Sommerfestival in Köln: Alvin Ailey American Dance Theater

„Rock my soul in the bosom of Abraham…“ – genau dies bot das Alvin Ailey American Dance Theater bei der Premiere des neuen Programms im Rahmen des Kölner Sommerfestivals. Sie rockten die Kölner Philharmonie, enthusiastisch gefeiert vom Publikum. Sechs lange Jahre ist es her, dass die Company zuletzt in Deutschland gastierte.

Viel hat sich seitdem getan. Judith Jamison, die langjährige, direkte Nachfolgerin Alvin Aileys, welche die Company zu weltweitem Ruhm führte, ist emeritiert, in einer persönlichen Wahl ernannte sie Robert Battle im Juni zum neuen Artistic Director, die Foundation bezog  in New York ein neues, festes Zuhause und die Company wurde zum „Cultural Ambassador to the world“ ernannt. Spannend die Frage für langjährige Fans dieser einzigartigen Truppe: „Was hat sich getan, sich geändert?“ Die Antwort : Vieles und doch auch wieder nichts. Nichts – weil sie immer noch die Besten sind. Im Modern Dance war und ist das Alvin Ailey American Dance Theater das Maß aller Dinge. Technisch brillant, künstlerisch tief berührend. Vieles –  weil sie Neues wagen und der Einfluss Robert Battles das Repertoire um aktuelle Einflüsse erweitert…

Das Alvin Ailey American Dance Theater tanzt vielschichtige Geschichten von Tragik und Freude, von menschlicher Leidenschaft. Getrieben von der Frage „Wo stehe ich und wohin gehe ich ?“ erreichen sie die Herzen der Menschen, durchdrungen vom Willen, für Verständigung und Brüderlichkeit über alle Grenzen hinweg einzutreten. Man vergißt es leicht und zeiht Amerika, kulturlos und oberflächlich zu sein, aber ein wesentlicher Bestandteil amerikanischer Kultur ist der Tanz. Amerika ist nicht nur die Wiege des Modern Dance, sondern auch das Land, in welchem der Tanz wie in kaum einem anderen westlichen Land gefördert und weiterentwickelt wird. Wegweisend seit über 50 Jahren ist das Alvin Ailey American Dance Theater. Nur folgerichtig, dass der US-Kongress dies 2008 würdigte und die Company offiziell zum „für die Welt lebendigen amerikanischen Kultur Botschafter der Vereinigten Staaten“ ernannte. Verbunden mit dem Auftrag, das Erbe der afroamerikanischen Kultur sowie des amerikanischen Modern Dance zu bewahren und weiterzuentwickeln.

Das Kölner Premierenprogramm eröffnete mit Love Letters. Eine von Judith Jamisons bedeutendsten Arbeiten, die sie zusammen mit dem HipHop-Pionier Rennie Harris und dem neuen Artistic Director Robert Battle neu choreographiert und überarbeitet hat. Die einzigartigen Stile der Choreographen verschmelzen nahtlos und vermitteln eine neue Botschaft, die den Bogen spannt vom dramatisch hingegebenen Modern Dance à la Martha Graham bis hin zu gewandelten heutigen Einflüssen afroamerikanischer Tänze.

Teil zwei des Programms gehört ganz dem Neuen. Robert Battle, dessen Neu-Einstudierungen mit Spannung erwartet und kritisch betrachtet wurden, enttäuscht nicht. In Takademie abstrahiert er die komplexen Formen des indischen Kathak Tanzes temporeich und verblüffend. In Hunt interpretieren sechs männliche Tänzer zur treibenden Trommelmusik der Les Tamours du Bronx ein archaisches Jagdzeremoniell. Bewusst durchbricht Battle die bisherige Linie des Alvin Ailey Repertoires und beschwört eine ganz neue Aggressivität im Tanz herauf. Der Zuschauer erlebt eine sehr maskuline, harte, aber auch kraftvolle Seite der Tänzer, die den Atem stocken lässt.

Im dritten Teil die Offenbarung. „Revelations“. Das Meisterwerk Alvin Aileys. Der Inbegriff des amerikanischen Modern Dance. Ein Klassiker, der bis heute von mehr Menschen in aller Welt gesehen wurde, als jedes andere Tanzstück des 20 Jahrhunderts. 50 Jahre alt sind sie geworden. Robert Battle hat bewusst entschieden, diesen Geburtstag zu zelebrieren und  zu zeigen, dass man den grundlegenden Prinzipien Alvin Aileys weiterhin verpflichtet  sein wird. So gehören die Offenbarungen zum  Repertoire einer jeden Aufführung in diesem Sommer. Vorher wird dem Publikum ein  eigens produzierter fünfminütiger Film der Emmy-preisgekrönten Regisseurin Judy Kinberg gezeigt, welcher die Entstehungsgeschichte und die Intention des Stückes beleuchtet.

Man kann die Revelations noch so oft gesehen haben, sie bleiben auch beim wiederholten Male eine Offenbarung. Universell gültig, heute so berührend und aktuell wie vor 50 Jahren, gewinnt es mit jedem neuen Tänzer, mit jeder neuen Aufführung an Kraft. Aileys „Geschenk an die Menschheit“ ist eine dreiteilige Reise auf den Spuren der Gospels und Spirituals seiner Heimat. Tänzerisch verschmelzen hier die Freiheiten des Modern Dance mit der Horton-Technik zu einer bis heute unerreichten Einheit, lebendig, mitreißend, anrührend und überschäumend zugleich. Dieses Stück hat etwas so Besonderes, so Einzigartiges, dass es den Zuschauer immer wieder neu tief im Herzen berührt.

Das von der ersten Minute an von der Mischung aus Altbewährtem und Neuem mitgerissene Publikum feierte die Tänzer am Ende so frenetisch, dass wir noch in den Genuss der Zugabe-Choreographie von „Rock my Soul“ kamen. Ich für meinen Teil habe sowohl die Company als auch die Revelations nicht zum ersten, aber ganz sicher auch nicht zum letzten Mal gesehen, übrigens zu gerne auch wieder  mal im Rahmen der Ruhrfestspiele.

Für Alvin Ailey war Tanz „ein Medium, dass die Vergangenheit ehrt, die Gegenwart würdigt und der Zukunft mit Zuversicht begegnet.“ Ich bin sicher, er wäre stolz auf die Tänzer, die heute unter seinem Namen diese Botschaft in die Welt tragen. Sie ehren und wahren sein Erbe, sie würdigen gegenwärtige Strömungen und sie verströmen Zuversicht für eine spannungsgeladene Zukunft des modernen Tanzes.

(Zitate aus dem Begleitheft zu den Kölner Sommerfestspielen)
 




Bildmächtiger Antikriegs-Appell

Der Erfolg des Britten-Zyklus’ am Musiktheater in Gelsenkirchen ist maßgeblich das Werk der Regisseurin Elisabeth Stöppler. Die in Hannover geborene 34-Jährige, die das Regiehandwerk unter anderem bei Götz Friedrich und Peter Konwitschny in Hamburg studierte und einst Assistentin von Johannes Schaaf und Stefan Herheim war, schilderte in „Peter Grimes“ die gnadenlose Hetzjagd auf einen Außenseiter und formte „Gloriana“ zu einer bildstarken und packenden Studie über die Auswirkungen der Macht.

Mit dem Versuch, Brittens „War Requiem“ für die Gelsenkirchener Oper in eine Bühnensprache zu übersetzen, geht Elisabeth Stöppler jetzt einen tollkühnen Schritt weiter. Fasziniert vom aufrüttelnden Antikriegs-Appell dieser Totenmesse, die Britten für die symbolträchtige Einweihung der wieder aufgebauten Kathedrale zu Coventry komponierte, versucht sie dem Werk eine Handlung abzulauschen und seine ohnehin eindringliche Botschaft weiter zu verstärken. Dabei greift sie die dialogische Anlage des Werks auf: So wie Britten den lateinischen Text der Messe mit Berichten des im 1. Weltkrieg gefallenen Frontsoldaten Wilfred Owen verschränkt, so spielen Szene und Videoprojektionen in ihrer Inszenierung ineinander. Die Gesangssolisten verkörpern Einzelschicksale, die Chöre eine anonyme Masse.

Sie alle geraten in einen absurden Kreislauf von Gewalt, als der Krieg über das Fernsehen in die Welt einer kleinen Familie bricht. Ein verletzter Soldat platzt durch den Wandschrank mitten ins Wohnzimmer, wo er vor aller Augen stirbt. Vater, Mutter und die Kinder reagieren darauf nachhaltig verstört. Der eben noch tote Soldat steht wieder auf und erschießt ein Kind. Das Kind steht wieder auf und erschießt seinen Bruder. Der Bruder steht wieder auf und droht seinerseits Amok zu laufen. So geht es fort und fort in der Welt, mit der die Regie uns konfrontiert. Die Opfer stehen auf, um ihrerseits zu Tätern werden.

Es liegt auch am gravitätischen Fluss der Musik, wenn dieser Kreislauf bald ermüdend wirkt. Die von Elisabeth Stöppler für dieses Experiment erfundene Handlung bleibt Stückwerk: Es kommt kein Erzählfluss auf, vielmehr ertrinkt das Bühnengeschehen zunehmend in einer Flut symbolträchtiger Bilder. Manche davon sind auf düstere Weise großartig. Vielfach und namenlos ist das Leid, das die Chöre verkörpern. Elisabeth Stöppler lässt sie auf düsterer Szene schwanken und fallen, als sei Hyperions Schicksalslied grässliche Realität geworden (Bühne und Kostüme: Kathrin-Susann Brose). Rauch steigt auf und weht über Körper. Ob per Video eingespielte Kunstblut-Orgien die Wucht des „Dies Irae“ noch verstärken ist indes eine Frage, zu der es verschiedene Meinungen geben kann. Aus dem grundlegenden Dilemma, dass der Regisseurin mehr nach dem Werk verlangte als das Werk nach einer Regie, gibt es offenkundig keinen Ausweg.

Sängerisch ragt Petra Schmidt aus einem mehr soliden denn glanzvollen Ensemble heraus. Opernchor, Extrachor und Kinderchor des MiR haben maßgeblichen Anteil am musikalischen Erfolg, für den Rasmus Baumann am Dirigentenpult der Neuen Philharmonie Westfalen verantwortlich zeichnet. Der wohlmeinende Versuch des Publikums, die Premiere zum nächsten Erfolg der Regisseurin hochzujubeln, geht indes an der Sache vorbei. Elisabeth Stöppler ist in Würde an einem Experiment gescheitert, das nicht gelingen konnte.

Das Programm des Musiktheater im Revier findet sich unter http://www.musiktheater-im-revier.de




Wenn die Zeit still steht – Opernheld Hamlet in Dortmund

Dortmund. Hamlet. Ein Monolith in William Shakespeares dramatischem Schaffen, der Schuld und Sühne, Wahn und Realität verhandelt. Der sich an die letzten Dinge wagt. „Sein oder nicht sein“ – die Wucht eines Satzes als Zentrum von Seelenzuständen. Das jedoch hat Christian Jost nicht abgehalten, oder vielleicht geradewegs angespornt, 2009 seinen „Hamlet“ in die musikalische Welt zu werfen. Er hat nichts weniger geschaffen als ein machtvolles Opern-Lamentoso.

Die Musik ergießt sich in breitem Strome, teils heftig aufzuckend in facettenreicher Rhythmisierung, teil dunkel geheimnisvoll raunend. Das Werk, nun in Dortmund zur Premiere gelangte, ist vor allem eine klangliche Nachzeichnung von seelischer Not. Der Komponist selbst spricht von zwölf musikdramatischen Tableaux. Jede dieser szenischen Stationen scheint die Zeit aufhalten zu wollen. Reflexion ist das Gebot der Stunde.

Im Graben sitzen zwei Orchester, ähnlich besetzt, durch einen kleinen Chor voneinander getrennt. Sie lassen raumfüllende Klangflächen aufschimmern, durchzogen von Glissandi, verquickt mit unruhigen, knalligen Blech- oder Schlagwerkattacken. Jost verzichtet in der Instrumentierung auf Oboen und Trompeten. Alles Bukolische und strahlend Helle wird verbannt – herbe Kost für einen bedeutungsschweren Stoff.

Gleichzeitig enthält sich der Komponist dynamischer Extreme. Stets steht der lyrische, teils auch sprechende, bisweilen abenteuerlich figurative Gesang im Vordergrund. Mitunter erinnert das an den Konversationsstil Alban Bergs. Den Solisten wird dabei einiges abverlangt. Wie auch den Chören, die mal geisterhaft polyrhythmisch flüstern, mal als innere Stimmen säuseln, als Landsknechte auftrumpfen oder als Trauergemeinde leiden.

Dieser „Hamlet“, der so viel Sinn sucht und so viel Tod bringt, leidet und klagt an unter brüchig klassizistischen Säulen (Bühne: Sebastian Hannak). Regisseur Peter te Nuyl hat allerdings diesem Purismus der Emotionen mit einem Spiel im Spiel einen Teil seiner Kraft genommen. Die Mimen geben „Hamlet“, sagen teilweise die Tableaux an – das schafft Brüche, die der Musik nicht entsprechen.Andererseits: Wie te Nuyl die Personen sich körperlich verklammern lässt, wie er den Fokus von Hamlet löst, um ihn auf die Gewissensqualen des Brudermörders Claudius zu fixieren, ist von großer Wirkung. Dass die Figuren schließlich elisabethanisches Mobiliar aus Regalen räumen zur Schaffung von Grabstätten, besitzt ganz eigene Symbolkraft. Doch Jost hatte gewiss nicht im Sinn, Shakespeare zu demontieren. Diese „Hamlet“-Oper ist vielmehr spannende Annäherung.

Dortmunds Chefdirigent Jac van Steen hat sich beherzt für die Aufführung des „Hamlet“ eingesetzt. Unter seiner Leitung wachsen Orchester, Chöre und Solisten über sich hinaus. Mit Konzentration und Hingabe wird musiziert und gesungen. Maria Hilmes in der Titelrolle, Bart Driessen (Claudius) oder Fausto Reinhart als Laertes zeichnen vielschichtige Charaktere – flexibel in der Stimmführung, spielfreudig, ja ergreifend.

Weitere Aufführungen: 13. und 25. Mai, 3. und 12. Juni

www.theaterdo.de

(Der Artikel ist am 3. Mai in der WAZ erschienen).




Oper Dortmund: Zauber des Neuanfangs

Nach dem eiligen Weggang der bisherigen Dortmunder Opernchefin Christine Mielitz will der designierte Nachfolger, Jens-Daniel Herzog, den Blick des Publikums zu neuen Ufern lenken, weil doch die alten Gestade kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervorlocken.

Denn dass das Musiktheater, von den tüchtigen Erfolgen des Balletts einmal abgesehen, oft nur noch zur Hälfte gefüllt ist, gehört längst zum kulturpolitischen Allgemeinwissen. Mielitz, mit großen Erwartungen nach Dortmund geholt, hat darauf allerdings nicht das alleinige Recht. Wer weiter zurückblickt, mag sich an John Dew erinnern, der das Publikum auch nicht gerade in Scharen anlocken konnte – um es vorsichtig auszudrücken.

Jens-Daniel Herzog will sich also der Aufgabe stellen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, die Menschen wieder ans Haus zu binden. Dabei will er klotzen: Zehn Premieren gibt´s in der kommenden Saison auf der Opernbühne. Zehn Werke, die allesamt Bezug nehmen auf den Verlauf der Gattungsgeschichte, angefangen vom Barock bis hin zum Beginn der Moderne. Das klingt für sich gesehen nach bunter Beliebigkeit – Herzog selbst sagt „Oper für alle“. Aber der neue Mann denkt auf fünf Jahre voraus (so lange währt zunächst einmal sein Vertrag).

Konkret: Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ zum Beginn der Spielzeit ist zugleich Auftakt für eine Wagner-Reihe, über die Jahre gesehen. Francesco Cavallis „L’Eliogabalo“ eröffnet eine barocke Serie, in historischer Aufführungspraxis. Bellinis „Norma“ steht für Belcanto, Mozarts „Cosi fan tutte“ für die weitere Beschäftigung mit dem Genius, Operette und Musical dürfen nicht fehlen, Berthold Goldschmidts Rarität „Beatrice Cenci“ läutet den Moderne-Reigen ein usw.

Das neue Profil der Oper Dortmund muss sich also nicht erst finden, es ist schon da. Die Historie gibt den Weg vor. Spannend bleibt indes, wie sich alles mit Leben füllt, wie sich ein beinahe komplett neuformiertes, etwa 25 Köpfe starkes Ensemble, den Aufgaben stellen wird.

Interessant ist aber auch, dass Herzog in Zukunft solch ein üppiges Premieren-Konvolut beibehalten will. Das funktioniert indes nur, weil annähernd jede Produktion privat gesponsert wird. Zudem will man sie, nach einer gewissen Laufzeit, möglichst an andere Häuser verkaufen – sei es gegen Bares oder im Austausch. Absprachen mit Mannheim, Erfurt oder Kassel gibt es da bereits, selbst eine Kooperation mit den Schwetzinger Festspielen hat Herzog auf den Weg gebracht.

Wichtig aber ist, was dabei herauskommt. Wird man das Publikum, über die Phase der Neugier hinaus, halten können (Christine Mielitz ist nicht zuletzt daran gescheitert)? Vieles dürfte an Herzogs Außenwirkung hängen. Immerhin: Mit seinem Verweis auf die Wagner-Tradition des Hauses, in Verbindung mit dem Namen Horst Fechner, dem bis heute verehrten ehemaligen General-Intendanten, hat Herzog geschickt den Blick auf bessere Theaterzeiten gelenkt. Und wer während der Programmvorstellung genau hingehört hat, wie die anderen Spartenleiter schon jetzt Herzogs integrative Fähigkeiten lobten, mag tatsächlich an Aufbruchstimmung glauben. Hoffentlich wirkt der Zauber des Anfangs auch noch in ein paar Monaten.

Das genaue Programm findet sich auf der Homepage des Theaters unter www.theaterdo.de




Den Unmut erst am Schluss bekunden – Benimm-Experte Uwe Fenner über richtiges Verhalten in Oper, Theater und Konzert

Von Bernd Berke

Dortmund. Einen „Knigge“ für Theater und Oper – gibt es das überhaupt noch? Oder darf man sich heutzutage in allen Bühnenhäusern ganz leger betragen? Nicht schrankenlos, sagt der Benimm-Experte Uwe Fenner (65), mit dem die WR gesprochen hat. Wir protokollieren seine Ratschläge:

Wie sieht die „Kleiderordnung“ für die Oper aus?

Fenner unterscheidet nach Ort und Anlass. In der Münchner Staatsoper beispielsweise, „wo 90 Prozent der Männer Smoking tragen“, solle man sich möglichst anpassen. „Ein dunkler Anzug mit Krawatte ist das Mindeste.“ In anderen Opernhäusern, etwa in Berlin, seien die Sitten nicht ganz so streng. Doch auch hier sei ein Anzug ratsam. Faustregel: „Der wahre Gentleman bewegt sich immer etwas oberhalb des Durchschnitts – aber auch nicht zu sehr.“ Gleiches gelte für die Dame von Welt.

Und was darf man im Sprechtheater anziehen?

Hier sind die Stil-Maßstäbe sehr viel lockerer. Das Publikum ist meist jünger als in der Oper, Jeans können statthaft sein. Aber: „Der Banker in mittleren Jahren, der abends ins Theater geht, sollte dort den Anzug beibehalten – gelegentlich auch einmal ohne Krawatte.“

Was ist von tiefen Dekolletés zu halten?

Besonders in der großen Oper sind derlei Einblicke laut Fenner „durchaus in Ordnung“. Die Grenze liege dort, wo es schamlos und obszön werde. Angela Merkels seinerzeit viel beredeter tiefer Ausschnitt in der Oper von Oslo sei durchaus schicklich gewesen.

Wie verhält es sich mit der Parfümierung?

Die Dame, so Fenner, dürfe getrost mehr auflegen, der Herr solle dezent vorgehen.

Wie pünktlich sollte man zur Vorstellung erscheinen?

Nicht zu früh im Zuschauerraum sein, sonst muss man nachher ständig für die Anderen aufstehen – und das könnte denen womöglich peinlich sein. Fenner: „Das ist überhaupt eine Grundregel: Man sollte anderen Menschen Peinlichkeiten ersparen.“ Erst recht aber soll man nicht zu spät kommen. Falls man einen Platz in der Mitte hat, müssen dann viele Leute aufstehen. Allgemein gilt: Wer durch eine weitgehend besetzte Zuschauerreihe geht, soll seinen Mitmenschen dabei das Gesicht zuwenden. Anders herum betrachtet: „Den Po zur Bühne.“

Und wenn die Vorstellung schon begonnen hat?

Wer erst eintrifft, wenn die Aufführung läuft, sollte möglichst bis zur ersten Pause im Foyer warten oder (wenn die Logenschließer es zulassen) allenfalls den Zuschauerraum leise betreten und an der Seite stehen bleiben – sich aber nicht durch die Reihe quälen.

Wie sieht’s mit Speisen und Getränken aus?

Grundsätzlich nicht im Zuschauerraum. Zum Essen und Trinken sind die Pausen vorgesehen. Auch Kaugummi sei tabu. Erlaubt und manchmal sogar wünschenswert: Hustenbonbons.

Was ist vom Tuscheln in der Vorstellung zu halten?

Gar nichts. Fenner: „Meine Meinungen und Mitteilungen sollte ich bis zur Pause für mich behalten.“ Und wenn man Bekannte hinten in Reihe 18 grüßen will? Nur vor der Vorstellung: Nicht rufen, sondern winken – und mit Handzeichen zur Pause verabreden.

Sind Beifall oder Buhrufe auf offener Szene erlaubt?

Im klassischen Konzert gar nicht. Da sollte man warten, bis das Stück vorüber ist. Also: Nicht zwischen zwei Sätzen einer Sinfonie jubeln! Anders in der Oper: Dort ist es üblich, nach einer bravourösen Arie Beifall zu spenden. Etwaigen Unmut sollte man immer erst nach Schluss der Aufführung äußern. Wenn der Vorhang gefallen ist, darf auch gebuht werden. Fenners extremste Erfahrung: „Einmal hat im Theater eine ältere Dame neben mir gesessen, die hatte eine Trillerpfeife dabei – und hat sie benutzt.“

Wann darf man das Theater verlassen?

Nicht bevor der letzte Beifall verklungen ist, meint Uwe Fenner. Es sei eine Unart, sich vorzeitig durch die Reihen hinauszuzwängen, um rasch die Garderobe oder den Parkplatz zu erreichen.

Wie geht man im Theater mit Handys um?

Überhaupt nicht! Unbedingt ausschalten! „Kluge Intendanten blenden vor der Aufführung ein Dia oder eine Durchsage ein, damit niemand das Abschalten vergisst.“

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ZUR PERSON

Stil-Fachmann in Dortmund aufgewachsen

  • Der Benimm-Experte Uwe Fenner wurde 1943 in Waren/Müritz (Mecklenburg) geboren.
  • Er ist Mitinhaber einer Firma für Karriereberatung in Potsdam, die sich u. a. auch mit Stil- und Benimmfragen befasst.
  • Fenner ist in Dortmund aufgewachsen und hat hier sein Abitur gemacht. In München, Bochum und Münster studierte er Jura. Zeitweise war er später als Personalberater in Dortmund tätig.
  • Internet: www.institut-fuer-stil-und-etikette.de



Mozart, Goethe – und was noch? Die Statistik des Deutschen Bühnenvereins

Wie oft hebt sich in Deutschland jährlich ein Theatervorhang? Wie viele einzelne Vorstellungen stehen wohl auf dem Programm? Fünftausend? Oder gar zehntausend? Doch nicht etwa zwanzigtausend?

Immer noch weit gefehlt: Es sind über hunderttausend Vorstellungen, in Ziffern: 100 000. Diese wahrhaft imposante Zahl geht aus der Statistik hervor, die der Deutsche Bühnenverein (Köln) in jeder Spielzeit getreulich führt.

Für die Saison 2006/2007 (neuere Zahlen liegen nicht vor) heißt das exakt: 98 712 Vorstellungen in Oper und Sprechtheater, dazu 3961 Aufführungen im Tanztheater. Macht insgesamt 102 673 und hört sich nach Kulturnation an. Inbegriffen sind übrigens alle Staats-, Stadt- und Landestheater sowie die meisten Privat- und Tourneebühnen mit eigenen Produktionen. Und tatsächlich gibt es ja kein anderes Land auf der Welt, das sich so viele Spielstätten leistet. Immer noch – trotz aller etwaigen Sparmaßnahmen.

Der Eindruck einer immensen Vielfalt relativiert sich allerdings ein wenig, wenn man sich anschaut, welche Stücke und Autoren am häufigsten gespielt werden. Es sind sozusagen stets die „üblichen Verdächtigen“. Im Musiktheater liegt demnach erwartungsgemäß Mozarts „Zauberflöte“ vorn (55 Inszenierungen mit fast 350 000 Zuschauern), im Sprechtheater Goethes „Faust“ (46 Inszenierungen mit etwas über 215 000 Zuschauern). Keine Experimente also. Das gute alte „Bildungsgut“ rangiert dauerhaft ganz oben. Es schmückt ja auch seit Generationen ungemein.

Gerade in der Oper ist das Publikum eher gediegen und nicht mehr so jung an Jahren. Das begünstigt offenbar vorsichtig abgewogene, geradezu konservative Spielpläne. So kommen gleich hinter der „Zauberflöte“ diese allzeit gängigen Werke auf die höchsten Ränge: Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Mozarts „Hochzeit des Figaro“, Bizets „Carmen“, Puccinis „La Bohème“, Mozarts „Don Giovanni“, Webers „Freischütz“, Puccinis „Tosca“, Mozarts „Cosi fan tutte“ und Verdis „La Traviata“. Mozart ist mithin Meister aller Klassen. Er tut ja auch niemandem weh.

Die Tendenz verwundert nicht: Bevorzugt wird das Leichtere, das Schwungvolle bis Schmissige, gemieden hingegen das Schwerblütige oder gar Experimentelle. Übrigens taucht auch ein Gigant wie Richard Wagner (mit „Das Rheingold“) erst auf Platz 14 auf. Da kann man sich ungefähr vorstellen, welch ein schwieriger Balanceakt es ist, mit dem Spielplan das beharrliche Publikums-Interesse zu bedienen und dennoch gelegentlich Neues zu wagen.

Im Schauspiel ist das Publikum tendenziell jünger und wahrscheinlich etwas aufgeschlossener. Dennoch halten sich auch hier die erprobten Klassiker. Hinter dem „Faust“ folgen Shakespeares „Sommernachtstraum“ und Schillers Ränkespiele in „Kabale und Liebe“. Die Reihenfolge hätte vor 20 oder 40 Jahren ähnlich lauten können. Sie schmeckt etwas nach althergebrachtem Schulpensum.

Immerhin verzeichnet die Bühnen-Statistik einen spürbaren Anstieg der Ur- und Erstaufführungen. Auch davon zehren die Theater, es verschafft ihnen zumindest in der Branche einen guten Ruf, wenn auch meist keine sonderlich hohen Zuschauerzahlen. 534 bis dato nicht in Deutschland aufgeführte Werke kamen jedenfalls neu heraus. Das waren fast 16 Prozent mehr als in der Spielzeit zuvor. Und vielleicht gibt es ja irgendwann ein paar Gegenwartsstücke, die in die Spitzengruppe vorstoßen.




Heikle Debatte um die Freiheit der Kunst: Absetzung der Mozart-Oper „Idomeneo“ in Berlin – aus Angst vor islamistischen Anfeindungen

Von Bernd Berke

Ach je, es ist wieder mal so weit: Wir haben eine neue Debatte um die Freiheit der Kunst! Abermals ragt die politische Sphäre bedrohlich in die kulturelle hinein. Die Deutsche Oper in Berlin hat (wie berichtet) die Mozart-Oper „Idomeneo“ aus Furcht vor etwaigen islamistischen Anfeindungen vom Spjelplan genommen. Jetzt hagelt es Kritik an der Entscheidung.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat den Entschluss der Opern-Intendantin Kirsten Harms (50) als „verrückt“ bezeichnet: Ein solcher Schritt sei lächerlich. Regisseur Hans Neuenfels, dessen „Idomeneo“-Deutung bereits 2003 ihre (von Tumulten begleitete) Premiere erlebte, hat die Absetzung als „Hysterie“ gescholten, sein Anwalt Peter Raue legt der Intendantin den Rücktritt nahe.

„So weit ist es gekommen…“

Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) spricht von übereilter „Selbstzensur“. Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) meint: „So weit ist es gekommen, dass die Freiheit der Kunst eingeschränkt wird.“ Ähnlich äußert sich Klaus Staeck, Präsident der Berliner Akademie der Künste. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Börnsen: „Das schadet der Freiheit der Kunst auf unserem Kontinent.“

Man wüsste gern mehr über die Entscheidungswege. Hat die Oper (z. B. angesichts des Streits um Papst-Zitate und Mohammed-Karikaturen) etwa befürchtet, dass speziell diese Mozart-Version Probleme mit sich bringt – und vorsichtshalber angefragt?

„Unkalkulierbare Risiken“

Wohl kaum. Gestern hieß es, Berlins Landeskriminalamt (LKA) habe bereits im Juli vor einer Wiederaufnahme der Oper gewarnt, es habe zuvor einen anonymen Hinweis gegeben. Der Kulturverwaltung des Berliner Senats sei sodann eine „Gefährdungsanalyse“ übermittelt worden. Nicht von konkreten Drohungen ist die Rede, aber von „unkalkulierbaren“ Risiken.

Ist es vorauseilender Gehorsam, ein „Kniefall“ gar? Intendantin Kirsten Harms hatte offenbar Hinweise auf Gefahren. Berlins Innensenator Ehrhart Körting habe ihr die Bedenken mitgeteilt, sagte Harms gestern. Körting wiederum legt Wert auf die Feststellung, er habe nicht die Absetzung der Oper gefordert.

Wowereit für offensive Linie

Da möchte man nicht mit der Opernchefin tauschen. Sie trägt Verantwortung für die Sicherheit der Darsteller und des Publikums. Berlins Kultursenator Thomas Flierl bescheinigt ihr denn auch verantwortungsvolles Handeln. Bürgermeister Klaus Wowereit kontert, Kunstfreiheit müsse „offensiv“ verteidigt werden. Leicht gesagt.

Harms betont, „vorerst“ seien nur die vier November-Aufführungen gestrichen worden. Heißt das: Rückzug vom Rückzug möglich? Jetzt, wo vielleicht „schlafende Löwen“ geweckt worden sind?

Deutungshoheit des Regisseurs

Die Freiheiten, die sich manche Regisseure gestatten, sind nicht selten verstörend, sie können mitunter Gefühle verletzen. Abgeschlagene Köpfe der großen Propheten und Religionsstifter in einer Mozart-Oper zu zeigen, das zeugt von extensiver Auslegung der Deutungshoheit eines Regisseurs. Hans Neuenfels macht geltend, er habe sich mit sämtlichen Weltreligionen auseinandersetzen und einen „Aufstand gegen die Götter“ schildern wollen.

Wohin soll das noch führen? Es wären allerlei Gruppierungen oder auch einzelne Eiferer denkbar, die Theaterspielpläne (oder z. B. Kino- und Verlagsprogramme) durchforsten. Wenn ihnen etwas missfällt, was dann? Die Deutsche Oper hat ihnen jetzt ein fatales Beispiel geliefert, dass bereits vage Bedrohungen wirksam sein können. Wo bliebe die Freiheit der Kunst, die doch wohl unverbrüchlich zum aufklärerischen Kulturerbe zählt?

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HINTERGRUND

Konflikt mit den Göttern

  • Mozarts Oper „Idomeneo“ erzählt die tragische Geschichte des gleichnamigen kretischen Königs.
  • Dieser Idomeneo sieht sich – nach dem Trojanischen Krieg – vom Meeresgott Poseidon dazu gedrängt, seinen eigenen Sohn zu opfern.
  • Daraus erwächst der Konflikt zwischen Pflicht gegenüber den antiken Göttern und Treue zu den Menschen.
  • Bei Mozart endet die Sache (dem Geschmack seiner Zeit entsprechend) allerdings glimpflich.
  • Die triumphale Uraufführung war im Januar 1781 im Münchner Hoftheater.

 




Die Minute, da wir explodierten – Ein Fußball-Länderspiel zwischen religiöser Erwartung, Königsdrama und Farce

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Kollegen der Sportredaktion haben ihre Teil getan, nun darf auch noch das Feuilleton ‚ran. Denn natürlich ist ein Fußball-Länderspiel, wie jetzt Deutschland – USA in Dortmund, letztlich auch ein geballtes Kulturereignis. Bei der WM werden wir’s sogar multi-kulturell erleben.

Man denke nur ans ganze Drumherum, an die vielen Rituale: vom eher pflichtschuldigen Absingen der Nationalhymnen bis zur permanenten chorischen Begleitung durch die Fans; von der mitunter opernhaften Arena-Situation (mit Vorläufern wie dem griechischen Amphitheater oder dem römischen Colosseum) bis hin zur sprachlichen Bewältigung des Geschehens durch Spieler, Trainer und Journalisten.

Sodann die Spielchen mit den historisch überkommenen National-Klischees („Die Amis“, „Die Urus“ usw.), stets frisch aktualisiert durch die Typengalerie der jetzigen Mannschaften.

Überdies wabert ein ständiges Krisengerede, welches Theater und Literatur seit Hunderten von Jahren begleitet – warum also nicht auch den vergleichsweise blutjungen Fußball? Vom Glauben an Mythos und Magie (wieder weiße statt rote Hemden = erhöhte Siegchance) ganz zu schweigen. Das Spektrum großer Spiele liegt denn auch irgendwo zwischen quasi-religiösen Erwartungen, Shakespeares schroffen Königsdramen und einer grotesken Farce.

In Dortmund gibt’s fürs Nationalteam offenbar kein Verlieren. 4:1 ging es bekanntlich aus, rein rechnerisch also die exakte „Wiedergutmachung“ fürs Florentiner Italien-Debakel. Lange blieb’s freilich abermals ideenlos und uninspiriert, so ganz und gar nicht künstlerisch. Schmerzlich yermisste man die Leichtigkeit des Seins, die ein Fußball-Ensemble hervorbringen kann und die Deutschlands Sache oft nicht ist, was wiederum gern mit der gesamten Befindlichkeit des Landes kurzgeschlossen wird. Fußball als Staatsaffäre, deren Akteure sich oft furchtbar ernst nehmen.

Kein Wunder, wenn die Jungs auf dem Spielfeld verkrampfen. Doch diesmal, vor allem aber der 73. Minute, „sind wir explodiert“ (O-Ton Oliver Kahn), und es gab auf einmal die gute alte Katharsis, sprich: die befreiende Reinigung vom Übel. Das waren endlich ein paar schöne, ästhetisch befriedigende Momente.

Wie sonnig geht’s doch in derlei Erfolgsfällen beim ZDF zu: „Analysen“, wie sie Franz Beckenbauer und Johannes B. Kerner liefern, brächte wohl jeder bessere Stammtisch zu- stande. Doch es ist nahezu pervers: Irgendwie giert man ja selbst masochistisch nach dem öligen Palaver von „Kaiser Franz“ oder auch nach den eher barschen Urteilen von Günter Netzer bei der ARD. Selbst ein „Literaturpapst“ wie Marcel Reich-Ranicki dürfte seine Freude daran haben. Und Harald Schmidt sowieso.

Zum Ritus gehört auch das Erscheinen des Bundestrainers, der traditionell Rede und Antwort stehen muss. Jetzt lacht er wieder, der „Klinsi“. War es etwa nicht amüsant, wie beflissen der Regisseur Klinsmann neben dem Generalintendanten (Beckenbauer) stand; wie er diesmal „die Herren Medien“ geißelte oder wie er den „Abnutzungskampf“ beschwor? Goldig auch sein Satz über die der letzten Tage vor dem Match: „Wer mich kennt, hat mich nach wie vor lächeln gesehen.“ Wahrscheinlich war’s daheim im Keller.




Die Liebe zur alten Maschinenhalle: Marie Zimmermann stellt sich als künftige Intendantin der RuhrTriennale vor

Von Bernd Berke

Düsseldorf. So etwas fällt heutzutage richtig auf: Marie Zimmermann (50), die künftige Chefin des Kulturfestivals RuhrTriennale, ist passionierte Kettenraucherin. Als sie sich gestern in Düsseldorf der Presse vorstellte, zündete sie sich etliche Glimmstengel an.Viel Rauch um nichts?

Im Gegenteil: Man ahnt, dass sie einiges bewegen könnte im Revier. Sie kommt nicht mit fertigen Weltbildern oder dröhnenden Gewissheiten daher, sondern entwickelt neue Einsichten offenbar im behutsamen Dialog. Überdies scheint sie eine gute Zuhörerin zu sein und (gesellschaftspolitisch akzentuiert) über die Grenzen der Kulturszene weit hinaus zu denken. Weitere Basis-Qualifikation für die Region: Auch mit Fußball kennt sie sich aus. Na, bitte.

Von Wien ins Revier

Sie steht vor einer großen Herausforderung: Von 2008 bis ins erhoffte Kulturhauptstadt-Jahr 2010 soll sie die Geschicke der Triennale leiten. Über größere Zeiträume mag sie noch nicht nachdenken. Man wird sehen. Im Frühjahr 2007 will sie von Wien, wo sie derzeit den Schauspielbereich der Wiener Festwochen leitet, ins Ruhrgebiet ziehen.

Spekulationen, Marie Zimmermann werde die Intendanz einer etwaigen Europäischen Kulturhauptstadt Essen/Ruhrgebiet gleich mit übernehmen, erübrigen sich. Im Fall des Falles werde die Triennale zur „Hauptstadt“ wesentliche Beiträge leisten. Doch die langjährige Theaterdramaturgin, die nicht selbst Regie führt, stellt auch klar: „Hier muss ein präziser Kreidestrich gezogen werden.“ Sprich: Sie steht für eine klare Abgrenzung der Kompetenzen. Erst müsse jede Institution für sich wirken, dann kämen Gemeinsamkeiten. Dies gelte auch fürs Verhältnis zu den Ruhrfestspielen.

Die besondere Melodie der Region

Die Spielstätten der Triennale, zumeist frühere Industrie-Bauten, haben es ihr schon jetzt angetan. Einige dieser Orte hätten eine geradezu majestätische Aura. Spezielle Liebe auf den ersten Blick: die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck.

„Ich bin eine enthusiastische Regionalistin“, bekennt Zimmermann. Sie werde sich im Revier auf „sucherische Heimatkunde“ verlegen, sich ausgiebig umsehen. Sie nehme das Ruhrgebiet als „lebendige, teilweise auch bedrängte“ Gegend wahr. Die besondere „Melodie“ der Region solle künftige Triennale-Produktionen prägen. Und dann zitiert sie eine Buchweisheit, die auch auf hiesige Breiten anwendbar sein könnte: „Die Desillusionierung ist die haltbarste Form der Erkenntnis.“ Vom Aufbruch reden wir später einmal.

Auch die Freie Szene einbeziehen

Natürlich ist es noch zu früh, um konkrete Einzelheiten zu nennen. Doch will sie erstmals auch der Bildenden Kunst Auftritte bei der Triennale verschaffen – vielleicht in kreativer Verknüpfung mit Theater und/oder Musik.

Obwohl sie keine direkte Erfahrung mit Musiktheater hat, möchte sie diese Sparte weiter pflegen. Sie verlässt sich dabei keineswegs auf frühe hausmusikalische Praxis (als Jüngste von sechs Geschwistern), sondern vor allem auf fachkundige Berater. Gut möglich, dass Marie Zimmermann Projekte aus der „Freien Szene“ rekrutiert, hohes Niveau vorausgesetzt. Sie ist bekannt für Aufgeschlossenheit in diese Richtung.

Doch das Festival (Etat: 38 Millionen Euro pro Dreijahres-Turnus) könne keinen Ausgleich für jede finanziell gebeutelte Truppe schaffen: „Die RuhrTriennale ist nicht das Bankhaus der Szene, und bin nicht die Schnittmenge aus Mutter Teresa und dem Weihnachtsmann.“

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HINTERGRUND

Erfahrung mit anderen Theaterfestivals

  • Die RuhrTriennale wurde 2002 gegründet.
  • Ein Festivaldurchgang umfasst je drei Spielzeiten.
  • Bisherige Intendanten:. Gérard Mortier (2002-2004) und Jürgen Flimm (2005-2007).
  • Die künftige Triennale-Chefin Marie Zimmermann wurde 1955 in Simmerath (bei Aachen) geboren.
  • Sie studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie, war freie Journalistin.
  • Über die Leitung einer Pressestelle (Stadtwerke Aachen) kam sie als Pressesprecherin zur Landesbühne Esslingen – Beginn ihrer Theaterlaufbahn.
  • Sie hat u. a. die Festivals „Theaterformen“ (Hannover/Braunschweig) und „Theater der Welt“ (Stuttgart) geleitet.

 




„Bloß nicht in Schönheit sterben“ – Interview mit Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa über Programme und Perspektiven

Von Bernd Berke

Dortmund. Auch das Dortmunder Konzerthaus kommt nicht an der Fußball-WM vorbei. Direkt vor dem Auftakt des sportlichen Großereignisses wird die einschlägige brasilianische Tanzproduktion „Maracana“ in der Westfälischen Philharmonie gastieren. Doch nicht nur darüber sprach die WR mit Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa (40).

Frage: Konzerthaus und Kicken – wie geht das zusammen?

Benedikt Stampa: Berechtigte Frage. Ich bin Fußballfan, und ich bin Kulturfan. Aber im Prinzip bin ich kein großer Freund der Verbindung zwischen Kultur und Fußball.

Warum nicht?

Stampa: Es passt oft nicht. Es funktioniert bestenfalls auf einer höheren Gedanken-Ebene. Die musikalischen Versuche schlagen meistens fehl. Auch gibt es kaum einen authentischen Fußball-Spielfilm. Die Schauspieler sind fast immer schlechte Fußballer und umgekehrt. Am besten geht es wohl gerade im Tanztheater-Bereich. Hier spielt Athletik ohnehin eine große Rolle. Und der Fußball hat ja seine spezielle Choreographie, die allerdings auch vom Zufall bestimmt wird.

Wie muss man sich „Maracana“ vorstellen?

Stampa: Die Hamburger Premiere sehe ich selbst erst am Donnerstag. Fest steht: 16 Tänzerinnen und Tänzer sind dabei. Die Musik ist eine Mischung aus Samba, HipHop und Funk. Der Rasen wird zu sehen sein – in Form einer grünen Wand. Es wird ein „Spiel“ geben, mit Fouls und Fallrückziehern. Als ich hörte, dass diese Produktion entsteht, dachte ich gleich: Die müssen wir nach Dortmund holen. Schließlich spielen die brasilianischen Fußballer ja auch hier. Das wird ein Highlight: Drei Tage vor der WM, wenn die Spannung auf dem Siedepunkt ist, geht es los. Die Tanztruppe gastiert vom 6. bis zum 8. Juni bei uns. Dann werden auch viele Journalisten aus aller Welt hier sein…

Wir freuen uns drauf. Mal was anderes: Wie sehen die aktuellen Auslastungszahlen im Konzerthaus aus?

Stampa: Nun, das Haus hat die Gründungsphase mit einigen – auch schmerzlichen – Erfahrungen hinter sich. Die Zahlen haben sich stabilisiert und beginnen allmählich zu steigen. Wir liegen jetzt alles in allem bei 63 Prozent Auslastung. Wir wissen, dass etwa50 Prozent der Besucher aus Dortmund selbst kommen – ein guter Wert. Aber wir strahlen auch weit in den Kreis Unna, ins Sauerland und Münsterland aus. Wichtig ist die gute Mischung aus Abonnements und freiem Verkauf.

Manche Musikfreunde beklagen, dass Sie zu wenig Kammermusik anbieten.

Stampa: Wir werden auf diesem Feld künftig mehr machen – im wirtschaftlich vernünftigen Rahmen. Kammermusik ist ja die Grundlage des sinfonischen Schaffens.

Trügt der Eindruck, oder haben Sie das Programm in letzter Zeit popularisiert?

Stampa: Wenn man ihn richtig versteht, kann ich am Begriff „populär“ nichts Nachteiliges finden. Wir haben einen Bildungsanspruch, aber wir wollen nicht „in Schönheit sterben“. Übrigens bietet ein Dirigent wie Christian Thielemann, der gerade zweimal mit den Münchner Philharmonikern bei uns gastiert und unter anderem Brahms gespielt hat, auch eine Art Mainstream. Aber eben auf höchstem Niveau. Und es gibt natürlich eine Untergrenze.

Wo liegt die denn? Wen würden Sie nicht einladen?

Stampa (lacht): Das werde ich Ihnen nicht konkret sagen. Aber schau’n Sie einfach mal, wer nicht bei uns auftritt…

Sie haben lange in Hamburg gearbeitet und sind jetzt seit Herbst 2005 in Dortmund tätig. Wie unterscheidet sich das westfälische Publikum vom hanseatischen?

Stampa: Das Publikum in Dortmund ist wesentlich neugieriger, es geht mehr mit. Das hat mir auch Christian Thielemann bestätigt. In Hamburg gibt es eine alte, ehrwürdige Musiktradition. Viele Leute haben dort schon vieles gehört und sind vielleicht ein wenig saturiert.

Ihre bislang schönsten Dortmunder Konzert-Erlebnisse?

Stampa: Es gab einige. Die erwähnten Thielemann-Auftritte gehören unbedingt dazu. Aber natürlich auch das Gastspiel von Anna Netrebko.

Wird sie irgendwann erneut nach Dortmund kommen?

Stampa: Ich habe ihr gesagt, dass alle Türen offen stehen. Eigentlich singt sie am liebsten in Konzerthäusern. Die Frage ist nur, ob sie künftig zu Auftritten in großen Stadien und Arenen gedrängt wird.

Konkurrieren Sie mit Dortmunds Oper ums Publikum?

Stampa: Wohl weniger. Die Last des kulturellen Lebens einer Stadt kann nicht nur auf einem einzigen Haus ruhen. Wenn es gut läuft, ziehen wir uns gegenseitig hoch.

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HINTERGRUND

„Fußballer sind die besten Tänzer der Welt“

  • Die brasialianische Tanzproduktion „Maracana“ ist benannt nach dem weltgrößten Fußballstadion in Rio de Janeiro (Fassungsvermögen heute etwa 120 000 Zuschauer).
  • Die Auftrags-Produktion, offizieller Beitrag zum FIFA WM-Kulturprogramm, hat just heute in Hamburg Weltpremiere und gastiert vom 6. bis 8. Juni im Dortmunder Konzerthaus. Einziger weiterer Spielort in NRW ist Köln (ab 9. Februar).
  • Die renommierte Choreographin Deborah Colker (43) aus Brasilien ist nicht nur ausgebildete Tänzerin, sondern auch Pianistin und überdies Diplom-Psychologin.
  • Ausgiebig studierte sie für ihr Tanzstück die Bewegungsabläufe im realen Fußball. Ihr Eindruck: „Fußballer sind die besten Tänzer der Welt.“

 

 

 




Fußball im edlen Frack – Experiment der RuhrTriennale: Oratorium „Die Tiefe des Raumes“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Wer wollte bestreiten, dass der Fußball rituelle und mythische, ja quasi religiöse und liturgische Anteile hat? Da liegt es vielleicht doch nahe, diesem phänomenalen Sport ein ehrwürdiges Oratorium zu widmen. Die RuhrTriennale probiert’s mit der in Bochum uraufgeführten Kreation „Die Tiefe des Raumes“.

Wenn hier die Mannschaftsaufstellung verkündet wird, klingt es fast, als riefen Posaunen zum Jüngsten Gericht. Der mit blauweißen bzw. schwarzgelben Schals angetretene, zuweilen ausgelassen tobende TriennaleChor (48 Damen und Herren verkörpern 60 000 Fans) antwortet auf die Vorgabe „Oliver“ mit Donnerhall: „Kaaaaahn“! Dazu lässt Dirigent Steven Sloane die sturmstarken Bochumer Symphoniker zu apokalyptischer Klangmacht anwachsen.

Das Spiel mit der komischen Fallhöhe

Es darf gefeixt werden. Derlei komische Fallhöhe zwischen Thema und Instrumentierung wird sich an diesem Abend häufig ergeben. Es ist ja ein Heidenspaß. Doch irgendwann fragt man sich, ob dem Fußball dieser edle Frack überhaupt passt. Soll das Kicken nachhaltig nobilitiert werden? Oder lässt man sich gnädig-gönnerhaft dazu herab? Ist diese Schöpfung gar blasphemisch, weil sie eine religiös geprägte Form profan ausbeutet? Nun, so päpstlich sollte man nicht denken.

Erzählt wird die Geschichte eines 17-jährigen Spielertalents (Corby Welch, Tenor): Er schwankt zwischen „Tugend“ (Claudia Barainsky, Sopran) und „Laster“ (Ursula Hesse von den Steinen, Mezzosopran). Wird er nach ersten Erfolgen nur noch hinterhältig nach Geld und Weibern gieren, oder wird er dem wunderbar zweckfreien Spiel huldigen, wie es dem Menschen seit Anbeginn der Zeiten gemäß ist? Ein paar Lebensjahre hinzu gerechnet, denkt man dabei jetzt vor allem an Kölns Nationalstürmer Lukas Podolski. Er soll bei der Genese dieses Oratoriums gleichsam Pate gestanden haben: Tonsetzer und Textautor haben angeblich diskutiert, ob es sich bei ihm um eine „Erlöserfigur“ im biblischen Sinne handele…

Doch ein erzählerischer Kern schält sich nicht so klar heraus in dieser Aufführung, die fußballgerecht zweimal 45 Minuten plus 8 Minuten (!) Nachspielzeit dauert und mit dem legendären Resultat 3:2 endet. Es fehlt ein kräftiger roter Faden. Ohne Programmheft (mit komplettem Libretto-Text) haben Zuschauer bei dieser gestisch nur sparsam akzentuierten Nummernfolge kaum eine Chance. Die überfrachtete Story (Autor: Schalke-Fan Michael Klaus) verirrt sich auf ebenso viele Nebenwege wie die Musik (Komponist: Bayern-Anhänger Moritz Eggert).

Wenn die Abseitsregel gesungen wird

Der Text sammelt allerlei Vorfälle aus dem Umkreis eines Fußballspiels ein – bis hin zur gesungenen Erläuterung der Abseitsregel. Zudem wollen drei prominente Rezitatoren als Trainer, Radioreporter und Alt-Internationaler mitmischen: Doch Joachim Król, Christoph Bantzer und Peter Lohmever (Film „Das Wunder von Bern“) dringen mit ihren Sprechstimmen manchmal kaum durch.

Die Musik ist vollends eklektisch. Sie nimmt – mit imponierendem Kunstverstand – ihre Impulse von überall her und begreift alles als Spielmaterial, beileibe nicht nur Schlachtgesänge aus der Stadionkurve. Der hehre Duktus eines barocken Oratoriums (Gipfel ist eine „Hymne an den Ball“) wird in dieser Collage vielfach (post)modernistisch und ironisch gebrochen. Es gellen die Schiri-Pfeifen und Siegesfanfaren à la Verdi dazwischen, oder man wiegt sich auch schon mal in schlagerseligen Rhythmen undskandiert feinsinnige Weisheiten: „Nichts ist scheißer als Platz zwei.“

Meist steigert sich das Orchester aus lyrisch leisen Kapitel-Anfängen in ein anschwellendes Breitwand-Pathos, das freilich immer wieder in den tonalen Zusammensturz getrieben wird. Man ist schließlich avanciert.

Innenminister Otto Schily hat’s kürzlich bei der Vorstellung der WM-Kulturprojekte geahnt: „Die Tiefe des Raumes“ werde sich dem durchschnittlichen Fußballfan nicht leicht erschließen. Tatsächlich behält dieses interessante Experiment eine Zwittergestalt. Auf dem grünen Rasen geht’s drauf und dran. Auf kulturellem Spielfeld aber zählen Zwischentöne. Insofern ist es ein exemplarisches Projekt, das solche Distanzen spürbar werden lässt. Doch damit wird bestimmt keine neue Gattung begründet.

• Weitere Aufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle: 18. Sept. (20 Uhr). Karten  0700/2002 3456. www.ruhrtriennale.de

 




Was ist uns die Kultur noch wert? – eine dringliche Frage anlässlich der finanziellen Streitfälle in Dortmund und Hagen

Von Bernd Berke

Man stelle sich vor: Es ist kurz nach 20 Uhr, die Geschäfte haben nun allesamt geschlossen. Wer sorgt dafür, dass die Bürgersteige nicht gleich ganz „hochgeklappt“ werden, dass die Stadt nicht menschenleer und öde daliegt?

Gewiss: Gaststätten, Discos und wohl auch manches schummrige Etablissement. Nun ja. Doch vor allem Opern, Sprechtheater, Kinos, Konzerte oder Lesungen bringen lebhaften abendlichen Betrieb mit sich – und Museen, sofern sie gelegentlich Öffnungszeiten zu späterer Stunde anbieten, wie in echten Metropolen üblich.

In der seit Jahren laufenden Kosten-Debatte. die sich angesichts kommunaler Haushaltsnöte zuspitzt, drängt sich die Frage auf: Wozu brauchen wir Kultur, warum sollten wir sie uns auch „in Zeiten knapper Kassen“ (so die gängige Formel) leisten? Ein Thema mit vielen Aspekten und Emotionen.

Zwei gewichtige Streitfälle in unserer Region erhitzen die Gemüter und füllen Leserbriefspalten: Das Dortmunder Konzerthaus macht abermals erhöhten Zuschussbedarf geltend (morgen Thema im Stadtrat), und das für Hagen geplante Emil Schumacher-Museum droht(e) an Finanzfragen zu scheitern.

Damit die Städte lebendig bleiben

In beiden Städten spielen zwar auch politische und menschliche Klimafragen ihre Rolle doch letztlich geht’s ums Geld. Manche, die schnell fertig sind mit dem Wort, behaupten kurzum, Kindergärten oder Schwimmbäder seien wichtiger als Kultur. Es ist läppisch leicht und irrwitzig, dies gegeneinander auszuspielen. Eins wie das andere gehört zur menschlichen „Daseinsvorsorge“, wie (nicht nur) der Deutsche Kulturrat unermüdlich betont.

Das eingangs skizzierte Szenario lässt es ahnen: Wir brauchen Kultur nicht nur, um uns unseres Herkommens, unserer Werte und Aussichten zu vergewissern. Kulturgenuss gibt’s auch daheim (mit Buch oder CD), vor allem aber belebt er unmittelbar die Städte. Zudem profitieren Wirtschaftszweige davon, so etwa Gastronomie oder Hotels; ganz zu schweigen von der eigentlichen Kulturwirtschaft mit Verlagen, Galerien, Kinos, an denen etliche Arbeitsplätze hängen.

Die Sache mit den „Subventionen“

Wer wollte bestreiten, dass das vor einigen Jahren noch recht finstere Dortmunder Brückstraßen-Viertel durchs Konzerthaus erheblich vitaler und urbaner geworden ist? Davon hat beileibe nicht nur das „gehobene Bürgertum“ etwas.

Zunächst einmal ist es zweitrangig, ob öffentlich finanzierte Häuser, private Einrichtungen oder die „Freie Szene“ das Lebensgefühl steigern. Auch sind Sponsoren, denen es um die Sache geht, jederzeit willkommen. Bei ambitionierten Programmen geht es allerdings kaum ohne öffentliche „Subventionen“. Jedoch: Was gestern noch sperrig schien, ist morgen schon fast Allgemeingut. Kultur bedeutet somit auch Zukunft.

Nicht von ungefähr steht der Begriff „Subventionen“ hier in Anführungsstrichen. Denn eigentlich sind Kulturausgaben Investitionen – längst nicht nur, aber auch im wirtschaftlichen Sinn. Öffentliche Mittel sorgen dafür, dass Eintrittskarten nicht noch teurer werden. Je preiswerter die Tickets, desto breiter die möglichen Zielgruppen. Und am oberen Ende der Gehaltsskala? Nun, unsere Firmen brauchen gute Manager. Die arbeiten meist ungern in Städten, welche kulturell wenig bieten.

Pflichtaufgabe und Staatsziel

Mit landläufige „Schnäppchenjäger-Mentalität“ ist auf kulturellem Felde nichts zu bestellen. Geiz ist gar nicht geil. Umsichtige Sparsamkeit aber schon. Denn natürlich haben auch die Kulturschaffenden eine gewisse Bringschuld: Selbstgefällig gleißende, sündhaft teure Inszenierungen wirken in Zeiten, da manche auf manches verzichten müssen, mitunter obszön. Auch jene eitlen Regisseure, die mit ihrer Weltverachtung Zuschauer vertreiben, sind keine idealen Sendboten der Ästhetik.

Gern schmückt sich der Staat mit etablierter Kultur vom Beethoven-Quartett zur Feierstunde bis zum Kunstwerk in der Amtsstube. Der vormalige Bundespräsident Johannes Rau ist mit sie eben nicht ohne einige Schritte weiter gegangen, und Kulturstaatsministerin kann Christina Weiss ist ihm darin gefolgt: Wir reden von der Forderung, Kultur zur Pflichtaufgabe zu erklären, sie als Staatsziel in den Verfassungen zu verankern – damit sie eben nicht ohne weiteres weggespart werden kann.

Vielleicht lässt sich dies derzeit nicht politisch durchsetzen, doch als Denkimpuls sollte es fruchten. Wann wird man dazu ein paar klare Worte von unserem jetzigen Staatsoberhaupt Horst Köhler hören?




Flimm will Triennale im Spätsommer – Künftiger Festival-Chef stellte sich in Bochum der Presse vor

Von Bernd Berke

Bochum. Sonnenklar: Jürgen Flimm, ab 2005 Chef der RuhrTriennale, hat erst vor wenigen Tagen seinen Vertrag unterzeichnet und kann noch nicht mit fertigen Festival-Konzepten aufwarten. Doch er skizzierte gestern in Bochum schon mal „Ideen aus meinem Zettelkästen“.

So kann er sich etwa Programme auf der Basis von Renaissance- und Barock-Kompositionen vorstellen. Diese Epochen lägen uns innerlich gar nicht so fern: „Auch damals mussten neue Horizonte entworfen werden.“ Apropos: Ein alle Produktionen überspannendes Grundthema sei in unseren Umbruch-Zeiten kaum vorstellbar. Flimm: „Es herrscht Zersplitterung.“ Aber vielleicht ergebe sich ja ohne Absicht eine heimliche Leitidee.

„In Salzburg ist man altgierig, im Revier neugierig“

Flimm, der bei der RuhrTriennale nicht selbst inszenieren will, nannte zwei konkrete Wünsche: Schon seit längerem reize ihn Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ (nach J.M.R. Lenz). Auch für Luigi Nonos bislang fast nur konzertant gegebenes Musikdrama „Prometeo“ will Flimm eine theatralische Umsetzung anregen: „Konzertant ist doch eunuchenhaft.“ Gut möglich also, dass derlei Stoffe das Fundament für „Kreationen“ bilden, wie sie Flimms noch amtierender Vorgänger Gerard Mortier ersonnen hat: tiraditionelle Formen als Ausgangsmaterial für neue Mischungen und Erkundungen. Überhaupt zollt Flimm dem Belgier großen Respekt. Und er schwärmt vom Revier-Publikum: „In Salzburg ist man altgierig, hier im Revier ist man neugierig.“

Überhaupt keine Probleme mit Castorf

Weit gediehen sind Flimms Überlegungen, die RuhrTriennale im Sinne einer Entzerrung zeitlich neu zu postieren. Der Schwerpunkt soll nicht mehr im Frühjahr oder Herbst liegen, wenn etliche andere Festivals und Premieren anstehen, sondern im Spätsommer. Vor allem dürfe es keine Überschneidungen mit den Ruhrfestspielen geben, die dann unter dem Triennale-Dach von Frank Castorf (Flimm: „Mit dem habe ich überhaupt keine Probleme“) geleitet werden.

Zudem zeichnet sich eine Konzentration auf noch weniger Spielorte ab. Flimm sieht die Bochumer Jahrhunderthalle als zentrales Festspielhaus. Daneben dürfte der Duisburger Landschaftspark Nord Bestand haben, wo Flimm gerade einen WDR-Film dreht – die Kleist-Phantasie „Käthchens Traum“.

„Kürzungsschock“ ist überwunden

Für Koproduktionen mit Stadttheatern ist Flimm prinzipiell offen. Allerdings: Die Häuser zwischen Dortmund und Oberhausen müssten in erster Linie gezielt für ihre Städte spielen. Die Triennale stehe nur für besondere Projekte bereit, sie sei keine zweite Subventions-Quelle für kommunale Bühnen. Flimm bekannte, er habe den „Kürzungsschock“ (38 statt 42 Mio. Euro für die Triennale 2005 bis 2007) überwunden, und er sehe Spar-Möglichkeiten. Die musikalische Reihe „Century of Songs“ werde er aber fortsetzen.

Und wie hält es der Fußballfan mit dem Revier? Flimm ist Anhänger von Werder Bremen und derzeit sauer auf Schalke, das den Hanseaten den Torjäger Ailton abspenstig macht. Flimm: „Ich werde mich wohl auf Borussia Dortmund zubewegen Da geht mein Freund Müller-Westernhagen auch immer hin.“




Stunden der wahren Empfindung – Johan Simons inszeniert die famose Produktion „Sentimenti“ für die RuhrTriennale

Von Bernd Berke

Bochum. Stoffe mit Ewigkeitswert sind im Grunde oft einfach, schon die Antike hat Muster bereitgestellt. Wenn nun ein Mittvierziger ins Land seiner Jugend zurückkehrt, als seine Mutter stirbt, und sich an jene Zeit erinnert, als die Ehe der Eltern zerbrach, so bangt man dennoch: Was kann das Theater daraus gewinnen? Die Antwort lautet: alles!

Natürlich nicht irgendwie und immer. Sondern dann, wenn man den Stoff so überaus inspiriert entfaltet wie Johan Simons, Paul Koek und ihre Truppe ZT Hollandia. Aus der Freien Szene hervorgegangen und heute in Eindhoven tätig, hat die Formation jetzeine grandiose Kreation für die RuhrTriennale aus der Taufe gehoben: „Sentimenti“ verknüpft kühn Grundzüge von Ralf Rothmanns Roman „Milch und Kohle“ mit Opernmusik von Giuseppe Verdi. Siehe da: Diese Vorlagen steigern einander in zweieinhalb Stunden der wahren Empfindung zu ungeahnter Wirksamkeit.

Rothmanns Prosa beschwört mit frappanter Detail-Süffigkeit die 60er Jahre im Ruhrgebiet herauf. In jeder Textfaser spürt man den Beinahe-Jahrgangsgenossen aus der Region: Der 1953 geborene Autor wuchs im Revier auf und lebt heute in Berlin. Sein Erzähler Simon (dargestellt vom famosen Jeroen Williams) schildert, was er als Jugendlicher im Ruhrgebiet der 60er erlebte: Seine Mutter gab sich damals einem italienischen „Gastarbeiter“ hin, als der Vater nach einem Bergwerksunglück mit gebrochenen Beinen in der Klinik lag.

Kläglich hat der Vater dahingelebt: zwischen Malochhe im Schacht, Autoreparaturen und seinen geliebten Kanarienvögeln. Nun wirft ihn die Untreue zu Boden. Dem Sohn sind manche Erinnerungen an die Zeit der Burda-Schnittmusterkleider peinlich, doch er findet zu einem fast zärtlichen Umgang mit der Vergangenheit.

Selten aber fühlt man das Schmerzliche eines Ehebruchs so scharf und persönlich ergreifend wie hier, wo das Leben als vom Tode umsäumter Bezirk erscheint. Oh, hättet ihr eure Zeit auf Erden besser genutzt! Der allgegenwärtige Todesengel in Schwestern-Tracht wartet geduldig: Letztlich wird ihm doch jedes Wesen zuteil.

Die äußerst weitläufige Spielfläche in der Bochumer Jahrhunderthalle besteht im zentralen Bereich aus Unmengen von Kohlebriketts. Man kann diese 16 Tonnen Materie wörtlich nehmen: Bei aller Phantasie ist diese Aufführung zutiefst „geerdet“, sie basiert auf konkreten sozialen Verhältnissen.

Ruhrgebiets-Roman und Verdis Arien beflügeln einander

Doch sie führt auch himmelweit darüber hinaus. Wenn etwa die Mutter die Szenerie betritt, so zunächst noch nicht als lebensgierige und kokette Frau, sondern als monströs röchelndes Häuflein Elend, dem Tode schon bestürzend nah.

Überhaupt ist alles, was die Menschlein hier tun und treiben, von Vergänglichkeit umfangen. Lebensstufen gleiten beklemmend ineinander über, Figuren verschwimmen surreal, sie wiederholen Sätze wie in Trance. Mit sehr feinem Strich werden da die Hirnströme des Erinnerns nachgezeichnet.

Und zu alledem noch Verdi! Diese Bühne der Erinnerung erweist sich als idealer Hallraum für seine gleißenden Arien (aus „II Trovatore“, „La Traviata“, „Rigoletto“, „Don Carlos“, „Nabucco“, „Aida“) – notengetreu in eher kammermusikalischer Besetzung mit jazzigen Einsprengseln gespielt und von den Sängern, die sich wie hilflose Beschützer in die Handlung mengen, zur Essenz gebracht. Diese Klänge überhöhen das Geschehen nicht nur, sondern werden ihrerseits angefüllt mit neuer Gegenwart. Es gibt Momente, da könnte man heulen vor menschlicher Trauer und vor Theaterglück.

Doch die „Sentimenti“ erschöpfen sich keineswegs in Vergeistigung. Es gibt auch eine Dimension des Humors und barscher Körperlichkeit. Verzweifelt ziellose Begierde entlädt sich in sexuellen Attacken, Streit in Eruptionen des Schlagens und Tretens. Man spürt, wie es sich anfühlt, das anhaltend waltende Ungenügen – und sehnt sich nach der Gegenwelt.

Ganz großer Beifall.

Termine: 22, 25.. 26.. 28., 29. Juni. 1., 2., 3., 6. Juli. Karten: 0700/2002 3456.




Jürgen Flimm wird Chef der RuhrTriennale – ab 2005 als Nachfolger von Gerard Mortier

Von Bernd Berke

Im Westen. Der Favorit hat das Rennen gemacht: Jürgen Flimm soll ab 2005 neuer Leiter der RuhrTriennale und damit Nachfolger von Gerard Mortier werden. Der 61-jährige Flimm bleibt bis 2004 Schauspielchef der Salzburger Festspiele. Als Präsident des Deutschen Bühnenvereins war er kürzlich zurückgetreten. Dies hatte bereits Spekulationen über ein Engagement im Ruhrgebiet genährt.

Auf Flimm, den langjährigen Leiter des Hamburger Thalia Theaters, einigten sich alle Gremien: der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH (Rechtsträger der Triennale) hat den einstimmigen Vorschlag der Findungskommission „zustimmend zur Kenntnls genommen“. Gestern gab auch der Aufsichtsrat der Ruhrfestspiele, die künftig unter dem „Dach“ der Triennale angesiedelt sind, grünes Licht. Damit könnte Jürgen Flimm am 11. Juli formell berufen werden.

Enorme Erfahrung in vielen Positionen

Bis auf Gastinszenierungen in Bochum (1974-79, Ära Zadek) hatte Flimm bisher kaum direkte Verbindungen zum Revier. Doch sonst bat er fast alles gemacht, was in der Theaterwelt möglich ist. Am 17. Juli 1941 in Gießen geboren, wuchs der Sohn eines Arzt-Ehepaares in Köln auf – mit evangelischem Hintergrund, zu dem er sich entschieden bekennt. Da sein Vater als Theaterarzt arbeitete, konnte Jürgen Flimm schon als Kind hinter die Kulissen blicken. Dies hat ihn, wie er sagt, fürs ganze Leben „infiziert“.

Neben dem Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Soziologie in Köln absolvierte Flimm eine Schauspielausbildung und bekam 1968 sein erstes Engagement als Regie-Assistent an den Münchner Kammerspielen. 1972 wurde er Oberspielleiter in Mannheim, 1973 übte er die gleiche Funktion am Hamburger Thalia Theater (unter Boy Gobert) aus. Ab 1979 war er – als Nachfolger von Hansgünther Heyme – Schauspiel-Intendant in Köln. 1985 begann seine glorreiche, bis ins Jahr 2000 währende Ära als Thalia-Intendant. Unter seiner Ägide wurde die Bühne zur Pilgerstätte.

Lieber das „Erbe“ überprüfen, als Uraufführungen zu sammeln

Bei der Jagd auf Uraufführungen hat sich Flimm – anders als z. B. Claus Peymann – stets merklich zurückgehalten. Statt dessen erkundete er die klassischen Stoffe, zumal das Werk Georg Büchners, sorgsam neu. Überhaupt prüfte er am liebsten das „Erbe“: von Shakespeare, Goethe, Schiller, Lessing und Kleist über Schnitzler, Tschechow und Ibsen bis hin zu Brecht.

In den letzten Jahren hat Flimm auch zahlreiche Opern (u. a. Mozart, Wagner) inszeniert, und zwar für die „ersten Adressen“, so beispielsweise an der New Yorker „Met“, in Bayreuth und Salzburg.

Behutsamer Umgang mit den Klassikern

Bei all dem betätigte er sich nie, wie etwa Frank Castorf, als „Stücke-Zertrümmerer“, sondern aktualisierte die Werke behutsam, ohne ihren Handlungskern zu beschädigen. Flimm hat immer wieder betont, dass Theater mit Blick aufs Publikum entstehen müsse und nicht fürs eitle Ego der Macher. Auf Erdverbundenheit und „Revier-Tauglichkeit“ deutet auch sein großes Faible für Fußball hin. Flimm ist seit Jahrzehnten Mitglied bei Werder Bremen.

Blättert man in den Annalen, so stößt man auf einen möglichen Reibungspunkt mit dem designierten Leiter der Ruhrfestspiele, Frank Castorf, dessen Vorgesetzter Flimm als Leiter der RuhrTriennale wäre. In Interviews hat sich Flimm recht deutlich von Castorfs oft rabiater Form des „Regietheaters“ abgegrenzt.

Flimm kennt sich bestens in den Fährnissen der KulturpoHtik aus. Das langjährige SPD-Mitglied (Austritt u. a. mit Günter Grass nach der Asyldebatte) ist inoffizieller Kulturberater von Bundeskanzler Schröder. Von Flimm stammte die Anregung, das Amt eines Staatsministers für Kultur zu schaffen. Mit Bundespräsident Rau schuf er zudem ein „Bündnis für Theater“.

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Kommentar:

Eine ideale Wahl

Hätte man seine Wunschkandidaten für die Leitung der RuhrTriennale nennen sollen, so wären fraglos die Namen Claus Peymann und Jürgen Flimm gefallen. Mit anderen Worten: Die gestern getroffene Entscheidung für Flimm ist eine geradezu ideale Wahl.

Der 61-Jährige hat ungeheure, unschätzbar wertvolle Erfahrungen als Regisseur und Theaterleiter angehäuft. Auch in den Feinheiten der Kulturpolitik kennt er sich präzise aus. Zudem ist er in den Sparten Schauspiel und Oper höchst sattelfest. Was will man mehr? Flimm ist ein Theatermacher, der „vom Publikum her“ denkt. Es ging ihm nie, wie leider so vielen anderen Regisseuren, um schrankenlose Selbstverwirklichung auf Kosten der Stücke. Andererseits ist er kein bloßer Traditions-Verwahrer, sondern er schneidet die Stoffe durchaus aktuell zu.

Flimm gilt als gleichermaßen verbindlich wie durchsetzungsfähig und verhandlungssicher. Im politischen Raum pflegt er die allerbesten Kontakte. Nur: Wenn im Gezerre um die Düsseldorfer Koalition auch die RuhrTriennale unter die Räder geraten sollte, hätte selbst er wenig Chancen, den Schaden einzugrenzen.

Jedenfalls kommt es Flimm zugute, dass er sich stets als sehr kostenbewusster Bühnenchef erwiesen hat. Für den Fall einer Etat-Überziehung hat er andernorts sogar schon mal einen Verzicht auf große Teile seiner Gage angeboten.

Im Ruhrgebiet keinesfalls zu unterschätzen: Zu allem Überfluss hat Jürgen Flimm, ein langjähriger Freund des Trainers Otto Rehhagel, auch noch gehörig Ahnung vom Fußball. Auf seinen „Anstoß“ in den Kulturstadien des Reviers darf man sich schon jetzt freuen.

Bernd Berke




Komik des Kosakenzipfels – Deutschlands prominentester Humorist Loriot wird heute 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

So feinsinnig, charmant und verbindlich wirkt der distinguierte Herr, daß man kaum merkt, wie rigide seine Komik manchmal ist. Aber ja! Wir reden wirklich von Vicco von Bülow alias Loriot, der heute 75 Jahre alt wird.

Er selbst hat einmal Buster Keaton und W. C. Fields als Vorbilder genannt, denn deren Komik sei „erbarmungslos“. Charlie Chaplin hingegen sei, bei allem Respekt, zu sentimental und moralisch. Bei Loriot „menschelt“ es nicht nur unverbindlich daher, sondern er zielt und trifft. Schon die steifen Posen des deutschen „Wirtschaftswunders“ hat er dem Gelächter preisgegeben. Und dabei wirkten seine Knollennasen-Männchen aus Büchern wie „Der gute Ton“ oder „Der Weg zum Erfolg“ doch so harmlos.

Was wirkliche Haltung und was bloße „Mache“ war, weiß der in Brandenburg geborene Sproß einer alten preußischen Offiziersfamilie gewiß haargenau zu unterscheiden.

„Man muß sich über alles wundem“

Mit solchem Gespür begabt, mußte man in den verdrucksten 50er Jahren nur noch mit offenen Augen durch die Welt gehen, um an jeder Ecke komische Situationen zu entdecken. Wenn sich gewisse Leute im Bewußtsein des „Wir sind wieder wer!“ reckten, so schrie das ja geradezu nach humoristischer Weiterverarbeitung. „Man darf nichts als selbstverständlich hinnehmen und muß sich über alles wundern“, so lautete eine von Loriots Humor-Regeln. So ist es.

Mit Cartoons und Sketchen in Fernseh-Sendereihen wie „Cartoon“ (ab 1967), „Telecabinet (ab 1974) oder „Loriot I bis VI“ (1976) erlangte er unverwüstliche Popularität. Endlich war da mal einer, der nicht die vordem landläufige, eher krachlederne Variante „deutschen Humors bediente! Loriot (französisches Wort für Pirol – der Vogel ist das Wappentier seiner Familie) dürfte Einflüsse ausgeübt haben, die etwa über die „Neue Frankfurter Schule“ (Robert Gernhardt & Co.) bis hin zur Kabarettszene neuester Prägung unterschwellig gewirkt haben.

Unvergeßliches TV-Requisit war jenes Gründerzeit-Sofa, auf dem Loriot mit gekräuselten Lippen seine Beiträge ansagte. Man fängt schon an zu grinsen, wenn man nur an all diese Szenen denkt, die längst zum Standard-Repertoire gehören. Da war z. B. jener Mann, der sich im Restaurant eine glühende Liebeserklärung abquält („Sagen Sie jetzt nichts, Fräulein Hildegard!“) und dabei einen Nudelrest in seinem Gesicht nicht bemerkt, während die Angebetete (Lieblings-Sketchpartnerin Evelyn Hamann) immerzu fassungslos dorthin starren muß.

Von der Gummiente zum Jodeldiplom

Urkomisch auch die Herren Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner, die aus unerfindlichen Gründen in derselben Hotelbadewanne stranden und nun streiten, ob und wie man die Gummiente „zu Wasser lassen“ solle.

Man könnte endlos weiter memorieren: den ausufernden Streit zweier Ehepaare, die sich im Campingurlaub kennengelernt haben. Anlaß: jene Nachtisch-Leckerei namens „Kosakenzipfel“; das „Jodeldiplom“ für die unausgefüllte Hausfrau („Da hat man was Eigenes“); das Ehepaar Hoppenstedt und seine Chaos-Besuche beim Herrenausstatter oder in der Bettenabteilung. Es waren im Grunde kleine Tragödien einer allseits gründlich fehlschlagenden Kommunikation, die einen trübsinnig machen könnten, wenn bitterernste Autoren sie aufbereitet hätten.

Apropos Paare: Nicht nur bei den Hoppenstedts und der ehelichen Groteske ums Vierminuten-Ei erweist sich die tiefe Wahrheit der Loriot-Formel „Frauen und Männer passen eigentlich nicht zusammen“. Sie versuchen’s halt immer wieder, ob’s nicht doch geht…

Daß die von Loriot gezeichneten Maskottchen „Wum und Wendelin“ jahrzehntelang für die „Aktion Sorgenkind“ warben, haben wir bei all dem noch gar nicht erwähnt. Bayreuth-Stammgast Loriot hat zudem gelegentlich Opern inszeniert und zwei der erfolgreichsten deutschen Kinofilme der letzten Jahrzehnte gedreht, „Ödipussi“ und „Pappa ante portas“.

Die Ruhe, die er sich neuerdings antut, sei ihm von Herzen gegönnt. Doch wie schade auch, daß er, sich so zurückhält! Wir vermissen etwas.

Das ARD-Fernsehen bietet heute um 21.45 Uhr viel Prominenz auf, um Loriot gebührend zu gratulieren. Programmänderung: Um 23.45 Uhr schließt sich Theatermann August Everding als Solo-Gratulant an.




Rainer Fetting sieht in Willy Brandt den aufrechten Charaktermenschen

Von Bernd Berke

Dortmund. Ideale Ergänzung zur mit Spannung erwarteten Uraufführung der Willy-Brandt-Oper „Kniefall in Warschau“: Die WR präsentiert im Foyer des Dortmunder Opernhauses eine Ausstellung von Rainer Fetting.

Der Künstler hat sich bildnerisch intensiv mit dem 1992 verstorbenen Altbundeskanzler befaßt. Vor der ausverkauften Opern-Premiere (20 Uhr am kommenden Samstag) wird um 18 Uhr die Schau mit rund 80 Arbeiten eröffnet. Zu sehen ist auch eine kleinere Vorstudie zu jener Brandt-Skulptur, die den Eingangsbereich der SPD-Parteizentrale in Berlin beherrscht. Im Kleinformat wirkt Brandt beinahe ein wenig introvertiert oder zumindest sehr nachdenklich, während die größere Statue eher den Visionär zeigt.

Zur erlesenen Dortmunder Auswahl gehören auch malerische Arbeiten zum Themenkreis Brandt, außerdem einige Berlin- und Mauer-Bilder sowie originelle Variationen zu einem noblen Thema aus der Kunstgeschichte: Fetting löst Diego Velazquez‘ berühmte „Infantinnen“ aus der Haupt- und Staatsaktion heraus und stellt sie als Individuen dar.

Rainer Fetting weilte gestern mit seinem Berliner Galeristen Werner Tammen in Dortmund, um die Anstellung aufzubauen. Anschließend besuchte er die WR-Redaktion. Fetting: „Willy Brandt hat mich schon immer sehr interessiert.“ Allerdings nicht in erster Linie als politische Figur, sondern als aufrechter Charakter – und als visuelle Aufgabe. Auch hier also die Blickrichtung aufs Individuelle, ein vorwiegend emotionaler Zugang. Künstlerisch läßt sich ein solcher Ansatz nicht reibungslos und glatt umsetzen. Rainer Fettings Brandt-Figur wirkt denn auch zerklüftet und schrundig.

Natürlich wird der Künstler zur Premiere der Oper kommen. Ohne die Partitur von Philipp Kochheim zu kennen, verrät Fetting seine eigene Präferenz: Er würde Willy Brandt am liebsten Musik von den „Rolling Stones“ oder von Jimi Hendrix zugesellen. Und er könnte sich durchaus vorstellen, zu dieser Oper selbst einmal ein Bühnenbild zu entwerfen.




Unterhaltung hat Vorrang im Dortmunder Spielplan – Neuer Schauspielchef Jens Pesel wagt vorerst keine Experimente

Von Bernd Berke

Dortmund. Jens Pesel, neuer Schauspielchef des Dortmunder Theaters, steckt beim Spielplan für seine erste Saison zurück: „Im Grunde könnte ich mir wagemutigere Stücke vorstellen.“ Doch das Publikum in Dortmund sei anders, nämlich wohl nicht so experimentierfreudig wie jenes an seiner vormaligen Wirkungsstätte Darmstadt. Außerdem, so Pesel gestern zur WR, ändere sich das Ensemble zur Saison 1992/93 mit elf neuen Kräften derart grundlegend, daß man erst einmal typische „Ensemblestücke“ spielen müsse, um die neue Schauspieltruppe gleichsam „zusammenzuschmieden“.

Pesel („Ich fühle mich auch für Entertainment zuständig“) legte gestern also einen recht konventionellen Spielplan vor: Den Saisonstart besorgt er selbst mit Brechts „Leben des Galilei“. Es folgt die „Lysistrate“ des Aristophanes. Hier führt Amelie Niermeyer Regie, die – vom Münchner Residenztheater kommend — in Dortmund möglichst an die Tradition einer Annegret Ritzel anknüpfen soll. Pesel wiederum läßt einen unterhaltenden Beitrag folgen: Philip Kings Farce „Lauf doch nicht immer weg“. Dimiter Gotscheff, soeben in Berlin mit dem Kritikerpreis ausgezeichnet, bringt George Taboris „Goldberg-Variationen“ auf die Bühne. Weitere Pläne: Heiner Kipphardts „März“ und vermutlich Arthur Millers „Ein Blick von der Brücke“, wobei es statt Letzterem auch Goethes „Clavigo“ werden könnte – eine Spagat-Alternative, die von Besetzungsfragen abhängt.

„Wir machen das besser als Essen“

Pesel wollte eigentlich auch verraten, was im Schauspiel-Studio ansteht, doch da schnitt ihm Generalintendant Horst Fechner ganz sanft das Wort ab: Diese Dinge wolle man doch lieber später enthüllen. Beide versicherten, sie hätten sich ohne Probleme auf den Spielplan geeinigt. Fechner: „Herr Pesel spricht die gleiche Sprache wie ich.“ Die Zeichen stehen auf Versöhnlichkeit. Fechner unterstrich, daß man den Dortmundern im Theater vorrangig Entspannung bieten wolle: „Wir können das so gut wie das Fernsehen.“ Ein Erfolgsdenken sei gefragt, das an der Kasse überprüft werden könne.

Deutlichster Ausdruck des Erfolgswillens ist wohl ein Großprojekt des Musiktheaters, „La Cage aux folles“ (Ein Käfig voller Narren), das gleich zu Beginn der Spielzeit 92/93 einen Hauch von „Cats“ und „Starlight Express“ nach Dortmund bringen soll. Mindestens 35 Vorstellungen sind vorgesehen. Fechner rechnet schon jetzt mit einem derartigen Besucherandrang, daß eine Übernahme in die Saison 93/94 so gut wie beschlossen ist. Fechner will die Revierkonkurrenz abhängen: „Wir machen es besser als seinerzeit die Essener“. Und Dortmund setzt noch eins drauf: Als zweites Musical-Element steht die (etwas bescheidenere) Show „Girls, Girls, Girls“ auf dem Programm. Wenn das die Besucherringe nicht zufriedenstellt…

Butterfly und Barbier

Natürlich hat man auch „große Opern“ auf der Rechnung: Wagners „Ring“ wird mit der „Götterdämmerung“ komplett (und im Frühjahr 1995 auch zweimal als Zyklus hintereinander gegeben). Mozarts „Cosi fan tutte“, Puccinis „Madame Butterfly“ und Rossinis „Barbier von Sevilla“ runden das Repertoire ab. Immerhin verabschiedet man sich nicht gänzlich vom Zeitgenössischen. Mit Walter Steffens‘ Oper „Die Judenbuche“ (nach Annette von Droste-Hülshoff) steht gar eine Uraufführung ins Haus. Die Tanzsparte schließlich bietet ein „Faust“-Ballett mit Rock- und Pop-Anklängen sowie ein klassisches Handlungsballett zum „Don Quixote“-Stoff.




Männer als dienstbare Geister der Weiblichkeit – Pina Bauschs Tanzabend „Palermo“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Bevor Pina Bauschs neuer Wuppertaler Tanzabend anfing, betrat Intendant Holk Freytag die Bühne: Man möge keine fertige Inszenierung erwarten, sondern ein „work in progress“, einen Werkstatt-Einblick also. Freytag sprach den Standardsatz dieser Tage ironisch: Es werde auch hier in den nächsten Wochen zusammenwachsen, was zusammengehöre.

Dann die erste Szene. Stille. Lang blicken wir auf eine Mauer, die schließlich mit Getöse in sich zusammenstürzt. Heiterkeit im Publikum. Deutsch-deutsche Anspielungen auch hier? Nun, zwangsläufig wird dieses Bild derzeit so „gelesen“; es steht (und fällt) aber vielleicht eher als allgemeines Zeichen für Durchbruch. Auch sollen wir ja nicht starr nach Deutschland schauen, sondern – dem vorläufigen Arbeitstitel „Palermo“ gemäß – nach Sizilien.

Freilich sind die dort landläufigen Szenerien, die das Wuppertaler Tanztheater bei einer Reise in sich aufnahm, längst durch Gruppendyamik und freie Assoziationen verwandelt (und dem Stil der Pina Bausch anverwandelt). Italien – das ist hier oft nur noch ein ferner, leiser Anklang. Es geht nicht um Reisebilder, sondern um Gefühlsbilder, deren Rätselhaftigkeit wiederum schwerlich in Begriffssprache „rückübersetzt“ werden kann.

Keine Sehnsucht kommt ans Ziel

Die Frauen sind diesmal nicht, wie früher so oft bei Pina Bausch, Opfer männlicher Attacken. Die Männer. zumeist dienstbare Geister, dürfen die weiblichen Körper allenfalls in schöner Schwebe halten oder in Schwung setzen; sie werden von den Frauen fast wie Hündchen herbeigerufen und barsch aufgefordert: „Nimm meine Hand!“ – „Halte mich!“ Doch die Geschlechter stammen „von verschiedenen Planeten“, man(n) kann nichts recht machen, keine Sehnsucht kommt da ans Ziel. Wenn die Männer die Befehle ausführen wollen, nehmen die Frauen sie meist sofort unwirsch zurück.

Überhaupt ist dies erneut eine Abfolge zurückgenommener, abgebremster, „umgebogener“ und „versickernder“ Gestik. Gäbe es eine leibliche Entsprechung zu Stichworten, so könnte man von „Stich-Bewegungen“ sprechen: Chiffren unerfüllten und ungelebten Lebens allenthalben, aber auch immer wieder Versuche, den Körper gestisch ganz neu zu definieren, ihn sozusagen in die Zukunft zu zaubern. Und vielfach ein Aufblitzen von Humor, der vom sehr konzentrierten Ensemble mit todernsten Mienen serviert wird.

Eine Maschinerie, die unentwegt Bilder erzeugt

Zahllose Kürzest-Geschichten könnte man erzählen – und hätte doch nicht das Entscheidende gesagt: Die Frau, die sich Zucker von den Lippen küssen läßt; entwurzelte Bäume, die vor verwaschenem Regenhimmel herabsinken; zwei Schönlinge, die sich Zitronensaft in die Haare träufeln: ein Preisboxer, der sich in eine tuntige Freiheitsstatue verwandelt: eine Frau, die sich – eine ausrinnende Flasche zwischen den Beinen – trotzig-triumphierend erleichtert „wie ein Mann“; eine andere, die ein paar Spaghetti als ihr Eigentum verteidigt. Später wird einer diese spitzen Nudeln wie Dolche gegen seine Brust richten – Beispiel dafür, wie hier beinahe jedes Bild fließende Bedeutung erlangt. Manchmal scheint es, als laufe da eine Maschinerie, die unentwegt Bilder erzeugt und vergehen läßt.

Die Überfülle solcher Geschehnis-Bruchteile hat tatsächlich noch den Charakter einer unfertigen, wenig strukturierten Materialsammlung. Die Reihenfolge der Szenen könnte sich ohne weiteres ändern. Nur der zweite Teil scheint schon stärker durchgearbeitet. Freilich gelingen Pina Bausch, dem Bühnenbildner Peter Pabst und der Tanztruppe auch in diesem Zwischen-Stadium bereits häufig jene starken, fremden und – trotz eines wiedererkennbaren Stils – in ihrer konkreten Gestalt völlig unerwarteten Bildszenen, denen man verfallen konnte. Überdies ist die Musikauswahl – Klänge aus allen Weltteilen – superb.

Der Premierenbeifall (volle „Fankurve“) war grandios.




Essener Choreographin Christine Brunel überzeugt New Yorker – Mit NRW-Kultusminister Hans Schwier beim Festival „Ruhr Works“

Aus New York berichtet
Bernd Berke

New York. Die „Entdeckung“ von New York heißt Christine Brunel. Zwar wirkt die gebürtige Französin schon seit einigen Jahren in Essen und setzt dort die große Folkwang-Ballett-Tradition fort, doch bekommt sie keinerlei Subventionen und wird bislang auch eher von Insidern wahrgenommen. Jetzt hat sie an sechs aufeinanderfolgenden Abenden die Kultur des Reviers hervorragend in New York repräsentiert.

Im Rahmen des Festivals „Ruhr Works“ zeigte sie ihre Solo-Choreographie „Frau mit blauem Ball“ und das Drei-Frauen-Stück „Lied auf der Brücke“ vor stets gut gefülltem Haus – und das in der renommierten Brooklyn Academy Of Music, wo schon Caruso große Partien sang und in den letzten Jahren Inszenierungen etwa von Peter Stein und Ingmar Bergman gastierten.

Frau Brunel hat einen eigenständigen Tanztheater-Stil entwickelt, der sich durchaus neben denen ihrer bekannteren Kolleginnen Pina Bausch und Reinhild Hoffmann behaupten kann. Die Verbindung ungeheurer Konzentration und Disziplin bis in die kleinste Bewegung hinein mit fließend-lyrischen Ausdruckswerten ist frappierend. Hier mit gezielter öffentlicher Förderung einzusetzen, wäre sicherlich keine Fehlinvestition. New York hat den Beweis erbracht. Rund 2000 New Yorker, darunter viele „Meinungsführer“ der Kulturszene, haben es erlebt und mit wohlwollendem, wenn auch ortstypisch kurzem Beifall quittiert.

Ausstellungen über Velazquez, Picasso und Braque

Gegen welch überragende Konkurrenz „Ruhr Works“ (das denn seinen Sinn auch eher in Stetigkeit als im Auftrumpfen hat) hier in New York antritt, zeigen Besuche in den weltberühmten Museen der Stadt, die sich auch NRW-Kultusminister Hans Schwier auf seiner Informationsreise nicht entgehen ließ. Während das MetropolitanMuseum mit Velazquez prunkt, zeigt eine sehr sinnreich gehängte Ausstellung im Museum Of Modern Art erstmals in dieser Form Bezüge zwischen zwei „Vätern“ der Moderne, Picasso und Braque (bis 16. 1. 1990).

Für Europäer kaum zu glauben: Solche sündhaft teuren Ausstellungen werden hier nicht etwa durch Staatsgelder, sondern durch Beiträge von Stiftungen, Sponsoren und Mitgliedern der jeweiligen „Freundeskreise“ ermöglicht – eine Anregung für Minister Schwier, die Rolle von Kunst-Sponsoren auch in Nordrhein-Westfalen stärker ins Kalkül zu ziehen.

Die gefährliche Drogenszene in der Bronx

Der Minister bewegte sich in New York nicht nur auf kulturellem Parkett. Als für die Schulen zuständiges Kabinettsmitglied mußte Schwier sich auch über das in New York allgegenwärtige Drogenproblem unterrichten. In der Bronx, einem der katastrophalsten (und gefährlichsten) Stadtteile der Erde, ergab sich dazu erschütternde Gelegenheit. Unter diskretem Polizeischutz (erst am Wochenende war hier ein Polizist erschossen warden) besichtigte die Schwier-Delegation unter anderem das „Phoenix-House“, in dem ehemalige Drogenabhängige wieder an ein bewußtes Leben herangeführt werden sollen. Die harte Realität haben sie täglich vor Augen: Direkt gegenüber liegt eine Häuserzeile, in der unverhüllt mit der tödlichen Droge „Crack“ gehandelt wird. Anderwärts in der Bronx versucht man mit Schulprogrammen die Drogenflut einzudämmen. Auch kulturelle Angebote wie Theaterspielen und Musikmachen spielen hier eine zentrale Rolle.

Mit dem in Amerika vorherrschenden Ansatz, nur auf die Willenskraft der Betroffeneu zu setzen und nicht auch das gesellschaftliche Umfeld ins Visier zu setzen, konnte sich Minister Schwier allerdings nicht zufriedengeben, Fest steht für ihn jedenfalls: „Wenn wir nicht jetzt etwas tun, bekommen wir auch solche Probleme.“ Die Reise nach New York hat auch dafür den Blick geschärft.




Verlockungen des Ruhrgebiets sind Thema in New York – Festival „Ruhr Works“ mit Kultur aller Sparten

Aus New York berichtet
Bernd Berke

New York. Die Kultur des Ruhrgebiets „hat in New York erste Anker werfen können“! Das befand NRW-Kultusminister Hans Schwier, der sich gegenwärtig in der Metropole am Hudson River über Erfolg und Fortgang des Projekts „Ruhr Works“ informiert. Diese Festivalreihe der Essener „Kulturstiftung Ruhr“ hat seit September einem gewissen Teil der kulturversessenen New Yorker Szene „Aspekte des Reviers“ nähergetragen.

Für den meisten Gesprächsstoff haben dabei die Tanztheater, Gastspiele von Susanne Linke (Essen) und Reinhild Hoffmann (Bochum), gesorgt. Die ehrwürdige „New York Times“ berichtete allein neunmal über einzelne Veranstaltungen der Reihe, die noch bis Januar 1990 mit Gastspielen aus den Bereichen Musik, Tanztheater, Literatur. Film und Kunst andauern wird. In dem New Yorker Weltblatt war sogar der schöne Reim von „Allure of the Ruhr“ die Rede (Verlockung der Ruhr/Reiz der Ruhr).

Die Kulturstiftung Ruhr will es, wie hier bekannt wurde, „nicht bei dem Ankerwurf“ an der US-Ostküste belassen, sondem zu weiteren Ufern aufbrechen. 1991 soll ein ähnliches Festival in Sao Paulo starten, 1993 ist Tokyo an der Reihe. Minister Schwier zur WR: „Es ist sinnvoll, gerade in solchen Wirtschaftsmetropolen unsere Kultur zu zeigen.“ So soll es denn in New York auch schon erste Anfragen nach Investititionsmöglichkeiten im Revier gegeben haben – wohl nicht veranlaßt, aber vielleicht beflügelt durch die kulturellen Gastspiele.

Andererseits darf man auch nicht in verfrühten Jubel verfallen. Ehrlich gesagt droht die New Yorker Revier-Reihe, die auch einige programmliche Schwachpunkte hat, doch etwas im Gewimmel dieser Riesenstadt „unterzugehen“. 35 000 gedruckte Programm-Magazine von Ruhr Works können die Millionenbevölkerung wohl kaum überschwemmen. Die Stadt bietet einfach enorm viel – von den Rolling Stones, die soeben hier aufgetreten sind, bis hin zu den laufenden Ausstellungen über Velazquez, Picasso und Braque. Günstige Fügung allerdings: die Frage einer „deutschen Wieder-Vereinigung“ wird auch in New York heftig diskutiert. Das schafft unverhofftes Interesse für solche Belange, indirekt also auch für deutsche Kultur.

Immerhin kamen jetzt zum Beispiel rund 500 Vernissage-Gäste zur Eröffnung einer von vier Revierfotografen bestückten Ausstellung im derzeit führenden Künstlerviertel SoHo, das bis vor einiger Zeit verfallen war und nun plötzlich die meisten, besten und teuersten Galerien der gesamten Stadt beherbergt. In seiner explosiv-kreativen Atmosphäre entfernt an Berlin-Kreuzberg erinnernd, ist dieses quirlige Stadtquartier Schauplatz eines unablässigen „Gallery Hopping“, eines Lieblingssports der hiesigen Kunstszene, der einfach darin besteht, von Galarie zu Galerie zu laufen und „in“ zu sein. Mit dem, was sich allein in diesem Bezirk an Galerien ballt, kann zum Beispiel ganz Köln nicht konkurrieren.

Seltsam übrigens, nach über 6000 Kilometern Flug, hier fotografische Ansichten des Ruhrgebiets wiederzufinden – von Dortmund, Essen oder Bottrop. Noch seltsamer und schwer in Worte zu fassen: diese Aufnahmen lassen eine gewisse unterschwellige „Verwandtschaft“ zwischen dem Revier und New York erahnen. Als Bochums Ex-Theaterchef Claus Peymann vor Jahren sagte, das Revier sei New York, wisse es aber nicht, hatte er wohl nicht ganz Unrecht. Bestärkt wird dieses Gefühl noch durch einen Besuch in der Clocktower-Gallery, die ebenfalls Revierfotos zeigt und außerdem mit einem fast konkurrenzlosen Dachterrassen-Rundblick auf Manhattans Skyline lockt.

Beim New Yorker Goethe-Institut, das Ruhrworks mitorganisiert, zeigt man sich übrigens mit dem bisherigen Verlauf der Revierreihe zufrieden. Es gebe, so Institutsleiter Jürgen Uwe Ohlau, in der Bunderepublik nur ganz wenige Regionen, deren kulturelle Substanz für solche Projekte ausreiche. Das Ruhrgebiet gehöre auf jeden Fall dazu.




Wo die Gewalt ihre Spuren zieht – Reinhild Hoffmann mit „Von einem, der auszog… / Horatier“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Quer über die gänzlich graue Bühne ist Draht gespannt. Wenn die Tänzerin Reinhild Hoffmann ihn mit den Füßen berührt, wird er zum bedrohlich schnarrenden „Saiteninstrument“.

Diese Töne sind fast die einzige Musik zum Bochumer Tanztheater-Abend „Von einem, der auszog…/Horatier“, den Reinhild Hoffmann als Choreographin und Tänzerin solo bestreitet. Sprachrhythmen („deutsche Urworte“, durchkreuzt von US-Sprachpartikeln) setzen einen weiteren, quasi-„musikalischen“ Akzent.

Die Grenzen zur Performance (Körper als „lebendes Kunstwerk“) werden von Reinhild Hoffmann oft überschritten. Überhaupt könnte man sich dem Auftritt mit Begriffen von Mischformen darstellender und bildender Kunst nähern – von „Spuren-Suche“ könnte man sprechen, zuweilen auch von „privater Mythologie“.

Textgrundlagen sind im wesentlichen das Grimmsche Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ sowie Heiner Müllers Text „Der Horatier“. Solch kühne Verknüpfung muß wohl auf verschlungenen Assoziationswegen zustande gekommen sein; sie verlangt jedenfalls nach Cäsur, sprich Theaterpause.

In dem Geisterbahn-Märchen geht es letztlich um die innige Verwandtschaft von Dummheit und abgestumpfter Angstlosigkeit. Ein junger Spund mordet sich munter durch, bis er die Prinzessin erringt; über Leichen lacht er nur, statt sich zu gruseln. Heiner Müllers Horatier-Text beschreibt – am antiken Beispiel – eine unauflösbare Verquickung von (Kriegs)-Ruhm und Schuld. Kleinster gemeinsamer Nenner und Verbindungspunkt beider Texte ist wohl der dümmlich-gewaltbereite Marsch in Krieg und Gemetzel.

Und so beginnt denn auch der Abend: Reinhild Hoffmann, maskiert als bärtiger, scheinbar gemütlicher Greis. Doch da ist sein Brustpanzer, sein martialisches Stampfen. Der Panzer platzt ab, darunter kommt – historisch eingrenzender Aha-Effekt – ein Volksempfänger zum Vorschein. Kurz darauf steht Reinhild Hoffmann maskenlos und in aschgrauer Gefangenen-Montur vor uns. In einer atemberaubenden Folge sozusagen „gepanzerter“ Bewegungen – hastiges Kreuzzeichen, zackige Wehr-Ertüchtigung, aufschießender „Meldefinger“ eines Schulkinds – stellt sie Stühle auf, räumt sie an eine Art Konferenztisch, verkleidet sich plötzlich als Weihnachtsmann, der wiederum zum Messerwerfer wird und auf den Umriß einer Menschenfigur auf dem Tisch zielt. Abermals eine Alptraum-Metamorphose zur Gewalt, die sich hinter jeder Maskerade zu verbergen und überall ihre rituellen Spuren zu ziehen scheint.

Rätselhaft-schöne Traumszene: Aus Papierlagen, die auf ein Metallbett geschichtet sind, entsteht wie durch Zauber ein Prinzessinnen-Kleid. Schließlich barbusig, nimmt die Hoffmann eines der Messer und schneidet Brot – ein Friedens-Bild? Der Teil nach der Pause, viel näher am Text, ist deutlich schwächer, tendiert zur Illustration, die kaum über die Wirkung von Heiner Müllers Worten hinausgreift. Theater wie „aus der Wundertüte“: Nach und nach schlitzt Reinhild Hoffmann fünf Säcke auf – einzig spannende Frage jeweils: Was ist diesmal drin? Sie kippt den Inhalt (Erde, blutverwaschene deutsche Fahne, Schwerter, Haarnadeln) aus. Ratlosigkeit und Beifall hielten sich im Premieren-Publikum die Waage.




Erinnerungs-Fahrten durch Tod und Traum – Reinhild Hoffmanns Tanztheaterstück „Verreist“

Von Bernd Berke

Bochum. Eisblöcke überall: In derSchultüte (statt Süßigkeiten); hoch aufgetürmt als Trennwand absoluter Kälte zwischen Mann und Frau; aber auch als kofferförmiges Reisegepäck und als „Schlitten“, auf denen man lustvoll die abgeschrägte Bühne hinuntersausen kann. Eisblöcke für Spiel und Schrecken.

„Verreist“ heißt Reinhild Hoffmanns Tanztheaterproduktion, 1986 in Bremen gezeigt und am Samstag (unter brausendem Premierenbeifall) erstmals in neuer Bochumer Fassung zu besichtigen. Statt „Verreist“ (sprich: unterwegs) könnte der Abend auch wortspielerisch in „Vereist“ (sprich: gefroren) umgetauft werden. Es friert nicht nur Wasser zu Eis, sondern auch Bewegung zur Starre. So werden in einer der wenigen Szenen, die sich direkt auf die touristische Form des Reisens beziehen, die Gesten einer Schar von Strandbesuchern immer wieder angehalten und als todesstarre Imponier-Posen „ausgestellt“.

Reisen aber ist hier mehr als bloßer Ortswechsel, es ist Spurensuche und Erinnerungs-Reise, in deren Verlauf Biographie-Splitter konfettibunt aufgewirbelt werden (Ziel: Kindheit), die Reise in den Schlaf (Ziel: Traum) und überhaupt die Lebensreise (Ziel: Tod).

Bühnen-Ort solcher Aufbrüche in die Fremde ist ein von Johannes Schütz entworfener, in Richtung der Zuschauer schräg abfallender Raum mit riesigen Tapeten und überdimensionalem Fensterkreuz. Darin sind die Akteure wie Kinder in einer zu groß geratenen Welt. Aus dieser Perspektive ergeben sich helle, fast „sprühende“ Darstellungs-Bilder. So vieles geschieht gleichzeitig und durcheinander, wie im fröhlichen Tohuwabohu eines Kindergeburtstags. Die Reise führt dabei gleichsam auch durch eine, freilich surrealistisch ausgeleuchtete „Sesamstraße“: Ein zotteliger Eisbär tappt niedlich über die Bühne (wird dann aber – desto unbegreiflicher – erschossen), ein toter Fisch bekommt eine Narrenkappe aufgesetzt.

Die spielerische Unmittelbarkeit wird auch sonst häufig gebrochen. „Vorboten“ der Unwirklichkeit sind Requisiten wie die erwähnten Eisblöcke, Spiegelscherben und Glasscheiben. Die Häufung von Todes-Zeichen ist unübersehbar: Eine Art Fährmann. mit seiner Rabenmaske (wie aus Zeiten der Pest) gewiß dem Reich des Nichtmehr-Seins zugehörig, ist „Reiseleiter“. Rituale mit Kerzen, Kreuzen, Kränzen und Asche sowie Kreuzigungs-Szenen sind Stationen der Fahrt.

Aber es ist keine „Schwarze Messe“, denn zwisehen derlei Düsternis blühen immer wieder helle Szenen auf, die von – wenngleich mühsam errungener – Lust und Befreiung erzählen. So auch ganz am Schluß, wenn Julie Shanahan mit knallroten, hochhackigen Schuhen auf einen Eisblock tritt, den kalten Würfel immer mehr zerkleinernd. In einer verzweifelten Mischung aus Trotz und Triumph ruft sie ins Publikum: „Ich tanze! Ich tanze!“

Zu elektronischen Klang-Collagen (Christina Kubisch) und einem breiten Musik-Spektrum (u. a.: Ligeti, Rossini, Mahler, Tanzmusik, Italo-Schnulze „Santa Lucia“) bewegt sich Reinhild Hoffmanns fabelhaftes Ensemble auf einern Grat zwischen Tanztheater und meist wortlosem Spiel. Tanz ist Ziel-, nicht Ausgangspunkt. Die Reise dorthin hat viele fesselnde Momente.

Kleiner Einwand: An einigen Stellen wird es doch ein wenig zu geschmäcklerisch. Da scheinen, bis hin zur Abstimmung der Farben, einzelne Szenen im Sinne bloßer Selbstzweck-Ästhetik entworfen zu sein – und nicht im Zeichen von Dringlichkeit.




Essen: Studienzentrum für Bühnenberufe geplant – Konzept von Prof. August Everding

Von Bernd Berke

Essen. Die Folkwang-Musikhochschule in Essen soll zu einern bundesweit beachteten Zentrum für Darstellende Kunst, Bühnenbild und Dramaturgie ausgebaut werden. Kein Geringerer als Prof. August Everding, der umtriebige Generalintendant der Bayerischen Staatstheater, wurde von der NRW-Landesregierung zum „Geburtshelfer“ des ehrgeizigen Projekts auserkoren.

Gestern legte Everding in Essen ein 46-seitiges Gutachten vor. Danach soll ein entsprechend erweitertes Institut in enger Kooperation mit Revier-Bühnen (vor allem Essen und Bochum) arbeiten und bislang verstreute Ausbildungsangebote des Theatersektors bündeln. Ein besonderer Schwerpunkt, so schwebt es Everding vor, soll dabei die Ausbildung von Musical-Darstellern werden. Diese Sparte sei bislang eher ein Stiefkind der bundesdeutschen Theaterlandschaft und damit auch der Ausbildung. Es sei sicherlich kein Zufall, daß gegenwärtig rund 60 Prozent der Musical-Mitwirkenden aus dem Ausland kommen.

Für sein Gutachten nahm Everding den derzeitigen Zustand der Musikhochschule, die ihr Domizil im idyllischen Essener Stadtteil Werden hat, unter die Lupe. Everding („Das Revier ist ein hervorragender Standort für eine solche Einrichtung“) befand, daß einige zusätzliche Ausbildungszweige eingerichtet werden müßten (Kostüm, Maske, Bühnentechnik, Bühnenverwaltung); andere Tätigkeitsfelder müßten nur mehr Gewicht bekommen (Dramaturgie, Musical). Er plädiert für eine umfassende Ausbildung im Sinne des „Gesamtkunstwerks“ Theater. Hochqualifizierte Absolventen eines solchen Studiengangs seien übrigens, so Everding, nicht nur bei Theatern, sondern auch beim WDR und vielleicht auch beim Privatfernsehen gefragt.

Nach Everdings Vorstellungen soll allerdings nur eine „Elite“ in den Genuß der allseitigen Theaterausbildung kommen. Für den Studienschwerpunkt „Bühnenbild“ dürfe man beispielsweise maximal sechs Studenten aufnehmen, denn: „Überproduktion wollen wir nicht.“ Und: Die Lehrenden sollen sich gar nicht erst auf unverrückbaren Professorenstühlen einrichten. Everdings Konzept sieht für sie vor allem Zeitverträge und Gastdozenturen vor. Man habe zwar die „beste Theaterlandschaft der Welt“, doch mit der Ausbildung des Nachwuchses liege vieles im argen, sie sei zu theoretisch orientiert. Daher sei auch eine „Ausbildung der Ausbilder“ nötig. Everding: „Der geniale Regisseur oder Sänger muß nicht unbedingt ein guter Vermittler sein“. Eine Folge der jetzigen Misere sieht Everding darin, daß sich in Sachen Theaterausbildung zahlreiche dubiose Privatschulen andienen.

Möglichst frühe und regelmäßige „Praxisnähe“ soll für die künftigen Essener Studenten also das „A und O“ sein: Wenn im August 1988 die neue Oper (Aalto-Bau) in Essen eröffnet, soll den Folkwang-Studenten ein Opernstudio zur Erprobung des Gelernten zur Verfügung stehen. Wünschenswert sei auch eine hochschuleigene Probebühne. All dies könne man relativ kostengünstig in die Tat umsetzen. Beim Thema Finanzen war NRW-Wissenschaftsministerin Anke Brunn gefragt, die gestern Everdings Thesenpapier in Empfang nahm und mit Lobeshymnen auf die Kultur im Ruhrgebiet nicht geizte. Frau Brunn stellte Grundsatz-Entscheidungen bis Mitte dieses Jahres in Aussicht, so daß man Vermutlich 1988 die ersten Schritte einleiten könne. Von Everdings Konzept zeigte sie sich angetan.




Ganz im Dienst von Brecht – Hansgünther Heyme inszeniert die „Dreigroschenoper“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Krach mitden Brecht-Erben bekam Hansgünther Heyme vor rund elf Jahren, als er die „Dreigroschenoper“ (die bekanntlich den Räuber als Bürger zeigt und den Umkehrschluß nahelegt) zum Fallbeilspiel für den Aufstieg des Nationalsozialismus ummünzen wollte. Solche Konflikte stehen jetzt bestimmt nicht ins Haus. Heymes Essener Inszenierung fällt gerade durch Unauffälligkeit des Zugriffs auf, es ist eine „dienende Einrichtung“, ohne krampfhafte Deutungshuberei und ohne Zeitgeistereien wie bei Jürgen Flimm, der das Stück 1983 in die fünfziger Jahre verlegte.

„Seinem“ Bert Brecht nimmt Heyme eben doch mehr ab als Schiller, welchem er mit Vorliebe „nachhilft“. Dabei enthält die „Dreigroschenoper“ aus heutiger Sicht fast ebenso geflügelte Worte (vom Fressen, das vor der Moral kommt bis hin zu den Verhältnissen, die nicht „so“ sind) wie etwa der „Tell“. Die „Dreigroschenoper“ ist in erhebliche historische Distanz gerückt. Heymes lnszenierung, die ihrer Vorlage offenkundig vertraut und in dieser Art schon vor Jahr und Tag denkbar gewesen wäre, stellt diesen Abstand kaum dar.

Mit einem durchschnittlichen Ensemble würde solche Behutsamkeit vielleicht Langeweile auslösen. Doch in Essen agieren die meisten Schauspieler exzellent, woran natürlich auch Heymes Figurenführung ihren Anteil hat. Wolfgang Robert als Bettlerkönig „Peachum“, das Elend und seine Bedingungen vorführend wie ein Zirkusdirektor, aber immer wieder gezielt aus seiner Rolle fallend und sie brechtisch „vorzeigend“ – das ist eine Spitzenleistung. Gleichfalls sehenswert: Franz Boehm als „Macheath“, eine Mischung aus Kraftmaxe und Gigolo mit jenem leicht blasierten Zug ins „Höhere“, sowie Volker K. Bauer als Polizeichef „Tiger-Brown“, eine umwerfende Kugelbauch-Karikatur der (Ohn)macht.

Auch sonst gibt es keine nenneswerten Schwachstelle im Ensemble. Bedernswert, was Peter Kaghanovitch („Münz-Matthias“) oder Inge Andersen (Lucy) noch aus ihren Nebenrollen machen. Mit Kurt Weills Musik (Einrichtung: Alfons Nowacki) gibt es ebenfalls keine Instrumentierungs- unxl Stilexperimente, sie bewegt sich im Rahmen des Tradierten und Erwartbaren. Einige Songs („Pollys“ Lied der Seeräuberjenny) kommen nicht recht über die Rampe, andere („Kanonensong“) zählen zu den Höhepunkten der Aufführung.

Im Bühnenbild (großflächige Verhängungen mit armutsgrauem Tuch oder Showflitter-Folie) prangt ein Gestell, das mittels Leuchtröhren Bert Brechts-Gesicht samt Zigarre stilisiert, als blicke der Meister wohlgefällig auf die Inszenierung. Eine weitere Funktion hat dieser monströse Aufbau wohl nicht.

Als Schlußchoral hat Heyme erwartungsgemäß die Fassung von 1948 gewählt, in der pathetisch zum Sturm gegen die großen Räuber, sprich Kapitalisten, aufgerufen wird. Wenn die graue Masse der Bettler, über die man zuvor buchstäblich hinweggeschritten ist, sich erhebt und diesen Choral anstimmt, klingt das viel zu emphatisch, siegesgewiß und bruchlos.

Verdient war der frenetische Beifall, in dem ein paar kraftvolle Buhs für den Regisseur Heyme untergingen.




Stocksteife „Mahagonny“-Oper: Holzfäller erscheinen im Frack

Von Bernd Berke

Duisburg. Wer „seinen“ Brecht in- und auswendig zu kennen glaubte, bekam ihn jetzt wieder einmal überraschend anders gewendet.

Was vorgestern in der Duisburger Mercatorhalle und gestern im Festspielhaus Recklinghausen als „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ firmierte, war, was die Stimmlage der Gesangsdarbietungen angeht, eine eher konventionelle Oper. Als „Oper“, die freilich die Gattungsgrenzen gesellschaftskritisch hätte sprengen sollen, hatten Bert Brecht und Kurt Weill „Mahagonny“ in der Tat gedacht.

Beteiligt waren das Kölner Rundfunkorchester (Leitung: Jan Latham-König), das Vokalensembles der Staatlichen Musikhochschule Köln, ein Sprecher und acht Gesangssolisten, darunter die besonders als Wagner-Interpretin bekannt gewordene Anja Silja als Hure „Jenny“. Harald Banter produzierte im Rahmen des Rheinischen Musikfests ’85 für den WDR, Regle führte Adolf Dresen. Übermenschliche Regieanstrengungen waren freilich kaum vonnöten, handelte es sich doch um eine konzertante Aufführung ohne Bühnenbild und gespielte Handlung.

Musikalisch war das zweifellos aller Ehren wert und selbst für orthodoxe Brecht-Enthusiasten zumindest interessant, weil so ganz anders als in der Song-Tradition umgesetzt. Die Geschichte mit den Holzfällern aus Alaska, die in der Stadt Mahagonny ein himmlisch-höllisches Genußparadies vorfinden (einzige Todsünde ist es dort, kein Geld zu haben, sonst ist „alles erlaubt“), von zwangsläufig stocksteifen Akteuren in Fräcken vortragen zu lassen, wirkt aber doch reichlich seltsam. Im Vordergrund standen ganz eindeutig die schönen Klänge, kaum einmal ein distanziertes „Vorzeigen“ des Textes im Sinne Brechts.

Ohne szenische Elemente wirkte die Aufführung über lange Strecken blutarm und „ausgedünnt“. Hier eine hilflos unterstreichende Geste der Solisten, dort ein paar aufgesetzte Gags (heftige Betätigung einer Windmaschine, horrender Pistolenknall) sowie Diaprojektionen können das fehlende Drumherum lediglich vage herbeizitieren.

Am Sonntag, 9. Juni, strahlt der WDR die Produktion von 20.15 bis 23 Uhr in seinem 3. Hörfunkprogramm aus.




„Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ – weit mehr als eine Besessenheit

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Ein ehrgeiziges Projekt macht Station in der Landeshauptstadt: „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“, bisher lediglich in Zürich und dann nur noch in Wien zu sehen, dokumentiert ab heute in der Düsseldorfer Kunsthalle eine „Besessenheit“ europäischer Künstler in den letzten 150 Jahren: „Aufs Ganze“ zu gehen, alles zugleich ausdrücken zu wollen, universelle Utopien zu entwerfen, sämtliche Kunstformen (Dichtung, Musik, Malerei, Theater, Film, Architektur usw.) zu verschmelzen und damit in alle Bereiche des Gemeinwesens hineinzuwirken.

Der Ausstellungsmacher Harald Szeemann faßt den ohnehin kaum definierbaren Begriff des Gesamtkunstwerks (Urheber: Richard Wagner) weit: Goethes humanistisches Bildungsideal zeugt danach ebenso vom Hang zur Totale wie etwa die Anfänge des „Bauhauses“ (bevor es zur Stil-„Schule“ wurde), JosephBeuys‘ Arbeiten ebenso wie die eines Philipp Otto Runge, der das Einssein des Künstlers mit dem Universum ersehnte (Außerdem u.a.: Duchamp, d’Annunzio, C.D. Friedrich, Lissitzky, Schlemmer).

Merkwürdig genug: Der unübersehbare „Hang“ entstand, als die Künstler aus dem Mäzenatentum der Kirchen und des Hochadels „entlassen“ und ihrer Individualität überantwortet wurden. Seit dem Verlust eines einheitlichen Weltbilds also ist die Vorstellung von Gesamtkunst lebendig, sie wird somit zu einem Rettungsversuch.

„Einladung zur Meditation über die totale Freiheit“

Harry Szeemann, der dem Besucher „eine Einladung zur Meditation über die totale Freiheit“ anbieten möchte, trug eine Fülle von Beispielen für Kunst mit Totalanspruch zusammen: Zu Richard Wagner (der der Verwirklichung eines Gesamtkunstwerks immerhin nahekam), finden sich monumentale Entwürfe für Bühnenbilder und für das Bayreuther Festspielhaus. Wahlverwandt: Filmregisseur Syberberg, z. B. mit Modellen zu seinem „Hitler“-Film.

Von Robert Wilson, Großmeister des sprachlosen Theaters, sieht man Skizzen für eine Multimedia-Oper, die er in Los Angeles (Olympia ’84) ins Werk setzen will. Der Anthroposoph Rudolf Steiner ist u. a. mit Architektur-Entwürfen vertreten, Joseph Beuys mit 21 angebohrten Basaltblöcken (Titel: „Das Ende des 20. Jahrhunderts“). Walter Gropius entwarf für Erwin Piscator ein „Total-Theater“, Wladimir Tatlin für die junge Sowjetmacht einen schneckenförmig gedrehten Turm als „Monument für die III. Internationale“. Beide Projekte verblieben im Stadium der „Kopfgeburt“, wie vieles in dieser Ausstellung. Um die Entwürfe dennoch dreidimensional vor Augen zu führen, hat man eigens Modelle nach den Vorlagen gefertigt. Manches ist bereits in der Verkleinerung so monströs, erhebt einen so gebieterisch-totalitären Anspruch, daß man für die Nicht-Verwirklichung dankbar sein muß.

Anderes, so der rekonstruierte „Merzbau mit der Kathedrale erotischen Elends“ (das Original wurde 1943 im Bombenhagel zerstört), wirkt eher andächtig als aggressiv. Die Ausstellung verlangt Vorkenntnisse und ist ohne Zusatzinformationen kaum sinnvoll zu bewältigen. Da sie einen wesentlichen Aspekt der europäischen Moderne vergegenwätigt, lohnt sich der Weg an den Rhein aber unbedingt.

„Der Hang zum Gesamtkunstwerk“. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz: bis 10. Jli, di-so 10-18 Uhr, Katalog 45 DM