Kind“, heißt es denn auch im Programmheft zu seiner „Fantaisie lyrique“ namens „L’enfant et les sortilèges“ von 1925, die jetzt gemeinsam mit Strawinskys „Petruschka“ an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf/Duisburg Premiere hatte. Und weiter: „Das Besondere eines Genies besteht darin, sich die Kindheit, die mit klarem Blick alle Schatten des Lebens durchdingt, zu erhalten und zu verlängern.“

Und doch sind dieses Kind und sein „Zauberspuk“ zunächst keineswegs nett: Das Balg im Fatsuit (Kimberly Boettger-Soller/Double: Sara Blasco Gutiérrez) will seine Hausaufgaben nicht machen, erhält von der Mutter (Marta Márquez) Stubenarrest und aus Wut darüber schlägt es das Mobiliar kurz und klein und quält anschließend Tiere. „Ich bin böse und frei“ lautet die dazugehörige Textzeile; das Libretto stammt von der französischen Schriftstellerin Colette (1873-1954). Mitten in den Wirren des 1. Weltkriegs sandte sie erste Skizzen an den Komponisten, der zu dieser Zeit Lastwagenfahrer an der Front war und erst 1919 weiter daran arbeitete.

Zirkusartisten aus „Petruschka“. (Foto: Hans Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein)

In Szene gesetzt hat diesen ungemein poetischen Opernabend das Künstlerkollektiv „1927“, bestehend aus Suzanne Andrade, Esme Appleton und Paul Barritt, die das Publikum schon mit ihrer filmischen Inszenierung von Mozarts Zauberflöte begeisterten. Wie diese, ist auch der neue Doppelabend eine Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin, die von Barrie Kosky geleitet wird.

Ästhetischer Ausgangspunkt für die Inszenierungen von „1927“ ist die Stummfilmära: Doch ihre Animationen verschmelzen kongenial mit den Auftritten der Sänger und dem Stoff des Singspiels – handelt es sich um volllaufende Teetassen, in denen das böse Kind fast ertrinkt, oder eine sexy Libelle, die den ungezogenen Jungen ins Ohr piekt.

Als Zuschauer kann man sich gar nicht sattsehen an der schnellen Folge der kreativen Einfälle; eine reizende Idee jagt die nächste und während man noch überlegt, „wie haben sie das bloß gemacht?“, folgt man schon entzückt dem nächsten Bilderreigen. Ein wenig schade fast nur, dass Chor und Kinderchor diesmal aus dem Off agieren, so dass man sich am Ende über die schiere Menge der Leute wundert, die sich verbeugen. Gesanglich und musikalisch (Leitung: Marc Piollet) überzeugt die Produktion aber trotzdem auf ganzer Linie.

Der Puppenmeister jagt Petruschka über den Jahrmarkt. (Foto: Hans Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein)

Man muss ergänzen: Auch tänzerisch. Denn den ersten Teil des Abends „Petruschka“ bestreiten die drei Zirkusakrobaten Tiago Alexandre Fonseca (Petruschka), Pauliina Räsänen (Ptitschka) und Slava Volkov (Patap). Ihre Heimat ist der russische Jahrmarkt und hier zeigen sie dem staunenden Publikum ihre Künste. Schrecklich nur, dass sie der sadistische Puppenmeister quält und verfolgt. Besonders Petruschka, der Clown, leidet darunter. Ihm gelingt zwar die Flucht, doch am Ende wird er wieder eingefangen und sieht nur noch den Selbstmord als Ausweg.

Die Animationen spielen mit großen kyrillischen Buchstaben, schrillen Jahrmarktsbesuchern mit riesigen Zahnlücken, die sich beständig volllaufen lassen und der ganzen Dämonie des Volksfestes, auf dem die Lustigkeit mit steigendem Alkoholkonsum in die Brutalität des Exzesses kippt.

Ästhetisch nimmt die Inszenierung Elemente des Stummfilms, aber auch des russischen Konstruktivismus auf und verzahnt ebenso wunderbar wie der 2. Teil des Abends Film und Tanz. Petruschka mit seinem schwarzen runden Hut erinnert dabei an Charlie Chaplin – melancholisch und lustig zugleich.

Karten und Termine: www.operamrhein.de

 




Tonhalle Düsseldorf: Erfolg mit ungewöhnlichen Programmen

Die Düsseldorfer Tonhalle widerlegt eine Legende: Dass nämlich hohe Auslastungszahlen in klassischen Konzerten nur mit einem populären Programm zu erreichen sind. Seit der Spielzeit 2014/15 ist es gelungen, die Zahl der Abonnenten von 1999 auf 4970 in der laufenden Saison zu steigern. Eine beeindruckende Erfolgsbilanz von Intendant Michael Becker und Marketingleiter Udo Flaßkamp.

Intendant Michael Becker (links), Dramaturg Uwe Sommer-Sorgente und Marketingleiter Udo Flaßkamp (rechts) bei der Pressekonferenz in der Tonhalle Düsseldorf. Foto: Werner Häußner

Intendant Michael Becker (links), Dramaturg Uwe Sommer-Sorgente und Marketingleiter Udo Flaßkamp (rechts) bei der Pressekonferenz in der Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Werner Häußner)

Die Auslastung der „Sternzeichen“-Konzerte, also der symphonischen Abo-Reihe der Düsseldorfer Symphoniker, liegt inzwischen bei 95 Prozent. Und für 2018/19 ist trotz – oder eben wegen – eines anspruchsvollen Programms keine Trendwende erkennbar.

Von Ermüdungserscheinungen im Klassik-Bereich kann also zumindest in der NRW-Hauptstadt nicht die Rede sein. Auch die familienorientierten Veranstaltungen in der „Kleinen“ und der „Jungen Tonhalle“ sind gefragt. Trainee- und Jugendorchester, Klassik mit Nachwuchsmusikern und ein Jugendprojekt mit den Symphonikern – der Zustrom ist, versichern die Programm-Macher der Tonhalle, ungebrochen.

Wie schafft man das? Das Programm betreffend, hält Becker ein stimmiges Angebot für entscheidend. Dabei kommt es – mehr als auf die Auswahl einzelner Stücke – auf die richtige Kombination von Werken an. Wichtig sei das Vertrauen des Publikums ins Orchester und in seine Dirigenten, etwa in einen Künstler wie Alexandre Bloch, „der mit jugendlichem Ungestüm neue Bereiche mit Erfolg betritt“. Nicht zuletzt trage die Musikvermittlung Früchte: Beim Publikum sei durchaus Interesse an bisher nicht Erlebtem und Gehörtem vorhanden, wenn ein „Geländer“ bereitgestellt werde, an dem es sich ins unbekannte Terrain vorhangeln könne. Nicht zuletzt: Die hohe Zahl der Abonnenten vermindert auch das Risiko bei ausgefallenen Programmen.

Haydn-Mahler-Zyklus und Hommage an Bernd Alois Zimmermann

Die Tonhalle Düsseldorf. Foto: Werner Häußner

Die Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Werner Häußner)

Ungewöhnliches haben die Düsseldorfer Symphoniker reichlich zu bieten. Aber zunächst eröffnen sie die Spielzeit am 7. September mit einem Klassiker, Joseph Haydns „Die Schöpfung“ unter Adam Fischer – ein Bestandteil des über mehrere Jahre laufenden Haydn-Mahler-Zyklus‘, der 2018/19 mit Mahlers Neunter (11./12./13. Januar 2019), kombiniert mit Haydns Sinfonie Nr. 101 „Die Uhr“, und mit der Zweiten Symphonie plus Haydns Nr. 95 (5./7./8. April) fortgesetzt wird.

Auch die Düsseldorfer Symphoniker würdigen den großen Kölner Bernd Alois Zimmermann aus Anlass seines 100. Geburtstages: Am 5./7./8. Oktober eröffnen sie ihr Konzert mit „Photoptosis“, einem „Prélude“, zu dem sich Zimmermann von den monochromen Bildflächen Yves Kleins im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier anregen ließ. Wie sich die Farbflächen durch „Lichteinfall“ – so die Übersetzung des griechischen Titels – verändern, so changiert auch die Musik Zimmermanns in einem großen Steigerungsprozess. Dazu erklingt eine weitere Rarität, Max Bruchs Konzert für Klarinette, Viola und Orchester, bevor Gustav Holsts „Die Planeten“ das Programm abschließen.

Leonard Bernsteins „Mass“ zum Jahresabschluss

Adam Fischer (Foto: Tonhalle, Susanne Diesner)

Zum Abschluss des Jahres, am 7./9./10. Dezember würdigen die Symphoniker mit Leonard Bernstein einen weiteren Jahresjubilar 2018 und führen unter John Neal Axelrod gemeinsam mit dem Clara-Schumann Jugendchor und dem Chor des Städtischen Musikvereins seine riesig dimensionierte „Mass“ auf.

Besondere Werke und Entdeckungen durchziehen das gesamte Programm, etwa Nikolai Medtners Klavierkonzert Nr. 2 mit dem fast noch als Geheimtipp zu handelnden phänomenalen russischen Pianisten Yevgeny Sudbin, Ralph Vaughan Williams‘ Oboenkonzert mit Ramón Ortega Quero und der hoffnungsvollen Grazer Chefdirigentin Oksana Lyniv am Pult, Aram Chatschaturians Violinkonzert mit Geigen-Aufsteiger Nemanja Radulovic und Clara Schumanns Klavierkonzert a-Moll im Vorgriff auf das Clara-Schumann-Jubiläum 2019 mit Mariam Batsashvili und Alexandre Bloch als Dirigent. In diesem Konzert am 31. Mai und 2./3. Juni 2019 erklingt auch ein neues Werk des italienisch-israelischen Komponisten Luca Lombardi.

Attraktive Kammermusik und Wiener Staatsoper

Auch die anderen Abo-Reihen, „Raumstation“, „Sternstunden/Fixsterne“ und „Ehring geht ins Konzert“ bieten höchst attraktive Ensembles und anregende Programme: Die Bläsersolisten des Concertgebouw Orkest Amsterdam spielen am 6. Oktober Harmoniemusiken von Mozart und Beethovens Oktett Es-Dur op. 103. Der Pianist Fazil Say kommt am 20. März 2019 mit dem Casal Quartett wieder und hat neben Beethoven, Haydn und Schumann auch eine eigene „Hommage à Atatürk“ für Klavier und Streichquartett dabei. Und das Trio Felix Klieser (Horn), Herbert Schuch (Klavier) und Andrej Bielow (Violine) eröffnet am 25. Mai 2019 das Schumann-Fest gemeinsam mit der Sängerin Fatma Said, unter anderem mit Werken von Clara und Robert Schumann.

Am 19. Mai 2019 dürfte es zu einer „Sternstunde“ für viele Musikliebhaber kommen: Unter Adam Fischer gastieren Solisten, Chor und Orchester der Wiener Staatsoper mit Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“ in einer konzertanten Aufführung in der Tonhalle.

Infos auf der Seite www.tonhalle.de unter den Reitern Reihen und Abos.

 




Verlöschensklänge: Das Orchestre de Paris kombiniert in Dortmund Werke von Jörg Widmann und Gustav Mahler

Solist Antoine Tamestit war von Beginn an eng in den Entstehungsprozess des Bratschenkonzerts von Jörg Widmann eingebunden. (Foto: Pascal Amos Rest)

Daniel Harding und Antoine Tamestit waren sich einig. Wenn überhaupt ein Werk vor der 9. Sinfonie von Gustav Mahler gespielt werden könne, dann das Konzert für Viola und Orchester von Jörg Widmann, meinten der Dirigent und der Bratschist.

Im schmerzlich-innigen Ausklang des Stücks, das 2015 im Auftrag des Orchestre de Paris entstand, sehen beide den perfekten Brückenschlag zu Mahlers letzter vollendeter Sinfonie. Wenn Widmann in den letzten Takten die Spätromantik samt ihrer Brüchigkeit, Fragmentierung und Überdehnung beschwört, dann scheint Mahlers Neunte um die Ecke zu lugen: eine Sinfonie, die sich auflöst in ihre Bestandteile, die nach rund 80 Minuten zögernd und langsam erstirbt. Eine Musik des Verlöschens.

Wie angemessen, ja nachgerade natürlich diese Werkfolge klingen kann, bewiesen Harding, Tamestit und das Orchestre de Paris jetzt im Konzerthaus Dortmund. Widmanns Bratschenkonzert gleicht einer klanglich reizvollen Reise, in der Chinesisches, Arabisches und Jüdisches mitschwingt. Zu Beginn schlägt Widmungsträger Antoine Tamestit viele Minuten lang Pizzicato-Kaskaden aus seinem Instrument, als habe er das Ziel, berühmten spanischen Gitarristen Konkurrenz zu machen. Dann beginnt er, zwischen den Orchestergruppen umher zu wandern: sucht Anschluss an die Bassflöte, erschrickt vor den rülpsenden Einwürfen der Tuba, wirft sich in einen virtuosen Wettstreit mit der Pauke und animiert die Streicher zu flirrenden Glissandi.

Antoine Tamestit wandert während des Spiels zwischen den Instrumentengruppen des Orchesters umher (Foto: Pascal Amos Rest).

Aber es sind weder musiktheatralische Effekte à la Kagel noch Geräuschhaftigkeiten à la Lachenmann, die uns packen und nicht mehr loslassen. Vielmehr wird hier mit höchster Überzeugung und bestechendem Können musiziert. Wer Neue Musik für spröde und verkopft hält, erlebt bei diesem sinnlichen Klangpanorama sein blaues Wunder. Den Ausklang gestalten Tamestit und das Orchester als intensive Klage.

Was für Teufelsmusiker es sind, die Daniel Harding nur noch bis Sommer dieses Jahres als Chefdirigent leiten wird, zeigt sich dann auch in Mahlers 9. Sinfonie. Nicht genug damit, dass sich Bläsereinsätze wie aus dem absoluten Nichts im Raum kristallisieren. Sie sind so subtil, dass es fassungslose Sekunden braucht, um die Klangquelle überhaupt benennen zu können. Oboe und Flöte, Klarinetten und Hörner, Piccoloflöte und erste Geigen verschmelzen in perfekter Intonation zu unvergleichlichen Farben. Daniel Harding gestaltet das „Andante comodo“ zu einer riesigen Sehnsuchtsmusik. Alles ist Drängen in diesem ersten Satz: Aber das Schlachtgetümmel der früheren Sinfonien, die triumphalen Apotheosen hat diese Neunte weit hinter sich gelassen.

Daniel Harding und das Orchestre de Paris (Foto: Pascal Amos Rest)

Harding versteht sich bestens auf die Elemente von Mahlers Tonsprache: auf das bauernhaft Grobe, das Einfältige und Banale, das höhnisch Meckernde, das Feierliche und das Schönheitstrunkene. Er hält das Orchester unter Spannung, dabei übergroße Lautstärken vermeidend. Noch einmal beschwört er im letzten Satz „die allmächtige Liebe“, wie sie der Pater Profundus in Mahlers 8. Sinfonie besingt. Schließlich erblasst das abschließende Adagio, wird jenseitig fahl, ja brüchig. Harding hält diese morbide Textur mit feinem Fingerspitzengefühl, scheint zuzusehen, wie die Fäden sich auflösen, lauscht voraus in die Stille, in die diese Musik unweigerlich einmünden muss. Das versteht auch das Konzerthaus-Publikum, das die Sinfonie zuvor schon zweimal durch Applaus unterbrechen wollte. Lange rührt sich nach dem letzten Ton keine Hand. Dann bricht der Jubel los.

Antoine Tamestit wird am 19. und 20. April erneut im Konzerthaus Dortmund zu erleben sein: mit einem öffentlichen Meisterkurs sowie einem Liederabend mit Christiane Karg.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: http://www.konzerthaus-dortmund.de, Ticket-Hotline 0231/ 696 200.)




Ein großer Tag dämmert den BoSys: Gustav Mahlers Neunte in Bochum lässt tief betroffen zurück

Abschied durchweht das Vierte Sinfoniekonzert der Bochumer Symphoniker (BoSys): Letzte Werke sind angesetzt. Richard Strauss‘ „Vier letzte Lieder“ eröffnen den Abend, Gustav Mahlers letzte vollendete Sinfonie krönt ihn. Zwei Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Bei Strauss ein üppig glühender, langsam in zarten Farben erblassender Sonnenuntergang, harmonisch schwelgerisch, melodisch intensiv. Bei Mahler zerrissenes, drohendes Wetterleuchten und groteske Licht-und-Schatten-Tänze, dann ein fahles Ersterben, in dessen Erlöschen ein Hoffen auf Transzendenz aufscheint.

Steven Sloane profiliert sich als Mahler-Dirigent. Foto: Bochumer Symphoniker

Orchesterchef Steven Sloane profiliert sich als Mahler-Dirigent. (Foto: Bochumer Symphoniker)

Die Bochumer Symphoniker stellen dieses Konzert in den Verlauf ihres Mahler-Projekts, das in den nächsten Jahren „mit neuen Ansätzen auf die Reise durch den Mahler-Kosmos“ gehen soll. Marlis Petersen, gefeiert in Bellinis „La Straniera“ in Essen und als Alban Bergs „Lulu“ in München und New York, gehört zu den schlankstimmigen Strauss-Interpretinnen. Sie hat im „Frühling“ wie viele ihrer hochkarätigen Kolleginnen ein Problem mit der geradezu unverschämten Tiefe, aus der sie dann in blühende Höhen aufbrechen soll. Das geht nicht ohne steifen Glanz ab. Aber in „September“ fühlt sich Marlis Petersen viel wohler, führt die Stimme leicht und leuchtend. Und sie lässt in Hermann Hesses „Beim Schlafengehen“ die „Seele unbewacht“ in wundervollem Bogen „in freien Flügen schweben“. Die BoSys verschmelzen in weichem Streicherschimmer mit der Stimme, tragen sie in freiem Piano und umkleiden sie mit der herbstlichen Farbenpracht von Strauss‘ Instrumentation.

Von dieser güld’nen, melancholisch durchtränkten Stimmungsmalerei ist bei Gustav Mahler nichts zu hören: Steven Sloane macht in der Eröffnung des ersten Satzes radikal deutlich, wie sich diese Musik in fragmentierten Elementen zu sich selbst vortastet, auch in der scheinbaren D-Dur-Klarheit der Episode, die gerne als „Hauptthema“ tituliert worden ist, obwohl Mahlers Neunte mit den Kriterien der an Beethoven geschulten Analyse überhaupt nicht mehr zu fassen ist.

Das Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum. Foto: Werner Häußner

Das Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum. (Foto: Werner Häußner)

Sloane tut also folgerichtig nicht so, als sei im Geflecht der symphonischen Entwicklung irgendein Motiv „wichtiger“ als ein anderes. Er versöhnt nicht, sondern reißt auf. Dass er die Dynamik zügelt, macht die Geröllhalde auf diesem fernen Stern noch fremdartiger. Das Paukensolo, die harschen Harfenakkorde, versprengte, gedämpfte Horn- und Trompetensignale, der dumpfe Zusammenbruch von Celli, Kontrabässen und Fagott, das Seufzen der Bassklarinette: Die Symphoniker lassen in dieser zerrissenen Welt die Schönheit und die Hinfälligkeit, den Balsam und den Schmerz der Töne aufleuchten.

Andererseits wählt Sloane nicht den Weg einer Schärfung um jeden Preis. Die Violinen könnten ihre Linien schmerzhafter ziehen, das Blech könnte anti-brucknerisch grell und aufgepeitscht klingen, auch in den Holzbläsern hält sich schrille Exaltation die Waage mit samtiger Resignation. Mahler wird nicht geschunden und bloß vorgeführt, sondern in den Goldrand einer sanften Distanz gekleidet – wie ein Jugendstil-Gemälde, das Schreckliches in dekorativer Façon zeigt. Ein Weg, der manchen Mahler-Exegeten vielleicht zu wenig radikal erscheint, der aber seinen Sinn hat. Hoffen, Bangen und Verzweifeln werden so noch schmerzvoller.

Groß in Form sind Orchester und Dirigent auch in den Mittelsätzen. Michael Gielen, einer der profiliertesten Mahler-Deuter der letzten Jahrzehnte, hat sie als einen „Rückblick auf Gesellschaftliches, auf Volkstümlichkeit, auf Vulgarität der andern“ beschrieben. Diesen Blick schärft Sloane: Harmlose Ländler-Rhythmen werden zu skurrilen Veranstaltungen, die schroffen Wechsel von Takt und Haltung sind deutlich markiert, die Ironie, mit der Mahler musikalische Floskeln zitiert und zerlegt, entfaltet sich in ätzender Schärfe.

Der Sog zum hexerischen Finale der Rondo-Burleske steigert sich ins Groteske; die BoSys lassen derbe Töne knallen und scharren. Der weite Tonraum zwischen Violin-Flageolett und Kontrabass-Abgrund reißt seinen Schlund auf. Das abschließende riesige Adagio kennt dann noch einmal melancholisch weiche Phrasierungen, wundervolle Abstimmungen zwischen Horn und Blech und – trotz einsetzender Konzentrationsprobleme – idyllisch versöhnten Streicherklang. Im äußersten Pianissimo verfliegt der Ton in die quasi hinzukomponierte Stille. Ein großer Tag für Steven Sloane und sein Orchester.

Nächstes Sinfoniekonzert im Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum am 26./27./28. April mit Richard Wagners „Siegfried-Idyll“ und dem ersten Akt der „Walküre“.




Festival Klangvokal in Dortmund: Musikalische Schätze und Raritäten aus acht Jahrhunderten für die menschliche Stimme

Bei so manchem Festival wird das Blaue vom Himmel versprochen – und der Horizont bleibt dann doch grau. Beim Dortmunder „Klangvokal“, seit der Gründung geleitet von Torsten Mosgraber, ist das anders: Die zehnte Ausgabe mit dem Thema „Auf Schatzsuche“ löst tatsächlich den Anspruch ein, aus dem reichen Spektrum der Musik für eine, mehrere oder viele menschliche Stimmen ein paar ungewöhnliche Farben nach vorne zu spielen. Vom 11. Mai bis 10. Juni 2018 lässt sich bei 23 Veranstaltungen die Vokalmusik der letzten 800 Jahre durchstreifen. Dabei kommen nicht nur Klassik-, sondern auch Crossover- und Weltmusik-Fans auf ihre Kosten.

Dirigent, Komponist und Organist: Wayne Marshall. © Wayne Marshall

Dirigent, Komponist und Organist: Wayne Marshall. © Wayne Marshall

Die Eröffnung am Freitag, 11. Mai steht im Zeichen des 100. Geburtstags von Leonard Bernstein. Wayne Marshall, Komponist, Dirigent und Organist, steht am Pult seines WDR Funkhausorchesters und bringt die „Chichester Pslams“ und Bernsteins Erste Sinfonie „Jeremiah“ mit. Der Kammerchor der TU Dortmund und der Philharmonische Chor Essen übernehmen die Partien der Vokalensembles auch in Francis Poulencs „Gloria“ und „The Fruit of Silence“ des lettischen Komponisten Peteris Vasks, geschrieben 2013 auf einen Text von Mutter Teresa.

Monteverdi-Oper rekonstruiert

Eine Rarität erklingt am Freitag, 18. Mai in der Reinoldikirche: Der Philharmonische Chor des Dortmunder Musikvereins und die Dortmunder Philharmoniker führen – gemeinsam mit den renommierten Solisten Eleonore Marguerre (Sopran), Thomas Laske (Bariton) und Uwe Stickert (Tenor) – Jules Massenets Oratorium „Ève“ auf. Am Freitag, 1. Juni mischen sich Alt und Neu auf eine Weise, die so ungewöhnlich wie umstritten ist: Zum ersten Mal erklingt in einer öffentlichen Aufführung im Orchesterzentrum NRW eine rekonstruierende Neukomposition von Claudio Monteverdis Oper „L’Arianna“.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Cavina, italienischer Countertenor und Experte für Alte Musik, wollte nicht warten, bis vielleicht eines Tages die Originalpartitur Monteverdis in einer verschlossenen Bibliothek oder einem vernachlässigten Archiv auftauchen könnte, und hat sich auf der Basis eines tiefgründigen Wissens um Kompositionsweise und Aufführungspraxis des 17. Jahrhunderts an eine musikalische Ausformung gemacht, die er selbst allerdings nur ungern als „Komposition“ bezeichnet.

Ausgehend von Ottavio Rinuccinis Libretto, dem erhaltenen berühmten „Lamento“ aus der Oper und Kompositionen wie dem „Ballo delle Ingrate“ hat er selbst Musik im Geiste Monteverdis geschrieben. Die Aufführung mit Cavinas Ensemble La Venexiana, die „L’Arianna“ bereits 2015 in Venedig erstmals gespielt haben, umfasst in etwa 100 Minuten die acht Szenen plus einen Prolog der ursprünglichen Oper. Davide Pozzi leitet das Ensemble und elf Solisten.

Geschichte der Büßerin Maria Magdalena

„Echten“ Barock gibt es dann am Sonntag, 10. Juni in St. Reinoldi zu hören: Das Ensemble Le Banquet Céleste gastiert unter Damien Guillon mit einem der mindestens 43 Oratorien des in Wien gestorbenen Venezianers Antonio Caldara. „La Maddalena ai piedi di Cristo“, wohl um 1700 für Rom geschrieben, thematisiert in einem allegorischen Spiel um die irdische und himmlische Liebe die Geschichte der Büßerin Maria Magdalena auf der Basis des Lukas-Evangeliums.

Auf dem Weg zum Weltstar: Marina Rebeka singt in Dortmund in Verdis "Giovanna d'Arco". ©Janis Deinats

Auf dem Weg zum Weltstar: Marina Rebeka singt in Dortmund in Verdis „Giovanna d’Arco“. ©Janis Deinats

Auch die Oper kommt wieder zu ihrem Recht: Mit der Sopranistin Marina Rebeka, in New York als „Norma“ und Mathilde in Rossinis „Guillaume Tell“ gefeiert, und dem aufstrebenden Bariton Baurzhan Anderzhanov aus Essen erklingt am Sonntag, 27. Mai im Konzerthaus „Giovanna d’Arco“, ein früher verschmähtes Werk aus Giuseppe Verdis mittlerer Schaffensperiode, das in den letzten Jahren etwa durch Aufführungen in Salzburg (mit Anna Netrebko), aber auch durch szenische Produktionen in Bonn und Bielefeld neu entdeckt wurde. Daniele Callegari dirigiert das WDR Funkhausorchester Köln, es singt der LandesJugendChor Nordrhein-Westfalen.

„Gänsehaut-Musik“ aus Belgien

Die Vielfalt der Chormusik durch die Jahrhunderte setzen Ensembles aus Großbritannien, Estland und Tschechien präsent. Oder aus Belgien: Dem 2004 von Lionel Meunier gegründeten Ensemble Vox Luminis wird etwa von Bayerischen Rundfunk bescheinigt, „Gänsehaut-Musik“ zu machen. Am Samstag, 12. Mai singt der Chor in der Marienkirche Motetten der Bach-Familie aus dem 17./18. Jahrhundert, darunter unbekannte „Bäche“ wie Johann Christoph oder Johann Ludwig, dem Vetter Johann Sebastians, der in Meiningen als Kapellmeister wirkte.

Der Estnische Philharmonische Kammerchor singt am Sonntag, 20. Mai in der St. Nicolaikirche A-cappella-Chormusik von Arvo Pärt, Cyrillus Kreek und Veljo Tormis. Mit einem so raren wie erlesenen Programm kommen das Ensemble Clematis und der Choeur de Chambre aus Namur am Samstag, 26. Mai in die Maschinenhalle von Zeche Zollern. Unter Leonardo García Alarcón öffnet der Chor die Welt der barocken geistlichen Musik der iberischen Halbinsel und greift auch in die „Neue Welt“ aus, wo Komponisten an Kathedralen oder in Jesuitenreduktionen tätig waren. Tomás Luis de Victoria ist noch der bekannteste von ihnen, aber von Juan de Araujo, der in Lima (Peru) und an anderen lateinamerikanischen Bischofskirchen wirkte, von Matheo Romero, Kaplan mehrerer gekrönter Häupter, oder von Mateu Fletxa et Vell, dem Musiklehrer der Töchter Kaiser Karls V., haben selbst Spezialisten noch kaum etwas gehört.

Rund 150 Chöre beim Fest in der Innenstadt

Zu den ältesten Wurzeln geistlicher Musik dringt am Dienstag, 29. Mai in der Marienkirche das Ensemble Tiburtina mit Musik von Hildegard von Bingen vor. Aus England und Spanien kommt die Musik, die The Tallis Scholars am Samstag, 9. Juni in der Propsteikirche singen. Und nicht zu vergessen ist das 10. Fest der Chöre am Samstag, 2. Juni, bei dem zwischen 10 und 22 Uhr rund 150 Chöre in der Dortmunder Innenstadt ihr Können dem Publikum präsentieren.

Freunde der Weltmusik können sich auf die Argentinierin Lily Dahab (Sonntag, 13. Mai), das Ensemble Saz’Iso aus Albanien (Samstag, 19. Mai), auf portugiesischen Fado mit Gisela João am Freitag, 25. Mai und auf Yorkstone Thorne Khan am Donnerstag, 7. Juni freuen, die britischen Folk und indische Musik miteinander verbinden.

Infos und Karten: www.klangvokal-dortmund.de




Wenn der Mensch neben dir nicht Duke Ellington ist – Helge Schneiders Auftritt im Dortmunder Konzerthaus

Warum nicht mal wieder zu Helge Schneider pilgern? Das letzte Mal ist ja schon wieder ein paar Jährchen her (es war seinerzeit im erzkatholischen Paderborn), und der Mann ist und bleibt doch wohl schließlich Kult. Bei ihm trifft diese Bezeichnung unumwunden zu, auch wenn man sie sonst nur ungern verwendet.

Cello kann er auch: Helge Schneider in Aktion. (Foto: www.helge-schneider.de)

Cello kann er auch: Helge Schneider in Aktion. (Foto: www.helge-schneider.de)

Also auf ins ausverkaufte Dortmunder Konzerthaus. 1500 Plätze bietet die Kulturstätte. Helge Schneider begehrt vom Publikum zu wissen, wie viele Einwohner Dortmund eigentlich habe. Soso, aha, rund 600.000. Und warum bitteschön seien die heute Abend nicht alle hier? Wahrlich eine bittere Enttäuschung!

Aber gut. Er lässt sich nicht lumpen und tritt trotzdem über zwei Stunden auf, auch wenn der Schelm gleich anfangs, nach den ersten paar Takten von „Lady Be Good“, gesagt hat: „So, das war’s für heute…“ Nur gut, dass er den Steinway nicht wirklich zugeklappt hat.

Ich will nicht behaupten, Helge Schneider (Jahrgang 1955) sei etwa altersmilde oder „verträglicher“ geworden, was immer das bei einem wie ihm heißen könnte. Aber er lässt doch nicht mehr so riesige Sinn- und Unsinnslücken klaffen wie ehedem. Zuweilen plaudert er wie nur je ein charmanter Conférencier. Und wahrlich: Schon nach wenigen Sekunden hat er das eh schon außerordentlich lachbereite Publikum da, wo er es haben möchte. Ein Phänomen, diese Präsenz.

Ein klein wenig wie ein großväterlicher Freak sieht er jetzt aus, dieser geborene „Ruhri“; aus Mülheim, nach Dortmunder Lesart beinahe schon exotisches Ausland. Aber verdammt noch eins, die Art seines Humors weckt in den hiesigen Breiten tatsächlich auch eine Art Heimatgefühl. Jawoll.

Klar, er ist ein begnadeter Komiker der unverwechselbaren Art. Er ist ein Entertainer sondergleichen, der bei aller Sprachspielerei auch dem Nonverbalen Raum lässt. Einmal legt er einen Stepptanz aufs Parkett, nachdem er auf den sauglatten Klacker-Schuhen wie übers Eis geglitten ist, panisch mit den Armen rudernd. Für einen Moment vollführt er plötzlich die Bewegung eines Eisschnellläufers. Eine quasi-olympische Sekunde: kaum geschehen, schon verweht. Anhaltendes Kichern im Saale.

Vor allem aber ist Helge Schneider ein reich begabter Musiker, der sich offenbar jedes, aber auch jedes Instrument schnell erschließt. Wenn er solo oder mit seinen beiden – in Ehren ergrauten – musikalischen Begleitern Rudi Olbrich (Kontrabass) und Peter Thoms (Schlagzeug) klassischen Jazz spielt, dann swingt es wie bei den Größen der Zunft. Vor allem der „geile Rudi“ (O-Ton Schneider) lässt sich manchen Scherz auf seine Kosten gefallen. Übrigens: Olbrich und Thoms seien alte Freunde, und das sei – wie Schneider verrät – auch besonders kostengünstig. Hähähä.

Helge Schneider (li.) und seine musikalischen Mitstreiter Rudi Olbrich (Mi.) und Peter Thoms. (Foto: www.helge-schneider.de)

Helge Schneider (li.) und seine musikalischen Mitstreiter Rudi Olbrich (Mi.) und Peter Thoms. (Foto: www.helge-schneider.de)

Auch wenn Helge Schneider zur Gitarre greift und dazu stilsicher übertriebene Essenzen französischen, spanischen oder auch chinesischen Liedguts knödelt, wenn er dann herzzerreißend simultan Klavier und Panflöte spielt („As Time Goes By“) oder das Letzte aus einem Cello herausholt (pickende Vögel etc.), so erweist sich jeweils aufs Köstlichste, wie erzmusikalisch er ist. Solche Parodien kann man nur liefern, wenn man ein Instrument wirklich beherrscht.

Apropos Jazzgrößen. Ein Bringer und Brüller des Abends ist jene windungsreiche Erzählung von anno 1974, als er mit 19 Jahren erstmals in Berlin war und beim Jazzfest Duke Ellington sehen wollte. Immer wieder schweift Helge Schneider zu seiner „Omma in Düüsburch“ ab. Schließlich führen die Erzählpfade doch wieder nach Berlin, genauer: oben auf den Doppeldecker-Bus zum Sightseeing. Und jetzt aber: Steigt doch unten ein Mann zu, der… Duke Ellington ist. Und setzt sich auch noch neben ihn. Wahnsinn. Man denke. Der große Duke Ellington. Schließlich nimmt der junge Helge allen Mut zusammen und knufft den Nachbarn in die Seite – und da ist es gar nicht Duke. Unglaublich! Unverschämtheit! Diese impertinente Person ist nicht nur nicht Duke Ellington, sondern sogar eine Frau, die Gemüse gekauft hat. Die Porreestange guckt aus ihrer Tasche… Aber bitte: Das alles kann man eigentlich gar nicht nachbeten, das muss man vom Meister selbst hören.

Das laufende Tourneeprogramm heißt derzeit „Ene mene mopel“, hebt aber nirgendwo auf den alten, bekanntlich etwas ekligen Kinderreim ab. Wie aus Bausteinchen, so setzt Helge Schneider seine Abende immer wieder neu und anders zusammen. Damals in Paderborn hat er beispielsweise eine herrlich ausgiebige Parodie auf Udo Lindenberg hingelegt, diesmal lässt er nur aufblitzen, dass er halt auch den Udo perfekt imitieren kann. Und überhaupt.

Ein paar seiner Nonsens-Klassiker stimmt er gleichfalls an, beispielsweise den Song von der „Wurstfachverkäuferin“ oder das ebenso wahnwitzige „Es gibt Reis, Baby“. Das über die Maßen strapazierte „Katzeklo“ lässt er hingegen nur ganz kurz anklingen, um daraus eine aber nun wirklich ganz und gar rührselige Geschichte von einer armen alten Frau und ihrer Katze fortzuspinnen. Da kommen einem die Tränen zwischen Lachen und Weinen. Aber echt jetzt.

Weitere Tournee-Termine/Karten:
http://www.helge-schneider.de/termine/all




Eifersucht und Seelenschmerz: Diana Damrau und Jonas Kaufmann mit Hugo Wolfs „Italienischem Liederbuch“ in Essen

Diana Damrau und Jonas Kaufman in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

Diana Damrau und Jonas Kaufman in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

Die Bühne lässt sie nicht los. Auch nicht, wenn es um einen umfangreichen Zyklus von Liedern geht, dem „Italienischen Liederbuch“ Hugo Wolfs. Eben noch beschreibt der jugendliche Liebhaber, was er in der Gewitternacht draußen vor der Tür erdulden musste, da fragt die Angebetete genervt: „Wer rief dich denn? Wer hat dich herbestellt?“ und schickt ihn gleich weg „zu dem Liebchen, das dir mehr gefällt“. Diana Damrau und Jonas Kaufmann machen daraus eine kleine Szene, mit Augenrollen und Schmollemund, Flehensgeste und Abweisung.

Die beiden Star-Sänger, die auf ihrer Tournee mit Hugo Wolf in der Philharmonie Essen Station machten, wollen das szenische, darstellerische Element nicht missen. Damit die Zwiegespräche einer eifersüchtigen Liebe funktionieren, kombinieren sie die 46 vertonten poetischen Miniaturen des kultivierten, im München des fin de siècle zur Berühmtheit gewordenen Schriftstellers Paul Heyse in einer neuen Abfolge. Abwechselnd von Frau und Mann gesungen, entstehen so kleine Beziehungs-Szenen, schwärmerische und schnippische Dialoge, aber auch Momente des Hochgefühls, des Sehnens, der Bitterkeit und der Kränkung.

Das Konzert war wohl eher wegen der glamourösen Namen als wegen der Zuneigung zu Hugo Wolfs feinsinniger Kunst bis auf den letzten Platz ausgebucht. Eingekesselt von Zuhörern sogar auf der Bühne, lassen sich die beiden Profis dennoch nicht beirren: Diana Damrau fasst den Sinn der Worte in vielfältig variierten Klang, als sie erklärt, dass auch „kleine Dinge uns entzücken können“. Das Timbre der gefeierten „Traviata“, der passionierten „Lucia di Lammermoor“ ist satt und leuchtend, der Ton entfaltet sich frei und ungezwungen, die Worte werden musikalisch nuanciert ausgedeutet: Damrau kann mit koketten Färbungen spielen, wenn sie ihrem Partner auf dem Podium an den Kopf wirft, sie sei verliebt, „doch eben nicht in dich“. Aber sie trifft eben auch sehnsüchtige Untertöne, die pubertäre Hilflosigkeit des jungen Mädchens und manchen leisen Moment der Trauer.

Ein Touch von Theater

Die vielen Schattierungen zwischen halblaut und zärtlich leise gelingen auch Jonas Kaufmann: Nach belegtem Beginn und ein paar Schleiern auf der Stimme gibt er sich hymnisch entzückt über die von Gott geschaffene Schönheit, bejubelt „hohen Reiz und Zauber“, zeigt sich betrübt über den Zorn der Angebeteten, bockig, versöhnungswillig, verschmitzt, leichtfüßig und gespielt pathetisch.

Kaufmann setzt sein dunkles Timbre ein, wenn er die Stimmung von „Heut Nacht erhob ich mich um Mitternacht“ musikalisch zeichnet; er drückt die Zärtlichkeit der mühsam gezähmten Leidenschaft im „Wenn du mich mit den Augen streifst“ mit verhaltenem Mezzoforte aus; er reduziert den Klang in äußerster Delikatesse, wenn er bekennt: „Ich sterbe lieblich, sterb‘ ich deinetwegen“. Das alles hat einen Touch von Theater – der aber der Poesie der Lieder keinen Abbruch tut.

Ein Wunder für sich ist Helmut Deutsch am Flügel: Er hält mit leichtem Tonfall das Opernhafte in Grenzen, gestaltet die Wortgefechte mit diskretem Humor aus, zaubert dunkle, unheimliche, grotesk hysterische, leuchtend lyrische Farben dahin, dass es eine pure Wonne ist. Das ist Tiefe, im Leichten entdeckt.




Wie wilde Klänge den Kopf befreien können – F. C. Delius‘ Erzählung „Die Zukunft der Schönheit“

New York, 1966. Am Rande einer Tagung der „Gruppe 47″ besucht der Autor abends mit Freunden ein Free-Jazz-Konzert: in „Slug´s Saloon“ tritt der Saxophonist Albert Ayler mit seinem Quintett auf. Es ist laut und wild, der Autor kann die improvisierten Klänge und das musikalische Chaos kaum aushalten. Doch dann entstehen plötzlich Bilder in seinem Kopf: In dem schmerzliche Getöse meint er die tödlichen Schüsse auf US-Präsident Kennedy zu hören und den Bombenhagel in Vietnam.

Die Musik erscheint ihm als politischer Aufschrei, als Marsch der Wahrheit und als Aufruf zur Rebellion. Er beginnt zu begreifen, dass ohne Zerstörung des Alten das Neue nicht entstehen kann und sich die Gesellschaft, die Kunst und auch er selbst und sein eigenes Schreiben sich nur verändern können, wenn man bereit ist, gewohnte Pfade zu verlassen.

In seiner neuen, autobiographisch grundierten Erzählung „Die Zukunft der Schönheit“ umkreist F.C. Delius ein kurzes Erlebnis, eine existenzielle Erfahrung, die dem damals 23jährigen Autor schlagartig den Kopf frei gepustet und ihm seinen Weg zum politisch engagierten Schriftsteller möglich gemacht hat.

Während Albert Ayler sein Saxophon traktiert, zerfällt die selbstzufriedene literarische Fassade des Autors, der damals gerade mit seinem ersten Gedichtband für Aufmerksamkeit gesorgt hat, in tausend Scherben. Ihm wird klar, dass seine Gedichte nicht viel mehr als kunstgewerbliche Reflexionen sind und ihnen etwas Entscheidendes fehlt: das Schräge, Wilde und Freche, das tiefe, verzweifelte Empfinden, das sich an den Widersprüchen der Welt reibt.

Ayler schreddert wie eine Furie des Verschwindens Klänge und Rhythmen, und der gepeinigte Autor erinnert sich, wie er als Jugendlicher mit dem Schreiben nicht nur sich selbst neu erfand, sondern auch gegen seinen konservativen Vater rebellierte, der – sterbenskrank und vom Leben zermürbt – bei einem Streit hilflos mit einem Kissen nach seinem Sohn geworfen hatte. Und als das Saxophon Aylers die Luft gleichsam zum Brennen bringt, weiß der Autor, dass er das, was er jetzt gerade in diesem völlig verrückten Free-Jazz-Konzert erlebt, schon kürzlich geahnt hat: Da hat er im Kachelofen seiner kalten Berliner Wohnung all die frühen poetischen Peinlichkeiten den Flammen übergeben und die Poesie-Verbrennung als Akt der Reinigung empfunden.

Umheimlich ist dem Autor, wie Aylers entgrenzte „Ghost“-Improvisationen bei ihm die Geister der Vergangenheit heraufbeschwören, all die willigen Helfer des Nazi-Regimes, die nach dem Krieg unbehelligt blieben und die Jugend des Autors in der nordhessischen Provinz vergifteten. Unheimlich ist dem Autor auch, dass ihm eine von den Nazis ins amerikanische Exil getriebene Frau gerade eben in New York ein Horoskop gestellt und ihm kommendes Glück und literarischen Erfolg prophezeit hat. Der Autor weiß gar nicht, womit er das verdient haben könnte. Der Leser aber weiß es: Denn wer im Chaos der Gegenwart schon die Zukunft der Schönheit sehen und sein schmerzliches Erwachen so brillant beschreiben kann, muss wohl ein glücklicher Mensch und genialer Autor sein.

F.C. Delius: „Die Zukunft der Schönheit“. Erzählung. Rowohlt Berlin, 96 Seiten, 16 Euro.




Nur der Putz hält noch die Wand: Das vierte Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow in Dortmund

Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk.

Dortmunds Orchesterchef Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk

Nicht jedes Gespräch muss inhaltsschwer sein. Manchmal macht es Spaß, nur zu reden und zu hören, dem Klang der Worte und Stimmen zu lauschen, mit Nichtigkeiten Sympathie, Witz und Ironie oder die pure Freude am Zusammensein auszudrücken. Oder, um es platt und treffend zu sagen, einfach vor sich hinzuquatschen. Wer in eine solche Unterhaltung verwickelt ist, mag Freude daran haben, wer außen steht, wundert sich vielleicht, oder fragt sich, was das soll.

So ähnlich geht es dem Hörer von Sergej Rachmaninows Viertem Klavierkonzert. Orchester und Solist quatschen munter drauflos, tauschen Allgemeinplätze aus, versteigen sich manchmal in eine abgelegene Modulation, in eine spitz-würzige Pointe der Instrumentation, setzen zu einer Melodie an, die sie bald wieder vergessen, spielen mit Bausteinen, aus denen andere Komponisten Wunderwerke errichten. Rachmaninow nicht: Sein letztes Klavierkonzert von 1927 ist, möglicherweise aufgrund des Kürzens und Überarbeitens im Schaffensprozess, nicht viel mehr als ein buntes, die Farben und Formen ständig weiterklickendes Kaleidoskop.

Dass dieses Konzert im Programm der Dortmunder Philharmoniker auftauchen musste, ist klar: Ihr Chef Gabriel Feltz hat eine tiefe Verbindung zu dem oft unterschätzten Komponisten, dokumentiert durch mehrere Konzerte und CD-Aufnahmen: Gerade ist die neue Platte mit der Dritten Sinfonie erschienen; Feltz hat sie nach dem Konzert eifrig beworben und im Foyer des Konzerthauses signiert.

Der Pianist Alexander Krichel. Foto: Uwe Arens/Sony Classical

Der Pianist Alexander Krichel. Foto: Uwe Arens/Sony Classical

Aber das g-Moll-Klavierkonzert wird kein Ruhmesblatt in dieser Liebesbeziehung bleiben: Schon zu Beginn deckt das Orchester die eigentlich kraftvollen Akkorde des Pianisten zu; von musikalischer Feinarbeit kann auch im weiteren Verlauf nicht die Rede sein. Die wenigen interessanten Momente des Stücks, etwa die sehnsuchtsvollen, an Dvořák gemahnenden Holzbläserstellen, ein paar harmonisch aparte Überleitungen oder rhythmischer Pep sind zugetüncht von sämiger Klangfarbe, als wolle Feltz zeigen, dass es nur der Putz ist, der die Wand noch aufrecht hält.

Solist Alexander Krichel stand von vornherein auf verlorenem Posten. Mit nobel hanseatischem, etwas unterkühltem Ton kommt er den Orchesterwogen ebenso wenig bei wie den virtuosen Leerstellen des Konzerts. Mal auf, mal ab, mal quirlig fingerfertig, dann wieder mit anfliegendem Pathos – und das alles melodisch reizlos: Krichel gewinnt dem Werk nichts ab, steht aber damit nicht allein. Schon andere Pianisten haben sich damit ohne Erfolg das Elfenbein von den Tasten geschubbert. In einigen Details – mir blieben wunderschöne Arpeggi oder glanzvoll und fein durchleuchtete Piani im Gedächtnis – lässt Krichel seine Klasse aufblitzen. Wenn er am 9. März in der Stadthalle in Mülheim/Ruhr das Fünfte Klavierkonzert Ludwig van Beethovens spielt, kann er sicher mehr zeigen.

Soeben erschienen: Rachmaninows Dritte vervollständigt den Zyklus der Symphonien des Komponisten, aufgenommen von den Dortmunder Philharmonikern unter Gabriel Feltz. Cover: Dortmunder Philharmoniker

Soeben erschienen: Rachmaninows Dritte vervollständigt den Zyklus der Symphonien des Komponisten, aufgenommen von den Dortmunder Philharmonikern unter Gabriel Feltz. Cover: Dortmunder Philharmoniker

Viel wohler fühlen sich beide Seiten des Saales offenbar bei Rachmaninows „Sinfonischen Tänzen“ op.45. Auf einmal klart sich der Klang der Dortmunder Philharmoniker auf, werden im sich lichtenden Nebel Konturen deutlich, zeichnet sich die Musik plastisch durch. Die Holzbläser haben bis in die tiefsten Schründe von Bassklarinette und Kontrafagott luzide Momente, die Violinen phrasieren frei und süffig glühend, das Saxophon schmeichelt, aus dem Schlagzeug sprühen Triangelschaum, Tamburinglitter, die zischenden Fontänen der Becken und das finale Dröhnen des Tamtam.

Feltz bezieht dieses Spektrum der Klänge sinnig aufeinander, lässt die Dynamik elastisch und frei atmen wie das Aufrauschen von Wellen am Strand, die sich türmen und verebben. Zu Beginn, in Rachmaninows „Toteninsel“, will ihm das noch nicht gelingen: Da hat er eher den Bogen der Dramaturgie als die Klangdetails im Orchester im Blick.

Im Sechsten Philharmonischen Konzert am 13. und 14. März 2018 im Konzerthaus Dortmund dirigiert Gabriel Feltz Anton Bruckners Achte Symphonie.




Sympathischer Tourneebeginn: Daedalus-Quartett mit amerikanischer Musik der Gegenwart in Essen

Das Daedalus-Quartett hat sich seit seiner Gründung im Jahr 2000 zu einem der führenden amerikanischen Streichquartette entwickelt. Beginnend mit einer Matinee in der Essener Philharmonie tourt das Ensemble im Februar und März mit 20 Konzerten durch deutsche Städte. Wenn ein solch profiliertes Quartett nach Europa kommt, liegt es nahe, auch zeitgenössisches Schaffen aus dem musikalisch hierzulande weithin unbekannten Land jenseits des Ozeans vorzustellen.

Das Daedalus-Quartett. Foto: Lisa-Marie Mazzucco

Das Daedalus-Quartett. (Foto: Lisa-Marie Mazzucco)

Zum Glück hat sich die Philharmonie nicht Beethoven, Brahms und Puccini gewünscht, sondern das Daedalus-Quartett mit einem ungewöhnlichen und alleine daher reizvollen Programm debütieren lassen: Umrahmt von Felix Mendelssohn-Bartholdys letzten Streichquartett-Kompositionen, dem Tema con Variazioni und dem Scherzo aus den vier Sätzen op. 81 und einem Satz aus Joseph Haydns op. 1/3 als Zugabe, spielte die amerikanische Formation Sergej Prokofjews selten aufgeführtes Streichquartett Nr. 1 in der ungewöhnlichen Tonart h-Moll und die „Chaconne“ von Fred Lerdahl. Der in den USA bekannte Komponist und Musiktheoretiker, der u.a. bei Wolfgang Fortner in Freiburg studiert hat, schrieb das Werk 2016 zum 15jährigen Bestehen des Daedalus-Quartetts, das zuvor schon Lerdahls drittes Streichquartett uraufgeführt und gemeinsam mit den Quartetten Nummer eins (1978/2008) und zwei (2010) auf CD aufgenommen hatte.

Dramatische Impulse und virtuoser Anspruch

Die Bezeichnung „Chaconne“ weist auf Bach zurück und unterstreicht, dass Lerdahl seine Erfindungsgabe im Dialog mit der Tradition entfaltet. Und wie bei Bach prägen die mit Buchstaben aus dem Namen des Quartetts korrespondierenden Noten (D, A, E) das musikalische Material. Dieses stellen die vier Musiker im stillen, fragmentarisch wirkenden Beginn vor.

Allmählich bildet sich aus den wie vor ferne her wehenden Motiven ein Zusammenhang, der sich zunehmend verdichtet und zu einem komplexen harmonischen Geflecht mit dramatischen Impulsen und virtuosem Anspruch entwickelt. Das Ende knüpft nach den labyrinthischen Verschlingungen der Stimmen – passend zum Namen der Quartetts, denn Dädalus gilt als Erfinder des Labyrinths – wieder am Beginn an. Eine zyklische Form, die in der zeitgenössischen Musik beliebt ist.

Min-Young Kim, Matilda Kaul, Jessica Thompson und Thomas Kraines umrahmen das Konzert mit europäischer Tradition: Die beiden Quartettsätze aus op. 81 von Felix Mendelssohn-Bartholdy und den Satz aus Haydns op. 1/3 spielen sie mit leichtem, aber nicht zu glattpoliert verschmelzendem Ton. Bewundernswert konzipiert ist die strukturell fundierte Dynamik: Der große Bogen korrespondiert mit der harmonischen Verdichtung in Mendelssohns Variationen. Die federleichte Agilität des Quartetts lässt das Scherzo in genießerischer Delikatesse vorbeihuschen.

Energie im Rhythmus und nervöse Bewegung

Das schlanke, manchmal eine Spur zu zurückhaltende Klangbild des Quartetts führt in Sergej Prokofjews selten gespieltem Ersten Streichquartett zu einer struktursichtigen Darstellung mit Energie im Rhythmus und einer drängenden, nervösen Bewegung. Die differenziert markierte, weit gespannte, aufwärts strebende Melodie der ersten Violine nimmt Min-Young Kim mit drängendem Elan. Die Achtelbegleitung in punktierten Terzen und Quarten gibt dem Streben einen nervösen Zug; die Pizzicati des Cellos setzt Thomas Kraines etwas zu sanft. Der Schwung hält im weichen Allegro moderato etwas inne. Die Polyphonie wird aber im Marcato mit rhythmisch akzentuierten Repetitionen zur ersten Violine wieder reduziert, der nervös drängende Zug gewinnt wieder die Oberhand. Die melodische Phrase des Beginns wandert, harmonisch in der Begleitung vielfach gespiegelt, durch die Instrumente.

Der zweite Satz mit seinem inneren Bruch vom langsamen zu schnellem Tempo beginnt satt und dunkel, steigert sich dann zu unruhiger, vitaler Expression. Den dritten Satz mit seiner dichten harmonischen Faktur durchleuchtet das Quartett exemplarisch genau und klarsichtig. Ein Prokofjew, der im noblen Zugriff des Daedalus-Quartetts eher in eine klassizistisch polierte als in eine expressiv aufgeraute Richtung weist. Ein sympathisches Debüt.

Am Mittwoch, 14. März, 19.30 Uhr ist das Daedalus-Quartett noch einmal in der Region zu erleben. Auf Schloss Heessen in Hamm spielt es Mendelssohn, Brahms und das Streichquartett Nr. 2 op. 19 von Charles Ives. Info auf der Webseite des Stadt Hamm.

 




Gesangskunst vom Feinsten: In Dortmund brilliert Sonya Yoncheva mit Arien von Giuseppe Verdi

Sonya Yoncheva. Foto: Gregor Hohenberg

Sonya Yoncheva. Foto: Gregor Hohenberg

Der erste Eindruck ist überwältigend: Sonya Yoncheva setzt „Tacea la notte placida“ samtweich an, als wolle sie den sternenübersäten Schleier der Nacht um ihre Töne kleiden. Sie steigert den Klang sacht, um das Silberlicht des Mondes schimmern zu lassen.

Als sie in der Auftrittsarie der Leonora aus Giuseppe Verdis „Il Trovatore“ in der Stille plötzlich die Stimme des Troubadours vernimmt, führt sie den kostbar gerundeten, dunkel timbrierten Sopran ins „dolce“ und offenbart damit, wie technisch souverän sie mit Klang und Kern der Stimme spielen kann.

Ja, das ist Gesangskunst vom Feinsten: Eine Verdi-Stimme, wie sie heute nicht häufig zu erleben ist. Sonya Yoncheva ist nicht umsonst auf den führenden Bühnen der Welt, von Paris, London, New York bis Berlin, München und Mailand angekommen.

Belcanto ist keineswegs, wie gerne angenommen wird, die Produktion schöner Töne als rein ästhetisches Vergnügen. Auch wenn ein makelloser Ton, die Perfektion seiner Bildung oberste Priorität hat: Der Sinn dieses Singens ist, die Emotionen eines Textes, die Bedeutung seiner Worte zum Ausdruck zu bringen. Alles andere ist eine Artistik, die Verdi etwa überhaupt nicht leiden konnte. Sonya Yoncheva wird man, nach dieser Arie, ohne Zögern zur Verdi-Sängerin erklären, und zwar zu einer ausgezeichneten.

Große Bögen und weit gespannte Phrasierungen

Der Eindruck bestätigt sich im ausverkauften Dortmunder Konzerthaus mit der anspruchsvollen Arie einer anderen Verdi-Leonora, der aus „La Forza del Destino“, seit jeher ein Prüfstein für dramatische Koloratursoprane italienischer Prägung: „Pace, pace, mio Dio“. Die fordernden großen Bögen, die weit gespannten Phrasierungen verlangen eine stetige, flexible Tonbildung, wenn sie gestaltet und nicht nur überstanden sein wollen.

Dazwischen liegen die fahl gefärbten Erinnerungen an traumatisierende Erlebnisse, das Aufflackern einer erstickten, aber längst nicht vergangenen Liebe, Schmerz, Resignation, Todessehnsucht – und am Ende ein auffahrender Fluch: „Maledizione“ verlangt noch einmal einen konzentrierten, böse brillanten Klang und blendende Höhe zum Abschluss.

Leidenschaftliches Singen: Sonya Yoncheva im Konzerthaus Dortmund. Foto: Petra Coddington

Leidenschaftliches Singen: Sonya Yoncheva im Konzerthaus Dortmund. Foto: Petra Coddington

Sonya Yoncheva erweist sich in diesem musikdramatischen Meisterstück als Gestalterin von fabelhaftem Format. Ihr Atem kennt – wie schon in „Il Trovatore“ – keinen Bruch, ihr Vibrato ist ausgeprägt, aber nie flackernd oder auf den Ton gesetzt, sie kann sich ins fragile, aber sonor klangerfüllte Piano zurückziehen und schleudert den Fluch glühend heraus, ohne die Flamme unkontrolliert gleißen zu lassen. Eine Gestaltung, die berührt und die den Seelenzuständen dieser gequälten Frau musikalisch eine Glaubwürdigkeit und Tiefe gibt, die selten erreicht wird. Das geschieht, und dies sei immer wieder betont, nicht trotz, sondern gerade aufgrund einer perfekten Technik.

Die aus Bulgarien stammende Sängerin hat sich in den letzten Jahren, ohne anderes zu vernachlässigen, wichtiges Repertoire von Bellini bis Verdi erschlossen: „La Traviata“ etwa, für deren passionierte und facettenreiche Darstellung sie hoch gerühmt wurde. „Die beste Violetta seit der Callas“ – so wurde gleich wieder ein Vergleich gezogen, der beiden nicht gerecht wird – und den wir bei Anna Netrebko, wenn ich mich recht erinnere, auch schon lesen mussten.

Yoncheva stellt in dem Duett „Parigi o cara“, das sie mit ihrem Bruder, dem Tenor Marin Yonchev singt, die verzweifelte Gier nach Leben im Wissen, dass es schon am Erlöschen ist, leuchtender, leidenschaftlicher dar – ein Aufbäumen im Schatten des Todes. Bei Maria Callas verraucht die Hoffnung, auch wenn aus ihrer glimmenden Glut hin und wieder noch eine Flamme aufzüngelt. Aber den Ruf einer hervorragenden Interpretin dieser Partie, die eigentlich drei verschiedene Stimmen fordert, löst die Sängerin auf brillante Weise ein.

Der harte Weg zur Perfektion ist spürbar

Dass auch bei einer Künstlerin vom Rang Sonya Yonchevas die herausfordernden Partien Giuseppe Verdis reifen müssen, lässt der Abend in Dortmund ebenso spüren, gerade weil sich Gesangskunst auf so hohem Niveau ereignet. Das trifft nicht auf die Arie „Oh! Nel fuggente nuvolo“ aus Verdis kaum gespieltem „Attila“ zu, einem Reflex auf die Geistererscheinungen der „Ombra“-Szenen früherer Epochen.

Aber „Tu puniscimi, o Signore“ aus „Luisa Miller“ – die Titelpartie wird Yoncheva erstmals am 29. März an der Met singen – gibt der bedrängten Bürgerstochter noch zu veristische Züge: Schon den Beginn setzt Yoncheva zu robust an, das Flehen, Gott möge sie nicht dem barbarischen Missbrauch aussetzen, singt sie wie eine lodernde Beschwörung. Da betet La Wally, nicht Luisa, das verzagte Mädchen aus dem deutschen Trauerspiel.

Eine der berührendsten Szenen, die Verdi je geschrieben hat, ist aus dem fünften Akt des „Don Carlos“. Die unglücklich mit dem spanischen König Philipp zwangsverheiratete Elisabeth von Valois erinnert sich an die schöneren Tage, als ihr in Fontainebleau das Glück einer Verbindung mit Carlos ganz nahe war. Sie ersehnt die Ruhe des Grabes, in das ihr Kaiser Karl V. schon vorausgegangen ist.

Dieses Ineinander von seelischer Not, untröstlicher Erinnerung, Fatalismus, Todessehnsucht und Gebet, singt Sonya Yoncheva mit nobler, voller Stimme, aber ohne den wehmütigen Herzenston, die verdüsterten Farben der Resignation, das bedrückende Wissen um die „Vanitas“ der Welt. Erst am Ende, wenn Elisabetta ihre Tränen vor Gottes Füßen niedergelegt wissen will, nimmt sie den Ton zurück, findet sie zu der verschleierten Mezzavoce, die der wehmütigen Melancholie der Szene angemessen ist.

Zwiespältige Eindrücke aus dem Orchester

An einem Abend, der dem Glanz einer großen Stimme gewidmet ist, hat es ein Orchester schwer, sich zu profilieren. Die Nordwestdeutsche Philharmonie aus Herford mit Francesco Ivan Ciampa am Pult ist zum Glück keines der oft lieblosen Begleitorchester: Die Ouvertüre zu Verdis „;Les Vȇpres Siciliennes“ gelingt in ihrer Nähe zur französischen Grand Opéra, im Vorspiel zu „La Traviata“ kann das Orchester sensible Abschattierungen, der Dirigent sinnige Akzente zeigen.

Das neue Verdi-Album von Sonya Yoncheva. Coverabbildung: Sony

Das neue Verdi-Album von Sonya Yoncheva. Coverabbildung: Sony

In der Sinfonia zu „Luisa Miller“ schlägt der unruhige Puls der Musik zu brav, hat die Phrasierung zu wenig Spannung und inneres Drängen. Und in der Ouvertüre zu „La Forza del Destino“ beginnt Ciampa eine Idee zu schnell, und nimmt so den Einleitungstakten mit der markanten Fanfare des Blechs ihre dunkle Majestät. Die Holzbläser finden nicht immer den schönen Bogen, wenn es um kantables Blühen geht. Auch müssen Tutti nicht dick sein, um als Akzente oder Zäsuren zu wirken. Aber daneben gibt es weitaus häufiger Momente, in denen die Musiker sich ganz auf Rhythmus und Leidenschaft Verdis einlassen.

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Die soeben erschienene Verdi-CD Sonya Yonchevas enthält die in Dortmund gesungenen Arien, dazu Ausschnitte aus Nabucco, Stiffelio und Simon Boccanegra.

Wer die Künstlerin live erleben will, muss nach Mailand fahren, wo sie am Teatro alla Scala am 29. Juni erstmals Imogene in Vincenzo Bellinis „Il Pirata“ singt. Oder man muss versuchen, für Gala-Abende in Zürich (1. Mai), Rolle am Genfer See (4. Mai), Baden-Baden (3. Juni), München (21. Juli) oder Berlin (23. Oktober) Karten zu ergattern.

Bei den Salzburger Festspielen kehrt Sonya Yoncheva in ihr früheres Leben als Barocksängerin zurück und gibt die Titelrolle in Claudio Monteverdis „L’ Incoronazione di Poppea“.




Deutschland-Premiere für den bleichen Mann vom Mars: David Bowies Musical „Lazarus“ am Düsseldorfer Schauspielhaus

Szene aus „Lazarus“
(Foto: Lucie Jansch)

Die Außerirdischen leben mitten unter uns: Doch leider bleiben sie uns fremd und wir ihnen. Daher sind sie einsam und traurig und wünschen sich hinweg in eine andere Welt – ob dies ihre Heimat ist oder das Jenseits bleibt offen. Zumindest in dem Musical „Lazarurs“ von David Bowie und Enda Walsh, das jetzt im Schauspielhaus Düsseldorf seine Deutschland-Premiere feierte.

Die Story basiert auf dem Film „Der Mann, der vom Himmel fiel“ von 1976, in dem Popstar David Bowie die Hauptrolle spielte. Er verkörpert darin einen seltsam blassen, androgyn schönen Mann vom Mars, der auf die Erde geschickt wurde, um Wasser zu finden. Denn auf dem Mars herrscht eine schreckliche Dürre; um seine Heimatzivilisation zu retten, möchte Thomas Newton gemeinsam mit menschlichen Wissenschaftlern einen Weg finden, das Wasser auf den Mars zu transportieren. Doch stattdessen wird er Opfer medizinischer Experimente und seine Liebe zum Erdenmädchen Mary Lou geht auch schief. Der Rückweg bleibt ihm versperrt, er verfällt dem Gin.

Melancholie vor dem Ende des Lebens

Hier setzt nun die Handlung des Musicals ein, das im Dezember 2015 (wenige Wochen vor David Bowies Tod) in New York uraufgeführt wurde. In der Entstehungszeit war David Bowie bereits krebskrank, so dass die Auseinandersetzung mit dem Sterben der Hauptfigur Thomas Newton als Alter Ego des Künstlers einen ebenso existenziellen wie verzweifelten Zug verleiht. Musikalisch korrespondiert beispielsweise der Titelsong „Lazarus“ mit Bowies letzter CD Blackstar, die zwei Tage vor seinem Tod herauskam: Auch hier bricht sich die Melancholie des Lebensendes Bahn; zugleich spürt man den genialen, wandelbaren Künstler, der sich immer wieder verändert und nicht nur ausdrückt, was er fühlt, sondern auch seismographisch die Zeit erspürt, in der er lebt.

(Foto: Lucie Jansch)

Im Schauspielhaus sitzt der norwegische Performer und Sänger Hans Petter Melo Dahl alias Newton in einer Art Raumschiff-Kuppel auf einem Stuhl, den der Filmliebhaber als den Sessel der medizinischen Experimente wiedererkennt. Dahl sieht dem alternden Bowie verblüffend ähnlich, seine Stimme klingt allerdings ein wenig tiefer, männlicher als man Bowies in Erinnerung hat. Aber vielleicht ist das auch der Bronchitis geschuldet, die Regisseur Matthias Hartmann zu Beginn dem Publikum ankündigt und für die er um Verständnis bittet.

Auch Hartmann ist ein wenig älter geworden, als man ihn als Intendant am Bochumer Schauspielhaus in Erinnerung hatte – kein Wunder, denn das ist ebenfalls 13 Jahre her. Dazwischen liegen das Burgtheater und der Finanzskandal, der zu seiner Entlassung führte. Außerdem hat Hartmann aktuell auch noch eine Art MeToo-Debatte am Hals, in der es aber eigentlich um das autoritäre System des Stadttheaters und unpassende Herren-Witze bei Proben geht – doch das führt hier gerade zu weit…

Ein Ring aus lauter Ginflaschen ums Bett herum

Newton vom Mars jedenfalls lebt in einem New Yorker Penthouse, sein Bett umringt mit Ginflaschen. Er ist so einsam, dass er ein feenhaftes Mädchen (Lieke Hoppe) imaginiert – vielleicht kann sie ihm helfen, zu seinem Planeten zurückzukehren? Ferner umsorgt ihn noch Assistentin Elly (Rosa Enskat), die sich mit einer Ehekrise herumplagt und ihren Chef vergöttert. Das geht so weit, dass sie sich als seine verflossene Geliebte Mary Lou verkleidet, um ihrem unnahbaren Marsmenschen näher zu sein.

Die Rolle des Dämons übernimmt Valentine (André Kaczmarczyk), ausstaffiert als eine Mischung aus Drag-Queen und Todesengel mit schwarzen Flügeln. Er scheint geradewegs Bowies Song „Valentine’s Day“ entstiegen zu sein, der sich um einen Amokläufer dreht. Sie alle singen nun abwechseln David Bowies Hits von „Absolute Beginners“ über „Changes“ und „Life On Mars?“ bis hin zu „The Man Who Sold the World“ – eine Hommage an den Popstar, die dadurch gewinnt, von verschiedenen Figuren performt zu werden. Doch obwohl alle tolle Stimmen haben: An das Original reicht irgendwie keiner heran.

(Foto: Lucie Jansch)

Schade, dass die Dialoge ein wenig platt daherkommen, vielleicht um den amerikanischen Musical-Geschmack zu treffen? Auch bleibt die Handlung stellenweise verrätselt: Es geschehen beispielsweise zwei Morde, deren Motive im Dunkeln liegen. Andererseits gehört das Skurrile, Dunkle, Sinnfreie bzw. Hintersinnige eindeutig zu Bowies Werk. Genauso wie die Liebe zu den Sternen und zum Weltall. Den ganzen Abend habe ich deswegen auf „Major Tom“ (aus Space Oddity) gewartet, doch das Lied kam nicht. Stattdessen schwebt Mr. Newton mit seinem erfundenen Girl zu den Klängen von „Heroes“ in seiner Raumkapsel am Ende gen Himmel. Erlöst und befreit von der Erdenschwere dieser Welt.

P.S. Das Bühnenbild von Volker Hintermeier und die Kostüme von Su Bühler waren übrigens großartig: Da kam richtiges 70er Jahre Feeling auf.

Termine und Karten:
www.dhaus.de




Düstere Schwermut, strahlender Sieg: Anja Harteros und der Dirigent Gustavo Gimeno in der Philharmonie Essen

Anja Harteros. Foto: Marco Borggreve

Anja Harteros. Foto: Marco Borggreve

Richard Wagner und Claude Debussy in einem Konzert zu kombinieren, ist eine passende Idee. Der Franzose, der vor 100 Jahren starb, war der dominierenden musikalischen Größe aus Deutschland zeitlebens mit merkwürdiger Hassliebe zugetan. Es wäre noch passender gewesen, hätte das Orchestre Philharmonique de Luxembourg zu Beginn seines Konzerts in der Philharmonie Essen Ausschnitte aus „Parsifal“ gespielt: Wagners mystisches Spätwerk hat Debussy über alles geliebt.

So also „Tannhäuser“, in einer Hochglanz-Version des Spaniers Gustavo Gimeno. Ein eleganter, nicht zu dekorativ-gestenreicher Dirigent. Ein edel schimmernder, lyrisch geprägter, fast möchte man sagen nazarenischer Wagner, ohne untergründige Erregung, ohne das prickelnde Fieber des Venusbergs, das am besten mit dem altmodischen Wort „Inbrunst“ beschrieben wäre. Eine gedämpfte Impulswelt also, die erotische Hochspannung von einer gewissen Contenance beruhigt. Das Orchester gefällt, kein raues Geschürfe stört den leuchtenden Glanz.

Zwischen Verschmelzung und eigenständiger Kontur

Das technische Niveau des Orchesters aus Luxemburg lässt keine Zweifel aufkommen, nur die Lautstärke könnte hin und wieder dem Saal angemessener dosiert sein. Aber die kleinteiligen rhythmischen Geflechte in den beiden Orchesterwerken Claude Debussys, „La mer“ und „Ibéria“, der zweiten Suite aus den „Images“, ereignen sich klar artikuliert; die Balance und die Staffelung der Klänge stimmen: Sie finden das richtige Maß zwischen Verschmelzung und eigenständiger Kontur. Dieser Debussy zerfällt nicht in lauter Mikro-Ereignisse, er verschwimmt aber auch nicht zu dem ungreifbaren Geflirr, das wir auf den Gemälden der Impressionisten so zauberhaft finden.

Chefdirigent Gustavo Gimeno malt mit kräftigeren, kantigeren Farben, lässt die Solisten Details ausmodellieren. In „Ibéria“ wehen die „Düfte der Nacht“, vom unwirklichen Ton der Celesta getragen, in verfließenden Formen und schattenhaften Klängen durch den Raum. Das wirkt nicht nur nächtlich-geheimnisvoll, sondern hat in den gedämpften Fragmenten von Melodien, in den fahlen Fetzen ferner Tänze, im Verfließen der Formen etwas Unheimliches an sich. Nicht umsonst beschäftigte sich Debussy mit Edgar Allan Poe – in Frankreich durch Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé bekannt gemacht – und seinem „Fall of the House of Usher“.

Offenbar kein „Mathematiker der Musik“

Diese gestalterischen Finessen, mehr noch aber das Spiel der Farben und Schatten in „La mer“ haben Debussy den Ruf eines „Impressionisten“ eingebracht, gegen den er sich wehrte, indem er sich zum „Mathematiker“ der Musik stilisierte. Doch die subtilen, schillernd-sprühenden Klänge in den drei „symphonische Skizzen“ wollen das Bonmot ständig Lügen strafen. Vom Flageolett-Nebel der Violinen über die bebenden Repetitionen des gedämpften Blechs bis hin zur variativen Koloristik, die Debussy an die Stelle einer Form-Entwicklung setzt, lassen sich die Luxemburger von keiner spieltechnischen Herausforderung schrecken.

Kritiker ätzten damals, das Stück enthalte nur „Geräusch“. Recht hatten sie – in gewisser Weise –, denn Debussy fängt das Unregelmäßige, Spontane, auch das Gewaltige und Gewalttätige der Naturprozesse ein, ohne ein musikalisches Imitat zu gestalten. Er mimt das Meer nicht musikalisch – wie es etwa Arnold Bax meisterhaft geglückt ist –, sondern er stellt uns die Idee des Meeres vor das innere Ohr.

Anja Harteros beglaubigt mit Wagners „Wesendonck-Liedern“ ihren Spitzenplatz unter den Sopranen unserer Tage. Sie setzt nicht bloß auf den leuchtenden Ton, sie braucht nie technischen Tricks, wenn sie die Stimme zurücknimmt und färbt. Vor allem in den weiten Entwicklungen, in den Bögen und im Aufleuchten einer groß gedachten Phrase gefällt ihre Stimme: frei gebildet der Ton, mühelos gesteigert der Klang, wundervoll abgetönt die Farben. Die Instrumentierung Felix Mottls unterstreicht noch die Nähe zu „Tristan und Isolde“. Aber auch Anja Harteros betont Tristan-Schwermut und Sieges-Strahlen: Da verstummt tatsächlich die Lippe in staunendem Schweigen.




Hochglanz am Klavier: Die gestylten Gebrüder Jussen spielen mit den Essener Philharmonikern Musik von Francis Poulenc

Inszenierter Glamour: Lucas und Arthur Jussen. Foto: Carli Hermes

Inszenierter Glamour: Lucas und Arthur Jussen. Foto: Carli Hermes

Arthur und Lucas Jussen werden zur Zeit mächtig gehypt. Ein wenig freundlich-verspielt, dann wieder lässig cool und mit gewagt dosiertem Sex-Appeal präsentieren sich die Brüder hochglanzumschimmert, um sich in der großen Schar der „Ausnahme“-Pianisten zu profilieren. Auch künstlerisch werden sie mit Marketing-Lorbeeren umkränzt und es werden ihnen Hymnen gesungen, bei denen man nie so genau weiß, welche Sätze aus einer PR-Abteilung kommen.

Die beiden stylishen Jungs scheinen gut in die Gesetze des Musikbetriebs zu passen: Ihr Auftritt in der Essener Philharmonie beim Sechsten Symphoniekonzert der Philharmoniker hatte eben jenen Touch jugendlicher Unbekümmertheit, mit dem man die beiden als dynamische Boys zwischen Teenie- und Erwachsenenalter vermarkten kann.

Sie brachten das d-Moll-Konzert für zwei Klaviere von Francis Poulenc mit, das sie auch auf einer vielgelobten Aufnahme bei ihrem marktmächtigen Plattenlabel eingespielt haben. Nicht gerade eine Wahl, die den Mainstream bedient, und von daher schon neugierig machend. Aber das Publikum wurde ja auch mit dem „Boléro“ zum Ende hin ohrwurmaffin getröstet.

Die Ravel’sche Apotheose des Rhythmus prägt auch den ersten Satz des Poulenc-Konzerts: Das üppig besetzte Schlagwerk trumpft erst einmal auf; seine heftigen Attacken und sein Puls dominieren auch die Exposition der Klaviere. Poulenc führt das melodische Element kaum über Floskeln und Episoden hinaus zu einer geschlosseneren, fassbaren Form.

Die Klaviere machen das Spiel zunächst mit, in der zweiten Satzhälfte aber wirkt es, als seien sie des rhythmischen Impulses müde. Se erheben sich über Pizzicati und Kastagnetten-Echos mit träumerisch in sich versunkenen, manchmal spieluhrenartigen, dann wieder quasi improvisierenden Abschnitten. Arthur und Lucas Jussen nehmen diese Momente kühl-versonnen, mit perlendem Spiel.

Dass ihre Koordination, ihr Einverständnis, ihre innere Verbundenheit makellos ist, zeigen sie spätestens im ausdrücklich mit Mozart verbundenen – sogar das d-Moll Konzert KV 466 zitierenden – Mittelsatz. Sie präsentieren die Melodie ohne romantischen Anflug, genauso distanziert wie Poulenc sie aufgefasst hat. Das Orchester sprengt bald das „klassische“ Maß und macht klar, dass wir uns nicht mehr am Ende des 18. Jahrhunderts befinden.

Im dritten Satz mit seinem Allegro molto und seinen rhythmischen Verspieltheiten zeigen die Brüder an den Flügeln endgültig, was sie können: Tempo, Agogik, Dynamik, Anschlagsfarbe wirken, als würde ein Geist und ein Gefühl in zwei Körpern agieren. Man wird sich auf die nächsten Auftritte der beiden Niederländer freuen dürfen: am 17. April in Münster, am 12. Juni in Hagen, am 17. Juni in der Philharmonie Essen und am 30. Juni in Köln.

Unter dem Dirigat von Jun Märkl eröffneten die Essener Philharmoniker das Debussy-Jahr – zum 100. Todestag des bahnbrechenden Komponisten der Moderne am 25. März – mit „En blanc et noir“, einem frühen Klavierstück, das von dem englischen Komponisten Robin Holloway 2002 für Orchester bearbeitet wurde. In gewisser Weise ein Missverständnis, denn der Neoromantiker Holloway instrumentiert zwar im Sinne früherer Orchesterwerke Debussys, lässt aber den schon im Titel angedeuteten Willen außer Acht, die Farben zu reduzieren.

Im Bezug auf die barocke französische Musik Rameaus und Couperins und mit Verweis auf die „Grisaillemalereien von Velasquez“ ging es Debussy bei dem 1915 im Krieg entstandenen Werk um Transparenz, Klarheit und eine gewissen Härte, wie sie im Schwarz-Weiß-Gegensatz ausgedrückt wird.

Ungeachtet aller raffinierten instrumentalen Details, von den Philharmonikern (Bassklarinette, Harfe, Horn, Trompete) liebevoll nachgezeichnet, ist es fraglich, ob das Stück so wirklich den „spirit of Debussy“ trifft, wie Holloway meint. Zu hören sind delikate und herbe Momente, von Märkl sorgsam herausgearbeitet, die aber dann doch eher an die wagnerischen und „impressionistischen“ Seiten Debussys erinnern.

Ja, die „Images“, die klangliche Malerei und Koloristik, die Debussy anstrebte, ohne sich die Parallelen zur bildenden Kunst allzu sehr anzueignen oder gar dem „Impressionismus“ als Stil zu huldigen – sie sind ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich Kunst-Debatten führen lassen, um zum Kern der Begriffe vorzustoßen. „Ibéria“ stammt aus den „Bildern“ für Orchester und greift – darin Ravels „Boléro“ verwandt – spanische Instrumente und Elemente der Folklore der iberischen Halbinsel auf, überträgt sie aber in ein kunstvolles Idiom, das jeden Gedanken an ein Imitat verbietet.

Die Essener Philharmoniker geben den „Images“ eine plastische Leuchtkraft, in der die Instrumente vom rhythmischen Tamburin bis zur ätherischen Fraktion von Harfe und Celesta brillieren können. Zum Schluss der „Boléro“: vorhersehbare Begeisterung im Publikum.




Das nahezu Unmögliche wagen mit Girl Crazy und Lulu – Barbara Hannigan dirigiert in Dortmund und singt dazu

Barbara Hannigan dirigiert stets ohne Taktstock. Foto: Pascal Amos Rest

Sie dirigiert ohne Taktstock, ihre Arme reichen weit in den Raum hinein, in ständiger, oft rotierender Bewegung, als drehe sie an einem großen, imaginären Klangrad. Ein wenig hemdsärmelig wirkt das bisweilen, doch überwiegt der Eindruck des steten Fließens im Fortgang der Musik, gespeist aus tänzerischer Körpersprache.

Wenn Barbara Hannigan, exzellente Sopranistin und seit 2010 auch Dirigentin, sich der tönenden Emotionalität hingibt, wird ihre Zeichengebung entsprechend ausladender. Gezielte Einsätze für bestimmte Instrumentengruppen müssen dann der Wirkmacht des Ganzen weichen. Der Sinn für Details ist gleichwohl ausgeprägt, wie auch Hannigan bei stark rhythmisierten Passagen verbindlicher führt, mit kleinteiligerer Gestik.

Im Konzerthaus Dortmund hat nun die kanadische Künstlerin mit der Wunderstimme fürs moderne Fach, mit Sinn fürs Wagnis, ohne klassische Dirigierausbildung für sich das Pult zu erobern, das große Staunen entfacht. Weil Barbara Hannigan den Takt vorgibt und gleichzeitig singt, und dies mit einer kessen Selbstverständlichkeit, die an Chuzpe grenzt. Und weil sie, im Falle von George Gershwins „Girl Crazy“-Suite, reichlich Showtalent beweist, um das Publikum von den Stühlen zu holen. Wobei dringend hinzugefügt werden muss, dass das niederländische Orchester namens Ludwig, ein Klangkörper von gehöriger Qualität, daran beherzt mitwirkt.

„Ludwig”, erst 2012 gegründet, hat in seinem Bestreben, mit außergewöhnlichen Programmen, ja ausgefeilten Konzepten den konzertanten Routinebetrieb aufzubrechen, in Hannigan eine risikofreudige Mitstreiterin gefunden. Und so erklingt in Dortmund zunächst „Syrinx“ für Flöte solo von Claude Debussy, Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ in der Streichorchesterfassung sowie die „Lulu“-Suite Alban Bergs, ehe Gershwins vertraute Songs aufblitzen. Freilich: Alle Werke blicken auf Frauengestalten und deren Geschichten in verschiedenster Couleur, wobei es nicht um Nacherzählung, sondern um die Darstellung emotionaler Befindlichkeiten geht. Und am Ende wissen wir, „Girl Crazy“ ist eines von Hannigans markanten Markenzeichen. Ja, ein wenig verrückt wirkt dieser Abend.

Dabei beginnt alles sehr sanft, geschmeidig, wohltuend ruhig. Ingrid Geerlings gestaltet wunderschön, mit langem Atem und in feiner Differenzierung Debussys Flötenstück um die Nymphe Syrinx, die vor den Nachstellungen Pans flieht, sich in ein Schilfrohr verwandeln lässt, das Pan wiederum zur Flöte formt. Die Musik fließt frei, gewinnt an Dringlichkeit, um sich allmählich zu verlieren. Ganz dunkel ist der Saal, um die mythische Wirkung des Klangs zu verstärken. Magisch, bei aufkeimender Helligkeit, gelingt sodann der nahtlose Übergang zu Schönbergs „Verklärter Nacht“.

Singen und dirigieren zugleich: Barbara Hannigan gibt alles. Foto: Pascal Amos Rest

Auch hier sanfter Beginn, mit einer absteigenden Figur, die indes ziemlich finster wirkt. Abrupte dynamische Wechsel, zunehmendes Tempo, bisweilen aggressiv flirrende Tremoli und harsche Klänge geben dem Stück enorme Dramatik. Dann plötzlich lichtet sich die Szenerie, feine Silberfäden ertönen, eine zunehmend (ungebremste) emphatische Stimmung gewinnt die Oberhand.

Schönberg komponierte pure Emotion, noch weit entfernt von seinen 12-Ton-Konstrukten, im Sinne des Dichters Richard Dehmel. Dessen Versvorlage schildert die Beichte einer Frau, die ihrem Geliebten gesteht, von einem Fremden schwanger zu sein. Ihre Angst schwindet indes, als der Geliebte versichert, das Kind wie sein eigenes aufziehen zu wollen. Das Orchester wiederum kann diesen Schwebezustand zwischen Bangen und Hoffen stark umsetzen, wenn auch mit kleinen rhythmischen Schwächen. „Ludwig” schwelgt in satten und fahlen Streicherfarben, der letzte Zauber der Verklärung aber bleibt uns das Ensemble schuldig.

Umso wuchtiger, von elementarer Kraft, tritt es uns, erweitert um Bläser, Harfe und Schlagwerk, mit Bergs „Lulu“-Suite entgegen. Das fünfteilige Extrakt aus der gleichnamigen Oper atmet sowohl hymnische, dekadente Sinnlichkeit als auch die Düsternis des katastrophischen Finales (Lulu wird von Jack the Ripper erstochen). Inmitten das Lied der Lulu, von Barbara Hannigan mit elastischer, höhensicherer Stimme gesungen.

Doch sogleich wird evident, dass singen und dirigieren eine nahezu unmögliche Kombination ist. Die Bewegungen der Frau am Pult wirken unschlüssig in ihrer Mischung aus Orchesterleitung und Rollencharakterisierung. Mit zumindest einer gravierenden Folge: „Ludwig” ist zu laut, die dynamische Balance stimmt nicht. Das gilt auch für die Gershwins-Songs, obwohl Hannigan sich inzwischen mit Mikroport verstärkt hat. Das Ensemble ist einfach zu pompös besetzt. Bergs Suite kommt im übrigen etwas pauschal daher, manche motivische Facette bleibt unterbelichtet, die Eruptionen überwältigen nicht, sind vielmehr demonstrativ wuchtig.

Aber letzthin läuft sowieso alles auf die Gershwin-Show hinaus, mit dem finalen Hit „I got rhythm“. Dann stilisiert sich die singende Dirigentin zur triumphierenden Hollywood-Ikone, die Hand zum Himmel gestreckt. Fixe Rhythmik, Lautstärke und Pose – das hat noch immer gereicht, das Publikum aus der Reserve zu locken.

Ungeachtet dessen ist Barbara Hannigan eine nicht unbedeutende Symbolfigur für die stärker als zuvor ins Bewusstsein rückende Tatsache, dass viele Frauen entschlossen und mit Erfolg Kurs nehmen auf das Pult vor dem Orchester. In Wuppertal ist Julia Jones Chefin, Joana Mallwitz wird Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg, Mirga Grazinyté-Tyla hat jüngst im Konzerthaus Dortmund mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra eine außergewöhnliche „Pastorale“ dirigiert. Um nur eine klitzekleine Auswahl zu nennen.




Musik aus den Nachkriegsjahren: Sir Simon Rattle und das London Symphony Orchestra im Konzerthaus Dortmund

Sir Simon Rattle ist seit der Saison 2017/18 Music Director des London Symphonic Orchestra (Foto: Pascal Amos Rest)

Tiefer Zweifel und innere Heimatlosigkeit klingen aus mancher Musik, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand. Richard Strauss, verstrickt mit dem nationalsozialistischen Regime, komponierte seine „Metamorphosen“ 1945 in der Schweiz. Seine Heimatstadt München, sein geliebtes Wien, sein verehrtes Dresden lagen da bereits in Schutt und Asche.

Im Sommer 1947 las Leonard Bernstein ein Gedicht von Wystan Hugh Auden, das seiner 2. Sinfonie Inhalt und Titel gab: „The Age of Anxiety“, das Zeitalter der Angst, nahm Gestalt an.

Im Konzerthaus Dortmund spielt das London Symphony Orchestra unter seinem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle zudem Auszüge aus Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“. Brennende, aber unerlöste Sehnsucht, umrahmt vom grüblerischen Pessimismus der beiden Nachkriegswerke: So rundet sich ein intelligent durchdachtes Programm, das der inflationären Flut weihnachtlicher Barock-Konzerte einen wuchtigen Akzent entgegen setzt.

Wehmut ohne jede Süße

Im Stehen spielen die Geiger und Bratscher der Londoner Symphoniker die Strauss-Metamorphosen. Sir Simon dirigiert inmitten der 23 Solo-Streicher, ohne Podest und ohne Taktstock, formt die Musik mit bloßen Händen. Mit den ersten, weltabgewandten Takten der Celli beginnt die Musik zu strömen, transparent und fragil bis zur Brüchigkeit. Uns tönt eine morbide Textur entgegen, eine Wehmut ohne jede Süße, denn die verweigern Simon Rattle und seine Musiker mit bitterer Konsequenz. Aus ist es mit dem Arabella-Schmelz, vorbei jede Rosenkavaliers-Süße. Das alles hat diese Musik weit hinter sich gelassen.

Sir Simon Rattle bei seinem Auftritt im Konzerthaus Dortmund (Foto: Pascal Amos Rest)

Dann leuchtet der Tristan-Akkord auf, schwebt rätselhaft und unerlöst im Raum, jede Bindung an die Tonalität abweisend. Das Orchester, jetzt in großer Besetzung, erfüllt Wagners mystische Nachtmusik mit dunklem, sattem Streicherklang, den die Holzbläser zuweilen durch ein silbernes Leuchten krönen.

Nicht alle Musiker scheinen sofort mitzukommen, als Simon Rattle dieses Drängen und Schmachten mit furios angezogenem Tempo zum nachgerade manischen Höhepunkt treibt. Aber wen kümmert das angesichts dieser schier endlosen Brandung, die schließlich in eine harfenumrauschte Verklärungsmusik mündet, in den Liebestod der Isolde.

Glückssuche in Krisenzeiten

Indes hört die Menschheit auch in Krisenzeiten nicht auf, nach ein wenig Glück und Glaubensgewissheit zu suchen. Davon erzählt Leonard Bernstein in seiner 2. Sinfonie, die sich an diesem Abend als unterschätztes, viel zu selten gespieltes Meisterwerk entpuppt.

Krystian Zimerman spielte im Konzerthaus Dortmund den Klavierpart in Leonard Bernsteins 2. Sinfonie mit dem Titel „The Age of Anxiety“ (Foto: Felix Broede/DG)

Punktgenau und intensiv zeichnet das London Symphony Orchestra ein Psychogramm von vier Personen, die sich während des Krieges in einer New Yorker Bar kennen lernen und versuchen, den miserablen Zeiten zu trotzen. Mäuschenstill wird es im Saal, wenn die Musik in die Abgründe der Seele steigt, wenn wenige Töne genügen für einen großen Trauergesang. Aber es gibt auch kraftvolle Ausbrüche mit Pauken und Blech und Tamtam, eine faszinierende Palette von Klangfarben, die von den Musikern virtuos bedient wird.

Krystian Zimerman, der an diesem Abend den Klavierpart übernimmt, will erkennbar nicht als Solist glänzen. Der polnische Pianist, der das Werk bereits 1986 unter der Leitung von Leonard Bernstein spielte, hat die Partitur ohne Zweifel vollkommen verinnerlicht. Bestechend die tiefe Wahrhaftigkeit seines Ausdrucks, Ehrfurcht gebietend die Grandezza, mit der er Akkorde aufrauschen lässt, hinreißend die fingerfertige Nonchalance, mit dem er durch das jazzige Finale tänzelt. Zimerman, der Purist, der Perfektionist, der Klangfarbenzauberer, sucht den Dialog mit dem Orchester, stellt sich ganz in den Dienst der Sache. Mit einer Zugabe lächelnd an Leonard Bernstein erinnernd, verneigt er sich als Großer vor einem Künstler, der unvergessen bleiben wird.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).

Informationen zum Programm des Konzerthauses Dortmund unter https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/




Musizierfreudiger Dialog statt Duell der Diven: Cecilia Bartoli und Sol Gabetta in der Philharmonie Essen

Die Römerin und die Argentinierin: Cecilia Bartoli (l.) und die Cellistin Sol Gabetta bei ihrem Auftritt mit der Capella Gabetta in der Philharmonie Essen (Foto: Sven Lorenz)

Welch wohltuend stiller Auftritt! Das Licht auf der Bühne verlischt, sobald der Schlussakkord der Ouvertüre verklingt. Im Dunkeln tritt von rechts eine schlanke Frauengestalt auf. Sol Gabetta, die wohl bekannteste Cellistin unserer Tage, setzt sich mit ihrem Instrument bescheiden auf eines der Bühnenpodeste, als sei sie eine Randfigur. Als bräuchte sie den Solistenplatz nicht, der in der Mitte auf sie wartet.

In großer Ruhe stimmt die Cellistin eine Melodie von Antonio Caldara an, dessen Arie „Fortuna e speranza“ aus „Nitroci“ jetzt edle Melancholie in der Philharmonie Essen verströmt. Zögernd bewegt sich Gabetta schließlich doch zum Solistenpodest, während von links eine zweite Frau herein schreitet: Cecilia Bartoli, die derzeit wohl berühmteste Sängerin der Welt.

Das leise Rencontre gibt den Ton vor für einen Barock-Abend, der wenig von einem marktschreierischen „Gipfeltreffen der Stars“ an sich hat. Den Werberummel um die am 10. November veröffentlichte CD mit dem Titel „Dolce Duello“, die im Dezember zu weiteren Konzerten in Berlin und München führt, macht dieser Abend aufs Schönste vergessen. Diese beiden Künstlerinnen führen kein Duell, sondern wundersame Dialoge: Sie singen und spielen einander zu, befeuern sich gegenseitig, verbünden sich in ihrem Bemühen, alle Ausdruckskraft in den Dienst der Musik zu stellen. Im vermeintlichen Primadonnen-Projekt behält die Kunst das Primat.

Gleichwohl erhält das Publikum Gelegenheit, seine Lieblinge zu feiern. Zum Beispiel, wenn die Bartoli in einer Arie aus Hermann Raupachs „Siroe, re di Persia“ temperamentvoll losstürmt, Lebensfreude mit vitaler Attacke verbindet und wie nebenbei ihre virtuose Stimmbeherrschung demonstriert. Sie reiht rasende Läufe zu Girlanden, entwickelt Koketterie im Wechselspiel mit Konzertmeister Andrés Gabetta und lässt ihren Mezzo so lange spielerisch auf einem Ton an- und abschwellen, bis sie sich selbst darüber zu vergessen scheint. Händels berühmte Arie „Lascia la spina“ schwebt bei ihr weltentrückt durch den Raum.

Trio beim Schlussapplaus: Andrés Gabetta, Cecilia Bartoli, Sol Gabetta (von links, Foto: Sven Lorenz)

Als Meisterin der flinken Finger und des fliegenden Bogens triumphiert Sol Gabetta im Cellokonzert Nr. 10 D-Dur von Luigi Boccherini. Ob in höchster Daumenlage oder in weit ausgreifenden Kadenzen: Die Argentinierin spielt einerseits federleicht und flockig, drängt andererseits aber stets mit Verve zum Kern. In den ruhigen Momenten des geschickt zusammen gestellten Programms erfreut ihr Celloton, der in der Höhe gläsern zart sein kann und in der Tiefe herrlich reich und sonor.

Seine ganz eigene Farbe erhält der Abend aber doch durch das Zusammenspiel. Innige Musizierfreude eint Sol Gabetta und Cecilia Bartoli in schönster Selbstverständlichkeit. Funken der Inspiration fliegen von der einen zur anderen. Der Höhepunkt ist mit Luigi Bocccherinis Arie „Se d’un amor tiranno“ erreicht, in dem die Virtuosinnen wechselseitig Vollgas geben, bis sie in schönster Terz-Seligkeit zueinander finden.

Die „Capella Gabetta“ macht das Erlebnis unter der Leitung von Sols Bruder Andrés rund. Wer hätte gedacht, dass der „Tanz der Furien“ aus Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ wie eine Vorausahnung von Mendelssohns stürmischer Hebridenouvertüre klingen könnte? Dann wieder funkeln die Klänge der Laute und des Cembalos so zart durch die Klage der Inomenia aus Domenico Gabriellis „San Sigismondo, re di Borgogna“, dass im Saal gebannte Stille herrscht. Vier Zugaben, frenetischer Jubel.

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen).

Weitere Termine der Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ in der Philharmonie Essen unter http://www.philharmonie-essen.de/abonnements/abo-8-alte-musik.htm) 




Entschieden und energisch: Der Pianist Saleem Ashkar beginnt in Duisburg einen Beethoven-Zyklus mit den 32 Klaviersonaten

Ludwig van Beethoven zu Zeiten der "Eroica". Gemälde von W.J. Mähler (1804).

Ludwig van Beethoven zu Zeiten der „Waldstein“-Sonate und der „Eroica“. Gemälde von W.J. Mähler (1804).

Unerbittlich rückt es näher, das Beethoven-Jahr 2020, und es steht zu befürchten, dass die nicht eben rudimentäre Beschäftigung mit dem populären Titanen noch intensiver und raumgreifender wird. Andere Komponisten hätten den Jubiläumsrummel nötiger, bekommen ihn aber nicht, weil sie aus Marketing-Gesichtspunkten nicht viel hergeben.

Wer möchte sich schon, um ein Beispiel zu nennen, 2019 mit Franz von Suppé befassen, wenn mit Jacques Offenbachs 200. Geburtstag ungleich mehr Aufmerksamkeit zu erhoffen ist? Nach Wagner und Verdi 2013 wird Beethovens 250. Geburtstag also der nächste musikalische Mega-Event, auch wenn sich im nächsten Jahr zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag schon die Feuerwerker in Stellung gebracht haben und mit Claude Debussy (100. Todestag) das Rampenlicht auf eine nicht eben unattraktive musikalische Persönlichkeit fällt.

Nun kann man – wie, glaube ich, Hans Knappertsbusch gesagt hat – Beethoven nie genug studieren. Ob es die Streichquartette sind, die Symphonien, die rätselhaften Spätwerke oder die Klaviersonaten: Immer wieder gibt es Neues zu entdecken. Es ist wie bei einem wertvollen Buch: Man liest es in jedem Lebensabschnitt, vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Welt, der eigenen inneren Entwicklung, des persönlichen Erlebnishorizonts immer wieder anders, überraschend, erkenntnisreich.

Musik im politischen Konfliktfeld – bis hin zum Krieg

Saleem Ashkar im Lehmbruck-Museum in Duisburg. Foto; Gregor Willmes/C. Bechstein

Saleem Ashkar im Lehmbruck-Museum in Duisburg. Foto; Gregor Willmes/C. Bechstein

Der Pianist Saleem Ashkar hat recht, wenn er die weltanschauliche Dimension der Klaviersonaten hervorhebt und schreibt, mit seinem Schaffen habe Beethoven „stets eine aktive Teilhabe an den politischen und sozialen Veränderungen seiner Umgebung“ impliziert.

Ashkar, der aus Nazareth stammt, weiß besser als die Zöglinge abgeschotteter Eliteschulen, was es bedeutet, wenn sich Musik in Konfliktfeldern heutiger Politik – bis hin zum Krieg – behaupten muss. Er hat Beethoven in muslimischen Dörfern, christlichen Kirchen und säkularen Konzertsälen gespielt. In solchen Situationen wächst Beethoven eine sicherlich außermusikalisch initiierte, aber in der Musik sich spiegelnde Kraft zu.

Acht Sonaten-Abende bis Mitte 2019

So könnte die Befassung mit Beethoven 2020 unter Umständen über den Marketing-Glamour und die Wiederholung des Immergleichen Bedeutung, ja Brisanz erhalten. Die Duisburger Philharmoniker, ihrer Zeit voraus, haben mit einer klassischen Aufführungsform schon jetzt den Blick auf Beethoven gerichtet: Saleem Ashkar hat im Lehmbruck-Museum in Duisburg den ersten von acht Abenden eines über zwei Spielzeiten bis Mitte 2019 gespannten Zyklus‘ gespielt. Alle 32 Klaviersonaten mit Opuszahlen werden erklingen – die drei Bonner „Kurfürstensonaten“ bleiben leider ausgespart, was sich mit einem flankierenden Konzert vielleicht ändern ließe, nicht zuletzt, um zu erfahren, dass auch ein „Genie“ nicht vom Himmel fällt.

Der erste Abend des Beethoven-Zyklus' mit Saleem Ashkar. Die Skulpturenhalle des Lehmbruck-Museums als stimmungsvoller Konzertraum war ausverkauft. Foto: Gregor Willmes/C. Bechstein

Der erste Abend des Beethoven-Zyklus‘ mit Saleem Ashkar. Die Skulpturenhalle des Lehmbruck-Museums als stimmungsvoller Konzertraum war ausverkauft. Foto: Gregor Willmes/C. Bechstein

Ashkar wählt in der Skulpturenhalle des Museums keinen chronologischen Weg. Im ersten Konzert beginnt er zwar mit der ersten Sonate (op. 2/1), geht dann über zwei Sonaten, die fantasieartige Charakterzüge tragen, zu einem Höhepunkt des mittleren Schaffens Beethovens, zur „Waldstein“-Sonate aus dem Jahr 1804. Die großen Schlusspunkte op. 109 bis 111 setzt er erst in den folgenden drei Konzerten dieser Saison.

Wollte man Ashkars Zugriff auf Beethoven kurz beschreiben, wären die Begriffe Energie, Entschiedenheit, Unbedingtheit geeignet. Der 41-Jährige ist erfahren genug, jugendliche Unbekümmertheit hinter sich zu lassen. Aber er strebt auch noch nicht in die abgeklärten Regionen hinter einer langen Lebensgeschichte mit Beethoven. Das Grübeln, das feinsinnige Modellieren, die Freiheit ergrauter Souveränität oder des alten Haudegens sind seine Sache nicht. Er macht den Eindruck eines Kämpfers, der sich mitten im Getümmel seinen Weg bahnt.

Kraftvolle Entschiedenheit, zielsicheres Timing

Das kleidet seinen Vortrag in die Aura einer kraftvollen Entschiedenheit, die nicht dröhnt, aber sich auch nicht an jedem Detail aufhält. In der Sonate Nr. 13 (op. 27/1) etwa sind die Synkopen des dritten Satzes kräftig akzentuiert, ist der drängende Rhythmus im Bass herausgestellt, stürmt das abschließende Presto mit einer ungeheuren Sogwirkung dahin, sind die oktavierten Fortissimi und die Fanfaren groß und frei formuliert, bricht das Tempo in Richtung Coda los. Ashkar schafft Beziehungen durch das Timing, steuert den Höhepunkt, der nicht das Ende ist, es aber signalisiert, zielsicher an.

Auch der e-Moll-Sonate Nr. 27 (op. 90) gibt er in den „lebhaften“ Momenten einen Zug des Drängenden, der inneren Dynamik, kann aber auch loslassen und die Anspannung lösen, ohne die Spannung zu verlieren. Das sind zumal auf dem Bechstein-Flügel bezwingende Momente, in denen die runde, milde Klanglichkeit des Instruments vorteilhaft wirkt.

Zwischen Suggestion und Belanglosigkeit

In der „Waldstein“-Sonate (op. 53) freilich wendet sich Ashkars ungestüme Energie gegen eine subtilere Sicht auf musikalische Vorgänge. Die weitreichenden Modulationen des ersten Satzes gehen im brillanten Tempo unter – wobei Ashkar zwischen dem „con brio“ des ersten und dem Prestissimo des letzten Satzes ohrenscheinlich keinen Unterschied macht. Der Anfang mit seinen Pianissimo-Achtelrepetitionen baut keine Spannung auf, das „dolce e molto legato“-Thema ist weder ausgesponnen noch führt Ashkar es über die lapidare Aussage der Töne hinaus.

Die Erregung gießt sich in brillante Verläufe, ohne Kontraste, ohne rhetorischen Akzent. Das ist ungeheuer virtuos – und der spontane Beifall zeigt die suggestive Wirkung. Aber musikalisch bleibt dieser Satz seltsam belanglos, so als gehöre er einem jener Fingervirtuosen der Beethoven-Zeit. In den gelösten Akkordfiguren des zweiten und dem schon an Schubert erinnernden Beginn des dritten Satzes ist Ashkar wieder eher dabei, der Musik Gewicht und Kontur zu geben.

Auch die Erste Sonate (op. 2/1) könnte in vielfältigeres Licht getaucht werden: Die Aufstiegs-Abstiegs-Motivik der ersten acht Takte nimmt er eher beiläufig wahr, arbeitet den dynamischen Bogen nicht heraus. Der Bass wirkt eher zufällig, die wiederkehrenden Miniaturtriolen erscheinen flüchtig formuliert. Ashkar lässt sich zu wenig Zeit; im zweiten Satz fehlt dem cantabile der Atem. Die Triolenbewegungen im vierten Satz bleiben – eine Schwäche des Raumes? – verschwommen, aber im Menuett und dem raschen Tempo des Finales zeigen sich Ashkars Stärken: Drive und innerer, in Bewegung gegossener Drang.

Der zweite Beethoven-Sonatenabend am Mittwoch, 21. Februar 2018, umfasst die Sonaten Nr. 2, 12, 24 und 31. Info: www.duisburger-philharmoniker.de, Karten: Tel. (0203) 283 62 100.

 




Er kann’s noch! – Gerhard Polt und die Well-Brüder in Dortmund

Er kann’s noch. Und wie! Wenn er – scheinbar leutselig – von seinem Nachbarn (mit leicht verächtlichem Tonfall: „ein Künstler“) erzählt, der sich nicht an die im Viertel geltende Grillverordnung hält, dann muss man zwar lachen, aber es könnte einem auch kalt den Rücken herunterlaufen, so gemütlich-gefährlich wirkt dieser überwachwütige Mann.

Weisheit und Witz: Gerhard Polt. (Foto: Mario Riener)

Weisheit und Witz: Gerhard Polt. (Foto: Mario Riener)

Ja, wir reden von Gerhard Polt, der jetzt im feinen Rahmen des Dortmunder Konzerthauses mit famoser musikalischer Begleitung auftrat. Die drei „Well-Brüder aus’m Biermoos“ beherrschen nicht nur alle möglichen Instrumente von der Querflöte bis zum Alphorn, sie überschreiten auch spielerisch manche Gattungsgrenzen zwischen gehobener Folklore, Jazz und Klassik. So dargeboten, ist das bajuwarische Musikidiom durchaus satisfaktionsfähig – auch international, etwa im ebenbürtigen Dialog mit schottischem Folk.

Wie soll man Polt eigentlich nennen? Einen Comedian? Ist er nicht. Einen Satiriker? Naja, vielleicht auch. Einen Volkskünstler im besten Sinne? Das schon eher. Polt ist eben Polt und sucht Seinesgleichen. An der eigentlich müßigen Benennungsfrage beißt man sich eh die Zähne aus.

Solche Sätze über finstere Gepflogenheiten muss man jedenfalls erst einmal hinbekommen: „Das Köpfen ist doch ein alter Hut…“ Oha!

Wie scheinbar arglos er dann von der Leber und gleichsam vom Leberkäs weg redet. Wie er den gütigen Großvater gibt, der seinem Enkel („Bubi“) die rechte „Demokratie“ beibringen will, die selbstredend von strikter Leitkultur und Schlimmerem geprägt ist. Die möglichen Folgen sind am Ende sogar dem Opa nicht mehr ganz geheuer: Was bastelt der Bub da drüben eigentlich mit seinem Freunden? Es wird doch nichts Brennbares oder Explosives sein?

Gerhard Polt (2. v. li.) und die hochmusikalischen Well-Brüder. (Foto: HP Hösl)

Gerhard Polt (2. v. li.) und die hochmusikalischen Well-Brüder. (Foto: HP Hösl)

In all dem erweist sich Polt als Meister der haarfein unterschiedenen Tonfälle, auch wenn diese selbst schon mal grob ausfallen. Der ins Groteske ausgreifende Duktus eines indischen Bischofs, der in der bayerischen Diaspora den fast schon verschwundenen Katholizismus wiederbeleben soll, steht ihm ebenso zu Gebote wie ein afrikanischer Wechselgesang, der ihn zum überraschend grazilen Tanz animiert. Fast scheint es so, als ob er frohen Sinnes schwebe.

Ist Gerhard Polt (Jahrgang 1942) etwa milder, gelassener und toleranter geworden? Manchmal könnte es einem so vorkommen. Zwar gibt’s im Programm ein paar „Spitzen“ gegen die Herren Seehofer und Söder, doch die muten relativ harmlos an. Man muss ja auch nicht allweil „draufhauen“, das Subtilere geht wahrscheinlich mehr unter die Haut und ins Hirn. Beispielsweise mit der Nummer, in der Polt als – mh, nun ja – irgendwie ein bisschen arg korrupter Landrat vorstellig wird.

Um das Publikum eingangs einzustimmen, haben sich Polt und die Well-Brüder (via Google?) mit ein paar Dortmunder Gegebenheiten vertraut gemacht. Sie wollen halt der „Perle am Ufer des Phoenixsees“ gerecht werden, streuen ein paar fußballerische Bemerkungen ein und versichern aber so was von glaubhaft, dass das Dortmunder Publikum deutlich besser sei als jenes in Gelsenkirchen.

Später haben wir dann – mindestens ebenso glaubhaft – gelernt, dass der ruhmreiche Händel einst durchs vielfach angepriesene oberbayerische Örtchen Hausen (Heimat der Well-Brüder) gereist sei und daselbst flugs eine „Feuerwehrmusik“ komponiert habe, die nun zum 125jährigen Jubiläum der Freiwilligen Feuerwehr zu Gehör gebracht wird. Ein Schlawiner, dieser Händel. Oder hat jemand Einwände?

Langer und herzlicher Beifall.

Und wohin kommen sie noch auf ihrer Tournee? Hier kann man nachschauen: https://polt.de/termine/




Im Dienste der Deutlichkeit: Christoph Eschenbach dirigiert Bruckners Siebte in der Philharmonie Essen

Anton Bruckners monumentale Sinfonien fordern neben einem souveränen formalen Überblick von Orchestern und Dirigenten, sich in der Dynamik eisern zu disziplinieren. Zu verführerisch verleiten die Blechbläser-Batterien dazu, mit Bravour und Bombast abgefeuert zu werden. Dann ist das Fortissimo schnell zu laut und verdirbt den überlegten Aufbau eines dynamischen Spannungsbogens.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Dieser Verlockung hat Christoph Eschenbach in der Essener Philharmonie bei seinem Konzert mit dem SWR Symphonieorchester in Anton Bruckners Siebter Symphonie erfolgreich widerstanden. Auch seine Tempi bezeugen, dass er sich intensiv mit Fragen der Interpretation befasst hat.

Bruckner gibt oft eher Stimmungs-Hinweise als tatsächliche Tempoangaben, und wer „sehr schnell“ und „sehr langsam“ allzu wörtlich nimmt, gerät in Extreme, die der Musik nicht gut tun. Eschenbach neigt zum Langsamen, aber nicht, um die Musik mit Pathos aufzuladen, sondern um Bruckners Streben nach „Deutlichkeit“ zu erfüllen.

Der Klang des aufgrund heftig umstrittener, von vielen als skandalös eingeschätzter Kürzungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk 2016 neu formierten Orchesters kommt dem entgegen: Das wundervolle Cello-Thema des Beginns löst sich aus dem sehr sachlich gefassten „Urnebel“ der Violinen schwerelos atmend, der Zwischensatz lässt plastisch kontrapunktische Arbeit hervortreten.

Die Balance zwischen den Streichern und dem ausgezeichneten, wenn auch in der Philharmonie eher hart als füllig wahrnehmbaren Blech stimmt. Bruckners thematische Scharniere bewegen sich gut geölt und sind hörend nachvollziehbar. Eschenbach nimmt immer wieder zurück, so dass der Einsatz des dritten Themas wirklich leise erfolgen kann.

Statt nebulöser Ausdrucksmusik bietet Eschenbach im „sehr feierlichen“ zweiten Satz klare Entwicklungskonturen. Die Wagner-Tuben haben ihren düster grundierten Auftritt, die Streicher zeichnen mit einem Motiv aus Bruckners „Te Deum“ ein mild-tröstliches Gegenbild. Erst jetzt, in gigantischer Steigerung nach C-Dur, entfesselt Eschenbach großartig das dreifache Fortissimo. Im dritten Satz betont er die strukturelle Funktion des Trompetensignals zu Beginn; der oft kritisierte vierte Satz zeigt in solcher Durchleuchtung, dass er sich vor den anderen nicht verstecken muss. Reizvoll ist, wie Eschenbach hier, aber auch schon am Ende des ersten Satzes, die klangliche Nähe zu Wagner demonstriert.

Eröffnet wurde das Konzert mit Mozarts A-Dur-Klavierkonzert, in dessen Allegro-Satz sich Christopher Park mit wattiertem Klang und manchmal hastiger Artikulation nicht glücklich einführt. Aber je dichter das Geflecht von Solist und angemessen luftig agierendem Orchester wird, desto klarer und klangsinniger lässt Park die melodischen Erfindungen Mozarts sprechen. Den Mittelsatz spielt er weltverloren wie ein Chopin-Nocturne, romantisch-sensibel im Anschlag, mit stets spannend erfüllter Linie. Im lebhaften Finalsatz fallen wieder nicht deutlich genug ausgeformte Passagen auf. Originell: Für die Zugabe treten zwei Musiker aus dem Orchester und spielen mit dem Pianisten zusammen einen Satz aus Mozarts „Kegelstatt“-Trio.

Bemerkungen zur Fusion der SWR-Orchester

Die von der Musikwelt heftig bekämpfte Fusion der beiden früheren SWR-Orchester in Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg, vom 2016 wiedergewählten Intendanten Peter Boudgoust forciert und vom Rundfunkrat abgenickt, wurde koordiniert vom früheren Intendanten der Essener Philharmonie, Johannes Bultmann. Er ist seit Januar 2013 „künstlerischer Gesamtleiter“ der Klangkörper und Festivals des Südwestrundfunks.

Teodor Currentzis in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Teodor Currentzis in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Im April 2017 ist es Bultmann gelungen, den „Dirigenten des Jahres“ 2016, Teodor Currentzis, als ersten Chefdirigenten des fusionierten Orchesters zu verpflichten. Currentzis, der von kurzem erst im Dortmunder Konzerthaus und in Baden-Baden Giacomo Puccinis „La Bohème“ dirigiert, lässt sich auf der Webseite des SWR zitieren, es sei für ihn von besonderer Bedeutung, „den Reichtum beider Ensemble-Traditionen aufzugreifen und das neue Orchester aus dem Besten der beiden Klangkörper zu gestalten“. Zu Beginn der Spielzeit 2018/19 wird er sein Amt antreten; zuvor, am 21. Januar 2018, dirigiert er in Freiburg bereits Bruckners Neunte.

Die 1945 und 1946 – wahrlich nicht in finanziell üppigen Zeiten – gegründeten Orchester hatten unter renommierten Chefdirigenten in jahrzehntelanger Arbeit unterschiedliche Profile entwickelt; das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg etwa prägte sich aus zum gefragten Klangkörper für Uraufführungen und zeitgenössische Kompositionen. Der Musikjournalist Gerhard Rohde kommentierte 2013: „Die von Intendanz und Hörfunkdirektion des Senders in die Wege geleitete Fusion mit dem Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester wird beide Klangkörper in ihrer künstlerischen Eigenart und spezifischen Qualität auslöschen.“

Mag sein, dass Currentzis der richtige Mann ist, um aus dem traditionslosen Orchester etwas Neues zu formen, das künstlerisch Bestand hat. So scheint es jedenfalls Bultmann zu sehen: „Teodor Currentzis hat neue Ensembles gegründet, geformt und in kürzester Zeit international künstlerisch an die Spitze geführt.“




Ein Ruhri als Arbeitsmigrant in Istanbul – burlesker Musikabend des Bochumer Schauspiels mit Liedern von Sezen Aksu

Im Dolmus, dem speziellen türkischen Sammeltaxi, kommen sich die Menschen sehr nah. Ensembleszene aus „Istanbul“. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Schummrig glimmende Messinglampen, dicke Teppiche, im Hintergrund die Blaue Moschee: ganz klar, der Orient.

Umrahmt indes wird die orientalische Szenerie vorne, links und rechts von voll besetzten Biertischen und –bänken, und käme im nächsten Moment eine blonde Resi Maßkrüge stemmend um die Ecke, wunderte es einen nicht. Man ahnt, dass hier Kulturen aufeinanderstoßen werden, und liegt damit natürlich richtig.

Türkische Künstlerin

„Istanbul“ heißt das Stück von Selen Kara und Torsten Kindermann, in dem es meistens laut und lustig zugeht und in dem es viel Musik zu hören gibt – Premiere im Kleinen Haus des Bochumer Theaters.

Zu hören sind an diesem Abend Lieder der türkischen Sängerin Sezen Aksu (Jahrgang 1954). Sie ist in der Türkei seit Jahrzehnten ein Star, singt von Sehnsucht, Liebe, Trauer, Verlust. Im Jahr 1990, verrät uns das Internet, gab es eine Zusammenarbeit mit Udo Lindenberg, dennoch dürfte die Künstlerin in Deutschland nur wenigen bekannt sein. Diesem Defizit mit einem Liederabend zu begegnen, ist somit ein löbliches Unterfangen.

Wie sagt man, daß man Kaffee lieber mag als Tee? Aufmerksame Barkeeper und sprachunkundiger Gastarbeiter (von links): Koray Berat Sari, Torsten Kindermann, Gregor Hengesbach, Jan Sebastian Weichsel, Roland Riebeling. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Die Rahmenhandlung spielt mit einer Fiktion. Wie wäre es, wenn die türkisch-deutsche Arbeitsmigration umgekehrt verlaufen wäre? Wenn nicht Türken zum Broterwerb nach Deutschland hätten kommen müssen, sondern Deutsche in die Türkei, vor allem nach Istanbul, Boomtown am Bosporus?

Klaus Gruber, VfL-Fan aus Bochum, ereilt dieses Schicksal. Die entwürdigende medizinische Untersuchung erklärt ihn für tauglich, und in einem Ort namens Börök bekommt er Arbeit. Klaus (Roland Riebeling) versteht kein Wort Türkisch, seine Behausung ist winzig, seine Arbeit eine Knochenmühle, immerzu muss er, der notorische Kaffeetrinker, Tee trinken, und erotischen Offerten beiderlei Geschlechts – schließlich ist er verheiratet – muss er entschlossen widerstehen. Doch Klaus schluckt all das, schickt Geld nach Hause, schwört sich und allen, die es hören wollen, dass er das höchstens zwei Jahre macht.

Klaus‘ Frau kam nach

Bekanntlich kam es anders für die Männer und Frauen der „ersten Generation“. Die neue Heimat haben sie nicht gewonnen, die alte aber Stück um Stück verloren. Irgendwann ist Klaus’ Frau Luise (Tanja Schleiff) nachgezogen, und als Rentner sitzen sie immer noch in Istanbul. Obwohl Klaus in Bochum ein Haus gebaut hat, blau-weiß angestrichen, mit Wintergarten. Anfang und Ende der Handlung ist übrigens eine Beerdigungsszene, in der die Hinterbliebenen darüber streiten, wo Klaus’ Urne denn nun vergraben werden soll.

Neben Klaus und Luise wirken eine türkische Geliebte (Raphaela Möst), ein Barkeeper (Martin Weigel) und ein Dolmetscher (Daniel Stock) mit, und alle fünf singen sie abwechselnd Lieder von Sezen Aksu. Begleitet werden sie von einer Viermannkapelle (Gregor Hengesbach, Torsten Kindermann, Koray Berat Sari, Jan-Sebastian Weichsel), die sich auch, wie man spätestens bei der Zugabe hören wird, mit hartem Rockgeschrammel recht gut auskennt. So viel zur Konstruktion dieser eher schlicht gestrickten Zweistundenproduktion.

Klaus (Roland Riebeling) auf seinem Teppich. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Selbstgemachtes Musiktheater hat in Bochum Tradition. Ein sehr erfolgreicher Johnny-Cash-Abend mit Thomas Anzenhofer in der Titelrolle stand während der Intendanz Anselm Webers jahrelang auf dem Programm. Auch hier verantwortete Torsten Kindermann das musikalische Konzept. Wahrscheinlich hoffen er und die anderen „Istanbul“-Verantwortlichen – zu nennen wäre noch Regisseur Selen Kara, der zusammen mit dem Texter Akin E. Sipal die Fassung dieses Stücks schuf – auf einen ähnlichen Erfolg.

Doch wirklich überzeugend geraten die Musikbeiträge hier nicht. Die eher burleske Darbietung auf der Bochumer Bühne (Thomas Rupert) unterscheidet sich nachteilig vom stilvollen, intensiven Vortrag der türkischen Diseuse.

Auch die musikalische Begleitung gerät zu derb, lässt mit lautem Trommeln eher an den Balkan-Sound eines Emir Kusturica denken. Subtile „orientalische“ Klänge hingegen, die, wenngleich sparsam gesetzt, den Reiz der Lieder von Sezen Aksu zu einem nicht geringen Teil ausmachen, sind Sache dieser Musikanten nicht. So wie in Bochum vorgetragen, klingen die Lieder auch deshalb bald schon einförmig, und ungeduldig harrt man des Fortgangs der Handlung.

Keiner versteht Ruhri-Deutsch

Nun, trotzdem bleibt es vergnüglich, und das ist vor allem Roland Riebeling als Gastarbeiter Klaus zu verdanken. Mit Mutterwitz ist er gesegnet, die Sprache des Reviers ist ihm vertraut, und mit gutem Gespür für die rechte Balance von Tragik und Komik arbeitet er auch die traurigen Valeurs des Gastarbeiterschicksals heraus: Ein armer Ruhri, dessen Ruhri-Sprache keiner versteht und der in seiner existentiellen Not unser Mitleid erregt. Auch die anderen vier Mitspieler wissen zu überzeugen, wenn die Inszenierung ihnen dazu die Gelegenheit gibt. Alle arbeiten sie hoch präsent und mit beeindruckendem Körpereinsatz.

Das Publikum bejubelte „Istanbul“ am Premierenabend frenetisch. Auch zu Silvester, wenn das Schauspielhaus mit Doppelvorstellungen in beiden Häusern maximales Programm bietet, ist das Stück im Angebot. Spaßtheater zum Jahreswechsel, warum auch nicht. Die Sängerin Sezen Aksu indes sollte man sich im Original anhören. Im Internet geht das problemlos.

 




Händels Heldinnen: Die Mezzosopranistin Magdalena Kožená und das Venice Baroque Orchestra in der Philharmonie Essen

Aus Brünn (Brno) stammt die Mezzosopranistin Magdalena Kožená (Foto: Mathias Bothor/DG)

Die Gemeinde ist versammelt. Parkett und erster Rang der Philharmonie Essen sind gut gefüllt mit den Liebhabern der Barockmusik, die gekommen sind, um in der Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ Arien von Georg Friedrich Händel zu hören. Gehustet wird wenig. Im gedämpften Licht regiert feierliche Andacht.

Wie viele Zuhörer mögen während des eröffnenden Orchesterstücks heimlich auf den „Star des Abends“ warten, auf die Mezzosopranistin Magdalena Kožená? Dabei haben die Musiker doch einen ebenbürtigen Anteil an diesem Konzert, das im Wechsel von Arien, Ouvertüren und Concerti Grossi seinen Lauf nimmt. Das Venice Baroque Orchestra unter dem Dirigenten und Cembalisten Andrea Marcon ist ein vielfach ausgezeichnetes Spezialensemble und begleitet auf authentischen Instrumenten immer wieder berühmte Solisten.

Bis Ende November sind die Italiener mit der 1973 in Brünn geborenen Sängerin auf Tour. Essen erlebt das erste von fünf Konzerten, die noch in Bordeaux, Berlin und zweimal in Bratislava stattfinden werden. Auszüge aus den Opern „Agrippina“, „Rinaldo“, „Giulio Cesare in Egitto“, „Ariodante“ und „Alcina“ stehen auf dem Programm, im sorgsam bedachten Wechsel der so genannten Affekte, mithin der Gemütsbewegungen und Leidenschaften von Händels Heldinnen.

Das Glück ist nur ein Zaungast

Verletzter Stolz also, Rachefuror, Sehnsucht, Klage. Das Glück scheint ein Zaungast an diesem Abend, der überwiegend der tönenden Ausstellung seelischer Schmerzen gilt. Diese malt die Kožená mit virtuosen Läufen aus, die nicht der Attacke entbehren. Ihre Mittellage ist warm und wohlklingend, und wenn sie von dort in die tiefsten Register ihrer Stimme rauscht, in der rasenden Fahrt der Sechzehntel-Ketten, mag ihr Mezzo zwar an Durchschlagskraft verlieren, nicht aber an emotionalem Ausdruck. Die Höhen flammen bei ihr hell, aber die innige Bitte der Agrippina („Ogni vento“) nimmt sie in äußerstes Pianissimo zurück, durchwirkt von den mild funkelnden Klängen des Cembalos.

Natürlich dürfen virtuoser Prunk und kunstvolle Auszierungen bei solchem Händel-Fest nicht fehlen. Wer darüber hinaus hören möchte, entdeckt mehr: zum Beispiel die fahlen, vibratolos angesetzten Töne, die Magdalena Kožená anschwellen, ja aufblühen lässt. Die beinahe schon gestöhnten Laute des Leidens, mit denen sie als „Agrippina“ ihre quälenden Gedanken beklagt, und die packende Theatralik, mit der sie diese Szene gestaltet: nahezu losgelöst von Metrum oder Takt, wie nach Gutdünken (ad libitum) über dem Geschehen schwebend.

Das Venice Baroque Orchestra gibt der Sängerin Bühne und Kulisse, oft auch rhythmischen Drive. Nur gelegentlich wirkt das charakteristische Wetteifern der Instrumentengruppen in den Concerti Grossi zu routiniert.

Welche Exzellenz da am Werke ist, wird gleichwohl spürbar, wenn die Solo-Violinen sich wechselseitig in barocken Esprit spielen, die Oboen-Soli elegische Wehmut verströmen und ausgerechnet das oft so schwerfällig klingende Fagott der Sopranistin wieselflink in Koloraturketten folgt. Andrea Marcon, der dirigiert und zugleich im Stehen Cembalo spielt, ist Impulsgeber, Strippenzieher und Spiritus Rector dieses Abends.

Die offizielle Website der Künstlerin findet sich hier: http://www.kozena.cz/en. Weitere Konzerttermine der Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“ sind hier aufgelistet: http://www.philharmonie-essen.de/abonnements/abo-8-alte-musik.htm




Zum Tode verurteilt: Stefan Herheim verlegt Wozzeck an der Rheinoper in die Todeszelle

Fotos: © Karl Forster/Deutsche Oper am Rhein

Ein drastisches Szenario hat sich Regisseur Stefan Herheim für seinen Wozzeck an der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg ausgedacht: Er verlegt Alban Bergs Oper nach dem Schauspiel von Georg Büchner in die Todeszelle.

Doch der Ansatz scheint folgerichtig, denn die tragische Geschichte des Woyzeck bzw. Wozzeck (ein banaler Lesefehler war wohl der Grund für die unterschiedliche Schreibweise von Schauspiel und Oper) geht auf einen authentischen Fall zurück: „Der 45jährige Johann Christian Woyzeck wurde öffentlich am 27. August 1824 auf dem Marktplatz zu Leipzig durch das Schwert hingerichtet – drei Jahre nachdem er seine fünf Jahre ältere Geliebte Johanna Christiane Woost abends um halb zehn im Hauseingang ihrer Wohnung mit einer abgebrochenen Degenklinge erstochen hatte, an die er nachmittags noch einen Griff befestigen ließ“, erläutert Alexander Meier-Dörzenbach, Dramaturg der Inszenierung im Programmheft.

Das Besondere an dieser historischen Gerichtsverhandlung allerdings war, dass unter Erstellung verschiedener medizinischer Gutachten nahezu zum ersten Mal auch die Frage der verminderten Schuldfähigkeit durch psychische Instabilität erörtert wurde. Woyzeck selbst half das nichts mehr, denn der Richter konnte damals nicht überzeugt werden, doch die Gesellschaft war sich der Legitimität einer Tötung von Staats wegen nicht mehr ganz sicher. Und wie sieht das heutzutage aus? In Zeiten, wo beispielsweise in der Türkei die Wiedereinführung der Todesstrafe droht?

Fotos: © Karl Forster/Deutsche Oper am Rhein

Stefan Herheim nimmt sich als Vorbild allerdings die USA: Der Bühnen- und Kostümbildner Christof Hetzer hat einen klinischen Hinrichtungs-Raum mit dem charakteristischen Sichtfenster für die Zeugen auf die Bühne gestellt, in der Mitte Wozzeck festgeschnallt auf der Todespritsche. Er, Marie und sein Freund Andres tragen rote Häftlingskleidung. Der Hauptmann sowie der gesamte Militärapparat sind zu Gefängniswärtern geworden, während sich der Doktor als Gefängnisarzt nahtlos in die Tötungsmaschinerie einfügt. Die Opernhandlung entfaltet sich dann in einer Art Rückblende, die erzählt, wie es zu dem Verbrechen kam, dessen Strafe nun vollstreckt werden soll.

Alban Bergs Musik, grandios gespielt von den Düsseldorfer Symphonikern unter der Leitung von Axel Kober, spiegelt die ganze Zerrissenheit, Gehetztheit und Zuspitzung des psychischen Ausnahmezustands der Hauptfigur wieder: Herumgeschubst vom Hauptmann und vom Arzt zu unangenehmen medizinischen Versuchen gedrängt, muss der arme Soldat Wozzeck auch noch mit ansehen, wie seine Verlobte Marie mit dem geckenhaften Tambourmajor fremdgeht. Da dreht er durch: Er ermordet Marie und ertrinkt selbst bei dem Versuch, die Tatwaffe aus dem See zu fischen.

Fotos: © Karl Forster/Deutsche Oper am Rhein

Die Titelpartie gestaltet Bo Skovhus musikalisch und schauspielerisch hervorragend und wird dafür mit Standing Ovations belohnt: Doch auch Camilla Nylund als Marie und Matthias Klink als Hauptmann sowie Sami Luttinen als Arzt spielen ihre Rollen psychologisch dicht und singen so eindringlich, dass all die Seelennöte, Abgründe und Getriebenheiten offen zutage treten – bis an die Schmerzgrenze.

Die Todeszelle sollen sie dabei die ganze Zeit nicht verlassen; selbst Maries Vergewaltigung durch den als Cowboy ausstaffierten Tambourmajor (Corby Welch) findet auf der Pritsche des Verurteilten statt. Erst gegen Ende räumen die Zeugen hinter der Glasscheibe ihren distanzierten Platz und kommen nach vorne an die Rampe. Doch der Sündenbock steht ohnehin schon fest: An Wozzeck wird das Exempel statuiert, da kann er noch so wüten in seinem Knast, er ist zum Tode verurteilt und alle anderen sehen bei seiner Hinrichtung zu.

Karten und Termine:
www.operamrhein.de