Festspiel-Passagen VIII: Zwischen Carmen-Leid und Händel-Leidenschaft

Die Zeit der sommerlichen Festivals ist vorüber, der Alltag erwartet uns wieder. Vorbei die letzte Vorstellung des früher ungeliebten, jetzt mit Wehmutstränen verabschiedeten Bayreuther „Tristan“ Christoph Marthalers; vorbei die Dernière des begeistert gefeierten Herheim-„Parsifal“, dessen Absetzung immer noch unverständlich ist, denn so wird das Wagner-Jahr 2013 am Hügel ohne das Stück gefeiert, das Wagner für das Festspielhaus geschrieben hat. Das Bayreuther Festspielorchester nebst Chor und Solisten war gefeierter Gast in Barcelona, um dem krisengeschüttelten Spanien mit erlösungsschwangeren Wagner-Klängen die Wunden zu salben.

Stefan Herheims "Parsifal"-Inszenierung lief heuer zum letzten Mal. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Stefan Herheims "Parsifal"-Inszenierung lief heuer zum letzten Mal. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Salzburg hat den ersten Pereira-Hype hinter sich; die Bilanz des neuen, aus Zürich gekommenen Chefs ist durchwachsen. Auf der einen Seite stehen Überflutung mit Luxus von Domingo bis Netrebko und überflüssige Zelebration massentauglicher Werke wie die mit Magdalena Kozená fragwürdig besetzten „Carmen“. Auf der anderen Seite ein Aufbruch wie die Konzertreihe „Ouverture spirituelle“ oder die ehrgeizig geglückte Inszenierung der „Soldaten“, Bernd Alois Zimmermanns Ikone des modernen Musiktheaters.

Gerühmt: Salzburgs Inszenierung von Zimmermanns "Soldaten". Foto: Ruth Walz

Gerühmt: Salzburgs Inszenierung von Zimmermanns "Soldaten". Foto: Ruth Walz

Und es gab in Salzburg auch weniger beachtete „Events“, die dem Festival jenseits des Opern-Spielplans (2013 wird er leider arg populistisch ausfallen) Profil geben könnten. Die vierzehn „Salzburg contemporary“-Konzerte sind ein Beispiel: Der musikalische Kosmos Heinz Holligers war zu erschließen; der Komponist war auch als Dirigent und Oboist zu erleben. Oder das Konzept des neuen Chefs der Schauspielsparte, Sven-Eric Bechtolf, der sich auf Werk und Text statt auf Material und Dekonstruktion besinnen will.

Er hat auch eine Nürnberger Puppenspieler-Truppe nach Salzburg eingeladen, die sich „Thalias Kompagnons“ nennt. Joachim Torbahn und Tristan Vogt heißen die kreativen Köpfe des Teams, das in Ferdinand Raimunds „Der Bauer als Millionär“ Naivität in Tiefsinn verwandelt, das Moralische wie das Parodistische in der Distanz der Puppenwelt von Banalität und Schwere befreit: weise Einfalt!

Dem Blick über die sommerliche Kultur-Landschaft bieten sich traditionsreiche Fixpunkte wie die Händel-Festspiele in Göttingen und Halle. Die Universitätsstadt an der Leine hat mit Laurence Cummings einen neuen künstlerischen Leiter gewonnen, der den zwölf musikalischen Tagen rund um Händel sein Siegel erst noch aufprägen muss. Die Oper dieses Jahres, Händels „Amadigi di Gaula“, konnte nicht restlos überzeugen: Das Konzept der Regisseurin Sigrid T’Hooft, die strengen Bewegungsregeln des barocken Theaters ins Heute zu übertragen, geht ästhetisch auf, gibt dem Zauber- und Ritterstück aber keinen dramatischen Zug.

Konflikte und Leidenschaften bleiben „historisch“. In der musikalischen Umsetzung gelingt Andrew Parrott die Vergegenwärtigung schlüssiger: Das Festspielorchester spielt kompakt und kantig, schroffer als unter dem bisherigen künstlerischen Leiter Nicolas McGegan, manchmal aber auch weniger subtil. Die Sänger lassen technisch zu viel zu wünschen übrig, um Ausdruck und Schönheit des Singens miteinander zu verbinden.

In Halle lag im 80. Jahr der Festspiele der Schwerpunkt auf einem Blick auf Händels Verhältnis zur Religion und auf die Erinnerung an Händels Lehrer Friedrich Wilhelm Zachow, der vor 300 Jahren, am 7. August 1712, gestorben ist. Ein abwechslungsreiches Programm bot oratorische Spezialitäten wie das Auferstehungsspiel „La Resurrezione“, das allegorische Oratorium „L’Allegro, il Pensieroso ed il Moderato“ und die selten zu hörende „Brockes Passion“. Dazu kam „Il Martirio di Santa Teodosia“ von Alessandro Scarlatti, einem der italienischen Anreger Händels, aufgeführt von dem renommierten spanischen Ensemble „Al Ayre Espanol“ unter dem so charismatischen wie tiefgründigen Eduardo López Banzo.

Aber auch die Akademie für Alte Musik Berlin und der Rias Kammerchor sorgten unter Hans-Christoph Rademann mit Händels „Josuah“ für einen Höhepunkt der Festspiele an der Saale. Dem Thema „Händel und die Konfessionen“ widmete sich eine inhaltsreiche wissenschaftliche Konferenz, von der viele Anregungen zum Weiterdenken ausgingen.

Mit der Tanzpantomime „La Terpsichore“ kam im historischen Goethe-Theater in Bad Lauchstädt eine Kunstgattung zu Ehren, die noch zu entdecken ist. Die Musik zu Ehren der griechischen Muse der Tanzkunst lieferten Georg Friedrich Händel und sein französischer Zeitgenosse Jean-Féry Rebel. Die Musiker von Les Talens Lyriques entfachten ein regelrechtes Tanzfeuer unter der Leitung von Christophe Rousset: jeder Ton passte akkurat. Ideal wirkt der markant-schroffe Schönklang mit tief empfundenen lyrischen Momenten und einer unermüdlichen Lust an barocker Klangpracht.

Choreographin Béatrice Massins Hauptinteresse gilt dem barocken Bühnentanz, sie nutzt ebenso einige freie Darstellungsformen um die Ausdruckspalette der Tänzer von Les Fêtes galantes anzureichern. In dem rund 80-minütigen Werk wirkte das freilich auf Dauer etwas ermüdend, da die Schrittfolgen und Positionen sich häufig wiederholen. Das Programm 2013 der Festspiele in Halle verspricht mit den Opern „Almira“ und „Alessandro“ und dem Oratorium „Judas Maccabäus“ wieder anregende Begegnungen mit Händel.

(Mitarbeit: Tony Kliche, Halle/Saale)




Im Eis der Zeit: Jonathan Darlington dirigiert in Frankfurt Samuel Barbers „Vanessa“

Jonathan Darlington hat sich als Chefdirigent der Duisburger Philharmoniker einen Ruf erspielt, der weit über die Grenzen des Ruhrgebiets hinausdrang.

Seine beharrliche Aufbauarbeit, sein Streben nach Verfeinerung ist mehr als der Perfektionsdrang eines technisch ehrgeizigen Dirigenten, mehr als der nach klingendem Erfolg strebende Eros eines Orchestererziehers. Darlington offenbarte in allem, was ich von ihm hörte und erlebte, geradezu einen Drang, in die Tiefenschichten der Musik vorzudringen. Die schöne Stelle, der gelingende Bogen, die harmonische Raffinesse, der Glanz der Farben von Soli und Gruppen, die sensible Balance, die rhythmische Akkuratesse, der virtuose Knalleffekt, das Singen, erfüllt von Sentiment – all das genügt ihm offenbar nicht.

Darlington ist ein Musik-Denker, aber keiner, der vor lauter intellektuellem Skrupel das Zupacken versäumt. So etwas mag man von vielen Dirigenten sagen, wenn man sie loben will: Bei Darlington ist es kein Kompliment, sondern eine Feststellung, erprobt in vielen, nicht immer festtäglichen Konzerten; geläutert – wie einst das Eisenerz in Duisburg – nicht in edlen Festspiel-Auftritten, sondern im Alltag eines oft harten und, ja, auch alles andere als glamourösen Musikbetriebs, angesiedelt zwischen der Aura der Metropolen und der Mühe der Provinz.

Jetzt, da er Duisburg hinter sich gelassen hat, zu neuen Herausforderungen aufbricht, muss man reisen, will man ihn erleben: Manchmal ziemlich weit, bis ins kanadische Vancouver, wo Darlington Musikdirektor der Oper ist. Manchmal aber auch nur zwei ICE-Stunden von Duisburg entfernt, etwa nach Frankfurt, wo er die Eröffnungspremiere der neuen Spielzeit, Samuel Barbers „Vanessa“, leitet.

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Barbers 1958 uraufgeführte und selten nachgespielte Oper ist nicht unbedingt das Stück, mit dem ein Opernhaus seine Saison glanzvoll eröffnen würde. Aber der kluge Bernd Loebe schaut nicht auf den Society-Mehrwert eines Spielzeitauftakts. Der Frankfurter Intendant gestaltet das wohl vielseitigste Programm eines deutschen Opernhauses 2012/13 und hat den Mumm, als nächste Premiere nach „Vanessa“ Engelbert Humperdincks „Königskinder“ anzusetzen. Dazwischen „Adriana Lecouvreur“ von Francesco Cilea, „Chowanschtschina“ von Modest Mussorgsky und „L’Etoile“ von Emmanuel Chabrier: Ein populistischer Spielplan sieht anders aus. Aber Loebe hat Erfolg, auch an der Kasse, und deklassiert damit viele Häuser, die mit ihrem Carmen-Rigoletto-Zauberflöte-Einerlei glauben, ein schwindendes Publikum ins Haus locken zu können. Sicher muss man zugestehen, dass Frankfurt ganz anders arbeiten kann als etwa das Aalto-Theater in Essen, dessen Premierenzahl auf jämmerliche Vier geschmolzen ist. Aber Frankfurt zeigt allen Kulturpolitikern, wenn sie es denn wissen wollten, wie eine Oper aufgestellt sein muss, um Erfolge nach Hause zu bringen.

Samuel Barbers „Vanessa“: In der Zeit des stürmischen Aufbruchs der Musik – zu nennen ist nur der bei der Triennale gefeierte John Cage – war die Oper ein Anachronismus. Nicht Schönberg, sondern Puccini: So etwas ging an der Met gut, wo Eleanor Steber und Nicolai Gedda den Melomanen ein süffiges neues Werk zu servieren bereit waren. Das ging nicht gut in Salzburg, obwohl sich, wie in New York, kein Geringerer als der Dirigent Dimitri Mitropoulos in die Bresche warf. Hohn und Verachtung war der Lohn; Barbers Stück war in Kreisen der Avantgarde ein „no go“. Niemand konnte sich leisten, so etwas nachzuspielen, selbst wenn das Herz, ängstlich verborgen vor dem strengen Gericht der zwölftönigen Reihe, eine heimliche Träne vergoss. Entsprechend dürftig war die Rezeption von „Vanessa“ in der Alten Welt.

Das hat sich gründlich verändert, und Jonathan Darlington zeigt in Frankfurt, warum. Barbers Musik ist kein dahingezaubertes Soufflé, um ältliche Sponsorinnen in Manhattan zu entzücken. Der Mann hat täglich Bach studiert – und das ist ebenso zu hören wie die Vertrautheit mit den modernen Strömungen des Komponierens. Nur: Barber will kein Epigone all jener sein, die auf den gerade aktuellen Zug aufspringen. Er macht sein Ding, ohne Skrupel, ohne nach dem Beifall der Richtung zu schielen, die zu seiner Zeit en vogue war. Heute, da die alten Fronten bedeutungslos geworden sind und die Avantgarde der Fünfziger – teils auch zu Unrecht – vergessen ist, hört man, wie sensibel der studierte Sänger Barber für seine Protagonisten schreibt, hört man auch, wie komplex er mit Motiven umgeht, wie er Bausteine verwendet, die von Puccini bis Janáček, von Strauss bis Strawinsky stammen könnten. Doch er verarbeitet sie zu einer ganz eigen geprägten musikalischen Sprache.

Darlington dirigiert das versierte Frankfurter Opernorchester möglichst transparent, arbeitet genau jenes Baustein-Prinzip heraus, belastet nichts durch dunkel-üppigen Klang, zieht aber auch die emphatische melodische Linie aus, wo es verlangt ist, ohne Berührungsängste, ohne Scheu vor dem Eklektischen. So fügt sich das Spiel mit dem Detail zu einem großen Ganzen, und wenn die schroffen Tutti, die tubaschweren Bläserattacken manchmal zu laut geraten, nimmt das dem Gesamteindruck nichts weg. Darlingtons Debüt an der Frankfurter Oper war eine sinnliche und eine intellektuelle Freude.

Auf eine sinnliche Ästhetik setzt auch die aus Malmö übernommene Inszenierung der früheren Frankfurter Regieassistentin Katharina Thoma. Die Regisseurin arbeitet seit 2011 regelmäßig an der Dortmunder Oper und hat dort Cavallis „Eliogabalo“ und Puccinis „La Bohème“ inszeniert. Am 30. September wird sie mit Mussorgskys „Boris Godunow“ die Spielzeit eröffnen und im Februar 2013 Verdis „Troubadour“ szenisch verantworten. Julia Müer hat ihr ein durch eine zentrale Achse geteiltes Bühnenbild gebaut: auf der einen Seite eine großbürgerliche Villa, auf der anderen ein abweisendes Feld von Eisschollen, die sich unbehaglich in den Wohnraum schieben. Olaf Winters manchmal gespenstisch fahles, dann wieder eisig grelles Licht schafft die Atmosphäre für das zwischen Tschechow’schem psychologischem Realismus und dem bleiern-geheimnisvollen Symbolismus einer „Gothic Novel“ changierenden Libretto von Barbers Lebensgefährten und Komponisten-Kollegen Gian Carlo Menotti.

Das Bühnenbild für "Vanessa" von Julia Müer vereinigt Realismus und Symbolismus.

Das Bühnenbild für "Vanessa" von Julia Müer vereinigt Realismus und Symbolismus.

Thoma lässt aus einem Zustand der Starre ein Kammerspiel herauswachsen, das sich mit vielen klug beobachteten Details eher an der psychologischen Milieustudie als am symbolistisch geladenen Drama orientiert – wie es etwa Regisseur Matthias Oldag 2005/06 am Theater Gera-Altenburg in einer gespenstisch mehrdeutigen Studie realisierte. Thoma entdeckt in „Vanessa“ ein Stück über die Verweigerung von Kommunikation. Das ist die Oper zweifellos, aber sie thematisiert auch die Angst vor der Zeit und der Authentizität.

Thoma verwendet symbolische Zeichen, ohne dem Symbolismus nahezutreten. Die Spiegel sind eines, die das Libretto vorgibt: Im Hause sind sie alle verhüllt, um den Fortgang der Zeit zu verbergen. Doch wenn Vanessa schon in den ersten Minuten der Oper eine Tür aufreißt, schließt ein riesiger Spiegel die Öffnung: Die Verweigerung der Wahrheit macht die Menschen zu Gefangenen. Ein anderes findet Thoma in dem Namen „Vanessa“, der auch in der zoologischen Bezeichnung eines Schmetterlings vorkommt: Anatol, der Mann, der in das hermetische Haus eindringt, berührt ein in einem Sammelkasten aufgespießtes Insekt, das befreit davonflattert.

Bei aller Sorgfalt im Detail tut sich die Regisseurin manchmal schwer, die Personen scharf zu entwickeln: Die damenhaft auftretende und vor allem in der Mittellage überzeugend singende Charlotta Larsson gibt eine Vanessa, deren Ungeduld eher diejenige einer verwöhnten Upper-Class-Gattin ist. Wer nach zwanzig Jahren aus der Starre des Wartens gelöst wird, wirft nicht zickig Klaviernoten auf den Boden.

Der Anatol des vor allem in der Höhe gefährdet singenden Kurt Streit, der das lang erstarrte Eis in Bewegung bringt, macht nicht begreifbar, welche Dynamik von seiner Ankunft ausgeht: Vanessa erwartet ihren vor zwanzig Jahren verschwundenen Geliebten, doch statt seiner erscheint ein Unbekannter, der sich als Sohn jenes Anatol ausgibt. Streit wirkt wie ein biederer englischer Verwalter, der zufällig zu Besuch kommt. Auch Helena Döse, die „alte Baronin“, erschöpft sich als skurrile Schweigerin; der unheimliche, bedrohliche Zug dieser Figur geht ihr ab. Aus dem Doktor macht Dietrich Volle eine Charakterstudie mit komischen Zügen, die tragischen holt er nicht ein. Björn Bürger legt den Haushofmeister als Widerschein der Starre des Hauses an, den in der Ballszene des zweiten Akts schon ein Damenpelz in erotische Zuckungen versetzt.

Kurt Streit (Anatol) und Jenny Carlstedt (Erika) in Samuel Barbers "Vanessa". Fotos: Barbara Aumüller

Kurt Streit (Anatol) und Jenny Carlstedt (Erika) in Samuel Barbers "Vanessa". Fotos: Barbara Aumüller

Der heimliche Star der Aufführung ist Jenny Carlstedt aus dem Frankfurter Ensemble: Ihre intensive Darstellung macht aus der Figur der Erika eine Fallstudie über die Tragik der unmöglichen Liebe, über Realitätsaneignung und –verweigerung. Als „Schatten Vanessas“ stellt sich das junge Mädchen – die Nichte der Hausherrin – vor. Ihr kurzes Abenteuer mit Anatol, ihre idealistische Auffassung von Liebe, ihr Weigerung, das Kind aus diesem Augenblick der Hingabe und Leidenschaft zu gebären; am Ende ihre Erstarrung im Warten auf etwas, das nie eintreten wird, weil es keinen Begriff dafür gibt – für alle Facetten der Figur findet Carlstedt in Gestik und Körperhaltung, mehr noch aber in Farbe und Führung der Stimme faszinierenden Ausdruck. In dem Lied „Must the winter come so soon“ ist es die wehmütige Lyrik; in ihrem Zusammenbruch sind es groß angelegte, aber auch tonlos fahle Phrasen. Am Ende bleibt die kalkige Härte einer Frau, die sich wie niemand sonst der Wahrheit gestellt hat und vor ihr versteinert. Der Mann im Eis wird ihr, das ist in den letzten verwehenden Klängen von Barbers Musik klar, niemals nahe kommen.

Jonathan Darlington dirigiert „Vanessa“ noch am 6., 9., 14., 20., 22 und 28. September. Am 28. Oktober gastiert er als Liedbegleiter in einem Kammerkonzert an seinem alten Wirkungsort Duisburg. Im Januar und Februar 2013 ist er mit Händels „Orlando“ und Mozarts „La Clemenza di Tito“ an der Semperoper Dresden zu Gast. Die langjährige Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper am Rhein setzt Darlington im Juni 2013 fort: Er verantwortet musikalisch die Neuinszenerung von Alexander Zemlinksys Opern-Duo „Der Zwerg“ und „Eine florentinische Tragödie“. Premiere ist am 15. Juni.




Festspiel-Passagen VII: Salzburg – Mit der Zauberflöte ins Labyrinth

Mandy Fredrich (Königin der Nacht) und Julia Kleiter (Pamina) in der Salzburger "Zauberflöte". Foto: Monika Rittershaus

Mandy Fredrich (Königin der Nacht) und Julia Kleiter (Pamina) in der Salzburger "Zauberflöte". Foto: Monika Rittershaus

Der siebenfache Sonnenkreis ist eine Mischung aus Baustellenlampe und Hirnschrittmacher, mit einem Schlauch offenbar direkt mit Sarastros Hirn verbunden. Der Weisheitstempel besteht aus lauter Türen, mit kryptischen Buchstaben bezeichnet. Sarastro und die Königin der Nacht balgen sich am Ende um das technische Gerät, während die jungen Leute den Kinderwagen Papagenos und Papagenas hinterherlaufen. Familienidylle statt Weisheitslehre?

Jens-Daniel Herzog, der Dortmunder Operndirektor, hat sich mit der „Zauberflöte“ bei den Salzburger Festspielen vorgestellt – wie so viele andere ein Import aus des neuen Intendanten Alexander Pereiras Zürcher Zeit. Und seine Botschaft scheint zu sein: Leute, nehmt den ganzen Zauber nicht so wichtig. Das ist ein dürftiges Ergebnis.

Sicher lassen sich bei der „Zauberflöte“ die Tiefenschichten in Emanuel Schikaneders einzigartigem Libretto ausblenden, lässt sich das unterhaltsame Abenteuerstück aus der Wiener Vorstadt hervorkehren. Aber Herzog stellt sich – so jedenfalls in einem Interview im Programmbuch – auf die Seite Susan Sontags und ihre Ablehnung, in einem Kunstwerk einen „Subtext“ zu ergründen. Sontag propagiert die postmoderne Beschränkung auf die pure Sinnlichkeit und den Primat der individuellen Erfahrung, die sie in einer Interpretation eingeschränkt sieht.

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Bei einem so komplexen Kunstwerk wie der Oper ist der Verzicht auf eine schlüssig ausgearbeitete, pointierte Deutung gleichzusetzen mit dem Verharren an der Oberfläche. Das mag durchaus sinnenfroh und unterhaltsam sein, ermöglicht aber keine ästhetische Erfahrung, sondern verhindert sie. Der Verzicht auf einen Standort – den der Regisseur einnehmen muss – lässt den Zuschauer irgendwohin treiben statt ihn herauszufordern, die eigene Position zu suchen und einzunehmen.

Herzog ist natürlich viel zu klug, um die postmoderne Falle zuschnappen zu lassen, aber er konnte sich ihren Fangzähnen doch nicht ganz entwinden. Die Zauberflöte, die in seiner Inszenierung den Prinzen Tamino vor den wölfischen Ungeheuern rettet, war bei ihm zumindest verstimmt. Hätte er sich konsequenter auf die Gegensätze des Stücks eingelassen, hätte er die naive, aber zutiefst menschliche Welt des Papageno über das putzige Dreirad-Lieferwägelchen und die Vogelfedern hinaus geführt, wäre auch das Potenzial von Bühnenbildner Mathis Neidhardts Felsenreitschul-Imitation zu erschließen gewesen. Denn das Versteckspiel mit verschiebbaren Kästen nach Art eines Türen-Klapp-Boulevardkrimis brachte nicht viel.

Markus Werba (Papageno) schiebt sein Vogel-Mobil weg. Foto: Monika Rittershaus

Markus Werba (Papageno) schiebt sein Vogel-Mobil weg. Foto: Monika Rittershaus

Die Salzburger „Zauberflöte“ war nicht wegen Herzogs Inszenierung mit Spannung erwartet worden, sondern vor allem, weil sie Nikolaus Harnoncourt zum ersten Mal in Salzburg – in Zürich war er schon vor fünf Jahren – und zum ersten Mal mit seinem Orchester, dem „Concentus Musicus“ aufführte. Und weil er aus lebenslanger, vielleicht ein wenig altersmilder Erfahrung eine Gegenposition zu all den verhetzten „Original“-Zauberflöten formuliert. Wir hören den schlanken, dunkel grundierten Streicherklang nicht im mechanischen Tempo, sondern in einer fast schon manieristisch am Text-Metrum ausgerichteten Varianz. Wir hören seidige Bläser, die nicht mehr jäh, sondern fast schüchtern akzentuieren. Wir erleben, wie Harnoncourt zwar beweglich-flüssige Grundtempi anschlägt, dann aber verzögernd der Emotion Raum gibt, wie in „Schnelle Füße…“ oder in Paminas Arie „Ach ich fühl’s…“. Und wir erfahren, dass Sarastros Arien, längst keine wuchtig-pathetischen Bekenntnisse aus der Patriarchenwelt mehr, durchaus mit gemäßigter Würde vorzutragen sind. Irritierend ist, dass Harnoncourt kaum Wert auf den musikalischen Bogen legt. Er fordert nicht nur konsequentes Anti-Legato, sondern nimmt „Löcher“ in Kauf, deren Sinn sich nicht erschließt.

Wer von der Krise des Wagner-Gesangs redet, muss den Mozart-Gesang mit einschließen. Seit den traurigen Eindrücken aus dem Salzburger Mozart-Marathon 2006 hat sich da nicht viel geändert. Sicher, Georg Zeppenfeld als undramatisch-beherrschter Sarastro und die unangestrengt auf dem Atem singende Pamina Julia Kleiters wissen, wie es geht. Mandy Fredrich hat auch am Essener Aalto-Theater die „Königin der Nacht“ gesungen: Sie beherrscht die technischen Finessen der Partie, hat ein gut ausgebildetes Fundament für den Klang auch in der Höhe, aber keine charismatische Brillanz. Markus Werba, ein gewinnender Darsteller, darf sich als Papageno ruhig an seiner künftigen Frau, der bezaubernden Elisabeth Schwarz, ein Beispiel nehmen und die Stimme aus der Kehle nach vorne bewegen. Bernard Richter singt den Tamino hölzern und kann die Töne nicht binden. Die drei Damen bilden alles andere als ein Ensemble, speziell Sandra Trattnigg zernichtet als Erste Dame mit Trompetentönen den Gleichklang. Und gibt es in Salzburg für den Mohren – der hier nach neuester Quellenkritik „Manostatos“ heißt – keinen Buffo-Tenor mehr, der nicht nur haltlosen Sprechgesang bietet wie Rudolf Schasching?

Thomas Tatzl, der Papageno in Peter von Winters "Labyrinth". Foto: Hans Jörg Michel.

Thomas Tatzl, der Papageno in Peter von Winters "Labyrinth". Foto: Hans Jörg Michel.

Noch viel misslicher sind die sängerischen Eindrücke in der einzigen Oper, die bei den Salzburger Festspielen aus dem Repertoire herausfällt: Peter von Winters „Das Labyrinth“, nur sieben Jahre nach Mozarts Tod von Emanuel Schikaneder als „Der Zauberflöte zweyter Theil“ konzipiert. Wir finden das bekannte Personal aus Mozarts Oper wieder. Die Königin der Nacht hat sich mit König Tipheus und dessen Freund Sithos zwei Heerführer an ihre Seite geholt, die den Kampf mit dem spürbar militarisierten Sarastro endgültig entscheiden sollen. Papageno findet seine Eltern und mit ihnen jede Menge Geschwister, und Monostatos ist am lunaren Hof trefflich etabliert. Tamino und Pamina müssen neue Prüfungen ablegen: Nach Feuer und Wasser ist nun die Erde dran: ein unterirdisches Labyrinth gilt es zu durchschreiten. Nicht Hollywood, sondern Wien hat die Fortsetzung als Erfolgsprinzip entdeckt.

Ein angemessener Blick auf das Stück muss sich zuerst davon verabschieden, Konzeption und Musik der „Zauberflöte“ auf diese Fortsetzung zu übertragen. In den sieben Jahren seit ihrer Uraufführung haben sich Perspektiven und Interessen verschoben, gerade im rasch auf Zeitströmungen reagierenden populären Unterhaltungstheater. Im „Labyrinth“ tritt die Ideenwelt zurück, vielleicht, weil Mozarts Einfluss fehlt. Dafür triumphiert das Wunderbare, Effektvolle, Kolportagehafte.

In Salzburg bleibt dieser „zweyte Theil“, wie so manches Film-Sequel, glanzlos hinter dem Original zurück: Im Residenzhof singt die – früher mal in Dortmund und Bonn, jetzt an der Komischen Oper Berlin engagierte – Julia Novikova eine koloraturüberforderte, harttönig-dünne Königin, die viel gelobte Malin Hartelius eine Pamina ohne Höhe und Charme. Clemens Unterreiner und Philippe Sly bleiben als neu eingeführte Krieger Tipheus und Sithos zuverlässig blass.

Mandy Fredrich als Königin der Nacht und Klaus Kuttler als Monostatos. Foto: Hans Jörg Michel

Julia Novikova als Königin der Nacht und Klaus Kuttler als Monostatos. Foto: Hans Jörg Michel

Das mag auch der inspirationslosen Regie der in Dortmund geborenen und bis 2003 am Schauspielhaus Bochum inszenierenden Alexandra Liedtke geschuldet sein. Warum Salzburg für ein solches Werk keinen Platz für einen erfahrenen Opernregisseur hat, ließe sich wahrscheinlich nur durch einen Blick hinter unzugängliche Kulissen ergründen. Raimund Orfeo Voigts Bühne verwendet technisch aufwändige, verschiebbare Licht-Lamellen, erinnert in Reminiszenzen wie der Hanswurst-Bühne an die Tradition des Volkstheaters, mit dem Zitat von Schinkels Berliner Zauberflöten-Himmelsgewölbe an die Spuren des erhabenen Aufklärungstheaters. Doch Liedtke fällt nichts ein als schrecklich vorhersehbare Auftritte; vom Zauber- und Maschinentheater ebenso wenig eine Spur wie von einem Versuch, zu verstehen, wie Schikaneder den Stoff an den Geist einer neuen Epoche angepasst und was diese Wandlung für Zuschauer von heute bedeuten könnte.

Im lustlos knappen Beifall zeigt sich der Ärger über festspielunwürdige Besetzungen, über das beflissene, aber uninspirierte Spiel des Mozarteum-Orchesters unter Ivor Bolton und über eine konzeptlose, den Abend unerträglich dehnende Inszenierung. Wären da nicht einige wenige Sänger gewesen, auf deren Auftritt man sich gefreut hat wie Christof Fischesser als Sarastro oder Thomas Tatzl und Regula Mühlemann als Papageno und Papagena, wären da nicht die heiteren, die „ausschweifende Pracht“ der Uraufführung persiflierenden Kostüme von Susanne Bisovsky und Elisabeth Binder-Neururer gewesen, der gut dreistündige Abend wäre in Langweile versauert.

An Peter von Winter lag es nicht, wie manche Rezensenten vorschnell behaupteten, die immer noch glauben, was nicht im internationalen Repertoire steht, tauge nichts. Winters Bezeichnung „große heroisch-komische Oper“ deutet eine Entwicklung an: Die Musik gibt sich „romantischer“, weniger verspielt, aber auch weniger durchgearbeitet als Mozarts Vorbild. Wir schreiten voran in Richtung Cherubini, Spontini und Beethoven.

Peter von Winter auf einem zeitgenössischen Stich.

Peter von Winter auf einem zeitgenössischen Stich.

Winter liefert kein Plagiat oder eine Imitation. Zwar tauchen in der Ouvertüre die feierlichen Dreiklänge auf. Die Königin der Nacht noch effektvoller Koloraturen perlen lassen, Sarastro gefällt sich wieder in salbungsvollem Arioso. Die tragenden Zauber-Requisiten Glockenspiel und Flöte treffen wir erneut. Offenbar besonders beliebte Szenen werden wieder aufgenommen, wie die Tänzchen der vom Glöckchenklang verzückten Bösewichter. Doch es kündigen sich auch andere, pathetischere Töne an. Der Chor – der von Alois Glassner einstudierte Salzburger Bachchor – hat eine gewichtige Rolle. Der Krieg Sarastros mit König Tipheus und der nun eindeutig böse und rachsüchtig gezeichneten lunaren Herrscherin entspricht der politischen Lage – ein Jahr vorher stand Napoleon vor Wien – und wohl auch dem Hang der Zeit nach mehr „Action“ und weniger Weisheitslehren.

Und wenn ein Schleier auf dem Weg durchs Labyrinth die „Tugend“ der Pamina schützen muss, haben sich die Gewichte verschoben von Philosophie und Weltweisheit zur einer am Sexuellen orientierten Moral der neuen bürgerlichen Schichten, auf deren dunkler Seite die Versuchung für Papageno lauert: Für exotischen Sex, sprich, die Nacht mit einer schwarzen Frau, ist er bereit, seinen Aufruf zum Mord an Monostatos noch einmal zu überdenken. Zu wünsche wäre, dass die Salzburger Wiederentdeckung von Winters „Zauberflöte“ nicht – wie die letzte Aufführung 2002 in Chemnitz – einfach verpufft. Dem Aufführungsrekord der Mozart’schen Erstversion schadet es nicht, wird hin und wieder an einem Opernhaus die Fortsetzung gespielt.

Infos zum Salzburger Spielplan: http://www.salzburgerfestspiele.at




Präzise Anarchie: Eröffnung der Ruhrtriennale mit „Europeras 1 & 2“ von Heiner Goebbels

Regisseur von "Europeras": Heiner Goebbels. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

Regisseur von "Europeras": Heiner Goebbels. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

John Cage wäre am 5. September 100 Jahre alt und gilt als einer der wichtigsten Anreger der zeitgenössischen Kunst: Malerei, Musik, Performance hat er beeinflusst, neue Richtungen wie die Fluxus-Bewegung wären ohne ihn nicht denkbar gewesen. Als Theoretiker ist er für ein modernes Musiktheater wohl ebenso bedeutsam geworden wie für die Sprechbühne Antonin Artaud und sein „Theater der Grausamkeit“. Für beide spielt die Einheit des Kunstwerks, die Nachahmung der Wirklichkeit, die Geschlossenheit eines als sinnvoll oder zielgerichtet erlebbaren Zusammenhangs keine Rolle.

Im Gegenteil: John Cage will jede Absicht aus seinen Werken verbannt wissen. Der Zufall soll herrschen. Und die Autonomie des Einzelnen steht über jedem Zusammenhang. Zur Eröffnung der Ruhrtriennale hat deren neuer Intendant Heiner Goebbels mit „Europeras 1 & 2“ nicht nur dem amerikanischen Multitalent eine Hommage bereitet, sondern wohl auch ein prinzipielles Statement zum Theater gegeben. Ein erweiterter Begriff vom Theater, die Negation traditioneller Formen, unmittelbares Erfahren statt Mitteilen und Verstehen: Ein Kunstbegriff, der in den bildenden Künsten seit einem guten Jahrhundert dominiert, war mit der Frankfurter Uraufführung der beiden ersten „Europeras“-Werke 1987 endgültig im Musiktheater angekommen.

Cages Prinzip: Alles ist getrennt, nichts gehört zusammen. Musik, Bühne, Licht, Bewegung, Kostüm: Die Bestandteile der klassischen Oper werden zerlegt und wieder montiert. Die Abläufe sind nach dem chinesischen „I Ging“ zusammengestellt. Dabei spielt der Zufall die bestimmende Rolle – und die Zeit: Die Zahlenreihen beleuchteter Stoppuhren rasen in „Europeras 1“ unaufhaltsam dem Ende zu: Eine Stunde, dreißig Minuten exakt, dann verklingt der letzte einsame Gesang.

Man könnte den Vorgang, der in diesem Zeitraum abläuft, objektivierte Anarchie nennen. Denn die Grundlagen, die Cage entwickelt und Goebbels in seiner szenischen Realisierung aufgegriffen hat, sind – der chinesischen Orakel-Methode entsprechend – mathematisch höchst präzis. Das Anarchische bedeutet nicht Chaos, sondern den völligen Verzicht auf Über-, Unter- oder Zuordnung. In 64 Zeitfenstern spielen rund 30 Musiker Fragmente aus Opernpartituren. Das kann ein einzelner Ton sein oder ein komplexes Melodie-Bruchstück. Wann das Stück innerhalb des gegebenen Zeitrahmens erklingt, bleibt dem jeweiligen Spieler überlassen.

An 64 festgelegten Positionen auf der Spielfläche singen die zehn Solisten Arien oder Fragmente aus 64 Opern, von ihnen selbst ausgewählt aus dem rechtefreien Repertoire, von Purcell und Gluck bis Wagner und Debussy. In Bochum, im riesigen Raum der Jahrhunderthalle, waren die 64 Felder über die gesamte Tiefe des bespielbaren Raums von rund 90 Metern Länge verteilt. Bühnenbildner Klaus Grünberg plünderte die Operngeschichte für 32 Bühnenbilder; Florence von Gerkan entwickelte aus historischen Vorlagen 32 Kostüme, von der Rüstung bis zum Reifrock.

Felsen, Lüster, Sängerin: Triumph der Vereinzelung. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

Felsen, Lüster, Sängerin: Triumph der Vereinzelung. Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale

So rauschen sie vorbei, nach einem exakten Zeitplan und dennoch systemlos, simultan und ohne Beziehung zueinander: Venezianischer Barock und deutsches Biedermeier, Römer aus der Opera seria und bürgerliche Herren, gemalte Drachen und Seeungeheuer, romantische Heroinen und affektierte Hofgecken. Was sie singen, passt nicht zum Kostüm; wie sie sich bewegen, passt nicht zum Affekt ihrer Arien. Auf der Bühne öffnen sich Höllenschlünde aus dem barocken Wiener Theater und romantisch Weber’sches Waldweben, brennen Tempel und schwingen kristallene Lüster, strahlen Pappmaché-Sonnen und fingern einsame Scheinwerfer durch die Dunkelheit. Denn auch das Licht verweigert den Dienst, sucht sich autonom und ohne Zusammenhang mit der Szenerie seinen Weg.

Romantisches "Waldweben" für "Europeras". Entwurf: Klaus Grünberg

Romantisches "Waldweben" für "Europeras". Entwurf: Klaus Grünberg

Die Sänger, reduziert auf sich selbst, kämpfen sich mit Hilfe der Stimmgabel durch ihre Arien – hier beschwört Nikolay Borchev Lortzings „Heiterkeit und Fröhlichkeit“, dort fragt Frode Olsen mit dem Eremiten aus dem „Freischütz“, ob ein Fehltritt solcher Büßung wert sei. Gesungen wird entsprechend mühevoll, mit heiserem Timbre und unsicherer Intonation. Kein Wunder, fehlt doch jede Stütze durch ein Instrument – im Gegenteil, die Sänger haben sich gegen die vor sich hin streichenden, blasenden oder schlagenden Solisten des Festivalorchesters zu behaupten. Die Helden dieser Aufführung sind die „Assistenten“: Die jungen Leute haben nach einem präzisen Zeitplan die Requisiten kreuz und quer durch die Halle zu transportieren, schleppen Bühnenteile, bringen Hänger zum richtigen Ort. Zu schauen gibt es viel.

Ein Spaß also, eine überbordende Luxus-Fantasie eines Mannes, dessen Antwort auf die Last der Tradition, auf die Enge des Konventionellen, auf jedes nach Bedeutung riechendes Konzept stets Gelächter war? Sicher nicht. Auch wenn Kritiker in „Europeras“ ein großironisches Werk erkennen wollen: Der radikale Verzicht auf Sinn, die ebenso radikal durchgezogene Vereinzelung der Theater-Elemente, die Herrschaft der Herrschaftsfreiheit sind so humorlos wie konsequent. Hier wird nicht persifliert, hier transzendiert keine leichte Hand Pathos in Parodie. Cage ist kein Offenbach der 68er.

Die Kunst, die hier beabsichtigt ist, schafft keine Komödien. Auch wenn das Schmunzeln in vielen Szenen nicht weit ist: Gelacht wird kaum in der tiefen, dunklen Jahrhunderthalle. Und das lag nicht an den tropischen Temperaturen, die – das wird man zugestehen müssen – dem begeisterungsarmen Beifall noch zusätzlich einen matten Touch gegeben haben. Das liegt wohl eher am Todesernst, mit dem hier die Individualisierung, die Vergötterung des Selbst, die Negation des Sinns vorangetrieben werden. Welche Geschichte in der vermixten europäischen Operntradition zu lesen ist, bleibt alleine dem Zuschauer überlassen. Die bildende Kunst lässt grüßen. Und das Theater, das sich mit der Weigerung, Geschichten zu erzählen, in ein ästhetisch so brisantes wie philosophisch verstiegenes Abseits manövriert hat. Das selbstbestimmte Subjekt triumphiert.

„Europeras“ lässt den Rezipienten mit seinem unauslöschlichen Trieb, Sinn und Zusammenhang zu erschauen, gnadenlos alleine. Es sind „your operas“, wie man den Begriff „Europeras“ auch lesen könnte: eure Opern. Nicht nur jene, die aus Europa 200 Jahre in die Welt geschickt wurden und die Cage, wie er sagte, alle auf einmal zurückgeschickt hat. Sondern eben auch die Oper jedes Einzelnen, der auf einem Platz in der heißen Jahrhunderthalle in der Falle sitzt, für sich selbst zu entscheiden, was er mit diesen Elementen sinnlicher Einwirkungen denn nun anfangen soll. Mit der bildenden Kunst tut er sich bei solchen Operationen nicht so schwer. Für ein Bild ist der Ablauf der Zeit nicht relevant; selbst vergängliche Installationen zerfallen in Zeiträumen, die normalerweise eine intensive Betrachtung erlauben. Für das Musiktheater gilt das nicht.

Goebbels beschreibt das Ergebnis als eine „Polyphonie unzähliger ‚Stimmen‘, die zu eigener Entfaltung gebracht werden“. Man muss kein Antimodernist sein, um in Cages Experiment etwas anderes zu erkennen: Eine babylonische Anti-Symphonie, ein monströses Nebeneinander von „befreiten“ akustischen und visuellen Äußerungen, Sinnbild der Vereinzelung von Individuen, die nur durch die gnadenlose Diktatur einer Maschine – der Uhr – überhaupt in so etwas wie einen Zusammenhang genötigt werden. Eine radikale Freiheit, die nicht nach dem Warum und Wohin fragt. Das überlässt sie, zu erschütternder Gänze, dem Zuschauer.

Weitere Termine: 29., 31. August, 2. September (höchstens noch Restkarten)




Festspiel-Passagen VI: Maßlose Leidenschaft – Händels „Tamerlano“

„Tamerlano“ gehört nicht zu den erfolgreichsten Opern Georg Friedrich Händels. Für die Eröffnung der Saison am King’s Theatre im Oktober 1724 mutete er dem Londoner Publikum ein ungewöhnlich düsteres Werk zu.

Schon die Tuttischläge zu Beginn der Ouvertüre melden von hoher Tragik. „Schwarze“ Tonarten, dunkle Farben in den Streichern: Musikalisch kündigt sich eine Geschichte an, die den Intrigenstadl der zeitgenössischen italienischen Oper durch ihre Radikalität übertrifft. Tamerlano ist ein Herrscher, den keine Moral zu zügeln vermag; sein Gegenspieler Bajazet so stolz, dass er jedem Kompromiss den Tod vorzieht. Und der Irrtum, der Asteria an der Liebe von Andronico zweifeln lässt, ist auf eine fast schon absurde Weise schwach begründet.

Für Händel sind solche extremen Bühnenfiguren eine Herausforderung, die er musikalisch glänzend pariert. „Tamerlano“ beinhaltet eine Reihe ausdrucksstarker Arien; die Selbsttötung Bajazets inspirierte ihn zu einer Szene, die musikalisch einzigartig ist und heute noch unter die Haut geht. Vor allem dann, wenn ein so erfahrener Gestalter wie Placido Domingo sich dieses mehrschichtigen Charakters annimmt. Domingo war wohl der „Star“, der das Publikum in die beiden konzertanten Aufführungen von „Tamerlano“ bei den Salzburger Festspielen locken sollte. Denn fast vier Stunden Opernmusik ohne Szenerie sind selbst für beharrliche Hörer eine Zumutung, der sich ein Händel-Zeitgenosse vor 300 Jahren sicher nicht unterworfen hätte.

Zum Glück halten sich weder Domingo noch die anderen Sänger an historisch informiertes Zirpen, sondern bieten saftig durchblutete Opernmusik. Im Falle Domingos bedeutet das einen immer noch kernig glänzenden Klang, einen meisterlich gestützten Ton, beherrschte Farben und – vor allem in der bewegenden Todesszene – beispielhaftes Abschattieren und suggestive Rhetorik. Das Vibrato ist – wie sollte es auch anders sein – nicht mehr so kontrolliert und spannkräftig wie früher. Durch die Koloraturen mogelt sich Domingo mit erfahrungsgesättigtem Geschick, solidarisch getragen von Marc Minkowski am Pult seines Orchesters „Les Musiciens du Louvre“. Wie Domingo aber einen Charakter musikalisch erfasst und durchdringt, hat ein nach wie vor selten erreichtes Format.

In Bejun Mehta hat er einen würdigen Gegenspieler: Als Tamerlano zieht der amerikanische Counter alle Register, um die Leidenschaften dieses Herrschers einzufangen, der in Liebe wie Hass kein Maß akzeptiert: Hohn, Erniedrigung, Sklaverei und sexuelle Gewalt hat er für die bereit, die seinen egomanischen Leidenschaften nicht folgen wollen. Mehta muss Affekte wie Überschwang, Stolz, Wut, Kränkung ausdrücken: seine gut gebildete Stimme bringt dafür Brillanz, Schlagkraft und Agilität mit. Zwar muss Mehta in der Höhe manche Töne „antippen“ und nicht jede Messa di Voce gelingt abgerundet; dennoch gehört er derzeit zu den führenden Vertretern des Fachs und kann diese Position mühelos verteidigen.

Franco Fagioli zieht als Andronico leider nicht gleich: Die Partie, für den legendären Kastraten Senesino geschrieben, will nicht durch prunkvolle Virtuosität brillieren. Sie lässt dem Sänger eher die Chance, die Schönheit und Ebenmäßigkeit des Tons in allen Lagen, aber auch die Beherrschung des „passaggio“ und die Fülle des tiefen Registers zu demonstrieren. Fagiolis Mezzo kann vor allem in der Tonbildung nicht mehr überzeugen: Das Vibrato ist zu dominierend, der Ton wirkt hohl und schwammig, die Artikulation leidet. Seine an Grimassen grenzende Mimik ist wohl kaum gewollt; sie zeigt, wie der Sänger um die Position seiner Stimme ringt. Der kleinen Rolle des Leone gibt Michael Volle ein präsentes, technisch abgesichertes Profil.

Ausgezeichnete besetzen konnte Salzburg die Frauenpartien: In der Partie der Asteria, geschrieben für die legendäre Primadonna Francesca Cuzzoni, ließ die erst 22jährige Julia Lezhneva kaum einen Wunsch offen. Ob funkelnde Brillanz oder wehmutsvolle Innerlichkeit, ob Bangigkeit oder Beklemmung: Lezhneva findet stets die richtige Farbe, die passende Phrasierung. Ihre beiden Arien im ersten Akt mit ihren uneindeutigen Affekten, ihren zwischen Leid, Liebe, Hass und Verachtung schwankenden Gefühlen, stellt sie musikalisch differenzierend dar. Dazu dienen ihr eine kostbar timbrierte Mittellage, sanft gedrosselte Mezzavoce, tadellose Piani.

Lezhneva hat ein entspanntes Legato, kann aber auch impulsiv akzentuieren. Nur die Höhe wirkt technisch fragwürdig: zu oft bildet sie die Töne am flachen Gaumen, statt ihnen Stütze und Rundung zu geben. Dennoch: Lezhneva, vom Magazin „Opernwelt“ zur Nachwuchssängerin des Jahres 2011 gekürt, ist mit Recht eine der großen Hoffnungen im belcantistisch geprägten Sopranfach. Die Französin Marianne Crebassa bietet ein ebenso überzeugendes Rollenporträt der Irene: Die fremde Prinzessin ist Tamerlano als Braut versprochen, doch der Tatar setzt sie lediglich als Manövriermasse der Liebe ein, um Andronico für sein Wohlverhalten zu belohnen. Händel macht die Figur spannend, weil er Irene nicht als passives Opfer zeigt, sondern als selbstbewusste Frau, die nicht geneigt ist, die Spiele der mächtigen Männer über sich ergehen zu lassen. Ihr Mezzosopran ist kraftvoll, geschmeidig, expressiv und nur hin und wieder von zu üppigem Vibrato überlagert.

Les Musiciens du Louvre aus Grenoble, das vor 30 Jahren von Marc Minkowski gegründete Orchester, hatte wesentlich Anteil daran, den langen Abend nicht zu lange erscheinen zu lassen. Minkowski bot einen dunkel getönten Händel-Klang, der sich signifikant von der basislosen Brillanz manch englischer oder deutscher „Originalklang“-Ensembles abhebt. Bei aller Präzision und Transparenz verleugnet er nicht, dass Händel, wenn ihm die Möglichkeiten geboten waren, üppige Besetzungen für substanzreichen, festlichen Klang bevorzugte. Manchmal litten die Bläser; selbst die Trompete von Hara Fruzsi musste sich bemühen, mehr als eine Orchesterfarbe abzugeben. Minkowski reagierte jedoch stets umsichtig; dämpfte zum Beispiel die Streicher reaktionsschnell in der aparten, von zwei Flöten begleiteten Arie der Irene. Die abwechslungsreiche Klanggebung und Phrasierung des Ensembles, das über Jahre hin gewachsene Einverständnis mit dem Dirigenten, die Balance innerhalb des Ensembles und die flexiblen Tempi trugen dazu bei, Händels Musik auch über lange Zeit hin spannend zu halten.




Festspiel-Passagen V: Metapher absoluter Fremdheit – „Solaris“ in Bregenz

Stanislaw Lems Roman „Solaris“ hat seit seinem Erscheinen 1961 – auf Deutsch erst 1972 – nichts von seiner Tiefe und Faszination eingebüßt. Andrej Tarkowski (1972) und Steven Soderbergh (2003) haben Filme gedreht; es gibt einige Adaptionen für die Bühne – zuletzt am Münchner Volkstheater, am Burgtheater Wien und am Schauspiel Zürich. Nun hatte bei den Bregenzer Festspielen eine „Solaris“-Oper Premiere – die zweite nach der Kammeroper von Michael Obst (München, 1996). Der Henze-Schüler Detlev Glanert hat auf ein Libretto von Reinhard Palm komponiert, das sich eng an den Roman Lems anlehnt.

„Solaris“ ist vielschichtig: Auf der Science-Fiction-Ebene dreht es sich um den Versuch, Kontakt mit einem Wesen aufzunehmen, das einen ganzen Planeten umspannt; ein Plasma-Ozean, der seit Urzeiten alleine um seine beiden Sonnen kreist. Eine Lebensform, die schon von ihrer bloßen Existenz her keinen Begriff vom „Anderen“ hat. Wie kann Kommunikation mit einem solchen Fremden überhaupt möglich sein?

Auf der psychologischen Ebene konfrontiert „Solaris“ mit den Folgen der Interaktion. Auf der Forschungsstation, die das Planeten-Wesen umkreist, kommt es zu seltsamen Erscheinungen: „Gäste“ tauchen auf, Materialisationen verdrängter Träume und Erinnerungen. Solaris liest die traumatischen, „abgekapselten“ Erinnerungen der Forscher auf der Station aus den Gehirnen heraus und lässt sie als reale Personen auf der Station erscheinen. Das Entsetzliche ist, dass diese „Gäste“ aus den verborgensten Winkeln der Psyche stammen: „….unsere eigene monströse Hässlichkeit, unsere Albernheit und unsere Schande“, wie der Forscher Snaut formuliert. Dem neu eingetroffenen Psychologen Kris Kelvin erscheint seine junge Frau Harey. Sie beging Jahre vorher Selbstmord – an dem sich Kelvin mitschuldig fühlt.

Keine Rolle in der Oper spielt Lems satirische Auseinandersetzung mit der Wissenschaft: Die „Solaristik“ ist in seinem Roman eine seit hundert Jahren etablierte Forschungsrichtung mit zahllosen Schulen, Thesen, Dogmen; ein Lehr- und Literaturgebäude, das genüsslich ausgebreitet wird, in dem sich die wirklich wichtigen Erkenntnisse jedoch in entlegenen Anhängen, trivialwissenschaftlichen Sammlungen oder fachfremdem Material finden. Lem formuliert seinen Skepsis gegenüber der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und einem das Gegenteil postulierenden Forschungs-Betrieb. Die „Solaristik“ mutet an wie eine Ersatz-Religion, flankiert von einer Ersatz-Theologie, die das „Wesen“ des unfassbaren Ozeans ergründen will.

Denn „Solaris“ hat in seiner einsamen Einmaligkeit etwas Göttliches. Er setzt mit seiner stabilen Umlaufbahn – die es in einem Doppelsonnensystem nicht geben dürfte – die Gesetze der kosmischen Physik außer Kraft. Auf seiner Oberfläche ereignen sich ständig Neuschöpfung und Verfall. Souverän erschafft er die Erscheinungen aus dem Gehirn-Inhalt der Menschen; ihre Materie existiert allein durch seine Energie. Sein In-Sich-Ruhen, seine unberührbare Majestät erinnern an die jenseitige, aller menschlichen Erkenntnisfähigkeit entzogene Natur Gottes.

Aber die Solaris ist auch ein „unvollkommener Gott“, dem Kommunikation offenbar nicht gelingt. Seine Selbstäußerungen scheinen hilflose Versuche eines kosmischen Kindes. Oder experimentiert das Wesen mit den Menschen statt sie mit ihm? Keine Offenbarung erschließt die Solaris, wie sie wirklich ist – nicht einmal, wie sie erscheinen möchte. Lems Metapher der absoluten Fremdheit ist perfekt.

Für die Menschen in der Station wird die Bahn um den Planeten zum Ort ihres eigenen Fegefeuers. Der alte katholische Begriff meint die Konfrontation mit dem Verdrängten, das erschreckt, peinigt, beschämt. Das, was wir nicht „wahr haben wollen“. Die Seiten unserer Persönlichkeit, die wir selbst nicht in unser Selbstbild integrieren können oder wollen: „Man liebt es und es ekelt uns vor dem Gegenstand unserer Begierde und ist zugleich verrückt danach…“, beschreibt der Wissenschaftler Snaut, was sich auf der Station materialisiert, ihre Bewohner beherrscht und bis zum Suizid treibt. Unzerstörbare Vergangenheit, unbestechlich. „Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel“, resümiert Kelvin. Wirklich? Denn Kelvin sucht am Ende, auf der Oberfläche Solaris‘, das Eingehen in das gigantische „Andere“. Doch Erlösung ist das nicht: „Die Zeit der grausamen Wunder ist noch nicht vorbei“, sind seine letzten Worte.

Glanert und Palm akzentuieren in ihrer Oper die Frage nach den Traumata, denen wir nicht entfliehen können: Alle Erforschung des Jenseitigen und des Weltraums beruht nach Glanerts Worten auf dem Wunsch, „einen Gott oder zumindest einen großen Bruder zu finden, der uns einen Teil unserer Schuld abnimmt“. Die „Gäste“ erhalten in der Oper ein ausgeprägteres Profil als im Roman: die „Negerin“, die Stationschef Gibarian zum Selbstmord treibt; der „Zwerg“, der den stets um Kontrolle ringenden Intellektuellen Sartorius peinigt; die „Alte Frau“, die Snaut halb als Mutter, halb als Domina demütigt. Im christlichen Verständnis braucht der Mensch einen Anderen, der ihm die Befreiung von seinen Schatten zusagt. Nicht umsonst dürfte Andrej Tarkowski seinem „Solaris“-Film Bachs Choral „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ unterlegt haben.

In der Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier blieb die Bregenzer Uraufführung von „Solaris“ allerdings zwischen Raumschiff Enterprise und interstellarer Beziehungskiste stecken. Christian Fenouillat hat eine dem Klischee einer Raumstation entsprechende Bühne gebaut, mit von Bullaugen durchbrochenen weißen Wänden, auf denen die farbigen Projektionen von Tommi Brem ein Versuch sind, Lems uneinholbare Beschreibungen der fremdartig faszinierenden Atmosphäre der Solaris wenigstens ansatzweise zu visualisieren. Aber die blinkenden bunten Dioden an irgendwelchen Geräten werfen uns wieder zurück in Sci-Fi-Kitsch.

Im Licht des lebenden Ozeans: Kelvin (Dietrich Henschel) und Harey (Marie Arnet). Foto: Forster/Bregenzer Festspiele

Im Licht des lebenden Ozeans: Kelvin (Dietrich Henschel) und Harey (Marie Arnet). Foto: Forster/Bregenzer Festspiele

Wenn dann die „Negerin“ (Benita Hyman) als monströser Fleischberg über die Szene watschelt, lässt das zwar das Publikum staunen, holt aber den unheimlichen Augenblick der ersten Erscheinung eines „Gastes“ nicht ein. Ihre Stärke hat die Inszenierung in den Momenten, in denen Kris Kelvin und die Erscheinung seiner Frau Harey immer deutlicher realisieren, dass sich die bloße materialisierte Erinnerung verselbständigt. Dass sie Selbstbewusstsein entwickelt und über die körperliche Montage einer Toten aus dem Abbild einer Erinnerung hinaus zu einer eigenen Persönlichkeit wächst. Dietrich Henschel und Marie Arnet erfüllen diese Szenen mit vokaler Poesie.

Martin Koch und Martin Winkler zeichnen scharfe Porträts der Forscher: Der eine spricht als Snaut die Wahrheit in der ironischen Leichtigkeit eines Kurt-Weill-Songs aus; der andere versucht als Sartorius in schnarrender Deklamation, die Reste der wissenschaftlichen Fassade zu retten. Christiane Oertel (Alte Frau) und Mirka Wagner (Zwerg) verlieren nach und nach alle Hemmungen, sich kreischend und belfernd als Quälerinnen ihrer Opfer zu übertreffen.

Mit Markus Stenz, Noch-GMD in Köln, stand ein wissender Sachwalter für Glanert am Pult der Wiener Symphoniker. Er hat 2006 bereits die Uraufführung der Oper „Caligula“ in Frankfurt geleitet und sich – unter anderem mit dem Bundesjugendorchester – immer wieder für die Musik des Komponisten eingesetzt. In Bregenz dirigierte er im ersten Orchesterkonzert auch Glanerts Fassung der Schubert-Ballade „Einsamkeit“. Mit dem traditionell besetzten Orchester – plus Bassklarinette, Kontrafagott, Celesta – erweist sich Glanert in „Solaris“ wieder einmal als Klanggestalter ersten Ranges. Er meidet naheliegende psychedelische Klangnebel, setzt Tonfolgen ein, die im Lauf des Stücks thematisches Gewicht gewinnen, schreibt frei tonale sangliche Linien und ermöglicht Sängern und Orchestersolisten mitunter belcantistische Entfaltung.

Stenz realisiert die dramatische Attacke ebenso wie die bohrende Repetition, das weiträumige Auffliegen orchestraler Melodik ebenso wie Klanggebilde an der Grenze der Unhörbarkeit. Der Prager Philharmonische Chor unter Lukáš Vasilek repräsentiert unsichtbar das Solaris-Wesen, das sich – anders als im Roman – in der Oper in den vier „Interludien“ immer klarer artikuliert, allerdings in kryptischem Wortsalat, der wohl eher Fremdheit als eine beginnenden kommunikative Kompetenz ausdrücken will.

Die Bregenzer Inszenierung wird am 19. Mai 2013 von der Komischen Oper Berlin übernommen. Dass sich andere Bühnen des tiefgründigen Werks annehmen, wäre dringend zu wünschen: das szenische Potenzial harrt noch darauf, umgesetzt zu werden.




Festspiel-Passagen IV: Sensibilität statt Sensation

Im sechsten Jahr hat es sich – um bei Richard Wagners Wortwahl zu bleiben – „ausgerast“. Die Liebe zum Tode hin ist zu einer recht langatmigen Affaire degeneriert. Christoph Marthalers „Tristan und Isolde“-Inszenierung hat für ihre letzten fünf Aufführungen am Grünen Hügel trotz penibler Einstudierung durch Anna-Sophie Mahler keine Kraft mehr. Marthaler selbst ist schon gar nicht mehr gekommen. Das „verzückte und wahnsinnige Begehren nach dem Ewigen und Absoluten“ (Thomas Mann) schrumpft auf die Dimensionen eines kleinbürgerlichen Trauerspiels.

Dabei hatte Marthalers Inszenierung – gegen alle bloß ästhetisch sich erregende Kritik – ihre Meriten. Denn sein sorgsamer Minimalismus und die schnoddrig-spießigen Räume der Anna Viebrock schlossen von vornherein die „erotische“ Romantik aus, die viele in Wagners weltensprengender Liebesgeschichte suchen. Da war nichts mit blauer Liebesnacht unter funkelnden Sternen. Sondern eher gescheiterter Ausbruch aus einer tristen Sphäre: abgerissene Säle, schimmliggraue Keller, der Charme einer Kolchosenkantine.

Humorige Anflüge im zweiten Aufzug: Isolde (Irene Theorin, links)  und Brangäne (Michelle Breedt). Foto: Jörg Schulze

Humorige Anflüge im zweiten Aufzug: Isolde (Irene Theorin, links) und Brangäne (Michelle Breedt). Foto: Jörg Schulze

Was Marthaler 2005 gezeigt hat, blieb mir in Erinnerung als ein gemeinsames Schreiten von Tristan und Isolde hin auf ein Ziel, das jenseits dieser überwältigenden Tristesse liegt. Gemeinsames Schauen auf ein Ziel außerhalb des Horizonts statt umarmungssüchtige Banal-Erotik: Marthaler hatte im Blick, worum es dem erlösungsbedürftigen, geradezu manisch auf eine höhere Form der „wahren Liebe“ versessenen Wagner gegangen ist. Davon geblieben sind die ohnmächtigen Ausbrüche Isoldes im ersten Aufzug, das pubertäre Spiel mit den Schaltern für die „Zünde“ im zweiten, aber auch das beeindruckende, isolierte Rasen und Sterben Tristans.

Der Bayreuther Tristan: Robert Dean Smith. Foto: Jörg Schulze

Der Bayreuther Tristan: Robert Dean Smith. Foto: Jörg Schulze

Dieser Tristan findet auch 2012 in Robert Dean Smith eine nicht gerade ideale, aber sehr glaubwürdige Darstellung. Smith ist einer der wenigen, die den Tristan wirklich singen – nicht brüllen, markieren oder deklamieren. Auch wenn sich sein Tenor manchmal nicht frei entfaltet, nicht optimal in den Raum projiziert ist, nimmt er für sich ein, weil er behutsam steigert, weil er sensible Piani gestalten kann. Dass er vorsichtig mit seinen Kräften haushaltet und sich im Fieberwahn auf der heimatlichen Burg Kareol nicht entäußert, ist konsequent: Smith ist kein Heldentenor alter Schule – aber wo gibt es noch einen Tristan, der verschwenderisch strahlende Töne verschenken kann?

Und wo gibt es eine Isolde, die Bayreuth aus der Herrschaft der glucksend-wabernden Großkaliber befreien könnte? Iréne Theorin – wir kennen sie als Isolde und Turandot vom Aalto-Theater – hat das Material für Ausbrüche, sie kann auch verhalten singen. Aber ihre Tonbildung ist so vibratosatt und matt fokussiert, dass man kaum ein Wort versteht. Für den „Liebestod“ fehlen ihr die Zwischentöne und die langsam sich steigernde, sehrende Glut, das jenseitige Verschweben des Tons, das Gestalten des großen Bogens. Doch der Beifall, der in direktem Verhältnis zur Lautstärke der Sänger stand, kam der schwedischen Sopranistin reichlich zu.

Mit Kwangchul Youn kehrt der König Marke von 2005/06 wieder zurück; ein führender Wagner-Bass, der jenseits von Hornbrille und Funktionärsmantel den inneren Zwiespalt, das aufrichtige Leiden an einer „Wunde, die kein Himmel erlöst“ verkörpert, aber auch das ratlose Nichtverstehen des metaphysischen „Müssens“ in Tristan und Isoldes gegenseitiger Verfallenheit. Mit freiem, sicherem Sitz und leuchtendem Klang nimmt Clemens Bieber als junger Seemann für sich ein. Bieber hat vor 25 Jahren in Bayreuth debütiert und ist inzwischen der dienstälteste Solist der Festspiele. Doch die Stimme ist frisch und unverbraucht wie eh und je.

Mit Jukka Rasilainens Kurwenal kann sich nur anfreunden, wer dröhnend scharfgeschnittene Wagner-Stimmen liebt. Ralf Lukas als Melot versucht, seiner Rolle als korrekter, verständnisloser Verräter markant gerecht zu werden; Arnold Bezuyen und Martin Snell erfüllen als Hirt im Hausmeister-Kittel und Steuermann die Erwartungen. Michelle Breedt macht aus der Brangäne ein Kabinettstück der Schauspielkunst, wenn sie im zweiten Aufzug die Gouvernante herauskehrt und Isolde vom unüberlegten Griff zum Lichtschalter abhalten will. Gesanglich kultiviert sie leider, was sie auch als Fricka im „Ring“ gezeigt hat: unstet hervorgestoßene Töne, brüchige Linien, kaum einmal ein lockerer Ansatz.

Zum heimlichen Star der Aufführung steigerten sich das Orchester und der Dirigent Peter Schneider. Ihm, dem die glamouröse Aura des Pultstars abgeht, sind die tiefsten Eindrücke des Abends zu verdanken. Souverän konzipiert er die großen Linien, die atemberaubenden Steigerungen, die Exaltation des Klangs. Dabei ist schwer atmende Dramatik seine Sache nicht; die Musik hat bei ihm eine hellglühende Transparenz, die bei aller Hitze den Blick auf Strukturen nicht verwabert.

Schneider ließ nichts selbstverständlich „fließen“; er kennt die Stockungen, das Ausleuchten harmonischer Tiefen in eingängig scheinenden Momenten vertrauter Thematik. Außerdem artikuliert er so sorgfältig wie sängerfreundlich; nur im dritten Aufzug läuft die Musik manchmal neben den Eruptionen Tristans her statt sie zu stützen oder abzutönen. Schneider hat sich erneut als Wagner-Interpret von hohem Rang erwiesen. Man braucht die Sensation nicht, die Sensibilität genügt.




Im Oktober gibt es wieder Mozarts „Don Giovanni“ in Hagen

Bald ist die Sommerpause nicht nur in der 1. Fußball-Bundesliga, sondern auch in den Stadt- und sonstigen Theatern vorbei. Aus Hagen liegt bereits das Programm für September vor. Mit „Cabaret“ geht es gleich am 1.9. los. Hier soll es nun einen kurzen Vorgeschmack über die weiteren Aufführungen geben.

Mit "Cabaret" geht es im Theater Hagen wieder los . (Foto Stadt Hagen)

Eigentlich beginnt die Hagener Saison ja schon am 25. August, aber nicht im Haus selbst, sondern davor: Bei Beginn der Dämmerung zeigt das Haus bei freiem Eintritt auf dem „FilmSchauPlatz“  den Streifen „Moulin Rouge“ mit Nicole Kidman und Ewan McGregor.

„Cabaret“ wird dann ab 1. September an vier Tagen aufeinander gegeben, es folgt am 8. September die Premiere des Kinder-Musicals „Zorro jagt den Carmen-Schatz“.. Danach am Abend und am Folgeabend wieder  „Cabaret“, am 11. und 12. Zorro,  abends „Cabaret“, am 16. September morgens das 1. Kammerkonzert, am 25 das 1. Sinfoniekonzert und dazwischen immer wieder „Cabaret“. Die zweite Premiere ist wieder ein Kinderstück: „Nur ein Tag“ am 30. September.

Man sieht, dass man wenig sieht im ersten Monat, zumindest wenig Unterschiedliches. Freuen kann man sich aber auf den 7. Oktober: Da wird der sehr positiv besprochene „Don Giovanni“ von Mozart wieder aufgenommen, und ab 25. Oktober tritt Guildo Horn wieder in „The Rocky Horro Picture Show“ auf.




Festspiel-Passagen III: Liebe in Zeiten der Datenströme

Jan Philipp Gloger ist 31 und damit aus einer Generation, die mit Matrix, Modem und Microsoft aufgewachsen ist. Er war noch ein Kind, als die alten Blöcke des Kalten Krieges von den neuen Fronten der Globalisierung und des Neoliberalismus abgelöst wurden. Die Welt, die ihm sein Bühnenbildner Christof Hetzer für den „Fliegenden Holländer“ auf der Bayreuther Festspielbühne gestaltet, ist die Welt dieser Kinder. Ein magisch flackerndes Gefängnis, gebildet aus Prozessoren und Platinen, Lichtbändern und Zählwerken. Winzig klein sitzen zwischen den energetischen Entladungen Menschlein in einem anachronistischen Holzboot: Daland und der Steuermann, autoritärer Chef und beflissener Angestellter. Sie sind beide so cool. Aber wenn sich Herr Daland unbeobachtet fühlt, schnupft er eine Prise Koks, und fühlt sich ertappt, wenn jemand guckt.

Gestrandet im Meer der Daten: Daland (Franz-Josef Selig, rechts) und der Steuermann (Benjamin Bruns). Foto: Enrico Nawrath

Gestrandet im Meer der Daten: Daland (Franz-Josef Selig, rechts) und der Steuermann (Benjamin Bruns). Foto: Enrico Nawrath

Gloger will, das macht das Einstiegsbild des „Fliegenden Holländer“ deutlich, Wagners Geschichte einer utopischen, einer „wahren“ Liebe in der Welt der vom Zeitgeist Getriebenen erzählen. Ihr Horizont ist die Vernetzung, die scheinbar Alle mit Allen verbindet. Aber dieses Netzwerks der Produzierenden und Kommunizierenden macht unendlich einsam: Der Holländer, der zwischen dem Datenblinken auftaucht, hat mit dem Rollkoffer und dem Kaffee-Pappbecher die Embleme des global ökonomisch getriebenen Ahasvers von heute bei sich.

Ein weiteres Prinzip, das sich der aus Hagen stammende Regisseur als Deutungsmuster zu eigen macht, ist das der Verkleinerung: In dieser Welt wird auf verwertbares Format heruntertransponiert. Der Sturm wird zum domestizierten Strom frischer Luft aus dem Ventilator, der in Dalands Produktionsstätte hergestellt wird: Summ und brumm, du Rädchen … Reduziert wird auch die Liebe: Der Holländer fragt in seinem Monolog nach dem gepries‘nen Engel Gottes, der seines Heils Bedingung ihm gewann. Die Antwort gibt eine Kaffee-Mamsell mit lasziver Bewegung: konsumierbarer Sex, ökonomisch relevante Gefühlsprodukte. Der Steuermann hält sich gleich an dem fest, was man greifen kann: Der Geldkoffer liegt in seinen Armen.

Mit dem Zuschnitt auf das, was man „in Zahlen darstellen kann“ – ein Lieblingskriterium von Unternehmensberatern und Controllern – endet Glogers Geschichte auch: Der Steuermann fotografiert mit seinem Handy die Vereinigung von Senta und Holländer im Tode – und zur nachkomponierten Verklärungsmusik Wagners verpacken eifrige Arbeiterinnen das neue Produkt: Kitschfiguren des Paares, von innen zu beleuchten. Der heftig ausgebuhte Coup der Inszenierung erfasst sehr genau die ökonomische Banalisierung großen Ideen und geistiger Entwürfe. Die „wahre Liebe“ Wagners, eine transzendentaler Begriff, kommt in solch schlichtem Materialismus nur als herziger Abklatsch vor.

Der Wagner’sche Liebesbegriff ist in den letzten Jahrzehnten in der Inszenierungsgeschichte des „Fliegenden Holländers“ oft genug reduziert, korrumpiert oder desavouiert worden. Zu erinnern ist an Harry Kupfers grandiose Bayreuther Deutung von 1978, der das Transzendierende in Wagners „Holländer“ aus einem materialistischen Ansatz konsequent als Wahn zu entlarven versuchte. Es gab psychologisierende Deutungen in jeder Spielart; in jüngerer Zeit wuchs die Sensibilität für das mythische Potenzial der Oper.

Pietá: Symbol für Wagners "wahre Liebe". Adrienne Pieczonka als Senta und Samuel oun als Holländer. Foto: Enrico Nawrath

Pietá: Symbol für Wagners "wahre Liebe". Adrienne Pieczonka als Senta und Samuel Youn als Holländer. Foto: Enrico Nawrath

Udo Bermbach zitiert im Programmheft des Bayreuther „Holländers“ nicht umsonst Max Horkheimer, der für die Bestimmung der „wahren Liebe“ ihre Richtung auf ein „künftiges glückliches Leben aller Menschen“ für unverzichtbar gehalten hat. Ein Ziel, das nur als Utopie oder in religiös begründeter Perspektive gedacht werden kann.

Gloger zeigt in seiner Inszenierung nun keine Offenbarung, aber er lässt seine Deutung auf eine solche hin offen. Das Romantisch-Übersinnliche, für das der Holländer steht, löst weder Widerstand noch Erschrecken aus; es hat in dieser Welt einfach keinen Platz. Wo es auftaucht – etwa durch die Mannen des Holländers in der Chorszene des dritten Aufzugs – wird es einfach absorbiert. Doch Senta, das „Kind“, das „nicht weiß, was es singt“, erschafft sich eine Welt, gibt ihrem Suchen eine Richtung, die sie mit der Sehnsucht des Holländers „nach dem Heil“ verbindet.

Haus, Schiff und Himmel bildet sie nach. Eine Puppe aus Pappe steht auf der Höhe des Hügels aus Schachteln, den sie sich als Flucht- und Rückzugsort errichtet hat. Genau an dieser Stelle erscheint der Holländer in Dalands Haus, eine Verkörperung dessen, was Senta sich in ihrem Inneren erträumt. Solche Momente der Inszenierung stellt Gloger ziemlich lapidar und kaum erläutert auf die Bühne – vielleicht die größte Schwäche der Produktion, die gerade in den intimen Szenen zwischen Senta und dem Mann ihrer Ideale zugespitzter interpretieren müsste. Aber um an solchen Momenten weiterzuarbeiten, ist Bayreuth ja eine „Werkstatt“.

Mit dem Dirigenten der einzigen Premiere dieser Festspiel-Saison am Grünen Hügel, Christian Thielemann, war sich Gloger einig, nicht auf die derzeit beliebte „Urfassung“ des „Holländers“ zuzugreifen, sondern den nachkomponierten „Erlösungsschluss“ als weitergehenden Willen Wagners zu akzeptieren und szenisch zu integrieren. Wenn sich Senta am Ende mit selbstgebastelten Papp-Engelsflügelchen zu ihrem Holländer auf die Sehnsuchts-Burg flüchtet und zum harfenlichtdurchfluteten Pathos des Finales die Plastikfigürchen verpackt werden, könnte dieser Moment als rabenschwarzer Kommentar zu Wagners scheinbar irrealem, psychologisch verstiegenem Konzept gesehen werden. Doch dem steht die Musik im Wege: Thielemann lässt sie in solchem Ernst, solch brennender Identifikation aufleuchten, dass sie einen unüberwindlichen Kontrapunkt zum Zynismus der Szene setzt: Klingende Hoffnung, Rettung der Wahrheit und ungebrochene Hoffnung auf die verwandelnde Kraft der Liebe.

Thielemann hat sich des „Holländers“ in einem höchst ästhetischen Orchesterklang angenommen, ist aber nicht immer in der Tiefe angekommen. In der Ouvertüre bricht er in Sentas Balladenmotiv den Bogen und radikalisiert die Punktierungen zum dezidierten Non-Legato. „Schöne Stellen“ kostet er wieder einmal bis zur Grenze des Zerfallens aus. Oft achtet er mehr auf die Brillanz der Melodiestimmen als wichtige Farben aus der Tiefe der Partitur zu heben und zu gewichten. Das ist schwelgerisch musiziert und – die Ovationen beweisen es – höchst publikumswirksam. Aber hinter der Glätte ist es schwer, Abgründe zu orten.

Adrianne Pieczonka als Senta. Foto: Enrico Nawrath

Adrianne Pieczonka als Senta. Foto: Enrico Nawrath

Unter den Sängern überzeugen alleine der schönstimmige und sichere Steuermann von Benjamin Bruns und die Senta Adrianne Pieczonkas. Ihr gelingen balsamische Piani, aber auch die aufflammende Leidenschaft und der zu allem entschlossene Furor des Finales. Dass sie nicht alle Töne konstant durchstützt, macht ihr bei manchen, von Thielemann noch verlangsamten Bögen Probleme. Aber als lyrisch grundierte Senta mit der nötigen Expansionskraft und stimmlich abgesicherter Farbpalette ist Pieczonka ihren Vorgängerinnen seit den achtziger Jahren überlegen.

Der Sänger des Titelhelden, Evgeny Nikitin, musste wegen seiner unglücklichen Tattoo-Affäre weichen. Sein Cover Samuel Youn, in Köln engagiert und dort auch als „Holländer“ erfolgreich gewesen, schlug sich tapfer. Er beginnt mit entspannter Tiefe, doch die Stimme verkrallt sich, je höher sie steigt, immer heftiger in einer klanglich limitierten Position, wird fest und unflexibel. Dann verliert der Sänger auch die Freiheit, verständlich zu artikulieren. Die hat Michael König als Erik: Als Hausmeister im grauen Kittel versucht er vergeblich, seinen braven, ambitionslosen Liebes-Begriff der zum Höchsten gestimmten Senta zu erklären. Dennoch könnte das alles freier, unverfärbter und mit Schmelz gesungen sein; schließlich sind Eriks Gefühle ja aufrecht und lauter.

Franz-Josef Selig, bis 1995 am Aalto-Theater Essen, singt den Daland. Foto: Enrico Nawrath

Franz-Josef Selig, bis 1995 am Aalto-Theater Essen, singt den Daland. Foto: Enrico Nawrath

Franz-Josef Selig, von 1989 bis 1995 im Ensemble des Essener Aalto-Theaters, ist einer jener kraftvollen, aber wüst orgendeln Bässe, die für einen noch nie überzeugenden Wagner-Stil stehen. Und Christa Mayer hinterlässt als Mary stimmlich wenig Eindruck. Wie immer eine sichere Bank: Der Chor der Bayreuther Festspiele hat unter Eberhard Friedrich Glanz, Wucht und Präzision wie eh und je. Obwohl die Regie-Sensation, die sich viele Beobachter erwarten, am Grünen Hügel diesmal ausgeblieben ist, kann sich Glogers ausgewogene Arbeit behaupten; neben Herheims überbordenden „Parsifal“-Assoziationen, Hans Neuenfels‘ „Lohengrin“-Zuspitzungen und Sebastian Baumgartens überkandidelter Installations-Belebung im „Tannhäuser“ hat sie als solide erarbeitetes Musiktheater durchaus ihre Chance.




Festspiel-Passagen I: Ein Hakenkreuz geht nie

"Der düstre Blick....": Noch starrt Arno Brekers Wagner-Kopf über das Grün des Hügels: Die Vergangenheit hat die Festspiele wieder einmal eingeholt. Foto: Werner Häußner

"Der düstre Blick....": Noch starrt Arno Brekers Wagner-Kopf über das Grün des Hügels: Die Vergangenheit hat die Festspiele wieder einmal eingeholt. Foto: Werner Häußner

Sie sind eröffnet, die alljährlichen Dionysien am mythischen Hügel. Doch Bayreuth wäre nicht es selbst, bliebe es bei den Tragödien im Festspielhaus. Die Komödien finden meist vorher statt, in diesem Jahr ersetzt durch ein deftiges Satyrspiel. Opfer der Medien-Mänaden – manche meinen auch, derer im Direktionsbüro – ist der Sänger Evgeny Nikitin. Seine „Tattoo-Affäre“ ließ die Debatten um Kartenvergabe und Wahnfried-Gestaltung, die Spannung um Neuinszenierung und Zukunftspläne, vorübergehend in den Hintergrund treten. Und besonders wichtig in Zeiten, in denen „Kultur“ der intellektuellen Bescheidung halber einfach mit „Freizeit“ gleichgesetzt wird: Angela Merkel schien das gleiche Kleid wie 2008 getragen zu haben! Jaja, die Spar-Kanzlerin! Und man will deutlich die Seidensöckchen zu ihren Pumps gesehen haben! Wenn das keine Meldungen sind ….

Evgeny Nikitin, der vorgesehene Sänger des „Holländer“, war zu diesem Zeitpunkt schon längst abgereist. Er sollte der erste Russe sein, der am Grünen Hügel den ruhelosen, gespenstischen Seefahrer singt. Die PR-Maschinerie lief auf vollen Touren: Porträts hier, Interviews dort. Jeder wollte etwas über den Bassbariton mit der „tollen Wagner-Stimme“ erfahren, der sich auch als Drummer einer Metal-Band hervorgetan hatte. Doch mitten im Steigflug stürzte Evgeny Nikitin unsanft ab. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt: seine eigene, aber vor allem diejenige Bayreuths.

Tattoos wurden dem Sänger zum Verhängnis. Irgendwann in seiner Jugend hatte er sich tätowieren lassen: mit Runen und einem unübersehbaren Hakenkreuz auf der rechten Brust. Längst hat er es überstechen lassen. Aber die Medien speichern, so vergesslich sie sonst gerne sind, manche Bilder lange. In der ZDF-Sendung „aspekte“ war das Nazi-Mal in Aufnahmen des oberkörperfreien Drummers deutlich zu sehen. Und ein Boulevardblatt, dem jeder Anlass zum Skandal nur recht ist, hatte zu recherchieren begonnen.

Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier reagierten schnell. Ein Gespräch mit dem Künstler, danach eine Presseerklärung: Nikitin verzichtet auf seinen Auftritt bei den Bayreuther Festspielen. Und dann ein Satz, den man zwei Mal lesen muss: „Im Ergebnis der ca. halbstündigen Unterredung wurden Evgeny Nikitin die Konnotationen dieser Symbole gerade in Verbindung mit der deutschen Geschichte bewusst.“

Als Nikitin in den siebziger Jahren in Murmansk aufgewachsen ist, konnten sie noch erzählen, die Leidtragenden des „Großen Vaterländischen Krieges“. Hatte er nie ein Wort gehört über Tod und Elend, die unter dem Zeichen des Hakenkreuzes über sein Volk gebracht wurden? War ihm das Hitler-Symbol tatsächlich nur ein Mittel, um jugendlichen Trotz, Protest, Verweigerung auszudrücken? Wenn ja – und man darf davon ausgehen, dass der Sänger die Wahrheit sagt –, lässt sich nur staunen, wie geschichtsvergessen und blauäugig jemand nach Bayreuth kommt, um den „Holländer“ zu singen.

Nikitin hat nicht mitbekommen, dass seine Tattoos mit dem Nationalsozialismus oder mit Neonazis in Zusammenhang gebracht werden könnten? Da will jemand zur Spitze der Wagner-Sänger weltweit gehören und scheint nicht den Schimmer davon zu haben, welche unheilvolle Rolle Wagners Denken, Wagners Musik und die Ideologie Bayreuths in der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts spielte? Und was soll die „spirituelle“ Bedeutung sein, die der Sänger in diesen Symbolen entdecken will? Nein, Nikitin ist kein Nazi, kein Neonazi, auch keiner von den schrecklichen Verharmlosern. Er ist wohl einfach nur geschichtslos und naiv. Aber: Kann ein Sänger, so schön die Stimme auch sein mag, das heute, zumal in Bayreuth, noch sein?

Nikitin wird dennoch seinen Weg gehen: Beinahe schon demonstrativ wurde darauf hingewiesen, dass er im Herbst als Telramund im Münchner „Lohengrin“ zu erleben ist. Bayreuth plante für die gestrige Premiere derweilen mit dem Koreaner Samuel Youn, der in der Titelrolle des „Holländer“ – und etwa auch als Klingsor im „Parsifal“ – schon in Köln zu überzeugen wusste. Seit 2004 singt Youn bereits bei den Festspielen; 2010 hatte er als Heerrufer seine erste große Bayreuther Rolle.

Samuel Youn als "Holländer" in Bayreuth. Foto: Enrico Nawrath

Samuel Youn als "Holländer" in Bayreuth. Foto: Enrico Nawrath

Es war zu erwarten, dass sich ein „Skandal“ manifestiert – egal, wie die Wagner-Halbschwestern entschieden hätten. In Kommentaren wurde gemutmaßt, die entsprechenden Schlagzeilen seien schon gesetzt gewesen, als Nikitins Absage eintraf. Bayreuth und die Nazis bleibt ein heikles Thema, so lange Arnold Brekers Wagnerkopf noch über das Grün vor dem Festspielhaus in weite, weite Fernen stiert. Katharina Wagner, persönlich unverstrickt, hat bei ihrem Amtsantritt lückenlose Aufklärung gelobt – und das bei der Pressekonferenz zu Festspielbeginn noch einmal bekräftigt. Sie hat die geistige Auseinandersetzung mit den langen braunen Schatten in ihren „Meistersingern“ von 2007 gesucht und in Stefan Herheims „Parsifal“ mitgetragen. Doch so lange die wissenschaftliche Erschließung keine Ergebnisse vorzeigen kann, so lange Quellen weggeschlossen bleiben, wird sich das Gespenst nicht bannen lassen. Die Wunde schließt sich erst, wenn die „Nacht über Bayreuth“ dem hellen Tageslicht historischer Aufarbeitung gewichen ist.

Momentan holt sie die Geschichte wieder einmal ein, die beiden Wagner-Urenkelinnen. Ob sie richtig reagiert haben, darüber gibt es weit auseinander liegende Meinungen. Wäre eine gemeinsame Pressekonferenz mit Nikitin der bessere Weg gewesen, wie es der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Nikolaus Bachler, vorgeschlagen hat? Wer die Eigendynamik medialer Prozesse kennt, wird der Idee skeptisch gegenüberstehen – so gutwillig und aufklärend sie auch gemeint sein mag. Andere sehen in der Entscheidung, Nikitin ziehen zu lassen, die richtige Reaktion angesichts der Verstrickungen der Festspiele mit dem Nationalsozialismus. Brigitte Hamann, Autorin eines Buches über „Hitlers Bayreuth“, sagte der „Deutschen Welle“, es sei „so viel an Last durch die Nazis in Bayreuth, heute auch noch, dass man als Chefin der Festspiele ja überhaupt nicht anders kann, als immer wieder zu betonen: Wir distanzieren uns“.

Bachler hatte sich mit scharfer Kritik in die Debatte eingeschaltet: „Ich sehe in der Causa Nikitin zunächst mehr ein Problem Bayreuths und der Wagner-Familie als eines des Sängers.“ Er halte es für verlogen, dass die „Torheit eines 16-jährigen Rocksängers, der diese längst bereut und versucht hat, ungeschehen zu machen, ausgerechnet von der Wagner-Familie geahndet wird“.

Der Staatsopernintendant betonte weiter, man zeige offenbar „mit dem Finger auf jemanden anderen, weil man mit der eigenen Geschichte ein Problem hat“. Nikitin habe in seinen Aussagen den Vorfall aus seiner Zeit als Schlagzeuger in einer Heavy-Metal-Band nicht nur bedauert, sondern auch Reue gezeigt. „Eine Reue, die ich von der Familie Wagner in den letzten 50 Jahren nie vernommen habe.“ In diese Kerbe schlägt auch das Feuilleton der FAZ: „Versagt hat nicht der russische Sänger. Versagt haben, wieder einmal, die Festspiele“, war dort zu lesen. Auch der „Lohengrin“ – Regisseur Hans Neuenfels sieht ein „großes Versagen“ der Festspielleitung: Von einem solchen Vorfall dürfe man nicht überrascht und von einem Boulevardmagazin zum Handeln genötigt werden. Dass das Problem nun in „einer solchen fast infantilen, analphasigen Boulevardposse endet, das finde ich schon besonders beschämend für die Festspiele“. So Neuenfels‘ Resümee.

Solche Äußerungen zeigen, wie bereitwillig mit der unglücklichen Jugendsünde des Evgeny Nikitin nun auch Politik gemacht wird. Die Festspielleiterinnen wollen doch nicht die Jugendtorheit eines Sängers „ahnden“. Sie haben mit Blick auf eine drohende Skandalisierung der Auftritte Nikitins entschieden. Der Bayreuth-Dirigent Christian Thielemann hat es auf seine Art zusammengefasst: „Ein Hakenkreuz geht nie.“ Und mit dieser Feststellung auch gleich einen geistigen Schlenker zu seiner generellen Abneigung gegen Inszenierungen mit Bezügen zur NS-Zeit vollzogen.

Vorwerfen wird diese „Notbremse“ den Festspielleiterinnen nur jemand, der ernsthaft glaubt, die wohlfeile Geschichte vom Hakenkreuzträger auf der braun belasteten Bühne wäre durch einen differenzierten, rationalen Diskurs zu verhindern gewesen. Wer weiß, wie das Mediengeschäft heute läuft, wird nicht im Ernst annehmen, dass Vernunft und Augenmaß die Gesetze dieses Marktes außer Kraft gesetzt hätten.




Neuer Spielplan, alte Probleme – die Oper Dortmund ringt ums Publikum

Das neue Programmbuch des Theaters Dortmund. Foto: -n

Nach der Saison ist vor der Saison. Die alte Fußballerweisheit gilt nicht zuletzt auch für das Theater. Und wer sieht, wie intensiv die Dortmunder Bühnen bereits Vorstellungen der Spielzeit 2012/13 bei Facebook posten, mag erkennen, dass Werbung eben auch in der Sommerpause wichtig ist. Genauer gesagt: Diese PR-Maßnahme ist dringend geboten, zumindest mit Blick auf die Besucherzahlen des Opernhauses.

Denn die nun abgelaufene Saison, die erste des neuen Opern-Intendanten Jens-Daniel Herzog, hat zwar einen leichten Publikums-Aufschwung bewirkt, von guten Auslastungszahlen zu reden aber wäre pure Beschönigung. Herzog ist allerdings zugute zu halten, dass ein Haus, das mit einer Zuschauerquote unter 50 Prozent zu kämpfen hatte, nicht von heute auf morgen aus dem Sumpf der Geringschätzung herauszuziehen ist. Abgerechnet wird am Schluss, nach den ersten fünf absolvierten Vertragsjahren des Intendanten.

Der Opernchef selbst hat zugegeben, dass die Imageverbesserung des Musiktheaters offenbar länger dauert als gedacht. Gleichwohl ist sein Optimismus ungebrochen. Und vor ein paar Monaten, als Herzog sein neues Programm im Kulturausschuss vorstellte, führte das von politischer Seite zu wahren Belobigungsattacken. Das klang allerdings so ehrlich wie routiniert.

Nun also das neue Programm: Der Intendant hatte zum Amtsantritt versprochen, über die fünf Jahre opernhistorische Linien zu verfolgen. Er begann mit Wagner, doch die Musik des Bayreuther Meisters hat in dieser Saison Pause. Stattdessen wird als erste Premiere Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ zu sehen sein, in der Inszenierung der Dortmunder Hausregisseurin Katharina Thoma.

Es folgt Jule Stynes „Funny Girl“ als Fortführung der Musical-Linie, dann Monteverdis „Krönung der Poppea“ (Renaissance/Barock) in Herzogs Inszenierung. In Sachen Operette steht diesmal Kálmáns „Csárdásfürstin“ auf dem Programm, im dramatischen Belcantofach deutet wiederum Katharina Thoma Verdis „Il Trovatore“.

Mozarts „Figaro“ und Donizettis „Liebestrank“ bedienen nicht zuletzt die Abteilung „Beliebte Opern für jedermann“. Schließlich offeriert Intendant Herzog seine Sicht auf eine „knallige Revue-Oper“ (so das Programmbuch) des Briten Mark-Anthony Turnage: Anna Nicole. Das Stück um Aufstieg, Glanz und Verfall eines Playboy-Models wurde im letzten Jahr in London aus der Taufe gehoben. In Dortmund ist diese „Neue Musik“ in Deutscher Erstaufführung zu sehen.

Gestrichen ist indes die Linie „szenisches Oratorium“, wie sie mit Mendelssohns „Elias“ wirkmächtig begonnen hatte. Stattdessen steht als konzertante Oper Jules Massenets „Manon“ auf dem Programm.

Herzog hat stets betont, auch die Junge Oper zu stärken. Dies spiegelt sich in der neuen Saison in vier Premieren wieder: Der kleine Barbier (nach Rossini), das märchenhafte „Sneewitte“ (in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendtheater), Xavier Montsalvatges „Der gestiefelte Kater“ (zusammen mit der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg) und der experimentell klingende Dreiakter „Das Innere des Äußeren – Musik auf der Grenze zum Theater“.

Der Premierenkalender der Oper Dortmund ist also in der kommenden Saison prall gefüllt. Zum Vergleich: Im Essener Aalto-Theater gibt es 2012/13 ganze vier (!) neue Musiktheaterproduktionen. Nur blöd, dass dort fast alles immer ausverkauft ist.




Grandiose Deutung: „Don Giovanni“ an der Rheinoper

Wer – oder was – ist Don Juan? Die Frage hat die geistige Welt schon umgetrieben, als Tirso de Molina sein barockes Spiel vom bestraften Wüstling verfasst und auf die Bühne gestellt hat. Seither hat Don Juan eine Weltkarriere gemacht: Es gibt tausende von literarischen Werken, Dutzende von Opern und hunderte von Büchern über die Gestalt, deren historisches Werden ebenso im Dunkel liegt wie die inneren Schichten seiner Seele.

Spätestens seit Wolfgang Amadé Mozart, seit E.T.A. Hoffmann und Søren Kierkegaard ist der Don-Juan-Stoff mit Musik verbunden. Don Giovanni ist ein idealer Opernheld, denn seine Uneindeutigkeit und sein wesenloses Sein, seine symbolische Kraft und seine sinnliche Existenz lassen sich in und mit Musik – zumal, wenn ein Mozart am Werke ist – am sinnenfälligsten einkreisen. Kein Wunder also, dass sich die geistige Auseinandersetzung mit dem unsterblichen Mythos Don Juan immer wieder an Mozarts und da Pontes Oper entzündet und zu ihr zurückführt.

Kein Wunder auch, dass die Welt der Oper nicht müde wird, die Geschichte von dem Mann mit den tausendunddrei spanischen Geliebten in immer neuen Inszenierungen auf seine Relevanz für das Heute zu befragen. Das geschieht nicht selten in ratlos erzählender Kapitulation vor dem gewaltigen Stoff, nicht selten auch in hysterischer, fundamentloser Zuspitzung, hin und wieder – wie jetzt in Duisburg – aber auch in einer grandios gekonnten, auf der Grenze zum Abgründigen balancierenden Deutung.

Dabei muss man Karoline Grubers gedanklichen Ansätzen nicht in allem folgen: Don Giovanni ist nämlich keineswegs, wie die Regisseurin im Interview des Programmhefts meint, ein Prinzip der Freiheit, sondern eher das Gegenteil. Er ist – zumindest bei Mozart – kein Träger einer lustvoll-erotischen Anarchie, die den moralischen oder kirchlichen Autoritäten so lange amüsante Schnippchen schlägt, bis ihn endlich der Teufel (oder bloß die Theater-Hölle) holt. Dazu finden wir in der Oper zu viele Personen, die an Don Giovanni einfach nur leiden. Aber die Regisseurin, die der Deutschen Oper am Rhein endlich einmal einen klugen und eminent theatralischen Don Giovanni geschenkt hat, weist in ihrer Durchdringung des Mythos auf eines der entscheidenden Elemente hin: Don Giovanni ist Träger einer unbedingten erotischen Energie. Sie setzt in allen Menschen, die mit ihr in Kontakt kommen, unwiderstehliche, anarchische Kräfte frei.

Ihr bisheriges Dasein zwischen den Polen einer beherrschten, gesellschaftlich eingebundenen Sexualität und den von sozialer Zuordnung und moralischen Prinzipien geregelten Lebensformen wird gesprengt. Die Wucht ist ungeheuer und entwurzelt die Menschen: Donna Anna wird von der dunklen erotischen Kraft Giovannis auf ewig verwundet und zu einer „geregelten“ Liebesbeziehung nicht mehr fähig sein; Donna Elvira wird ihren heroischen Kampf, der Existenz Don Giovannis humane Züge zu geben, im Kloster beenden, sich also von der Welt ab und Gott zuwenden. Zerlina und Masetto werden vielleicht äußerlich unversehrt, aber innerlich gebrochen in ihr Bauern-Dasein zurückkehren. Und für Don Ottavio gilt: Wie er war zu aller Zeit, so bleibt er in Ewigkeit; eine Figur, die sich jedem Wandel in unerschütterlicher Resistenz entzieht. Ein starres Gegenbild zu Don Giovannis ewig geschmeidiger Wendigkeit, das ebenso erschreckende Züge trägt.

Gruber realisiert das magnetische Prinzip von Anziehung und Abstoßung in einem Bühnenbild von Roy Spahn, das sich konsequent durchgeformt jedem opulenten Dekorationswillen entzieht. Arnold Böcklins Bild „Odysseus und Kalypso“ als – immer wiederkehrendes – Element signalisiert, dass mythische Bezüge und seelische Abgründe in dieser Inszenierung ihren Platz finden. Hinter Türen, die an Blaubarts Kammern erinnern, hausen Gespenster: weiße Frauen, bleiche Bräute, von Don Giovanni ihres Lebens beraubt – ein kluger Hinweis auf die Verschränkung von Sex, Tod und Teufel, wie wir sie etwa in Heinrich Marschners „Der Vampyr“, einer Schlüsseloper der Romantik, wiederfinden.

Unverzichtbar für Grubers tiefgründige Arbeit am „Don Giovanni“ erweisen sich die bedeutungsvollen Kostüme Mechthild Seipels. Endlich einmal keine Kostümbildnerin, die sich in Designer-Klamotten oder Disco-Fetzchen flüchtet, sondern Epochen und Stile in den Dienst einer Deutung stellt. Donna Annas Robe erinnert an Madame Bovary oder Anna Karenina; Donna Elvira trägt den – stellenweise anzüglich geschürzten – barocken Aufwand einer Heroine zur Schau; Don Ottavio tritt in blauem Morgenmantel als getreue Kopie des ermordeten Komturs, später mit dem unauffälligen Anzug der Arrivierten und der Mütze einer Burschenschaft auf. Leporello verweist mit zerbrochenen Handschellen auf eine spezielle Beziehung zu seinem Herrn; Masetto und Zerlina sind in der Gegenwart verortet: Sommerkleidchen und Handtasche, Hornbrille und Karo-Pullover. Vielsagende Kostüme also, die mit der Dynamik oder Statik der Figuren im Verlauf des Stücks korrespondieren.

Dass der Komtur am Ende mit einer angedeuteten Mitra und einer monströs verunstalteten Gesichtshälfte wiederkehrt, wird der Figur gerecht: Er ist Vertreter der Hölle ebenso wie Symbolfigur für die göttliche Ordnung der Welt. Dass der finale Übergriff Don Giovannis – die Herausforderung des Göttlichen – seinen Untergang auslöst, spielt in Grubers Lesart freilich kaum eine Rolle; der blasphemische Zug der Figur Don Giovannis wird nur einmal in einer Parodie des geneigten Hauptes Jesu am Kreuz angedeutet.

Gruber zeigt die Personen des Stücks im Bannkreis eines Don Giovanni, der seinerseits seltsam ungreifbar bleibt – und damit bildet die Regisseurin den Charakter des Bühnenhelden präzis ab. Mozart hat ihm keine selbstreflektierende Musik gegeben, nur einen musikalischen Rausch, ein „perpetuum mobile“, und ein verlogenes Ständchen. Zutreffend beschreibt Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach im lesenswerten Programmheft Don Giovanni als „seelisches Sinnbild“, das vor allem ex negativo in den anderen Figuren zu finden ist. Don Giovanni als Nicht-Existenz, als Kraftfeld, als Chimäre – die perfekte Chiffre des Bösen.

Auf diesen „Don Giovanni“ sich einzulassen, lohnt sich; er ist auch der verästelten Inszenierung Stefan Herheims in Essen überlegen, weil Karoline Gruber die Bild- und Bewegungswelt bündelt statt sie assoziativ schweifen zu lassen. Auch musikalisch beschert diese – für die Nikikai Opera Foundation in Tokio entstandene und an die Deutsche Oper übernommene – Produktion viel Mozart-Glück. Friedemann Layer, ans Pult der Duisburger Philharmoniker zurückgekehrt, durchschwimmt zwar das Adagio der Ouvertüre eher, bekommt aber schnell Boden unter die Füße und entfaltet einen kernigen, nervigen, klarsichtigen Mozart-Sound. Die Tempi sind nicht übertrieben; das Cello lässt in der Begleitung der Rezitative aparte Farben zu.

In der Sängerliste überwiegen Namen aus dem Osten; entsprechend hört man eine gesangliche Stilistik, die mit Mozarts Eleganz wenig anzufangen weiß. Roman Polisadov orgelt sich durch die paar Sätze des Komturs; Olesya Golovneva bringt zwar die dramatische Substanz für die Donna Anna mit, findet aber erst in der – dann aber meisterlich gestalteten – Arie „Non mi dir, bell‘ idol mio“ zu ausgeglichenem Singen und einer flüssigen Tonproduktion. Nataliya Kovalova müht sich mit flach hupenden Tönen um die Donna Elvira, ohne für eine ihrer Arien die technische Façon zu gewinnen. Alma Sadé treibt zwar den einen oder anderen Ton ohne Leichtigkeit in die Höhe, versteht sich aber auf gut phrasiertes Singen mit unverkrampften Linien. Darin tut es ihr Torben Jürgens als Masetto gleich: ein musikalisch erfreuliches Paar. Corby Welch scheint nicht seinen besten Abend gehabt zu haben; sein Tenor ist zwar präsent und treffend timbriert, bleibt aber seltsam schwammig in der Tonemission, als fehle ihm die rechte Fokussierung.

Laimonas Pautienius verfügt über einen flexiblen Bariton, fast immer leicht ansprechend und schlank geführt, beweglich im Rezitativ: ein überzeugender Don Giovanni, der die Farben der Ironie und der Willensstärke ebenso hat wie einen träumerischen voix mixte – Klang für das Ständchen („Deh, vieni alla finestra“). Nur in seiner Arie kommt er an die Grenze seines Atems. Den vokalen Glanzpunkt des Abends setzt Adam Palka als Leporello mit einer sicher positionierten, im Klang fülligen, konturscharfen Stimme, die nicht nur sauber artikulierend, sondern auch rhetorisch brillant und charakterisierend eingesetzt wird.

Der „Don Giovanni“ ist wieder ab 7. Dezember in Düsseldorf zu erleben. Hingehen!




Zur Liebe nicht mehr fähig: Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in Essen

Weiße Räume, einsame Menschen: Christina Clark (Blondchen) und Roman Astakhov (Osmin) in der Essener "Entführung aus dem Serail"

Weiße Räume, einsame Menschen: Christina Clark (Blondchen) und Roman Astakhov (Osmin) in der Essener "Entführung aus dem Serail"

Nur einer kämpft wirklich, tobt herum, heult hemmungslos, zeigt Emotionen pur: Osmin. Und er ist der Einzige, der möglicherweise die Liebe findet: Blondchen wendet sich ihm zu, dem cholerischen, aber authentischen Mann. Die anderen singen derweil von Freud‘ und Wonne in blassen, weißlichen, leeren Räumen. „Es lebe die Liebe“, heißt es im Quartett am Ende des zweiten Aufzugs in Mozarts „Entführung aus dem Serail“, aber in der Essener Inszenierung von Jetske Mijnssen gähnt stattdessen die Einsamkeit aus der tief gestaffelten Leere der Bühne.

Es ist einiges anders als sonst in der „Türkenoper“ Mozarts – und das lässt viele Zuschauer die Premiere ordentlich ausbuhen. Mijnssen, ihre Bühnenbildnerin Sanne Danz und ihre Kostümkünstlerin Arien de Vries haben Orient-Kolorit und Türken-Mode ausgetrieben. Hier geht es nicht um ein fesches Singspiel aus dem Wien von 1782, sondern um ein psychologisch verdichtetes Kammerspiel von 2012. So zumindest ist die durchaus schlüssige Idee der neuesten „Entführung“ am Essener Aalto-Theater.

Osmin ist also kein pluderhosiger Haremsaufseher und der Bassa Selim kein Turban tragender Märchen-Nahostler, erfüllt vom großmütigen Menschen-Ideal der Aufklärung. Er feiert gerade seinen 40. Geburtstag, mit Torte und Bierdosen. Wir erleben die behutsame Annäherung von zwei Menschen. Selim möchte mit Konstanze ausbrechen aus seinem Umfeld, sinnenfällig markiert vom Rahmen der Bühne. Eine „neue, bessere Welt“ will er erreichen, in der man „wenigstens dann und wann“ glücklich sein kann.

In der Essener „Entführung“ sprechen Menschen, die innerlich ihren Ort verloren haben, die ihre erste Liebe schon lange hinter sich haben, die es verlernt haben, sich zu entscheiden, sich zu binden. Aber sie träumen sich zurück in unversehrte Räume des Fühlens. Belmonte zum Beispiel – er könnte die erste Liebe Konstanzes gewesen sein – vertieft sich in die Intensität seines Sehnens, seiner Erwartung. Wenn er vor dem Vorhang vor seinen eigenen Emotionen in die Knie geht: Ist er dann ganz bei sich? Oder nur in sich selbst gefangen?

Konstanzes Attribut ist die Reisetasche. Ein Mensch unterwegs. Wie beschwörend packt Belmonte das braune Ding, als ihm klar wird, dass ihm die Frau seiner Sehnsüchte – wieder? – entschwindet. Am Ende, musikalisch durch den wiederholten ersten Teil der Ouvertüre noch erweitert – macht sich Konstanze mit der Tasche auf den Weg. Alleine. Wohin, wird die Regisseurin in ihrer ersten Arbeit am Aalto-Theater Essen nicht verraten. „Zuletzt befreit mich doch der Tod“, singt Konstanze in ihrer zentralen Arie. In Mozarts „Entführung“, Libretto von Johann Gottlieb Stephanie, ist klar, von was: von der angedrohten Folter. In der „Entführung“, umgedichtet von Jetske Mijnssen, wird wohl erst der Tod Konstanzes innere Einsamkeit beenden.

Mijnssen packt in ihrem „Entführungs“-Experiment so mutig wie in ihrer letztjährigen Dortmunder „Rusalka“ zu. Die weißen Räume von Sanne Danz öffnen sich weit nach hinten, reproduzieren jedoch konsequent immer wieder nur die gleiche Leere. Mijnsen will etwas über Menschen erzählen, die ungefähr so alt sind wie sie selbst. Über den Bassa etwa, der das „Chaos“ in sich fühlt. Und am Ende desillusioniert keine Großmut, sondern Wurstigkeit zeigt: Sollen sie doch gehen, die Verliebten. Ist ihm so was von egal …

Einsame Menschen: Sanne Danz' Bühne zu Mozarts "Entführung aus dem Serail" Fotos: Aalto Theater Essen

Einsame Menschen: Sanne Danz' Bühne zu Mozarts "Entführung aus dem Serail" Fotos: Aalto Theater Essen

Gedanklich ist die Inszenierung ein Wurf, szenisch nur stellenweise. Denn dem Drama fehlt der Spannungsbogen. Umgearbeitete Dialoge biedern sich der heutigen Sprache an, wirken aber manchmal banaler als die Stephanie-Reimereien. Personen wie Blonde oder Belmonte bleiben unerklärt; der Bassa des Schauspielers Maik Solbach ist bloß ein blasser Typ mit dem neudeutschen Tonfall eines Fernsehmoderators. Sicher, hier treffen Monaden aufeinander, die einer Novelle von Martin Walser oder einem Roman Michel Houellebecqs entkriechen könnten. Die Regie versucht in zerdehnten Bewegungen ihre Seelenzustände einzufangen. Aber oft bleibt das Stück auf der Stelle stehen Und die Auftritte und Bewegungen der Figuren muten an, als habe die Regie ihr Handwerk einer Idee geopfert. Konstanzes Klagen über die „Martern aller Arten“ wirkt so vor allem hysterisch: Die Figur ist nicht konsequent genug durchgeformt, dass man ihr glauben würde, von ihrer Entscheidungsangst könnte sie „nur der Tod“ befreien.

Musikalisch sorgt Christoph Poppen – erstmals am Aalto-Theater zu Gast – für eine Mozart-Sternstunde: Zwar verhetzt er die Ouvertüre á la mode, opfert dem Tempo Artikulationsfinesse und feine Detailarbeit der Geigen. Doch das gibt sich zum Glück bald: Den Essener Philharmonikern gelingen das innere Beziehungsgeflecht der Musik spannend, Einzelheiten filigran modelliert, Klangfarben sinnig ausgespielt. Auf den Zusammenhalt von Bühne und Graben dürfte Poppen allerdings noch einen Blick werfen.

Simona Saturova zeigt Beweglichkeit und Substanz. Sie hat keine Probleme damit, die Grausamkeiten auf dem Atem zu tragen, die Mozart seiner Uraufführungs-Konstanze Catarina Cavalieri in die Kehle geschrieben hat. Sie weiß zu färben und dynamisch zu schattieren. Allerdings ist ihre Stimme wenig flexibel positioniert, steckt in einem beengt wirkenden Klangraum, der sich nicht weiten will. Bernhard Berchtold verzaubert als Belmonte mit lyrischen Wundern, bis an die Grenze des Atems gehaltenen Legati, sorgsam gebildeten Schwelltönen.

Roman Astakhov ist kein idealer Osmin: zu schlank-metallisch die Stimme, ohne klanglichen Kern und gesättigten Ton. Die bezaubernde Christina Clark (Blondchen) und der fabelhaft höhensicher und tonschön singende Albrecht Kludszuweit (Pedrillo) bestätigen erneut das hohe Niveau des Aalto-Ensembles. Mit dieser „Entführung“ hat Essen eine Neuinszenierung, die viel Klugheit investiert, um das Stück ins Heute hineinzutragen. Das haben andere auch schon getan, aber – trotz aller Einwände – kaum mutiger und näher am Puls unserer Zeit und ihren psychischen Befindlichkeiten.

Information und Termine: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-entfuehrung-aus-dem-serail.htm




Großer Ballettabend auf dem Hügel – Boris Eifman zeigte „Onegin“

Früher war es gute Tradition, dass auf dem Recklinghäuser Hügel während der Ruhrfestspiele wenigstens ein Ballett der Extraklasse gezeigt wurde. Unvergessen die Gastspiele Maurice Béjarts oder Alvin Aileys. In den letzten Jahren versteckte sich das Genre Tanz und Ballett, wenn überhaupt, in den Nebenveranstaltungen. Diesmal begeisterte aber mit dem Boris Eifman State Academy Ballett St.Petersburg seit langem wieder ein Ensemble von Weltrang ein dankbares Publikum auf dem Recklinghäuser Hügel.

Die St.Petersburger zeigten das Ballett „Onegin“, nach Puschkins Novelle „Eugen Onegin“, über die Irrungen und Wirrungen eines russischen Lebemanns in der Choreographie von Boris Eifman zur Musik von Tschaikowski und des russischen Rockmusikers Alexander Sitkovetsky. Die Geschichte des Eugen Onegin gilt seit jeher als eindringliches Bild der „russischen Seele“.

Eifmans wilde und eigenwillige Version in zwei Akten ist der gelungene Versuch, diese Geschichte, unter Wahrung der ihr eigenen Poesie und Philosophie, im Kontext des modernen Rußland zu zeigen. Folgerichtig ergänzt Eifman die Musik Tschaikowskis mit Stücken des russischen Rockmusikers Alexander Sitkovetsky. Dessen Musik geht in Richtung des bombastischen Stadion-Rocks à la U 2 oder Coldplay und passt ausgezeichnet zur vermittelten Dramatik. Erst diese Musik ermöglicht es den Tänzern, dem Werk eine eigene Kraft und Dynamik zu verleihen, gerade dann, wenn Eifman die Geschichte in noch extremeren Umständen zeigt. Die alte Welt bricht zusammen, das Leben diktiert neue Regeln und die Protagonisten lassen Vergangenes hinter sich. Eifman gilt als ein Meister in der Kunst, Geschichten tänzerisch zu erzählen. Souverän schafft er es, Musik, Bühnenbild, Licht und Choreographie zu einem eindringlichen Ganzen verschmelzen zu lassen. Der erste Akt ist großartig, der zweite spektakulär. Im Zusammenspiel aller Komponenten gelingen ihm und seinem Ensemble grandiose Bilder von tiefer Eindringlichkeit.

Die Tänzer tanzen durchgehend auf Weltklasse-Niveau. Soli und Pas de Deux leben allerdings hauptsächlich von der großen Kraft und dem Ausdruck der Männer, allen voran Dmitry Fisher als Lensky. Oleg Gabyshev als Onegin ist ebenfalls ein hervorragender Tänzer, jedoch ist seine Rolle im ersten Akt tänzerisch noch undankbar und er wirkt bei weitem nicht so stark wie Fisher. Der zweite Akt kommt ihm mehr entgegen, man merkt, dass der moderne Tanz ihm mehr liegt als die Wanderung zwischen zwei Stilen. Die Solistinnen bleiben dahinter spürbar zurück, ihr Ausdruck ist bei weitem nicht so stark. Einzig Maria Abashova als Tatjana vermag im zweiten Akt in der Nachtclubszene zu überzeugen.

Die größte Kraft und Wirkung entfaltet das Ballett jedoch erst dann, wenn das ganze Ensemble auf der Bühne ist. Sie tanzen homogen, aber dennoch auffällig individuell, was die beabsichtigte Aussage eindrucksvoll unterstreicht

Es waren vier großartige Ballettabende, die das Publikum mit stehenden Ovationen belohnte und die dem Motto der Ruhrfestspiele „Im Osten was Neues“ mehr als gerecht wurden.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=K3xArOu1NOo&w=560&h=315]

(Quelle: www.youtube.com)




Mordgerät im Malz: Donizettis „Le Duc d’Albe“ in Antwerpen

Belgien ist das Land des Bieres, und so wirkt es naheliegend, dass in diesem Land auch Revolutionen mit der Kunst des Brauens zu tun haben.

Im zweiten Akt von Donizettis unvollendeter Oper „Le Duc d’Albe“ ist die Brauerei eines gewissen Daniel ein Hort des Widerstands gegen den spanischen Schlächter: Mordwerkzeuge unter Malz, Kämpfer kehren keimendes Korn weg. Der Lobpreis des Bieres könnte jedem Männergesangverein zur Ehre gereichen, aber er ist mehr als ein launiges Genrestück: Ähnlich wie der Gesang der Fischer in Daniel François Esprit Aubers großer Oper „La Muette de Portici“ enthält das Lied einen Code: Der unverdorbene Trank belgischer Vaterlandsliebe gegen den unbekömmlichen spanischen Wein der Willkür und der Gewalt.

Donizettis Oper von 1839, ein Versuch, in Zusammenarbeit mit dem Großmeister des Librettos, Eugène Scribe, an der „Opéra“ zu landen, wurde durch ein Veto der Primadonna Teresa Stolz, der späteren Geliebten Verdis, verhindert. Sie lehnte die Rolle der Hélène ab, die uns heute als eine der innovativen Frauengestalten Donizettis gegenübertritt: kein leidendes Opfer á la Lucia oder Linda, keine zwischen staatsfraulicher Pflicht und privatem Gefühl zerriebene Königin. Sondern eine Kämpferin für die nationale Sache, eine ideologisch unbeirrbare Fanatikerin, fest im Hass und in der Linie klar wie belgisches Bier. Der Liebesbeweis, den sie fordert, ist so grausam wie eindeutig: Der Spanier muss sterben.

Doch Henri, Hélènes Geliebter, kann die Hand nicht gegen den Herzog von Alba heben. Der junge Mann aus dem Kreis der Widerständler muss erfahren, dass er kein Geringerer als der Sohn des Herzogs ist. An ihm ist es nun, zwischen Vaterliebe und Vaterlandsliebe abzuwägen. Sein Flehen um den Verzicht auf Rache ist vergebens. Hélène, eine Vorläuferin Elektras, muss ihren Vater, den Grafen Egmont, rächen: Henri wirft sich in ihren tödlichen Streich, rettet dem Vater das Leben und stirbt.

„Le Duc d’Albe“ ist also in mehrfacher Hinsicht kein konventionelles „Sopran-liebt-Tenor“ Belcanto-Stück. Bemerkenswert in Scribes Charakterisierung der Personen ist auch die Wandlung des spanischen Herzogs. Als er in einer bewegenden Szene zu Beginn des dritten Akts erfährt, wer sein Sohn ist, beginnt die Vaterliebe den hartherzigen Anwalt der spanischen Sache zu bekehren: Im Finale der Oper tritt uns ein zutiefst tragischer Mensch entgegen, dessen humane Läuterung das Unglück, seinen Sohn sterben sehen zu müssen, nicht verhindert hat.

Donizetti hat diese beiden Schlüsselszenen nicht komponiert, sondern nur einige Skizzen hinterlassen. Offenbar war er sich bewusst, dass sie seine Charakterisierungskunst eminent herausfordern würden; ein Aufwand, den sich der viel beschäftigte Komponist angesichts des unklaren Schicksals der Oper wohl nicht zumuten wollte. Für die verspätete Uraufführung 1882 hat ein Schüler Donizettis, Matteo Salvi, die skizzierten Nummern orchestriert und die zwei letzten Akte zu einem zusammengefasst.

Für die Uraufführung der französischen Originalversion an der Vlaamse Opera Antwerpen hat der 1953 geborene Komponist Giorgio Battistelli die fehlenden Nummern komponiert: rücksichtsvoll gegen die belcantistische Anlage des Werks; hellhörig für Donizettis kennzeichnende Linien, Wendungen und Begleitfiguren, ohne den modernen Einsatz des Materials zu leugnen. Keine platte Nachahmung, sondern individuell geprägte musikalische Charakterisierung, demütig und respektvoll, aber entschieden eigen geprägt. Die finale Szene, die Klage und der Abschied des Alba, werden so zu einer bewegenden, musikalisch reichen Szene – ein zusätzliches Argument, für Donizettis Oper auf Repertoiretauglichkeit zu plädieren.

Die ergibt sich auch aus anderen Argumenten, etwa der ungewöhnlichen Charakterisierung der Figuren, fern der Klischees des „melodramma“. Donizetti zeigt sich wieder als sensibler Instrumentator, ein Erbe seines Lehrers Johann Simon Mayr. Mit dem Orchester der Vlaamse Opera unter Paolo Carignani klingt die Partitur allerdings oft pauschal. So sorgfältig Carignani dynamische Details modelliert, so forsch zieht er vor allem über den Streicherapparat hinweg, den man sich im Zusammenklang plastischer wünschen würde. Der große, Spannung erzeugende Bogen ist Carignanis Sache nicht – das war schon in seiner Zeit in Frankfurt immer wieder zu hören.

In der Inszenierung von Carlos Wagner, mehr noch im bedrückenden Bühnenbild von Alfons Flores herrschen die Chiffren des Krieges vor. Riesige marschierende Soldaten erinnern an die Schrecken des Ersten Weltkriegs, der sich gerade in Flandern ausgetobt hat. Das Licht von Fabrice Kebour verbannt die Personen oft in fahles Zwielicht oder in tückisch grelle Strahlen. Die schwarz uniformierten Spanier agieren auf einer Brücke hoch über den beherrschten Flamen, die zum triumphalen Auftritt der Sieger ihre Toten beklagen. Aus dem staubigen Dunst der Mälzerei im zweiten Akt formiert sich der Widerstand des zu schmutzigen Lemuren verurteilten Volkes. Alba erinnert in seiner vom Licht akzentuierten Einsamkeit an Verdis Philipp II. – eine Statur, die ihm auch seine ausdrucksstarke Musik verleiht. Hélène trägt unter ihrem weißen Frauengewand die braune Montur einer Soldatin; das Kostüm A.F. Vandevorsts ist ebenso eine psychologische Chiffre wie die Entblößung im Duett Alba – Henri.

Die aufs Äußerste gespannten Linien in diesem Zwiegesang gehören zu den Höhepunkten der Partitur. Donizetti zeigt sich im dritten Akt auf der Höhe seiner musikalischen Charakterisierungskunst. George Petean und Ismael Jordi folgen dem fiebrigen Zug der Musik mit flammender Dramatik in der Stimme. Der rumänische Bariton füllt die intensiven Gesangslinien mit einer reichen, stets abgesichert gestützten, manchmal jedoch zu ruppig eingesetzten Stimme, die dann eher dem Verismo als einem stilistisch reflektierten Belcanto zuneigt. Ismael Jordi ist einer der erfolgreichen jüngeren Tenöre mit hoher Tessitura und intimem Wissen um Tonbildung und Legato. Er neigt nie zum „Krähen“, sondern kann den Ton stets abrunden; dass er in manchen Übergängen die sichere Formung der Stimme auf dem Atem vernachlässigt, muss nicht sein.

Rachel Harnisch als Hélène d’Egmont macht mit gleichmäßig geführter, schöner Stimme deutlich, warum Teresa Stolz mit der Partie nicht einverstanden gewesen sein könnte: Die Emotionen dieser Figur äußern sich eher in Stolz, Schmerz und Rachdurst als in den Kantilenen einer liebenden Frau. Die Stimme von Igor Bakan als Braumeister und Rebell Daniel bleibt beengt timbriert und unfrei in der Emission; das Gegenteil dazu repräsentiert Vladimir Baykov mit einem gewaltigen, aber kruden Bassbariton. Man hört, dass sich eine neue Generation von Sängern mit dem Genre des Belcanto intensiv befasst; dennoch sind die Beherrschtheit des Singens und der stilistische Schliff, wie ihn etwa Alfredo Kraus oder Juan Diego Flóres perfektionieren, noch nicht ihr Bier.

„Le Duc d’Albe“ passt nicht nur zum lokalhistorischen Erbe Flanderns; es ist eine Oper, der man eine baldige Erstaufführung in Deutschland wünschen würde. Die Chancen stehen freilich nicht gut: Sparzwang lässt die Opernhäuser zu den alten Schlachtschiffen des Repertoires greifen und vielerorts werden die tragischen Dramen Donizettis immer noch nur dann erwogen, wenn man einer Primadonna einen Gefallen tun will wie etwa Edita Gruberova in München. Verdient haben die Werke das nicht, denn Donizetti bietet beileibe kein saures Bier an, sondern den reinen Quell faszinierender Musikalität.

Aufführungen in Antwerpen: 9., 11., 15., 18. Mai um 19.30 Uhr; 13. Mai um 15 Uhr.

Aufführungen in Gent: 25., 29., 31. Mai, 2. Juni um 19.30 Uhr; 27. Mai um 15 Uhr.

Info: www.vlaamseopera.be

Tel.: (00 32 70) 22 02 02




Das Grauen lauert hinter den Tapeten: Brittens „The Turn of the Screw“ in Düsseldorf

Von Schatten gejagt: Die Gouvernante (Sylvia Hamvasi) im Bann der Gespenster in "The Turn of the Screw" von Benjamin Britten in Düsseldorf (Foto: Hans Jörg Michel)

Von Schatten gejagt: Die Gouvernante (Sylvia Hamvasi) im Bann der Gespenster in "The Turn of the Screw" von Benjamin Britten in Düsseldorf (Foto: Hans Jörg Michel)

Wir blicken hinter die Tapeten, die ältliche, großmustrige Wandverkleidung, die an die verstaubte Gediegenheit englischer Landhäuser erinnert. Hinter der Fassade geschehen sinistre, unheimliche Dinge, dämonisch, nicht benennbar. Dort geistern schattenhafte Gestalten, deren Namen, werden sie ausgesprochen, den Tod bringen. Benjamin Brittens Oper „The Turn of the Screw“ – ein unübersetzbarer, auch im Englischen rätselvoller Titel – ist ein perfektes Schauerstück. Nicht im Sinne trivialgrusliger Gespenstergeschichten, sondern als Thriller des Undeutbaren, der unter die Haut geht.

Wie die Novelle von Henry James (1898) schafft Brittens Oper (1954) eine Atmosphäre des Ahnungsvollen, Ungreifbaren. Nichts ist eindeutig, nirgends lässt sich ein klarer, nachvollziehbarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung festmachen. Selbst scheinbar unbezweifelbare Fakten und Beobachtungen verlieren ihre Evidenz, werden zu Mosaiksteinen in einem Bild, das sich, wie auch immer man es betrachtet, jedes Mal anders zusammensetzt.

Die Tapeten sind ein wiederkehrendes Bild in Kaspar Zwimpfers Bühne für Immo Karamans Inszenierung von „The Turn of the Screw“ an der Deutschen Oper am Rhein. Eine Trias von Britten-Opern in Düsseldorf vollendet diese Premiere am 4. Mai, der Karaman bereits „Peter Grimes“ und „Billy Budd“ vorausgeschickt hatte. Ob im 100. Geburtsjahr des Komponisten 2013 eine weitere Inszenierung dazukommt, ist noch unklar. Sinnvoll wäre es – denn die Rheinoper will den für das 20. Jahrhundert epochemachenden Briten umfassend würdigen. Karaman hat am Münchner Gärtnerplatztheater eine ausgezeichnete Interpretation von „Death in Venice“ geschaffen; er wäre der richtige Mann etwa auch für „Gloriana“, „Albert Herring“ oder die schräge Operette „Paul Bunyan“.

Henry James, selbst ein vieldeutiger Charakter aus der viktorianischen Zeit, schreibt mit „The Turn oft he Screw“ eine Geschichte, die formal so penibel kalkuliert ist wie eine Mathematikaufgabe – aber eine, die unendlich viele Lösungsmöglichkeiten offen lässt. Britten folgt mit seiner Librettistin Myfanwy Piper dem Thema auf dem nebligen Pfad zwischen Gespensterstück und psychoanalytischer Erzählung. Innen und Außen, Wirklichkeit und Phantom, sichtbare und übersinnliche Welt verschränken sich unlösbar.

Die äußere Handlung ist schnell erzählt: Ein vielbeschäftigter Londoner Anwalt engagiert für zwei einsam auf einem abgelegenen Landsitz lebende Kinder eine Erzieherin. Anfangs scheint das harmonische Zusammenleben ungetrübt, aber dann schleichen sich seltsame Schatten in die Idylle. Die Haushälterin identifiziert sie als Peter Quint und Miss Jessel, Hausdiener und frühere Gouvernante, die beiden unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen sind. Auch die Kinder zeigen immer auffälligeres Verhalten. Entschlossen, den Geheimnissen auf die Spur zu kommen und überzeugt vom verderblichen Einfluss der Geister der Toten, will die junge Governess ihre Schützlinge retten – mit schlimmen Folgen…

Karaman greift für dieses Stück die Techniken einer ruhigen, am Geschehen orientierten Erzählweise auf, bricht die Szenen selten auf, öffnet aber durch herausgehobene Details den Blick für das Monströse hinter den Abläufen. Das Ambiente der Bühne Zwimpfers erinnert an das klassische englische „haunted house“; eine Treppe und ein hoher Durchgang bilden das zentrale Setting, das sich allmählich ins Surreale verdreht. Daneben gibt es nur wenige, bedeutungsvolle Accessoires: zwei Waschbecken, zwei Schulstühle, ein Bett.

Die Kinder sind abgerichtet: Knicks und Diener zur Begrüßung genau im Takt der Musik, mechanisch, dressiert. Erste Anzeichen von Gewalt: Miles, eine Maske vor die Stirn hochgezogen, tut seiner Schwester weh. Die beklemmende Atmosphäre verdichtet sich: Miles verliert sich abwesend in dem Lied mit den „Malo“-Rufen: „Malo, in der Not allein…“. Und Quints Schatten zeigt sich zum ersten Mal. Flora spielt gedankenverloren mit ihrer Puppe, zieht sie aus und ertränkt sie im „Toten Meer“ des Waschbeckens – und der Geist Miss Jessels erscheint als Spiegelbild der Gouvernante, dazu der spieluhrenhaft unwirkliche Klang der Celesta.

Über Henry James‘ Erzählung gibt es einen Berg von Literatur. Die Frage, ob die Gespenster-Erscheinungen echt oder bloße Phantasmagorie sind, äußere Manifestationen oder Gestalt gewordene psychische Bilder, wurde mit guten Argumenten für die eine und die andere Auffassung diskutiert. Freud, Jung und der Marxismus wurden ebenso bemüht wie Esoterik und christliche Theologie. Karaman versteht es souverän, seine Deutung in der Schwebe zu halten. Dass er die „Gespenster“ durch unsichtbare Stimmen, aber auch durch die unverstellte Leiblichkeit von Tänzern darstellen lässt, legt nahe, eine über eine bloße Psycho-Schau hinausgehende Deutung anzunehmen. Der düstere Jüngling mit der „gothic“ Frisur (Ulrich Kupas) erinnert an den verführerischen Verworfenen aus „Paradise Lost“, könnte auch eine erotische Fantasie der Gouvernante verkörpern. Die spinnwebverhüllte Gestalt der Miss Jessel (Anna Roura-Maldonado) könnte das abgestorbene Weibliche ebenso symbolisieren wie unterdrückte Sexualität.

Und was für Spiele treiben die Kinder? Warum bezeichnet sich Miles als „bad“? Ist er hilflos gegenüber seiner erwachenden Sexualität? Schwebt er zwischen einem ungerichteten Schuldgefühl und dem Bewusstsein seiner männlichen Begierde, mit der er die Gouvernante küsst? Spielen die Kinder einen Missbrauch nach? Oder probieren sie ihre erwachende Begehrlichkeit aus, gespalten zwischen Neugier, puritanischer Verleugnung der Sexualität und innerem Erschrecken? Oder manifestiert sich tatsächlich das Böse; sind sie von den Geistern besessen, die sich der Kinder bedienen, um ihre sexuelle Hörigkeit körperlich ausleben zu können?

Wie Henry James hält auch Immo Karaman die Antworten in der Schwebe. Alles ist möglich – auch in der Frage, die an den Schluss zu stellen ist: Stirbt Miles, als er den Namen des Dämons hinausschreit und sich so von seinem Bann befreit? Bleibt sein Herz im Schock stehen? Oder erstickt ihn die vereinnahmende Liebe der Gouvernante, wie es das Finalbild der Inszenierung nahe legt? „Nur keine Lösungen“, wehrte der aus Gelsenkirchen stammende Regisseur in einem Interview ab. Nun, dieses Ziel erreicht er; den Zuschauer lässt er mit dem beklemmenden Gefühl nach Hause gehen, dass alles offen bleibt. Der Wunsch nach Wissen wird nicht erfüllt.

Wissen finden wir bei Wen-Pin Chien: Der Taiwanese, auch Dirigent von Henzes „Phaedra“ an der Rheinoper, kann mit der kammermusikalischen Partitur glänzend umgehen: Er zeigt, wie Britten die Motive verarbeitet, wie sich dasjenige der „Drehung der Schraube“ durch die Musik windet, wie die „Malo“-Rufe, die gespenstischen Quinten, die Tritonus-Leere verarbeitet und transformiert werden. Und er lässt den Solisten Raum, vor allem den Leitinstrumenten des Gespenstischen, der Celesta (Ville Enckelmann) und der aus der Idylle ins Chaotische fallenden Harfe (Jie Zhou).

Die beiden Kinder Miles und Flora, sind dank einer englischen Spezialagentur vorzüglich besetzt: Der zwölfjährige Harry Oakes, Mitglied des Trinity Boys Choir, füllt die Rolle des Miles musikalisch und sprachlich optimal aus, hat aber vor allem auch eine faszinierende Bühnenpräsenz: Vom verspielten Kind über den niedergedrückten Jungen bis zum aufreizenden, sein Alter weit hinter sich lassenden, sexuell anzüglichen Knaben zeigt er alle Facetten dieses vielschichtigen und daher so schwer darstellbaren Charakters. Für Eleanor Burke, schon erfahren in der Partie der Flora, ist es etwas einfacher, weil in Brittens Oper die hysterisch-aggressiven Züge verhaltener sind als in der Novelle oder gar in dem kongenialen Schwarz-Weiß-Film „The Innocents“ von Jack Clayton. Burke realisiert die introvertierten Züge des Mädchens und ihre innere Qual vor allem in der Szene mit der Puppe im ersten Akt.

Corby Welsh singt die faulig-süßlichen Verführungsphrasen des Quint mit lockerem Tenor; Marta Márquez bleibt als Mrs. Grose eher blass und passiv. Anke Krabbe gibt der Erscheinung der Miss Jessel nicht nur tragische, sondern auch katzenhaft gefährliche Züge. Als Governess hat Sylvia Hamvasi die passenden stimmlichen Farben für die erleichterte Freude bei der Ankunft auf Schloss Bly ebenso zu finden wie für die Panikattacken und die angekränkelte Zuneigung zu Miles. Hamvasi lässt ihren Sopran blühen, kann ihn aber auch in fahle Tönungen zurücknehmen.

Düsseldorf hat mit dieser Produktion – die 2007 in Leipzig erstmals zu sehen war – der Liste eindrucksvoller Inszenierungen der Oper einen gewichtigen Beitrag hinzugefügt und braucht sich weder vor der gelobten Kölner Premiere von 2011 von Benjamin Schad (Regie) und Raimund Laufen (Musikalische Leitung) zu verstecken noch vor Cristian Pades Psychothriller in Frankfurt mit Yuval Zorn am Pult.

Vorstellungen in Düsseldorf: 13., 20., 22., 26. Mai; 10. Juni.
Vorstellungen in Duisburg: 1., 6., 8. Juni.
Geplante Wiederaufnahme in Köln: 17. März 2013




Kleine Nixe mit großer Sehnsucht – Dvořáks Märchenoper „Rusalka“ in Gelsenkirchen

Wasser ist ihr Element: Petra Schmidt als Nixe "Rusalka" in der gleichnamigen Märchenoper von Antonin Dvorak. (Copyright: Pedro Malinowski/MiR)

Wasser ist ihr Element: Petra Schmidt als Nixe „Rusalka“ in der gleichnamigen Märchenoper von Antonin Dvorak. (Copyright: Pedro Malinowski/MiR)

Worte eines ewig Unbehausten komponierte Franz Schubert einst seinem „Wanderer“ in die Kehle. „Die Sonne dünkt mich hier so kalt / die Blüte welk, das Leben alt / Und was sie reden, leerer Schall / Ich bin ein Fremdling überall.“

Ähnlich sieht Elisabeth Stöppler die Titelheldin aus Antonín Dvořáks Märchenoper „Rusalka“. Die Regisseurin, viel gerühmt für ihre Britten-Deutungen am Gelsenkirchener Musiktheater, nimmt sich dort jetzt der kleinen Nixe mit der großen Sehnsucht nach der Menschenwelt an. Wie diese Welt aus der Perspektive eines Naturwesens aussieht, zeigt Stöppler in einem verstörenden, zunehmend düsteren und blutigen Bilderbogen. Rusalka sucht Glück und erfährt Leid, übt Treue und erntet Verrat, schenkt Liebe und leidet Gewalt.

Das reizende Wasserwesen hat in der Gelsenkirchener Neufassung von Beginn an keine Heimat. Rusalka begegnet uns nicht in einem See, sondern eingesperrt in einer klinisch weißen Zelle. Wasser kommt als Element nur am Rande vor. Nixenschwestern und Wassermann scheinen sich aus Tilman Knabes Essener „Rheingold“-Inszenierung verlaufen zu haben: ein aufreizendes Damentrio auf Stöckelschuhen, gejagt von einem lüsternen Wassermann (sonor: Dong-Won Seo) in blauer Arbeitsmontur. Keusch und rein wirkt in diesem triebgesteuerten Umfeld allein Rusalka. Barfuß und in ein weites weißes Hemd gekleidet, hockt sie unbeteiligt in der Ecke und sehnt sich fort.

Mit dem Auftritt der Hexe Jezibaba (nicht ohne Schärfe: Gudrun Pelker) und des Prinzen (angenehm wenig forciert: Lars-Oliver Rühl) rückt die problematische, teils plakative Ästhetik der Produktion ins Blickfeld. Während die Hexe mit übertrieben viel Pelz und Perücke durch die Szene wallt, fallen beim Prinzen rasch die Hüllen. Die Regie übersetzt Natur und Natürlichkeit mit Nacktheit; die Zivilisation kommt mit Lippenstift und hohen Hacken daher. Diese allzu naheliegende Lösung wird mit grobem Strich durchgeführt. Die harsche Zivilisationskritik bringt diverse Seltsamkeiten hervor, zum Beispiel eine Putzkolonne in Schutzanzügen, die aussieht, als säubere sie gerade einen havarierten Reaktorblock.

Konträr zu solchen Grellheiten steht die intensive, oft berührend einfühlsame Personenführung. Der dritte Akt endet in einer wahren Farbschlacht: Alles und alle sind befleckt und verschmiert, sei es mit schwarzem Matsch oder mit Blut. Die geschundene Kreatur wiegt sich in traumatisierten Schaukel-Bewegungen. Immerhin gibt es Szenenapplaus für das eindrucksvolle Schlussbild (Bühne: Annett Hunger).

Sanfte Naturklänge, aber auch Pracht und Pomp höfischer Tänze erfüllen die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen mit sinfonischem Glanz. Erneut läuft das Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann zu Hochform auf, zieht viele farbenreiche Klang-Register, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Die Musiker breiten ein feines Netz von Leitmotiven aus, das die Sänger trägt: Darunter Majken Bjerno als verführerische fremde Fürstin, sowie Petra Schmidt, die in der Titelpartie einen großen Erfolg feiert. Mit feinem Gefühl fächert die Sängerin die Seelenwelt der Nixe vor uns auf. Traumverloren besingt sie den Mond, keusch und kühl und innig zugleich. Ihr Sopran kann mädchenhaft hell klingen, entwickelt bei der Darstellung von Schmerz und Leidenschaft aber viel innere Glut. Trotz der physischen Vehemenz, mit der Petra Schmidt sich in das Spiel wirft, verliert ihre Stimme nie das Ebenmaß. Alles klingt wunderbar warm, kultiviert und geschmeidig. An dieser starken Leistung gibt es nichts zu rütteln.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Weitere Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




Selbstgerechte Kälte: Carlisle Floyds Oper „Susannah“ in Hagen

Es gibt Alpträume, von denen man nie glaubt, sie könnten einem in der Wirklichkeit wieder begegnen. Carlisle Floyd hat in seiner Oper „Susannah“ einen solchen komponiert: realistisch, hart, unverstellt. Es ist kein Traum der Sorte, bei der die Fiktion sofort erkennbar wäre. Keine Monster, keine Chimären. Sondern Menschen, denen wir jeden Tag im Supermarkt oder Bistro begegnen. Vier ältere Damen, die sich angeregt unterhalten. Ein Dorffest.

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Und eine Katastrophe, ausgelöst von einem Skandal, der keiner ist: In einem Dorf, irgendwo im amerikanischen „Bible belt“, irgendwann in den fünfziger Jahren. Eine „Erweckungszeremonie“ soll gefeiert werden. Der Wanderprediger ist bereits eingetroffen, fehlt noch ein geeigneter Ort: ein Taufbach. Drei Dorfälteste machen sich auf den Weg, entdecken die ideale Stelle – doch dort finden sie Susannah, ein Mädchen, das am Rande des Dorfes lebt – und das nicht nur im geografischen Sinn. Sie badet nackt im Bach, wähnt sich unbeobachtet.

Am Abend weiß das ganze Dorf von der „unerhörten“ Szene – außer Susannah. Und dann greift der Mechanismus, der Menschen zu Sündern und zu Opfern macht. Das Dorf spielt sich zur moralischen Instanz auf, zum Rächer. Und das vermeintlich schuldige Opfer wird zum Freiwild: Verleumdungen, sexuelle Unterstellungen, schließlich eine Vergewaltigung. Selbst als Susannahs Schuldlosigkeit feststeht, wird ihr nicht verziehen. Wer einmal als sündig gilt, bleibt es.

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Carlisle Floyd, erfolgreichster amerikanischer Komponist der Gegenwart, hat sein Werk in der McCarthy-Ära in den USA geschrieben und 1955 uraufgeführt. „Susannah“ ist – nach Gershwins „Porgy and Bess“ – die am meisten gespielte amerikanische Oper überhaupt. In Deutschland konnte sie nie Fuß fassen. Zu „konservativ“ klingt die tonal orientierte Komposition Floyds. Zu viel Puccini, zu wenig Boulez. Die Darmstädter Schule hatte für solche Seichtigkeiten aus dem unterentwickelten Opernland von jenseits des Teiches nur Verachtung und Polemik übrig.

Heute kümmern die Urteile von damals nicht mehr – dennoch fördern die verkalkten Blutbahnen des Theaterbetriebs Werke wie Susannah nur selten in die Nähe eines Herzens, das sich ihrer annimmt. Das Theater Hagen, innovativ wie kaum ein anderes dieser Größe und dennoch ständig um seine Existenz bangend, hat mit Floyds heute wieder beklemmend aktuellem Werk seine verdienstvolle Serie amerikanischer Opern fortgesetzt, in der man sich zum Beispiel an eine packende Aufführung von „Endstation Sehnsucht“ von André Previn erinnert.

Aktuell ist „Susannah“, weil die Spielarten einer bigotten Religiosität nie aussterben. Das Christentum, wie Floyd es in unverkennbarer Anlehnung an die alttestamentliche Geschichte der Susanna im Bade schildert, hat viel mit der selbstgefälligen Moral einer puritanischen Gesellschaft zu tun. Und wenig mit der biblischen Botschaft, die Einsicht, Umkehr und Barmherzigkeit in ihrem Zentrum trägt.

In Hagen erzählt Regisseur Roman Hovenbitzer mätzchenfrei in prägnanten, knappen Szenen. Die Ausstattung von Jan Bammes arbeitet mit Palettenholz und einem Podium, das sich zur Wand, zum Dach, zum Zaun verwandeln lässt – aber auch zur metaphysischen Schranke zur vernagelten Welt des Dorfes. Mit dem Licht, das durch die Ritzen fällt (Ulrich Schneider), ergeben sich ästhetisch reizvolle, aber stets inhaltlich abgesicherte Licht- und Schatten-Stimmungen.

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Die in den Untergrund verbannten sexuellen Begehrlichkeiten zeigt Hovenbitzer in verstohlenen Andeutungen, psychologisch schlüssig beobachtet: Susannah erzählt von Natur und Sternen, und der verklemmte „Little Bat“ McLean reibt sich das Glied. Bevor sich der Prediger Olin Blitch über die wehrlose Susannah hermacht, faltet er ihren Rock ordentlich und hängt ihn auf: Auch angesichts der monströsen Tat bleibt der Kodex der Wohlanständigkeit gültig. Das Ende schärft der Regisseur mit einer Anleihe an Lars von Triers religiös geladenem Film „Dogville“, der eine ähnliche Problematik behandelt. Es erinnert auch ein wenig an Brittens „Peter Grimes“: Der Mob marschiert, legt einen Brand. Vergebung gibt es keine, Einsicht schon gar nicht.

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Im Orchester lässt Bernhard Steiner die Anleihen aufblitzen, mit denen Floyd seine Musik inhaltlich auflädt: Der hymnische Stil alter angelsächsischer Kirchenlieder ist zu hören, amerikanischer Squaredance, verträumte Anklänge an Country Music. Und immer wieder große Crescendi, liebevoll ausgebreitete Melodiebögen. Bei Floyds konservativer Harmonik darf man nicht an Werke wie Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ oder selbst Janaceks „Jenufa“ denken. Eher an die US-Film-Melodramen der vierziger Jahre.

Das Hagener Orchester ist an einigen Stellen überfordert: der Klang wirkt seifig, Einsätze klappen nicht, voller Klang bläht sich dicksuppig auf. Der Chor, von Wolfgang Müller-Salow einstudiert, bringt den bedrohlichen Ton der Masse eindrucksvoll ins Spiel.

Jaclyn Bermudez ist Susannah: eine Darstellerin, die dem Mädchen erst die unbekümmert ausgelassenen Züge gibt, dann die Unschuld einer schwärmerisch sich nach einem Hauch von Glück sehnenden Seele, später aber auch die Entschlossenheit, sich nicht zur „Sünderin“ abstempeln zu lassen. Auf das schäbige Spiel des Dorfes lässt sie sich nicht ein. Dazu passt ihr Sopran, der zärtlich lyrisch, aber auch schneidend prägnant klingen kann.

Rainer Zaun als Olin Blitch kann die unerbittlich ideologischen Seiten des Predigers ausdrücken, aber auch die inneren Qualen eines unendlich einsamen Mannes und seine Ohnmacht, als er erkennt, dass er die Lawine, die er losgetreten hat, nicht mehr bändigen kann. Dieser Blitch ist nicht als purer Bösewicht, sondern als glaubwürdiger, in sich gespaltener Charakter gezeichnet.

Wie destruktiv sich die verleugnete, verschwiegene, unterdrückte Sexualität in dieser Gesellschaft auswirkt, zeigt Jeffery Krueger als Little Bat exemplarisch: Er würde gerne, aber er traut sich nicht, kann sich nicht aus der moralischen Umklammerung der Autoritäten befreien. Aus lauter Angst wird er  zum Lügner. Krueger wäre glaubwürdiger, würde er nicht hysterisch überagieren – auch seinem Tenor bekommt das Übertreiben nicht.

Auch bei Sam Polk, Susannahs Bruder, grinst die Einsamkeit hinter der Fassade des starken Kerls hervor: Charles Reid zeigt den jähzornigen Alkoholiker als im Grunde zutiefst resignierten, an seinem Schicksal zerschellten Sonderling. Carlisle Floyds Oper moralisiert ihrerseits nicht, sondern zeigt die Menschen in den knappen, psychologisch beredten Szenen in all ihrer Komplexität als Täter und als Opfer. Unbedingt sehenswert!

Die nächsten Vorstellungen: 11. Mai, 10., 14., 17. und 24. Juni.
Tickets: (0 23 31) 207 32 18.




Nostalgischer Charme: Friedrich von Flotow zum 200. Geburtstag

Ach so fromm, ach so traut – aber wer hat sie in letzter Zeit geschaut? Friedrich von Flotows „Martha“ ist wohl vor allem älteren Operngängern ein Begriff. Auch zum 200. Geburtstag ihres Schöpfers, eines Sprosses aus mecklenburgischem Uradel, bleibt die heiter-harmlos wirkende Spieloper den Bühnen fern. Und das, obwohl mit der zitierten Arie viele Tenöre Schmelz und Schwärmen demonstriert haben – vom Duisburger Rudolf Schock bis zum Modeneser Luciano Pavarotti. Aber „Martha, Martha“ ist entschwunden, und mit ihr – nein, nicht das Portemonnaie, wie eine Parodie beklagt, sondern die knapp vierzig anderen Opern, Operetten, Singspiele und Ballette, die Kammermusik- und Salonstücke des Herrn von Flotow.

Ja, Groß Flotow gibt es wirklich, in Mecklenburg, mit 184 Einwohnern und einem schlicht gehaltenen Gutshaus, wie die offizielle Website des Amtes Penzliner Land mitteilt. Der Komponist jedoch erblickte am 27. April 1812 in Teutendorf, heute Ortsteil von Sanitz, einen möglicherweise grauen mecklenburgischen Himmel. Sein Leben dagegen verlief heiterer als manch andere Komponistenlaufbahn. Friedrich hatte einen offenbar verständnisvollen Vater, denn der reiste mit dem fünfzehnjährigen Knaben nach Paris, damit er dort in den Händen von Anton Reicha zum Musiker heranreife. Für einen preußischen Offizier dieser Zeit zweifellos ein Akt der Selbstüberwindung, seinen Sohn den brotlosen Tonkünsten statt der angesehenen Diplomatie zu überlassen.

Mit zwanzig Jahren wirft sich Flotow in den „Betrieb“ der musikalischen Hauptstadt Europas. Er vertont heitere Petitessen, schreibt ein Couplet hier, ein Salonstück da, versucht sich an kleinen Öperchen à la Daniel François Esprit Auber, dem damaligen Abgott der Opéra-comique. Das erste wird in der Heimat aufgeführt, in Ludwigslust: „Pierre et Catherine“. Offenbar gefiel sein Stil, der den amüsierwilligen Zuhörer nicht mit teutonisch grübelnder Schwere niederdrücken wollte. Auch die Eleganz und der Erfindungsreichtum seiner Melodien werden stets gelobt. Wie es auch immer um das nach historisch-kritischen Kriterien noch nicht erforschte Wirken Flotows stand: 1839 gelingt ihm mit „Le Naufrage de la Meduse“ ein beachteter Erfolg. Das Stück wird immerhin 54 Mal in einem Jahr gezeigt. Es ebnet ihm offenbar den Weg auf die Bühne der Opéra-comique: 1843 kommt dort „L’esclave de Carmoëns“ heraus, später auf Deutsch am Wiener Kärntnertortheater als „Indra, das Schlangenmädchen“ aufgeführt.

Flotow lernt in Paris einen anderen jungen Deutschen kennen: Jakob Offenbach, genannt Jacques, abgebrochener Cello-Studiosus. Der spätere Maître der unterhaltungsverrückten Pariser Gesellschaft lässt damals noch nicht die Grisetten tanzen, sondern lebt von „Muggen“, also gelegentlichen, schlecht bezahlten und dem Renommée kaum einträglichen Auftritten. Mit Flotow durchzieht er hinfort die Salons und assistiert dem betuchten Adligen beim Erstellen von Arrangements. Sie mögen sich, der Kölner und der Mecklenburger. Dreißig Jahre später experimentieren beide mit der Operette. Offenbach mit Riesenerfolg, Flotow so na ja: Seine „Veuve Grapin“ (1859) war offenbar nicht das, was man heute einen „Brüller“ nennen würde. Wie dieses Stückchen wirklich klingt, kann man demnächst erfahren, denn es gibt nicht nur seit einem Jahr beim Label Line Music eine Rundfunkaufnahme von 1951 auf CD, sondern in der „Hauptstadtoper“ in Berlin ab 4. Mai eine Serie von Aufführungen. Bei anderen Werken sucht man jedoch vergeblich nach Noten, Aufnahmen oder gar Aufführungen, nicht einmal „ad experimentum“.

Friedrich von Flotow

Friedrich von Flotow

In den 1840er Jahren weist die Kurve von Flotows Karriere steil nach oben. Jetzt arbeitet er für die großen musikalischen Institutionen in Paris, die „Opéra“ und die „Opéra-comique“. Er lernt den Dichter Friedrich Wilhelm Riese kennen, ein Landsmann aus Berlin, der Flotows wichtigster Librettist werden sollte. Gemeinsam landen sie 1844 in Hamburg mit „Alessandro Stradella“ einen Coup. Fortan gehört Flotows Name in die Spielpläne der Theater; er zählt in dieser Zeit neben Heinrich Marschner und Albert Lortzing zu den wichtigen Komponisten deutscher Herkunft. Und dann „Martha“: 1847 in Wien uraufgeführt, schlägt das heiter-sentimentale Gesellschaftsmärchen mit ironischer Unterströmung alle Rekorde.

Jetzt ist Friedrich von Flotow am Gipfel des Ruhmes angelangt. Die Hymne auf das Porterbier, die schmachtende Tenorarie „Ach so fromm“, das rührende irische Volkslied von der „Letzten Rose“: Flotow verwebt treffsichere „Hits“ in ein Werk, das dem Adel kein gutes Zeugnis ausstellt und Lady Harriett als ein ziemlich abgefeimtes Stück auftreten lässt, das sich herzlich wenig um die Befindlichkeit seiner Spielfiguren kümmert. Flotow musste diese Schicht wohl gekannt haben; wer weiß, welche Eindrücke von den Schlössern des mecklenburgischen Landadels in seine „Martha“ eingeflossen sind.

Vicco von Bülow hat in Flotow offenbar einen Geistesverwandten erkannt: Mit unnachahmlich feinem Humor, preußisch verkühlter Koketterie und sicherem, aber liebevollem Blick für die Schwächen und Bosheiten der Bühnenfiguren hat er „Martha“ nicht nur mit Hunden – will heißen: Möpsen –, sondern auch mit Charme und jener naiv anmutenden Heiterkeit auf die Bühne gebracht, die nur der wissende Geist so unbeschwert gegenwärtig zu setzen weiß. Seit der Premiere 1986 in Stuttgart ist diese Inszenierung über diverse Bühnen gewandert und war zuletzt am Münchner Gärtnerplatztheater zu sehen: Zu hoffen ist, dass sie nach der Renovierung des Hauses nicht dem historisch uninformierten Entrümpelungswahn eines Intendanten – wer auch immer es dann auch sein sollte – zum Opfer fällt.

Wie gesagt: Flotows einstiger Erfolg ist selten geworden. Der Zeitgeist ist solchen Werken nicht günstig gesinnt. Das hat gute Gründe: Die Probleme der Ständegesellschaft sind uns heute ebenso fremd wie die Beziehungsfragen eines patriarchalistischen Zeitalters; der zensurgeeignete, bis zum Schmerz verharmloste Humor ebenso wie die jede Provokation meidende Kompositionsweise. Nach Wagner und Verdi ist eben vieles vorherhörbar geworden, und was das Ohr des Pariser oder Wiener Komödienbesuchers damals als angenehm empfunden hat, ruft heute nicht einmal mehr homöopathische Abgaben von Endorphinen oder gar Adrenalin hervor.

Doch deswegen ist Flotow weder zu verachten noch zu verdrängen. Denn was damals als „pikant“ galt – die Sittenwächter waren durchaus argwöhnisch! –, kann heute im Sinne einer „zweiten Ebene“ durchaus theaterwirksam und im besten Sinne unterhaltend wirken. Zu denken ist an Nostalgie und Ironie: Ich erinnere mich an eine Coburger „Martha“ von 2006, die vom goldenen Licht einer wehmütigen Erinnerung überglänzt war, ein Märchen aus einer vergangenen Zeit, inszeniert als Bild einer Kindheitsfantasie, der man sich erinnerungsselig hingeben kann.

Wie man aus den zum Genre gehörenden Klischees Funken schlägt, indem man sie mit den Stereotypen von heute konfrontiert, hat der Regisseur Roman Hovenbitzer in einer derzeit laufenden Inszenierung von „Alessandro Stradella“ in Gießen vorgeführt. Dieser erste Erfolg Flotows ist seit Jahren nicht mehr in Deutschland gegeben worden. Die letzte Inszenierung der Werks um den skandalträchtigen Lebenswandel des Barockkomponisten Alessandro Stradella gab es 2001 beim irischen Wexford Opera Festival. Dort spann sich eine mäßig einfallsreiche Regie um die zentrale Melodie der Oper, die Hymne „Jungfrau Maria“, einst ebenfalls ein Zugstück für Tenöre.

In Gießen hat Regisseur Roman Hovenbitzer nun die Bezeichnung „Romantisch“ hinterfragt und sich lieber auf die musikalische Machart verlassen, die unverkennbar die Mittel der französischen „Opéra comique“ anwendet. Schon immer im Wege stand dem Werk die undramatische Handlung. In drei Akten wird eine Variante des Komödientopos bedient, der da lautet: Alter Vormund will junges Mündel heiraten; die schwärmt in diesem Fall den bewunderten Sänger Stradella. Zwei Auftragskiller sollen den Barden aus dem Wege räumen. Doch sind sie zwei Akte lang am finalen Schuss gehindert, weil die wunderschöne Stimme selbst die finsteren Seelen der Mordgesellen rührt. Ende gut, alles gut: Stradella bekommt das Mädel und die Musik hat wieder einmal ihre Macht bewiesen.

Hätten sich Hovenbitzer und sein Bühnenbildner Hermann Feuchter auf eine flott gespielte, knackig bebilderte Komödie beschränkt, wäre das langatmig und nett gewesen, mehr aber auch nicht. Doch jenseits der Lachimpulse, wie ein Karton mit der Aufschrift „Vorsicht Kunst“ mit der kessen Leonore als Inhalt, vertiefen sie die knallbunte Szene immer intensiver mit emblematischen Zeichen. Dann wird aus der Geschichte zum Beispiel die eines pubertierenden Mädchens, das seinen Star anhimmelt.

Doch Hovenbitzer/Feuchter graben tiefer. Sie führen mit leichter Hand zentrale Motive der Künstler-Mythologie ein, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden sind und wie sie – zum Starkult degeneriert – noch heute wirken: mediale Vermittlung, zweckgerichtete Ansprache von Emotionen und Klischees, den Künstler als „Heiland“ im Kreis seiner Jünger. Die Madonna steht für die Fixierung auf das Ideal der „Reinheit“ der Frau im 19. Jahrhundert, aber auch für die ideologische Überhöhung des unerreichbaren Weiblichen im Gegensatz zum realen Objekt sexueller Begierde.

Die beiden komischen Killer schießen den Star dann doch über den Haufen, weil die gebotene Kohle mehr lockt als der Reiz des Gesangs. Damit bricht Hovenbitzer das Happy End, führt die Oper dann aber doch zum glücklichen Ende – allerdings als ironische Reminiszenz an die trivialromantische Vorstellung von der Macht der Musik und der Liebe. „Alessandro Stradella“ in Gießen wird so zu einer klug konzipierten Revue über Mentalitäten und geistige Konzepte, auf denen Flotows Oper basiert, ohne sie ausdrücklich anzusprechen. Aus biederem Unterhaltungstheater für den mundtot gemachten Bürgerstand nach 1848 wird ein witziges Lehrstück über Oper, Kunst und Geist im 19.Jahrhundert – nicht im Sinne eines musealen Vorzeigens, sondern als Befragung auf relevante Inhalte.

Friedrich von Flotows Leben verlief nach seinen beiden „Treffern“ unstet: Er schrieb für Berlin und Wien, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg, nahm 1855 die Stelle des Hofmusikintendanten in Schwerin an, ging zurück nach Paris und zog sich 1873 auf sein Mecklenburger Stammgut Teutendorf zurück. Ob er sich 1870 mit „L’Ombre“ an der Opéra-comique nicht durchsetzen konnte, weil seine Musik nicht goutiert wurde oder der Deutsch-Französische Krieg ausbrach – wer will es wissen? Seine letzte Oper erschien 1876 in Turin auf der Bühne; zwei Werke blieben unvollendet, als Flotow 1883 in Darmstadt einem Schlaganfall erlag.

In den letzten Jahren gab es hin und wieder „Martha“ – sogar an Theatern wie der Wiener Volksoper. In Schwerin, wo Flotow acht Jahre wirkte, inszenierte Robert Lehmeier 2009 den Klassiker. Die Produktion wird aus Anlass von Flotows Geburtstag wieder aufgenommen, aber nur zwei Mal gespielt – zum letzten Mal am 17. Mai. Die Oper Halle bringt „Martha“ am 12. Mai im Goethe-Theater in Bad Lauchstädt heraus.

In Schwerin, Hauptstadt Mecklenburgs und Sitz eines Staatstheaters, hat der 200. Geburtstag Friedrich von Flotows immerhin zu einem Kammerkonzert und zu einer Ausstellung im Parkettfoyer des wunderschönen Theaterbaus geführt: „„Mein siebenjähriger Krieg – Flotow in Schwerin“ heißt ihr Titel. Zu mehr konnte man sich nicht verständigen: Kein Werk Flotows in den Sinfoniekonzerten, keine Neuinszenierung einer Oper; offenbar auch nirgends wenigstens eine wissenschaftliche Konferenz. Man darf spekulieren, dass die Ketten des Etats das Theater an jedem Flugversuch in diese Richtung abhalten. So kann selbst ein Staatstheater eine seiner genuinen Aufgaben nicht mehr erfüllen. Das sei den Kulturpolitikern hierzulande gesagt: Ein materiell verarmtes Theater holt auch bald die geistige Armut ein.




Zuerst die Musik, dann die Worte – das neue Programm der Ruhrtriennale

Heiner Goebbels, neuer Intendant der Ruhrtriennale. Foto: Triennale

Wenn der Intendant eines internationalen Festivals von Haus aus Komponist ist, kann es kaum verwundern, dass die Musik eine Hauptrolle im Programm spielt. Wie bei der Ruhrtriennale, deren Leitung Heiner Goebbels für die nächsten drei Jahre übernommen hat. Die Vorstellung seiner ersten Spielzeit hat nun beredtes Zeugnis davon gegeben. Oper, Konzert und Tanz stehen im Mittelpunkt. Und selbst die Theaterproduktionen entbehren kaum des Tönenden.

Goebbels ist im Ruhrgebiet kein Unbekannter, vielmehr – indirekt zumindest – ein Pionier all dessen, was sich die Triennale auf die Fahnen geschrieben hat. Denn seine Musik wurde von den Bochumer Symphonikern schon in der Jahrhunderthalle, also einer einst industriell genutzten Spielstätte, aufgeführt, als noch niemand an ein Festival mit ungewöhnlichen Aufführungsorten und Programmen jenseits des Mainstreams dachte.

Inzwischen hat sich die Triennale etabliert, wechselt alle drei Jahre der Intendant, und mit ihm ändern sich die Schwerpunkte. Goebbels sagt: „Uns geht es um die radikale Erneuerung des Musiktheaters. Dem Publikum wird Unerhörtes geboten, nicht das Repertoire der regionalen Bühnen. Wir wollen eine Kultur von allen für alle. Deshalb werden viele Mitwirkende aus dem Ruhrgebiet kommen.“

Begonnen wird mit einem Revolutionär unter den Komponisten, John Cage. Dessen „Europeras I/II“ sind in Goebbels Regie zu sehen. Ein musikalisches Konglomerat aus 64 Arien der europäischen Operngeschichte, geordnet nach dem Zufallsprinzip. Die Inszenierung in Bochums Jahrhunderthalle arbeitet mit 32 verschiedenen Bühnenbildern.

Carl Orffs „Prometheus“ folgt, in der Duisburger Kraftzentrale; ebenfalls ein Werk, das man auf gängigen Spielplänen vergeblich sucht. Ein „Sprach-Musik-Drama“ nennt Goebbels die Oper, deren Archaik sich schon durch die Besetzung mit einem 20köpfigen Schlagwerkensemble erschließt. Ähnlich perkussiv dürfte es auf der Halde Haniel in Bottrop zugehen – einer neuen Spielstätte –, wenn dort die japanische Gruppe Boredoms, verstärkt um Drummer aus der Region, Klangekstasen in die Nachtluft senden.

Der Blick auf den Tanz führt etwa zur Produktion „enfant“ für drei Maschinen, neun Tänzer und eine Gruppe Kinder in der Jahrhunderthalle oder zur Uraufführung der Performance „Le Sacre du Printemps“ des Choreographen Laurent Chétouane (Spielort PACT Zollverein).

Die Veranstaltungen, die unter der Rubrik Theater subsumiert sind, lassen nur selten die Musik außen vor. So ist „Life and Times – Episode 2“ eigentlich eine Musicalperformance des „Nature Theater of Oklahoma“ (PACT Zollverein). Romeo Castelluccis „Folk“ wiederum, zwischenmenschliche Formen wie Gemeinschaft, Trennung und Isolation diskutierend, arbeitet mit Bewegungsritualen und will die Grenzen zwischen Akteuren und Publikum aushebeln. Doch auch hier geht es nicht ohne Musik (von Scott Gibbons; zu sehen in der Gebläsehalle Duisburg).

Hinzu kommen klassische (Kammer)-Konzerte, Publikumsgespräche und Symposien. Das Thema „No education“ bezieht Kinder auf witzig-verspielte Art ins Programm ein. Sie werden sich alle Produktionen ansehen und am Schluss Preise vergeben – in selbst gewählten Kategorien. Tatkräftige Hilfe erhalten sie von der kanadischen Forschungsgruppe „Mammalian Diving Reflex“.

Dem Urteil der Jury dürfen wir ebenso gespannt entgegensehen wie dem Gesamtprogramm. Intendant Heiner Goebbels hat zwar auf ein übergeordnetes Thema verzichtet, doch trifft der Titel eines Opernlibrettos des 18. Jahrhunderts wohl den Kern: „Prima la Musica, poi le parole“. Zuerst die Musik also. Goebbels, darauf angesprochen, denkt nach und verweist auf den russischen Regisseurs Wsewolod Meyerhold.  Dessen Credo war: „Das Wichtigste … wofür ich kämpfe, ist die Untermauerung des Schauspiels mit einem musikalischen Fundament“.

 

Alle Einzelheiten zum Programm finden sich unter http://www.ruhrtriennale.de




Getanztes Leben zwischen Abstraktion und praller Illustration

Tanz der Spitzhüte in Christian Spucks "Sleepers Chamber". Foto: Bettina Stöß/Stage Picture

Bilder, die sich gar nicht gleichen. Zu Beginn schneit es dunkle Erde im graugetünchten Raum, in dem riesenhafte Heuschrecken ihr Dasein fristen. Menschen, teils am Boden dahingekrümmt, lösen sich langsam aus einer Art Schockstarre, versuchen in zackigen, wie geometrisch wirkenden Bewegungen ihren Gliedern Leben einzuhauchen. Wir sehen „Sleepers Chamber“, also tänzerisches Erwachen in einer Schlafkammer – der erste Teil des neuen Doppelabends mit der Dortmunder Ballett-Compagnie.

Danach – welch völlig anderes Bild – die leere Bühne, durch Licht- und Farbspiele ein wenig aufgepeppt. Podium für überbordende Lebensfreude, die sich aus Bewegungsformen entwickelt, die Wut bis hin zur Gewalt, Enttäuschung und Einsamkeit illustrieren wollen. „Cantata“ ist der schlichte Titel dieser Choreographie, in der sich südländisches Temperament im Arte-Povera-Ambiente ausdrückt, garniert mit einer kleinen Commedia-dell’Arte-Episode.

So prallt das symbolträchtige Tanztheater Christian Spucks (Sleepers) auf wirkmächtiges Dolce-vita-Empfinden bei Mauro Bigonzetti (Cantata). Was dieser als überwiegend pralle, bodenständige Lebensszenerie auflegt, zeigt jener als geheimnisvolle, verwunschene, gleichwohl klare Parabel vom irdischen Werden und Vergehen.

Spucks menschliches Erwachen ist orientiert am Verhalten von Insekten, die mitunter erst nach monatelangem Schlaf aus der Erde krabbeln. Riesige Spitzhüte lassen Zauberstimmung assoziieren, manchmal aber wirken sie auf den Köpfen der roboterhaft agierenden Tänzer geradezu bizarr. Es ist ein Aufrappeln, Leben und Dahinsinken in hoch disziplinierter Aktion, immer eng am Puls der zugespielten, klangfarbenreichen elektronischen Musik Martin Donners.

Die Töne wiederum, die in der „Cantata“ ans Ohr gelangen, sind süditalienischem Brauchtum entnommen, tänzeln auf dem schmalen Grat zwischen originärer Volksmusik und publikumskompatibler Folklore. Eingespielt vom vierköpfigen Frauengesangsquartett „Gruppo musicale assurd“, das mit Kastagnetten, Tambourin und Akkordeon musiziert, sind diese Töne so melancholisch wie berstend vital.

Tanz als pralles Leben bei Mauro Bigonzetti. Foto: Bettina Stöß/Stage Picture

Doch Bigonzetti kann mit seiner Choreographie kaum einlösen, was als „Handlung“ vorgegeben ist. Wenn die Frauen aus dem Häuschen sind, Tarantella tanzen, entlädt sich dies in berauschten, lustvollen, heidnischen „Frühlingopfer“-Bewegungsformen. Doch die Zeichnung der italienischen Form des Machismo kommt oft unklar daher, wird belächelt. Das Stück, zyklisch gedacht als Folge von Ruhe in der Enge – Leben in der Weite – Ruhe wird konterkariert mit einem lauten Finale, das sich als klatschmarschträchtig entpuppt.

So ist dieser zweiteilige Ballettabend, der den etwas rätselhaften Titel „Träumer.Tanzen.Lieder“ trägt, stark am Beginn, schwach am Schluss. Alles indes getanzt auf hohem Niveau.

 




Wachstum möglich: Dortmunder „Klangvokal“-Fest erstmals auf sicherem Grund

Die israelische Sängerin Yasmin Levy zählt zu den "Klangvokal"-Gästen in Dortmund. Foto: Klangvokal

Wer die Pressemappe aufschlägt, sieht ein Tütchen „Gelbe Riesen“ vor sich. Sonnenblumen-Saatgut ist drin, wohl als sinnfälliges Symbol für Wachstum, letzthin fürs strahlend-duftige Sommergefühl. Ganz so wie das Bild auf dem Flyer des Dortmunder „Klangvokal“-Festivals. Blauer Himmel, ein gelbes Blütenmeer, eine Dame in Weiß: Das Programmheftchen, das den musikalischen Veranstaltungsreigen für 2012 unter dem Titel „Begegnungen“ auflistet, mag also für Optimismus im Dienste der Kunst stehen.

Dazu besteht derweil wieder Anlass. „Klangvokal“, die Verbeugung vor dem Facettenreichtum der menschlichen Stimme in Oper, Oratorium, Weltmusik und Jazz, prägt seit 2009 das Kulturleben der westfälischen Metropole. Anfangs war das Festival finanziell einigermaßen üppig ausgestattet, doch setzte die Stadt sehr schnell die Sparschraube an. Am Ende des Kulturhauptstadtjahrs (2010) war nicht sicher, ob das Festival weiter existieren kann. Quasi in letzter Minute schuf der Rat eine tragfähige Finanzgrundlage.

Nun aber haben sich die Politiker dazu entschlossen, den städtischen Zuschuss für 2012 bis 2014 zu garantieren. Das sind in diesem Jahr 330 000 Euro, in den nächsten beiden Jahren indes jeweils 10 Prozent weniger. Und dennoch: „Klangvokal“-Intendant Torsten Mosgraber ist froh, endlich Planungssicherheit zu haben. „Viele berühmte Künstler kann man nur weit im Voraus verpflichten“, weiß er um die Bedingungen des internationalen Konzertlebens.

Zum städtischen Zuschuss kommen weitere Mittel, die der Freundeskreis gibt, lokale Sponsoren beisteuern und die sich inclusive des Kartenverkaufs-Erlöses auf 270 000 Euro summieren sollen. Mosgraber sieht auch hier optimistisch nach vorn: Der Zuschauer-Zuspruch habe sich inzwischen bei gut 70 000 eingependelt. Auf jeden Fall können die Besucher in diesem Jahr (vom 16. Mai bis zum 3. Juni) 26 Konzerte an elf Spielstätten genießen. Mit im Boot sind etwa der Jazzclub Domicil, Theater und Konzerthaus Dortmund sowie diverse Kirchen.

Die hohe Publikumszahl erklärt sich vor allem daraus, dass der Kern des Festivals das (nunmehr vierte) Fest der Chöre ist. Dann ist jeder eingeladen, die Dortmunder Innenstadt singend zu beleben. Hinzu kommt in diesem Jahr der 6. Internationale Gospelkirchentag, mit einer gewissermaßen aufgefächerten Großveranstaltung auf 35 verschiedenen Podien. Und das Galakonzert mit der a-cappella-Formation „Wise Guys“ in der großen Westfalenhalle dürfte ebenfalls Zulauf finden.

Den Reiz des Festivals machen aber jenseits allen Gesangsspektakels außergewöhnliche Weltmusik- oder Jazzabende aus. Und eben jene Begegnungen, die in ihren Kontrasten für Spannung sorgen sollen. Etwa das Eröffnungskonzert, in dem Händels „Israel in Ägypten“ auf Musik des vorderen Orients trifft – mit dem Barockensemble „L’arte del mondo“ und irakisch-jüdischen Musikern.

Für den Jazz mögen hier der Amerikaner Kurt Elling und die Dänin Caroline Henderson stehen, für die Weltmusik die Sängerin Angelique Kidjo aus Benin oder der südafrikanische a-cappella-Chor „Ladysmith Black Mambazo“. Das Abschlusskonzert wiederum mit Vivaldis Oper „Juditha Triumphans“ gestalten neben dem Sinfonischen Chor der Chorakademie Dortmund die Accademia Bizantinia unter Leitung von Ottavio Dantone. Die Titelrolle singt die berühmte amerikanische Mezzosopranistin Vivica Genaux.

„Klangvokal“, inzwischen offenbar von Politik und Verwaltung anerkannt als wichtiger Beitrag zur oft propagierten Musikstadt Dortmund, hat also alle Chancen auf Fortbestehen. Daraus muss ja nicht gleich ein Riese erwachsen.

Karten gibt unter Tel.: 01805/570005

http://www.klangvokal-dortmund.de




Der grüne Bademantel – über Probleme, die Dortmunder in die Oper zu locken

Stein des Anstoßes: Der grüne Bademantel der Norma (Miriam Clark). Foto: Stage Picture

Es ist schon verrückt: Da kann ein grüner Bademantel über das Wohl und Wehe einer Operninszenierung entscheiden. Es mag noch so exquisit gesungen werden, das Orchester noch so beherzt aufspielen, das Stück selbst melodienselig dahinfließen: Wenn die Optik einem Großteil des Publikums nicht gefällt, gibt’s Mecker und Verweigerung. 

So geschehen in Dortmund: Vincenzo Bellinis Belcanto-Hit „Norma“, zur Premiere gut besucht, wurde in den Folgevorstellungen abgestraft – leere Ränge allenthalben. Weil Normas Outfit nicht dem Geschmack entsprach: Knallige Farben, eine Corsage, die angeblich einer Dame des liegenden Gewerbes zur Ehre gereicht hätte: zuviel für manchen Zuschauer.

Nun, der Vorgang liegt schon eine Weile zurück, doch Jens-Daniel Herzog, neuer Opernintendant in Dortmund, musste sich der Debatte erneut stellen. Er hatte zur Halbzeitbilanz seiner ersten Saison eingeladen, zu einem Publikumsgespräch über Stärken und Schwächen der bisherigen Produktionen, das der Musikjournalist Holger Noltze moderierte.

So entzündete sich eine Debatte an einem kostümbildnerischen Detail, die sich schnell Grundsätzlichem zuwandte. Wieviel darf das Theater von seinem Publikum verlangen. Sollten die Zuschauer mehr mitbringen als den Wunsch nach Unterhaltung? Wieviel Aktualität verträgt ein Stück, das sich etwa vor dem historischen Hintergrund des 18. Jahrhunderts bewegt?

Norma - eine Priesterin in Unterwäsche. Foto: Stage Picture

Herzog, der nicht gerade zu den Regieberserkern oder Stückezertrümmerern zählt, hält gleichwohl die Freiheit der Kunst für unantastbar. Mit Freude zitierte er aus dem Mailwechsel mit einer Zuschauerin, die sich eben über die Kleidung der Norma echauffierte. Bei aller gegensätzlichen Auffassung sei es zu einem intensiven Dialog gekommen, der für das Theater ungemein wichtig sei.

Publikums Stimme forderte geradezu diesen Dialog: „Wie wollen die Absichten des Regisseurs verstehen, sie muss uns erklärt werden“, rief eine leidenschaftliche Opernbesucherin. Und Herzog wiederum gab zu: „Wir müssen dahin kommen, dass Sie die Augen öffnen, nicht vor einer vermeintlich unbequemen Ästhetik verschließen. Wenn aber die Zeichen auf der Bühne, die für eine bestimmte Interpretation stehen, nicht erkannt werden, ist das jämmerlich“.

So alt diese Diskussion eigentlich ist, so gewichtig ist die aktuelle Situation, in der die Debatte geführt wird.  Denn nach den Intendanzen von John Dew und Christine Mielitz hat Jens-Daniel Herzog ein Haus übernommen, dem viele Zuschauer längst den Rücken gekehrt hatten. Wiederaufbau ist also angesagt. „Wir brauchen gegenseitiges Vertrauen“, wies Chefdramaturg Georg Holzer einen Weg. Das Theater müsse zeigen, dass ihm ernsthafte Arbeit und Qualität am Herzen lägen. Das Publikum wiederum solle die Bereitschaft signalisieren, sich mit neuen Ideen auseinanderzusetzen.

Und so schlecht sieht es in Dortmund angeblich nicht aus. Der Abwärtstrend sei gestoppt, das Betriebsklima verbessert, so Herzog. Natürlich weiß er, dass noch ein weiter Weg vor ihm liegt, doch seine Programmlinien will er konsequent durchziehen. Also jede Saison etwa eine Wagner-, Mozart-, oder Belcanto-Oper bieten, ein Musical, eine Operette, zudem Musiktheater des 20. Jahrhunderts, das sich aus der Spätromantik ableite. „Norma“ mag nicht gelaufen sein, die „Lustige Witwe“ etwa oder „Cosi fan tutte“ aber sind gefragt.

„Eigentlich gibt es hier für jedes Genre ein eigenes Publikum. Wir müssen daraus ein Opernpublikum schaffen“, ist Georg Holzers Überzeugung. Im übrigen sehe man sich vor, in den kommenden Inszenierungen wieder soetwas wie einen „grünen Bademantel“ zu präsentieren. Derart gewichtige Symbolik klingt nach einem Alleinstellungsmerkmal – so schräg ist nur Dortmund.




„Così fan tutte“ in Dortmund: Eine Tragödie voller Heiterkeit

Zarte Blüten der Zuneigung entdeckt Fiordiligi (Eleonore Marguerre) für Ferrando (Lucian Krasznec. Foto: Thomas M. Jauk/Stage Picture)

Von einem bösen Menschenexperiment erzählt Mozarts Oper „Così fan tutte“, in der ein zynischer Philosoph zwei verliebte junge Männer in eine perfide Wette um die Treue ihrer Freundinnen treibt. Im Theater Dortmund schwebt das zweiaktige „Dramma giocoso“ jetzt licht und anmutig über mephistophelische Abgründe. Intendant Jens-Daniel Herzog hat seine vor acht Jahren am Nationaltheater Mannheim erarbeitete Fassung erfolgreich für Dortmund aufpoliert.

Auf dem Drahtseil zwischen Posse und Tragödie hält die Produktion sicher die Balance. Sie neigt zuweilen dem Klamauk zu, gleitet aber nie vollends in die Klamotte ab. Lieber hält sie sich an Mozarts heitere Liebenswürdigkeit, die alle Figuren gelten lässt und niemals Partei ergreift. Je schlimmer die Akteure sich in den Strippen des intriganten Don Alfonso verstricken, desto humaner erscheinen sie uns. Jens-Daniel Herzog zeichnet die zunehmende Verwirrung der Köpfe und Herzen glaubhaft und punktgenau nach. Bei aller galanten Grazie bleibt stets eine dramatische Fallhöhe spürbar: Hier werden Beziehungen so lange und so hart auf die Probe gestellt, dass die Risse am Ende nicht mehr zu kitten sind.

Bühne und Kostüme von Mathis Neidhardt schaffen einen nachgerade genialen Rahmen für das doppelbödige Spiel. Ein stuckverziertes Theaterfoyer, das wohl einst bessere Zeiten sah, lässt sich gegen eine kleine Wohnstube mit geblümter Tapete verschieben, in der Dorabella und Fiordiligi zum Warten verdammt sind. Ihre Liebsten Ferrando und Guglielmo wirken in ihrer unaufdringlich geschmacklosen 50er-Jahre-Garderobe wie verkappte Spießer. So beschwört Neidhardt eine enge Welt mit rigiden Vorstellungen von Anstand und Moral, die er in der Folge ungebremst auf Bilder aus dem Orient prallen lässt. Denn Ferrando und Guglielmo werben als geldschwere Scheichs um die Gunst der jeweils falschen Partnerin.

Ausgewogen und erfrischend spielfreudig präsentiert sich das Dortmunder Ensemble. Die Stimmen klingen durchweg warm, lebendig und gut geführt. Dass sie eher klein sind, führt zur vielleicht einzigen Schwachstelle innerhalb kurzweiliger dreieinhalb Stunden. Es dauert bis zur Pause, bis ein erstes überzeugendes Forte aufkommt, und beinahe bis zum Schluss, bis die Ensembles wahre Strahlkraft und Dichte entwickeln. Der schlanke und federnde Klang, den Dirigent Motonori Kobayashi und die Dortmunder Philharmoniker beisteuern, bleibt da notgedrungen über weite Strecken dünn. Ohne einer opulenten Orchesterbesetzung à la Karajan das Wort reden zu wollen: Ein wenig mehr Klangfülle hätte mehr Funken aus der Musik geschlagen.

Gleichwohl gilt es, Lob zu verteilen: für den beweglichen und anrührenden Sopran von Eleonore Marguerre (Fiordiligi), das reiche Timbre und das komödiantische Talent von Ileana Mateescu (Dorabella), den schlanken lyrischen Tenor von Lucian Krasznec (Ferrando), den bis zum Ingrimm intensiven Bariton von Gerardo Garciacano (Guglielmo), den eher gemütlich-bösen Bass von Christian Sist (Don Alfonso) und natürlich für Julia Amos, die als quirlige Dienstmagd Despina sogar in den Orchestergraben steigen und den Dirigenten entführen darf. Die von Granville Walker gut einstudierten Chöre haben als falsche Soldaten einen herrlich komischen Auftritt. Bravos und Klatschmärsche im ausverkauften Haus. Das Dortmunder Opernpublikum, in den letzten Jahren nur selten verwöhnt, hofft hörbar auf eine Wende zum Besseren.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.theaterdo.de)




Großstadt-Triptychon in Gelsenkirchen: Glanz und Elend der Zwanziger Jahre

Menschen auf engem Raum: Szene aus „Leben in dieser Zeit“ von Edmund Nick auf Texte von Erich Kästner (Foto: MiR/Pedro Malinowski)

So geht es den Trägern berühmter Namen: Was einerseits Türen öffnen kann, weckt andererseits Erwartungen, die nicht selten zur hohen Messlatte werden. Im Gelsenkirchener Musiktheater stand jetzt das Großstadt-Triptychon des Malers Otto Dix Pate für einen gleichnamigen Abend, der drei Opern-Einakter verschiedener Komponisten mit Hilfe des Tanzes zu einem Panorama der goldenen Zwanziger Jahre verbinden sollte.

Dabei haben „Zeus und Elida“ von Stefan Wolpe, „Leben in dieser Zeit“ von Edmund Nick und das „Mahagonny-Songspiel“ von Kurt Weill kaum mehr gemein als die Entstehungszeit. Stefan Wolpes 1928 uraufgeführtes Werk ist eine Groteske, in der Zeus auf der Suche nach Europa mitten auf dem Potsdamer Platz in Berlin landet und sich in den Wirren einer modernen Zeit verheddert. Wolpe hat dazu eine expressionistische, hoch komplexe Musik geschrieben, in der Anleihen aus der Tanz- und Unterhaltungsmusik der Zwanziger grell aufleuchten.

Ganz anders der Kästner-Freund Edmund Nick, seinerzeit Hauskomponist beim Schlesischen Rundfunk Breslau und nach dem Krieg beim WDR in Köln. Seine lyrische Suite „Leben in dieser Zeit“ (1929) ist ein unterhaltsames Hörspiel, dessen Chansons und Chöre fast einschmeichelnd glatt ins Ohr gehen. Meilenweit ist diese Musik von den geschärften Klängen des „Mahagonny Songspiels“ (1927) von Kurt Weill entfernt, der aus einem kleinen Instrumentarium ein Maximum an Biss und Schmiss heraus holt.

Gelsenkirchens neuer Ballettchefin Bridget Breiner oblag das Experiment, diese Trias zu einem Gesamtkunstwerk zu schmieden. Aber aus dem Nebeneinander von Sängern und Tänzern will lange kein Miteinander werden. Im Bühnenbild von Jürgen Kirner, der mit zugespitzten Hochhaus-Silhouetten und beengten Wohn-Zellen arbeitet, belebt der Tanz zwar die Szene, bleibt aber meist nur Beiwerk. Unbeholfenheiten lassen die Produktion an immer neuen Stellen haken und holpern. Mal droht „Zeus und Elida“ in eine Kostümparade abzurutschen, mal ist die Personenführung unglücklich wie im Falle von Thomas Möwes, der als Zeus leider nur stimmlich eine gute Figur abgeben darf. Dann wieder nimmt die zu oft ungenaue Rhythmik des Sprechgesangs (Joachim G. Maas) Kästners Versen in „Leben in dieser Zeit“ viel von ihrer Wirkung.

Gelungenes findet sich erst im zweiten Teil des Abends, der dann doch noch an Dichte gewinnt. In „Leben in unserer Zeit“ vermittelt Lars-Oliver Rühl als „Herr Schmidt“ viel von der Ohnmacht und Einsamkeit des Durchschnittsmenschen. Christa Platzer berührt als Chansonette mit dem Lied einer Mutter, die an der physischen und emotionalen Ferne des erwachsenen Sohnes leidet. Zum Song „Man müsste wieder 16 sein“ choreographiert Bridget Breiner einen Pas de deux von zauberhaft schwebender, unbekümmerter Leichtigkeit. Wo es um den Zorn der sprachlosen Mehrheit geht, steigert sich ihre elegante Tanzsprache zu kraftvollen und kämpferischen Gesten.

Das „Mahagonny Songspiel“ ist ohnehin zu stark, um seine Wirkung gänzlich zu verfehlen. Wo der Benares-Song so schön nach Katzenjammer klingt und der Mond von Alabama den Gesetzlosen scheint, schimmert auch das Versprechen auf, das Bridget Breiner den Gelsenkirchener Tanzfreunden macht.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Info: www.musiktheater-im-revier.de)




Bariton Thomas Quasthoff beendet Sängerkarriere: Auch geplante Auftritte in Dortmund und Essen abgesagt

Traurige Nachricht für alle Musikfreunde: Wie die Philharmonie Essen am 11. Januar mitteilt, beendet Thomas Quasthoff seine Karriere als Sänger. Der Bassbariton, der vor allem als Lied- und Oratoriensänger eine beispiellose Karriere hinter sich hat, wird aber nach wie vor auf der Bühne zu erleben sein, wie er auf seiner Homepage mitteilt: „Thomas Quasthoff wird als Sprecher, bei Lesungen und im Rahmen der neuen Reihe «Thomas Quasthoffs Nachtgespräche» am Konzerthaus Berlin auf der Bühne zu erleben sein.“ Ausfallen muss jedoch das für 19. Mai 2012 in der Philharmonie Essen geplante Konzert. Die Karten werden zurückgenommen, teilte die Philharmonie mit. Quasthoff hatte in der Region außerdem Auftritte am 26. Januar im Konzerthaus Dortmund und am 28. Januar in der Philharmonie Köln geplant. Bei beiden Konzerten springt der Bariton Florian Boesch ein.

Für Quasthoffs Entscheidung sind gesundheitliche Gründe maßgebend. Der Sänger hatte 2011 mit einer hartnäckigen Kehlkopfentzündung zu kämpfen. Seine Gesundheit erlaube es ihm nicht, „dem Anspruch, den ich immer an mich selber und an die Kunst gestellt habe, gerecht werden zu können“, begründet der Künstler seine Entscheidung. „Ich habe dem Beruf sehr viel zu verdanken und gehe ohne Bitterkeit. Im Gegenteil – ich freue mich auf neue Herausforderungen, die es in meinem Leben geben wird. Ich bedanke mich bei allen Musikerkolleginnen und -kollegen, mit denen ich gemeinsam auf der Bühne stehen durfte, bei allen Veranstaltern und bei meinem Publikum für ihre Treue“, wird Quasthoff in der Pressemitteilung zitiert.

 

Thomas Quasthoff bei seinem letzten Auftritt als Sänger in der Essener Philharmonie im Dezember 2010. Foto: Sven Lorenz

Thomas Quasthoff bei seinem letzten Auftritt als Sänger in der Essener Philharmonie im Dezember 2010. Foto: Sven Lorenz

 

Essens Intendant Johannes Bultmann äußerte sich „sehr schockiert“, bekundet aber seinen Respekt vor einer Entscheidung, die „keineswegs selbstverständlich“ sei. Noch im Dezember 2010 sei Quasthoff mit einer Gala zu seinem 50. Geburtstag in der Philharmonie zu Gast gewesen. Dies sei – wie heute bekannt – einer seiner letzten großen Auftritte als Sänger gewesen.

Der 1959 in Hildesheim geborene Sänger studierte bei Charlotte Lehmann in Hannover. 1984 hatte er seinen ersten großen Auftritt im Oratorium „Die letzten Dinge“ von Louis Spohr in Braunschweig. 1987 gewann er den Ersten Preis beim Mozartfest-Wettbewerb in Würzburg. Den Karriere-Durchbruch ermöglichte der Gewinn des Internationalen Musikwettbewerbs der ARD im Jahr 1988. Sieben Jahre später gab Quasthoff beim Oregon Bach Festival sein USA-Debüt; 1999 trat er erstmals in der Carnegie Hall in New York auf – mit Schuberts „Winterreise“.

Auch auf der Opernbühne war Thomas Quasthoff zu erleben, so 2003 in Beethovens „Fidelio“ unter Simon Rattle bei den Salzburger Osterfestspielen. 2004 folgte der Amfortas in Wagners „Parsifal“ an der Wiener Staatsoper. Quasthoff nahm in den letzten Jahren auch Jazz, Soul und Blues in sein Programm auf. Der vielfach ausgezeichnete Künstler unterrichtet seit langem junge Sänger; 1996 erhielt er eine Professur an der Musikhochschule Detmold, 2004 wechselte er an die Hanns Eisler Hochschule in Berlin. Seine Diskografie ist reichhaltig; zu seinen letzten Veröffentlichungen zählen das Jazz-Album „Tell it like it is“ (2010), Bachs „Matthäuspassion“ mit dem Thomanerchor und dem Gewandhausorchester unter Riccardo Chailly (2010) und eine Platte mit italienischen Arien von Joseph Haydn mit dem Freiburger Barockorchester (2008). Berühmt geworden sind zum Beispiel seine Aufnahmen der „Winterreise“ mit Charles Spencer am Flügel oder seine Loewe-Balladen mit Norman Shetler als Begleiter.




Befreiung oder Verhängnis: Oper vs. Ehetrott in Peter Henischs neuem Roman

Der neueste Roman des österreichischen Schriftstellers Peter Henisch, „Großes Finale für Novak“, beginnt, ehe er beginnt, mit einem Bilderrätsel auf dem Schutzumschlag.

Eine requisitenhafte Amsel mit ihrem zu Gesang aufgesperrtem Schnabel, eine wie schussbereit von uns Betrachter…n abgewandte, aber irgendwie zielgerichtete Pistole – und eine Musikkassette, deren Bandaufspulung (fortan unabspielbar) aus dem Gehäuse herausgedröselt worden ist, bilden insgesamt eine Art Girlande, ein kunstvoll arrangiertes schwarzes Gebinde um das Blockbuchstabenzentrum herum, nämlich den Autorennamen, den in große rote Lettern gesetzten Romantitel und die Gattungsbezeichnung Roman, wodurch einerseits eine Inschrift, gleichsam wie auf einem Grabstein, assoziiert werden kann und andererseits in Folge der luftschlangenhaften Umrahmung sich etwas Theaterhaftes, Karnevaleskes, Silvesterscherzartiges anzukündigen scheint.

Was hat es mit der requisitenhaften Amsel und der requisithaften Pistole und dem ausgewickeltem und girlandenhaft unabspielbar gemachten Musikkassettenband aber denn nun auf sich?
Nein, ich gebe jetzt noch keine Antwort. Verfasse auch keine genaue Inhaltsangabe. Sage statt dessen allen potentiellen Leser…n aus voller Überzeugung: Eine lohnende Lektüre wartet! Schon wegen der Schreibweise! Aber nicht nur deswegen!

Auf alle Bilderrätselfragen des Schutzumschlages gibt der so schnell und leicht und so erfreulich unterhaltsam zu lesende und zugleich alles andere als anspruchslose Roman von Peter Henisch zunehmend seine eigene, zum Teil überraschende Antwort.

Peter Henisch: „Großes Finale für Novak“. Roman. Residenz Verlag. 304 Seiten, 22,90 Euro.

Auch wenn das gesamte nacherzählbare Handlungsgeschehen dieses Romans sich eklatant in einem einzigen Satz eines Polizeiberichts zusammenfassen ließe, bliebe dennoch sein Bestes unerwähnt. Das Beste dieses tragikomischen Romans, sein merkwürdiges Ineinander von Ironie, Amüsantheit und Schonungslosigkeit, ist nur der Lektüre selber zugänglich.

Mein eigenes Lektüreinteresse entzündete sich bereits an der Eingangsidee bzw. am Ausgangspunkt dieses Romans. Ein fünfundfünfzigjähriger, vorzeitig in den Ruhestand gehender bzw. in ihn hineingedrängter Postbeamter namens Franz Novak, der ganz ähnlich wie seine 48jährige Frau Herta niemals zuvor mit Opernmusik etwas am Hute gehabt hat, kommt unter ganz bestimmten Bedingungen im Krankenhaus dennoch mit solcher in Berührung, entwickelt so nach und nach Gefallen daran, ja wird mehr und mehr auf Opern versessen. Worüber seine Frau, als er aus dem Krankenhaus zurückgekehrt ist und er sich heimlich neuerworbene CDs anhört, überaus überrascht ist und deshalb etwas anderes dahinter vermutet. Sie wird eifersüchtig auf die junge indonesische Krankenschwester, von der ihr Mann die Opernkassetten samt Köpfhörern leihweise zur Abschirmung gegenüber äußerem Lärm für die Dauer seines Krankenhausaufenthaltes erhalten hatte; argwöhnisch eifersüchtig ist sie fortan, weniger aus Liebe zu ihrem Mann als aus Besitzanspruch und Besitzer…stolz und einem Gefühl eigener Gekränktheit heraus. Sie kämpft um ihn, dumpf entschlossen und rücksichtslos intrigantisch auch da noch, wo er selber es gar nicht merkt, und zerstört in letzter Konsequenz – und auch nachträglich noch in empörender Ungerührtheit – das Leben der Krankenschwester und ihrer kleinen Familie. Kleine Ursache, große Folgen! Überdies auch noch in einem anderen, im weiteren Romanverlauf zu erfahrenden Sinne.

Was mich an diesem Roman besticht, ist seine geschickte Dosierung und seine nur auf den ersten Blick harmlos unterhaltliche Aufdeckung von hinterhältiger Rücksichtslosigkeit. Am Anfang hatte ich mich vordringlich dafür interessiert, wie das wohl ginge, dass aus einem eingefleischten Opernmuffel noch in späten Jahren ein ausgesprochener Opernfreund zu werden vermöchte. Und siehe da: Das erfährt man auch. Wie nebenbei. Und durchaus informativ. Aber wohldosiert. Ohne jegliche Überfrachtung. Ein pädagogischer Zeigefinger, was zu tun sei, um den musikalischen Geschmack „in bildungsfernen Schichten“, also überall in unserer Gesellschaft, zu heben, fehlt völlig. Frühere, erst kürzlich verlassene Phasen des musikalischen Geschmacks (Tina Turner und Joe Cocker) werden nicht verleugnet. Ebenso werden „Heavy Metal“-CDs, die der vor Jahren nach Kanada ausgewanderte gemeinsame Sohn des Ehepaars, Bernd, in seinem Zimmer zurückgelassen hat, gebührend in das Geschehen miteinbezogen, als es für Franz Novak darum geht, den Lärm von Motorsägen und zusätzlichen Pressluftbohrern mit Kopfhörergegenwehr zu übertönen.

Sicher: Die Verfeinerung des Gehörs bei Franz Novak durch sein gezieltes, mehr und mehr interessiertes Opernhören wird ganz nebenbei auch deutlich, aber was der Roman vor allem zeigt, sind Szenen einer betagten Ehe, in der man sich wechselseitig zu kennen meint und doch immer wieder entscheidend verkennt. Insbesondere Herta Novak wird von ihren argwöhnischen Unterstellungen ihrem Mann gegenüber und dem in ihr schlummernden, nun akut virulent werdenden Ausländerhass beherrscht. Aber auch Franz Novak verkennt mitunter die gelegentlich eben auch vorhandenen, besseren Regungen seiner Frau, an die sich vielleicht anknüpfen ließe. Er ist zu zögerlich, schiebt zu vieles auf die lange Bank und unterlässt so heilsam vernünftige Schritte, die er manchmal durchaus ins Auge gefasst hatte. In seiner Ehe, in der die Frau das Sagen hat bzw. das Sagen mehr und mehr erlangt hat, wäre es in einem eher lieblosen Nebeneinander wohl noch länger so weiter gegangen, wenn nicht bei Franz Novak mit plötzlich einsetzender Macht die unerwartete Begegnung mit den Opern (gestuft in Form von Musikkassetten, CDs, Radiosendungen und eines einzigen, auch scheiternden Staatsopernbesuches) dazwischengekommen wäre, die in ungeahnter Konsequenz eine ganze Kettenreaktion in Gang setzt, insbesondere aber eine wichtige Ventilfunktion hat, sofern sie von da an weidlich genutzte, innere Freiräume durchgängig bereitzustellen in der Lage ist.

Fast könnte man auf die Idee kommen, dass durch Peter Henischs Roman „Großes Finale für Novak“ der auf die (im Roman nicht vorkommende) Eheoper „Fidelio“ gemünzte Terminus „Befreiungsoper“ einen veränderten, paradox-ironischen Sinn bekommen hat. Jegliche Oper ist für Franz Novaks inneren Haushalt der Sache und der Funktion nach eine Befreiungsoper. Henischs Roman selber hat gelegentlich ebenfalls diesen Charakter. Bei näherem Hinsehen jedoch ist dieser mit Bedacht tragikomisch grundierte Roman keinesfalls nur Oper im Sinne von Befreiungsoper, auch wenn die das letzte Wort zu haben scheint, sondern mindestens ebensosehr Oper im Sinne von Verhängnis à la „Die Macht des Schicksals“.

Noch eins: Wieso nur kam ich beim Lesen recht bald auf die Idee, die österreichische Gegenwartsliteratur habe in Peter Henisch auch so etwas wie ihren eigenen Wilhelm Genazino gefunden?




„La Traviata“ in Gelsenkirchen: Von der Unbarmherzigkeit der Menschen

Am Boden: Die Kurtisane Violetta Valéry (Alexandra Lubchansky), Titelheldin aus Verdis Meisterwerk "La Traviata" (Foto: MiR/Karl Forster)

Wie vor einer Aussätzigen wechselten die Menschen die Straßenseite, wenn Giuseppina Strepponi durch das norditalienische Städtchen Busseto ging. Niemand sprach mit ihr, aber alle über sie: Über die Sängerin mit diversen Affären und drei unehelichen Kindern, die an Schwindsucht litt und ohne Trauschein mit dem Komponisten Giuseppe Verdi zusammen lebte. Vielleicht war sie „die wahre Traviata“, wie Gaia Servadio in seiner gleichnamigen Biographie behauptet. Die unbarmherzige Härte der bürgerlichen Gesellschaft bekam die Strepponi jedenfalls zu spüren.

Um diese Grausamkeit geht es Gelsenkirchens Opernintendant Michael Schulz, der die Titelheldin aus Verdis „La Traviata“ in seiner jüngsten Inszenierung gleichsam von Schuld freispricht. Fragwürdig erscheint ihm weniger die Kurtisane als eine amüsierwütige Gesellschaft, die unempfindlich für fremdes Leid ist und erschreckend rasch im Verachten. Die Personen zeichnen sich vor allem durch ihr Nicht-Handeln aus: Sie werden zu Zaungästen, zu Gaffern, zur bloßen Staffage. Die karge Ausstattung betont das realistische Element der musikalischen Erzählung (Bühne: Dirk Becker). Ein drehbarer, aufgeschnittener Kasten ist der schillernden Hauptfigur Bühne und Gefängnis zugleich. Das zweite Bild zeigt kein trautes Heim, sondern einen öden Hof. Nicht einmal ein Bett hat Violetta im letzten Akt, um aus dem Leben zu scheiden. Wie ein Geist steht sie am Orchestergraben, lauscht einsam und verloren den ätherischen Klängen, die sich von dort ins Nichts verströmen.

Es sind herrliche Pianissimo-Wunder, die sich unter der Leitung von Dirigent Rasmus Baumann ereignen. Die Neue Philharmonie Westfalen, die ihre Tugenden bereits im Britten-Zyklus eindrucksvoll unter Beweis stellte, erreicht in dieser „Traviata“-Produktion einen neuen Gipfel. Die Musiker lassen die Festszenen quirlig und spannungsvoll moussieren, erfüllen Violettas verzweifeltes „Amami Alfredo“ mit heißer Glut und begleiten ihr Sterben mit einer gläsernen Transparenz, die beinahe unstofflich klingt. Eine fabelhafte Leistung, belohnt mit frenetischem Beifall.

In der Hauptrolle zeichnet Alexandra Lubchansky, die in Darmstadt jüngst unverschuldet ins Zentrum eines Opernstreits geriet, Glanz und Elend der Kurtisane facettenreich nach. Ihr beweglicher Sopran kann kalt auftrumpfen und glutvoll flehen, aber auch mädchenhaft fragil klingen. Ihr gelingt das sensible Porträt einer leidenden Frau, die weder Mitleid noch Hilfe zu erwarten hat. Neu im Gelsenkirchener Ensemble ist der Rumäne Daniel Magdal, der als Alfredo einen achtbaren Einstand gibt. Sein Tenor gewinnt nach etwas sprödem Beginn an Glanz, zeigt Kraft ohne Kraftmeierei und versagt auch in leiseren Nuancen nicht den Dienst. Ein regelrechter Coup gelingt Günter Papendell, der aus Alfredos Vater Giorgio Germont endlich einmal mehr macht als einen hölzernen Moralisten. Papendell findet für das Schwanken zwischen Strenge und Mitleid wunderbar warme und lebendige Nuancen, für die er vom Premierenpublikum stürmisch gefeiert wurde.

Mag Intendant Michael Schulz zuweilen auch etwas ausgiebig Geld regnen lassen, um die Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen zu verdeutlichen: Er hält seinen Regie-Ansatz konsequent durch und steigert sich zu einem erschütternden Schlussbild. So verlassen wie unter diesen Menschen, so die Botschaft, kann Violetta wohl nirgends sein.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Info: www.musiktheater-im-revier.de)




„Dies Scheusal hier – ist ein Vampyr“: Vor 150 Jahren starb der Komponist Heinrich Marschner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der Vater ist verzweifelt. Die Tochter, jung, frisch verliebt, ist durchgebrannt. Abgehauen mit ihrem Liebhaber. Mitten in der Nacht. Man geht auf die Suche. Im einsamen Wald findet sich eine Spur. Fackeln, ein Schrei, und nacktes Entsetzen: Das Mädchen liegt leblos an einer Höhle. Am Hals eine blutige Spur. Die Männer im Suchtrupp wissen: „Sie ward zum Opfer dem Vampyr“ …

So dramatisch geht es zur Sache in Heinrich Marschners Oper „Der Vampyr“. Drei Opfer muss der elegante Blutsauger binnen 24 Stunden zu Tode beißen, damit ihm die Hölle Fristverlängerung gewährt. Schafft er es? Das ist die bange Frage. Am Schluss überstürzen sich die Ereignisse. Eine Hochzeit wird verhindert, ein Schwur gebrochen. Aber nach Marschners Willen siegt das Gute:

Wer Gottesfurcht im frommen Herzen trägt, im treuen Busen reine Liebe hegt, dem muss der Hölle dunkle Macht entweichen. Kein Zauber kann ihn je erreichen!“

Die Oper über den Vampyr, der selbst unter seinem „schrecklichen Beruf“ leidet, war 1829 ein überwältigender Erfolg. Nach der Uraufführung in Leipzig zog sie eine gruselige Spur durch Europa. Romantische Schauergeschichten waren damals in Mode, und Marschners „Vampyr“ befriedigte den Wunsch nach Geheimnisvollem und Unheimlichem.

Ruthven, der Vampyr – eine gebrochene Gestalt

Doch Heinrich Marschner schuf nicht nur eine Zeitgeist-Oper. Er stellte Figuren auf die Bühne, die tief in menschliche Abgründe blicken lassen. Und die sich der Frage nach dem Bösen stellen müssen. Der Stoff wurde schon in der Entstehungszeit als „widerlich“ und „grausam“ abgelehnt. Doch hinter solchen Urteilen steckt das Zurückschrecken vor der psychologisch zugespitzten Behandlung von Liebe, Tod, Leidenschaft und Grauen.

Beim Label "Opera d'oro" ist die einzige befriedigende Aufnahme von Marschners "Der Vampyr" erhältlich (OPD 7016). Sie ist unter Fritz Rieger beim Bayerischen Rundfunk entstanden und verwendet statt der üblichen Bearbeitung Hans Pfitzner älteres Material. Die autographe Partitur des "Vampyr" ist verschollen.

Beim Label „Opera d’oro“ ist die einzige befriedigende Aufnahme von Marschners „Der Vampyr“ erhältlich (OPD 7016). Sie ist unter Fritz Rieger beim Bayerischen Rundfunk entstanden und verwendet statt der üblichen Bearbeitung Hans Pfitzners älteres Material. Die autographe Partitur des „Vampyr“ ist verschollen.

Während bei Weber, im Kaspar im „Freischütz“ und im Lysiart in der „Euryanthe“, die Mächte des Bösen noch eindeutig bestimmten Figuren zugeordnet sind, ist Marschners Lord Ruthven eine gebrochene Gestalt: Zur Blutgier getrieben, leidet er gleichzeitig an dem Zwang zur mörderischen Tat. Er trägt das Verhängnis in sich selbst, er „muss es tun“, lehnt sich aber innerlich, wenn auch vergeblich, gegen die Verdammnis auf. Marschner hat im Verein mit seinem Librettisten und Schwager Wilhelm August Wohlbrück die romantische Doppelnatur psychologisch und existenziell so scharf erfasst, dass die dämonische Existenz der Vampirgestalt auch gegen komplexe Charaktere wie Wagners „Holländer“ bestehen kann.

Ideal des Musikdramas: Hans Heiling

Als Höhepunkt von Marschners Künstlertum wird jedoch „Hans Heiling“ gesehen. Auf ein Libretto von Philipp Eduard Devrient geschrieben und 1833 uraufgeführt, grenzt das Werk nach einem Urteil Hans Pfitzners „an das Ideal eines Musikdramas“. Mehr als jede andere Oper entspricht „Hans Heiling“ dem romantischen Kernthema E.T.A. Hoffmanns: dem Zusammenhang von Menschen- und Geistersphäre, dem Scheitern des hohen, idealen Anspruchs an der Enge der bürgerlich geordneten Welt und dem Zurückschrecken der Menschen aus Fleisch und Blut an der als dämonisch empfundenen Konsequenz des Transzendenten und Absoluten, das ihnen in einer Gestalt wie der von Marschners Helden entgegentritt.

Hans Heilings Schicksal entzieht sich den Zuordnungen von Gut und Böse. Er ist nicht mehr der Dämon, der an seiner verfluchten Natur zugrunde geht, wie der „Vampyr“; nicht mehr der entfesselt leidenschaftliche Mensch wie Marschners Tempelritter in „Der Templer und die Jüdin“, der an seiner Maßlosigkeit und an unbeantworteter Liebe scheitert. Ausgestattet mit dem Wissen vom Jenseitigen und der Macht des Überirdischen, sehnt sich Heiling nach Menschlichkeit, will das anspruchslose, scheinbar von Liebe durchdrungene Glück der Menschen teilen. Er strebt aus der Geistersphäre in die der Menschen und muss erkennen, dass das eine der Preis des anderen ist.

Heiling ist ein echter tragischer Charakter, ein Wesen schicksalhaften Leidens, dessen Unglück „eine solche Höhe von Teilnahme und Mitleid erregt, wie sie seinem höheren Standpunkt und Fall nur immer gebührt“, schreibt Marschner 1831 an seinen Librettisten Devrient. Seine Erdenfahrt und die Zurückweisung durch das Bauernmädchen Anna bringen Heiling geläutert, aber innerlich gebrochen ins Geisterreich zurück. Jetzt kann er als König über das Reich der Geister herrschen und die Welten der Irdischen und der Überirdischen gegeneinander abgrenzen – freilich um den Preis seines persönlichen Glücks.

In diesem romantischen Sujet ist das Problem von Macht und Liebe angesprochen, der Gegensatz des romantischen und des begrenzten, bürgerlichen Charakters gezeichnet. Marschners „Hans Heiling“ ist ein gültiges Werk über einen innerlich zerbrochenen Wanderer zwischen den Welten, dessen Schicksal bis heute nichts an Brisanz und Aktualität eingebüßt hat.

Marschners drei Meisterwerke – dazu zählt noch die 1829 uraufgeführte große Oper „Der Templer und die Jüdin“ – waren lange auf den Bühnen zu sehen. In Marschners 150. Todesjahr bleiben sie unbeachtet. Der 1795 in Zittau geborene Komponist ist weitgehend vergessen. Das hat er nicht verdient. Aufführungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Stoffe auch heute noch faszinieren und nachdenklich machen. Und die Musik hält gehobenen Maßstäben stand. Kurz vor der Gründung steht eine Heinrich-Marschner-Gesellschaft, die wieder auf das Werk des Komponisten aufmerksam machen will.

Isoliert und unzeitgemäß

Ausgebildet wurde Marschner unter anderem von Thomaskantor Johann Gottfried Schicht in Leipzig. Seine Karriere führte ihn vom Musiklehrer des Grafen Zichy in Preßburg/Bratislava zum Musikdirektor der Oper in Dresden. Mit seiner ersten Frau war er als reisender Dirigent unterwegs, so in Danzig, wo seine Oper „Lucretia“ uraufgeführt wurde. Als Komponist wie als Dirigent hatte er in Leipzig ab 1828 erfüllende Jahre. Nach seinen sensationellen Opernerfolgen wurde er 1831 Hofkapellmeister in Hannover. Dort wirkte Marschner, geehrt und angefeindet zugleich, bis 1859 und brachte nach übereinstimmenden Berichten das Orchester auf ein nie gehörtes Niveau.

Als Marschner starb, galt er jedoch schon als unzeitgemäß: als Komponist nicht mehr gefragt, als Generalmusikdirektor des Königs von Hannover gegen seinen Willen in die Pension komplimentiert. Seine großen Erfolge lagen hinter ihm, er selbst hatte sich gesellschaftlich wie persönlich zurückgezogen.

Schicksalsschläge hatten sein Leben überschattet: Drei Frauen starben ihm; von seinen zehn Kindern überlebte nur eine Tochter das Jugendalter. Seine Zeit war das Biedermeier, seine musikalische Sprache von Wagner und Meyerbeer überholt.

Noch einmal versuchte Marschner, Anschluss an die Moderne zu erlangen: Mit „Sangeskönig Hiarne und das Tyrfingschwert“ wollte er in Paris einen Erfolg landen. Doch das Empfehlungsschreiben an Napoleon, die Reise in die Welthauptstadt der Musik blieben erfolglos. Marschner kehrte im Juli 1861 krank nach Hannover zurück. Ein Schlaganfall setzte dem Leben des Todkranken am 14. Dezember 1861 um neun Uhr abends ein jähes Ende. „Hiarne“ wurde 1863 in Frankfurt uraufgeführt – ohne nachhaltigen Erfolg.

Als Mensch tritt uns Marschner in unterschiedlichen Facetten entgegen. In seinen Briefen wirkt der Freigeist ehrgeizig und nicht konfliktscheu. Doch war der kleine, rundliche Mann auch ein geselliger, humorvoller Typ: Er schrieb zahllose Lieder für trinkfreudige Vereinigungen wie die „Tunnel-Gesellschaft“ in Leipzig, deren Mitglieder er durch komisches Redetalent erheiterte. In Hannover galt er als gesuchter Gesellschafter; erlesene Speisen adelten seine Tafel. Seine jährliche Weinrechnung war so hoch wie die Gehälter seiner Hausangestellten.

Marschners Bemühen um Anerkennung nahm manchmal sonderbare Züge an: So schrieb er anonym Kritiken über sich selbst, um das Urteil über sein Schaffen zu beeinflussen. Doch als Verfechter einer deutschen Oper, die der Wahrhaftigkeit und Einfachheit verpflichtet sei sollte, genoss er hohes Ansehen: „Wahrheit führt zum Schönen und Bleibenden im Leben wie in der Kunst“, schrieb er 1842 in Dresden in ein Album. Das Lob von Kollegen wie Mendelssohn, Schumann und Pfitzner bestätigen seinen Rang als führender deutscher Komponist um die Mitte des 19. Jahrhunderts.




„Die Fledermaus“ in Essen: Pläsier ohne Sprengsatz

Das Stubenmädchen Adele (Hulkar Sabirova, l.) und ihre Schwester Ida (Yara Hassan) vergnügen sich auf Orlofskys Party mit einem Tänzer (Foto: Iko Freese)

Welch rauschende Party! Für das Vergnügen seiner Gäste hat Prinz Orlofsky keine Mühen und Kosten gescheut. Da gibt es ein Live-Orchester, einen künstlichen Sternenhimmel, ein Riesen-Roulette, edlen Stuck, blitzende Spiegel, funkelnde Diskokugeln. Sogar ein Feuerwerk lässt der generöse Gastgeber zünden. Zu sehen ist dies alles auf der Bühne des Essener Aalto-Theaters, wo Gil Mehmert es in seiner neuen Inszenierung der Strauß-Operette „Die Fledermaus“ mächtig krachen lässt.

Der in Herten geborene Regisseur, der seit 2003 Professor im Studiengang Musical an der Essener Folkwang Universität ist und für die Eröffnungsshow der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 verantwortlich zeichnete, serviert das sprühende Meisterwerk als glanzvolles Spektakel, das vor allem unterhalten soll. Dies wohl auch auf Geheiß des Opernintendanten Stefan Soltesz, der sich im Programmheft für eine illustrierende, auf ein jüngeres Publikum zielende Fassung stark macht. Als Konsequenz wird aus der neuen Essener Fledermaus ein Tierchen ohne Biss: Sie ist leicht zu konsumieren, steht dem Varieté aber näher als der Spottlust à la Offenbach. Von den Nachwehen des Wiener Börsenkrachs im Jahr vor der Uraufführung, in dessen Folge sich manch Verzweifelter das Leben nahm, aber auch von der erschreckenden Brüchigkeit bürgerlicher Verhältnisse ist in Mehmerts Version nicht viel zu spüren.

Gesungen und gespielt wird aber auf einem Niveau, das dem guten Ruf des Aalto-Theaters entspricht. Mit Peter Bording als Gabriel von Eisenstein und Alexandra Reinprecht als Rosalinde verfügt die Produktion über zwei Hauptdarsteller, die nicht nur stimmlich eine glänzende Figur abgeben. Hulkar Sabirova mag als Stubenmädchen Adele zuweilen etwas überdreht agieren, zwitschert sich als „Unschuld vom Lande“ aber trefflich in die Herzen des Publikums. Andreas Hermann kostet als Alfred das Klischee vom selbstverliebten Tenor köstlich nervtötend aus. Für mehr als nur einen Schuss schillernder Dekadenz sorgt Countertenor Matthias Rexroth, der als Prinz Orlofsky wie ein Party-Gott aus der Stuckdecke geschwebt kommt. Tom Zahner als versoffener Gefängniswärter Frosch, Heiko Trinsinger als Dr. Falke und Michael Haag als Gefängnisdirektor Frank komplettieren das Bild dieser ebenso feierwütigen wie fragwürdigen Gesellschaft. Der spielfreudige, auch stimmlich gut aufgelegte Opernchor sowie die Essener Philharmoniker, die unter dem Dirigat von Stefan Soltesz voller Transparenz und Spannkraft spielen, machen die Produktion musikalisch zu einem Erfolg. Mag das Orchester in sehnsuchtsvoll ausgreifenden Melodien auch kühl und reserviert klingen, so begeistert es doch durch nadelfeine Akzente und sprühende Delikatesse.

Freundlich, aber ohne Überschwang nahm das Premierenpublikum die aufwändige, auf zweieinhalb Stunden gekürzte Neuproduktion auf. Als Silvesterstück dürfte die Essener Fledermaus funktionieren, zumal die elegante Bühne von Jens Kilian und die prachtvollen Kostüme von Dagmar Morell viel fürs Auge bieten. Wer aber auf den im Pläsier verborgenen Sprengsatz wartet, wird trotz des Feuerwerks enttäuscht.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-fledermaus.htm)




Zum Tod der Musikjournalistin Sonja Müller-Eisold

Rund 55 Jahre lang hat sie für die Westfälische Rundschau (WR) über Oper, Ballett und Konzerte in der Region geschrieben. Welch eine Zeitstrecke, welch eine Lebensleistung! Jetzt ist die Dortmunder Musikjournalistin Sonja Müller-Eisold mit 80 Jahren gestorben. Eigentlich unfassbar, dass sie ihre angestammten Plätze in den Opern- und Konzerthäusern nicht mehr einnehmen kann. Wie sie denn überhaupt aus dem westfälischen Musikleben kaum wegzudenken ist.

55 Jahre lang für dieselbe Zeitung schreiben – solche Betriebstreue gibt es nicht mehr, kann es nicht mehr geben. Sie ging einher mit einer Zuverlässigkeit, wie man sie heute wohl vergebens sucht. Einen Termin ausfallen zu lassen oder sich auch nur zu verspäten, das war für Sonja Müller-Eisold prinzipiell ausgeschlossen. Im täglichen Wirrwarr der Redaktionsarbeit lernt man solche Festigkeit sehr zu schätzen.

Das Wirken der bei Dresden Geborenen ging freilich über derlei „preußische“ Sekundärtugenden weit hinaus. Auf der soliden Grundlage eines Studiums der Musikwissenschaften, das sie in Berlin mit der Promotion abschloss (über Mörikes Lyrik in Hugo Wolfs Vertonung), und eines Redaktionsvolontariats bei der Westfälischen Rundschau, reifte sie zur viel beachteten Kritikerin heran. Doch trotz ihres wachsenden Einflusses blieb die Gattin des früheren WR-Verlagsleiters Hans G. Müller (Heirat 1962, aus der Ehe ging die Tochter Andrea hervor) bemerkenswert unprätentiös. Wenn wir schon bei den Adjektiven sind: freundlich und ausgeglichen müssen hier ebenfalls stehen.

Über zweieinhalb Jahrzehnte durfte ich in der WR-Kulturredaktion mit SME (so ihr weithin bekanntes Kürzel) zusammenarbeiten. Sie war unsere feste freie Mitarbeiterin für alle Sparten der so genannten E-Musik und betreute etwa die Tage Alter Musik in Herne ebenso fachkundig wie die Tage Neuer Kammermusik in Witten. Zwischen solchen Festivals lagen ungezählte Opernpremieren und Konzertereignisse, an Wochenenden waren zuweilen mehrere Termine zu absolvieren. Bis zuletzt hat Sonja Müller-Eisold sich derlei Strapazen zugemutet – vor allem aus tiefer Freude an der Musik. Wer je ernsthaft geschrieben hat, wird wissen, dass bei einem solchen Pensum auch Routinen vonnöten sind.

Alljährlich besuchte Sonja Müller-Eisold die Wagner-Festspiele in Bayreuth. In der ganzen Republik dürfte es schwerlich Menschen geben, die beispielsweise den „Ring“ öfter gehört und gesehen haben als sie. Seit 1990 war sie Vorsitzende des Wagner-Verbandes in Dortmund. Auch nahm sie einen langjährigen Lehrauftrag an der Dortmunder Musikhochschule wahr.

Ihre Kritiken waren in aller Regel sanftmütig, sie taten nicht mutwillig weh. Gelegentlich hat man ihr beim Redigieren zurufen mögen: „Nun sagen Sie dem Regisseur doch mal kräftig Bescheid!“ Doch wenn sie mit einem Auftritt nicht einverstanden war, blieb sie auf noble Weise zurückhaltend und beließ es bei künstler- und also menschenfreundlichen Hinweisen, zarten Andeutungen zwischen den Zeilen. Und wenn man es nur recht bedenkt, hat solcher Zuspruch vielleicht oft mehr gefruchtet, als ein herzhafter „Verriss“ es vermocht hätte.

Durfte sie hingegen aus guten Gründen schwelgen, so war sie vollends in ihrem Element. „Beglückend“ war dann oft eines ihrer liebsten Worte. Es bezeichnet ihr inniges Verhältnis zur Welt der künstlerischen Klänge und zu den Musikschaffenden.

(Einzelne Daten und Sachinformationen, die mir sonst nicht unmittelbar vorgelegen hätten, entnehme ich dem heute in der Westfälischen Rundschau abgedruckten Nachruf).

Historische Grabstätte in Dortmund (Foto B. B.)

Historische Grabstätte in Dortmund (Foto B. B.)




Hoffmanns Spukgestalten

Hoffmann (Thomas Piffka, im Rollstuhl) ist verliebt und bereits in den Fängen der Puppe Olympia (Rebecca Nelsen). Foto: Thilo Beu

Die Geliebte glänzt durch Abwesenheit. Vielleicht ist Stella nur ein Traumbild, in dem der Dichter Hoffmann seine Idealfrau erblickt. Die Sehnsucht nach ihr befeuert zwar seine Phantasie, erwärmt aber nicht sein Leben. Das fühlt sich kalt und unbewohnt an: Wie sehr, das lässt Regisseur Dietrich Hilsdorf uns jetzt im Essener Aalto-Theater spüren. Dort begegnet uns der Titelheld von Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ auf komplett leer geräumter Bühne.

Dunkel und trostlos ist es um den Poeten, der da allein an einem Tischchen sitzt und trinkt. Keine ausgelassenen Studenten, sondern schwarz gekleidete Theaterleute strömen herbei, um sich von der Ballade von Klein-Zack unterhalten zu lassen. Hoffmanns Einsamkeit mildert das nicht. Deshalb flüchtet er in eine andere Welt, in der er drei Frauenentwürfe schafft: den Gesangsautomaten Olympia, die der Kunst verfallene Sängerin Antonia und die berechnende Kurtisane Giulietta.

Mit dem Beginn der drei Binnen-Akte könnte die Regie trefflich auf eine andere Ebene abheben. Könnte die Leere mit Leben füllen, könnte dem Zug ins produktiv Phantastische folgen. Aber Hilsdorf wählt einen anderen Weg: Er will Schauergeschichten nach Art des „Gespenster-Hoffmann“ erzählen. Vor blutroten Vorhängen zeigt er uns Spukszenen: Aus Olympia wird eine larvenhaft weiße Puppe im Rollstuhl, Antonia tauscht mit ihrer im Sarg aufgebahrten Mutter den Platz. Und die teuflisch verführerische Giulietta macht aus einem unbescholtenen Mann einen Mörder.

So lastet weiter nächtliches Dunkel auf der Bühne. Glutvolle Schwärmerei oder quirliger Esprit sind in dieser Schattenwelt Mangelware, vielmehr färbt die Gespensterblässe auf Offenbachs Opern-Torso ab. Die eigens für das Aalto-Theater erstellte Dialogfassung nimmt zusätzlichen Schwung aus dem Stück heraus. Natürlich ist Hilsdorf Meister genug, um der tausendfach verkitschten „Barcarole“ neuen, ironisch gebrochenen Zauber zu geben. Auch hält er dem Publikum gelegentlich den Spiegel vor, wenn er das gesamte Theater zur Spielfläche erhebt. Aber wo sich sein „Fidelio“ einst zum umfassenden Opernfest rundete, mühen sich „Hoffmanns Erzählungen“ durch manche Ebene, bevor sie sich zum apotheotischen Finale aufschwingen.

Seltsam schräg zur intendierten Schauerromantik steht der eher beiläufige Operettenklang aus dem Orchestergraben. Unter der Leitung von Stefan Soltesz lassen die Essener Philharmoniker Offenbachs Musik schlank und flink, aber auch recht folgenlos parlieren. Vieles klingt eher nivelliert als ausgewogen: Die Partitur bleibt auch in ihren besten Momenten seltsam kraftlos. Das Gesangsensemble ist gut besetzt, ohne wirklich zu glänzen. Mehr leidende Künstlerseele denn kraftvoller Dionysiker ist Thomas Piffka in der Hauptrolle. Er führt seinen schlanken Tenor mit Eleganz, löst die bis dahin offenbar angezogene Handbremse aber erst im letzten Akt, um richtig Kraft und Schmelz zu entwickeln. Rebecca Nelsen ist als Olympia ein verlässlicher Gesangsautomat, dem menschliche Mühen in der koloraturgepanzerten Mechanik indes nicht fremd sind. Die Muse Niklausse (Michaela Selinger), die Sängerin Antonia (Olga Mykytenko) und die Kurtisane Giulietta (Ieva Prudnikovaite) bilden ein ausgewogenes Trio. Trotz allem überwiegt am Ende das Gefühl, der große Dichter und Phantast habe in Essen mehr Wasser getrunken als Wein.

Termine und Informationen: http://www.theater-essen.de

(Der Artikel ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen.)

 




„Verträgen halte Treu'“ – Kann Castorf den „Ring“?

Er macht’s. Er, das ist Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne, Regie-Berserker und Stückezerfledderer. Er wagt sich ans Größte, Hehrste des musikalischen Theaters – also an Richard Wagners gewaltige, episch breite Trilogie „Der Ring des Nibelungen“. Kann er’s? Vor allem: Schafft er’s ausgerechnet am würdevollen Weihetempel namens Bayreuth? Die da das Sagen haben, Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, rufen ein klares „Ja“.

So steht es also fest: 2013, im Jahr des 200. Geburtstags von Richard Wagner, inszeniert ein Beinahe-Grünschnabel in Sachen Opernregie den mächtigen Vierteiler des Genius. Was nicht unbedingt ein Problem sein muss: Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief oder Werner Herzog waren auch nicht unbedingt die geborenen Opern-Deuter – auf dem Grünen Hügel lieferten sie Achtbares. Andererseits: Die Filmemacher Lars van Trier (Melancholia) und Wim Wenders (Der Himmel über Berlin) hatten vor dem „Ring“ bereits kapituliert, einen entsprechenden Bayreuther Auftrag dankend zurückgegeben.

Nun also Frank Castorf. Er ist im Revier kein Unbekannter. 2004 hatte der DGB den Einjahresintendanten ganz unsolidarisch vom Ruhrfestspielhof Recklinghausen gejagt. Weil das Publikum weggeblieben war. Niemand wollte sehenden Auges in eine Image-Katastrophe schlittern. Ein Regisseur aus (Ost)-Berlin, der gerne suburbanes Elend auf die Bühne wuchtete, war zuviel des Üblen.

Richard-Wagner-Büste im Garten auf Bayreuths Grünem Hügel, in grimmiger Erwartung.

An Opern wiederum hat sich Castorf bisher zweimal versucht. Giuseppe Verdis Eifersuchtsdrama „Otello“ brachte er 1998 in Basel heraus. Er geruhte, die Konventionen und Illusionen des Musiktheaters zu zerstören. Alles lief beiläufig ab, nichts berührte. 2006 folgten in Berlin „Die Meistersinger von Nürnberg“. Jedenfalls ein bisschen davon – mit Schauspielern und einem „Chor der werktätigen Volksbühne“, mit Textbrocken aus Ernst Tollers Revolutionsdrama „Masse – Mensch“.

Kann Castorf also den Ring in Bayreuth? Er wird sich an jede Note, jede Silbe halten müssen, sonst wird ihn der „Wagnerianer“  ins ewige Walküren-Feuer verbannen. Doch er hat einen Vorteil: Er ist, nach Wenders‘ Absage, der Retter in der Not. Ohnehin ist die Zeit knapp, einen anständigen Ring aus dem Boden zu stampfen. Im übrigen: Nach dem „Tannhäuser“, den Sebastian Baumgarten heuer in der Biogasanlage verortete, kann’s kaum schlimmer kommen.

Den wohl größten Skandal auf dem Grünen Hügel hat sowieso Patrice Chéreau zu verantworten. Dessen „Jahrhundertring“-Deutung (1976) datierte in Zeiten der Frühindustrialisierung – mit entsprechend antikapitalistischem Einschlag. Störungen im Festspielhaus und Debatten nach den Aufführungen, die bisweilen in Prügeleien kulminierten, waren das Ergebnis. So gesehen, soll Castorf ruhig kommen. Bayreuth ist bereit.

 

 




Café zur Sehnsucht – Dortmund zeigt Francesco Cavallis Oper „L’Eliogabalo“

Eliogabalo (Christoph Strehl, M.) lässt sich von den Intriganten Zotico (Hannes Brock) und Lenia (Elzbieta Ardam) beraten. Foto: Jauk

Es war kein Geringerer als Claudio Monteverdi, der den 14jährigen Francesco Cavalli 1616 als Sänger an den Markusdom von Venedig holte. Und dieser junge Eleve wurde im Laufe des Jahrhunderts zum wohl berühmtesten venezianischen Opernkomponisten. „La Calisto“ oder „La Didone“ entpuppten sich als Glanzlichter der Spätrenaissance, mit Wirkung weit über Italien hinaus.

Cavalli hatte indes auch das Glück des Tüchtigen. Denn sein Aufstieg in Venedig ging einher mit einem Boom an Theatergründungen. 1637 eröffnete das Teatro San Cassiano, bald gab es bis zu sieben Spielstätten. Die Gattung Oper, ganz jung noch, gewann an Statur. Und Cavalli war einer ihrer wichtigsten Baumeister. Sein spätes Bühnenwerk allerdings, „L’Eliogabalo“, 1667 entstanden, sollte nicht mehr gefallen. Der Geschmack des Publikums wechselte schnell, das Werk geriet in Vergessenheit.

Es ist den Streitern für die „Historische Aufführungspraxis“ zu danken, dass uns Cavallis Opern erneut ins Bewusstsein gerückt sind. „L’Eliogabalo“ etwa brachte René Jacobs 2004 in Innsbruck heraus. Und nun hat sich das Theater Dortmund des Dreiakters um den dekadenten, lüsternen römischen Imperator Marcus Aurelius Antoninus (Heliogabal) angenommen. Frisch musiziert, in einer wunderbar unaufgeregten, bisweilen komödiantischen Inszenierung.

Die Geschichte über diesen Kaiser, der sich als Jugendlicher noch an die Macht putschte und mit 18 schon seine Mörder fand, hat Cavalli nicht als blutrünstiges Drama vertont, sondern als sorgsam gestaltete Abfolge von Gefühlsschwankungen und seelischen Nöten. Die Personen und Paare, die um den Sonnengleichen tanzen wie Gestirne, schwanken zwischen Liebe und Eifersucht, Loyalität und Abscheu.

Mit der Einführung eines Intrigantenpaars, eines buffonesken darstellerischen Elements also, begründete der Komponist zudem eine Tradition, die sich noch in Richard Strauss’ „Rosenkavalier“ wiederfindet. Als Buffo-Charakter mit philosophischen Anwandlungen ist darüber hinaus die Figur des Dieners Nerbulone zu sehen (den der Bassist Christian Sist herzerfrischend spielt und nuancenreich singt) – ein Typus, der seine Hoch-Zeit vor allem in den Opern Rossinis fand.

Gleichwohl hat Cavalli die kleinen Dramen der Hauptpersonen in den Vordergrund gestellt, die Regisseurin Katharina Thoma eindringlich nachzeichnet. Moderne Kostüme (Irina Bartels) symbolisieren dabei, dass die im Stück verhandelten Themen allgemeingültig sind. Und wenn auf der eigentlich spärlich möblierten Bühne, mit vielen hohen Portalen höfische Größe darstellend, eine Drehtür in eine kärglich bestuhlte Gaststätte führt (Ausstattung: Stefan Hageneier), dann entsteht vor unseren Augen das Café zur großen Sehnsucht.

Liebe und Lamento: Giuliano (Ileana Mateescu, l.) und Eritea (Tamara Weimerich). Foto: Jauk

Es ist in dieser leisen, dennoch berührenden Inszenierung wohl nur konsequent, dass Eliogabalo (markant gesungen von Christoph Strehl) sich nicht wie ein Tier, sondern eher in Don-Giovanni-Manier den Frauen (bisweilen auch den jungen Knaben) zuwendet. Beraten von den Intriganten Lenia/Zotico (Elzbieta Ardam und Hannes Brock als Urkomödianten) setzt er auf List und Tücke. Ein bisschen kläglich wirkt er dabei, alles andere als souverän.

Die Frauen, Eritea (Tamara Weimerich) zunächst, dann auch Flavia Gemmira (Eleonore Marguerre), wanken dennoch zwischen Hingabe an den Herrscher (mit der Aussicht, Kaiserin zu werden) und Treue zu ihren Liebsten. In der Mischung von rezitativischen Ausbrüchen, zweifelndem Lamentoso sowie inniger Liebeserklärung singen beide betörend schön und differenziert, wie auch ihre Partner John Zuckerman (des Kaisers Cousin Alessandro, Flavias Verlobter) und Ileana Mateescu (des Herrschers 1. Prätorianer, mit Eritea verlobt).

Dass selbst eine relativ kleine Rolle wie die der Atilia (unglücklich verliebt in Alessandro) mit Anke Briegel vorzüglich besetzt ist, gibt dem Dortmunder Intendanten, Jens-Daniel Herzog, in einem Punkt schon jetzt recht: Das beinahe durchweg neu verpflichtete Ensemble hat erhebliche Qualität. Die Dortmunder Philharmoniker wiederum, in kammermusikalischer Besetzung, um Cembalo/Organum (Andreas Küppers) und Theorbe/Barockguitarre (Johannes Vogt) klangfarblich bereichert, liefern unter der Leitung des Alte-Musik-Experten Fausto Nardi ein großartiges Beispiel feiner Gestaltung und rhythmischer Frische.

Eine durchweg gelungene Produktion also, deren Premiere aber leider vor halbvollem Haus stattfindet. Schon jetzt dürfte dem neuen Intendanten klar sein, wie viel es zur Publikumsbindung noch bedarf.

Infos zur Aufführung/Termine/Karten:

http://www.theaterdo.de/event.php?evt_id=1314&sid=4c1beb1c05cfcb34a811d02f849ce3de

 

 

 




„Merlin“ – Isaac Albéniz‘ wirrer Opernschinken in Gelsenkirchen

König Arthur (Lars-Oliver Rühl) hält das Schwert des Mächtigen. Foto:MiR/Beu

Endlich mal keine „Carmen“, „Traviata“ oder „Zauberflöte“ – allesamt Opernhits, die landauf, landab heruntergenudelt werden. Dafür bekommen wir „Merlin“. Das ist der Zauberer aus der Artus-Sage. Das ist hehrer Stoff, große Oper, ja großes Kino. Da hat sich schon Richard Wagner prächtig bedient, haben sich unzählige Literaten, später Filmemacher inspirieren lassen.

„Merlin“ also. Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) lädt zur Deutschen Erstaufführung einer Oper, die indes schon über 100 Jahre alt ist. Sie stammt von dem Spanier Isaac Albéniz. Geschrieben auf das Libretto eines reichen Briten namens Francis Burdett Money Coutts. Ein exzentrischer Kauz und glühender Wagnerianer, der sich im wahnhaften Wetteifern mit dem Bayreuther Meister an einer Artus-Trilogie abarbeitete.

Albéniz wiederum, als meisterlicher Pianist in Europa eine Größe, als Komponist vor allem mit Klavierwerken glänzend, wollte in den 1890er Jahren die Oper für sich entdecken. Vielleicht war auch da ein wenig Geltungsbedürfnis im Spiel, der unbedingte Wille, als Spanier im Konzert des mitteleuropäischen Musikdramas mitzumischen. In London jedenfalls fanden Albéniz  und der „Literat“ zusammen. Leider: Denn dieser Begegnung bedurfte es in der Musikgeschichte nun wirklich nicht.

Das Ergebnis nämlich war „Merlin“: schrecklich unbeholfen im dramaturgischen Verlauf, unsäglich das Libretto, krude und wüst in der musikalischen Gestaltung. Albéniz serviert uns Wagner light in Verbindung mit übersteigertem Verismo. Eine Melange, die oft in pur Plakativem mündet. Offenbar hatte der Komponist wenig Gespür dafür, die Szenerie klanglich differenziert zu zeichnen. „Merlin“ ist ein wirrer „Schinken“, der an Richard Strauss’ wenig später erschienene „Salome“ nicht mal kratzen kann.

Trotz allem hat sich das MiR an die Ausgrabung gewagt, acht Jahre nach der Uraufführung in Madrid. Hat das Werk mutig eingekürzt auf drei konzentriert gefasste Akte. Und hat sich an diesem „Schatz“ gehörig verhoben. Regisseur Roland Schwab präsentiert Archetypen, keine Charaktere. Ausstatter Frank Fellmann zeigt im wabernden Nebel oder mystischen Blau eine Straße ins Nirgendwo, einen gestrandeten Wagen. Merke: Die Sehnsucht nach dem Sagenhaften ist auch der Moderne nicht fremd.

Blonder Racheengel: Nivian (Petra Schmidt) tötet Merlin (Björn Waag). Foto: MiR/Beu

Die Ritter kommen hingegen ritterlich daher (Kostüme: Renée Listerdal), wenn Artus, wie ein tumber Siegfried, das Schwert aus dem Stein zieht und König wird. Nach dem Krieg mit den Anhängern der grundbösen, verräterischen Morgan sehen wir aufgespießte Köpfe. Im Schlussakt plötzlich Merlins Ende, blutig gerichtet von seiner Sklavin Nivian.

Wahn, überall Wahn. Die Regie hat den Figuren vor allem aufgesetzte, exaltierte Posen verordnet. Bjørn Waag (Merlin), Lars-Oliver Rühl (Arthur) und Majken Bjerno (Morgan) singen überwiegend am oberen Ende der Ausdrucksskala, was den Stimmen nicht bekommt.  Einzig Petra Schmidt (Nivian) verströmt bisweilen lyrische Wärme in differenzierter Dynamik. Dirigent Heiko Mathias Förster wiederum führt Chor und Neue Philharmonie Westfalen einigermaßen unfallfrei durch die wüste Partitur.

Am Ende haben wir gegen zehn Uhr die Oper verlassen und wähnen uns um die Mitternacht. Wir hören „Iberia“ – wunderbarer Albéniz.

 




Schicksal und Geschichte: Prokofjews „Krieg und Frieden“ in der finanziell gebeutelten Kölner Oper

Ein großer Erfolg zur Eröffnung der Saison der Kölner Oper! Sergej Prokofjews „Krieg und Frieden“ nach dem Roman Lew Tolstois sorgte nicht nur für begeisterte Kritiken, sondern bei der letzten Vorstellung auch für einen Beinahe-Tumult vor der Kasse: Hätte der Intendant nicht kurzfristig Stehplätze zur Verfügung gestellt, wären wohl einige Opernbesucher frustriert nach Hause gegangen.

Der Krieg: Matthias Klink als von Schmerz und Qual gekrümmter Pierre Besuchow - eine der drei Hauptfiguren von Prokofjews Oper. Foto: Karl und Monika Forster

Der Krieg: Matthias Klink als von Schmerz und Qual gekrümmter Pierre Besuchow - eine der drei Hauptfiguren von Prokofjews Oper. Foto: Karl und Monika Forst

Mit „Krieg und Frieden“ hat Uwe Eric Laufenberg, seit 2009 amtierender Intendant der Oper, einen zweiten grandiosen Erfolg verbuchen können – nach der bejubelten Uraufführung von Karlheinz Stockhausens „Sonntag aus Licht“ in der vergangenen Spielzeit. Doch die künstlerischen Großtaten, obwohl vom Publikum angenommen und mit viel Beifall bedacht, sind auch ein Grund für fortlaufende Querelen um die finanzielle Ausstattung der Bühnen Köln. Denn auf der einen Seite stehen die politischen Erwartungen, die Oper Köln solle in der oberen Liga der deutschen Bühnen mitspielen – was für eine Millionenstadt kein überzogenes Ziel ist. Auf der anderen Seite dräut eine chronische Unterfinanzierung von Oper und Schauspiel. In der vergangenen Spielzeit 2010/11 lag das Defizit bei fünf Millionen Euro, die aus den Rücklagen entnommen werden müssen. Die Stadt, die in einer tiefen Finanzkrise steckt, finanziert die Eigenbetriebe mit knapp 48 Millionen pro Jahr.

Ein künstlerischer Erfolg – die Uraufführung von „Sonntag aus Licht“ – und ein Gastspiel in China haben die Finanzierungslücke kräftig erweitert. Dazu ist die Verteilung der Mittel zwischen Oper und Schauspiel nicht geregelt. Und die Bühnen müssen dazu noch Tarifsteigerungen für 700 Mitarbeiter selbst auffangen; das sind 700.000 Euro. Erschwerend kommt eine Kürzung im laufenden Spielbetrieb von 1,4 Millionen Euro dazu – so der Geschäftsführender Direktor der beiden Bühnen, Patrick Wassenbauer.

Vor diesem Hintergrund hat die Deutschsprachige Opernkonferenz jetzt die Stadt Köln aufgefordert, für eine solide finanzielle Ausstattung der Oper Köln zu sorgen. „Es ist eine Zumutung für die Kölner Oper, um jeden Euro eines künstlerischen Etats feilschen zu müssen“ sagte der Vorsitzende der Opernkonferenz, der Frankfurter Opernintendant Bernd Loebe, anlässlich der Herbstsitzung der Konferenz in Zürich. So sei eine seriöse künstlerische Planung eines städtischen Opernhauses nicht möglich. Das Aufzehren der Rücklagen durch die laufenden Aufgaben macht aus Sicht der Opernkonferenz deutlich, dass die Kölner Oper einen zusätzlichen Zuschussbedarf von mindestens fünf Millionen Euro hat. Der Kölner Kulturdezernent Georg Quander hatte im September noch von sieben Millionen gesprochen, wenn Köln mit Städten wie Frankfurt, Stuttgart und Dresden gleich ziehen solle.

Nun kann sich die Oper Köln das unbezweifelbare Verdienst anrechnen lassen, „Krieg und Frieden“ in einer weitgehend den ursprünglichen Intentionen Prokofjews entsprechenden Fassung auf die Bühne gebracht zu haben. Prokofjews Lieblings- und Schmerzenskind, 1941 kurz vor dem Einmarsch der Deutschen in Russland begonnen, sollte eine Oper über die Glücks- und Sinnsuche von Menschen in einer erstarrten, vergnügungssüchtigen, moralisch morschen Gesellschaft werden. Prokofjew wollte, ganz im Sinne Tolstois, die Menschen in ihrer Suche nach Sinn, Liebe, Erfüllung darstellen – und ihr Scheitern im Strudel historischer Ereignisse, die sie weder vorhersehen noch verantworten konnten.Die Verknüpfung individueller Schicksale mit dem ehernen Gang einer unberechenbaren Geschichte: das ist Tolstois Thema, und das interessierte Prokofjews seit der Jugendlektüre des Buchs.

Doch Prokofjews Pläne erwiesen sich als Schaum: Der überraschende Kriegsbeginn, die Parallele von 1941 mit dem Überfall Napoleons 1812 und dem alle Stände einigenden nationalen Widerstand legte es nahe, die patriotischen und heroischen Momente zu Lasten der intimen Szenen herauszustellen. Prokofjew arbeitete das Werk mehrmals um, ergänzte es durch Massenchöre und ein Sieges-Finale, das wohl den „vaterländischen“ Krieg gegen Napoleon mit dem aktuellen Niederringen von Hitlers Armeen in Bezug bringen sollte. Behindert und bedrängt von der sowjetischen Kulturbürokratie und ständig bedroht von der Gefahr, ein Opfer der Willkür des stalinistischen Terrors zu werden, konnte Prokofjew seine Oper nie vollständig auf der Bühne erleben. Die Uraufführung einer kritischen Edition, die der Fassung letzter Hand Prokofjews entsprach, fand erst 1959 in Moskau statt. Der Ruch der Propaganda-Oper erschwerte die Rezeption zumal im Westen. In der DDR fand die Erstaufführung 1961 in Leipzig statt, in der Bundesrepublik gab man „Krieg und Frieden“ in einer Bearbeitung erstmals 1969 in Gelsenkirchen – ohne nachhaltigen Widerhall.

In Köln reduzierten Dirigent Michael Sanderling und Regisseur Nicolas Brieger das Werk auf dreieinhalb Stunden Spieldauer. Dabei verzichten sie auf die retardierenden Volks- und Massenchöre, mit denen Prokofjew das Werk zum sowjetischen Monumental-Spektakel aufblasen sollte. Von den dreizehn Bildern erfasst der Rotstift das achte, große Teile des zehnten und das Triumph-Finale; die Gestalt des Generals Kutusow entfällt als einzige größere Partie.

Die Kürzungen ermöglichen Brieger, die Geschichte der Hauptpersonen ins Zentrum zu rücken und den Bruch zwischen einem intimen Drama und einer epischen Historienerzählung zu überbrücken. So holt er eine Intention Tolstois zurück: Er verknüpft konzentrierter die Fäden des einzelnen Schicksals mit den Strängen der allgemeinen Ereignisse. Bühnenbildner Raimund Bauer hat ihm dafür Räume voll Melancholie, Verfall und Trostlosigkeit geschaffen. Die Wände, zwischen denen die großstädtische russische Gesellschaft feiert, tanzt und intrigiert, stehen mit ihren verblichenen Farben und leeren Supraporten für Verfall. Sie lassen sich rasch verschieben, öffnen oder schließen Räume, schaffen Perspektiven, konzentrieren den Blick auf bestimmte Personen.

Im zweiten Teil weitet Bauer die Bühne für die Moskauer Szenen, schafft einen tief nach hinten geöffneten Raum, in dem sich Mord und Vergewaltigung, Aufmärsche und Todeskarawanen, Brand und Kampf ereignen. In dieser Leere verlieren sich die Menschen auch am Ende der Oper: Brieger lässt den Schluss offen; die Schicksale, die uns für gut drei Stunden vor Augen gestellt wurden, verlieren sich in der fahlen, verrauchten Weite dieser zerstörten Welt. Was bleibt, ist ein lesender Pierre Besuchow am Ende: Ein Mensch, der zu sich selbst gefunden hat, ein intensives Bild für einen möglichen Aufbruch, die Ahnung einer heilenden Welt.

Ein Plus der Kölner Inszenierung ist die fein abgestimmte, psychologisch dichte Personenregie Briegers. Kein Blick, keine Geste bleibt dem Zufall überlassen. Brieger findet auch die Kraft zu Bildern, die über sich hinausweisen: Wenn Fürst Andrej zum ersten Mal seine spätere große Liebe Natascha sieht, strecken beide die Arme nacheinander aus, erreichen sich aber nicht. Die dritte Szene, der Besuch von Natascha Rostows Familie beim alten Fürsten Bolkonski, ist ein Kabinettstück vollendeter Charakterisierungskunst. Der Alte zeigt schon in seiner Kleidung (stets treffende Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer), dass er die rangniederen und verarmten Rostows verachtet; er tritt ihnen nachlässig mit langer Unterhose unter dem Hausmantel gegenüber.

Aber auch die Reaktionen der Frauen – die verängstigte, gleichwohl selbstbewusste Natascha, die vom Schmerz über ihre Arroganz durchfahrene Marja Bolkonskaja – sind subtil beobachtet und so differenziert wie Tschechow’sche Charaktere ausgearbeitet. In den Massenszenen versucht Brieger, peinlichen Realismus zu vermeiden, wenn er auch schonungslos sexuelle Gewalt und enthemmte Brutalität zeigt. Einzig die Szene mit Napoleon (ausdrucksstark: Miljenko Turk) hätte durch weniger rabiate Parodie gewonnen: Ein haltloser Kretin, der auf dem Sandkasten liegt und Fähnchen steckt, wirkt weder schillernd noch gefährlich.

Zum Szenischen tritt in Köln gleichrangig das Musikalische: Michael Sanderling beherrscht die dröhnenden Klangmassen, die Momenteheroischer Wucht, mehr noch aber die differenzierte Gestaltung der kammermusikalischen, farbenreichen Szenen. Der berühmte h-Moll-Walzer changiert zwischen verhangener Trauer und lasziver Schmeichelei; die großen orchestralen Schilderungen sind in ihren Mussorgsky-Anklängen, ihrer lapidaren Schwere und melancholischen Tönung getroffen. Sanderling erweist sich als kompetenter Sänger-Begleiter, der das ausgezeichnet aufspielende Gürzenich-Orchester im rechten Moment zurücknehmen kann, der aber auch wundervollen kammermusikalischen und solistischen Details zu ihrem Recht verhilft.

Johannes Martin Kränzle als Fürst Andrej. Foto: Klaus und Monika Forster

Johannes Martin Kränzle als Fürst Andrej. Foto: Klaus und Monika Forster

Den Sängern tut eine solch kooperative Stütze gut: Johannes Martin Kränzle beweist als Andrej wieder, dass er sich in die erste Riege emporgesungen hat. Den Charakter des noblen, aber traumatisierten und zutiefst vom Leben verunsicherten Fürsten erfasst er in der Farbe seines Baritons, aber auch in seinem bewussten, präzis ausgeformten Spiel.

Für die Natascha Olesya Golovnevas gilt Gleiches: Sie
erfüllt die ariosen Teile ihrer Partie mit dem intensiven Glanz eines sicher positionierten Soprans, führt den Atem nahezu perfekt, singt ein strömendes Legato und beherrscht nach der Nervosität der Premiere auch die Lautstärke mancher zu massiv angelegter Spitzentöne. Matthias Klink ist vom Charakter seines Tenors und von der Erscheinung als grüblerischer Intellektueller eine ideale Verkörperung des Grafen Pierre. Er, die „Klammer“ des Geschehens, wirkt glaubwürdig als entschiedener Gegenspieler des schmierigen Anatol Kuragin (wirkungsvoll: Mirko Roschkowski) wie als von Angst geschütteltes und von jeder Orientierung verlassenes Opfer des französischen Terrors. Dass Manfred Fink die treuherzige Verkörperung der weisen russischen Volksseele, den bäuerlichen Philosophen Platon Karatajew, behutsam zurücknimmt, nimmt der Figur ihren aufdringlichen Symbolcharakter.

Olesya Golovneva als Natascha. Foto: Karl und Monika Forster

Olesya Golovneva als Natascha. Foto: Karl und Monika Forster

Prokofjews Werk wäre eine Sache großer Bühnen – und nach dem Erfolg der Kölner Aufführungsserie sollte man sich von Hamburg bis Wien ernstlich überlegen, ob man auf diese beeindruckende, musikalisch wie szenisch dankbare Oper im Repertoire verzichten kann. Es wäre eine längst fällige Wiedergutmachung an Prokofjews ambitioniertestem Werk. Und in Köln ist zu hoffen, dass „Krieg und Frieden“ wieder aufgenommen wird.




„Fliegender Holländer“ in Dortmund: Der aus der Kälte kam

Treu bis in den Tod? Senta (Christiane Kohl) und der Holländer (Andreas Macco). Foto: Stage Picture

Keine massigen Schiffe, deren Körper sich drohend auf die Bühne schieben. Keine blutroten Segel, die von furchterregenden Untoten zeugen. Auch eine das Grauen erregende Düsternis fehlt, eher regieren fahle Töne das Geschehen. So bleich, wie das Gesicht des „Holländers“, so blass, wie Sentas Hauttönung.

Das Spukhafte, generell gesagt, die Nachtseite der Romantik, weicht hier, in der Dortmunder Oper, einer graumelierten Kälte. Sie geht aus von dem verfluchten Seemann, und sie trifft auf eine kleinbürgerliche Welt frostiger Disziplin. Farbtupfer sind Attribute des Hässlichen, in den ihnen zugewiesenen Räumen wirken sie lediglich peinlich altmodisch.

Da ist es nur konsequent, dass am Ende der neue Dortmunder Opernintendant Jens-Daniel Herzog, in Personalunion mit dem Regisseur Herzog, die Bühne freiräumen lässt. Richard Wagners romantische Oper „Der fliegende Holländer“ findet ihr Finale in kalkiger Leere. Senta gibt sich die Kugel, der ewige Wandler über den Meeren verschwindet in schmutziger Gischt. Uns fröstelt.

Herzog bleibt diesem Ansatz, der Gemütszustände von Resignation und Leere zu illustrieren scheint, noch in der „Liebesszene“ zwischen dem Holländer und Senta treu. Da ist mehr kritisches Beäugen denn sehnsuchtsvolles Blicken. Da herrschen Zweifel, fehlt jede Seligkeit, regiert letzthin die blanke Furcht vor dem Scheitern.

Die Glut der Orchestersprache fängt Herzog andererseits durch große Aktion auf. In Dalands Schiffskontor herrscht buchhalterischer Gleichschritt, in der Spinnstube, eine Art Friseursalon, gebetsmühlenhaftes Summen und Singen, im Seemannsheim bierselige Stimmung harter Kerle, die von der stürmischen Wucht des „Holländer“-Chores indes an die Wand gedrückt werden. Mathis Neidhardt hat diese Räume gebaut, vor sich hingammelnde Orte des Alltags, eigentlich nur Staffage für ein kaltherziges Drama.

Sturm im Seemannsheim. Foto: Stage Picture

Wie ein Handlungsreisender, der den Tod sucht, tritt der Holländer auf. Groß, steif, nicht dämonisch. Andreas Macco gibt dieser Figur Würde mit starker Stimme, singt nuanciert, aber mit bescheidenen Klangfärbungen. Dem armen Steuermann (Lucian Krasznec, ein wundervoller lyrischer Tenor) rückt er jedoch bedrohlich zu Leibe.

Die Begegnung mit dem Geschäftsmann Daland wiederum wird zu einem distanzierten Prozess des Abschätzens und Kräftemessens. Wen Wei Zhang beweist dabei Statur, mit großer, felsenfester Stimme. Christiane Kohl als Dalands Tochter Senta ist eine Entdeckung. Glutvoll klingt ihre Ballade, dynamisch breit aufgefächert, mal mit herbem Unterton, dann mit leuchtender Süße. Doch alles wahnhafte Aufbrausen wird abgeschwächt von Zweifeln. Letzthin ist Erik (Mikhail Vekua, leider mit tenoraler Überzeichnung) der Einzige, dem man Gefühle wirklich abnimmt.

„Der fliegende Holländer“ in Dortmund: Kraftvoll die Chöre wie die Philharmoniker unter Jac van Steen – sie zeichnen ein wild musikalisches Drama nach, das die Regie mit Rauhreif überzieht. Romantik aus der Kühlkammer, mit einigen Hitze-Impulsen, gleichwohl mit gehöriger Suggestivkraft. Einhelliger Beifall.

(Der Text ist in ähnlicher Form in der WAZ erschienen).

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Informationen der Dortmunder Oper:
http://www.theaterdo.de/event.php?evt_id=1291&sid=289fbf944134efc6a6cf10b234de7551

 




Wagners „Holländer“ in Wuppertal: Schmerzensmann und Erlöser

Diese Senta wird man sich merken müssen. Musikalisch leidenschaftlich, technisch abgesichert, kraftvoll und jugendlich unverbraucht: Selten hört man Richard Wagners herausfordernde Frauenpartie aus dem „Fliegenden Holländer“ so überzeugend wie bei der Premiere in Wuppertal. Die Britin Allison Oakes ist keineswegs das Kind, das nicht weiß, was es singt. Sondern eine entschlossene junge Frau, bereit, ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, um das Gespenst aus der Tiefe des Meeres auf ewig zu erlösen.

So ist es nur schlüssig, dass Chefdirigent Hilary Griffiths und Regisseur Jakob Peters-Messer in der Wuppertaler Neuinszenierung zum Auftakt der Spielzeit das inzwischen verpönte, harfenumflorte Erlösungs-Finale spielen. Der „Holländer“ darf hier das Ende nehmen, das Wagner ihm in letzter Hand gegeben hat. Nicht Tod und Vernichtung nehmen ihren Lauf. Zwei Menschen gehen aufeinander zu und beginnen eine neue Geschichte. Ob gemeinsam oder nicht, ob in einem „Jenseits“ oder auf einer neuen irdischen Lebens-Ebene, das lässt Peters-Messer offen.

Kay Stiefermann ist ein zutiefst resignierter Holländer, der getrieben ist vom Fluch, immer wieder „ewige Treu auf Erden“ erproben und daran scheitern zu müssen. Als sein Schiff landet – das Licht-Segel des Bühnenbild-Debütanten Guido Petzold ist ein szenisch wirkmächtiges Symbol –, quält er sich kriechend auf die Spielfläche. Sein Mantel, wie alle Kostüme von Sven Bindseil atmosphärisch treffend gestaltet, erinnert an Murnaus „Nosferatu“. Stiefermann hat die dramatische Reserve für
die Partie, das Gespür für den Sinn der Worte, nur manchmal eine zu flach geführte Stimme. Eine sichere Atmung würde das Problem lösen und der Stimme verlässliche Substanz geben.

Viel ausgeprägter kämpft Johan Weigel als Erik mit technischen Problemen: Wenn er versucht, in Wagners bewusst konventionell gestalteter musikalischer Sprache Senta von ihrem Weg abzubringen, zeugt ein angestrengt flacher, an den Gaumen gedrückter Ton von unzureichender Stütze und mangelnder Tiefenatmung. Christian Sturms Steuermann und Miriam Ritters jugendlich wirkende Mary dagegen können gesanglich wie sprachlich für sich einnehmen. Wuppertal hat, abgerundet von dem als bieder-ältlichen Raffgeier gezeichneten Daland von Michael Tews, ein beachtliches Ensemble für diesen „Holländer“ aufzuweisen.

Auch Chor und Extrachor lassen in Wuppertal den engagierten Einsatz für Wagners Partitur spüren. Chordirektor Jens Bingert hat seine Mannschaft beisammen; selbst nervöse Einsätze, bei Premieren nicht unüblich, halten sich in Grenzen. Dass die Geistermannschaft des Holländers aus Lautsprechern singt, ist mittlerweile üblich – auch wenn dieses Verfahren das komplex komponierte Aufeinandertreffen der Chöre nicht eben transparenter macht.

Am Pult waltet Hilary Griffiths mit extrem langsamen Tempi. So sympathisch es ist, dass sich ein Dirigent einmal dem modischen Zwang zur Hetze entzieht: In Wuppertal wird schon in der Ouvertüre die Zeit so gedehnt, dass Innenspannung und dramatische Stringenz mit Adagio-Blei beschwert auf den Boden eines zähen Klangmeeres sinken. Gerade die Chöre wirken betulich; der rhythmische Biss Wagners schnappt kraftlos zu. Die Erregung und Spannung der fiebrigen Quinten, der scharfen Blechakzente, der dynamischen Bögen bleibt unausgeleuchtet.

Licht ist das beherrschende Medium, das Regisseur Peters-Messer für seine Deutung einsetzt. Das Duett, in dem sich der verfluchte Seefahrer und die sensible junge Frau kennen lernen, lässt er in tiefem, ruhigem Blau als ein weltentrücktes Versinken erkennen. Licht hebt Personen hervor, erzeugt verräterische Schatten, markiert ein Quadrat auf der sonst leeren Bühne, das als Projektionsfläche immer wieder zeichenhaft hervortritt. Und das Senta für sich einnimmt, als sie den rettenden „Engel Gottes“ in ihrer Ballade beschwört. Die christlichen Konnotationen beachtet Peters-Messer wohl: Als Senta dem gepeinigten Seefahrer ihre „Treue bis zum Tod“ versichert, hält sie ihn wie einen Gekreuzigten fest: Der „Holländer“ als Schmerzensmann und als Erlöser – ein komplex deutbares, gelungenes Bild.

Leider sind solche Momente in der Inszenierung nicht häufig, trotz des Potentials, das die auf Licht konzentrierte Bühnengestaltung eröffnet. Einziges Requisit des Illusionstheaters sind die Taue, die sich zu Beginn wie eine riesenhafte Takelage über die Bühne spannen. Aus dem anregenden Ansatz macht Peters-Messer dann aber doch nur ein Arrangement, in dem psychologischer Feinschliff der verlegenen Stilisierung und einer flüchtig wirkenden Personen-Rege geopfert wird. Bemerkbar
ist dies etwa im ratlosen Umgang mit dem Chor. Ein paar Bierkästen und eine Polonaise nach Blankenese – das ist zu wenig, um die Spannung zwischen den exaltierten Hauptfiguren und der biederen Gesellschaft zu charakterisieren, Das ist schade, stört das Publikum aber wenig: Der Beifall ist heftig, wohl auch, weil man in Wuppertal erleichtert ist, von Regietheater-Zumutungen verschont zu bleiben.




„Tristan“ bei der Triennale: Liebestod im Zwielicht

Ein „Wagnis“? Willy Decker wählt große Worte bei der Premierenfeier nach „Tristan und Isolde“
zur Eröffnung der zehnten Ruhrtriennale, der letzten unter seiner Intendanz.

Wagners gewaltiges, alle Grenzen sprengendes Werk ist heute fest im
Musiktheaterbetrieb verankert: An der Oper Köln scheiterte 2009 David Pountney
daran, in Düsseldorf zog 2010 Klaus Guth die Linien hin zu Wagners Biografie, in
Essen steht die Inszenierung von Barrie Kosky ab 29. Januar 2012 wieder im
Spielplan. Selbst mittlere Häuser wie Wuppertal und Münster hatten in den
letzten Jahren ihren „Tristan“ – und konnten szenisch wie musikalisch mit achtbaren
Ergebnissen auf sich aufmerksam machen. Wozu also in der Jahrhunderthalle
Bochum ein Stück realisieren, das man in der dichten westdeutschen Theaterlandschaft
wahrlich nicht missen muss?

Die Antwort liegt bei Decker selbst und in der Programmatik der Triennale: Nach Judentum
und Islam steht in diesem Jahr der Buddhismus im Zentrum der Reflexion über die
großen Weltreligionen. Wagner hatte sich, von Schopenhauer inspiriert, intensiv
mit buddhistischen Gedanken beschäftigt, sich sogar einmal als „unwillkürlich
zum Buddhisten geworden“ bezeichnet. Decker selbst folgt persönlich den Pfaden
des Buddhismus. So liegt es nahe, in „Tristan und Isolde“ die Spuren dieser
asiatischen Lehre – die eigentlich keine Religion sein will – zu erforschen,
die Schnittpunkte zwischen der christlichen Geisteswelt des Westens und der
buddhistischen Spiritualität des Ostens erkenntlich zu machen.

Wagner radikalisiert mit diesem geistigen Instrumentarium die romantischen Axiome
eines E.T.A. Hoffmann. Es ist nicht mehr nur die Trugwelt des bürgerlichen
Wohlbehagens, die zugunsten einer vollkommeneren und authentischeren „Geisterwelt“
überwunden wird. Es ist nicht mehr nur die Vollendung im Paradies, wie sie das
Christentum verspricht. Für Wagner zählt die Überwindung einer Schein-Welt, die
unserer Vorstellung Raum und Zeit vorgaukelt, wo es doch nur das All-Eine, das
Ewige gibt. Heraus aus „jener grauenhaften Ursächlichkeit des Entstehens und
Vergehens“: das ist Wagners Sehnsucht. So erklärt sich das „Unbewusst“ als „höchste
Lust“, erklärt sich die Radikalität, mit der das Protagonistenpaar Liebe und
Tod als Erfüllung anstreben.

Das eine bekommt man nicht ohne das andere:
Wirkliche Liebe ist, wie Wagner ja auch pathetisch für sein eigenes Leben
beklagte, in dieser Welt der – scheinbaren, aber wirksamen – Gegensätze nicht
zu haben; Tod ist die Bedingung, dass die Schranken zwischen den Individuen
fallen und der Weg frei wird in die Erfüllung und Erlösung. Und die Nacht ist
die Chiffre für die Abwesenheit des grausamen Lichts, in dem die Scheinwelt,
die uns umgibt, zu jammervoller Wirksamkeit gelangt.

Anja Kampe als Isolde in der Inszenierung Willy Deckers bei der Ruhrtriennale (Foto: Ruhrtriennale/Paul Leclair)

Anja Kampe als Isolde in der Inszenierung Willy Deckers bei der Ruhrtriennale (Foto: Ruhrtriennale/Paul Leclair)

„Tristan und Isolde“ lässt sich ebenso romantisch-christlich lesen, aber Deckers Bezug auf
den Buddhismus hat zumindest in der dramaturgischen Konzeption viel Anregendes
an sich. Auf der Bühne sind die komplexen Gedanken dann allerdings schwer zu
realisieren. Decker und sein Bühnenbildner Wolfgang Gussmann wählen,
unterstützt vom Licht Andreas Grüters, den Weg der extremen Reduktion. Zwei
leere, weiße Flächen liegen parallel, schieben sich ineinander, bilden kühle,
ästhetisch-geometrische Figuren oder nach hinten ins Unendliche offene Räume, müssen
aber auch den harten Einbruch der Schein-Realität erdulden, wenn die
schrundigen Außenmauern der Halle sichtbar werden, zwischen denen die Flächen
wie eine Insel der Zuflucht schweben. Ein Himmelskörper treibt im Hintergrund,
schiebt sich im dritten Aufzug in die Welt Tristans, leuchtet wie der drohende
Mond in Strauss‘ „Salome“ unheilvoll rötlich, als der Liebestrank seine Wirkung
entfaltet. In der „Nacht der Liebe“ wird das Rund zu einer Blase, die
Symbolbilder birgt: Meer, Dunst, zerfließende Körper und Gesichter, die sich
drehen, auflösen und wieder konkretisieren, und die im dritten Aufzug in
blutrotes Licht tauchen.

In diesem abstrakten Raum gelingen eindringliche Bilder, etwa wenn Isolde isoliert im Heer der
grünen Mannen König Markes sitzt, oder wenn sich in den fantasievollen
Projektionen des Teams „fettFilm“ (Momme Hinrichs und Torge Møller) die weißen
Platten in einem weiten kosmischen Raum verlieren. Doch in der Personenregie
bleibt vieles im Ungefähren stecken, kommt Decker nicht über symbolische
Arrangements hinaus, wie sie schon seine Leipziger „Tristan“-Inszenierung gekennzeichnet
haben. Der Schluss wirkt merkwürdig kraftlos: Die beiden weißen Platten
schließen sich wie Buchdeckel. Isolde, herausgetreten aus dieser Sphäre, singt
die letzten Worte ihres „Liebestodes“ im Zwielicht, das am Ende dem Dunkel
weicht.

Musikalisch war der Triennale-Tristan dem künftigen Generalmusikdirektor der Bayerischen
Staatsoper München anvertraut: Kirill Petrenko hat mit den Duisburger
Philharmonikern in der gut eingerichteten, dennoch schwierigen Akustik der
Jahrhunderthalle einen skrupulös verfeinerten Wagner erarbeitet. Jede Stimme kommt
zu ihrem Recht. Der Spaltklang wird ins Extrem getrieben. Das lässt etwa das
Frage-Antwort-Spiel von Streichern und Bläsern, die harmonische Anreicherung
durch selbständige Begleitstimmen oder die Reibungen in der vielschichtigen
Chromatik deutlich hervortreten. Gleichzeitig aber löst sich Wagners Mischklang
auf in zusammenhanglose Einzelteile, die auch die Legato-Wirkungen empfindlich
beeinträchtigen.

Petrenko achtet fast ängstlich darauf, die Sänger nicht zuzudecken, unterdrückt damit aber
jene ekstatische Überwältigung, die gerade der „Tristan“-Partitur eigen ist.
Das Fieber der Streicher im Schlussgesang bleibt kalt, die „Nacht der Liebe“
fröstelig. Auch wenn man sich die pathetischen Rauschzustände vergangener
Dirigenten-Generationen nicht zurückwünscht: So ausgeblutet kann dieser „Tristan“
höchstens als klang-anämisches Gespenst durch das kalte Kabinett zeitgeistiger
Musik-Lesarten geistern. Immerhin ließ sich auf diese Weise hören, wie
vorzüglich die Duisburger Philharmoniker ihre Aufgabe bewältigten. Die Bläser
konnten auch in den Soli brillieren, während es die Streicher schwer haben, in
der resonanzarmen Akustik zu bestehen.

Unter den Sängern können sich die Frauen am ehesten noch dem erschreckenden Mittelmaß
entwinden, das den Wagner-Gesang heute bestimmt. Claudia Mahnke ist vor allem
in ihren Rufen im zweiten Aufzug eine stimmsatte Brangäne mit unforciertem,
substanzvollem Klang. Anja Kampe geht die Isolde mit einem lyrischen, aber
expansionsfähigen Ton an. Ihre Artikulation ist – wie die von Frau Mahnke –
einwandfrei, die Tonbildung frei von der missverstandenen großhubigen Vibrato-Dramatik
amerikanischer Sopran-Schlachtschiffe. Decker verordnet ihr nicht immer
nachvollziehbare raumgreifende Aktionen; dennoch hat sie ihre Partie unter
Kontrolle, kann nuancieren und ins Piano zurücknehmen.

Christian Franz versucht das als Tristan auch. Aber dem Tenor, der in den Neunzigern
seine Karriere in Wuppertal begonnen hat, fehlt die Sicherheit beim
Positionieren der Stimme. Bereits im ersten Aufzug steigt sein nicht sonderlich
voluminöser Tenor nach oben, wird dünn und bemüht. Im Duett des zweiten
verschmelzen die Stimmen nicht, setzt Franz den rund gebildeten Piani von Anja
Kampe fistelig ungestützte Töne entgegen. Durch den mörderischen dritten Aufzug
kämpft er sich angestrengt; man wundert sich, dass die Stimme noch die
Kondition für den vokalen Gewaltparcours hat. Mit Stephen Milling gewinnt die
Figur des König Marke vokale Kontur, wenn auch die Höhe nicht befriedigt.
Alejandro Marco-Burmester ist ein sicherer Kurwenal, Boris Grappe ein greller, passend
unsympathischer Melot. Das ChorWerk Ruhr unter Michael Alber bewies wieder
einmal gediegene Qualität. – Der Beifall der Triennale-Fans war lang, aber
schütter und steigerte sich nur bei Anja Kampe zu freundlicher Intensität.

Spielplan der Ruhrtriennale: http://www.ruhrtriennale.de/de/programm/spielplan/




Premierenfieber: Die Triennale vor einem „Tristan“-Wagnis

"Tristan"-Komponist Richard Wagner in Luzern 1868.

Willy Decker wirkt ein bisschen müde. Was er unumwunden zugibt. Die Doppelbelastung als Intendant der Ruhrtriennale, zugleich als Regisseur der Eröffnungspremiere, Wagners „Tristan und Isolde“, mache sich eben bemerkbar. Doch Decker hat noch Elan genug, während einer Pressekonferenz eben über diese Produktion zu sprechen, über ihre Verankerung im Gesamtprogramm und das Wagnis, das hier eingegangen werde.

Decker redet emphatisch, wenn er seine Künstler lobt, und wirkt nachdenklich, wenn er das ganze Unterfangen, Wagners „Tristan“ in der Bochumer Jahrhunderthalle zu realisieren, eben als Wagnis bezeichnet. Eine Inszenierung, die gegen den Mainstream gerichtet sei, ein Versuch zudem, sich als Regisseur selbst zu vergessen. Wer mag, kann hinter diesen Worten durchaus Zweifel heraushören.

Decker sagt aber auch: „Die Wahl des ,Tristan’ war ohne Alternative“. In dieses Werk habe der Komponist Richard Wagner buddhistisches Gedankengut transferiert. In diesem Sinne könne etwa Tristans Fieberwahn im 3. Akt als eine Art Nahtod-Erfahrung gedeutet werden. Wagner habe, ausgehend von der Schopenhauer-Lektüre, viel über den Buddhismus gelesen und sinniert.

Zur Erinnerung: Willy Deckers „Triennale“-Intendanz, die diesen Herbst zuende geht, hat sich über drei Jahre drei Weltreligionen zugewandt. Dem Judentum, Islam und nunmehr dem Buddhismus. Gedichte japanischer Zen-Meister werden gelesen, eine Ausstellung im Museum Bochum begibt sich mit zeitgenössischer asiatischer Kunst auf „Buddhas Spur“, es gibt Konzerte experimenteller Art und vieles mehr. In dieses Umfeld passe auch der „Tristan“ – in der Loslösung von Ort und Zeit.

Der Ort ist in diesem Fall die weiträumige Jahrhunderthalle. Decker lobt die Spielstätte als Alternative zum alten Guckkastenprinzip. Die Sopranistin Anja Kampe, die Isolde der Produktion, spricht von den tollen Möglichkeiten, die die Halle biete. Dirigent Kirill Petrenko aber relativiert. Er habe die Realisierung dieses klangsinnlichen Stücks als große Herausforderung angenommen. Man müsse sehr an der Dynamik feilen, schließlich sei dies nicht der Wiener Musikvereinssaal. Der Klang sei letzthin nicht festzuhalten. Ein Schelm, der auch in diesen Worten Zweifel erkennt? Kein Problem hatte Petrenko indes mit der Wahl des Orchesters. Die Duisburger Philharmoniker habe er sich als Partner gewünscht.

Kein Zweifel: Dieser „Tristan“ wird auch zur Herausforderung fürs Publikum. Schließlich gehöre zum Regieansatz, wie Sopranistin Anja Kampe es betont, dass nicht immer zum Auditorium hingesungen werde. Zudem wird es einige, wenn auch sparsam eingesetzte Video-Projektionen geben. Kurze Sequenzen, die den Lebenskreislauf zwischen Geburt und Tod illustrieren sollen.

 

Die Premiere von „Tristan und Isolde“ am 27.8. ist ausverkauft. Weitere Vorstellungen gibt es am 31. August sowie am 3., 9., 13., 17. und 20. September. www.ruhrtriennale.de