Mit Leib und Seele der Oper verschrieben: Früherer Aalto-Intendant Stefan Soltesz gestorben

Stefan Soltesz in seiner Essener Zeit. (Foto: Matthias Jung)

Gestern spät abends drangen die ersten Kurzmeldungen durch die sozialen Netzwerke: Stefan Soltesz ist tot. Der frühere Essener Intendant und Generalmusikdirektor brach während seines Dirigats von Richard Strauss‘ „Die schweigsame Frau“ an der Bayerischen Staatsoper München zusammen und verstarb kurze Zeit später im Krankenhaus. Er wurde 73 Jahre alt.

Ein Augenzeuge berichtet: Gegen Ende des ersten Akts, gerade als die turbulente Probe der Operntruppe im Hause von Sir Morosus in vollem Gange ist und der alte Kapitän mit dem Speerschaft Wotans auf den Boden geklopft hat, ist ein dumpfer Knall zu hören. Einen Augenblick später „entsteht großer Trubel: einige Leute stehen auf, gestikulieren, schreien wild. Wir schauen vergnügt weiter, denn es ist ja eine lustige Oper und wir dachten, das gehöre dazu.“ Doch dann erklingen Rufe nach einem Arzt, der Vorhang fällt und der Abenddienst tritt vor den Vorhang und bittet das Publikum, vorzeitig in die Pause zu gehen.

Nach einer ungewöhnlich langen Zeit werden die Zuschauer wieder in den Saal gerufen und erfahren, dass die Vorstellung beendet werden muss. Zunächst denkt man im Publikum an einen Hitzschlag, doch dann verbreitet sich rasch die schreckliche Nachricht. Die Bayerische Staatsoper gibt auf ihrer Webseite „mit Entsetzen und großer Trauer“ den Tod von Stefan Soltesz bekannt. „Wir verlieren einen begnadeten Dirigenten. Ich verliere einen guten Freund“, twittert Staatsopernintendant Serge Dorny.

Stefan Soltesz prägte das Essener Musikleben als Generalmusikdirektor der Philharmoniker und Intendant des Aalto-Musiktheaters ab 1997. Seinen nicht ungetrübten Abschied aus Essen nahm er im Juli 2013 mit „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss, eines seiner Lieblingskomponisten, für dessen Werke er als Spezialist galt. Geplante spätere Gastdirigate hat Soltesz abgesagt, nachdem die Stadt Essen es nicht geschafft hatte, den langjährigen erfolgreichen Motivator des Essener Musikkultur angemessen zu verabschieden. „Ich habe es geliebt, hier zu arbeiten“, sagte der scheidende Chef damals, und die WAZ zitierte seine Worte bei der Abschiedsfeier im Aalto-Theater: „Ich habe die 16 Jahre in Essen mit großer Begeisterung erlebt. Es war der wichtigste und schönste Lebensabschnitt. Behalten Sie mich in guter Erinnerung.“

Soltesz war ein Prinzipal alter Schule und als Dirigent den großen Namen verpflichtet: Mozart, Strauss, Wagner. Kompromisse, vor allem in künstlerischer Hinsicht, waren seine Sache nicht. So liebenswürdig er mit seinem Wiener Charme spielen konnte: Wenn es um die Musik ging, war er unerbittlich. Orchestermitglieder können davon erzählen, von seinen Sottisen, von seiner fordernden Detailarbeit, von dem Gefühl dauernder Hochspannung und des Spielens „auf der Stuhlkante“: Aber auch von seiner unbedingten Solidarität, seinem unbändigen Einsatzwillen – und vor allem seinem Charisma, seiner magischen Hand, mit der er die Musik in wundersamer Vollendung hervorlocken konnte.

Natürlich trat er in Essen 1997 mit „Arabella“ von Richard Strauss an – jener umstrittenen, oft gering geschätzten Oper von 1933, die jetzt wieder auf dem Spielplan des Aalto-Theaters steht und von Tomáš Netopil überzeugend, aber anders dirigiert wird. Strauss sollte den Essener Spielplan in den kommenden Jahren prägen: 1998 folgte „Die Frau ohne Schatten“, die in der Inszenierung von Fred Berndt bis 2013 im Repertoire bliebt. Es folgte die Rarität „Daphne“ (1999), dann „Elektra“ (2000), „Ariadne auf Naxos“ (2002) und „Die ägyptische Helena“ (2003). „Salome“ schloss 2004 diesen Strauss-Zyklus vorläufig ab. An die frühen Werke oder an ein kleines Juwel wie „Intermezzo“ wollte der Pragmatiker nicht denken, obwohl er schon in den neunziger Jahren Strauss‘ „Friedenstag“ in einer Inszenierung von Peter Konwitschny an der Semperoper Dresden dirigiert hat.

Stefan Soltesz war mit Leib und Seele ein Mann der Oper. Schon der Anfang seiner Karriere, 1971 am Theater an der Wien und im folgenden Jahrzehnt an der Wiener Staatsoper und der Oper Graz, war vom Musiktheater geprägt. In Salzburg assistierte er Größen wie Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan. Auch an seine nächsten Stationen in Hamburg und Berlin, in Braunschweig als GMD und in Antwerpen/Gent als Chefdirigent dominierte die Oper. Was nicht heißt, dass Soltesz nicht auch faszinierende, berührende, hochgespannte Konzertabende  dirigierte. Nicht umsonst wurden die Essener Philharmoniker unter seiner Ägide 2003 und 2008 zum „Orchester des Jahres“ gekürt.

Aber man spürte: Das Herz des gebürtigen Ungarn, der im Alter von sieben Jahren 1956 zu den Wiener Sängerknaben gekommen war, schlug im Musiktheater. Kennengelernt habe ich ihn 1991, als er in Berlin in John Dews durchdachter Inszenierung von Giacomo Meyerbeers „Les Huguenots“ den Taktstock schwang und demonstrierte, wie subtil Meyerbeer die dramatischen Situationen erfasst. Mit Meyerbeer erlebte ich Stefan Soltesz auch eines der letzten Male, 2019 an der Semperoper, wo er wiederum trotz fragwürdiger Kürzungen auf Wunsch von Regisseur Peter Konwitschny die „Hugenotten“ mit kundigem Blick durchdrang: „Soltesz dirigiert mit Gefühl für Farben und dramatische Entwicklungen“, schrieb ich damals.

Aber auch an seinem Stammhaus Essen ist an unvergessliche Aufführungen zu erinnern. Jeder wird da seine eigene Rangfolge entwickeln. Gelegenheit, den Dirigenten Stefan Soltesz zu erleben, gab es mannigfach. Er war ja omnipräsent, übernahm viele Premieren selbst, ersetzte seine eigenen Kapellmeister oder ausgefallene Gastdirigenten. „Soltesz ist ein Chef, der auch für sich selbst einspringt“, meinte ein Kollege einmal scherzhaft. Diese Präsenz ist heute leider unüblich geworden, sichert aber Vertrauen, Verlässlichkeit und gibt einem Haus und einem Orchester eine unverwechselbare Prägung.

Für mich eines der prägendsten Erlebnisse mit Soltesz war – neben seinen immer wieder mitreißenden Strauss-Abenden – seine Arbeit an Vincenzo Bellinis „I Puritani“. Die Sorgfalt, mit der er diese zunächst so „einfach“ erscheinende Partitur einstudierte, der Blick für den großen Bogen, die atmende Phrasierung, die Gliederung der Melodie, die Liebe zum instrumentalen Detail, brachten die Qualitäten Bellinis ans Licht des Tages und ließen den angeblich so simplen Belcanto in einem neuen Licht erscheinen. Eine Meisterleistung der Dirigierkunst.

Müßig aufzuzählen, wo der unermüdliche Dirigent als Gast anzutreffen war. Ob Hamburg oder Wien, München oder Berlin, Budapest oder Frankfurt, Rom, Paris, Zürich oder Buenos Aires. Sein Name tauchte immer wieder auf – auch an der Komischen Oper Berlin, wo er zuletzt in Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ sein Faible für die Spätromantik des 20. Jahrhunderts ausspielen konnte und mit Paul Abrahams „Viktoria und ihr Husar“ einen hinreißenden Operettenabend bescherte.

Stefan Soltesz wird fehlen, aber die Erinnerung an ihn lebt in der Seele all jener weiter, die er mit Musik beglückt hat, und sie werden ihm im Herzen die Kränze flechten, die die flüchtige Zeit nicht nur dem Mimen, sondern auch den Musikern gern vorenthält.




Die hohe Kunst der Heuchelei: Das Opernstudio NRW zeigt seine Abschlussarbeit in Gelsenkirchen

Der Wundertheaterdirektor (Christopher Hochstuhl) und seine Gefährtin (Rina Hirayama). (Foto: Sascha Kreklau / Musiktheater im Revier)

Die Komponistenfreundschaft zwischen Karl Amadeus Hartmann und Hans Werner Henze verband zwei ungleiche Charaktere. Hartmann, gebürtiger Münchner, war bodenständig und familienbezogen, gewann aus seiner gesellschaftlichen Position Sicherheit im Auftreten. Henze, früh auf der Flucht aus dem westfälischen und kleinbürgerlichen Milieu, fühlte sich eher als Außenseiter, versteckte sich gerne hinter Luxus und Masken.

Wie gut beide trotzdem harmonieren können, zeigt die Abschlussproduktion des Opernstudios NRW, die auf der kleinen Bühne des Musiktheaters Gelsenkirchen Premiere hatte. Unterstützt durch Gäste, verbinden die acht Mitglieder des aktuellen Jahrgangs Henzes Kurzoper „Das Wundertheater“ mit Hartmanns fünfteiligem „Wachsfigurenkabinett“, das erst durch Henzes Ergänzungen vollständige Form annahm.

Hinter der vermeintlich kleinen Produktion verbirgt sich ein großer Aufwand. Es braucht ein äußerst variables Bühnenbild, minutiöse Arbeit mit dem Orchester und jede Menge Kostüme, um die Miniaturen zur Bühnenreife zu bringen. Obwohl Dirigent Gregor Rot kurzfristig einspringen musste und die Probenarbeit durch Corona-Ausfälle immer wieder torpediert wurde, ist das Ergebnis erstaunlich gelungen. Das junge Gesangsensemble findet einen sorgsam präparierten Boden vor, auf dem es seine Stärken ausspielen kann.

Der ukrainische Bassist Yevhen Rakhmanin als Gobernadór. (Foto: Sascha Kreklau / Musiktheater im Revier)

In der turbulenten, aber nie nervig überdrehten Regie der Budapesterin Zsófia Geréb zeigen die Sängerinnen und Sänger hingebungsvolle Lust an der Farce. Die Kunst, sich selbst und andere zu belügen, feiert dabei fröhliche Urständ: zunächst in Henzes „Wundertheater“, das angeblich nur von jenen Zuschauern gesehen werden kann, die in einer rechtmäßigen und christlichen Ehe gezeugt wurden.

Im Bühnenbild von Ivan Ivanov, einer doppelseitigen Showtreppe mit mittig eingebautem Theatervorhang, wird bald geheuchelt, dass sich die Balken biegen. Die Rokoko-Kostüme (ebenfalls von Ivanov) unterstreichen die aufgeblasene Moral der Figuren. Auch das Orchester setzt Ausrufungszeichen: Paukenschläge, Trompeten-Signale und affektiert gedrechselte Instrumentalsoli machen die Ironie des Spiels zum Vergnügen. Die Neue Philharmonie Westfalen ist unter Gregor Rots Dirigat herrlich punktgenau.

In Hartmanns „Wachsfigurenkabinett“ setzt sich dieser Esprit fort. Wanderprediger, Trunkenbolde, eine allzu rasch trostbereite Witwe und amerikanische Idole wie Charlie Chaplin und Henry Ford paradieren vorbei. Mögen Orte und Szenen auch gleitend wechseln, der Opportunismus, der hier satirisch aufgespießt wird, bleibt eine Konstante. Für die guten Gesangsleistungen seien einige exemplarisch genannt: der elegante und doch kraftvolle Bariton des Ukrainers Oleh Lebedyev, der durchschlagskräftige Sopran der Südkoreanerin Heejin Kim und der lyrische Tenor des Amerikaners Christopher Hochstuhl.

In einem Bogen führt die Regie den Ausgang des Spiels zum Anfang zurück. „Jetzt schnell ein Liebesduett und dann ins Bett“, hatte Hartmanns „Witwe von Ephesus“ kurz zuvor noch gewitzelt. Dass das nicht so platt ankommt, wie es beim Lesen klingt, sagt einiges über den fein gemachten Abend.




Größe und Grenzen: Oper über Kardinal Galen und seinen Widerstand im Dritten Reich in Münster uraufgeführt

Andreas Beckers Bühne für „Galen“ am Theater Münster macht Bedrohung und Zerstörung in der Symbolik des Raumes erfahrbar. (Foto: Oliver Berg)

Nur ein Name steht da: Galen. Kein Titel, keine Beschreibung. Wäre „Der Löwe von Münster“ nicht ein viel attraktiverer Titel gewesen? Aber der Schriftsteller Stefan Moster und der Komponist Thorsten Schmid-Kapfenburg nannten ihre Oper einfach nur „Galen“.

Der Bischof von Münster, entschiedener Gegner der Nazis und ihrer Ideologie, berühmt geworden durch seine Predigten gegen die Euthanasie, sollte als Mensch auf der Bühne auftauchen, nicht als Amtsträger, nicht als Subjekt der Verehrung. Am Theater Münster wurde die Oper uraufgeführt; nach über drei Stunden, die wie im Flug vergehen, bleibt das Auditorium lange Sekunden still, bis der Beifall einsetzt.

Golo Berg, Generalmusikdirektor in Münster und einer der Ideengeber für die Oper, fasst im Interview zusammen, worum es geht: Die Geschichte Clemens August Graf von Galens ist ein lokales Thema, das dennoch große Zusammenhänge herstellt und Konflikte anspricht. Galen musste, allein auf sich und auf seinen Glauben gestellt, zwischen Grundsätzen entscheiden, von denen er jeden für absolut verbindlich hielt. Sich entscheiden zu müssen, unter Umständen persönliche Freiheit und Leben zu riskieren, Ambivalenzen auszuhalten, schmerzlich eigene Grenzen zu spüren: Diese Erfahrung, die der Bischof von Münster in einer extremen historischen Situation machen musste, ist zu allen Zeiten eine existenzielle Herausforderung.

Gegenwart und Vergangenheit begegnen sich: Kathrin Filip als junge Frau von heute und Gregor Dalal als Bischof Galen. (Foto: Oliver Berg)

Dass Galen aktuell geblieben ist, zeigten die Debatten um seine Seligsprechung 2005. Seine „Ecken und Kanten“ werden in der Oper klar thematisiert: Sein striktes national-konservatives Weltbild, geprägt von seiner uradligen Herkunft. Seine Kriegsbegeisterung, als es gegen die gottlosen Bolschewiken ging. Seine unselige, damals theologisch kaum bestrittene Überzeugung, der von Gott eingesetzten Obrigkeit sei Gehorsam geschuldet. Seine anfängliche Sympathie für den „Führer“. Vor allem aber sein heute schwer verständliches Schweigen zur Verfolgung der Juden – und das, obwohl er ein entschiedener Gegner der NS-Rassenideologie war, Papst Pius XII. zur Enzyklika „Mit brennender Sorge“ drängte und in seinen Predigten auf unveräußerliche Menschenrechte Bezug genommen hat. In einer beklemmenden Szene wird Galens Verhalten nach der Pogromnacht thematisiert und erklärt. Der Stachel im Fleisch bleibt dennoch: Der Hut des Rabbiners liegt am Ende groß und einsam in Sven Stratmanns Videoprojektion im Hintergrund der Bühne.

Parabelhaft gesteigerte Charaktere

Die Konzeption der Oper ist eine tragfähige Mischung aus Erzähl-, Dokumentar- und ein wenig Belehrtheater. Holger Potocki arbeitet in seiner Inszenierung sehr sorgfältig an den Charakteren, bricht sie aber auch immer wieder pararabelhaft gesteigert auf. Suzanne McLeod als Galens Mutter etwa verkörpert nicht nur eine steif gekleidete alte adlige Dame, sondern verschmilzt in einer das Surreale streifenden Szene mit der Gottesmutter von Telgte, einem Gnadenbild, das Galen sehr verehrt hat.

Gauleiter Alfred Meyer, einer der Hauptakteure des Holocaust, ist bei Mark Watson Williams nicht nur ein mit gellender Stimme eifernder Zyniker, sondern steht in einer höllengelben Uniform für das Böse, dessen Assistent (Frederik Schauhoff) wie ein Kastenteufel aus dem Untergrund springt. Andere Figuren wie Regens Francken (Mark Coles als alter Weiser), Pfarrer Coppenrath (Stephan Klemm mit heiligem Zorn), Galens Bruder Franz (Youn-Seong Shim) oder Rabbiner Steinthal (anrührend und verzweifelt Enrique Bernardo) sind in den bis ins Detail zeittypischen Kostümen Andreas Beckers dagegen eher einem historischen Realismus zuzuordnen.

Rot, die Farbe der Kardinäle, ist vielfach symbolisch aufgeladen. Für Jasmin (Kathrin Filip) steht sie am Anfang und am Ende ihrer „Zeitreise“ zu Galen. (Foto: Oliver Berg)

Die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart stellt Regisseur Potocki mit einer Videoszene zu Beginn der Oper her: Menschen werden befragt, was sie mit dem Namen „Galen“ verbinden. Eine junge Frau, ahnungslos, lässt sich zum Nachdenken anregen. Man sieht, wie sie auf dem Smartphone die Wikipedia-Seite über Galen aufruft, wie sie Bücher wälzt und schließlich in die Zeit Galens driftet. In den Anblick des (tatsächlich im Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte ausgestellten) roten Kardinalsgewands versunken, verlässt die Frau die Gegenwart, „um die Vergangenheit zu verstehen“.

In der Konfrontation der Fragerin von heute – und den Einwänden des Bischofssekretärs (Christian-Kai Sander) von damals – klären sich Galens Positionen, ob für Menschen des 21. Jahrhunderts irritierend zeitbedingt oder beeindruckend zeitlos. Im Libretto ist diese „Jasmin“ genannte junge Frau mit Kopftuch als Muslima angedeutet, verweist auch im Text einmal auf „Allah“. Auf diese Zuspitzung verzichtet die Inszenierung: Die Sängerin Kathrin Filip wirkt wie eine jener Studentinnen, die man in Münster jeden Tag über den Prinzipalmarkt gehen sieht.

Zwischen Befremden und Mitfühlen

Die Ratlosigkeit, das Befremden, die Distanz, aber auch die allmähliche Einsicht, das Verstehen, sogar das Mitfühlen mit den inneren Kämpfen und Entscheidungen des Bischofs macht Filip in sensiblem Spielen deutlich. Am Ende zieht sie ein Resümee: Das rote Kleid des Kardinals als leuchtendes Signal und die Erkenntnis, auch „seine Größe hatte Grenzen“. Vorbilder sind nicht vollkommen, und Helden, die „so sind, wie wir es gerne wären“, die gibt es eben nicht. Galen ist für sie ein „Tröster“, von denen es auf Erden nie genug geben könne. „Tröster leuchten, auch wenn wir sie nicht verstehen.“

Im Volksempfänger hört der Bischof die Rede Alfred Rosenbergs auf dem Markt in Münster. (Foto: Oliver Berg)

Kardinal Galen also als Opernheld: Gregor Dalal hat in dieser großartig ambivalenten Gestalt eine Paraderolle seines reichen Sängerlebens gefunden. Man spürt in jeder Phase, dass sich Dalal intensiv mit der Figur beschäftigt, dass sie ihm ganz und gar entspricht. Er verkörpert den Bischof nicht, er ist Galen in jeder Faser seiner Existenz – vom adligen Jäger des Anfangs über den Priester in Gewissenkonflikten, den entschlossenen Prediger bis hin zu einem erschütterten, gealterten Mann, der die Sieger nicht als Befreier willkommen heißen und die Schuld des deutschen Volkes nicht akzeptieren kann. Auch stimmlich ist Galen eine Paraderolle für den Bassbariton. Man meint, Schmid-Kapfenburg hätte die Rolle genau für diesen Sänger geschrieben.

Wundersame Klanggebilde

Möglicherweise stimmt das auch, denn der Komponist ist seit 2004 Kapellmeister an den Städtischen Bühnen Münster und kennt Dalal seit Jahren. Schmid-Kapfenburg hat bisher viel Kammermusik und eine Kammeroper, aber noch kein großformatiges Werk wie „Galen“ geschrieben. Seiner Partitur merkt man den versierten Kammermusiker und den erfahrenen Dirigenten an. Der Kompositionsschüler von Detlev Glanert schafft wundersame, filigrane Klanggebilde, luzide Klangflächen, kostbare Solo-Stellen für die Orchestermusiker. Auf Tonalität legt er sich nicht fest; so begleitet er die Ausfälligkeiten des Gauleiters ironisch mit den atonalen Klängen, die bei den Nazis als „entartet“ abgestempelt waren. Eine Orgel karikiert dazu musikalisch das Neuheidentum Alfred Rosenbergs, den Bischof Galen als einen der Urheber der menschenverachtenden Rassenideologie von Anfang an bekämpfte.

Schmid-Kapfenburg findet einen Tonfall zwischen dem sachlichen Formbewusstsein eines Paul Hindemith und der angeschrägten Harmonik von Werner Egk, nicht als Sklave eines musikalischen Fortschrittsglaubens, sondern als Schöpfer wirkungsvoll gearbeiteter Theatermusik. Golo Berg ist mit dem Sinfonieorchester Münster ein einfühlsamer Sachwalter, der vor allem für die leisen Töne viel Empathie mitbringt, aber auch heftigen Attacken und Aufschwüngen ihr Recht einräumt. Anton Tremmel hat Chor und Extrachor des Hauses für seine Partie auf und hinter der Bühne solide vorbereitet.

Dem Theater Münster ist für sein Auftragswerk Anerkennung zu zollen: Entstanden ist ein Stück Musiktheater, das eine beeindruckende Person der jüngeren Geschichte mit ihrer Größe und ihren Grenzen und einen profilierten Katholiken in seiner entschlossenen Konsequenz, aber auch all seinen inneren Widersprüchen zu einem Theatererlebnis verdichtet, das als zeitlose Parabel auch über Westfalen hinaus sein Publikum finden dürfte.

Vorstellungen geplant am 4. Juni im Rahmen des Festivals Musica Sacra, sowie am 10., 18., 24. Juni 2022. Info: https://www.theater-muenster.com/produktionen/galen.html, Karten-Tel.: (0251) 59 09 100




„Ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück“: Jessica Muirhead singt die „Arabella“ am Aalto-Theater Essen

Endlich wieder singen: Jessica Muirhead, seit 2015 am Essener Aalto-Theater fest engagiert, freut sich riesig, dass die Corona-Pandemie kein Hindernis mehr ist, auf die Bühne zurückzukehren. Ab 14. Mai singt sie die „Arabella“ in Richard Strauss‘ gleichnamiger Oper.

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

Auch sie selbst hat ihre Infektion überwunden und stürzt sich in eine für sie neue, große Partie: Mit der lyrischen Komödie „Arabella“, dem letzten gemeinsamen Werk von Strauss und Hugo von Hofmannsthal, biegt am 14. Mai die Spielzeit 2021/22 am Aalto in die Zielgerade ein. Es ist die letzte Opernpremiere der Intendanz von Hein Mulders. Werner Häußner sprach mit der britisch-kanadischen Sopranistin, die 2018 auch den Aalto-Bühnenpreis erhalten hat, über ihre Karriere und blickt mit ihr auf die Zeit mit Mulders zurück.

Ab Samstag sind Sie am Aalto-Theater Essen die Arabella in Richard Strauss‘ wehmütig-ironischem Rückblick auf das „alte Wien“.

Ja, endlich ist sie da! Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für meine Stimme, mit Strauss zu beginnen. Vor drei Jahren sollte ich schon die Marschallin singen, aber das empfand ich noch als zu früh. Ich möchte mir die Strauss-Rollen langsam erarbeiten, zum Beispiel „Daphne“, die ich in Frankfurt gesehen habe – ein berührendes Stück und großartig für die Stimme geschrieben. Da bekomme ich Gänsehaut.

Aber Puccinis Suor Angelica im „Trittico“, die Sie gerade am Aalto-Theater gesungen haben, ist auch nicht ohne …

Aber ja. Ich bin am Ende komplett fertig, obwohl die Rolle kurz ist. In dieser Inszenierung von Roland Schwab bin ich die ganze Zeit im Spotlight.

Jessica Muirhead als Schwester Angelica in Giacomo Puccinis „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Matthias Jung)

Endlich wieder auf der Bühne singen

Wie sind Sie durch die Zeit der Pandemie gekommen?

Es war keine gute Zeit für mich. Diese Unsicherheit um unsere Zukunft hat mich geradezu depressiv gemacht. Am Anfang war die Ruhe für die Stimme okay. Aber nach zwei Jahren brauche ich ein Publikum und eine Bühne. Wenn man in einer Wohnung singt, ist das Gefühl ein anderes. Es war auch schwierig, die Zeit zu nutzen, um neue Partien zu lernen. Meine Seele war traurig, doch man braucht die Seele, um zu singen. Ich habe einige Rollen gelernt, die dann abgesagt wurden, zum Beispiel aus Rossinis „Il Viaggio a Reims“. Gottseidank dürfen wir jetzt wieder spielen und das Publikum kommt. Das ist nicht überall so. Aber ich habe bemerkt, dass unser Publikum die Kunst braucht und genießt, so wie ich auch. Jetzt fühle ich mich besser, weil ich sehe: Es gibt eine Zukunft.

Haben Sie stimmlich eine Veränderung bemerkt, weil Sie lange nicht auf der Bühne singen konnten?

Es herrschte zu viel Ruhe. Das ist wie bei der Fitness: Spazieren gehen ist super, aber man braucht auch die Anstrengung. Ich habe gemerkt, dass meine Stimme häufig zu tief intoniert hat. Da war die Spannung weg und es fehlte mir die Kontrolle. Jetzt erst ist meine Stimme wieder voll da.

Was war die erste Partie nach der Pandemie?

Am Aalto-Theater war es die Dido in Henry Purcells „Dido und Aeneas“. Aber im Herbst 2021 konnte ich in Israel in einer Uraufführung mitwirken: „Kundry“ von Avner Dorman, inszeniert von der künftigen Volksopern-Direktorin Lotte de Beer an der Oper in Tel Aviv.

Das Aalto-Theater als echtes Zuhause

Sie sind seit 2015 am Aalto-Theater im Festengagement. Was hält Sie so lange in einem Ensemble? Sie hätten die Möglichkeit, an vielen großen Häusern frei zu singen.

Dafür gibt es viele Gründe. Ich bin die Schritte sozusagen umgekehrt gegangen – erst war ich zehn Jahre frei, dann ging ich ins feste Engagement. Ich wollte ein echtes Zuhause haben. Das habe ich im Aalto-Theater gefunden. Es ist schön, die familiäre Atmosphäre hier am Haus zu genießen. Das ist nicht selbstverständlich. Ich brauche den Kontakt, weil meine Familie in Kanada weit weg ist. Außerdem eröffnen sich hier so viele schöne künstlerische Möglichkeiten. In München hatte ich früher einen Residenzvertrag, aber ich konnte nur drei Rollen singen: Musetta in „La Bohème“, eine Magd in „Elektra“ und ein Blumenmädchen im „Parsifal“. Ich war ein „small fish in huge water“. Ich wollte mehr singen, vor allem mehr Hauptrollen.

Dann eröffnete Essen Ihnen viele Rollendebüts …

Das nächste Rollendebüt für Jessica Muirhead ist „Arabella“ von Richard Strauss. Ein Probeneindruck mit Heko Trinsinger als Mandryka. (Foto: Matthias Jung)

Intendant Hein Mulders hat mir diese Möglichkeit gegeben. Ich habe als Rusalka, Luisa Miller, Elsa, Rosalinde und Anna in Marschners „Hans Heiling“ debütiert und Rollen wie Violetta, die Gräfin in „Nozze di Figaro“, Donna Anna, Micaëla, Margarethe in Gounods „Faust“, die ich früher bereits gesungen hatte, aufgefrischt. Was ich gerne wieder machen würde, ist „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ von Frederick Delius, ein wunderbares Werk. In der nächsten Spielzeit darf ich dann auch wieder Belcanto singen: die Lucrezia in Donizettis „Lucrezia Borgia“. Hier in Essen habe ich die Möglichkeit, das auszuprobieren.

Auf der anderen Seite muss ich nichts tun, was meiner stimmlichen Entwicklung schadet. Zum Beispiel habe ich die Elisabetta in Verdis „Don Carlo“ zurückgegeben, weil ich das Gefühl hatte, es sei noch zu früh für diese Partie. Das wird akzeptiert – was nicht an allen Häusern der Fall wäre – und ich fühle mich so als Künstlerin in meiner Verantwortung wahrgenommen.

„Die Vielfalt hat mir nicht geschadet“

Ein Vorteil ist auch die Verbindung von Aalto-Theater und Philharmonie. Im März hatte ich den Sopranpart in Rossinis „Stabat Mater“ übernommen, habe hier in Beethovens Neunter und zum ersten Mal in Brahms‘ „Deutschem Requiem“ gesungen. Die Vielfalt hat mir nicht geschadet, im Gegenteil: Eine Wiener Stimmspezialistin hat mir nach der Premiere der „Suor Angelica“ gesagt, meine Stimme sei so frisch wie damals, als sie mich zum ersten Mal gehört hatte.

Wann war das?

Das war 2006, als ich als Pamina in der „Zauberflöte“ an der Wiener Volksoper in der Inszenierung Helmut Lohners in Europa debütierte. Ich hatte in Kanada einen Wettbewerb gewonnen und Rudolf Berger, damals Direktor der Volksoper, war Mitglied der Jury. Er hat mich angerufen und mir Pamina angeboten. Ich bekam dann einen Residenzvertrag und habe noch Micaëla („Carmen“) und Agathe („Der Freischütz“) gesungen.

Was hat Ihnen diese Zeit in Wien gebracht?

In meinen ersten Jahren auf der Bühne habe ich viel gelernt! Ich hatte zuvor im Studium in Toronto nur in Mozarts „Idomeneo“ die Chance, szenisch zu agieren. Ich glaube, in dieser Wiener Zeit bin ich eine Schauspielerin geworden. Am meisten gelernt habe ich in der Arbeit mit einer Regieassistentin, Susanne Sommer. Ich habe bei meinem Debüt in Bizets „Carmen“ als Micaëla schlechte Kritiken bekommen. Ich war einfach zu langweilig. Bei der Wiederaufnahme habe ich mit ihr die Partie erarbeitet. Auch von Helmut Lohner habe ich viel gelernt, er war ein wunderbarer Künstler.

Was hat Sie dann bewogen, von Wien wegzugehen?

Ich bekam ein Angebot von München und an der Volksoper gab es eine neue Intendanz.

Und in Essen haben Sie sich von Anfang an wohl gefühlt?

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners "Hans Heiling" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Thilo Beu)

Ja, ich hatte das Gefühl, Hein Mulders schaut darauf, wie neue Sängerinnen und Sänger ins Ensemble passen, nicht nur von der Stimme, auch von der Persönlichkeit her. Was mich betrifft, fühle ich mich wertgeschätzt; ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück. Ich hatte Intendanten, die waren nicht sichtbar. Hein kommt zu jeder Premiere. Es ist das Gefühl des Kontakts da. Er sagt auch offen, was er gut findet und was nicht. So ein ehrliches Feedback schafft eine Beziehung. Besonders für uns Sänger ist das wichtig. Ich fühle mich als Künstlerin wahrgenommen.

Außerdem hat Hein Mulders für die Sänger und für das Publikum ein tolles Repertoire von Purcell bis Marschner und Wagner aufgebaut. Er hat meine Stimme gut verstanden, weil ich nicht in ein Fach gehöre. Die Möglichkeiten, die ich vorher hatte, waren oft nur in einem Fach. Hein Mulders verstand, dass ich dramatischer Koloratursopran, jugendlich-dramatischer und manchmal lyrischer Sopran bin. Verdis „Luisa Miller“ zum Beispiel habe ich mir nicht zugetraut, aber er sagte: „Du kannst das“. Und am Ende war es mein Lieblingsstück und hat auch meine Stimme gesünder gemacht. Ich habe das Gefühl, er riskiert manchmal etwas, aber die Risiken nimmt er mit Erfolg auf sich. Auch bei „Rusalka“ war ich mir zuerst nicht sicher. Ich bin persönlich dankbar, dass er solche Schritte für mich bedacht hat. Vorher hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Wagner singen würde.




Vom Verschwimmen des Privaten: Paul Hindemiths Satire „Neues vom Tage“ in Gelsenkirchen

Vor dem Bad noch schnell ein Selfie: Eleonore Marguerre in Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ in Gelsenkirchen. (Foto: Monika Forster)

Die Badewanne war’s. Sie ließ Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ zum Skandal werden. Eine Frau, die nackt und schaumbedeckt Männer empfängt, das erregte den wohlgesitteten deutschen Bürger der Weimarer Zeit: Ein bisschen gucken und sich empören.

In Berlin war die „Zeitoper“ zwar nicht sonderlich erfolgreich. Aber den nur 15 Wiederholungen an der Kroll-Oper folgten, so Hindemith selbst in einem Interview, „allenthalben zahlreiche Aufführungen, bis schließlich das nazistische Allerneueste vom Tage ihr vorläufig den Garaus machte“.

Jetzt setzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen dem „Garaus“ etwas entgegen und bringt Hindemiths „lustige Oper“ mit einer leider mäßig besuchten, aber begeistert gefeierten Premiere wieder in die Diskussion. Und siehe da, die 92 Jahre alte Satire auf die großstädtische Gesellschaft von damals erweist sich als überraschend vital. Mag zwar sein, dass die Ehescheidungs-Problematik, aus der Kabarett- und Revueautor Marcellus Schiffer sein Libretto entwickelt, heute nicht mehr den prickelnden Ruch von damals mitbringt. Aber im Zeitalter von social media, Selfies und überwachten Räumen, medialer Allgegenwart und konstruierter Realität erweist sich als ungebrochen aktuell, wie Hindemith und Schiffer das Verschwimmen von Öffentlichem und Privatem, Authentischem und Inszeniertem mit den Mitteln karikierender Überspitzung aufs Korn nehmen.

Die inhaltliche Klammer über die Epochen hinweg spiegelt sich schon zu Beginn in der Bühne von Dirk Becker: In Hintergrund fahren Hochhäuser auf, wie sie Ende der zwanziger Jahre auch in deutschen Großstädten entstanden. Die Spielfläche wird abgegrenzt von Elementen aus der „Neuen Sachlichkeit“, dem Kubismus und der Konkreten Kunst, reduziert auf schmucklose Elemente aus geometrischen Formen. Sie bewegen sich wie Maschinenkunst von selbst oder brechen, von Statisten verschoben, die Illusion des Theaters. Aber die expressionistische Anmutung wird relativiert: Ein Fernseher flimmert, und später ziehen die Videos von Moritz Hils eine neue Ebene medialer Gegenwart ein, wenn sie private Smartphone-Kurznachrichten oder Instagram-Clips übergroß für das Publikum – also öffentlich – sichtbar machen.

Romantische Liebe? – Nein, danke.

Punkt Neun wird die Maschinerie der Bürokratie angeworfen … (Foto: Monika Forster)

Jula Reindells Kostüme bewegen sich zwischen Revuefummel der dreißiger Jahre, unauffälliger Büromode der Fünfziger und Boxershorts der Gegenwart und lassen so Zuschreibungen bewusst außen vor. Auch Sonja Trebes benutzt in ihrer Inszenierung Accessoires unterschiedlicher Epochen: Aufgezeichnet wird mal mit einer altmodischen Videokamera, mal mit dem Smartphone. Die berüchtigte Szene im Bad bleibt erst überaus diskret. Bis sie sich zu einem grotesken social-media-Event steigert: Wie bei so mancher digital bekannt gemachten Teenie-Geburtstagsparty locken Tweets allerlei Schaulustige an, die in bizarr überzogener Nacktheit das Bad füllen. Authentizität und Camouflage: Das Thema spiegelt sich im Kostüm. Einzig wirklich Nackter ist Tobias Glagau, der Laura, der kompromittierten Ehefrau im Bad, die Wanne streitig macht.

Wir nehmen heute wohl eher amüsiert wahr, was die Zuschauer von 1929 geschockt haben muss: Die Vorstellung einer romantischen Liebe wird gnadenlos dekonstruiert. Beklemmender ist, dass Emotion bedeutungslos ist, mit Menschen pragmatisch, geschäftsmäßig aus der Sicht des nur noch auf sich bezogenen Vorteils umgegangen wird. Laura und Eduard, frisch verheiratet, verlieren ihre gegenseitige Attraktion schon im ersten Krach; Herr und Frau M., zunächst lustvolle Voyeure der lautstarken Auseinandersetzung, zerstreiten sich ebenso flugs und keifen mit denselben Schimpfworten wie das junge Paar vorher aufeinander ein. Jetzt geht es nur noch darum, die Scheidung möglichst unkompliziert hinter sich zu bringen. Für den Scheidungsgrund sorgt ein eingekaufter Dienstleister, der schöne Herr Hermann – und nur zu diesem Zwecke liegt Laura im Bad.

Zu dumm, dass sich Gefühle nicht ausschalten lassen – doch Hindemith lässt kunstvoll in der Schwebe, ob Hermanns Liebesbeteuerungen echt sind oder zum Geschäft gehören. Inzwischen hat jedoch der Scheidungsskandal, medial befeuert, Fahrt aufgenommen und sich selbständig gemacht: Die Freiheit, ihre Beziehung zu regeln, haben Laura und Eduard verloren. Die Öffentlichkeit fordert die Fortdauer des Scheidungsdramas. Am Schluss flimmern nur noch Schlagzeilen über die Bühne.

Vereinnahmte Menschen

Sonja Trebes erzählt mit einigem Geschick, was sich tagtäglich an medial präsenten prominenten Paaren – Amber Heard und Johnny Depp lassen grüßen – durchexerzieren lässt. Sie zeigt, wie die Menschen selbst Privates in die Kanäle des Öffentlichen gießen, wie sie aber auch vereinnahmt, entmündigt und funktionalisiert werden. Sie mutieren zu einer unter anderen sinnlosen Headlines. „Ihr seid keine Menschen mehr, ihr seid das Neueste vom Tage“, heißt es im Libretto. Wahr oder vorgetäuscht, echt oder falsch, authentisch oder gekünstelt? Hindemith hebt lustig und lustvoll die Orientierung auf, und die nur manchmal etwas schüchtern zupackende Gelsenkirchener Inszenierung folgt ihm mit Vergnügen.

Schlagworte und Schlagzeilen bleiben: „Ihr seid keine Menschen mehr, ihr seid das Neueste vom Tage“, heißt es in Paul Hindemiths Oper. (Foto: Monika Forster)

Mit Spaß am satirischen Überschwang sind auch die Darsteller am Werk. Eleonore Marguerre darf ihren wohlklingenden Sopran an das saftige Pathos einer Tristan-Parodie verschwenden und die Vorzüge moderner Warmwasserversorgung preisen. Ihr Ehemann Eduard (Piotr Prochera) strengt sich an, Paragraphen zu zitieren und sich vibratosatt aufzuregen, weil er lieber einen Scheidungsgrund ohne Eifersucht gehabt hätte. Denn der „schöne Herr Hermann“ – natürlich ein Tenor (Martin Homrich) – gleitet bei seiner Dienstleistung, die Scheidung zu befördern, ins Private ab und gesteht seiner Mandantin „Liebe“. Das empört wiederum die frisch geschiedene Frau M.: Almuth Herbst sieht sich um ihre Hoffnungen betrogen und macht ihrem neuen Liebhaber in herrlich schrillem Outfit eine Szene. Adam Temple-Smith gibt sein Bestes, damit Herr M. im Scheidungs- und Versöhnungskarussell mithalten kann.

Der Chor ist von Alexander Eberle bestens präpariert, um Tippfräulein und Bürokraten darzustellen, deren vokale Mechanik auf die Sekunde genau Punkt neun Uhr in Gang gesetzt wird. Einen großen Tag hat die Statisterie des Musiktheaters im Revier: Sie kann sich, unterstützt von Andreas Langschs Choreografie, im Mob der Scheidungsshow-Zuschauer richtig austoben. Giuliano Betta hält die Neue Philharmonie Westfalen zu präziser Rhythmik an, die von einer Uraufführungs-Kritik gegeißelten „stechendsten und stachlichsten Staccati“ pieksen in Bettas verbindlicher Lesart die Ohren nicht gar zu schmerzhaft, die parodierte Wagner-Harmonik ist süffig ausgekostet und vom Piccolo über die Harfe und die damaligen „Mode“-Instrumente Banjo und Saxophon bis in die Bassregionen hinein perlen und purzeln die Soli behend und klangschön durch die rhythmischen Lücken der Partitur. Ein Abend, den man nicht verpassen sollte.

Weitere Vorstellungen: 14., 21., 29. Mai; 10., 25. Juni 2022. Info und Karten: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/neues-vom-tage




Fall ohne Fallhöhe in Gelsenkirchen: Gabriele Rech verpasst „Madama Butterfly“ ein neues Ende

Hochzeits-Show für den Fremden im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ in Gelsenkirchen. (Foto: Björn Hickmann)

Irgendwann musste es so kommen: Am Ende von Giacomo Puccinis „japanischer Tragödie“ richtet Madama Butterfly den Dolch nicht gegen sich selbst, sondern sticht den hereinstürzenden Pinkerton ab. Damit macht Regisseurin Gabriele Rech das Opfer zur Täterin, nimmt ihr die Fallhöhe.

Tatsächlich ein „Schritt in Richtung Unabhängigkeit“, wie das Programmheft der neuesten Produktion des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier meint? Eher eine jener aufgesetzten Ideen, deren hervorstechender Wert die Neuheit ist.

Der Reihe nach. Dirk Beckers Bühne signalisiert von Anfang an: Hier wird „Japan“ für Touristen mit speziellen Interessen inszeniert. Papierwände und Kirschblüten als Deko, ein Podium, mit silbernem Glitter verhängt. Grotesk auf eine Wand vergrößert, gehört auch Katsushika Hokusais zum Kitsch verkommene „Große Welle von Kanagawa“ zum Inventar. Japanerinnen in bunten Folklore-Kostümen (Renée Listerdahl) trippeln herein. Ein paar Damen hängen an einer reichlich mit Flaschen ausgestatteten Bar ab. Der passend geschmeidig singende Goro (Tobias Glagau) vermittelt nicht nur Quartier, wird mit dem vergnügungswilligen B.F. Pinkerton schnell handelseinig. Immer wieder wechselt Geld die Hände.

Die Kolleginnen verfolgen interessiert die Show der Madama Butterfly. Die „Verwandten“ der arrangierten Hochzeit können ihr Kichern kaum verbergen. Und Michael Heine wirft sich als wütender Onkel Bonze mächtig ins Zeug. Wer für einen kurzen Moment glaubt, jetzt werde es ernst und die Galerie über der Szene repräsentiere eine Art inneres Gewissen der Cio-Cio-San, verliert diese Illusion schnell. Die „Bekehrung“ Butterflys zur Religion des Amerikaners gehört ebenso zum Spektakel wie das mit Gelächter verkündete Lebensalter von 15 Jahren. Zum Höhepunkt: Liebesduett mit falschen Papierampeln und Thomas Ratzingers Stimmungslicht.

Die tiefe Liebe an der Bar? In Puccinis „Madama Butterfly“ am Musiktheater im Revier bleiben Fragen offen. Ilia Papandreou (Cio-Cio-San) und Carlos Cardoso (Pinkerton). (Foto: Björn Hickmann)

Als die Show im zweiten Akt zu Ende ist, das Papier zerfetzt, die Bar geleert, stellt sich die Frage: Warum hängt „Madama Butterfly“ noch in diesem Ambiente herum, angetan mit der abgeschabten Uniformjacke ihres in die USA entschwundenen „Gatten“? Wie ist es möglich, dass ein professionelles Showgirl sich mit Haut und Haaren an einen Kunden verliert und seit fast drei Jahren auf die Rückkehr des Marineleutnants wartet? Woher ein solches fundamentales Missverständnis?

Calixto Bieito hat einst an der Komischen Oper – die Musik Puccinis bewusst missverstehend – Butterflys Strategie von Anfang bis Ende ausinszeniert: Ziel war es, mit einer Green Card rauszukommen aus ihren Milieu. Was Gabriele Rechs „Butterfly“ bewegt, aus Sehnsucht an der Flasche zu hängen, erschließt sich nicht. Und wenn sich im Duett „Bimba, dagli occhi pieni di malia“ der psychologische Schalter in Richtung schwärmerisch-radikaler Liebe umgelegt haben sollte, bleibt die Inszenierung diesen Moment schuldig.

Puccinis Oper über eine existenzielle Tragödie ließe sich wohl auch als soziales Drama erzählen, wäre da nicht die Perspektive des Komponisten, der alle Figuren auf Cio-Cio-San als Zentrum ausgerichtet hat. Rech entwertet die innere Katastrophe der Butterfly. Pinkertons Handeln erscheint in diesem Kontext durchaus verständlich und konsequent pragmatisch, wenn er mit der eingekauften Braut von früher nichts mehr zu tun haben will und bei seiner Rückkehr ein paar große Scheine als Kompensation hinterlässt. Er ist Geschäftspartner in einem Sex-Deal, nicht der gedankenlose Chauvi, der ein gewaltiges Missverständnis auslöst. Dass Butterfly am Ende zusticht, statt den Ehrenkodex ihrer alten Kultur im Suizid zu realisieren, ließe sich in der Tat als Chiffre für eine Befreiungstat lesen. Aber dazu müssten die Signale in der Inszenierung anders gesetzt werden.

Giuliano Betta am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen unterstützt im ersten Akt die Atmosphäre der Vorspiegelung, indem er Puccinis Musik so unemotional wie möglich ablaufen lässt: kantig, bisweilen laut, mit wenig Raffinesse in Artikulation und Phrasierung, aber mit Sinn für Details, die das Orchester klarsichtig ausmusiziert. Später findet Betta das organische Pulsieren von Puccinis Metrum; die Lautstärke könnte jedoch subtiler geregelt werden. Den Solisten und dem trefflich agierenden Chor von Alexander Eberle wäre damit geholfen.

Ilia Papandreou hat als Cio-Cio-San den ironischen Tonfall des ersten Auftritts ebenso verinnerlicht wie die weiten Kantilenen ihrer sehrenden Sehnsucht. Wenn die Töne auf dem Atem ruhen, erschafft sie magische Momente intensiven Gesangs. Carlos Cardoso als Gast vom Aalto-Theater Essen bringt für den Pinkerton keinen warm strömenden, sondern einen wie Kristall strahlenden Tenor mit, besingt „America forever“ mit einiger Anstrengung und gestaltet „Addio fiorito asil“ eher kühl als – je nach Lesart – wehmütig oder larmoyant gefärbt. Butterflys Dienerin Suzuki bleibt in dieser Inszenierung eine Randfigur, mit ehrwürdigen Reifespuren gesungen von Noriko Ogawa-Yatake, die vor mehr als 20 Jahren, ebenfalls in einer Inszenierung von Gabriele Rech am Musiktheater im Revier, die Titelpartie verkörpert hatte. Zur Blässe verurteilt bleibt auch der Sharpless von Petro Ostapenko.

Könnte doch sein, dass  die unbändige kreative Energie künftiger Butterfly-Regieführenden zu noch originelleren Lösungen führt: Vielleicht ersticht Suzuki demnächst die abtrünnige Butterfly, oder gleich Pinkerton mit dazu? Könnte nicht Sharpless die beiden Frauen erschießen und über ihren Leichen die Hände Pinkertons schütteln? Oder werten wir mal die Randfigur der Kate Pinkerton auf (Scarlett Pulwey hätte sicher nichts dagegen gehabt) und lassen sie ihren unmöglichen Ehemann abknallen? Auf, auf ins Terroir der Deutungen, die gute alte Oper ist noch lange nicht am Ende!

Weitere Vorstellungen: 20., 22., 28. Mai, 18. Juni 2022. Info und Karten: Tel.: 0209/4097-200, www.musiktheater-im-revier.de




„Wenn List das Weib als Waffe schwingt“: Ermanno Wolf-Ferraris „Vier Grobiane“ haben keine Chance

Feinsinnig, stellenweise aber auch turbulent: Ermanno Wolf-Ferraris Komödie „Die vier Grobiane“ an der Folkwang Hochschule in Essen-Werden. (Foto: Gustav Glas)

Sie haben keine Chance. Sie mögen noch so vehement ihre Allmachts- und Gewaltfantasien ausmalen, sie mögen ihre Frauenverachtung noch so lautstark bekunden. Gegen weibliche Solidarität kann die Kumpanei der vier alten Machos nichts ausrichten.

Ihre larmoyante Besingung früherer besserer Zustände ist vergeblich. In Ermanno Wolf-Ferraris Buffa-Spätblüte „Die vier Grobiane“ setzen sich die Frauen mit ihrem humanen Anliegen durch. Immerhin geht es um Liebe und Selbstbestimmung: Die jungen Leute, die nach der Vorstellung der Patriarchen aneinander verschachert werden sollen, ohne sich je vor der Hochzeit gesehen zu haben, bekommen dank vereinter Frauenpower wenigstens eine Chance.

Das war mutig für das ausgehende 18. Jahrhundert am Vorabend der französischen Revolution, als Carlo Goldoni seine Komödien schrieb, um schlechte Sitten lächerlich zu machen. Das war auch noch mutig, als Wolf-Ferrari auf den Stoff zurückgriff, um 1906 der wilhelminischen Gesellschaft mit leichter Hand einen Spiegel vorzuhalten. Denn so harmlos die Konversation daherkommt, so viele Rückzieher auf dem Weg einer Emanzipation auch zugestanden werden: Der Stoff hat’s in sich. Die vier unmanierlichen reichen Herren, die da konspirieren, haben mit gierigen venezianischen Handelsherren ebenso viel zu tun wie mit dem saturierten Untertan der Vorkriegszeit. Und wer will, schafft problemlos den durch Heiterkeit erleichterten Transfer in den Sexismus unserer Tage.

An der Folkwang Universität der Künste in Essen-Werden, wo Wolf-Ferraris einst erfolgreiche, seit ein paar Jahrzehnten aber weitgehend vergessene Petitesse wieder einmal aufgeführt wird, belässt Regisseur Georg Rootering das Stück diesseits einer zupackenden Deutung. Ein Spielpodium, ein paar Venedig-Dias für den Hintergrund, fertig ist die Bühne. Alina Fischers Kostüme deuten die Nachkriegszeit an, als die Jugend sich anschickte, mit Rock’n‘Roll und Doo Wop aus ihren biederen Elternhäusern zu fliehen.

Rootering meidet kalauernd überzeichnete Komik und führt die Figuren mit leichter Hand, kann aber den Studenten auf der Bühne auch nur so viel komödiantische Grazie entlocken, wie sie selbst zu geben bereit sind. Und da gibt es, ebenso wie bei den Stimmen, merkliche Unterschiede. Komödie ist zudem ein anspruchsvolles Genre, das selbst erfahrenen Profis alles abfordert. Am schwersten tun sich die jungen Männer, die anachronistisch verstaubte Väter darstellen sollen; der tochterverhökernde Lunardo von John Lim gelingt da noch am überzeugendsten.

Bogil Kim als Filipeto. (Foto: Gustav Glas)

Bogil Kim wird als Typ vorteilhaft eingesetzt, um den verschüchterten Kaufmannsjungen Filipeto zu charakterisieren, der nur dank der Durchsetzungskraft seiner Unterstützerinnen das Mädchen zu Gesicht bekommt, das er heiraten muss. In seiner Arie „Lucieta xe un bel nome“ (gesungen wird auf Deutsch, wie bei der Münchner Uraufführung 1906), einem kleinen Juwel der Buffo-Oper, zeigt Kim einen klangfeinen, noch nicht ganz sicher positionierten, aber weitgehend entspannten Tenor.

Auch bei den Damen gelingt es nur in Ansätzen, die unterschiedlichen Typen zu charakterisieren. Jeanne Jansen fehlt weder die Süße für das naive Töchterlein noch die Leichtigkeit für ihre aparten Klagen über die Langeweile; lediglich in der Höhe wird der Ton eng und löst sich vom Körper. Kejti Karaj umkleidet ihre subversive Zähigkeit mit einem wohllautenden Mezzo, sollte sich aber in der Tonproduktion nicht so sehr auf das Vibrato verlassen. Tante Marina (Natalija Radosavljevic) verbirgt hinter reizenden Ariosi, dass sie durchaus willens wäre, die Krallen auszufahren, würde sie sich nur trauen.

Mit dem Mumm zu Widerstand hat Jiajia Zhang als Felice kein Problem: Galant, aber unverfroren und knallhart gibt sie den Männern Paroli und lässt deren autoritätsheischendes Gehabe zielstrebig verpuffen. Die Erkenntnis kommt spät: „Es kann kein Mann sich wehren, wenn List das Weib als Waffe schwingt“. In der Banja ringen sich die Herren der Schöpfung zu der bitteren, vom Fagott witzig-grimmig kommentierten Erkenntnis durch, dass es „ohne Weiber“ eben nicht geht – eine Erkenntnis, die ein Jahrzehnt später Emmerich Kálmán in seiner „Csárdásfürstin“ zum Schlager ausgebaut hat.

Wolf-Ferrari reiht im Orchester federleichte Passagen und blitzende Juwelen im Detail aneinander, wechselt graziös vom Konversationston ins Arioso, lässt melodische Schmetterlinge für ein paar dutzend Takte auf den Blüten eines delikaten Terzetts, Quartetts oder Quintetts landen und gleich darauf in entzückenden instrumentalen Details weiterflattern. Diese Kunst der leichtfüßigen Grazie, der eleganten Artikulation findet ihren szenischen Widerhall in den Choreografien von Victoria Wohlleber: Drei Harlekine (Sandro Haehnel, Biran Sariyer, Natalia Stellmach) huschen immer wieder über die Bühne, verharren einmal wie ein Möbelstück auf allen Vieren, umtänzeln ein anderes Mal die Darsteller oder eine augenzwinkernd am Rand des Podiums postierte Statuette des Michelangelo-David aus Florenz.

Xaver Poncette, der seit 1994 an der Folkwang Hochschule unterrichtet und sich Ende Juli in den Ruhestand verabschiedet, hat dem Orchester mit Erfolg vermittelt, wie die Musik Wolf-Ferraris zu gestalten ist: mit Feinsinn und Geschmack; ein Soufflé, kein üppiger Panettone.

Noch eine Aufführung am Samstag, 23. April, 19.30 Uhr, in der Neuen Aula der Folkwang Hochschule in Essen-Werden. Info: https://www.folkwang-uni.de/home/hochschule/veranstaltungen/veranstaltungen-des-laufenden-monats/veranstaltung-detail/11836-die-vier-grobiane/




Auf Entdeckungstour: Die Oper Frankfurt präsentiert in Rossinis „Bianca e Falliero“ erlesenste Gesangskultur

Gefühle brechen Mauern – oder nicht? Karoly Riszs Bühne für Rossinis „Bianca e Falliero“ in Frankfurt, hier mit Heather Phillips (Bianca) und Beth Taylor (Falliero). Foto: Barbara Aumüller

Ein gewaltiger Kontinent liegt vor uns. Einige seiner zentralen Orte sind wohlbekannt und häufig frequentiert. Andere liegen abseits, kaum jemand weiß ihre Namen.

Zwar gibt es immer wieder – und immer häufiger – Expeditionen an solche entlegenen Stellen, denen aber kaum Neugierige folgen, obwohl ihre Schönheiten gerühmt werden. So bleiben diese Orte unbekannt, das Leben braust an ihnen vorüber.

Der Kontinent, es ist ein musikalischer, heißt Gioacchino Rossini. Außerhalb seiner Metropole namens „Il Barbiere di Siviglia“ wird der Verkehr schnell weniger. Es gibt ein paar beschaulichere Vororte, aber in die vielen weißen Flecken seiner Landkarte verirren sich nur Enthusiasten und Connaisseurs. Die Oper Frankfurt hat sich als eines der großen Repertoiretheater weltweit in den letzten Jahren des kaum erforschten Geländes angenommen und in mittlerweile vier Erkundungsgängen Werke vorgestellt, die sonst vornehmlich bei spezialisierten Festivals begegnen: Nach „La gazza ladra“ 2014 kam fünf Jahre später „Otello“ und kurz vor Ausbruch und als Opfer der Pandemie 2020 „La gazzetta“ – sämtliche in ambitionierten Inszenierungen, kundig dirigiert und fast durchweg auf der Höhe heutigen Rossini-Gesangs besetzt. Jetzt folgt die (vorläufig?) letzte Trouvaille dieser Serie, das 1819 für Mailand geschriebene Melodramma „Bianca e Falliero“.

Und wie im „Otello“ – vor kurzem auch am Musiktheater im Revier zu erleben – versetzt die Musik des „ernsten“ Rossini in Staunen. Da ist nichts zu hören von der angeblich so heiter-apollinischen Tändelei eines Genießers, der ansonsten als Verfasser (sämtlich verlorener) Gourmet-Rezepte in die Geschichte eingehen sollte. Da sucht man auch vergeblich die in polemischer älterer Literatur so angeprangerten Selbstzitate und leeren Wiederholungen. Nur das Schlussrondo der Sopranistin ist aus der zwei Monate vorher in Neapel uraufgeführten und in Mailand noch unbekannten „La Donna del Lago“ übertragen, und eine kurze Bläsersequenz erinnert an die Ouvertüre zu Rossinis letzter italienischer Oper „Semiramide“. Dafür hört man aber ausgefeilte Ensembleszenen, ein von Zeitgenossen und Nachfahren vielgerühmtes Quartett und einen dramatisch verdichteten virtuosen Koloraturgesang, dem man höchsten technischen Anspruch vorwerfen könnte, nicht aber sinnleeres Gezwitscher.

Beste Traditionen des Belcanto

Frankfurt hat für die vier tragenden Rollen dieses kammerspielartigen Dramas um familiäre Gewalt, gesellschaftliches Ansehen, starre Ehrbegriffe, erschreckende Übergriffigkeit und verstörende Lieblosigkeit eine Besetzung gefunden, die man sich passender kaum vorstellen kann. Die Europa-Debütantin Heather Phillips (Bianca) und die junge Schottin Beth Taylor (Falliero) knüpfen mit glanzvollem Material und unverkrampftem Timbre an die besten Traditionen des Belcanto der Rossini-Zeit an, verbinden den Stil des Ziergesangs mit modern gedachter Expressivität, ohne die Tugenden einer ausgeglichenen Tonbildung, einer durchweg auf dem Atem getragenen Emission, eines in allen Registern gleichmäßigen Klangs und einer stupenden, unforcierten Geläufigkeit zu missachten. Sicher: Diese Art zu singen setzt nicht auf rhetorische Überwältigung, auch nicht auf kräftig aufgetragene Farben. Aber in der Finesse, im Chiaroscuro der Dynamik, in der Bedeutung des gesungenen Wortes, in der flüssigen, im richtigen Moment akzentuierten Phrasierung eröffnet sie einen Ausdruckskosmos, der sich weit über den bloßen Wohllaut erhebt. Schlicht begeisternd.

Von links: Theo Lebow (Contareno), Heather Phillips (Bianca; kniend), Beth Taylor (Falliero) und Kihwan Sim (Capellio). Foto: Barbara Aumüller

Die beiden männlichen Stimmen stehen dem kaum nach. Vor allem Theo Lebow, in seinem übersteigerten Patriarchalismus eine seelisch verkrümmte, autoritäre Vaterfigur, kann mit seinem agilen, an die Herrscherfiguren der älteren Oper erinnernden Tenor den technischen und expressiven Anforderungen Rossinis gerecht werden. Contareno, der Vater, versucht mit allen Mitteln, eine Zweckheirat seiner Tochter mit dem venezianischen Patrizier Capellio durchzusetzen und greift dabei zu allen Mitteln psychischer Gewalt, die sich in einem Feuerwerk gesanglicher Raffinessen entäußern. Lebow erfüllt sie nicht nur bravourös, sondern gibt ihnen auch das nötige expressive Gewicht und macht damit die unbändige innere Wut seines Charakters greifbar.

Capellio lässt sich auf diesen Ehe-Deal ein. Kihwan Sim gibt der Rolle ohne Solonummer ein sattes, aber nicht zu breit geführtes Bass-Fundament mit und zeigt seine Tugenden als Ensemblesänger. Sim hat den wohl schwierigsten Charakter der Oper zu gestalten, obwohl Librettist Felice Romani über die Konfliktschablone von persönlicher Neigung und übergeordneter Pflicht hinaus alle vier Protagonisten differenziert zu charakterisieren weiß. Denn Capellio ist über beide Ohren verliebt, besinnt sich aber im entscheidenden Moment der Gerichtsverhandlung gegen seinen Rivalen Falliero auf die Ehre als Richter, der übergeordnetes Recht über persönliche Gefühle zu stellen hat.

Befreit aus patriarchalen Zwängen

Contareno, der Vater, will mit der Hochzeit den alten Glanz seines Namens wieder herstellen und verfolgt dieses Ziel mit einer verbissenen Wut, die seine inneren Zwänge und Nöte ahnen lassen. Im Finale des ersten Aktes, das unverkennbar an die Konstellationen in Donizettis „Lucia di Lammermoor“ erinnert, richtet sich die Aggression gegen den heimlichen Geliebten seiner Tochter Bianca, der bei der Unterzeichnung des Ehevertrags hereinplatzt. Dieser Falliero ist zwar als Kriegsführer erfolgreich, aber mittellos und daher keine angemessene Partie.

Heather Phillips als Bianca. Foto: Barbara Aumüller

Und Bianca, die Tochter? Heather Phillips gibt ihr nicht nur leuchtend freie Sopranklänge mit, sondern zeichnet auch ihre innere Zerrissenheit nach. Denn anders als heute sind gesellschaftliche Verantwortung und familiäre Bindung noch gewichtige Argumente, wenn es um die Frage nach einem selbstbestimmten Lebensweg geht. Tilmann Köhler baut darauf seine Regie-Idee auf: Er zeigt zunächst ein behütet-verspieltes Mädchen, das Susanne Uhl in rosa Chiffon und silberne Stiefeletten kleidet. Aber die Figur verharrt nicht in der Opferhaltung einer Lucia di Lammermoor, sondern wehrt sich, auch wenn sie die Gesellschaft der Männer ins konventionelle Brautkleid nebst Schleier und grauem Blazer steckt.

Am Ende tritt Bianca als Kämpferin von heute ins Rampenlicht. Die Erkenntnis, dass es nie um sie und ihre Liebe ging, sondern immer nur um die Befriedigung des männlichen Begehrens (Falliero/Capellio) und das gesellschaftlich-materielle Nutzbarmachen (Contareno) treibt Bianca in eine trotzige Selbständigkeit, die freilich auch Isolation bedeutet. Karoly Risz hat auf die Drehbühne eine Konstruktion aus vier Viertelkreis-Segmenten gestellt, die an Jean-Paul Sartres (im Programmheft zitierte) Beschreibung Venedigs als „Labyrinth aus Schnecken“ erinnert.

Die Teile lassen sich zu Halbkeisen verbinden, die sich ineinander drehen lassen und so eine abweisende, riesige Mauer, Durchgänge oder offene Räume für Szenen mit dem distanziert kommentierenden Chor bilden können: neutrale Schauplätze, die für alle möglichen Sujets geeignet wären, und auf die Bibi Abel ziemlich überflüssige Videos von Händen, Gesichtern und Hautlandschaften projiziert, wenn die Musik den Fluss der Zeit anhält und die Personen in sich selbst einkehren. Unter Giuliano Carella pflegt das Frankfurter Orchester eher einen warmen, sanft geschmeidigen als den „typisch“ spritzig-trockenen Rossini-Klang, dem lediglich hin und wieder Attacke und rhythmische Zuspitzung gut getan hätte.

Und wieder einmal ist aus dieser beeindruckenden Rossini-Exploration der Wunsch abzuleiten, es mögen doch auch andere Opernhäuser in die unbekannten Regionen des Schaffens Rossinis vordringen. Frankfurt rüstet sich derweil für eine andere Epochen-Entdeckung: Ab 3. April steht Umberto Giordanos Verismo-Thriller „Fedora“ in einer Inszenierung von Christof Loy im Spielplan.

Weitere Vorstellungen von Rossinis „Bianca e Falliero“ am 11., 17., 19. und 26. März 2022. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/bianca-e-falliero_2/?id_datum=2825




Gut und teuer eingekauft: Viel Berliner Spitzen-Theater prägt das Programm der Ruhrfestspiele 2022

Großes Vergnügen mit etwas Tragik: Joachim Meyerhoff und Angela Winkler in „Eurotrash“ (Foto: Fabian Schellhorn /Ruhrfestspiele Recklinghausen)

„Haltung und Hoffnung“ lautet das Motto der Ruhrfestspiele 2022. Erfunden wurde es sozusagen für das Leben mit der Pandemie, aber für den Ukraine-Krieg paßt es auch ganz gut. „Gut und teuer“ wäre ebenfalls möglich gewesen. Denn schaut man auf das Programm, das Schauspiel-Programm zumal, dann begegnen einem dort die Erfolgsproduktionen der laufenden Saison, vorzugsweise aus Berlin.

Wir sehen „Eurotrash“ von Christian Kracht, das Jan Bosse an der Berliner Schaubühne mit Angela Winkler und Joachim Meyerhoff unglaublich erheiternd inszeniert hat, „Mein Name sei Gantenbein“ nach dem Roman von Max Frisch als irrwitzigen Einpersonenabend mit Matthias Brandt, Barrie Koskys schrillbunte „Dreigroschenoper“ als Produktion der Komischen Oper, außerdem, vergleichsweise nüchtern gehalten, „Die Pest“ von Albert Camus als Produktion des Deutschen Theaters.

Nicht aus Berlin stammt der Opener, das neue Stück von William Kentridge, das laut Ankündigung aus einem Film mit Livemusik im ersten und der Kammeroper „Waiting for the Sibyl“ im zweiten Teil besteht, bildmächtig sein soll und ursprünglich eine Auftragsarbeit für Häuser in Rom, Luxemburg und Stockholm ist. Vorbild für die Titelfigur war die mythologische Prophetin Sibylle von Cumae, die das Schicksal der Menschen auf Eichenblätter schrieb.

Szene aus „Dreigroschenoper“ von der Komischen Oper Berlin (Foto: JR Berliner Ensemble/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Zweimal Hannover

Zweimal immerhin tritt das Schauspiel Hannover an. In „Annette, ein Heldinnenepos“, entstanden nach einem Roman von Anne Weber, darf sich das Publikum auf die großartige Corinna Harfouch freuen. „Die Tagesordnung“ nach dem Roman von Eric Vuillard kreist, wie dem Programmheft zu entnehmen ist, um die mehr oder minder krummen Geschäfte der deutschen Wirtschaft, die Hitlers Aufstieg beförderten. Das Stück sei ein „beeindruckender Monolog“, den Lukas Holzhausen spricht. Regie führt Oliver Meyer.

Und wieder Castellucci

Wer will, wird bei den diesjährigen Ruhrfestspielen wieder einmal Romeo Castellucci begegnen können, der seit einigen Jahren ein, wie man fast schon sagen könnte, zuverlässiger Lieferant irgendwie provokativen Festivalmaterials ist. Man erinnert sich an ein „Frühlingsopfer“, das bei der Ruhrtriennale mit herabrieselndem Knochenmehl illustriert wurde, oder auch an einen Wanderparcours aus schwankenden Blechplatten. In Recklinghausen nun, in „Bros“, wird er Polizisten auf die Bühne stellen, gewandet in historische Uniformen der legendären Stummfilm-Truppe Keystone-Cops, die auf Geheiß ihre schmutzige Arbeit machen. Das Präsentationsvideo zeigt sie – wenn man es recht erkannt hat, die Szenen spielen in einem gewissen Halbdunkel – beim Waterboarding oder dem Foltern (schwarzer?) Gefangener. Das wirkt brutal, paßt aber gerade deshalb recht gut in die Kategorie von Theaterproduktionen, die sich allerorten mit „Black Lives Matter“, Diversität, Geschlechteridentität und so weiter befassen. Als „Theaterentgrenzer“ (O-Ton Festivalleiter Olaf Kröck) begegnet uns Castellucci hier somit wohl eher nicht. Interessant ist übrigens die große Zahl beteiligter Bühnen, die diese Einrichtung einer Gesellschaft namens „Societas“ koproduziert haben. Neben den Ruhrfestspielen listet das Programmheft mehr als zehn weitere Theater zwischen Brüssel und Taiwan auf.

Szene aus „Tao of Glass“ (Foto: Tristram Kenton/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Philip Glass

Und dann ist da – wieder einmal – Philip Glass. 85 Jahre ist der Minimalmusiker jetzt alt, immer noch hoch produktiv. „Tao of Glass“ hat er zusammen mit Phelim McDermott erarbeitet, der Glasses minimale Tonsetzungen (10 neue, heißt es) in einer Art Tao-Meditation zelebriert. Auch Spielpuppen sind dabei, und wie das ganze aussehen wird, ist jetzt noch schwer zu sagen, denn die Stücke von Glass und Castellucci sind Deutschlandpremieren. Aber die Ankündigungen klingen gut.

Isadora Duncan zu Ehren

Beim Tanz fällt „Isadora Duncan“ ins Auge, weil die Tänzerin dieses Namens ja schon lange tot ist. Gemeint ist eine Choreographie dieser Wegbereiterin des modernen Tanzes, die ihr (noch lebender) Kollege Jérôme Bel für Elizabeth Schwartz aktivierte. In „Colossus“ beschäftigen sich in einer Choreographie von Stephanie Lake 40 Tänzerinnen und Tänzer von der Folkwang-Universität der Künste auf kleiner Bühne mit Körper und Körpermasse. In „Double Murder“ (zu deutsch: Doppelmord) des israelischen Choreographen Hofesh Shechter und seiner Company soll es wohl um Gleichgültigkeit gegenüber alltäglicher Gewalt ebenso gehen wie um Verletzlichkeit und Zärtlichkeit. „Clowns“ und „The Fix“ heißen die beiden Teile der Produktion, und alles in allem soll es auch zur Pandemie passen.

Früher einmal Mord mit Aussicht: Caroline Peters liest in Recklinghausen (Foto: Mirjam Knickriem/ Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Viele Lesungen

Natürlich ist im Programm noch viel mehr zu finden. Da spricht Denis Scheck (an verschiedenen Terminen) mit Edgar Selge, Harald Schmidt, Paul Maar und Antje Rávik Strubel, zu Lesungen reisen Caroline Peters, Fritzi Haberlandt, Charly Hübner und Friederike Becht an. Die Abteilung „Zwischenräume“ bietet Bildende Kunst, einen Audiospaziergang durch Recklinghausen und anderes mehr an, was sich nicht so ohne Weiteres in das traditionelle Schema einsortieren läßt. Übrigens findet hier auch die traditionsreiche Kunsthallen-Ausstellung Erwähnung. Sie wird bestückt von Flo Kasearu, heißt „Flo’s Retrospective“ und bringt es zu unerwarteter Aktualität durch den Umstand, daß die Künstlerin aus Estland stammt. Umwelt und Natur bestimmen das Bild in ihren Arbeiten.

Nicht nur ein Theaterfestival

Musik, Kinderprogramm, Zirkus und Digitales seien als Abteilungen noch erwähnt, vorwiegend eher kleine Veranstaltungen, die aber sicherlich auch ihr Publikum finden werden. Die Ruhrfestspiele sind eben nicht nur ein Theaterfestival, wenngleich Theater und Tanz im Großen Haus mit seinen beiden Bühnen dominieren.

Große Bühnen fehlen

Schauen wir noch einmal auf die Produktionen, so fällt aber auch auf, daß vieles fehlt: kein München, kein Hamburg, kein Zürich, Bern, Basel, vor allem aber auch: kein Wien. Es gibt auch keine traditionelle Sprechtheater-Produktion, die von den Ruhrfestspielen mitfinanziert oder gar beauftragt worden wäre, geschweige denn inszeniert. Das Programm ist schlichtweg zusammengekauft. Trotzdem ist es ein gutes Programm, sofern man die Stücke nicht schon in Berlin gesehen hat, wo sie teilweise ja schon lange laufen. Sprachbildmächtig könnte man sagen, daß für eine persönlichere Handschrift des Intendanten hier noch reichlich Luft nach oben ist.

www.ruhrfestspiele.de

 




Neuer Blick auf verschwundene Werke: Mit dem Projekt „Fokus ´33“ fragt die Oper Bonn nach Mechanismen des Vergessens

Auch „Arabella“ von Richard Strauss gehört in die Reihe „Fokus ´33″ an der Oper Bonn. (Foto: Thilo Beu)

Ist das Bessere ein Feind des Guten? Das mag sein, aber was ist „das Bessere“?

Sicher ist etwa Mozarts Meisterschaft unbestreitbar und ein Werk wie „Don Giovanni“ unerreicht. Aber ist, weil Mozart auf dem Feld der Komposition in seiner Zeit unschlagbar war, Antonio Salieris beißende politische Satire – etwa in dem in Würzburg vor fast 25 Jahren leider folgenlos entdeckten „Cublai, Gran Khan dei Tartari“ – auf ihre Art nicht auch unübertreffbar? Oder Salieris nachtschwarz-depressive Sicht auf Macht in „Axur, Re d’Ormus“? Gerade unter der multiperspektivischen Betrachtungsweise geistesgeschichtlicher Zusammenhänge im 21. Jahrhundert relativiert sich die Frage nach dem „Guten“ und dem „Besseren“ schnell.

Die Oper Bonn hat ein Projekt ins Leben gerufen, das sich dieser Frage für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts stellt, und zwar unter der Perspektive des Verschwindens, Vergessens und Verbleibens. Die Zeit zwischen dem Fin de Siècle und dem kulturellen Bruch durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten ist für die Oper ein seither wohl nicht mehr erreichter kreativer Höhepunkt. Zwischen Vollendung spätromantischer Raffinesse und Beharren im Wagnerismus (Erich Wolfgang Korngold, Eugen d’Albert, Cyrill Kistler), Verschmelzung von Tradition und behutsamen Aufbrüchen (Engelbert Humperdinck, Siegfried Wagner), Streben nach unerhörten Gestaden von Klang und Harmonik (Franz Schreker, Ferruccio Busoni) und radikalen neuen Konzepten (Arnold Schönberg, Alban Berg, Kurt Weill) öffnet sich ein beispielloses Spektrum formaler Experimente, musikalischer Ausdrucksweisen und theatraler Innovationen.

Dass davon im Repertoire der Nachkriegszeit lange nur der Monolith Richard Strauss überlebt hat, ist auf viele Ursachen zurückzuführen; die Ausschließlichkeit, mit der andere Komponisten daraus verbannt blieben, kann aber durch Qualität allein nicht erklärt werden. Das zeigte sich in den letzten 50 Jahren immer dann, wenn gelungene Produktionen ein vergessenes Werk dieser Epoche zur Diskussion stellten – von John Dews in Bielefeld begonnenem Einsatz für Franz Schreker über Peter P. Pachls hingebungsvolle Befassung mit Siegfried Wagner bis hin zur Wiederentdeckung Manfred Gurlitts in Trier oder Hans Gáls in Osnabrück.

Pioniertaten ohne Echo

Warum aber blieben solche Pioniertaten meist ohne Echo? Wie funktionieren die Mechanismen des Vergessens und Bewahrens? Mit der Reihe „Fokus ´33“ will die Oper Bonn dieser Frage nicht nur wissenschaftlichen nachgehen – das gab es schon öfter –, sondern das Rechercheprojekt ins lebendige Theater holen: Szenische Aufführungen von Werken, die nach 1933 oder ab 1945 aus den Spielplänen verschwanden oder in diesem Zeitraum entstanden und erst danach überhaupt zur Uraufführung gelangten, sind in den Spielzeiten 2021/22, 22/23 und auch darüber hinaus geplant. Gefördert wird das Projekt mit rund 1,2 Millionen Euro durch das Land NRW und das Förderprogramm „Neue Wege“.

Das ehrgeizige Unterfangen kann sich in Bonn auf eine länger anhaltende Tradition stützen, aus der zum Beispiel Aufführungen von Eugen d’Alberts „Der Golem“ (2009/10), Franz Schrekers „Irrelohe“ (2010/11), Paul Hindemiths Einakter-Triptychon (2012/13), Emil Nikolaus von Rezniceks „Holofernes“ (2015/16) oder Hermann von Waltershausens „Oberst Chabert“ (2017/18) zu nennen sind. Bei allen Werken konnte die behauptete Aktualität eingelöst werden – und wäre es einmal nicht gelungen, hätte sich auch aus dem Anachronismus, der geistigen Ferne zu unserer Gegenwart, dem Widerstand gegen den Zeitgeist ein Erkenntnisgewinn oder eine Kontrasterfahrung gewinnen lassen.

Eine Szene aus Rolf Liebermanns „Leonore 40/45″ an der Oper Bonn in der Inszenierung von Jürgen R. Weber und der Ausstattung von Hank Irwin Kittel. (Foto: Thilo Beu)

Die „Fokus ´33“-Reihe begann im Herbst 2021 mit zwei gegensätzlichen Produktionen, Richard Strauss‘ „Arabella“ von 1933 mit einem immer wieder in Kitschverdacht geratenen Stoff aus der Feder Hugo von Hofmannsthals, den man getrost als Beispiel für Verdrängung betrachten kann. Und mit Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“, einem Skandalstück der fünfziger Jahre, das in einer bildmächtigen Regie von Jürgen R. Weber und in der mit Symbolen und Chiffren spielenden Ausstattung von Hank Irwin Kittel eine frappierende Aktualität an den Tag legte.

Weber gestaltete das „Fraternisierungsdrama“ zwischen einem deutschen Wehrmachtssoldaten und einer jungen Französin als einen Zirkus nationaler Symbole, als schräge Revue voll ironischer Anspielungen, von Beethoven und Dürer bis zur Marianne und dem gallischen Hahn. Und Dirigent Daniel Johannes Mayr gewann dem Zwölftöner Liebermann überraschend sinnliche Seiten ab. Ein treffendes Beispiel, wie aus der Ablage der Operngeschichte eine Akte hervorgeholt wird, die sich als aufschlussreich für die Gegenwart erweist.

Fränkischer Freiherr und chinesischer Dichter: Li-Tai-Pe

Ab 22. Mai 2022 wird die „Fokus“-Reihe fortgesetzt mit dem 1920 in Hamburg uraufgeführten Dreiakter „Li-Tai-Pe“ des im fränkischen Wiesentheid geborenen Freiherrn Clemens von und zu Franckenstein, einem Schüler Ludwig Thuilles, Generalintendant der Münchner Hofoper und ab 1924 bis 1934 der Bayerischen Staatsoper. Das Werk über den chinesischen Lyriker des 8. Jahrhunderts genoss bis zur Schließung der Theater 1944 ungebrochene Beliebtheit, verschwand danach jedoch völlig hinter dem Horizont der Geschichte. Regisseurin Adriana Altaras und Hermes Helfricht als Dirigent werden die Frage beantworten müssen, warum sich der Blick auf ein so nachhaltig vergessenes Werk jenseits der puren Entdeckerfreude heute wieder lohnen kann.

Zuvor schweift die Oper Bonn fast ein Jahrhundert weiter zurück: 1843 schrieb der damalige preußische Generalmusikdirektor Giacomo Meyerbeer ein deutschsprachiges Singspiel mit Szenen aus dem Leben Friedrichs II. „Ein Feldlager in Schlesien“ war in seiner originalen Fassung bisher so gut wie nicht bekannt. Die kritische Edition des Stuttgarter Mathematikers und Opernspezialisten Volker Tosta bietet nun die Grundlage, mit dem ungewöhnlichen Singspiel einen Meyerbeer jenseits seiner „grand opéra“ kennenzulernen. Die wohl erste Aufführung seit 130 Jahren ist dem Regisseur Jakob Peters-Messer anvertraut, am Pult steht Generalmusikdirektor Dirk Kaftan. Premiere ist am 13. März.

Franchetti und Schreker in der Saison 22/23

In der kommenden Spielzeit wird die „Fokus“-Reihe fortgesetzt. Eine veritable Wiederentdeckung ist die seit 1945 nicht mehr gespielte erste Oper von Alberto Franchetti, „Asrael“. Als Jude war der Sohn eines wohlhabenden Turiner Bankiers im faschistischen Italien am Ende seines Lebens gefährdet; die Nachkriegszeit verbannte ihn in die Vergessenheit. Ein Schattendasein fristet in der „Schreker-Renaissance“ der letzten Jahrzehnte – die freilich oft nur ein punktuelles Wiederaufflackern des Interesses bedeutet – die Oper „Der singende Teufel“. Nach einer aufsehenerregenden, aktualisierenden Bearbeitung von John Dew in Bielefeld ist die Originalgestalt des 1928 in Berlin uraufgeführten Werks bis heute kaum oder gar nicht mehr gespielt worden.

Doch auch jenseits dieser Reihe macht die Oper Bonn unter ihrem Generalintendanten Bernhard Helmich mit spannenden Produktionen jenseits des gängigen Repertoires auf sich aufmerksam. So mit der Uraufführung der Familienoper „Iwein Löwenritter“ von Moritz Eggert auf einen Stoff von Hartmann von Aue, von Felicitas Hoppe für ein heutiges Publikum erzählt. Und ab 10. April steht als Fortsetzung des vor acht Jahren begonnenen Zyklus‘ von Giuseppe Verdis frühen Opern der in Deutschland kaum gespielte „Ernani“ nach Victor Hugo auf dem Spielplan. Will Humburg dirigiert, die Regie führt Roland Schwab, der soeben in Essen mit Puccinis „Il Trittico“ eine so sinnlich überzeugende wie reflektiere Arbeit auf die Bühne des Aalto-Theaters gestellt hat. Es lohnt sich also, nach Bonn zu fahren!




Raum des blauen Wassers: Piero Vinciguerra schafft für Puccinis „Trittico“ in Essen eine magische Bühne

Die Bühne von Piero Vinciguerra für Giacomo Puccinis Dreiteiler „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. Ein magischer Raum von Distanzierung, Verklärung und Selbstentäußerung. (Foto: Matthias Jung)

Was wäre bei Giacomo Puccini denn ein anderes Thema, das drei so unterschiedliche Opern wie in seinem „Trittico“ miteinander verbinden könnte, wenn nicht die Liebe?

So trivial die Feststellung klingt – denn fast alle Opern haben irgendetwas mit Liebe zu tun –, so grundlegend ist sie für Puccinis Experiment, drei Werke zu einem „Triptychon“ zu verbinden, die wie drei Flügel eines Kunstwerks einzeln stehen und doch zusammengehören. Aber Regisseur Roland Schwab hat in seiner dritten Inszenierung am Aalto-Theater Essen (nach Verdis „Otello“ und Leoncavallos „Pagliacci“) eine andere Antwort: der Tod.

Schwab entdeckt also, was Puccini in seiner letzten Oper „Turandot“ im schmerzlichen Scheitern letztlich bekräftigt hat. Doch schon das „Trittico“ beantwortet die Frage Friedrich Nietzsches, ob Liebe und Tod nicht Geschwister seien, in drei Versionen: dem gewaltsamen Mord, dem verklärenden Übergang und einem Satyrspiel mit dem Tod, dem Schwab durch den Suizid des Buoso zum Beginn von „Gianni Schicchi“ ein verstörendes Gewicht gibt. Aus dem Überdruss am Luxus – Buoso erschießt sich am Rand eines mondänen Pools – keimt die zerstörerische Gier nach Reichtum als Quelle materieller Völlerei. Von daher, und verbunden mit dem Blick auf die außerordentliche Qualität der Musik Puccinis, kann das „Trittico“ auf gleicher Höhe wie Verdis „Aida“ oder Wagners „Tristan und Isolde“ auf das unerschöpfliche Thema von Liebe und Tod blicken.

Die Scharniere zwischen den Werken interessieren Schwab bei seiner Neuinszenierung des „Trittico“ am Essener Aalto-Theater besonders. Am liebsten hätte er, so bekennt er im Programmheft-Interview, die drei Stücke ohne Pause aneinandergehängt, und begründet das tiefsinnig mit der Dreiteilung von Dantes „Göttlicher Komödie“: Der Beginn, „Il Tabarro“, als Abgrund der Welt, „Suor Angelica“, das ungeliebte Mittelstück, als das „Purgatorio“, den Reinigungsort. Und schließlich „Gianni Schicchi“, die rabenschwarze Komödie, als Verweis auf das Paradies. Abwegig? Sicher nicht, denn die einzige Liebe, die eine Chance auf Gelingen hat, ist die zarte, sich selbst sichere Beziehung zwischen den jungen Menschen Lauretta und Rinuccio.

Zerstiebt Hoffnung wie Seifenblasen?

Heiko Trinsinger (Gianni Schicchi), Lilian Farahani (Lauretta) in „Gianni Schicchi“. Foto: Matthias Jung.

Aber wer stärker ist, die Liebe oder der alles verbindende Tod, wird in „Gianni Schicchi“ Bild und Szene virtuos in der Schwebe gehalten. Zwar bekommt das kleine Luder Lauretta genau das, was sie will, aber hinter dem fröhlich posierenden Paar schäumen Seifenblasen auf. Und der Schelm Gianni Schicchi hält eine rote Kugel in der Hand, die während des gesamten „Trittico“ als Chiffre in der Szene präsent war. Ist es der Apfel der Eva, mit dem das Paradies unzugänglich und das Böse in der Welt wirksam wurde? Die verbotene Frucht, die den Menschen „wie Gott“ um sich selbst wissend, frei, aber auch der Mühsal unterworfen der Welt auslieferte? Und verheißt die Leuchtschrift „Addio Speranza“ nicht auch auf die vergebliche Liebesmüh‘? Die Hoffnung – addio, also „zu Gott“?

Schwab arbeitet gerne (und manchmal zu viel) mit solchen symbolischen Fingerzeigen, mit chiffrierten Hinweisen. In „Il Tabarro“ spielt ein Drehorgler einen verstimmten Walzer. Er sollte in den beiden anderen Teilen wiederkommen – stummer Repräsentant des Todes im Komödiantenkostüm und so ein Echo des „Leierkastenmannes“ Schuberts. Das Kleid in sanft abgestuften Rosa-Tönen – die Kostüme sind Gabriele Rupprechts sensible Schöpfungen – verbindet die Protagonistinnen der drei Opern, betont das Gemeinsame der Frauenfiguren, die bei Puccini von Manon bis Liu stets zu Opfern verurteilt sind.

Wesentlich getragen wird Schwabs jeden Realismus transzendierende Sicht von einem großen Wurf Piero Vinciguerras: Für diese erste komplette Realisierung des Puccini-Dreiteilers in Essen hat der international erfolgreiche italienische Bildmagier die Bühne mit einem riesigen Wasserbecken ausgefüllt. Doch was anderswo lediglich zum szenischen Aufreger taugte, erhält in Essen sinnliche fassbare Bedeutung: Das Wasser wird selbst zum symbolhaften Element von Zeit, Vergänglichkeit, Elendsstrom und Tränensee. Selbst in „Il Tabarro“, in dem der Verismo und das Sozialdrama Émile Zolas grüßen, illustriert es nicht das Ufer der Seine. Und in Verbindung mit dem meisterlich eingesetzten Licht wandelt es den Raum zur Sphäre. Hier geht es nicht mehr um Schauplätze, sondern um Seelenräume.

Das Licht schafft Verbindungen zwischen den Opern: Wenn Luigi im „Tabarro“ bitter feststellt, das Leben habe keinen Wert mehr, schimmert die Bühne in dem blauen Licht, das später Schwester Angelica umfließt, wenn sie sich vergiftet. Dieser Moment ist große Bühnenkunst: Der riesige Spiegel über der Wasserfläche senkt sich in der Hinterbühne und lässt die Zuschauer wie von oben auf die im Blau hingestreckte Angelica blicken. Der Moment des Sterbens als Selbstentäußerung, Transzendierung und Verklärung wird wie selten sinnlich fassbar. So legt Schwab Spuren aus, die sich im Lauf des Abends zu festen Banden zwischen den drei Teilen entwickeln. Puccini hätte seine helle Freude gehabt.

Sänger garantieren musikalische Qualität

Das Aalto-Theater kann mit einer Riege von Sängern aufwarten, die auch die musikalische Qualität des Abends garantieren. Bettina Ranch etwa spielt als Frugola den Frust einer derangierten Schönheit aus und streift die Spur des Naturalismus, ohne die Dichte der Szene zu durchbrechen. Als Fürstin in „Suor Angelica“ repräsentiert sie – bezeichnend mit der Chiffre des Lichts durch ihre Sonnenbrille spielend – die eiskalte Unerbittlichkeit, die empathielos auf das Erbe konzentriert schon die Gier der Nachfahren in „Gianni Schicchi“ präfiguriert. Jessica Muirhead ist ein Schatz im Ensemble des Aalto-Theaters: Die ganze Sensibilität, Verletzlichkeit und innere Qual der ins Kloster verbannten unehelichen Mutter legt sie für Schwester Angelica in ihre freie, blühende, im Piano reich schattierende Stimme.

Der Tod zerreißt das begrenzende Gespinst und öffnet den Raum: Jessica Muirhead in „Suor Angelica“. Foto: Matthias Jung.

Marie-Helen Joël hat als Äbtissin und vor allem als Zita in „Gianni Schicchi“ stimmlich sicher unterfütterte, szenisch dichte Auftritte. Auch die kleineren Rollen sind niveauvoll besetzt, etwa mit Liliana de Souza (Schwester Eiferin, La Ciesca), Giulia Montanari (Genovieffa) oder Christina Clark (Nella). Annemarie Kremer setzt als Giorgetta einen imposant-kraftvollen Sopran ein, aber den scharfen, vibratoreichen Tönen fehlt der sinnliche Schmelz einer Puccini-Stimme. Auch Lilian Farahani ist als Lauretta nicht optimal besetzt: „O mio babbino caro“, der Schlager des gesamten „Trittico“, erklingt zu leicht, zu soubrettig, und ohne fließende melodische Bögen.

Mit Heiko Trinsinger als Michele („Il Tabarro“) und als Gianni Schicchi kann sich das Aalto-Theater auf eine sichere Nummer verlassen. Er erfasst trotz eines nicht so sehr italienisch gefärbten Baritons die resignierte Trauer und den impulsiven mörderischen Ausbruch eines Mannes, der ratlos zusehen muss, wie ihm die immer noch geliebte Frau im Fließen des Schicksals entgleitet. Dem Gianni Schicchi gibt er weniger die Eleganz des gewitzten Betrügers mit, sondern eher virile Kraft, unbändige Komödiantenlust, aber auch einen Flash von Zynismus.

Sergey Polyakov (Luigi) und Annemarie Kremer (Giorgetta) im ersten Teil des Abends, „Il Tabarro“ („Der Mantel“). (Foto: Matthias Jung)

Sergey Polyakov ist ein standfester, zu kraftvollem Nachdruck fähiger Luigi, der dennoch die drückende Trostlosigkeit seiner Existenz und die leise Trauer in seiner Leidenschaft in flexiblen Tönen auszudrücken weiß. Baurzhan Anderzhanov (Il Talpa/Betto di Signa) fällt wie stets durch seine makellos geführte Stimme und den Wohllaut seines kühlen, aber schön abgerundeten Timbres auf. Zu hoffen ist, dass Christopher Hochstuhl aus dem Opernstudio NRW als Liedverkäufer künftig nicht auf ein paar Sätzchen und stumme Auftritte beschränkt bleibt. Zumal in „Gianni Schicchi“ machen die Sänger – mit Carlos Cardoso als erfrischendem Rinuccio und Uwe Eikötter als erfahrenem Gherardo – dem Begriff des „Ensembles“ alle Ehre. Opern- und Kinderchor des Aalto-Theaters unter Patrick Jaskolka bewältigen die schwierige Aufgabe, aus der Ferne und in ungünstiger Aufstellung zu singen, mit solider Sicherheit.

Im Orchester erklingt ein „moderner“ Puccini

Am Pult der Essener Philharmoniker waltet diesmal Roberto Rizzi Brignoli, Generalmusikdirektor in Santiago de Chile und häufiger Gast an Häusern wie der Mailänder Scala, Berlin, Hamburg oder Stuttgart. Er präsentiert einen „modernen“ Puccini, bedacht auf Transparenz und genaues Nachzeichnen der Komplexität von Puccinis Komposition. Das ist gerade für „Il Trittico“ ein passender Zugang. In „Il Tabarro“ betont er nach einem luftig-lockeren Beginn nicht die Qualitäten des Verismo-Reißers, sondern die diskret schattierten Töne, die lyrischen Momente, in denen sich die verletzten Seelen musikalisch äußern.

In „Suor Angelica“, die der Operntradition des 19. Jahrhunderts am nächsten liegt, hätte man sich stellenweise einen süffigeren Klang vorstellen können. Aber die Essener Philharmoniker bringen das mystische Kolorit zum Leuchten, funkeln in der differenzierten Instrumentierung in aparten Farben, spielen Lyrisches gelöst und ohne Druck. Beste Voraussetzungen für die agile Musik des „Gianni Schicchi“, in der die Moll-Klage ebenso geheuchelt klingt wie das heroische Preislied auf Florenz, und in der sich die Philharmoniker vergnügt auf punktierte Details und schräge Sprünge kaprizieren. Eine Burleske mit schaurigem Hintergrund – der Kreis ist geschlossen.

Vorstellungen am 13. Februar (mit Nachgespräch), 2., 20., 31. März, 24. April, 15. Juni 2022. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/2022-02/iltrittico/6384/




Szenisch demontiert, musikalisch erhöht: Mozarts römischer Kaiser Titus an der Rheinoper Düsseldorf

Maria Kataeva als Sesto in Mozarts „La Clemenza di Tito“ an der Rheinoper in Düsseldorf. (Foto: Bettina Stöß)

Ein Fest der noblen Töne und der durchgearbeiteten Details: Die Dirigentin Marie Jacquot hebt in luziden Klang, was Wolfgang Amadé Mozart in seine kurz vor der „Zauberflöte“ uraufgeführte Krönungsoper „La Clemenza di Tito“ an kompositorischen Kostbarkeiten eingeschrieben hat.

Trotz der Herkunft des Stoffs aus der Opera seria des Wiener Hofdichters Pietro Metastasio ist die alte Manier an vielen entscheidenden Stellen überschrieben. Äußerlich mag die Folge von Arien und Rezitativen noch an Althergebrachtes erinnern; innerlich haben es Librettist Caterino Mazzolà und Mozart mit seiner Kunst des Ensembles, aber auch mit der Aufwertung der Rolle des Orchesters gründlich hinter sich gelassen. Da ändern auch die Rezitative nichts, die vermutlich aus Zeitmangel von Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr in Töne gesetzt wurden.

Die „Milde des Titus“ also. Zuletzt im Mozartjahr 2006 in Düsseldorf, diesmal unter dem so analytischen wie leidenschaftlichen Blick der jungen französischen Kapellmeisterin, die sich gerade an der Deutschen Oper am Rhein und bei einer Reihe von Gastdirigaten erfolgreich ihre Sporen verdient. Mit dem „Barbier von Sevilla“ war sie zu Beginn der Spielzeit schon mit viel Willen zu lockerer Beweglichkeit und witzig-spritziger Rossini-Verve unterwegs, ausgebremst freilich von einem nicht entsprechend alert reagierenden Orchester und einer wenig inspirierten Inszenierung von Maurice Lenhart.

Staatsaktion mit beseelten Menschen

Jetzt kommt ihr in diesem Lehrstück eines exemplarisch-idealen Regierungsstils die Regie von Michael Schulz ebenfalls nicht gerade entgegen. Aber die Düsseldorfer Symphoniker verstehen sich auf Mozart weit einfühlsamer als auf den trockenen Humor des Italieners. Und so wird der Abend in erster Linie ein musikalisches Erlebnis. Man mag sich den Kopf heiß reden über die Frage, ob das innere Pathos der Musik dem rückwärtsgewandten Auftragsstoff geschuldet ist – die böhmischen Stände als Auftraggeber wollten unbedingt einen „Titus“ haben –, oder ob Mozart nicht doch ein feines Ohr für die aus Frankreich kommende, neue musikalische Ausdruckssphäre hatte. Spannend auch zu hören, was Mozart seinen Zeitgenossen Christoph Willibald Gluck und Antonio Salieri an die Seite stellt, die beide auf ihre Weise bewegende Seelentöne trafen, ohne Mozart in seiner unendlich einfallsreich variativen musikalischen Sprache zu erreichen.

Marie Jacquot. (Foto: Werner Kmetitsch)

Marie Jacquot jedenfalls treibt das Pathos nicht auf die Spitze, entdeckt aber die Subtilität der Komposition, wie sie sich in der Ouvertüre nach der Dreiklangseröffnung und einem gekonnt gesteigerten Mannheimer Crescendo in der Verarbeitung des eigentlich simplen Themas mit seinen schreitenden, durch Pausen getrennten Achteln zeigt. Bei ihr klingen diese Momente nicht kühl poliert, sondern erfüllt mit lyrischer Wärme – denn es geht ja nicht (nur) um eine Staatsaktion oder ein Herrscherideal, sondern ebenso um beseelte Menschen. Jacquot lässt sie in sensibler Finesse und Liebe zum Detail vor unser musikalisches Ohr treten: Man hört das Fagott im Aufzugsmarsch des Kaisers, man folgt den Halbtonschritt-Sequenzen, die Titus als abgeklärten, in sich ruhenden Charakter in die Nähe Sarastros rücken. Wolfgang Esch mit seiner Bassettklarinette und Ege Banaz mit dem Bassetthorn haben den Raum, den Reiz des Instrumentalklangs wunderschön zu entfalten.

Auch die hohe Kunst der Ensembleführung wird vom Dirigentenpult aus gepflegt. Ob im Finalquintett des ersten Akts, das Friedrich Rochlitz ein „großes Meisterstück“ nannte, oder in der erregten Hektik des Terzetts „Vengo! Aspettate …“: Marie Jacquot übertreibt die Ausdrucksmittel nicht, hält Tempi und Dynamik stets ausgewogen im Zaum, ergreift aber gerade dadurch die Chance, sie mit innerem Leben und mit eleganter Expressivität zu erfüllen. Da sie die Sänger diskret und rücksichtsvoll begleitet, haben sie die Chance, sich stimmlich ohne Druck zu entfalten.

Utopische Milde contra Zynismus der Macht

Das glückt nicht durchgängig: Immer wieder setzen sie sich unter Spannung, wo die Dirigentin eigentlich locker führen will. Aber Maria Kataeva singt sich schon nach dem ersten, noch etwas gehemmten Einstand frei und gestaltet vor allem ihre Arie „Parto, parto“ und das große, zum Finale überleitende Rezitativ „Oh Dei, che smania e questa“ mit dramatischem Gespür und flexibler Beweglichkeit. Das Freundschafts-Duettino mit Annio leidet unter der Manier von Anna Harvey, Töne zu „stoßen“ statt gleichmäßig auf dem Atem zu führen; in der Arie „Tu fosti tradito“ im zweiten Akt gelingt es Harvey besser, den Ton zu fokussieren und strömen zu lassen.

Als eine mit allen kriminellen Wassern gewaschene Zynikerin der Macht hat Titus‘ Gegenspielerin Vitellia ein breites Spektrum von Affekten vokal zu bewältigen, von zupackender Aggressivität über fiebrige Erregung bis hin zu – für die Figur erstaunlichen – Äußerungen weicher Empfindung. Dem strahlkräftigen, mit funkelndem Metall angereicherten Sopran von Sarah Ferede kommen die energischen und dunklen Seiten dieses Charakters eher entgegen; gleichwohl gelingt es ihr, ihre erste Arie („Deh, se piacer mi vuoi“) differenziert zu singen.

Jussi Myllys hat die undankbare Aufgabe, mit dem Kaiser eine Figur ohne innere Entwicklung und Handlungsmacht darzustellen. Der Edelmut des Herrschers – ganz im Gegensatz zum historischen Titus Flavius Vespasianus, wie ihn der römische Historiker Sueton sicher in tendenziöser Absicht schildert – ergießt sich in Betrachtungen etwa über die Rolle der Wahrheit vor Fürstenthronen, macht aber auch den Schmerz und die Enttäuschung deutlich, über die Titus dennoch seine „clemenza“ siegen lassen will. Die trocken-unbeteiligte Farbe des Tenors von Jussi Myllys und eine introvertierte, öfter belegt wirkende Tongebung mache die Rolle nicht eben interessanter. Auch Beniamin Pop als Publio kann – anders als Lavinia Dames als anmutige Servilia – keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Dirk Beckers Bühne zu Mozarts Oper. Foto: Bettina Stöß

Für seine Inszenierung hat der erstmals an der Rheinoper inszenierende Gelsenkirchener Generalintendant Michael Schulz genau eine Idee – und die stellt sich nach langen, umständlichen Auftritten und Abgängen in einem unspezifischen, für alle möglichen Werke recycelbaren Bühnenaufbau von Dirk Becker erst am Ende ein. Milde, Verzeihung, Menschlichkeit? Alles nur Show. Mit dieser Desavouierung von Mozarts hochgestimmtem Fürstenspiegel entlässt Schulz die Zuschauer in eine Realität, die leider allzu oft einen ähnlichen Eindruck nahelegt. Ob allerdings auf diese Weise „Macht, Güte, Milde und Weisheit als Korruption, Schmeichelei und devoter Untertanengeist“ enttarnt werden, wie Wolfgang Willaschek in einem provokanten Programmheftbeitrag meint, bleibe dahingestellt.




Gelächter statt Respekt: In Gelsenkirchen wird Rossinis „Otello“ zum Drama des Verfalls europäischer Ideale

Draußen vor der Tür: Otello (Khanyiso Gwenxane) hat keine Chance, zur Gesellschaft zu gehören. (Foto: Björn Hickmann)

Kinder können grausam sein: Sie tänzeln mit Baströckchen vor dem schwarzen Mann, zeigen mit Fingern auf ihn, strecken ihm eine Banane entgegen. Wir kennen solche rassistischen Beleidigungen unter anderem von Fußballplätzen.

Doch Empörung ist unter Umständen vorschnell und billig: Denn nicht nur raubeinige Sporthooligans, denen niemand die Segnungen der Intelligenz zusprechen möchte, sind unverblümte Rassisten. Die Abwertung von Menschen ist in „feinen“ Kreisen vielleicht nicht so drastisch spürbar, dafür aber umso subtiler. Manuel Schmitt, Regisseur der Gelsenkirchener Neuinszenierung des „Otello“, zeigt mit der umtriebigen Schar auf der Bühne auch keine Kinder, sondern eher kleine Gespenster: Was die Gesellschaft hinter einer Fassade von gutem Benehmen verbirgt, lassen die grauen Wesen in seiner ganzen Gemeinheit in die Realität einbrechen.

Ein gespenstischer Alptraum vor der „Festung Europa“. (Foto: Björn Hickmann)

Dabei sieht zunächst alles nach eitel Wonne aus: In einer eleganten Nachkriegsarchitektur wird ein Bankett vorbereitet, ein hierarchiefreier runder Tisch gedeckt. Einer der blütenweiß livrierten Bediensteten zertritt angewidert etwas am Boden – offenbar ein lästiges Insekt. Aber all diese harmlosen Schilderungen haben einen doppelten Boden: „In varietate concordia“ lässt Bühnenbildner Julius Theodor Semmelmann über dem Bauwerk prangen. Es ist das Motto der Europäischen Union. „In Vielfalt geeint“, ein hehres Ideal, zu schön, um bloß zynisch dekonstruiert zu werden. Aber wie weit es in der Realität trägt, will der Regisseur am Beispiel des „Mohren von Venedig“ im Lauf des Opernabends demonstrieren. Und er spendet, das sei jetzt schon gesagt, wenig Hoffnung.

Draußen vor der Tür

Gelsenkirchen hat Manuel Schmitt nach seinem erstklassigen Regiedebüt mit Georges Bizets „Die Perlenfischer“ 2018 erneut ein Werk aus dem Randbereich des Repertoires anvertraut: „Otello“ ist nicht die bekannte Oper Giuseppe Verdis, sondern ein Hauptwerk von Gioachino Rossini, 1816 uraufgeführt und im ganzen 19. Jahrhundert oft gespielt, bis es durch den Wandel des Zeitgeschmacks und das Fehlen koloraturerprobter Gesangssolisten – man braucht sechs Tenöre mit hoher Tessitura – von den Bühnen verschwand. Die Welle der Wiederentdeckung der ernsten Opern Rossinis hat auch dem „Otello“ eine Renaissance beschert, wenn diese auch an deutschen Theatern eher verhalten ausfällt.

Der Regisseur Manuel Schmitt. Foto: Werner Häußner

Der Regisseur Manuel Schmitt. (Foto: Werner Häußner)

Das zertretene Ungeziefer ist nur ein Hinweis, dass es mit der heilen Fassade nicht weit her ist. Als Otello auftritt, im eleganten Outfit von Carolas Volles an die noble Gesellschaft angepasst, wird die Kluft schnell deutlich: Er bleibt draußen vor der Tür, während drin eine privilegien- und machtbewusste Jeunesse dorée feiert. Jago gehört dazu, Rodrigo ebenso. Otello sagt es deutlich: „Ein Fremder bin ich“. Allzu bemüht erkennt die Gesellschaft seine Verdienste an, aber als es um „Respekt für den Helden“ geht, flammt Gelächter auf.

Schmitts Inszenierung hält in vielen bezeichnenden Details fest, wie sich auf der toleranten Fassade die Sprünge zeigen und der rassistische Kern durchscheint. Und welchen Stellenwert Desdemona, der Braut Otellos, zugeschrieben wird, zeigt er ebenso drastisch: Sie wird präsentiert als die Frau im Bett, observiert von einer Emilia, die wie eine alte englische Gouvernante wirkt. Dass hinter den kultivierten Konventionen Gewalt und Roheit lauern, wird am Ende des ersten Akts überdeutlich. Es stellt sich aber die Frage, ob sich ein Kriegsheld wirklich die körperlichen Übergriffe einer Bande entfesselter Luxusknaben gefallen lassen würde.

Europäische Werte – nur noch museal

Der Bau auf der Bühne mutiert zum Museum. Ein antiker Torso mag an die humanistische Tradition Europas erinnern, ein Gemälde wie Théodore Géricaults „Floß der Medusa“ aus dem gleichen Jahr wie der „Otello“ (1816) kann als Verweis auf die Bootsflüchtlinge von heute gelesen werden. Auch das Blau von Yves Klein – die riesigen Flächen im Foyer sind der Stolz des Musiktheaters im Revier – taucht auf. Aber die Kunst degeneriert zur Staffage und zum Objekt des Marktes. Otello tritt sie wütend und desillusioniert mit Füßen, während der schicke Bau von Stacheldrahtrollen umgeben wird: ein beklemmendes Bild für die „Festung Europa“.

Der südafrikanische Tenor Khanyiso Gwenxane als Otello und Rina Hirayama, bisher Mitglied des jungen Ensembles am MiR, als Desdemona. (Foto: Björn Hickmann)

Bei den Personen auf der Bühne meidet Schmitt eine allzu eindeutige moralische Kategorisierung und lässt damit Tragik und Fallhöhe zu: Rodrigo erweist sich als ein zwar berechnender, aber wirklich Liebender, Iago als der falsche Strippenzieher, dem Otello in seiner Verzweiflung vertraut. Über das Ende entscheiden die Zuschauer in einem scheinbar demokratischen Verfahren, das eine bloße Abstimmungs-Farce ist. Ohne zu wissen, wohin ihr Votum führt, wählen sie das tragische Ende mit dem Tod Desdemonas oder ein von Rossini für die römische Karnevalssaison 1820 nachkomponiertes, absurdes Happy End.

Herausfordernde stimmtechnische Hürden

Wie herausfordernd die Partien sind, die Rossini damals für die Sängerelite seiner Zeit schrieb, kann in Gelsenkirchen nicht verleugnet werden. Die drei Tenor-Hauptrollen sind respektabel besetzt, stellen sich mutig den technischen Hürden, bleiben aber bei der Galoppade der Koloraturen, Verzierungen, Höhensprünge, unangenehmen Registerwechsel und bei der kräftezehrenden Dramatik in schwindelnder Höhe immer wieder an den Sprungbalken hängen.

Khanyiso Gwenxane ist ein in seinem Auftritt zurückhaltender Otello, kultivierter als diejenigen, die ihn von oben herab betrachten. Sein Abstieg macht ihn ratlos, hilflos, zuletzt verzweifelt. Gwenxane legt die Emotionen in seine Stimme, die ihre Position erst finden muss und die mit ausgeprägtem Vibrato das Legato zerhackt. Das wird im Duett mit dem Rodrigo Benjamin Lees zum Problem, wenn die Stimmen nicht harmonieren. Lee singt eine beeindruckend gefasste Arie, aber seine Höhen sind abenteuerlich gebildet und neigen dazu, unsauber zu werden. Immer wieder drückt er auf die Leichtigkeit des Tons.

Adam Temple-Smith ist ein harter Iago mit scharf geschliffener Stimme ohne vokale Eleganz und ebenmäßige Tongebung. Dieser Iago ist nicht die Inkarnation des nihilistischen Bösen wie bei Arrigo Boito und Giuseppe Verdi – eine solche Figur hatte Rossini bereits ein Jahr vorher in seiner „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ geschaffen. Der aus Hass kalkulierende Intrigant, der Otello mit scheinbarer Freundschaft eine Falle stellt, ist dennoch als Charakter verkommen genug, um das Trio der Gegner Otellos zu komplettieren. Dazu gehört auch eine bei Verdi nicht vorkommende Figur: Elmiro, Vater Desdemonas. Er schmiedet einen hinterhältigen Plan, um die Heirat seiner Tochter mit Rodrigo zu erzwingen. Man hat dem verdienten Sänger Urban Malmberg keinen Gefallen getan, ihn mit dieser Rolle zu betrauen, denn er ist alles andere als ein Schönsänger. Mit Mühe stellt er sich den Noten Rossinis, gleitet auf öligem Vibrato von Ton zu Ton und liefert eine Karikatur von Belcanto.

Romantisch-expressive Tonsprache

Rina Hirayama hat als Desdemona ihre berührendsten Momente im dritten Akt, für den Rossini eine neue, romantisch-expressive Tonsprache entwickelt, die direkt von Giovanni Simone Mayr zu dessen Schüler Gaetano Donizetti führt. Hirayama singt das Gebet der Desdemona und „Assisa a pie‘ d’un salice“ – das „Lied von der Weide“ – schlicht und intensiv, wie den Gesang einer tragischen Heroine. Ihre Stärken zeigt sie jedoch ebenso im Gestalten der Rezitative, die Rossini mit viel Bedacht und genauer Anpassung an die dramatische Situation komponiert hat. Der Tenor Tobias Glagau gefällt im melancholischen Lied eines Gondoliere; Lina Hofmann (Emilia) und Camilo Delgado Díaz (Lucio) sind in den kurzen Momenten ihrer Nebenrollen präsent und konzentriert. Der Chor, einstudiert von Alexander Eberle, hat zu Beginn Mühe mit dem Tempo, in den großräumig gestalteten Finali packende vokale Prägnanz.

Die Neue Philharmonie Westfalen kann in den reich bedachten Bläsern – stellvertretend seien die geschmeidige Oboe in der Ouvertüre und das Solo-Horn im ersten Akt genannt – viel Sinn für Rossinis vielgestaltige Klang- und Rhythmus-Dramaturgie beweisen. Giuliano Betta am Pult fordert zugespitzte Tempi und eine nicht immer eingelöste federnd-impulsive Artikulation; Momente der Kontemplation bleiben aber hin und wieder zu zäh. Wechselhaft auch der Eindruck der Rezitative – mal feurig gelungen, mal zu flott-beiläufig formuliert. Dennoch: Rossinis Musik trägt den Sieg davon, trotz der vokalen Schwächen. In Verbindung mit der starken Regie Manuel Schmitts zeigt der Abend in Gelsenkirchen, wie wenig auf die alten Vorurteile Verlass ist: Dieser „Otello“ ist packendes, berührendes Musiktheater. Der „ernste“ Rossini ist es wert, endlich in seiner Vielfalt auf der Bühne zu erscheinen.

Vorstellungen am 05. und 26. Dezember 2021, am 9. und 16. Januar 2022. Info: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/otello




Verzicht auf die Katastrophe: „Schwanensee“ am Essener Aalto-Theater

Mika Yoneyama (Odette) und Corps de ballet in „Schwanensee“. (Foto: Bettina Stöß)

Ben Van Cauwenbergh wirkt seit 2008 am Aalto-Theater, zunächst als Ballettdirektor, später als Ballettintendant. In dieser Zeit hat der in den siebziger und achtziger Jahren renommierte Tänzer als Choreograf das Essener Ballett als Stätte klassischer Tanzkunst bewahrt und zu einer festen Größe in der Beliebtheit des Publikums ausgebaut.

Van Cauwenbergh tat jedoch nichts, um den liebgewonnenen Geschmack seiner kulinarisch verwöhnten Anhänger herauszufordern. Allenfalls erlaubte er sich hin und wieder ein stärkeres Gewürz. Sein Essener Publikum ist bis heute beglückt; wer anderes im Sinne hat, fuhr und fährt eben nach Düsseldorf, zu Pina Bauschs Erben nach Wuppertal, zu Xin Peng Wang nach Dortmund oder zu Bernd Schindowski, Bridget Breiner und jetzt Giuseppe Spota nach Gelsenkirchen.

Gegen die Vielfalt von Stilen in einer dichten Tanzlandschaft ist ja auch nichts einzuwenden. Aber Van Cauwenbergh, verliebt in die immer wieder aufgewärmten „großen“ Stoffe, hat seine Affinität zum Handlungsballett nie genutzt, um einmal entlegenere Regionen zu betreten. Ihn interessiert durchaus – um einen Spruch von Pina Bausch zu paraphrasieren –, wie die Menschen sich bewegen, aber ob ihn auch interessiert, was sie bewegt, das darf man bei Stückauswahl und Choreographien durchaus fragen.

In der Petersburger Tradition

Yurie Matsuura, Yulia Tikka, Yusleimy Herrera León und Yuki Kishimoto (Vier kleine Schwäne) in „Schwanensee“ in Essen. (Foto: Bettina Stöß)

Unwidersprochen, dass ein Meisterwerk wie „Schwanensee“ zum Œuvre einer Tanzcompagnie vom Format Essens dazugehört. Van Cauwenbergh bezieht sich in seiner Choreographie auf die legendäre Petersburger Einstudierung durch Marius Petipa und Lew Iwanow von 1895 und bewegt sich damit in einer traditionellen Rezeptionslinie. Entsprechend sind die Szenen mit den Schwänen und die Nationaltänze ganz konventionell gestaltet und bedienen die Erwartungshaltung. Doch Ben Van Cauwenbergh lässt den Prinzen die Geschichte um die Schwäne, die verzauberte Odette und ihr dunkles Spiegelbild Odile träumen: Am Ende erwacht Siegfried und kann mit der zauberhaften Odette in eine heitere Zukunft aufbrechen.

Die Traum-Idee ist ein probates Mittel, um Libretti psychologisch glaubhafter zu machen, zumal wenn sie handlungslogisch nicht konsequent durchgestaltet sind. Aber das Vermeiden des tragischen Endes lässt den „Schwanensee“-Stoff allzusehr ins Märchenhaft-Episodische abgleiten. Trotz des beeindruckenden Kostüms von Dorin Gal für Rotbart, einer geheimnisvollen, düsteren Figur á la E.T.A. Hoffmann, bleibt er ein Kinderspiel-Bösewicht und hat nicht viel gemein mit der unheimlichen Eule, die in der Moskauer Uraufführung 1877 den bösen Geist charakterisiert hatte.

Bei der Wiederaufnahme des „Schwanensee“ am Aalto-Theater wurde deutlich, wie Dorin Gals liebevoll gestaltete Bühne mit ihren stimmungshaften Bildern Klischees des Romantischen bedient, die aber auch durch die Video-Überblendungen Valeria Lampadovas keine dechiffrierbare Tiefe, keine Meta-Ebene, keinen psychologischen Hinweiswert gewinnt. Es bleibt gut gemachte Kulisse. Van Cauwenberghs Truppe hat die Pandemiezeit ohne wesentliche Verluste im tänzerischen Niveau überstanden. Dass im einen oder anderen Bild ein Entree flüchtig ist oder synchrone Bewegungen nicht ganz präzise abschließen, sind nur kleine Randbemerkungen in einer ansonsten schlüssigen Textur. Vor allem in den „weißen“ Akten funktioniert der Reiz des Synchronen: die „kleinen Schwäne“ entzücken wie eh und je.

Elegante Kraft, fabelhafte Disziplin

Unbeschwert, in einer südlichen Landschaft mit einem freundlichen Seeufer, kommt die Geschichte um Prinz Siegfried in Gang. Zwei junge Leute vergnügen sich am Wasser. Bei Artem Sorochan fällt schon jetzt auf, wie schwerelos er springt. Seine Ballons federn, sein Timing gibt der Bewegung Kraft von innen heraus. Auch Siegfrieds Begleiter Benno ist von Davit Jeyranyan elegant verkörpert; sein Solo sagt etwas aus über ein fröhlich-leichtes Leben. Moisés León Noriega hat als Rotbart mit seinem schwarzen Federmantel einen imposanten Auftritt. Mika Yoneyama kann ihre aparten Figuren als Odette in spielerischer Selbstverständlichkeit präsentieren; ihr schwarzer Schwan offenbart die fabelhafte Disziplin, mit der sie den Spannungsbogen gerade in langsamen Abläufen hält. Wataru Shimizu und Adeline Pastor brillieren im Spanischen Tanz.

Moisés León Noriega als Rotbart. (Foto: Bettina Stöß)

Weniger funkelnd finden sich die Essener Philharmoniker in Tschaikowskys Partitur ein. Unter Wolfram Maria Märtig schmettert das Orchester zu häufig, treten die Bläser zu stark hervor. Die mangelnde Balance lässt die Musik diesseitig und geheimnislos wirken. Die rhythmisch zündenden Divertissements gelingen überzeugender als die dramatisch-elegischen Teile; sehr ansprechend allerdings sind die Soli der Oboe und der Violine (Daniel Bell).

So trägt die Musik dazu bei, dem untergründigen Ton im „Schwanensee“ die beklemmende Nachtseite der Romantik zu nehmen – eben jene Seite an Tschaikowsky, die das zeitgenössische Publikum verstörte, da sie die leichtfüßig-virtuose Ballettunterhaltung in ein ernsthaftes Drama verwandelte. Eine Entwicklung, die auch Van Cauwenberg mit seiner Lösung zurückdreht: Der mäßige Schauder des Traums ist rasch weggewischt, der Kampf um die im Programmheft unscharf beschriebenen „humanistischen“ Ideen wird von Siegfried nicht geführt und der tiefe, existenziell erschütternde Fall des Protagonisten, wie ihn die Musik suggeriert, bleibt aus. Statt E.T.A. Hoffmann grüßt Rosamunde Pilcher.

Das Aalto-Ballett zeigt derzeit ein für Essen neues, allerdings schon 1969 uraufgeführtes Handlungsballett von John Cranko: „Der Widerspenstigen Zähmung“ nach Shakespeares gleichnamiger Komödie. „Schwanensee“ wird im Dezember noch fünf Mal gegeben. Im Januar 2022 ist die Essener Compagnie damit ins Teatro de la Maestranza in Sevilla eingeladen ist. Nach „Romeo und Julia“ 2016 ist dies das zweite Gastspiel der Aalto-Compagnie in der spanischen Metropole.

Im Frühjahr 2022 kommt ein zweites Handlungsballett des 20. Jahrhunderts erstmals zur Aufführung im Aalto-Theater: Die Essener Ballettcompagnie präsentiert zu live gespielten Klavierstücken von Sergej Rachmaninow „Drei Schwestern“ des russischen Choreografen Valery Panov. Beteiligt an dieser spartenübergreifenden Produktion sind auch zwei Schauspieler, die Passagen aus Anton Tschechows Drama sprechen.

 




Wie sich Wahn in Wirklichkeit drängt: Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ an der Oper Köln

Stefan Vinke als Paul in Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ in Köln. (Foto: Paul Leclaire)

Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ zu inszenieren, dürfte zu den schwierigsten Aufgaben für Regisseure gehören. Der Symbolismus der Vorlage Georges Rodenbachs („Bruges-la-morte“), das hoffmanneske Changieren zwischen dem Dämmer des Realen und dem Nebel des Traums, das Verschieben der Wahrnehmungsräume, in denen behauptete Lebenswirklichkeit mit Fantasien, Erinnerungen, Wunsch- und Wahnbildern im Kopf verschwimmen: Überzeugende Bühnenlösungen sind rar.

Aber die Rezeption von Korngolds vor 100 Jahren, am 4. Dezember 1920 in Köln und Hamburg gleichzeitig uraufgeführter Oper ist in den letzten Jahren in Schwung gekommen. Armin Petras in Bremen, Anselm Weber in Frankfurt und kurz vor der Pandemie Immo Karaman in Wuppertal etwa haben überzeugende szenische Lösungen vorgelegt.

Tatjana Gürbaca ist ihnen in Köln mit hohem Anspruch gefolgt. Die Premiere am 100. Jahrestag der Uraufführung konnte nicht vor Publikum stattfinden und wurde im Livestream übertragen; eine Serie von Aufführungen im Staatenhaus, der Ersatz- und mittlerweile beinahe Dauer-Spielstätte der Kölner Oper, folgte nun zu Beginn der Saison.

Sein und Schein im Seelenraum

Die breite Spielfläche des Staatenhauses nutzt Bühnenbildner Stefan Heyne für einen kreisrunden Aufbau: ein hoher Zylinder, der sich als Kaiser-Panorama identifizieren lässt – so nannte man einst den hölzernen Guckkasten, in dessen Inneren Bilder zu betrachten waren. Drum herum sitzen Menschen wie an einer Bar, unbeteiligt wie auf Bildern von Edward Hopper („Nighthawks“). Schon dieses Objekt exponiert die Spannung zwischen vermeintlich Realem und raffiniertem Schein: Das massive Möbelholz erweist sich als bloße Stoffmalerei. Wird der Vorhang weggezogen, liegt im Inneren ein surrealer Raum frei, den herabhängende Schnüre unterteilen und verunklaren, erfüllt von rätselhaften Gestalten und Gegenständen, die aus einem Bild von Paul Delvaux stammen könnten.

Spannung zwischen vermeintlich Realem und raffiniertem Schein: Stefan Heyne baut ein „Kaiser-Panorama“ als zentralen Spielort seiner Bühne. (Foto: Paul Leclaire)

In diesem Innenbereich hat sich der Künstler Paul, mit einem Pinsel als Attribut gekennzeichnet, die „Kirche des Gewesenen“ eingerichtet, mit der er seiner verstorbenen Frau Marie huldigt. Im Lauf des Abends erschließt sich dieser Gedankenraum. Er ist erfüllt von manifestierten Symbolen aus der Vorstellung Pauls, die sich verselbständigen und seine Wahrnehmung bestimmen. Drei Frauen in blauen Kleidern stehen offenbar für verschiedene Aspekte der Erinnerung an die Tote. Eine trägt das Haar, das wie eine Reliquie eine entscheidende Rolle spielen soll. Wenn Marietta, in der Paul bei einer zufälligen Begegnung seine „geliebte Tote“ wieder zu erkennen glaubt, in diesem Raum bei den Worten „Bin ich nicht schön?“ ein blaues Kleid anlegt, wird deutlich, dass die junge Frau mit dem Erinnerungsideal im Kopf des vereinsamten Mannes identisch wird.

Gürbaca arbeitet mit szenischen Signalen – einer blauen Laute, dem Haar der toten Marie, einem Kindertorso als Reinheitssymbol –, um die Spirale der Entillusionierung zu verdeutlichen, in der sich die Tänzerin Marietta immer weiter vom Entwurf des vielleicht nur imaginierten Vorbilds entfernt, bis Paul sie in einem Ausbruch höchster emotionaler Erregung erdrosselt. Diese Szenen sind diffizil erarbeitet, aber Gürbaca neigt – wie etwa auch in ihrem kürzlich wieder aufgenommenen Essener „Freischütz“ – dazu, die Vorgänge mit Details aufzuladen, die eher verunklaren als verdeutlichen.

Die falsche Auferstehung

Die bedeutungsvolle Theaterszene im zweiten Bild etwa, in der die teuflische Rückkehr dreier Nonnen aus dem Grab aus Giacomo Meyerbeers „Robert le Diable“ parodiert wird, knüpft in ihrer distanzierten Gestaltung keinen rechten Zusammenhang zum Rest der Inszenierung, obwohl in ihr etwas Entscheidendes verhandelt wird: Die Untoten thematisieren einen falschen Begriff von Auferstehung – genau jenen, der Pauls Imagination der „wiederkehrenden“ Marie zugrunde liegt und gegen den die Marietta der Außenwelt im Namen des Lebens den Kampf aufnimmt. Ein Kampf, der zum Ausstieg aus dem „Traum der Fantasie“ und zur Erkenntnis führt, es gebe kein Wiederauferstehen. Wer in Gürbacas Inszenierung die Leiche ist, die am Ende deutlich erkennbar in der Gedankenkirche Pauls liegt, bleibt sinnigerweise offen; ebenso unbestimmt bleibt, ob es Paul gelingt, Brügge (die „tote Stadt“) zu verlassen. Sein Freund Frank – von Gürbaca deutlich als „Alter Ego“ Pauls gestaltet – verlässt den Bannkreis des Unheils, Paul dagegen schneidet sich die Schlagader durch.

Korngold war ein begnadeter Virtuose der Instrumentierung, ein Sensualist der Klänge, aber auch ein Könner in der Konstruktion üppiger, schillernder Harmonien. Gabriel Feltz, GMD in Dortmund, kostet die sinnlichen Eruptionen der Musik passioniert aus. Aber das Gürzenich-Orchester sitzt zu breit auseinandergezogen, um die sublimen Mischungen des Klangs, die opalisierenden Effekte verschmelzender Instrumente, die Piano- und Mezzoforte-Raffinessen und Reibungen zu erreichen. So hört man unter Feltz‘ temperamentvoller Leitung mehr von der Technik Korngolds als von seinem koloristischen Zauber. Die Musik bleibt gleißend-kühl und oft sehr laut. Das Orchester wird von Feltz auch nicht so zurückgenommen, dass die Stellen, an denen sich Klangpracht und Kraft der Attacke entfalten könnte, vorbereitet und spannend ausgefüllt werden könnten.

Keine Gnade für die Sänger

Für die Sänger kennt Korngold keine Gnade. Die Partie des Paul dürfte eine der schwersten Tenorpartien im jugendlich-dramatischen Fach sein – und Stefan Vinke bringt ein unglaubliches Durchstehvermögen und bewundernswert ungebrochene Kraft mit. Er hat sich nach anfänglicher Beklemmung energisch freigesungen, verfügt auch in der gesteigerten Emphase des Finales noch über Reserven. Freilich bleiben bei einer so überhitzten vokalen Stichflamme die Momente des Zurücknehmens, der Melancholie, der lyrischen Bewegung äußerlich.

Auch Kristiane Kaiser powert sich durch die Partie der Marietta/Marie, singt durchgestützte Linien in hoher Tessitura, erschrickt nicht vor der drängenden Attacke. Ihr Sopran hat keinen sinnlichen Samt, kein geschmeidiges Legato. Kaiser rettet sich immer wieder in kraftvoll gepushte Töne. Mit Druck bleiben aber Farben und Klangdifferenzierung auf der Strecke. Eine eher imponierende als berührende Tour de force, die allerdings auch dem Dirigenten geschuldet ist: Auf die Sänger nimmt Feltz keine Rücksicht. Miljenko Turk lässt als Frank und als Pierrot einen noblen, technisch solide abgesicherten Bariton hören.

Szene aus der „Toten Stadt“ mit Dalia Schaechter als Brigitte (rechts). (Foto: Paul Leclaire)

Für Dalia Schaechter bietet die Partie der Haushälterin Brigitte keine stimmliche Herausforderung. Als Gegenspielerin von Marietta entfaltet sie aber ihre wunderbare Vertrautheit mit allen Nuancen der Bühnenkunst. Im Ausdruck untergründigen Begehrens, in den von Paul übersehenen Signale der Sehnsucht, beachtet zu werden, im Versuch, den Mann aus den Wirren seiner eigenen Imagination zu befreien und für sich zu gewinnen, zeigt sich die Meisterschaft der großen Darstellerin.

100 Jahre nach der Uraufführung bewegt sich diese Produktion der Kölner Oper auf der Höhe der Zeit und öffnet jenseits kulinarischer Opulenz den Weg zum Nachdenken über die Frage, wie Realität entsteht und welche Wirkung unsere innere Disposition auf das Erfassen unserer Welt hat. Wahrlich alles andere als ein belangloses Thema.

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Keine Erlösung: Webers „Freischütz“ als ausweglose Endlosschleife der Gewalt

Blutiges Kugelgießen: Maximilian Schmitt (Max) und Heiko Trinsinger (Kaspar) in Webers „Freischütz“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Martin Kaufhold

Jetzt würde er gern wieder durch die Wälder und Auen streifen, Max der Jägerbursche. Allein: Auf der Bühne des Essener Aalto-Theaters ist der Wald zu einem einsamen dürren Ast verdorrt. Und die Auen liegen hinter einem düsteren Dorfanger, umstellt von schwarzen Haussilhouetten.

Ein „Exit“, wie mit Kreide an die Wand geschrieben, öffnet sich da nicht. GOTT steht in Spiegelschrift an der Wand, neben einem Kreuz. Den haben die Menschen also auch hinter sich gelassen, die sich „in Güte und Liebe“ lustvoll gezwungener Gewalt und kollektivem Sex hingeben. Allerlei magischer Krimskrams hilft nicht aus der Not: Das Pentagramma macht dem Teufel keine Pein, an die Wand genagelte Tierkörperteile setzen keine rettende Kräfte frei. Und das Böse spricht erst im Kollektiv und dann aus einem Wesen, das man im weißen Kleid als die reinste Unschuld betrachten würde. „Hier bin ich.“

Heiko Trinsinger als Kaspar. Foto; Martin Kaufhold

Tatjana Gürbaca hat in Essen aus Webers „Freischütz“ eine hoffnungslose Dystopie gemacht, aus der niemand entkommt. Das Kreuz an der Wand, an dem erst Max am Pranger steht, später Agathe gebannt wirkt, ist ein Passions-, aber kein Erlösungszeichen. Die Menschen wiederholen ihre Traumata, ihre uneingestandene Schuld, ihre verborgenen Qualen. Die Wolfsschlucht ist kein ferner Ort, sondern Zentrum der Gesellschaft, die ihre verdrängten Erinnerungen ritualisiert hat und von ihnen geschüttelt wird. Bis ins vierte Glied, so sagt die Bibel, würden die Sünden der Väter gerächt – und was damit gemeint ist, lässt Gürbaca auf der Bühne sehen: Die Untaten ereignen sich wie in einer traumatisierten Seele immer wieder. Gewalt und Erniedrigung in Endlosschleife.

Deutscher Wald oder Gefängnisdraht?

Am Ende kommt doch so etwas wie der „deutsche Wald“ zurück, oder ist es die Projektion von Stacheldraht? Klaus Grünbergs Bühne versinkt in einem schwarz-weißen Rauschen, aus dem sich wie Erinnerungs-Blitzlichter Bilder und Szenen manifestieren und wieder verschwinden. Gürbaca zertrümmert so die Erzählung des glücklichen Endes. Wer da auf wen oder was seine Hoffnung setzt, ist nicht mehr entscheidend. Der Weg hinaus ist ein Gleis, das in graue Ferne führt.

Oder endet es, wie eine Äußerung Gürbacas im Programmheft nahelegt, in Auschwitz? Die Romantik als Vorbereitung des deutschen Chauvinismus und letztendlich der Weltkriege und des Völkermords ist die These, mit der die Regisseurin ihre Inszenierung belädt und die sie mit der Projektion andeutet. Doch es gibt noch ein szenisches Signal: Die weißen Rosen sind erst zum Schluss zum Kranz gebunden: Es ist eine Totenkrone, ein Grabkranz oder was auch immer, das einsam vor der schwarzen Bühne leuchtet. Rettung ist in dieser Welt nicht möglich, vielleicht – das könnte man aus dem Rosenkranzmotiv als vage Hoffnung herauslesen – in der jenseitigen?

Kugeln aus blutiger Brust

Die unauffälligste Gestalt in dieser unheilvollen Welt ist Max: Sieht er den Probeschuss als Ausweg? Maximilian Schmitt beschwört die Erinnerung an eine unbeschwerte Existenz und seine Verzweiflung hingebungsvoll sorgfältig gestaltet und in der Tongebung frei. Ihm wühlt Kaspar in der Wolfsschlucht mit blutigen Händen die Freikugeln aus dem Körper, ein brutales Bild der inneren Not, die den dunklen Jägerburschen treibt. Heiko Trinsinger hat in seinem üppigen Bariton die abgründige Farbe der Drohung, den grinsenden Glanz der tückischen Trinksprüche und den verächtlichen Sarkasmus eines Menschen, der im Kampf ums Überleben alle Illusionen verloren hat – bis auf die, Samiel könne einen Ausweg öffnen und ihm doch noch die Frist verlängern.

Gürbaca betont die im Libretto nur angedeutete Dreiecksbeziehung zwischen den beiden Männern und Agathe: Kaspar tanzt am Ende des ersten Bildes mit ihr hinaus; in „Leise, leise“ lösen sich Max und Kaspar aus dem Schatten der Häuserzeile zu einem surrealen Trio mit Agathe. Hoffnung, Rettung verspricht sie sich wohl von Max, denn wenn all ihre „Pulse schlagen“, packt sie einen Koffer – eine jener Chiffren, die Gürbaca in überbordender Detailfülle einsetzt und die später in den „lebenden Bildern“ des Finales den Zuschauer nur noch überfluten. Rebecca Davis singt eine leichtgewichtige Agathe mit schlankem Ton, in den großen Bögen mit angefochtener Substanz und einem soubrettigen Anklang, in dem sich andeutet, was in forcierter Höhe bestätigt wird: Mit der Fundierung der Stimme im Körper ist es nicht weit her.

Befeuerte Musik

Kilian im Soldatenrock (zeitlich nicht festgelegte Kostüme: Silke Willrett), also alles andere als ein des Schießens ungeübter Bauer, ist von Rainer Maria Röhr mit schneidend greller Stimme passend gezeichnet; dem Fürsten, der sich vornehmlich um seinen Braten kümmert, gibt Tobias Greenhalgh nachdrückliche Sätze. Kuno (Karel Martin Ludvik) und die Schlüsselrolle des Finales, der von Christoph Seidl ansprechend gesungene Eremit, sind in diesem Konzept zu szenischer Blässe verurteilt. Die Brautjungfern sind ein Haufen graumausiger, streng gekleideter, aggressiver Frauen, aus denen Uta Schwarzkopf und Helga Wachter solistisch heraustreten. Auch Wendy Krikkens Ännchen kann szenisch kaum Profil gewinnen; gesanglich passt ihre frische, leichtgewichtige Stimme eher zu ihrem Auftritt im ersten Aufzug als zur ironisch-dramatischen Schilderung von „Nero, dem Kettenhund“.

Lustvolle Gewalt, aber „alles in Liebe und Güte“: Der Chor des Aalto-Theaters hat im „Freischütz“ eine Hauptrolle. Foto: Martin Kaufhold

Mit Chor und Statisterie hat der Leiter der Wiederaufnahme, Sascha Krohn, ganze Arbeit geleistet: Die exaltierte Bewegungsregie der Wolfsschluchtszene und die rasch wechselnden Positionen in den Bildern des Finales funktionieren. Auch musikalisch wirkt der Chor, einstudiert von Jens Bingert, auf der Höhe. Die Premiere im Dezember 2018 hatte Essens GMD Tomáš Netopil geleitet. Bei der Wiederaufnahme – passend zum 200. Jahrestag der Uraufführung des „Freischütz“ – steht sein Bremer Kollege Yoel Gamzou am Pult der glänzend aufgelegten Essener Philharmoniker.

Der Beginn der Ouvertüre wirkt zäh, trotz heftigen Körpereinsatzes bleibt die innere Spannung zunächst mäßig. Das ändert sich im Lauf des Abends, den Gamzou mit befeuernder Leidenschaft und energischer Kraft bestreitet, ohne Details zu übergehen oder sich an starren Tempi festzuhalten. Der Jägerchor wird bei ihm mit betonter, stampfender Regelmäßigkeit beinahe zur Parodie eines gemütvollen Männergesangsvereins. Mit diesem „Freischütz“ reiht sich Essen ein in die Bühnen, die in den letzten Jahren ambitionierte Regieansätze und komplexe Deutungen eingesetzt haben, um den Rang von Webers Oper als aktuelles Kunstwerk zu behaupten und zu bestätigen.

Weitere Vorstellungen am 24. Oktober und 14. November.
Info: www.theater-essen.de




Der Traum von Bayreuth: Festspiel-Inspirationen für Aalto-Chorsänger Wolfgang Kleffmann

Keine Ruhepause für Wolfgang Kleffmann nach der Rückkehr von den Bayreuther Festspielen: Einen Tag nach der letzten Vorstellung von Wagners „Meistersingern“ war er bereits morgens auf dem Weg zur Probe im Aalto-Theater.

Wolfgang Kleffmann singt seit 2003 im Essener Aalto-Chor und seit 2005 im Bayreuther Festspielchor. (Foto: Werner Häußner)

Nach Wagner steht nun Verdi an: Der Chor des Essener Opernhauses bereitet sich auf die Wiederaufnahme von „Rigoletto“ am 12. September vor, in einer „semikonzertanten“, von Sascha Krohn eingerichteten Form. Tianyi Lu, aus Shanghai stammend und in Neuseeland groß geworden, steht als Gastdirigentin am Pult. Sie ist die Gewinnerin des internationalen Sir Georg Solti Dirigentenwettbewerbs 2020. Die Titelrolle singt der isländische Bariton Ólafur Sigurdarson, als Rigolettos Tochter Gilda ist Tamara Banješević in ihrem Rollendebüt zu erleben. Im Chor der Höflinge, die willig jede Bosheit ihres Herrn, des Herzogs von Mantua (Carlos Cardoso), mitmachen, singt Wolfgang Kleffmann im Tenor.

Szene aus Verdis „Rigoletto“ am Aalto-Theater Essen, mit Tamara Banješević und Carlos Cardoso. (Foto: Saad Hamza)

Für die Festspiele hat der Sänger gerne auf Urlaub verzichtet: Bayreuth hat ihn gepackt, seit 2005 singt er dort im Chor. „Wagner erschüttert, wenn man dafür empfänglich ist“, bekennt er. Auch wenn es pathetisch klingt: Wagner hat das Leben von Wolfgang Kleffmann verändert. Ein Besuch der „Walküre“ entfachte die Wagner-Begeisterung. Nach zehn Jahren Praxis als Zahnarzt in Eschweiler begann er mit 33 Jahren noch ein Gesangsstudium, das er in Maastricht abschloss. Sein Ziel von vornherein: Singen im Chor. Der Wunsch erfüllte sich 2003, als er seine erste Stelle im Chor des Aalto bekam. Da blieb es nicht bei der Liebe nur zu Wagner. Die Opern Giacomo Puccinis oder ein Werk wie Giuseppe Verdis „Don Carlos“ sprechen den Sänger ebenso an.

Singen in Gemeinschaft

Das Singen in Gemeinschaft hat ihn schon als Jugendlicher interessiert. Kleffmann erinnert sich an ein prägendes Erlebnis, das wieder mit Wagner zu tun hat: „Ich hörte eine alte Platte meines Vaters, so eine Sammlung berühmter Chöre. Beim Pilgerchor aus dem ‚Tannhäuser‘ musste ich weinen.“ Was lag also näher als der Versuch, als professioneller Sänger beim Bayreuther Festspielchor zu landen? „Beim Vorsingen habe ich gedacht, ich hätte alles in den Sand gesetzt“, erinnert er sich. „Ich bin mit Tränen in den Augen nach Hause gefahren“. Aber zu seiner Überraschung kam die Zusage: 2005 durfte er anfangen. Der Traum hat sich erfüllt.

Seither ist er mit nur einer Unterbrechung jedes Jahr dabei. Schmerzlich war der Ausfall im letzten Jahr, durch Corona bedingt. Kleffmann ärgert sich: „Weder Chor noch Orchester haben eine Ausgleichszahlung erhalten, weil unsere Verträge, die seit März fertig ausgehandelt waren, noch nicht unterzeichnet waren.“ Er findet das für die Ensembles als „Rückgrat der Festspiele“ schlichtweg beleidigend. „Viele Kollegen sind durch den Ausfall ihrer Einkünfte unglaublich unter Druck geraten“.

Als der Chor geteilt werden musste

Bei den Festspielen 2021 stand der Chor vor einer nie dagewesenen Situation: Die knapp 140 Sängerinnen und Sänger wurden geteilt: Die Hälfte sang im Chorsaal, die andere Hälfte spielte stumm auf der Bühne. „Wir sitzen in einer Art Telefonzelle aus durchsichtigem Material und singen. Der Ton wird direkt ins Festspielhaus übertragen. Das funktioniert hervorragend, und ich bin gar nicht unglücklich. Denn es tut gut, sich einmal ausschließlich auf die musikalische Arbeit zu konzentrieren.“

Im Rückblick auf 16 Jahre Bayreuth erinnert sich Kleffmann an manche unvergessliche Zeit, so die Arbeit mit Christoph Schlingensief, ein „unheimlich sympathischer Typ“. An den „Parsifal“ Stefan Herheims, einen Höhepunkt seines Sängerlebens. Oder an den „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer: „Ein Regisseur, bei dem alles durchdacht ist.“ Musikalisch ist für ihn die Zusammenarbeit mit Christian Thielemann ein Erlebnis, aber er schätzt auch Semyon Bychkov: „Er führt mit den Händen, hochmusikalisch.“

Inspirierend ist für Kleffmann auch, an der Seite berühmter Sängerkollegen wie Georg Zeppenfeld zu stehen: „Ein so bescheidener Mensch und ein Sänger, bei dem alles stimmt.“ Oder Tenöre wie Piotr Beczała und Klaus Florian Vogt als „Lohengrin“ zu erleben. So nimmt Wolfgang Kleffmann, der bald wieder seine Fußball-Jugendmannschaft in Bredeney trainiert, aus Bayreuth willkommene Impulse für die tägliche Arbeit am Aalto-Theater mit. Und hofft, im nächsten Jahr wieder dabei zu sein, wenn sich der Vorhang für die neue „Ring“-Inszenierung von Valentin Schwarz hebt.




Eine Frau leitet künftig das Aalto-Theater: Merle Fahrholz wechselt aus Dortmund als Intendantin nach Essen

Stellte sich bei einer Pressekonferenz vor: Dr. Merle Fahrholz, ab der Spielzeit 2022/23 Intendantin des Aalto-Theaters und der Essener Philharmoniker. (Foto: Werner Häußner)

Zum ersten Mal werden das Essener Aalto-Theater und die Essener Philharmoniker von einer Frau geleitet: Merle Fahrholz, bisher stellvertretende Intendantin und Chefdramaturgin an der Oper Dortmund, folgt zu Beginn der Spielzeit 2022/23 Intendant Hein Mulders nach, der die Leitung der Oper Köln übernimmt.

Ein Arbeitsausschuss des Aufsichtsrats der TuP (Theater und Philharmonie Essen GmbH) hatte die 38jährige promovierte Musikwissenschaftlerin in einem „straffen und intensiven Prozess“ – so der Essener Kulturdezernent Muchtar al Ghusain – aus über vierzig Persönlichkeiten aus der nationalen und internationalen Opernszene ausgewählt. Die einstimmige Entscheidung bedeutet auch, dass die Philharmonie Essen künftig eigenständig geleitet wird.

Fahrholz, in Bad Homburg geboren, war nach dem Studium als Dramaturgin an den Theatern in Biel-Solothurn (Schweiz), Heidelberg und Mannheim tätig. Erfahrungen auch im Bereich der Kulturvermittlung sammelte sie bei den Berliner Philharmonikern, der Semperoper Dresden, der Metropolitan Opera New York und bei einem interkulturellen Händel-Projekt in Serbien. Ferner arbeitete sie mehrfach an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis, so etwa mit den Universitäten Heidelberg, Zürich und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Uni Bayreuth. 2015 promovierte sie in Zürich über den Komponisten Heinrich August Marschner. Mit Merle Fahrholz tritt in Essen eine „neue Generation von Führungskräften“ an, die „wissenschaftliche Sorgfalt mit hohen Anforderungen an künstlerische Projekte verbindet“, so die Vorsitzende des TuP-Aufsichtsrats, Barbara Rörig.

In Dortmund war Fahrholz ab 2018 an der Konzeption eines ehrgeizigen Spielplans beteiligt, der u.a. Raritäten wie Daniel François Esprit Aubers „Die Stumme von Portici“ vorgesehen hatte, aber durch die Corona-Pandemie weitgehend nicht realisiert werden konnte. In der laufenden Saison betreut sie u.a. die moderne Erstaufführung von Gaspare Spontinis „Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko“ (Premiere 7. April 2022) und die Ausgrabung von Ernest Guirauds unvollendeter, von Camille Saint-Saëns fertiggestellter Oper „Frédégonde“ (Premiere 20. November 2021).

Das Aalto-Theater in Essen wird künftig zum ersten Mal in seiner Geschichte von einer Frau geleitet. (Foto: Werner Häußner)

Da die Essener Spielzeit 2022/23 bereits vorgeplant ist, werde sie ihren Spielplan ab 2023 in „ausgewogener Programmatik“ gestalten, gab sie bei einer Pressekonferenz im Aalto-Theater bekannt. Neben die Klassiker des Repertoires sollen unbekannte, für die heutige Gesellschaft mit ihren Ausprägungen und Bedürfnissen relevante Werke verschiedener Epochen treten, die „einen neuen Blick verdienen“.

Schwerpunkt auf Komponistinnen

Fahrholz plant einen Komponistinnen-Schwerpunkt auf der Opernbühne und im Konzert. Dabei werde es um zeitgenössische Komponistinnen gehen, sagte Fahrholz. Aber auch aus vergangenen Jahrhunderten gebe es viele Werke von Frauen zu entdecken. Nicht zu kurz kommen solle die sogenannte leichte Muse. „Die Oper spricht Emotionen an. Ihr geht es um das Mitfühlen und im besten Fall das Ausleben von Emotionen“, so Fahrholz. „Ich lege Wert auf das Erzählen von Geschichten“. Für eine „Vielfalt der Ästhetik“ plant sie mit verschiedenen Regiehandschriften von in Essen bekannten Persönlichkeiten, aber auch mit neuen Gesichtern aus der Regieszene.

Unter dem Schlagwort „Open up“ möchte Merle Fahrholz mit künstlerischen Projekten Essen entdecken und sich gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern intensiv mit ihrer Stadt auseinandersetzen. Ein zentrales Anliegen sei dabei der Ausbau der Arbeit mit und für Kinder und Jugendliche. Die Zukunft des Theaters, über die jetzt gesprochen werden müsse, sieht Fahrholz auch in partizipativen Projekten, die es zu einem „Brennglas von Sehnsüchten, Wünschen und Utopien“ machen. Das Aalto-Theater solle sich zu einem Ort des Begegnung und des sozialen Miteinanders entwickeln, an dem sich alle willkommen fühlen.




Der erste Opernstar der Schellack-Zeit: Vor 100 Jahren starb der gefeierte Tenor Enrico Caruso

Der legendäre Tenor Enrico Caruso im Jahr 1910. (Laveccha Studio, Chicago / Wikimedia, gemeinfrei/public domain)

Schon mal gehört? „Der singt wie ein Caruso“. Ein geflügeltes Wort, auch von Menschen zitiert, die den wirklichen Caruso nie gehört hatten, nicht einmal auf seinen legendären Schellack-Platten. „Caruso“ galt als bedeutungsgleich für faszinierendes Singen, spätestens seit der Tenor aus Neapel vor 100 Jahren, am 2. August 1921, in seiner Heimatstadt unerwartet an den Folgen einer Rippenfellentzündung gestorben war.

Carusos Karriere war auch in der Zeit der großen Opern-Diven und der gefeierten Heldentenöre einzigartig. Kaum ein Sänger – vielleicht mit Ausnahme von Maria Callas – versetzte die Opernwelt so sehr in Aufregung. Kaum ein anderer Name ist bis heute auch außerhalb der Welt des Musiktheaters so geläufig. Caruso war und ist eine Legende, um die sich zahllose Anekdoten ranken, während er selbst sein Privatleben sorgsam verborgen hielt.

Befeuert wurde dieser Ruhm auch durch einen Film wie „Der große Caruso“, 30 Jahre nach seinem Tod mit Mario Lanza in der Titelrolle gedreht. Was Wahrheit und was Erfindung ist, lässt sich in den Biografien nur schwer bestimmen, denn es gibt wenig Material aus erster Hand. Schon seine Herkunft aus einer armen Familie war durch die – inzwischen widerlegte – Behauptung verklärt, seine Mutter habe 21 Kinder zur Welt gebracht.

Der „Carusiello“ singt Serenaden

Das Singen war ihm offenbar in die Wiege gelegt: Die schöne Stimme des kleinen „Carusiello“ fiel dem Pfarrer Giuseppe Bronzetti auf, der ihn daraufhin förderte. Der junge Altist sang in der Kirche und verdiente sich – vielleicht auch eine Legende? – ein paar Lire, indem er an so manchen Abenden „unter dem Fenster irgendeines italienischen Mädchens“ eine Serenade sang, „während der Verehrer in der Nähe stand, erwartungsvoll hinaufblickend, ob sein teuer bezahlter Gesangstribut auch Anerkennung fände“. Dass der Unterricht bei lokalen Gesangslehrern ebenso harte Arbeit war wie diejenige in Fabriken, um den Lebensunterhalt zu verdienen, wird oft nicht ausreichend gewürdigt. Schon in der Jugend entdeckt wurde jedoch auch Carusos Zeichentalent. Sein Leben lang pflegte er diese Kunst als Hobby; witzige Selbstporträts und gekonnte Karikaturen belegen seine Begabung.

Auch als Zeichner talentiert: Selbstkarikatur von Enrico Caruso beim Singen in einen Aufnahmetrichter, 1902. (Wikimedia, gemeinfrei/public domain – Quelle: https://soundofthehound.files.wordpress.com/2011/01/img565.jpg)

Auch ein Caruso musste seinen Weg durch die Provinz machen und seine Stimme heranbilden. Im Alter von 24 Jahren debütierte er 1897 in der Uraufführung von Francesco Cileas „L’Arlesiana“ am Teatro Lirico in Mailand, 1898 folgte dort Umberto Giordanos „Fedora“. Sein erstes Auftreten an der Scala, einem der führenden italienischen Opernhäuser (als Rodolfo in Giacomo Puccinis „La Bohème“) brachte ihm die Bewunderung des Dirigenten Arturo Toscanini, mit dem Caruso künftig zusammenarbeitete, auch in einer seiner Favoriten-Rollen, dem Nemorino in Gaetano Donizettis „Liebestrank“.

Nie wieder Neapel

Caruso genoss bereits eine gewisse Berühmtheit, als er im Winter 1901 für seinen ersten Auftritt am renommierten Teatro San Carlo nach Neapel kam. „Nachdem er auf fremden Schlachtfeldern so oft gekämpft und gesiegt hatte, kehrte er frohen Herzens in seine Heimat zurück, um sich auch hier den Ruhmeslorbeer zu pflücken“, heißt es in einer alten Biografie. Intrigen, Rivalitäten und Carusos Stolz sorgten jedoch dafür, dass der „Liebestrank“ nicht den gewünschten Erfolg brachte. Vielleicht sahen seine Landsleute in dem jungen Tenor auch immer noch den Straßensänger von einst. Caruso schwor, nie wieder in Neapel aufzutreten und höchstens zurückzukommen, um einen Teller Spaghetti zu essen. Dem blieb er sein Leben lang treu.

Erster Star der Schallplatte

Die noch folgenden 20 Jahre seines Lebens waren ein Triumphzug. Über Buenos Aires und London ging es an die Metropolitan Opera in New York, wo er 1903 als Herzog in Giuseppe Verdis „Rigoletto“ debütierte und fortan – mit einer Ausnahme – bis 1920 in jeder Eröffnungspremiere einer neuen Saison sang. Die großen Partien in den Opern Giuseppe Verdis und Giacomo Puccinis blieben seine Domäne. Viele Male gab er den Radames in „Aida“ und triumphierte 1910 mit der legendären Emmy Destinn als Minnie die Uraufführung von Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“ unter Arturo Toscanini.

Caruso baute sich erfolgreich einen märchenhaften Ruhm auf und verstand es, den viel bewunderten Glanz seiner Stimme auch finanziell zu vergolden. Zwei Rollen schien er besonders geliebt zu haben: die des Canio in Ruggero Leoncavallos „Pagliacci“ („Der Bajazzo“) und die 1919 erstmals gesungene Partie des Eleazar in Jaques Fromental Halévys großer Oper „La Juīve“ („Die Jüdin“). Eine Beobachterin erinnert sich an seine innere Rührung: „Ich habe ihn nach dem ersten Akt (des „Bajazzo“) fünf Minuten in seiner Garderobe schluchzen hören; ich habe ihn so aufgewühlt gesehen, dass er auf offener Bühne ohnmächtig zusammenbrach.“ Eleazar war auch seine letzte Partie an der Met im Dezember 1920; er sang unter großen Schmerzen, von seiner Partnerin gestützt.

Dass Carusos Ruhm bis heute anhält, ist auch seinen Schallplatten zu verdanken. Er war einer der ersten Opernsänger, die erkannten, wie bedeutsam dieses neue Medium ist. Und er hatte Glück, dass seine Stimme für die Mittel der damals beschränkten Aufnahme- und Wiedergabetechnik passgenau geeignet war. Der Tenor mit dem zu männlich-baritonaler Fülle hin entwickelten Timbre hat sich mit fast 500 Aufnahmen zum ersten großen Plattenstar gemacht. Die Aufnahmen zeigen auch, wie er seinen Gesangsstil einem sich wandelnden Geschmack angepasst und ihn vom kunstreich verzierten, leichten Singen des klassischen Belcanto des 19. Jahrhunderts zu dramatischer Gestaltung mit kraftvoll-wuchtigen Tönen entwickelt hat.




Geistvoller Zaubertrank: „Le Philtre“ von Daniel François Esprit Auber wiederentdeckt

Konzertante moderne Erstaufführung von Aubers „Le Philtre“ im Kurtheater Bad Wildbad. Von Links: Emmanuel Franco, Luiza Fatyol, Patrick Kabongo. (Foto: Saskia Krebs)

Moment! Die Geschichte kommt uns bekannt vor: Ein einfacher Landarbeiter, ziemlich naiv, aber rührend seelenvoll, schmachtet für eine kapriziöse junge und begüterte Frau. Ein geheimnisvolles Elixier, verkauft von einem großmäuligen Quacksalber, bringt ihn auf die Sprünge, löst ihm die Zunge, aber ein schneidiger Soldat fährt ihm in die Parade. Am Ende kriegt er, was er ersehnt.

Das ist doch die nicht zuletzt wegen „Una furtiva lagrima“ beliebte Oper Gaetano Donizettis, die als „Elisir d’amore“ den Ruf des „Liebestranks“ in alle Ecken der musikalischen Welt verbreitet hat?

Stimmt – und stimmt doch nicht: Denn ein knappes Jahr vor der sensationellen Uraufführung von Donizettis Meistwerk ging im Juni 1831 in der Pariser Opéra „Le Philtre“ über die Bühne, eine von rund 45 Opern des geistvollen Franzosen Daniel François Esprit Auber. Dieser „Zaubertrank“ ist auf ein Libretto von Aubers zuverlässigem Stofflieferanten Eugène Scribe komponiert – eben jenes, das Felice Romani dann für Donizetti übersetzte und an die Gepflogenheiten des italienischen Opernbetriebs anpasste.

Obwohl Aubers „Le Philtre“ in Paris mit 243 Aufführungen bis 1862 ein beachtlicher Erfolg war, kam das Stück kaum über die Grenzen Frankreichs hinaus. Denn bereits Mitte der 1830er Jahre war Donizettis „Elisir d’amore“ international so verbreitet und beliebt, dass Auber keine Chance mehr hatte, sich durchzusetzen. Ein Schicksal, das andere Opern Aubers ähnlich ereilt hat, etwa „Gustave ou le bal masqué“ (1833) gegen Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“ (1859) oder „Manon Lescaut“ (1856) gegen Jules Massenets „Manon“ (1884).

Der Floh von Isoldes Zaubertrank

Die moderne (konzertante) Erstaufführung von „Le Philtre“ beim Festival „Rossini in Wildbad“ lässt es endlich zu, beide Vertonungen miteinander zu vergleichen, was nicht unbedingt zum Nachteil für Auber ausgeht. Während Donizetti den Charakter Nemorinos nicht zuletzt durch die auf seinen Wunsch eingeschobene Arie von der heimlichen Träne gefühlvoll ausgestaltet, bleibt der junge Guillaume bei Auber ein naiver Landbursche, der durch seine Ahnungslosigkeit belustigt, doch in seiner unverstellten Gutgläubigkeit auch berührt.

Dessen Angebetete heißt bei Auber Térézine und ist Donizettis Adina nicht nur an musikalischer Koketterie, sondern auch an durchtriebener Lust an der kalkulierten Quälerei überlegen. Ihre ironische Ballade über die „Reine Yseult“, mit der sie dem armen Guillaume den Floh von Isoldes Zaubertrank ins Ohr setzt, hat schon die typische melodische Brillanz, in die Auber seine Airs und Couplets kleidet. Und die folgende Arie „La coquetterie fait mon seul bonheur“ ist ein Selbstbekenntnis, das denkbar fern jedes tristanesken Liebesrausches liegt: Térézine genießt es, bewundert und angebetet zu werden, aber selbst zu lieben kommt für sie nicht in Frage – jamais! Finden wir hier nicht die kapriziös-seelenlose Pariserin, wie sie der männliche Blick in den schlüpfrigen Jahren von Aubers Erfolgen konstruiert hat?

Der Wein vom Hang des Vesuvs

Die anderen Mitspieler bei Donizetti gleichen Aubers Vorlagen bis hinein in wörtliche Übernahmen im Text: Fontanarose ist der gerissene Händler des „Filtrats“, das er selbst als „Lacryma Christi“ – ein am Vesuv wachsender Wein – entlarvt; seine Arie ist auch bei Auber ein unterhaltsames Zugstück. Und Joli-Cœur, der fesche Sergeant, hat sogar seinen Namen im Italienischen behalten: Belcore. In „Le Philtre“ hat er mit „Je suis Sergent brave et galant“ ein Auftrittslied, dessen einfache Melodik ausgiebig wiederholt und damit zum Ohrwurm gekürt wird.

Dass Auber den militärischen Draufgänger damit auch als einfaches Gemüt charakterisiert, ist Teil seiner Raffinesse. Die zeigt sich stets, wenn Auber seine einfachen, vorhersehbar gestrickten musikalischen Mittel einsetzt, um zu illustrieren und zu charakterisieren. Immer auf leichte Fasslichkeit und gute Unterhaltung bedacht, mutet Auber seinem Publikum weder komplexe Harmonien noch ungewohnte Klangideen zu – sicherlich ein Grund, warum seine Opern trotz ihrer geschickt gemachten Libretti noch vergeblich ihrer Auferstehung harren. In der Anlage seiner Ensembles und Finali entpuppt sich jedoch der Schöpfer der „Muette de Portici“, mit der Auber der „grand opéra“ einen entscheidenden Entwicklungsschub gegeben hat.

Bleibt der Anbeter komplexer Fugen und ausgefeilten Kontrapunkts also unbedient, wird der Liebhaber frisch instrumentierter Melodik und raffinierter Rhythmen umso zufriedener gestellt. In den lichten Bläserakkorden, die den Streichersatz stützen oder färben, finden wir die leuchtende Transparenz seines Zeitgenossen Adolphe Adam wieder. Im mitreißenden Sog des Duetts von Térézine und Guillaume schäumt nicht nur die Wirkung des soeben genossenen Liebestranks auf, sondern auch der Einfluss Gioachino Rossinis. Und die Arie „Philtre divin“ ist ein Paradestück musikalischer Komik, wenn sie die allmähliche Wirkung des zaubrischen Tranks auf den schüchtern-verzweifelten Guillaume schildert, nachdem das vermeintliche Elixier Isoldes in chromatischem Fall die Kehle hinunter geronnen ist.

Der mühelose Klang der Höhe

Diese Szene gestaltet Patrick Kabongo so einfühlsam wie gesanglich tadellos. Der Tenor ist seit gut zehn Jahren im französischen Fach unterwegs und hat seit 2017 immer wieder in Bad Wildbad begeistert. Seine Stimme ist ideal für das Genre der opéra comique: ohne jede Schwere im Ansatz, mit leichtem, dennoch substanzreichem Ton, mühelos beweglich, in der Höhe ohne jeden Druck und ohne Verfärbung, dazu mit einwandfreier Artikulation. Ein vollkommener Genuss, wie er selten zu erleben ist. Luiza Fatyol als Térézine bringt ebenfalls Beweglichkeit und eine kühle Brillanz des Timbres mit und weiß mit Sprache umzugehen. In der Höhe ist ihre Tonemission oft zu impulsiv und wird daher scharf. Die Sängerin gehört zum Ensemble der Deutschen Oper am Rhein und ist in der kommenden Saison u.a. in Mozarts „Zauberflöte“ und „La Clemenza di Tito“ sowie in Verdis „La Traviata“ zu hören.

Als Joli-Cœur setzt Emmanuel Franco eher auf die voluminösen Klänge seines gewaltigen Organs als auf stilistisch reflektiertes Singen. Eugenio di Lieto bringt in seinen Auftritt als „grand docteur“ die Komik ein, die offenbart, wo Jacques Offenbach sein Vorbild gefunden hat. Adina Vilichi ist die Wäscherin Jeanette, die aus ihrer bedeutsamen Nebenrolle in ihrem Couplet zu Beginn des zweiten Akts und in den Ensembles notable Funken schlägt, sich nur vor zu viel Vibrato hüten muss. Wie hoch der Grad an Subtilität war, mit dem Luciano Acocella das Philharmonische Orchester Krakau einstudiert hat, war leider nur zu erahnen: Die Vorstellung musste wetterbedingt im Kurtheater stattfinden und das Orchester hatte im Bühnenraum keine Chance, über einen pauschalen Klang hinwegzukommen. Die träumerische Bläser-Einleitung zu Guillaumes Arie im ersten Akt immerhin hinterließ den Eindruck, Aubers leichtfüßige Brillanz sei durchaus zu ihrem Recht gekommen.




Strahlendes Glück: „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ beim Festival „Rossini in Wildbad“

Serena Farnocchia als Elisabetta in Rossinis Oper „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ beim Festival „Rossini in Wildbad“. (Foto: Patrick Pfeiffer)

Macht hat ihren Preis: Um störende emotionale Einflüsse auszuschalten, will die Königin hinfort die Liebe aus ihrem Herzen verbannen. Dulden wird sie in sich nur noch Ruhm und „Pietá“ – ein italienischer Begriff, der schwer ins Deutsche zu übersetzen und zwischen Barmherzigkeit und religiös fundiertem Wohlwollen anzusiedeln ist. Man möchte nicht tauschen mit Gioachino Rossinis englischer Königin „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“.

Die knapp drei Stunden dauernde Studie über die Ohnmacht der Mächtigen, die Macht der Täuschung und Intrige und das Verhängnis verborgener Gefühle ist die zentrale Oper des diesjährigen Festivals „Rossini in Wildbad“, das seit mehr als 30 Jahren unendlich wertvolle Entdeckerarbeit leistet. Was sich die über 80 öffentlich finanzierten deutschen Musiktheater nur in Ausnahmefällen zumuten, ist in dem einst noblen württembergischen Staatsbad im Norden des Schwarzwaldes alljährliche Herausforderung. Intendant Jochen Schönleber, gestützt von der inhaltlichen Vorarbeit der Deutschen Rossini-Gesellschaft, erarbeitet mit einem schwindelerregend bescheidenen Etat diejenigen Meisterwerke aus der Feder des „Schwans von Pesaro“, die ansonsten dem deutschen Publikum – ungeachtet einer weltweiten Rossini-Renaissance – weitgehend vorenthalten blieben.

In diesem Jahr sind es, allen Behinderungen durch die Corona-Pandemie zum Trotz, neben „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“ die entzückende „Farsa“ aus frühen Rossini-Jahren „Die seidene Leiter“ („La Scala di Seta“) und eine Wiederentdeckung des Meisters der französischen Opéra comique, Daniel François Esprit Auber, mit dem Titel „Le Philtre“ von 1831. Das Libretto Eugène Scribes wurde ein Jahr später erneut von Gaetano Donizetti vertont und erlangte als „Der Liebestrank“ Weltruhm.

Wertvolle Musik aus früheren Opern

Für Rossini stand mit seiner ersten Oper für Neapel einiges auf dem Spiel: Er musste sich als Komponist in einer Stadt mit bedeutender musikalischer Tradition und einem gebildeten, kulturell aufgeschlossenen Publikum beweisen und den später legendär gewordenen Impresario Domenico Barbaja überzeugen. Für „Elisabetta“ wertete Rossini frühere Werke aus und übernahm etwa aus dem experimentellen, beim Publikum durchgefallenen „Sigismondo“ – ein psychologisch komplexes Werk, das höchste Aufmerksamkeit verdient – wertvolle Musik.

Für den heutigen Zuhörer irritierend ist, wenn zu Beginn des Dramas die Ouvertüre erklingt, die Rossini aus seiner frühen Oper „Aureliano in Palmira“ übernahm und später für den „Barbier von Sevilla“ drittverwertete. Sie zeigt aber damit eine ästhetische Maxime Rossinis jener Epoche: Musik ist nicht „romantischer“ Spiegel der Gefühle der Bühnen-Protagonisten, sondern hat eine absolute Qualität, für die sich die Zuschreibung zu bestimmten außermusikalischen Affekte verbietet.

Was nicht heißt, dass Rossini seine Musik, quasi über allem schwebend, jeder beliebigen Regung überziehen würde. In „Elisabetta“ finden sich zwar solche Momente wie die Cavatina der Königin, deren freudig bewegter zweiter Teil das musikalische Material für die kecke Rosina des „Barbier von Sevilla“ abgegeben hat. Aber expressive Momente wie die Arie der Mathilde („Sento un‘ interna voce“) oder die große Arie des Leicester im zweiten Akt zeigen Rossini auf der Höhe seiner gestaltenden Kraft für den Aufruhr der Emotionen.

Der Charme einer Wanderbühne

Die Wildbader Aufführung hat etwas vom Charme früherer Wanderbühnen: Die üblichen Aufführungsorte – etwa die Trinkhalle – standen wegen der Pandemie nicht zur Debatte. Die zugige „offene Halle“ an einem Sportgelände am Ende des Kurparks ist eine immerhin resonanzreiche Balken- und Bretter-Konstruktion mit einer Mini-Bühne und dem dicht gepackte Orchester vor Stuhlreihen, auf denen das Publikum – genesen, geimpft oder getestet – sich nach den Sitzbrettern des Bayreuther Festspielhauses sehnt. Entsprechend kompakt ist der Klang, den Antonino Fogliani mit energischen Gesten dem Philharmonischen Orchester Krakau entlockt: flott und etwas steif in der Ouvertüre, auch sonst in den Phrasierungen eher lakonisch als geschmeidig, mit teils elegisch ausschwingenden, teils robust unflexiblen Bläserklängen und manchmal fahrigen, meist aber um leichten Schmelz bemühten Streichern. Der Philharmonische Chor Krakau bleibt, vom Orchester zugedeckt, unsichtbar im Hintergrund und darf nur im Finale auf der Bühne Aufstellung beziehen.

Die Szenerie führt uns in ein beliebiges Zentrum heutiger Macht: ein paar Designermöbel, Security-Leute mit Sonnenbrillen, ein stets präsenter Lakai mit Einblick in die Machtstrukturen (Luis Aguilar) und Elisabetta im roten Glitzerkleid (Kostüme: Ottavia Castellotti). Schönleber lässt als Regisseur den Darstellern weitgehende Freiheit, was zu manch abgelebter Operngeste oder zu seltsam reaktionslosen Momenten in Szenen höchster dramatischer Verdichtung führt – etwa wenn im Finale des ersten Akts die heimliche Ehefrau des Helden Leicester samt ihrer Abkunft von Elisabeths politischer Rivalin Mary Stuart enthüllt wird.

Ein nachtschwarzer Charakter

Gehört zu den düstersten Charakteren der Operngeschichte: Norfolc in Rossinis „Elisabetta, Regina d’Inghilterra“, in Bad Wildbad verkörpert von Mert Süngü. (Foto: Patrick Pfeiffer)

Auch Norfolc, der von Rossini am subtilsten ausgearbeitete Charakter der Oper, könnte den Zugriff der Regie gut vertragen: Mert Süngü gibt zwar den abgebrühten Intriganten, den Egozentriker der Macht, den von Neid auf den erfolgreichen Militär Leicester zerfressenen Ehrgeizling, bleibt aber in der Ausdeutung dieser Figur immer wieder an der Oberfläche. Reto Müller hat im Programmheft zu Recht auf die Parallelen zu Jago hingewiesen und den Rang dieser wohl zu den schwärzesten Opernfiguren gehörenden Partie betont. Und in der Tat erinnert etwa die Szene, in der Norfolc der Königin die Wahrheit in giftigen Dosen verabreicht, frappierend an eine Entsprechung in Verdis „Otello“. Rossini stellt hier mehr als den üblichen Opernschurken auf die Bretter – ein Grund, sich dieser „Elisabetta“ einmal mit einem dezidierteren Regie-Zugriff zu stellen. Süngü hat unter den drei Tenören die robusteste Stimme, muss sich bisweilen bemühen, ein hart schlagendes Vibrato unter Kontrolle zu halten, bringt aber für die Farbe des Bösen den passenden, entschiedenen, bis zum Zynismus geschärften Ton mit.

In der Titelrolle lässt Serena Farnocchia keine Gelegenheit aus, ihre dramatisch fundierte Geläufigkeit zu demonstrieren und ein sattfarbenes Timbre leuchten zu lassen. Man staunt über die Anforderungen dieser Partie und wundert sich, über welche technischen Mittel und gestalterischen Raffinessen Isabella Colbran, die Frau Rossinis, anno 1815 bei der Uraufführung verfügt haben muss. Serena Farnocchia taucht in der Darstellung der instrumentalisierten, ihren eigenen Liebes-Illusionen verfallenen, mit unmittelbaren, kaum reflektierten Affekten reagierenden Königin nicht sehr tief in die Psychologie der Figur, reizt aber ungeachtet manch vibratoschwerer Passagen die vokale Bravour bis an die Grenzen aus.

Mühelose Gesangskunst

Auch bei Veronica Marini als Mathilde hindert ein ausgeprägtes Vibrato immer wieder eine geschmeidige Gesangslinie, aber sie singt mit präsentem, gut fokussiertem Ton nahe an den seelischen Schmerzen ihrer Rolle und findet vor allem in den Ensembles – dem Duett des ersten und dem Terzett des zweiten Akts – ein glückliches Einverständnis mit ihren Partnern. Die dritte Frau im Bunde ist Mara Gaudenzi in der kleinen Rolle des Enrico, die man sich gerne größer gewünscht hätte: Die Sängerin aus der Wildbader Akademie BelCanto zeigt einen frischen, ausgeglichenen Mezzo und eine wunderbar unangestrengte Bildung des Tons.

Militärisch erfolgreich, tappt Leicester in die Fallen seines Widersachers Norfolc. Patrick Kabongo vermittelt mit seinem exquisiten Tenor reinstes Rossini-Glück. (Foto: Patrick Pfeiffer)

Vollendetes Rossini-Glück gewährt Patrick Kabongo in der männlichen Hauptrolle des heimlich verheirateten, von Elisabetta begehrten militärischen Siegers über die Schotten, des Generals Leicester. Selten hört man einen so leuchtenden, sicher fundierten Tenor, der jede Höhe unangestrengt selbstverständlich erreicht und souverän ausformuliert, der auch in der Mittellage mit flexibler Fülle prunkt und der in den Koloraturen und Verzierungen wie in den schwierigen, nur mit zuverlässiger Stütze zu bewältigenden Legati keine Spur von Mühe erkennen lässt. Strahlendes Rossini-Glück, wie es nicht häufig erreicht wird!

Für das Festival im Juli 2022 hat Intendant Jochen Schönleber ein anspruchsvolles Programm mit drei Raritäten angekündigt: Adina, Armida und Ermione. Doch auch in der Region lässt sich im Herbst eine seltene Oper Rossinis erkunden: Am 23. Oktober 2021 feiert am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen Rossinis „Otello“ Premiere. Info: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/otello




Selbsterlösung ins Ungewisse: Claus Guth inszeniert in Frankfurt Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“

Maria Bengtsson als Blanche in der Frankfurter Neuinszenierung von Francis Poulencs „Dialogues des Carmelites“. Foto: Barbara Aumüller

Als letzte Neuinszenierung in dieser so hoffnungsvoll verkündeten und so bitter ausgefallenen Pandemie-Spielzeit hat die Oper Frankfurt Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ angesetzt.

Intendant Bernd Loebe vertraut die aus zutiefst katholischem Urgrund erwachsenen „Gespräche der Karmeliterinnen“ mit Claus Guth einem Regisseur an, bei dem man sich, was immer er auch in die Hand nimmt, einer schlüssigen, zumindest aber auf hohem Niveau diskutierbaren Lösung sicher sein kann. In Frankfurt und im Falle der als Märtyrerinnen sterbenden Nonnen bleibt es bei der Diskussion.

Guth beginnt mit einem Bild: Martina Segnas abstrahierter Raum ist dunkel; ein Kubus mit geometrisch gegliederten und durchbrochenen Wänden erscheint ahnungsvoll im Hintergrund, in einem trüben Lichtband stehen gespenstische Schattengestalten. Poulencs Chormotette „Timor et tremor“ greift vor auf das Thema. Eine einsame Frau auf der Bühne wird zum musikalischen Beginn der Oper aus einer Pyramide gleich gekleideter Frauen herausgeschält: alle in Weiß und Gelb, als paraphrasierten die Kostüme Anna Sofie Tumas die Kirchenfarben Weiß und Gold. „Furcht und Schrecken kamen über mich“: Der Frauenchor setzt das Thema der Angst, den bestimmenden cantus firmus dieser Inszenierung.

Das ist nicht unberechtigt. Denn der emphatische, aber unorthodoxe Katholik Poulenc hat aus dem historische Stoff der Märtyrerinnen von Compiègne, wie ihn Gertrud von Le Fort in einer Novelle und Georges Bernanos in einem Filmdrehbuch adaptiert haben, keine katholische Erbauungsoper gemacht. Blanche de la Force, die einsame junge Frau, trägt die Stärke im Namen, flieht aber in die Stille des Klosters, streckt sich auf einem Podium mit der leuchtenden lateinischen Inschrift „Silentium“ aus. Ihre Angst ist nicht einfach die Angst eines Kindes vor Schreckgespenstern. Sie steckt tief: Ihr Bruder beschreibt sie als „Frost im Herzen eines Baumes“. Eine existenzielle Angst, die Blanche zur Vertreterin des Menschen schlechthin macht. Denn wer hat es nie erlebt, das namenlose Erschrecken vor dem Nichts, vor dem Fall in einen Abgrund, in dem nur noch bewusstloses Dunkel herrscht, in dem sich jeder Sinn und jeder Verstand auflöst?

Keine Politik, kein Christentum

Dass sie beim Eintritt in den Karmel den Namen „Schwester Blanche von der Todesangst Christi“ wählt, hat von daher seinen Sinn: Wir denken an die Nacht am Ölberg, als die Angst Jesus blutigen Schweiß auf die Stirne getrieben hat. An den Verlassens-Schrei am Kreuz. Das Kloster ist für Blanche der Raum des Glaubens, der Kraft, die dem Menschen Sicherheit geben kann. Dass auch dessen Gewissheit brüchig ist, macht der Tod der alten Priorin klar: Jahrzehnte lebte sie eine Existenz in Gebet und Gottsuche. Und nun spürt sie die entsetzliche Einsamkeit des Todes. Alle Zuversicht des Glaubens zerstiebt.

Für Claus Guth spielt wie für eine ganze Reihe von Regisseuren der letzten Jahre der Glaubens-Aspekt der Oper keine Rolle. Christliche Symbolik ist getilgt, Anspielungen auf eine Marienfigur oder ein Jesuskind sind religiös entleerte Chiffren psychischer Fremdbestimmung. Guth achtet auch nicht auf die möglichen politischen Konnotationen der Oper, wie sie etwa Andreas Baesler 2010/11 in Münster herausgearbeitet hat: Figuren wie der Diener Thierry, der die junge Adlige Blanche als riesiger Schatten im Schein einer Kerze zutiefst erschreckt, oder die Schergen der Revolution kommen als Funktionsfiguren unauffällig dunkel gewandet auf die Bühne.

Die Angst Blanches führt Guth auf ein „Urtrauma“ zurück: Ihre Mutter hat kurz vor ihrer Geburt in einem gewalttätigen Volksauflauf einen Schock erlitten und ist an der Frühgeburt gestorben. Die seelischen Last und die vergeblichen Fluchtversuche der jungen Frau macht Guth in eindrücklichen Bildchiffren sichtbar. Hochschwanger schreitet die Mutter stumm durch den Hintergrund, als Todesbotin kreuzt sie beim elenden Sterben der alten Priorin unübersehbar die Szene. Auch in der Mutter aller Gläubigen, Maria in blauem Gewand und goldenen Strahlen, verbirgt sich die alte Marquise de la Force mit ihrer Ancien-Régime-Robe – einen blutbefleckten Säugling im Arm, wie er vorher schon einer Sturzgeburt ähnlich vom Himmel geschwebt war. Bei der Aufhebung des Klosters werden die Funktionäre der Revolution die in einem Lichtband aufgebahrten Kindlein einsammeln und entsorgen – und Blanche lässt das letzte, den „kleinen König“ fallen und in tausend Scherben zerspringen, vielleicht ein erster Hinweis darauf, wie sich ihr Inneres von der Bedrückung der Angst zu lösen beginnt.

Ende einer Selbstfindungsreise

Guth geht so weit, das Kollektiv der Nonnen zu entpersonalisieren und zu einem Spiegel der unbewussten Seelenkräfte Blanches zu machen – etwa, wenn die Tänzerinnen in uniformem Blau in einem weißen Kasten – kein Schauplatz, sondern ein Innenraum – sich synchron bewegen, als wollten sie sich ein Messer in den Leib stoßen (Choreografie: Ramses Sigl). Auslöschungswunsch, Selbstbestrafung, Martyriumsbegehren? Alles spielt in solchen Bildern mit.

Ein Defizit dieser Konzeption ist, dass sie im dritten Akt den Konflikt mit der Revolution und die innere Auseinandersetzung des Konvents mit der Forderung nach dem Martyrium nicht sichtbar stringent einbinden kann. Umso überraschender dann das berühmte Finale, in dem die Schwestern eine nach der anderen zum „Salve Regina“ guillotiniert werden, die Stimmen immer weniger, der Gesang immer dünner wird, bis nur noch Blanche bleibt. Guth inszeniert die Szene als Ende einer „Selbstfindungsreise“: Die Frauen sind alle im gleichen Gelb-Weiß wie Blanche gekleidet, als seien sie Aspekte ihrer selbst. Eine nach der anderen stößt Blanche in eine Grube; das böse Zischen der Guillotine, von Poulenc in die Musik eingeschrieben, ersetzen Schläge des „Schicksals“-Hammers aus Mahlers Sechster Sinfonie. Blanche befreit sich von den Figurationen ihrer Angst; welchen Weg sie – allein und frei – weitergeht, bleibt offen.

Befreiung von den eigenen Schatten: Maria Bengtsson (Blanche de la Force) stößt eine der „Schwestern“ (Mirjam Motzke) in den Abgrund. Foto: Barbara Aumüller

Das ist eine beeindruckend entwickelte Konzeption, aber sie erschöpft sich in einem psychologischen Phänomen: Blanches existenzielle Angst ist auf ein Trauma zugespitzt und mit dieser Pathologisierung gleichzeitig relativiert. Der Sohn, der von den Toten auferstanden ist: In den letzten Worten Blanches bringt Poulenc das Hoffnungsprinzip zur Sprache, das den Nonnen die Kraft zur Selbstbehauptung, zum Widerstand und zum Sterben gibt. Für die Selbsterlösung ins Ungewisse braucht’s das nicht.

Hochkarätiges Sängerensemble

Mit Maria Bengtsson hat die Oper Frankfurt eine geradezu ideale Darstellerin der Blanche gewonnen: Sie strahlt die Mischung aus tiefer Verunsicherung und entschlossener Konsequenz aus, erfüllt die lyrischen Linien mit leuchtend satter Kraft, modelliert den Text deutlich und schwerelos. Elena Zilio hat als sterbende Priorin Madame de Croissy einen großen Moment, wenn sie in unbestechlicher Diktion ihre Verzweiflung hinausröchelt und von sich schreit. Ambur Braid zeichnet Madame Lidoine, die neue Priorin, mit ihrem locker strömenden Sopran als charakterstarke, reflektierte Frau. Claudia Mahnke, als langjähriges Ensemblemitglied der Frankfurter Oper nach der Premiere zur Kammersängerin ernannt, gibt der Mère Marie mit scharfer Bestimmtheit Züge einer innerlich gespaltenen, zum Fanatismus neigenden Persönlichkeit. Florina Ilie trägt in ihrem frischen Sopran die fröhliche Gewissheit und kindliche Weisheit der Sœur Constance.

Die Rollen für die Herren sind in dieser Oper allesamt weniger gewichtig – mit Ausnahme des Bruders von Blanche, dem Chevalier de la Force: Jonathan Abernethy gibt dieser Rolle Profil, wenn er im Gespräch mit seinem Vater (vor allem großstimmig: Davide Damiani) ein erstes Psychogramm seiner Schwester skizziert; auch wenn er vokal sehr bewusst und mit klug detaillierter Diktion das Gespräch mit Blanche im Kloster führt, in dem die Regie in die Kindheit der beiden rückblendet und sie in einer stummen Familienaufstellung agieren lässt.

Corona hat’s verschuldet, dass die volle Pracht der Orchestersprache Poulencs auf ein Musikerensemble von rund 30 Köpfen reduziert werden musste. Der Frankfurter Studienleiter Takeshi Moriuchi hat eine Kammerfassung erstellt, die beim Zuhören überzeugt und wichtige Schlüsselmomente der Partitur nicht schwächt, aber die großen Aufschwünge, die samtene Lasur zärtlicher Intimität, aber auch die kalkuliert gestalteten kühlen Momente nur begrenzt vergegenwärtigt. Den Frankfurter Orchestermusikern ist eine klanglich ambitionierte, aber nicht immer faltenfreie Wiedergabe zu verdanken; ob einige allzu dissonante Bläserstellen tatsächlich so gemeint sind, wäre nur durch einen Blick in Moriuchis Notentext zu entscheiden.

Die junge litauische Dirigentin Giedrė Šlekytė für so manche politurfähige Finesse des Klangs verantwortlich zu machen, verbietet sich, weil der Einfluss der Fassung nicht abzuschätzen ist. Anders ist es mit manchen breiten Tempi oder mit unscharfen Akkorden und Akzenten. Šlekytė bleibt auf dem Weg zu einer klanglich aufgerauten, Spaltklänge und geschärfte Modellierung suchenden musikalischen Sprache auf halbem Weg in Richtung Arthur Honegger oder Darius Milhaud stehen. Mag sein, dass dieses Bemühen mit einem vollen Orchester besser gelingt, mag aber auch bedeuten, dass die Möglichkeiten der kleinen Besetzung nicht genügend ausgereizt wurden. Auf jeden Fall bereichert diese Frankfurter Erstaufführung der 1957 uraufgeführten Oper das Repertoire des Hauses um eine wichtige Farbe und stellt in der Lesart von Claus Guth die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Glaube, konsequenter Immanenz und weiterführender Transzendenz wieder neu.

Letzte Vorstellung bereits am 14. Juli; 2021/22 keine Wiederaufnahme geplant: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/dialogues-des-carmelites/

 




Die Hoffnung auf Befreiung in der Geschichte: Luigi Nonos „Intolleranza“ als Stream aus Wuppertal

Die Tristesse von Containerbehausungen moderner Arbeitssklaven. Szene aus „Intolleranza“ in Wuppertal. (Foto: Bettina Stöß)

Luigi Nonos Musiktheater ist eine Ikone der Moderne. Immer wenn eines der Werke aufgeführt wird, umweht ein Hauch säkularen Weihrauchs die Stätte, fühlen sich Musiker und Publikum besonders herausgefordert. Eher bewundert als geliebt, stellen „Al gran sole carico d’amore (1975) und sein Erstling „Intolleranza 1960“ (1961) immense Ansprüche an die Ausführenden.

In Wuppertal wurden sie überzeugend eingelöst: Aus Anlass des 200. Geburtstags von Friedrich Engels war die Inszenierung von „Intolleranza“ (mit dem aktualisierenden Zusatz „2021“) dazu gedacht, an das Schaffen des in Barmen geborenen Urvaters des Marxismus zu erinnern. Tatsächlich ist Nonos Protagonist, ein Gastarbeiter in einer schmutzigen Mine eines fremden Landes, ein Prototyp eines Menschen, der seiner selbst als Subjekt der Geschichte bewusst wird und den Kampf mit den ökonomischen Verhältnissen aufnimmt. Auch Nonos Begriff von der Geschichte, in der sich ein Befreiungsprozess vollzieht, lässt sich auf philosophische Vorstellungen Engels‘ zurückführen.

Dass die Premiere von „Intolleranza 2021“ im Wuppertaler Opernhaus erst ein halbes Jahr nach Engels‘ Geburtstag stattfindet, ist der Corona-Pandemie geschuldet. Es bleibt – aus diesem Grund – auch bei einer einzigen Live-Vorstellung für die Presse. Das Publikum bekommt die „szenische Handlung“ ab 18. Juni als Stream zu sehen. Was in diesem Fall bedauerlich ist, weil Johannes Harneit als musikalischer Leiter die sonst kaum gewährte Chance nutzt, nach Nonos Vorstellungen einen mehrdimensionalen Raumklang zu entwickeln, der im Stream wohl kaum akustisch nachvollziehbar wird.

Aus der Not der Pandemie macht Wuppertal eine Tugend: Das Publikum – in diesem Fall die Musikjournalisten – sitzen im Parkett, haben vor sich auf der Hinterbühne, zehn Meter hoch gestaffelt, 12 Schlagzeuger und 12 Blechbläser, im Graben Streicher, Celesta und Harfen, auf den Rängen 12 Holzbläser und die 24 Sängerinnen und Sänger des Wuppertaler Opernchores, verstärkt durch Einspielungen des Chorwerks Ruhr. Harneit dirigiert im Graben und wird durch einen zweiten Dirigenten, Stefan Schreiber, hinter der Bühne unterstützt.

Das Ergebnis ist eine musikalische Wucht: breit gesplitteter Klang, extreme Transparenz, Reibungen statt Vermischung. Harneits präzise Führung der Ensembles und seine minutiöse Klangkalkulation im Raum führen auch zu verdichteten und verschmelzenden Klängen, zu sphärischen Interferenzen und schwebenden Tongespinsten. Harneit entdeckt in Nonos weiterentwickelter Zwölftonmusik nicht nur die scharf geschnittenen Schläge, die schmerzhaften Dissonanzen, die Spannungen zwischen extremen Registerfarben von Instrumenten, sondern auch die Stille, die Finesse, den von den Solisten des Sinfonieorchesters Wuppertal wohlgeformten Klang.

Mit der Bezeichnung „azione scenica“ (szenische Handlung) setzt sich Nono bewusst von der „Oper“ ab. „Intolleranza“ erzählt nur skizzenhaft eine äußere Handlung, reiht eher innere Prozesse aneinander und verknüpft diese mit politischen Statements, die vor sechzig Jahren als so brisant angesehen wurden, dass der Schott-Verlag in der deutschen Übersetzung auf Entschärfung drängte. Schon Peter Konwitschny hat in seiner Berliner Inszenierung 2001 darauf hingewirkt, die Geschichte klar und unmissverständlich zu erzählen. Dem ist auch Dietrich Hilsdorf in Wuppertal gefolgt.

Dietrich Hilsdorf aktualisiert die 60 Jahre alte szenische Handlung: Anspielung auf den Fleischskandal während der Corona-Pandemie. (Foto: Bettina Stöß)

Dieter Richter stellt die Bühne voll mit einem unwirtlichen Wohncontainer-Aufbau, eine schäbig eingerichtete Behausung für den Arbeitsmigranten. Ein Datum wird eingeblendet, der 11. Januar 2021, der Tag, an dem die zweite Verschärfung des Lockdowns bekanntgegeben wurde. Gestalten in weißer Schutzkleidung mit blutigen Schürzen hecheln über die dunkle Bühne (Kostüme: Nicola Reichert). Markus Sung-Keun Park, der Emigrant, klagt mit gequält positioniertem, aber dramatisch effektvoll attackierendem Tenor über die verzehrende Sehnsucht nach seiner Heimat, beschließt, seine Geliebte (Solen Mainguené) zu verlassen und zurückzukehren. Er gerät durch Zufall in eine Demonstration, wird festgenommen, verhört, erfährt in Folter und Konzentrationslager die Allmacht des Staates und die Ohnmacht des Einzelnen. Das Verlangen nach seiner Heimat verwandelt sich in den Willen zur Freiheit. Eine neue Gefährtin (Annette Schönmüller) gibt ihm neue Hoffnung in der Einsamkeit; beide versinken in einer gewaltigen Sintflut.

Hilsdorfs Verweise auf den Tönnies-Fleischarbeiterskandal und das Schicksal moderner Arbeitssklaven aktualisieren das Provokante des Stücks. Die Videos Gregor Eisenmanns sind im Sinne Nonos, der Filmeinblendungen und Projektionen vorgesehen hatte. Sie holen das Außen nach Innen, lassen sich aber auch als überhöhende Momente lesen, die das Einzelschicksal transzendieren. Und während sich – so eine Regieanweisung Nonos – die Projektionen von „Albträumen der Intoleranz“ fortsetzen, sieht man in den Fenstern des Containers die Flut steigen: Die Natur übernimmt am Ende den Willen der marschierenden Arbeiter, „mit dem Hochwasser einer zweiten Sintflut die Städte der Welten zu waschen“. Spätestens in diesem Bild mündet Nonos politisch gemeinte Aktion in eine apokalyptischen Vision, für die er im Schlusschor Textteile aus Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ montiert. Hilsdorf inszeniert dazu sparsam-stille Bilder, die an ein Oratorium erinnern. Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine Zeit, in der „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“.

Luigi Nonos „Intolleranza“ 2021 ist ab 18. Juni im Online-Streaming zu sehen. Weitere Termine, jeweils um 19.30 Uhr, sind 26. Juni, 2. Juli, 13. und 27. August 2021. Tickets zu 12 Euro über die Webseite der Wuppertaler Bühnen: www.oper-wuppertal.de




Trauma-Theater statt Thespiskarren: Roland Schwab radikalisiert in Essen Leoncavallos „Pagliacci“ („Der Bajazzo“)

Theater der Grausamkeit: Sergey Polyakov (Canio) und Seth Carico (Tonio). Foto: Matthias Jung

Ruggero Leoncavallos Oper „Pagliacci“ gilt gemeinhin als Musterbeispiel des Verismo: Kleine Leute in einem zurückgebliebenen Landstrich, eine aus dem Alltag wachsende Tragödie  und ein reales Ereignis als Vorbild: Ein Doppelmord, den der Komponist als Kind in Montalto in Kalabrien angeblich selbst mit ansehen musste. Ein Trauma.

Nichts vom vertrauten „Verismo“ mit bunt beleuchtetem Thespiskarren und Commedia dell’arte-Kostümierung findet sich im Essener Aalto-Theater: Roland Schwab hat jeden Naturalismus dezidiert hinter sich gelassen, aber er legt die Emotionen der Menschen bis zur Schmerzgrenze frei. Auf der jedem konkreten Schauplatz abholden Bühne von Piero Vinciguerra ballt sich ein Trauma zusammen, dessen Explosion den Zuschauer berührt und überwältigt zurücklässt. Wenn Theater sein muss, dann genau so: unmittelbar, packend, bildgewaltig und dabei in jedem Moment des verdichteten Ablaufs gedanklich konzentriert und schlüssig. Roland Schwab ist damit nach seinem grandiosen „Othello“ wieder ein Meisterstück eines tief in die Seele dringenden Musiktheaters gelungen. Nichts für einen netten Abend, nichts zum nebenbei Erleben, sondern zutiefst erschütternd und wahrhaftig: „Verismo“ auf einer ganz anderen Ebene als der fragwürdige italienische Stilbegriff meint.

Zwangsläufiges Geschehen jenseits der Logik

Im Prolog löst sich aus dem Hintergrund ein schwarzer, entstellter Mann, der einen anderen an der Kette heranzerrt: Es ist derjenige, der zuvor in einer rasanten Filmsequenz durch die Keller und Gänge des Opernhauses hetzt und an der Glastür zur Billettkasse schmerzlich scheitert. Es gibt kein Entkommen aus dem Raum des Theaters. Für ihn – es ist Canio – „muss Theater sein“. Das lesen wir auch auf dem Schild, das ihm der schwarze Prolog wie die Schandtafel eines Delinquenten umhängt. Canio, der „Bajazzo“, ein Opfer seiner Kunst, ein Gefangener schönen Scheins, gar einer bitteren Illusion? Die Kette der Assoziationen ist eröffnet, und sie lässt sich auch am Ende, als die „Commedia“ ihr blutiges Finale erreicht, nicht ganz schlüssig knüpfen. Das ist keine Schwäche, sondern einer der Vorzüge der Inszenierung. Denn ein Trauma, wie der Protagonist es hier auf schwarzglänzendem Boden in einem Raum voller Bruchstücke durchleidet, erfüllt sich nicht in Logik, sondern in der Zwanghaftigkeit eines Geschehens, das nicht aufzuhalten ist.

Diesen Raum füllt Schwab mit beziehungsreichen Chiffren. Tote, deren rotbeschuhte Beine aus den Leichensäcken ragen: Opfer des mannhaften Wahns von „echten“ Gefühlen, von zu Wahnsinn gesteigerter „Liebe“ und tödlich explodierender Eifersucht? Der Mann mit einer Blutwunde auf dem Unterhemd, zum Tode verletzt wie Amfortas und doch zum Leben, zum Spielen gezwungen? Der schwarze Mitspieler Tonio, nicht der drollig-gefährliche Krüppel wie sonst, sondern ein Gezeichneter und ein teuflischer Strippenzieher. Eine transzendierte Figur, die zum Höhepunkt der Tragödie mit einer Stange auf- und abgeht, während der weiß geschminkte Tod auf einem Hochrad über die Bühne huscht: ein Klingsor im bösen Reich entfesselter Lüste.

Komplexes Spiel enthüllt die Sehnsüchte der Personen

Auch das Theater auf dem Theater bleibt beziehungsreich unbestimmt. Keine putzige Wanderbühne, sondern ein Geflecht von Lichtern, aufgespannt wie eine Zirkuskuppel, dann herunterfahrend wie eine gierige Spinne an ihrem Faden, schließlich eine Arena, an deren Brüstung die gemordete Nedda über ihren Rücken hängt, wie auf einem surrealen Gemälde. Vorher hatten die junge Frau und ihr Geliebter Silvio mit der Lichterkette eine Verbindung zwischeneinander gezogen, im Liebesduett, im dem sie sich ihrer Sehnsüchte versicherten.

Szene auf der Bühne von Piero Vinciguerra für „Der Bajazzo“ am Aalto-Theater in Essen. Rechts Seth Carico als Tonio. Foto: Matthias Jung.

Und um Sehnsucht geht es in diesem Stück. Bei Canio, der von seinem jungen Findelkind geliebt sein will und bei dem er am Ende nicht einmal Mitleid und Gnade findet. Ein Schmerzensmann, der die Illusion der Liebe verinnerlicht hat und am Ende im Jähzorn abschlachtet. Bei Silvio, dem jungen Bauern, der sich schwärmerisch eine Zukunft ausmalt. Bei Beppe, dessen scheinbar leichtfüßige Harlekin-Arie erfüllt ist mit elegischem Begehren, das sich auf der Bühne im makabren Spiel mit einem der Frauenbeine als konkret fleischlich manifestiert.

Vor allem aber bei Nedda: Ihre langen blonden Haare machen sie aus der Perspektive der Männer zum Gegenstand der Begierde; sie selbst setzt sie auch als erotisches Signal ein. „Voller Leben und erfüllt von unnennbaren Sehnsüchten“, schnallt sie sich bei ihrer Vision von den frei fliegenden Vögeln die Flügel eines Engelchens um. Ihre roten Schuhe hat sie dazu abgelegt, sich befreit von diesem Zeichen sexueller Objektivation. Das komplexe Spiel mit visuellen Signalen und Chiffren überzeugt auch bei Tonio, bei dem die Seite der seelischen Bezauberung durch den Gesang Neddas, jäh zerstört durch den beißenden Spott der jungen Frau, in der Inszenierung allerdings kaum herausgearbeitet wird. Die maliziöse Gier gewinnt schnell die Dominanz.

Schwab stellt uns Menschen vor Augen, deren Sehnsucht im traumatischen Geschehen offenbar wird; das Spiel entlarvt die Innenseiten der gequälten Seelen. Was Leoncavallo in der Handlung der „Pagliacci“ aus dem Zusammenprall von Spiel (im Spiel) und (dargestellter) Wirklichkeit entwickelt, wird in Schwabs Inszenierung kongenial erfasst und auf eine neue Ebene geholt. Da kommt es auch nicht darauf an, dass die von Leoncavallo erzählte Story des Kriminalfalls als Vorbild der Oper längst als Fälschung entlarvt ist: Die Fiktion des Realen hat eine neue Wahrheit hervorgebracht, das Theater ist der magische Ort dafür – Hermann Hesses „Steppenwolf“ wird direkt zitiert.

Die Höhe des musikalischen Stils wird geschleift

Wäre das musikalische Glück ebenso vollkommen gewesen, man hätte von einem einzigartigen Opernabend zu berichten gehabt. Doch lassen die Sänger allesamt spüren, was ein kundiger Kritiker einmal „die Schleifung der Stilhöhengesetze“ genannt hat. Leoncavallo – und seine Kollegen wie Mascagni, Giordano oder auch Zandonai – stehen für eine damals neue Art des Singens: Addio zum stilisierten, kunstvollen „canto fiorito“ hin zum naturalistischen „Schrei“, in dem sich die Stimme exzessiv verausgabt und Schauer des Entsetzens oder der Wollust über die Rücken der Zuhörer treiben will.

Heute gilt im Singen von Verdi bis Puccini nicht einmal mehr das. Ein Beispiel ist der Bariton Seth Carico als Tonio: Ein robustes Material wird, kaum berührt von Differenzierungen in Farbe oder Tonbildung, robust eingesetzt und schindet mächtig Eindruck. Die subtilen Nuancen des Prologs, die emotionalen Zwischentöne dieses so geschundenen wie boshaften Charakters werden mit der immergleichen Präsenz herausgeschleudert. Schmerz, Zynismus, Verschlagenheit, oder auch einfach nur Kantabilität, dynamische Flexibilität, Schmelz oder Strahlkraft sind zu einem stählern gefassten, im Zurücknehmen schnell rissigen Klang zusammengepresst.

Sergey Polyakov als Canio. Foto: Matthias Jung

Der Canio von Sergey Polyakov versucht sich darin, seinen wuchtigen Tenor zu zähmen, ihm die Farben der Schmerzes, der unendlichen Enttäuschung, aber auch der ungebändigten Wut abzuringen. Die Höhe drängt anfangs sehr an den Gaumen, kann sich erst im zweiten Akt befreien. In „Vesti la giubba“ ersetzt Nachdruck den Ton der Resignation und der inneren Qual. Doch in den sich steigernden Ausbrüchen der Wut hat Polyakov seinen Weg gefunden. Carlos Cardoso bleibt dem elegischen vokalen Maskenspiel des Arlecchino einiges schuldig; Tobias Greenhalgh vermittelt mit schwacher Tiefe und einer in unbefreiter Lautstärke übertönten Lyrik nicht den Eindruck, seine Rolle über das Verismo-Klischee – laut und ungeschliffen – hinausheben zu wollen.

Abgeschlachtet in der Arena der Emotionen: Gabrielle Mouhlen (Nedda). Rechts Sergey Polyakov (Canio). Foto: Matthias Jung

Bleibt Gabrielle Mouhlen als Nedda: Ihr Timbre von der Härte eines Brillanten taucht ihre große Solo-Szene in ein kühles, klares Licht. Der Traum von den freien Himmelsvögeln schimmert wie Glas, die Farben der Sehnsucht bleiben hell und ungebrochen. Zu flexibler Phrasierung hat sie kaum Gelegenheit, denn Robert Jindra am Pult gibt ihr kaum den Raum zum Atmen, drängt auf Tempo und vor allem auf stabile, ungeschmeidige Metren. Bei einem so erfahrenen Kapellmeister wundert dieser Rigorismus – dass Leoncavallo gut mit dem Hohenzollernkaiser konnte, ist kein Argument für preußische Exaktheit.

Vom ausschwingenden Cantabile abgesehen lässt Jindra den Essener Philharmonikern viel Raum für fein ausgestaltete Soli und duftige Tutti, denen man die reduzierte Orchesterfassung von Francis Griffin nicht negativ anzukreiden braucht. Die filigrane Brillanz der Begleitung in der Nedda-Arie lässt keine Wünsche offen; die elfenhaften Staccati und Pizzicati zur Arietta Beppes haben den passenden Hauch des Künstlichen. Auch der Opernchor von Jens Bingert erfüllt seinen Part von den Rängen des Hauses, nur kurz von breitem Tempo irritiert, mit Glanz und einer in diesem Stück sonst kaum herstellbaren Transparenz. Noch einmal: Ja, so soll Theater sein. Und wir alle sollten froh sein, dass wir es wieder haben!

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit nur noch am 13., 18., 20. Juni 2021. Info: www.theater-essen.de




Maschinen-Oper und Elektronik: Erinnerung an Max Brand, dessen „Maschinist Hopkins“ 1929 in Duisburg uraufgeführt wurde

Der Kritiker war begeistert. Ein „geradezu sensationeller Erfolg“ war da 1929 in Duisburg über die Bühne gegangen: „Maschinist Hopkins“, die erste Oper des 32jährigen Max Brand. Der Beifallssturm des Premierenabends sei jedenfalls „doppelt überraschend“ für den „aus seiner Reserviertheit nicht so leicht aufzurüttelnden Niederrheiner“ gewesen, heißt es im Artikel Waldemar Webers. Vor 125 Jahren, am 26. April 1896, wurde Max Brand in Lemberg in der k.u.k. Monarchie geboren. Ein Anlass, um an sein Schicksal und sein weithin vergessenes Hauptwerk zu erinnern.

Vor 125 Jahren geboren: Max Brand (1896-1980). Foto: Universal Edition

Mit „Maschinist Hopkins“ zog die moderne industrielle Arbeitswelt auf der Musiktheaterbühne ein – eine Oper, die wie kaum eine andere in die Stahlkocherstadt Duisburg passte. Saladin Schmitt, damals Intendant der vereinigten Stadttheater von Bochum und Duisburg und Begründer des Ruhmes des Bochumer Schauspiels, hatte selbst die Inszenierung dieses Erstlings eines kaum bekannten Komponisten übernommen.

Für die Duisburger wurde dieser 13. April 1929 ein denkwürdiger Tag. „Maschinist Hopkins“ war „der größte Erfolg überhaupt, den die Duisburger Bühne seit den zehn Jahres ihres Bestehens zu verzeichnen hatte“, konstatierte der Kritiker Weber in den „Musikblättern des Anbruch“. Der Erfolg blieb nicht auf den „Premierenrausch“ des Uraufführungsabends begrenzt, heißt es weiter. „Die folgenden Aufführungen sahen – ein seit Jahren nicht mehr gewohnter Anblick – bis in die letzten Winkel ausverkaufte Häuser.“

Unerhört neuer Stoff für eine „Zeitoper“

In Augsburg und Gießen wurde in jüngerer Zeit die Oper „Maschinist Hopkins“ nachgespielt. (Fotos der Programmhefte aus dem Archiv von Werner Häußner)

Als „Zeitoper“ sollte sich „Maschinist Hopkins“ nicht mit „antiquierter, neben den Forderungen des Tages einher laufender Kunst“ befassen, sondern einen Zuschauer in seiner Gegenwart ansprechen, der sich selbst auf der Bühne mit „allen seinen Wünschen, Leiden, Sehnsüchten und seinem Wollen“ wiederfinden sollte. Der Stoff, aus dem Brand selbst sein Libretto formte, war „unerhört“ neu: Die Hauptpersonen sind Arbeiter; die Schauplätze setzen eine Maschinenhalle der Schwerindustrie in Kontrast zur mondänen Vergnügungswelt des Theaters, noble Direktorenbüros zur bedrückenden Sphäre billiger Kaschemmen.

Die Handlung, unter dem Einfluss moderner Filmästhetik gegliedert in zwölf Bilder, wirkt schnell geschnitten, kolportagehaft und trägt die Züge eines Krimis. Es geht um einen Arbeiter, der dank gestohlener Produktionsgeheimnisse aufsteigt, aber durch Erpressung wieder zu Fall kommt. Die Oper kennt auch eine schwärmerische Liebesnacht mit Schrekerschen Sphärenklängen und Puccini-Süße. Die Frau, die am Verbrechen mitbeteiligt ist, endet als billige Prostituierte durch die Hand ihres früheren Geliebten.

Ambivalente Figur mit Führer-Zügen

Brands trunkene Liebesmusik wirkt falsch, beinahe ironisch. Romantische Liebe ist nur die Fassade, dahinter lauert berechnende Kumpanei. Die Männer benutzen die Frau lediglich: Der eine, um das Wissen zu stehlen, das ihm seinen Aufstieg ermöglicht; der andere, um sich zu rächen und den Gang des Geschehens in seinem Sinn zu steuern. Nell, die sensible Künstlerin mit ihrem „unaussprechlichem Verlangen nach Dingen, die ohne Namen sind“, hat ihre Funktion erfüllt und wird verstoßen, während Hopkins, der Diener des schaffenden Geistes der Maschine seinen Weg „allein und unbeschwert“ gehen muss.

Mit dem Maschinisten Hopkins erschafft Max Brand eine ambivalente Figur, die wie kaum eine andere für den Zeitgeist steht: für die Bewunderung der Technik, für den Fortschrittsglauben des Futurismus, für die alles durchdringende Idee der Arbeit. Aber er ist ein „Mann aus Eisen“, ein Diener der Maschinen, auch eine überhöhte Figur, ein „neuer Mensch“, in dem sich die Faszination für einen „Führer“ wiederspiegelt, die vier Jahre später folgenreich Realität werden sollte. Die Arbeiter, für die er die Fabrik vor der Schließung bewahrt, marschieren am Ende unter dem Ruf „Arbeit, Arbeit …“ im Gleichschritt in die Maschinenhalle, eine amorphe Masse, in der es kein Individuum mehr gibt: ein Kollektiv unter dem Diktat des mechanischen Arbeitsrhythmus‘ der Maschine.

Singende Maschinen wie phantastische Fabelwesen

Doch Max Brand greift in seiner Oper noch weiter aus und trifft damit einen Nerv der Zeit. Die Maschinen sind bei ihm nicht bloße Accessoires eines Schauplatzes, sondern eigenständige Wesen mit Bewusstsein und Stimme. Sie singen von ihrer Versklavung durch den Menschen und von ihrer immensen, auch tödlichen Kraft. Sie werden stilisiert wie in der schwarzen Romantik: „Gigantische Maschinen wie phantastische Fabelwesen … hie und da blinkt ein glatter Metallteil nackt, wie ein bösartiges Auge, auf“, beschreibt eine Regieanweisung.

Die Überhöhung trägt religiöse Züge: Im Schlussbild soll der Aufbau der Hauptschalttafel für die Maschinen „symbolhaft und altarartig“ wirken, wie ein Tabernakel glitzernd im magischen Licht des Mondes. Fritz Langs „Metropolis“ lässt grüßen. Musikalisch orientiert sich Brand an Arnold Schönberg, den er intensiv studiert hat: Die Maschinen äußern sich in verschiedenen Formen deklamatorischen Sprechens und Singens. Schönbergs „Die Glückliche Hand“ wurde damals ebenfalls in Duisburg gespielt.

„Vision der Oper unserer Zeit“ oder skrupellose Erfolgsoper?

Die Duisburger Uraufführung von „Maschinist Hopkins“ war kein Theaterskandal wie die wohl bekannteste „Zeitoper“, Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ zwei Jahre zuvor in Leipzig. Doch die Kritik reagierte gespalten. Die Duisburger Rhein- und Ruhrzeitung schrieb, Brand sei der geborene Musikdramatiker, in seiner Musik gebe es keine Langeweile. Alfred Einstein kritisierte dagegen im Berliner Tageblatt „Maschinist Hopkins“ als „skrupellose Erfolgsoper, nacktes Filmgerüst für Musik“. Theodor W. Adorno hielt sie für hohl und hilflos, andere höhnten über ihre „dramatische und musikalische Minderwertigkeit“. Als „Vision der Oper unserer Zeit“ gerühmt, wurde „Maschinist Hopkins“ als „Oper des Jahres 1929“ ausgezeichnet und bis 1932 an 27 Theatern nachgespielt.

Max Brand. Foto: Universal Edition

Max Brand war 1907 mit elf Jahren mit seinen Eltern von Lemberg nach Wien übergesiedelt, nahm am Ersten Weltkrieg teil und studierte ab 1918 bei Franz Schreker und Alois Haba in Wien und Berlin. 1921 debütierte er mit (heute verschollenen) Werken beim Internationalen Musikfest in Winterthur.

In den zwanziger Jahren beschäftigte er sich mit den Möglichkeiten modernen Musiktheaters, gründete in Wien ein „Mimoplastisches Theater für Ballett“ und legte in einigen Essays kühne Reformideen für die Oper vor.

Brand schwebte eine Überwindung der „persönlichen Erfassung im Gefühlsmäßigen“ und der individuellen Auslegung eines musikalischen Geschehens vor. Stattdessen überlegt er eine „Loslösung musikalischer Geschehnisse und ihrer bühnenmäßigen Begründung vom rein menschlichen Beziehungsproblem“. Die Folge wäre eine Bühne, die nichts Konkretes mehr vorstellt, sondern ihr Leben mit seinen Bewegungen und Formen, Farben, Lichtern und Schatten aus dem „Sinn“ der Musik empfängt. Das Klangliche sollte in Licht und Farbe transponiert werden; der Mensch auf der Bühne nicht nach menschlichen, sondern nach rein musikalischen Notwendigkeiten handeln. Brand dachte an „Vorgänge abseits jeder Realistik“. Diese „Musik-Mechanisierung“ war damals eine visionäre Vorstellung, die etwa auch bei Arnold Schönberg greifbar wird, aber – soweit feststellbar – kein Echo in der Praxis gefunden hat.

Pionier der elektronischen Musik

1938 musste Max Brand als Jude Österreich verlassen und ging über Prag und Brasilien, wo er mit Heitor Villa-Lobos zusammenarbeitete, in die USA. Schon die in Berlin geplante Uraufführung seiner zweiten Oper „Requiem“ (1932) scheiterte an den Nazis. In New York gelang es ihm, sein Oratorium „The Gate“ zur Aufführung an der Metropolitan Opera New York zu bringen.

Stets begierig auf Neues und fasziniert von der Technik, entdeckte er die elektronische Musik für sich, mit der er sich seit Kriegsende zunehmend intensiv beschäftigte. Mit dem Techniker Frederick C. Cochran und dem Elektronik-Pionier Robert Moog erstellte er 1968 das „Moogtonium“, einen aus dem Trautonium entwickelten Synthesizer. Der funktionsfähige Prototyp ist heute im Museum im niederösterreichischen Langenzersdorf ausgestellt, das Max Brands Tonstudio bewahrt.

1975 kehrte Brand nach Österreich zurück, wo er vergessen und in den letzten Jahren dement 1980 starb. Seine Oper „Maschinist Hopkins“ wurde erst 1984 von John Dew in Bielefeld wiederentdeckt und wenige Male, etwa in Gießen und Augsburg, nachgespielt – leider aber nicht im Ruhrgebiet, wo das Thema Arbeit, Industrie und Maschine eigentlich ein Heimatrecht haben müsste.




„Kreativität aus der Krise“: Manuel Schmitt über seine Revier-Herkunft und seine Inszenierung von „Romeo und Julia“

Szenenfoto aus Boris Blachers „Romeo und Julia“ auf der Bühne des Theaters Duisburg. Foto: Hans Jörg Michel

Es ist eine der faszinierendsten Liebesgeschichten der Weltliteratur: Zwei junge Menschen aus seit Generationen verfeindeten Familien, eine verbotene Liebe auf den ersten Blick, eine schwärmerische Liebesnacht und der Tod nach tragischer Verkettung glückloser Umstände. „Romeo und Julia“ erschüttert bis heute mitfühlende Seelen.

Kein Wunder, dass der Stoff vielfach in Musik gefasst wurde: Allein über 40 Opern werden gezählt. Die bekanntesten Vertonungen stammen von Vincenzo Bellini („I Capuleti e i Montecchi“) und von Charles Gounod (kürzlich an der Deutschen Oper am Rhein und in Aachen neu inszeniert). Ein kaum bekanntes Juwel verfasste Riccardo Zandonai („Giulietta e Romeo“), andere stammen von Heinrich Sutermeister oder dem Bellini-Zeitgenossen Nicola Vaccai.

Für einen an Corona adaptierten Spielplan hatte die Deutsche Oper am Rhein (Düsseldorf/Duisburg) eine Version aus dem 20. Jahrhundert ausgewählt: Im November 2020 sollte Boris Blachers „Romeo und Julia“ Premiere feiern, inszeniert von Manuel Schmitt, der vor zwei Jahren in Gelsenkirchen mit Georges Bizets „Die Perlenfischer“ einen markanten Erfolg landen konnte. Allein – dazu kam es nicht; der Herbst-Lockdown machte eine Live-Aufführung der fertig geprobten Oper unmöglich. Jetzt wird sie wenigstens medial nachgeholt: Ab Samstag, 17. April, 19 Uhr, streamt die Deutsche Oper am Rhein die Produktion, aufgezeichnet im März im Theater Duisburg.

Corona-Lockdown und Wasserschaden

Der Regisseur Manuel Schmitt. Foto: Esther Mertel

Für Manuel Schmitt, der in Mülheim/Ruhr aufgewachsen ist, ein Grund zur Freude. Denn die Pandemie hat den 32-Jährigen in einer wichtigen Phase seiner Karriere voll erwischt. In der Zeit seit März 2020 hätte er in den Münchner Kammerspielen, an der Oper Frankfurt und erneut am Musiktheater im Revier vier wichtige Premieren gehabt. Einen Tag vor der Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ im sächsischen Radebeul wurde der erste Lockdown verkündet. Und seine Inszenierung einer selten gespielten Oper des Italieners Saverio Mercadante nach Schillers „Die Räuber“ in Hildesheim musste im September 2020 nach der Premiere wegen eines Wasserschadens abgesetzt werden. Trotzdem sagt Manuel Schmitt, es gehe ihm eigentlich noch ganz gut: „Ich bereite zuhause meine Produktionen vor und konnte bisher einen Teil der geplanten Proben abhalten. Daher bin ich vielleicht noch in einer vergleichsweise glücklichen Position.“

„Hier hängt mein Herz“

Schmitt bezeichnet sich selbst als „Kind des Ruhrgebiets“: „Hier hängt mein Herz“, sagt der junge Regisseur mit derzeitigem Wohnsitz in München. „Im Rhein-Ruhr-Gebiet zu arbeiten, ist toll“. Zwar steht in seinem Ausweis Oberhausen als Geburtsort, aber Schmitts Heimat ist Mülheim. Ein mit klassischer Musik groß gezogenes Bildungsbürgerkind ist er nicht. Er wuchs in einer Familie auf, die eher zu technischen Berufen hin orientiert ist. Doch sein Interesse für Musik wurde noch vor der Grundschule geweckt und zunächst im Klavierspiel ausgelebt. Ein einschneidendes Erweckungs-Erlebnis gab es nie: Der kleine Manuel ging zwar mal in „Hänsel und Gretel“, aber an die Begeisterung über Engelbert Humperdincks Oper erinnert sich nur noch die begleitende Patentante.

„Mit Zehn ging’s dann los“, blickt Schmitt zurück. Aus heiterem Himmel kam ein Casting zum Musical „Tabaluga & Lilli“ mit Peter Maffay in Oberhausen. „Ich wusste nicht, was auf mich zukommt, hab‘ aber dann zwei Jahre mitgespielt.“ Der Theater-Virus wirkte: Manuel Schmitt erschnupperte in Essen „die völlig neue Welt der Oper“. Er hospitierte am Aalto-Theater, war dort Statist, assistierte unter anderem bei Willy Decker bei der Ruhrtriennale, erinnert sich an eine ihn faszinierende „Aida“ in Gelsenkirchen. Am Aalto hat er auch gemerkt, „was es für einen Drive hat, mit Leuten wie Hans Neuenfels oder Barrie Kosky zu arbeiten. Ohne diese Erfahrung wäre ich meinen Weg nicht gegangen.“

Dazwischen lag eine Ruhrgebiets-Jugend zwischen Mülheim, Oberhausen und Essen und das Abitur am Gymnasium Heißen: „Vier U-Bahn-Stationen, und man hat alles um sich rum“, schwärmt Schmitt, „ob einen Rückzugsort im Wald oder eine heiße Party.“ Er schätzt die offenen Menschen, das multikulturelle Umfeld, den hohen Stellenwert von Kultur. „Ich glaube an das Potenzial des Ruhrgebiets: Hier gibt es die Menschen, den Raum, die Innovation.“

Regie und Philosophie

Als einer von zweien bestand er die Aufnahmeprüfung an der Münchner Bayerischen Theaterakademie, benannt nach August Everding, einem gebürtigen Bottroper. 2013 schloss er sein Regiestudium mit einer Inszenierung von Philip Glass‘ „Galileo Galilei“ ab. Danach, um tiefer zu blicken, folgte noch ein Philosophie-Studium an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München.

Manuel Schmitt bei einer Probe von „Romeo und Julia“. Foto: Esther Mertel

Dass er nun eine unbekannte Oper von 1943 mit einem Weltliteratur-Thema inszeniert hat, macht ihm „großen Spaß“. Boris Blacher, ein in China geborener Kosmopolit, 1975 in Berlin gestorben, hat keinen Blockbuster geschrieben, sondern den Stoff von Romeo und Julia auf seine Essenz konzentriert. Damals durch den Krieg, heute durch die Pandemie, sind die Möglichkeiten, große Oper zu spielen, begrenzt. Blacher hat sein Werk den Umständen der Zeit angepasst: Eine gute Stunde Spieldauer, neun Musiker, zwei Hauptrollen, der Rest kann aus dem kleinen Chor besetzt werden. Ideal also für einen an Corona angepassten Spielplan.

Blachers Musik gibt sich akribisch konstruiert und völlig unromantisch, erreicht aber mit einem „Minimum an Mitteln ein Maximum an Wirkung“, wie der Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt schrieb. Die strenge, rhythmisch betonte Schreibweise erinnert an Paul Hindemith, aber auch an den Esprit der französischen Sachlichkeit eines Darius Milhaud. Zusätzlich gebrochen wird die Handlung – streng nach Shakespeare, aus dessen Drama Blacher den Text destilliert hat – durch einen Chansonnier: Der singt einen Prolog und zwei Songs nach Art von Kurt Weill, die bezeichnenderweise bei der offiziellen Uraufführung der Oper in Salzburg 1950 weggelassen wurden.

Ein pazifistisches Werk

Bemerkenswert für Manuel Schmitt ist, dass Blacher seine Oper mitten in der Kriegszeit auf einen Text des Engländers Shakespeare geschrieben hat und mit einem Friedensappell beginnen lässt: „Zu Boden werft, bei Buß‘ an Leib und Leben, die mißgestählte Wehr aus blut’ger Hand“, singt der Chor am Anfang. „Heute ist schwer herauszulesen, dass die Oper unter den damaligen Umständen ein pazifistisches Werk war“, ist sich Schmitt sicher. Blacher lasse sie auch nicht mit dem Tod der Liebenden enden, sondern reflektiere die Auswirkungen der Liebe. Für Schmitt eine positive Auswirkung der Krise: Statt der üblichen „großen“ Opern erlebten Werke eine Renaissance, die vorher unbeachtet geblieben seien oder die man sich nicht zugetraut habe. „Wir schlagen Kreativität aus der Krise.“

Schmitt stört es überhaupt nicht, dass er derzeit eher unbekannte Opern – wie die von Mercadante, Marschner oder jetzt Blacher – inszeniert. „Publikum und Ausführende schauen unbelastet auf diese Stoffe. Wir können frei von Erwartungen und Sehgewohnheiten die Stärken und Schwächen solcher Werke aufdecken. Man wächst an den Vorlagen. Und ich bin sicher, dass die Krise ästhetisch und in den Spielplänen Spuren hinterlassen wird.“ So freut sich der Theatermann, dass er seine nächste große Herausforderung in Gelsenkirchen bestehen kann: Dort soll er demnächst Gioachino Rossinis Oper „Otello“ proben. Das bedeutet für ihn absolutes Heimatfeeling: „Wenn ich sage, ich gehe nach Hause, dann meine ich das Ruhrgebiet.“

Die Online-Premiere von „Romeo und Julia“ am Samstag, 17. April 2021, 19 Uhr, wird von einem Live-Chat mit Regisseur Manuel Schmitt und Dramaturgin Anna Grundmeier begleitet. Danach ist das Stück für sechs Monate – bis 17. Oktober – kostenfrei online abrufbar. Unter der musikali­schen Leitung von Christoph Stöcker wurde es am 18. und 19. März aus sechs Kameraperspektiven im Theater Duisburg aufgezeichnet.

Weitere Informationen zur Inszenierung hier und zum Stream auf www.operamrhein.de




Facetten der Einsamkeit – von Haydn bis Marilyn Monroe: Gelungener Opern-Doppelabend am Theater Hagen

Auch am Theater Hagen erzwang die Corona-Pandemie eine umfassende Revision der Pläne zunächst für die erste Hälfte der Saison 2020/21.

Eine Ikone des 20. Jahrhunderts greift ein Opern-Doppelabend am Theater Hagen auf: Marilyn Monroe. (Foto: Klaus Lefebvre)

Die Spielzeit-Vorschau, ein hübsches rotes Kästchen, enthält für jedes Projekt aus den Sparten ein loses Blatt, das ausgetauscht werden kann, wenn Intendant Francis Hüsers und sein Team infolge der Corona-Schutzmaßnahmen umplanen müssen. Für die Zeit bis Dezember war das bereits der Fall: Die Schlachtschiffe des Repertoires stehen im Trockendock bereit, zu einem späteren Zeitpunkt gefahrlos auszulaufen. Der Ersatz, klein, kurz und flexibel, macht aber ebenfalls Freude. Krisen fördern zuweilen Kreativität: Wie wäre es sonst zu einem Doppelabend mit Joseph Haydns „L’Isola disabitata“ und Gavin Bryars 2013 uraufgeführter Kammeroper „Marilyn forever“ gekommen?

In beiden etwas mehr als einstündigen Werken geht es um Einsamkeit, um einen Prozess der Selbstfindung und um die Frage, wie authentisch ein Mensch sein Leben eigentlich führen kann. In Haydns „unbewohnter Insel“ sind es zwei Frauen, die sich einen Weg über ihre inneren Limits hinaus bahnen müssen; „Marilyn forever“ wirft die Zuschauer mitten hinein in die Spannung zwischen den inneren Empfindungen und der äußeren Selbstkonstruktion eines Menschen.

Was steckt hinter den Bildern, mit denen die Monroe berühmt wurde? Angela Davis versucht sich, in die Figur „Marilyn“ hineinzufühlen. (Foto: Klaus Lefebvre)

An der Kultfigur Marilyn Monroe, die sie sich als Waisenkind Norma Jeane Mortenson geschaffen hat, versucht Gavin Bryars Einakter zu ergründen, wo der Mensch, wo der Mythos „Marilyn Monroe“ zu entdecken ist, wie sich das Innen und Außen dieser Ikone des 20. Jahrhunderts zueinander verhalten: Die Frau, als warmherzig und selbstbewusst beschrieben, mit ihrer sorgfältig nach außen abgeschirmten Seele, verletzlich, liebesbedürftig, an sich zweifelnd. Die Fassade, glamourös, sexy, mit kalkulierter Ausstrahlung. Und die Wirkung, in Zeiten patriarchaler Herren, rebellierender Söhne, marginalisierter und missbrauchter Frauen, reduziert auf das Objekt: begehrt, vermarktet, konsumiert, vergöttert und gleichzeitig abgewertet.

Kantenlose Musik

Regisseur Holger Potocki versucht sich in etwa 80 Minuten durch dieses verschlungene Dickicht vorzukämpfen zur „echten“ Marilyn Monroe – etwas, was sie selbst wohl nicht geschafft hat. Das Libretto Marilyn Bowerings ist ihm dabei keine Hilfe: Zu ungefähr sind die Gefühlszustände, Gedanken, Träume von „Marilyn“, zu vage die Bezüge zu historisch feststellbaren Ereignissen, etwa die Ehe mit Arthur Miller, zu spekulativ die Andeutungen, etwa über das Verhältnis zu John F. Kennedy.

Kaum Unterstützung auch aus der Musik: Denn der inzwischen 77jährige englische Komponist Gavin Bryars schrieb 2013 eine nachromantisch kantenlose Musik mit Elementen aus minimal music und Jazz, mit verfliegenden Scheinzitaten populärer Musik der Fünfziger, weich, schmeichelnd, mit der dunklen Registerpalette der Instrumente und moderater Dynamik spielend. Alles „well made“, angenehm zu hören, aber nicht charakteristisch, schon gar nicht irgendetwas provozierend. Und neu im Übrigen auch nicht – aber das muss ja nicht unbedingt sein. Joseph Trafton und die elf Musiker des Philharmonischen Orchesters Hagen lassen den schmiegsamen Wohllaut fein abgestimmt verströmen.

Angela Davis als Marilyn. Foto: Klaus Lefebvre

Potocki bleibt also in den Rätseln hängen, und er weiß das: Um dem Wohlfühlfluss der Szenen zu entkommen, teilt er gemeinsam mit Bernhard Niechotz die Bühne in zwei Räume und spaltet die Figur der Marilyn auf: Angela Davis gibt nicht die Ikone Monroe, sondern versucht als – zeitweise sehr intensive – Darstellerin sich in einem Studio für einen Film auf die Rolle „Marilyn Monroe“ vorzubereiten und dafür die Facetten der Figur zu verinnerlichen. In der anderen Hälfte der Bühne, einem Kinosaal, setzt sich Kenneth Mattice als Filmregisseur mit Bildern und Vorstellungen der Monroe auseinander. Er fällt in die Rollen der „Men“ aus dem Leben Monroes, grübelt zwischen Kinostühlen, experimentiert mit Bildern auf der Leinwand. Potocki nutzt die distanzierende Wirkung von Film, Projektion und Spiegeln, um die Entfremdung der Personen von sich selbst auf die Spitze zu treiben, sich dem Geheimnis der authentischen Existenz der Titelfigur anzunähern und es gleichzeitig zu wahren.

Das reicht bis zu den unklaren Umständen ihres frühen Todes: Kenneth Mattice, der sich selbst spielerisch vorbehaltlos verausgabt, dringt in den „Raum“ Marilyns ein und ist – kurz bevor das Licht erlischt – der Funke des Todes für die zitternde Frau. Dass danach das berühmte blaue Kleid und eine weißblonde Perücke auf dem Bühnenboden liegen wie aufgebahrt, ist konsequent: Den äußeren Schein können wir begraben, den Mythos entschlüsseln wir nur bruchstückhaft, die Wahrheit bleibt verborgen. Welchen Anspruch Bryars allzu unverbindliche Oper verwirklicht, darüber mag die Nachwelt entscheiden. Kritiker lagen allzu oft daneben – dennoch sei es gewagt, sich nicht wie die Oper ins Ungefähre zurückzuziehen: Die Nachwelt wird eher den Mythos Monroe als dieses Werk am Leben halten.

Eine Burg aus Polstern

Nicht am Leben blieb auch Joseph Haydns „L’Isola disabitata“, einer seiner gar nicht so wenigen, aber leider kaum bekannten Opern. Uraufgeführt 1779 auf Schloss Eszterháza (heute Fertöd in Ungarn), konnte sie sich trotz mehrerer CD-Aufnahmen nicht im Repertoire durchsetzen. Das Libretto Pietro Metastasios – er schätzt es selbst sehr hoch ein – wirkt in der Inszenierung Magdalena Fuchsbergers geradezu modern: Die „unbewohnte Insel“ wird zu einem Ort von Introversion und Aufbruch, von Selbstverkapselung und Selbstentfaltung.

Maria Markina als Costanza in Joseph Haydns „L’Isola disabitata“ in Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Fuchsberger transferiert das Thema der verlassenen Frau auf dem menschenleeren Eiland in die siebziger Jahre, als die Frauen um Gleichberechtigung kämpfen und der Sex sich aus den Fesseln der überkommenen Moral befreit. Wieder ist die Bühne zweigeteilt: In Monika Bieglers Wohnlandschaft steht links ein graues Sofa, Zuflucht der Frau mit dem bezeichnenden Namen Costanza: Unermüdlich die Männer hassend wartet sie auf den ihren, der seit 13 Jahren verschollen ist. Die einsame Standhafte baut dort eine Burg aus Polstern aus, in deren Gruft sie sich verkriecht.

Auf der anderen Seite Esstisch und Vitrine, Ort der tastenden, misslingenden Versuche, so etwas wie Gemeinschaft oder gar Zuneigung herzustellen. Maria Markinas Gesten und Bewegungen sprechen von ihrem Leid, ihren inneren Zwängen, ihrer Selbstisolierung, ihrem Lebensüberdruss; musikalisch gelingen ihr die Momente der Innerlichkeit besser als die schmerzvolle Empörung in Rezitativen, die mit hartem Ton und druckvoller Emission aus ihr herausbrechen. Ob dieser Frau am Ende gelingt, frei zu werden, als der Mann nach Jahren endlich aus der Sklaverei fliehen und zu ihr zurückkehren kann, bleibt offen: Die Regie dreht die Rollen um, als Gernando, der Mann, auftaucht, als sei nichts geschehen, und die Frau, Costanza, die Chiffren der Entfremdung übernimmt. Der Wein zu viert am Tisch lässt immerhin eine Hoffnung offen.

Ein Kind wird erwachsen

Erstaunlich modern und spannend wirkt, wie sie die jüngere Schwester Costanzas im Lauf des Stücks entwickelt. Haydn hat – zumindest in der Lesart Fuchsbergers – eine überraschend tiefgründige Coming-of-Age-Geschichte in faszinierend sensible Musik gefasst. Silvia, der Name des Mädchens, deutet auf die ungebrochene Natürlichkeit ihres Wesens hin. „Welch‘ glückliche Unschuld“, findet auch Costanza, und Metastasio beschreibt Silvias Liebe zu einem kleinen Reh – eine bezaubernde Chiffre für das kindlich-ungebrochene Einssein mit der Natur, während die Musik Haydns bereits die Trauer über den Verlust dieses „paradiesischen“ Zustands erklingen lässt.

„Glückliche Unschuld“: Silvia (Penny Sofroniadou) mit ihrem geliebten Reh. (Foto: Klaus Lefebvre)

Mit der Ankunft von Gernando und dessen Freund Enrico beginnt der Prozess: Silvia nimmt den Mozart’schen Cherubino vorweg, wenn sie nach der ersten Begegnung mit dem freundlich-virilen Enrico (Insu Hwang mit markantem Bariton) von einem unbekannten „affetto“ in der Brust singt, einer Hoffnung, von der sie nicht weiß, was sie bedeutet. Ihre Schwärmerei hat auch komische Züge, verdichtet sich aber immer mehr zur Erkenntnis der „tyrannischen“ Liebe, die ihr keine Ruhe mehr lässt. Und während Anton Kuzenok die melancholische Suche Gernandos nach seiner geliebten Costanza in einen fein geführten, die Töne frei bildenden Tenor kleidet, erzählt die Musik, wie Silvia das „heftige Feuer“ der Liebe und damit ihr sexuelles Begehren entdeckt, und Penny Sofroniadou schildert ihre Not zum sprechenden Orchester Haydns mit einem leuchtenden, leichten und lockeren Sopran. Aus der engagierten kleinen Truppe im Graben lockt Joseph Trafton alle Herrlichkeiten von Haydns Erfindungskunst hervor und bestätigt ein weiteres Mal, dass man den Esterházy’schen Kapellmeister nicht unterschätzen sollte.

Bisher geplante weitere Aufführungen am 13. und 14. November 2020. Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/die-einsame-insel-lisola-disabitata-marilyn-forever-1339/0/show/Play/




Es war ein Sommer ohne Festivals – aber Innsbruck trotzt dem Virus mit einer römischen Prachtoper

Die Menschen baumeln an den Schicksalsfäden. Szene aus „L’Empio punito“ bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik. Foto: Birgit Gufler

Ein öder Sommer verblasst über der Landschaft der Festivals. Von Schleswig-Holstein bis Macerata, vom Rheingau bis nach Griechenland – alles abgesagt. Leer lag das Nest in Bayreuths prangendem Saal, allzu früh schwand die Triennale an der Ruhr und still lag das Wildbader Tal im Schwarzwald, wo sonst Rossinis liebliche Melodiegirlanden in den Himmel der Musik flattern.

Seit den hungerschlotternden Nachkriegsjahren nach 1945 hat es keinen solchen tonlosen Sommer mehr gegeben. Die Folgen für die Künstler und die Veranstaltungsbranche sind fatal, von den Millionenverlusten für Reise- und Gastro-Gewerbe ganz zu schweigen.

Wie hoch der künstlerische Verlust ausfällt, lässt sich wohl nur schwer einschätzen. Sicher fehlt kaum etwas, wenn das „Traumpaar“ Netrebko – Eyvazov nicht ein weiteres Mal vor beseligten 400-Euro-Karten-Besitzenden altbekannte Opernschlager schmettert. Doch dass Salzburg sein 100jähriges Bestehen geschrumpft und glamourarm begehen musste, war ein herber Schlag, den das Festival mit Mut und Zähigkeit – und einem künstlerisch beachtlichen Ergebnis – abzufedern wusste.

Zu bewundern ist, wie sich im gebeutelten Italien Festivals dagegen gewehrt haben, einfach von der Landkarte zu verschwinden: Pesaro mit einem ehrgeizigen Rossini-Rumpfprogramm. Torre del Lago, wo der Dirigent Enrico Calesso eine hochgelobte „Madama Butterfly“ musikalisch erblühen ließ. Oder Verona, wo sich Intendantin Cecilia Gasdia und ihr Team nicht kleinkriegen lassen wollten und das steinerne Riesenrund wenigstens mit Puccinis hintersinniger Komödie „Gianni Schicchi“ mit Leben füllten. Doch was schmerzlich fehlt, sind die vielen sommerlichen Aktivitäten, die Kultur in die Fläche bringen, die sich originellen Programmen und Entdeckungen widmen wie das Festival „Raritäten der Klaviermusik“ in Husum, die jungen Künstlern die Chance eines Auftritts oder die Gunst gemeinsamen Arbeitens und Lernens gewähren.

Neustart an Ruhr und Inn

Der Mut eines verzweifelten „Dennoch“ nützt leider nichts gegen ein Virus, das unbeeindruckt an Körperzellen andockt, sein Erbgut einschleust und sein Zerstörungswerk weiterträgt. Aber dieses „Dennoch“ gibt es, abgesichert durch peinlich genau erarbeitete Hygienekonzepte, viel logistischen Aufwand und strikte Disziplin im Publikum. Das Ruhrgebiet spielte dabei eine international beachtete Vorreiterrolle, als das Klavier-Festival Ruhr bereits im Juni wieder mit Konzerten begann.

Aber auch Musiktheater sollte möglich sein und die Menschen wieder erreichen: Davon waren die Festwochen Alter Musik in Innsbruck überzeugt. „Euphorisch“ kündigte Intendant und Dirigent Alessandro de Marchi die 44. Festwochen an: Beide geplanten Opern konnten – wenn auch in adaptierter Form – aufgeführt werden, darunter nach einer neuen kritischen Ausgabe Ferdinando Paërs „Leonora“ von 1804 mit dem Libretto von Jean Nicolas Bouilly, das Beethoven ein Jahr später für seinen „Fidelio“ heranzog. Das Werk sollte neben den Opern von Johann Simon Mayr und Pierre Gaveaux auf den gleichen Stoff beim Beethoven-Fest in Bonn gezeigt werden – im vorläufigen Programm 2021 sind sie leider nicht mehr enthalten.

Das neue Innsbrucker Haus der Musik. Foto: Werner Häußner

Der zweite Opernabend, aus dem Innenhof der Theologischen Fakultät verlegt ins neue „Haus der Musik“, kleidete Alessandro Melanis „L’Empio punito“ („Der bestrafte Frevler“) in eine vollgültige szenische Aufführung mit zehn Darstellern auf der Bühne und einem Elf-Musiker-Orchester vor dem Podium. Die Oper, auf der Basis eines Autographs aus der Vatikanischen Bibliothek von Musikwissenschaftler Luca della Libera kritisch ediert, gilt als früheste musikalische Adaption des 1630 im Druck erschienenen Don-Juan-Dramas von Tirso de Molina.

Von Spanien nach Makedonien

Melanis Werk ist ein Dokument für die kulturellen Verflechtungen im Europa der Mitte des 17. Jahrhunderts. Der Komponist stammt aus einer musikalischen Sippe in Pistoia, zu der sein komponierender Bruder Jacopo und der Kastratensänger (und Spion) Atto Melani gehörten. Aus Pistoia stammt auch Papst Clemens IX., der Melani kurz nach seiner Wahl 1667 zum Kapellmeister der römischen Basilika S. Maria Maggiore berief. Auch als Opernkomponist glänzte Melani; Aufführungen seiner Werke sind aus Bologna, Siena, Florenz und Reggio Emilia dokumentiert. Zwei Jahre später eröffnete eine der einflussreichen römischen Familien, die Colonna, ihr neues Theater mit Melanis „L’Empio punito“. Das aufwändige Werk, in Innsbruck von mehr als vier auf zweidreiviertel Stunden gekürzt, bot ein rauschendes Fest: 67 Statisten und 16 Bühnenbilder sorgten für Pracht und Prunk.

Auch wenn die Nähe zu Tirso de Molinas Don Juan in vielen Details deutlich wird: Melani und sein Librettist Filippo Accaiuoli passten den Stoff geschickt an die Bedürfnisse ihres Publikums an. Bei der Verlegung des Schauplatzes aus Sevilla in ein sagenhaftes Makedonien war wohl weniger die Zensur bestimmend. Eher die Erwartung der für griechische Mythologie aufgeschlossenen „Arkadier“, die zudem spanischer Literatur schlechten Geschmack attestierten. Accaiuoli war später einer der ersten Mitglieder der „Accademia dell’Arcadia“ die auf Literatur und Dichtung in Europa einen erheblichen Einfluss ausüben sollte – nicht zuletzt durch den Patriarchen aller Librettisten, Metastasio, auch auf die Oper.

Arkadische Gelehrsamkeit und derbes Volkstheater

Fingierte Vergiftung: Atamira (Theodora Rafti) mit ihrem untreuen Ehemann Acrimante (Anna Hybiner). Foto: Birgit Gufler)

So wird also aus Don Juan ein „Acrimante“ und aus dessen Diener Catalinon (bei Mozart: Leporello) ein „Bibi“, eine herrlich pralle Komödienfigur. Der „Wüstling“ bei Melani verführt keine Frauen am laufenden Band, sondern verguckt sich nach einem Schiffbruch sofort in Ipomene, die Schwester des Königs Atrace von Makedonien, die dummerweise aber bereits mit seinem besten Freund Cloridoro verbandelt ist. Seiner Ehegattin Atamira dagegen gibt Acrimante einen brutalen Korb nach dem andern, aber dieser Schatten der späteren Mozart’schen Donna Elvira bleibt ihm verbunden bis hin zu einem fingierten Giftmord. Sie wird so zum spannendsten Charakter der Stücks, das auf der anderen Seite mit Bibi und der Amme Delfa ins derbe Volkstheater greift, dem auch obszöne Anspielungen nicht fremd sind – von wegen Zensur also.

Das Ende kennt den steinernen Gast und den Höllensturz Acrimantes, nicht aber Tirso de Molinas moralische Schlussfolgerung: Der spanische Dramatiker aus dem Orden der Mercedarier macht seinen Zuschauern unmissverständlich klar, dass sie wie der Spötter Don Juan „des Staubes Kleid“ tragen, ihre Lebensfrist unkalkulierbar und das Gericht Gottes jederzeit zu erwarten ist. Dort bleibt dann „keine Schuld unbezahlt“. In Melanis Oper fährt Acrimante in die Unterwelt, weil er seine Seele dem Gott der Toten, Pluto, versprochen hat, der ihm vorher in einer Traumszene den Orkus als einen Ort neuer Liebesfreuden vorgegaukelt hat – wer denkt nicht an Wagners Venus, wenn er die Göttin Proserpina rufen hört: „Zum Vergnügen, zu den Freuden“? Unser Proto-Don-Giovanni darf dann noch mit Charons Nachen die Wellen des Styx zum Hafen des Acheron kreuzen, bis er endlich in den Tartarus gelangt. Ein Finale, in dem die dramaturgische Folgerichtigkeit immer brüchiger wird.

Heitere Oberfläche ohne Kratzer

Anna Hybiner singt die Rolle des bestraften Frevlers Acrimante. Foto: Franziska Schrödinger

Daher ist es auch schwierig, aus Melanis „Empio punito“ einen roten Faden herauszulösen. Eher drängt sich der Eindruck auf, es gehe um eine geistvolle, gelehrte Unterhaltung, die gleichermaßen die Lust am schlüpfrigen Witz, das Interesse an antiker Mythologie und einen Hauch katholischer Bestrafungstheologie miteinander verbindet. Die Innsbrucker Inszenierung von Silvia Paoli hält diese inhaltlichen Elemente leichtfüßig in der Schwebe: Drei graue Wände genügen in Andrea Bellis Bühne, um die verspielten Kostüme von Valeria Donata Bettella wirken zu lassen: eine fröhliche Mixtur aus spanischen und barocken Schnitten, Trachten à la tyrolienne und Commedia dell’arte-Anklängen; Acrimante und Atamira in noblem Schwarz, das Personal schon mal in Lederhose.

Die vier Stallknechte, die frappierend ähnlich zu Lorenzo da Pontes Eröffnungsszene für Mozarts „Don Giovanni“ über die Plage des Arbeitens murren, sind beflügelte Amoretten in kurzen Höschen. Sie ziehen die Fäden des Geschicks, lassen die Figuren an roten Schnüren baumeln, werfen sich manchmal von den handelnden Personen unbemerkt ins Geschehen, steuern sie als Puppenspieler von oben. Was ist Schicksal, was Verhängnis, was eigene Entscheidung? Die Frage bleibt offen, wird im lebendigen Spiel auch nicht weiter thematisiert. Die heitere Oberfläche bekommt keine Kratzer. Nur die bezaubernden Lamenti, die Melani seinen Sängern schrieb, bringen den Hauch von Wehmut mit, der die Marionetten zu Menschen wandelt.

In solchen Momenten, etwa der bewegenden Arie der Atamira „Piangete occhi“, zeigt Melani, dass er den Kontakt zur „alten“ Musik eines Claudio Monteverdi nicht verloren hat und sich mit seinen berühmten Zeitgenossen wie dem Innsbrucker Hofkapellmeister Antonio Cesti oder dem jüngeren Alessandro Scarlatti messen kann. Im turbulenten Spiel korrespondiert seine Musik mit der raschen Folge der Szenen, passt sich in Kurzarien, freien Ariosi und treffsicheren Rezitativen dem dramatischen Fluss an. Sein vielgestaltiger, pointierter Umgang mit dem Rhythmus hebt ihn aus seinen Zeitgenossen heraus.

Spielfreude bei den jungen Sängern

Die jungen Sänger, allesamt Teilnehmer des Innsbrucker Cesti-Gesangswettbewerbs, erfüllen mit ihrer modisch harten, gelegentlich zu flachem Ansatz neigenden Tonbildung Melanis vokale Anforderungen in Rhythmus und Phrasierung recht geschickt. In der flexiblen Färbung des Klangs kommen sie an Grenzen – so etwa Theodora Raftis in den Arien der Atamira, aber auch Dioklea Hoxha als Ipomene. Die Titelfigur Acrimante wirkt weder gierig noch zynisch (wie später Molières Don Juan), sondern bleibt ein lüsterner Galan, wie ihn manch andere Opern dieser Zeit kennt. In der Uraufführung von einem Kastraten gesungen, wird er in Innsbruck dem Mezzo Anna Hybiner anvertraut. Die Sängerin, derzeit am Nationaltheater Mannheim in der Uraufführung von Hans Thomallas „Dark Spring“ zu erleben, setzt das Unbekümmerte ins stimmliche Licht, aber auch die bittere Erkenntnis, im Vergnügen wie im Leiden stets allein gewesen zu sein.

Der Berater des Königs, Tidemo (Juho Punkeri, links) wird ermordet und kommt als steinerne Statue wieder. Andrew Munn ist der König Atrace, der am Ende die von ihrem untreuen Gatten befreite Atamira heiratet. Foto; Birgit Gufler

Allein schon wegen ihrer unbändig spielfreudigen Partien werden Lorenzo Barbieri als Bibi mit allzu losem Mundwerk und der Tenor Joel Williams als mit allen Wassern gewaschene Amme Delfa in Erinnerung bleiben. Nataliia Kukhar zeigt mit ihrem in der Emission nicht ganz kontrolliertem Mezzo bewegende Gestaltungskunst in der Klage des Cloridoro „Uccidetemi, sospiri“. Der Bass Andrew Munn verfügt nicht über den Kern in der Stimme, um die königliche Autorität seiner Partie des Atrace zu vermitteln.

Als Dirigentin des Barockorchester:Jung fördert Mariangiola Martello einen geschmeidig weichen, manchmal allzu kantenlosen Klang, hebt aber den variationsreichen Rhythmus Melanis hervor und verzahnt vor allem die breiten melodischen Arienteile sensibel mit den Sängern. Dass die Wut der Sturmmusik ebenso wie die komisch überzogenen Tremoli zu Bibis Höllenangst wirkungsvoll platziert sind, dafür sorgen Florian Brandstetter und Tabea Seibert mit den Blockflöten sowie Bálint Kovács mit dem Fagott. Melani hat über dem Basso continuo zwei Melodiestimmen ausgeschrieben, die gewagt gesetzte Harmonien zulassen, und notiert Hinweise auf eine Instrumentierung. Die Harfen im Continuo hatte man sich in Innsbruck gespart; alles andere aber klang sehr stilsicher und ausgefeilt – auch wenn sich Melanis Musik dramatischer, flammender denken lässt. Eine Bühnenproduktion in Deutschland wäre nach der Erstaufführung 2003 beim Bachfest Leipzig mal wieder fällig; vielleicht gibt Innsbruck einen Anstoß dazu.




In diesen Zeiten muss man sich Gehör verschaffen: Gesammelte Aussagen zu „Corona und Kultur in Dortmund“

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann bei der heutigen Pressekonferenz. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Auch wenn die Aussagen noch nicht allzu konkret sein konnten: Es war schon einmal gut, dass diese Pressekonferenz überhaupt stattgefunden hat. Denn „die Kultur“ muss sich gerade in diesen Zeiten Gehör verschaffen. Unter dem Titel „Corona und die Kultur in Dortmund“ gab es heute im Rathaus der Stadt vor allem Statements auf der Chefebene der großen Kultureinrichtungen, aber auch aus der freien Szene. Ich habe den Termin via Live-Stream verfolgt.

Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann skizzierte eingangs die Lage und erkannte – bei allen Problemen – auch eine „positive Novität“: Im Gegensatz zu mancher früheren Debatte, in der Kultur als „erste Spardose“ gegolten habe, seien die kulturellen Einrichtungen diesmal von Anfang an in Überlegungen und Beratungen mit einbezogen worden.

Insgesamt aber müsse man von „gravierenden Erschütterungen“ sprechen, „wie wir sie bisher nicht kannten“. Das Thema habe etliche Perspektiven und Aspekte. Es gehe um die Situation der Institute, um die der ausübenden Künstlerinnen und Künstler und nicht zuletzt um das Publikum. Bleibe es durch die Krise hindurch loyal und stehe es treu zum Theater, zum Konzerthaus, zu den Museen und anderen Kulturstätten? Bislang, so Stüdemann, habe das Publikum eine erstaunliche Solidarität bewiesen, für die er herzlich danken wolle. Beispiel: Viele vorab bezahlte Tickets für abgesagte Vorstellungen würden nicht zurückgegeben.

Stüdemann mahnte dreierlei dringenden Bedarf an:

1.) Die inzwischen ausgelaufenen, weil hoch „überzeichneten“ Soforthilfe-Programme für Kulturschaffende müssten sehr bald verlängert werden. Als Beispiel nannte er Baden-Württemberg, wo es neuerdings eine Grundsicherung für Künstler(innen) von rund 1100 Euro im Monat gebe, die von anderen Bundesländern gut kopiert werden könne. Ein Appell ans Land NRW also.

2.) Die Einrichtungen der freien Szene bräuchten Infrastruktur-Programme, damit sie auch nach der Krise noch existieren könnten.

3.) Man müsse sehr zeitig „Exit-Strategien“ vorbereiten und einleiten, denn Betriebe wie Theater oder Konzerthaus könnten nicht einfach von heute auf morgen wieder die Bühnen bespielen, sondern bestenfalls nach einem Vorlauf von 6 bis 10 Wochen. In die entsprechenden Planungen sollten unbedingt die Fachleute aus den Kulturhäusern eingebunden werden.

Stefan Mühlhofer, Leiter der Kulturbetriebe Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Stefan Mühlhofer, Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe, sieht es als sicher an, dass man bei Wiederaufnahme des Spielbetriebs und anderer kultureller Angebote nicht einfach „den Schalter umlegen kann“. Es werde zunächst vieles anders sein als vor Corona. Man habe inzwischen einige Aktivitäten (Volkshochschule, Musikschule) auf digitale Verbreitung umgestellt, was auch recht gut funktioniere. Dennoch könne dies auf Dauer kein Ersatz für Präsenz-Veranstaltungen sein. Ein Originalbild im Museum sei eben etwas ganz anderes als eine Abbildung im Buch oder ein Video. Apropos: Wahrscheinlich bis Mitte dieser Woche solle ein Papier zur möglichen Öffnung der städtischen Museen vorliegen – mit einer Perspektive für Anfang oder Mitte Mai. Auch hier gilt freilich: Die Stadt allein kann nichts bewirken. Das Land NRW muss es zulassen. Übrigens: In Berlin dürfen die Museen schon wieder öffnen.

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund, berichtete, man habe sich in den letzten Wochen durch einen wahren Wust an Informationen, Erlässen und Verordnungen kämpfen müssen. Es sei aber gelungen, das alles zu strukturieren – vor allem im Sinne der Kulturschaffenden, denen häufig alle Verdienstmöglichkeiten weggebrochen seien. In der Kulturszene herrsche derweil keine Larmoyanz, im Gegenteil: Geradezu kraftvoll seien ständig neue Ideen entwickelt worden, um trotz Corona (digital) wahrgenommen zu werden.

Claudia Schenk, Sprecherin der freien Szene. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Claudia Schenk aus dem Leitungsgremium des „Depots“ trat als Sprecherin der freien Kulturszene an. Diverse Zentren der freien Szene wären ohne die bislang geleistete Landeshilfe vielleicht schon für immer geschlossen worden, befand sie. Streaming sei zwar gut, um im Gespräch zu bleiben, es generiere aber keine Einnahmen. Sie verwies auch auf Fälle wie etwa jene freiberuflichen Bühnentechniker, die auf einmal vor dem Nichts stünden. Man warte auf konkrete Handlungsanweisungen für einen Exit, also für die Wiederaufnahme des Betriebs unter veränderten Bedingungen. Frau Schenk stellte zudem mit Blick auf die nächsten Jahre die bange Frage, ob es im Kulturbereich wohl Streichungen und Kürzungen geben werde. Schließlich zähle Kultur leider immer noch zu den freiwilligen Leistungen der Kommunen und nicht zu den Pflichtaufgaben.

Sprach fürs Theater: Tobias Ehinger. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Tobias Ehinger, geschäftsführender Direktor des Theaters, erinnerte sich an die letzten Monate vor der Krise, als das Dortmunder Theater ein Hoch erlebt und neue Besucherrekorde angepeilt habe. Dann wurde man jäh ausgebremst. Sehr schnell habe man dann umgedacht, beispielweise habe die Theaterwerkstatt Mundschutzmasken hergestellt. In der Krise habe sich überhaupt gezeigt, wie wichtig der soziale Aspekt und die Verankerung in der Gesellschaft fürs Theater seien. Streaming könne kein wirkliches Bühnenerlebnis ersetzen, auch seien die digitalen Möglichkeiten schnell ausgereizt. Als eine beispielhafte Aktion nannte Ehinger den Musik-Truck, der vor Altenheimen vorfahre und – draußen vor den Türen – z. B. mit Gesangs-Darbietungen den Senioren ein wenig zwischenmenschliche Wärme vermittle. Ehinger ist überzeugt, dass man ab Anfang September wieder spielen werde – allerdings völlig anders, mit eigens zugeschnittenen Inszenierungen und vor deutlich weniger Zuschauern. Im Hinblick auf den 1. September sei ein Planungsvorlauf von etwa 10 Wochen nötig. Das würde bedeuten: Bereits Mitte Juni müsste man in die Vorbereitungen einsteigen. Insgesamt gelte es, die gesellschaftlichen Errungenschaften durch die Krise zu erhalten. Dabei sei Kultur unbedingt „systemrelevant“.

Konzerthaus-Chef Raphael von Hoensbroech. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses Dortmund, betonte den Gedanken der Systemrelevanz noch stärker. Kultur solle nicht nur am Tisch Platz nehmen, an dem die Relevanz verhandelt werde. Vielmehr sei sie – einem Ausspruch des Cellisten Yo-Yo Ma zufolge – sozusagen selbst dieser Tisch, also die Grundlage der Gesellschaft. Das Konzerthaus mit seinem sehr großen Saal sowie ausgeklügelter Be- und Entlüftung sei bei reduziertem Publikum kein riskanter Ort. Er halte ansonsten nicht viel von pauschalen Obergrenzen, es komme stets aufs Einzelereignis an. Voluminöse Auftritte mit großen Chören und Orchestern seien jedoch vorerst auszuschließen. Die Stadt Dortmund habe sich zu den Perspektiven des Konzerthauses beherzt und klar positioniert. Was jedoch aus Regierungskreisen in Berlin und vom Städtetag komme, sei wenig hilfreich.

Jörg Stüdemann blieb das vorläufige Fazit vorbehalten. Als studierter Germanist quasi von Haus aus kulturaffin und biographisch auch als Mitarbeiter eines Kulturzentrums (schon länger ist’s her: Zeche Carl in Essen) mit der Szene vertraut, kann die Interessenlage von Kulturschaffenden wohl recht gut nachempfinden und in vernünftige politische Bahnen lenken. Allerdings vermag er – obwohl zugleich Stadtkämmerer – natürlich nicht beliebig viele Kulturmittel aus dem städtischen Etat zur Verfügung zu stellen. Für die nächste Zeit mahnte Stüdemann ethische und „wertsetzende Handlungsweisen“ in der Kulturpolitik an, die sich einer bloßen Einspar-Mentalität widersetzen und keinesfalls „autoritativ oder autoritär“ vorgehen solle. Wie sich gezeigt habe, müssten nun vor allem zwei Anforderungen vorrangig erfüllt werden: „Wir müssen mehr in die Digitalisierung investieren, auch in Qualifizierung und technische Ausrüstung.“ Und: In jeder Hinsicht müsse jetzt über „Gestaltungs-Alternativen“ nachgedacht werden. Wohlan denn!

Viel guter Wille also, aber noch unklare Perspektiven. Die Kultur, so ahnt man, wird (ebenso wie andere Bereiche) „nach Corona“ nicht mehr dieselbe sein können wie zuvor.




Kultur geht notgedrungen weiter ins Netz: Viele Programme online / Ständige Updates: Weitere Projekte (und Absagen)

Das waren noch andere Zeiten: Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Opernhauses – vor Beginn einer Vorstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal wieder ein paar Nachrichten aus dem derzeit stark eingeschränkten (Dortmunder) Kulturleben, kompakt zusammengestellt auf Basis von Pressemitteilungen der jeweiligen Einrichtungen.

Die Mitteilungen werden – im unteren Teil dieses Beitrags – von Tag zu Tag gelegentlich ergänzt und/oder aktualisiert, auch gibt es dort Neuigkeiten aus anderen Revierstädten, vor allem über weitere Absagen, aber auch zu Online-Aktivitäten.

Theater Dortmund: Keine Vorstellungen bis 28. Juni

Das Theater Dortmund bietet auf seinen sämtliche Bühnen (Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater) bis einschließlich 28. Juni 2020 keine Vorstellungen an. Wie es danach weitergehen wird, weiß noch niemand.

Die Regelung schließt die Konzerte der Dortmunder Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund ein. Der Betrieb im Theater läuft jedoch bis zur Sommerpause weiter. Neue mobile Vorstellungsformate sollen ab Mai 2020 bis zum Ende der Spielzeit 2019/20 aufgenommen werden.

Dazu Tobias Ehinger, der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund: „So sehr wir diesen Schritt bedauern, steht die Gesundheit unseres Publikums sowie unserer Kolleginnen und Kollegen im Mittelpunkt. Jedoch dürfen wir auch in der jetzigen Zeit, unser Leben nicht nur auf Funktionalität begrenzen. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die hohe Bedeutung von Kultur. Kultur ist nicht hübsches Beiwerk oder Luxus, sondern elementar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir fordern die Entscheidungsträger in Bund und Land auf, Maßnahmen und Konzepte zur schrittweisen Öffnung unserer Theater und Konzertsäle zu beschließen und die Gesellschaft nicht durch ein zu kurz gegriffenes Verständnis der Systemrelevanz zu trennen.“

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Unterdessen werden Spielpläne für die nächste Saison online per Video-Präsentation angekündigt:

Philharmoniker, Oper und Ballet

So wird sich – wie die Theater-Pressestelle mitteilt – in der Spielzeit 2020/21 bei den Konzerten der Dortmunder Philharmoniker alles um das Verhältnis zwischen Mann und Frau drehen.

Das Motto der Spielzeit lautet „Im Rausch der Gefühle“. Ergänzend heißt es, die berühmtesten Paare der Weltliteratur, wie Romeo und Julia, Othello und Desdemona, Orpheus und Eurydike sowie Tristan und Isolde, hätten die Komponisten zu großartigen Orchesterwerken inspiriert.

Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar sei, könne es ggf. noch zu „Anpassungen“ kommen.

Textversion des Spielplans unter: www.tdo.li/tdo2021

Generalmusikdirektor Gabriel Feltz erläutert den Spielplan 2020/21, hier ist der Link, der auch zur Präsentation des Opern-Spielplans (durch Opernchef Heribert Germeshausen) und des Balletts (durch Ballettchef Xin Peng Wang) führt: https://www.theaterdo.de/medien/videos/spielzeit-2021/

Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) Dortmund startet mit neun Neuproduktionen und neun Wiederaufnahmen in die neue Spielzeit 2020/21. Als Motto hat sich KJT-Direktor Andreas Gruhn mit seinem Team den „Freien Fall“ gesetzt. In einer Welt, in der politische Systeme ins Wanken geraten und die Natur zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät, scheint sich die Abwärtsspirale immer schneller zu drehen. Aus dem Unglück des Fallens können aber auch ungeahnte Möglichkeiten wachsen.

Auch beim KJT heißt es: „Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar ist, kann es ggf. zu Anpassungen kommen.“

Printversion des Spielplans unter www.tdo.li/tdo2021
Video mit Andreas Gruhn unter www.theaterdo.de/publikationen/videos

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Auch das Konzerthaus Dortmund präsentiert das Programm der nächsten Saison auf digitalem Weg:

In einem Video erläutert Intendant Raphael von Hoensbroech, welche hörenswerten Künstler und Konzerte ab September in der Spielzeit 2020/21 zu erwarten sind. Hoensbroech lädt daher zu einem virtuellen kleinen Ausflug ins Konzerthaus.

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Dortmunds neues Literaturstipendium um drei Monate verschoben:

Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“, Judith Kuckart, wird aufgrund der Corona-Krise erst ab August 2020 für sechs Monate nach Dortmund kommen. Ursprünglich hatte sie ihr Stipendium im Mai antreten wollen. Ihre für den 15. Mai geplante Auftaktlesung im Literaturhaus soll trotzdem stattfinden – allerdings ohne Live-Publikum: Das Literaturhaus am Neuen Graben zeigt die Lesung aus dem aktuellen Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ online am 15. Mai 2020 ab 19.30 Uhr (weitere Infos unter www.literaturhaus-dortmund.de).

Neues Konzertformat „Musik auf Rädern“

Am Dienstag, 5. Mai 2020, startet das Theater Dortmund das der Corona-Pandemie angepasste Konzertformat „Musik auf Rädern“. An verschiedenen Standorten in Dortmund werden die Oper Dortmund und die Dortmunder Philharmoniker jeweils um 16 Uhr kleine Live-Konzerte von ca. 20 Minuten Dauer geben. Die Abstandsregelungen werden dabei eingehalten. Mit dem Programm kommt das Theater Dortmund vor allem zu den Menschen, die aufgrund ihrer Identifizierung als „Risikogruppe“ besonders in ihrem Bewegungsfreiraum eingeschränkt sind. Der erste Auftritt findet mit der Sopranistin Irina Simmes vor dem Seniorenwohnsitz „Kreuzviertel“ 44139 Dortmund-Kreuzviertel, Kreuzstraße 68 / Ecke Lindemannstraße statt.

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Eröffnungsfest im Naturmuseum fällt aus

Die für den 7. Juni geplante große Wiedereröffnung des Naturmuseums nach Jahren des Umbaus fällt aus. Die neue Dauerausstellung soll voraussichtlich im September eröffnen.

„Robin Hood“-Schau bis 20. September

Das derzeit noch geschlossene Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße verlängert seine ursprünglich bis Mitte April geplante Familienausstellung „Robin Hood“ bis zum 20. September.

„Studio 54″ vorerst nicht in Dortmund

Das „Dortmunder U“ kann die ab 14. August geplante Ausstellung „Studio 54″ (Übernahme aus dem Brooklyn Museum) über den legendären New Yorker Nachtclub in diesem Jahr nicht mehr zeigen.

Diesmal kein Micro!Festival

Das Micro!Festival, das sonst immer am letzten Wochenende der Sommerferien stattfand, fällt in diesem Jahr komplett aus.

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Blicke in die anderen Städte des Ruhrgebiets:

2020 keine Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale wird 2020 nicht stattfinden. Der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH hat diesen Beschluss einstimmig gefasst. Das Festival hätte vom 14. August bis zum 20. September stattfinden sollen. Rund 700 Künstlerinnen und Künstler aus 40 Ländern wären an den 33 Produktionen und Projekten beteiligt gewesen. Sowohl die Intendantin Stefanie Carp als auch Ko-Intendant Christoph Marthaler haben Unverständnis über diese Entscheidung geäußert.

ExtraSchicht fällt ebenfalls aus

Auch die ExtraSchicht muss wegen Corona ausfallen. Die Nacht der Industriekultur hätte am 27. Juni zum 20. Mal die Metropole Ruhr bespielen sollen.
Die Ruhr Tourismus GmbH (RTG) hatte bis zum letzten Moment an Alternativkonzepten gearbeitet. Die Durchführung einer Veranstaltung Ende Juni mit über 250.000 Besuchern sei aber derzeit nicht verantwortbar, so die RTG. Eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt in diesem Jahr sei wegen des großen organisatorischen Aufwandes nicht möglich. Das Geld für bereits erworbene Tickets wird zurückerstattet. Mehr Infos unter www.extraschicht.de.

„Mord am Hellweg“ auf Herbst 2021 verschoben

Die zehnte Ausgabe des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ (Zentrale in Unna) wird um ein Jahr verschoben. Die für diesen Herbst geplante Jubiläumsausgabe wird auf die Zeit vom 18. September bis 13. November 2021 verlegt. Weitere Infos unter www.mordamhellweg.de

Moers Festival diesmal rein digital

Auch das renommierte Moers Festival (29. Mai bis 1. Juni) geht diesmal als digitales Festival über die Bühne. Die Konzerte werden als Livestream auf der Website, bei Facebook und bei Arte concert gezeigt. WDR 3 wird wie gewohnt übertragen.
Infos: www.moers-festival.de

Wittener Tage für Neue Kammermusik nur im Radio

Die Wittener Tage für Neue Kammermusik (24. bis 26. April 2020) haben sich ebenfalls umgestellt: In diesem Jahr kamen die Konzerte ausschließlich übers Radio. WDR 3 richtete das Festival als exklusives Hörfunk-Ereignis aus.
Infos unter www.wdr3.de und www.kulturforum-witten.de

Klangkunst in Marl als virtuelle Führung

Das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl zeigt seine Klangkunst-Ausstellung diesmal per Video: „sound + space“ von Johannes S. Sistermanns und Pierre-Laurent Cassère ist online zu sehen. Im Mittelpunkt der virtuellen Führung steht ein Gespräch des Museumsdirektors Georg Elben mit dem Klangkünstler Sistermanns. Das Video ist auf der städtischen Internetseite unter www.marl.de und demnächst mit weiteren Informationen auch unter www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de zu sehen.

Impulse Theater-Festival fällt aus

Das Theater-Festival „Impulse“, das vom 4. bis 14. Juni hätte stattfinden sollen, ist abgesagt worden – besonders schmerzlich, weil zum 30-jährigen Bestehen des Festivals einige besondere Programme geplant waren. Bestimmte Teile sollen als digitale Formate im ursprünglich geplanten Festival-Zeitraum online gezeigt werden. Details dazu demnächst unter: www.impulsefestival.de

Theater Oberhausen: „Die Pest“ als Miniserie im Netz

Das Oberhausener Theater zeigt eine Bühnenbearbeitung nach Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ als Miniserie in fünf Episoden. Gezeigt wird die Serie im Internet ab Samstag, 2. Mai, dann weiter wöchentlich, jeweils ab 19.30 Uhr. Weitere Infos: www.die-pest.de

3Sat zeigt Bochumer „Hamlet“ – jetzt via Mediathek

Im Rahmen seiner Reihe „Starke Stücke“ zeigt der TV-Sender 3Sat am Samstag, 2. Mai., um 20.15 Uhr eine Aufzeichnung von Johan Simons‘ Bochumer „Hamlet“-Inszenierung. Bis zum 30. Juli 2020 bleibt die Inszenierung in der Mediathek von 3Sat greifbar.

Auch hierhin würden Theaterfans im Revier gern wieder pilgern: Schauspielhaus Bochum. (Foto: Bernd Berke)




Pressekonferenz per Video: Programm der Neuen Philharmonie Westfalen rankt sich um Beethoven

NPW-Orchesterchef Rasmus Baumann, aus seinem Home-Office der Pressekonferenz zugeschaltet. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Heute habe ich die erste Video-Pressekonferenz meines doch schon recht langen Berufslebens absolviert. „In den Zeiten von Corona“ (eine bereits völlig ausgelutschte Wendung, ich weiß) ist ein solches Verfahren wohl ratsam. Der Blick in eine mögliche Zukunft des journalistischen Gewerbes ging von Unna aus. Dort wurde heute das Programm 2020/21 der Neuen Philharmonie Westfalen (NPW) vorgestellt, das im Kern aus neun Sinfoniekonzerten besteht. Hier ist der Link, der Einzelheiten erschließt, die wir an dieser Stelle nicht ausbreiten können.

Wie wir alle seit gestern wissen, sind Großveranstaltungen (also auch Konzerte der E-Musik) mindestens bis zum 31. August 2020 generell untersagt. Michael Makiolla, Landrat des Kreises Unna, gab sich heute dennoch zuversichtlich, dass das NPW-Programm im September 2020 beginnen kann. Makiolla betonte, Kultur sei gerade in diesen Zeiten weiterhin wichtig. Man werde alles tun, um das Orchester auch künftig zu erhalten.

Auch Chefdirigent Rasmus Baumann möchte optimistisch nach vorn blicken. Er erläuterte das Programm, das sich um Ludwig van Beethoven (1770-1827) rankt. Der weltberühmte Komponist wurde bekanntlich vor 250 Jahren geboren. Freilich will Baumann kein reines Beethoven-Programm gestalten, sondern einige seiner Schöpfungen mit jenen anderer Komponisten verknüpfen oder auch kontrastieren. Mehrere Abende werden auch gänzlich ohne Beethoven-Musik bestritten.

Keine Beethoven-Inflation also, damit auch etwas für kommenden Spielzeiten übrig bleibt; denn, so Baumann: „Beethoven spielen wir ja eigentlich immer. Seine Werke sind sozusagen eine Bibel.“

Und so kommt es, dass gleich beim 1. Sinfoniekonzert (geplant für den 9. September in der Kamener Konzertaula) beispielsweise auch die Zweite Sinfonie von Robert Schumann erklingt – unter dem sprichwörtlichen Motto des Abends, das aus Goethes Drama „Egmont“ stammt und welches da lautet: „Himmelhoch jauchzend, / Zu Tode betrübt…“ Letztere Stimmungslage fügt sich auf tieftraurige Weise zu Schumanns schizophrenem Seelenzustand jener Zeit. Das andere Hauptwerk des Abends ist just Beethovens Schauspielmusik zum „Egmont“.

Das 2. Sinfoniekonzert umfasst u. a. Beethovens Sechste („Pastorale“), die Überschrift des Abends lautet „Landpartie“. Mit ähnlich lockenden Titeln geht es weiter. So wird man etwa beim 7. Sinfoniekonzert (Losung: „Very British“) die Ouverture zu „Roberto Devereux“ von Gaetano Donizetti hören, die mit der Tonfolge von „God save the Queen“ (britische Nationalhymne) beginnt und sinnigerweise mit einem Werk des Briten Edward Elgar kombiniert wird. Der achte Abend ist ausschließlich Komponistinnen gewidmet, u. a. Sofia Gubaidulina und Clara Schumann. „Hörnerschall“ heißt die Devise zum Abschluss beim 9. Konzert.

Man merkt Rasmus Baumann schon die Vorfreude auf eine hoffentlich ungetrübte neue Saison an, er ist voll des Lobes fürs regionale Publikum – und für die Mitwirkenden der Konzerte, von denen einige zumindest auf dem Sprung zur Weltkarriere stünden. Wenn Baumann nicht die eine oder den anderen schon länger kennen würde, kämen sie wohl schwerlich in die westfälische Provinz, wo man programmlich meist etwas konventioneller ansetzen muss. Raritäten und gewagte Experimente stehen hier nicht im Vordergrund.

Zum Reigen der neun Sinfoniekonzerte kommen beispielsweise noch Crossover-Veranstaltungen wie „Abba Forever“ sowie Kinderkonzerte („Beethoven auf der Spur“) und Familienkonzerte („Dschungelbuch“, „Peter und der Wolf“).

Die 1996 gegründete Neue Philharmonie Westfalen spielt ihre Sinfoniekonzerte traditionell in der Kamener Konzertaula. Diesmal wird man auch einmal im Süden des Kreises Unna gastieren, in der Rohrmeisterei Schwerte. Außerdem ist ein Freiluftkonzert auf dem Marktplatz von Unna vorgesehen. Weitaus mehr noch: Der als NRW-Landesorchester fungierende Klangkörper bespielt außerdem seit vielen Jahren das Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen und vor allem das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR), das zwar ein Ensemble, aber kein eigenes Opernorchester hat.

Landrat Michael Makiolla bei seinem Statement. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Der Subventions-Struktur sei Dank: Durch die Corona-Krise hat das Orchester bislang nur sehr überschaubare finanzielle Einbußen erlitten. Landrat Michael Makiolla verweist allerdings darauf, dass man am Ende des Jahres noch einmal genauer Bilanz ziehen müsse.

Apropos Einnahmen: Wie Mike-Sebastian Janke, Kreisdirektor und Kulturdezernent des Kreises Unna, sagte, nimmt die Zahl der Konzertabonnenten – vornehmlich aus „demographischen Gründen“ – seit Jahren geringfügig ab, je Saison um etwa 20 Abos. Teilweise wettgemacht wird dieser Verlust durch gesteigerte Einzelverkäufe. Dem will man nun durch den erstmals möglichen Verkauf von Einzeltickets übers Internet Rechnung tragen. Auch die Abos werden flexibel gehandhabt. Neben dem Neuner-Paket kann man auch 6 oder 3 Konzerte nach Wahl buchen.

Um auf die Video-Pressekonferenz zurückzukommen: Nach kleinen technischen Hakeleien hat die Sache recht gut funktioniert, passgenaues Umschalten der Kameraperspektiven und verständliche Dialoge inbegriffen. Wenn man in den letzten Jahrzehnten viele Hundert Pressetermine auf herkömmliche Art erlebt hat, mag man bedauern, dass so etwas früher nicht möglich war. Da hat man so manchen Kilometer abgespult, den man sich (und der Umwelt) hätte ersparen können – mit Zeitdruck, Staus und allem anderen „Komfort“. Tempi passati.

Dennoch: Schön wär’s, Pressekonferenzen und Vorbesichtigungen gelegentlich auch mal wieder als physische Präsenzveranstaltungen erleben zu dürfen. Aber wem sage ich das?

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Hier nochmals der Link zum gesamten Programm mit Download des Programmheftes.




Corona-Update: Alles dicht! – Dortmunder Kultur-Absagen und tägliche Ergänzungen aus dem Revier

Ein Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Konzerthauses, das 1500 Plätze hat und  selbstverständlich auch von Absagen betroffen ist. (Foto: Bernd Berke)

Hier am Anfang zunächst der Stand vom 11. März, ständige Aktualisierungen weiter hinten:

Ausnahmsweise werden hier zwei ausführliche Pressemitteilungen aus den Dortmunder Kulturbetrieben wörtlich und unkommentiert wiedergegeben – weil es hier vor allem auf die sachlichen Details ankommt und nicht auf diese oder jene Meinungen.

Im Anhang folgen weitere Informationen, auch aus anderen Revier-Städten. 

Zuerst eine ausführliche Übersicht zu städtischen Kulturveranstaltungen, die in den nächsten Wochen ausfallen werden, übermittelt von Stadt-Pressesprecherin Katrin Pinetzki.

Danach eine gleichfalls längere Aufstellung aus dem Dortmunder Mehrsparten-Theater, auch das Konzerthaus betreffend, übermittelt von Theater-Pressesprecher Alexander Kalouti.

Wir zitieren:

„Öffentliche Kulturveranstaltungen fallen bis Mitte April aus – Museen, Bibliotheken und U bleiben geöffnet – Unterrichtsbetrieb in VHS- und Musikschule läuft weiter

Die Kulturbetriebe der Stadt Dortmund, das Theater Dortmund und das Konzerthaus Dortmund sagen alle ihre öffentlichen Veranstaltungen bis Mitte April ab. Die Regelung gilt ab morgen (12. März) und ist unabhängig von der Zahl der erwarteten Besucherinnen und Besucher. Damit hofft die Stadt, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Es fallen aus:

  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund,
  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Theater Dortmund: Oper, Ballett, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Konzerte, Akademie für Theater und Digitalität,
  • Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen und Führungen in den Städtischen Museen: Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Westfälisches Schulmuseum, Kindermuseum Adlerturm, Hoesch-Museum, Brauerei-Museum, schauraum: comic + cartoon,
  • städtische Veranstaltungen im Dortmunder U (z.B. auf der UZWEI, in der Bibliothek „Weitwinkel“, Veranstaltungen in der Reihe „Kleiner Freitag“),
  • Veranstaltungen und Festivals im Dietrich-Keuning-Haus (der Kinder- und Jugendbereich hat geöffnet!),
  • Lesungen und andere Veranstaltungen in den Bibliotheken und im Studio B,
  • Konzerte und Veranstaltungen der Musikschule (der Unterricht findet statt!),
  • Vorträge und andere Veranstaltungen der VHS (die Kurse und Workshops finden statt!),
  • Vorträge, Lesungen und andere Veranstaltungen in Stadtarchiv und in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache,
  • Konzerte und andere Veranstaltungen im Institut für Vokalmusik,
  • Spaziergänge und Fahrradtouren zur Kunst im öffentlichen Raum,
  • Veranstaltungen des Kulturbüros (Ausstellungseröffnungen im Torhaus Rombergpark, Gitarrenkonzerte in der Rotunde).

(…)

Der Kartenverkauf für Konzerte und Aufführungen in Theater und Konzerthaus für Vorstellungen nach Ostern läuft weiter.

Alle Theater- und Konzerthauskunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden kontaktiert. Wenn möglich, werden ausfallende Vorstellungen nachgeholt. Die Kunden werden über mögliche neue Termine sowie die Rückgabe von Tickets benachrichtigt.“

Weitere Informationen gibt es auf den Webseiten von Konzerthaus und Theater und auf www.dortmund.de

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Blick aufs Dortmunder Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Wichtige Informationen zu den Vorstellungen des Theaters Dortmund und des Konzerthauses Dortmund:

„Alle Vorstellungen bis einschließlich 15. April 2020 finden nicht statt.

Aufgrund des Erlasses der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen finden im Konzerthaus Dortmund und im Theater Dortmund bis einschließlich 15. April 2020 keine öffentlichen Veranstaltungen statt. Konzerthaus-Intendant Dr. Raphael von Hoensbroech und der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund Tobias Ehinger unterstützen diese Vorgabe und bedauern zugleich, dass so viele erstklassige Konzerte und Vorstellungen abgesagt werden müssen.

Alle Kunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden informiert. In den kommenden 14 Tagen arbeiten wir intensiv daran, für die ausgefallenen Vorstellungen Ersatztermine zu finden. Die Ticketingstellen beider Häuser haben weiterhin geöffnet und der Kartenverkauf für Veranstaltungen nach Ostern läuft weiter. Das Restaurant Stravinski und die Klavier & Flügel Galerie Maiwald am Konzerthaus Dortmund bleiben ebenfalls bis auf weiteres geöffnet.

Das Konzerthaus Dortmund bietet für seine Eigenveranstaltungen folgende Regelungen: Für Ersatztermine behalten Tickets ihre Gültigkeit. Sollten Kunden an dem neuen Termin verhindert sein, wenden sie sich bitte telefonisch an das Konzerthaus-Ticketing unter T 0231 – 22 696 200. Sollte kein Ersatztermin gefunden werden, sendet das Konzerthaus an die Kunden einen Gutschein über die Höhe des gezahlten Kartenpreises, der für alle kommenden Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund einlösbar ist. Bei weiteren Fragen zur Rückerstattung steht das Ticketing ebenfalls gerne zur Verfügung. Für Partnerveranstaltungen können abweichende Regelungen gelten.

Das Theater Dortmund bietet folgende Regelungen: Bei Nichtwahrnehmung des Ersatztermins können die Karten vor dem jeweiligen Ersatztermin umgetauscht werden. Darüber hinaus bietet das Theater Dortmund folgende Kulanzregelungen für die Kartenrücknahme an: Kunden können die für diesen Zeitraum im Vorverkauf bereits erworbenen Karten bis Ende der Spielzeit 2019/20 im Kundencenter unter Vorlage der Originalkarten in spätere Alternativvorstellungen eintauschen oder in Wertgutscheine umwandeln. Bei Abonnentinnen und Abonnenten können die Karten in Abo-Gutscheine innerhalb der jeweiligen Sparte umgewandelt werden, die aus Kulanz auch für die nächste Spielzeit einlösbar sind. Karten, die bei externen Vorverkaufsstellen erworben wurden, können nur an diesen zurückgegeben werden. Für Rückfragen steht das Ticketing des Theater Dortmund unter der Telefonnummer 0231 – 50 27 222 gerne zur Verfügung.

Wir stehen weiterhin in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden und informieren auf unseren Websites über alle weiteren aktuellen Entwicklungen, die den Spielbetrieb unserer Häuser betreffen.“

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Ausgewählte Ergänzungen (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit)

12. März:

Die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA hat die für 28./29. März geplante „Maker Faire Ruhr“ abgesagt, ein Erfinder- und Mitmach-Festival, das im Vorjahr einige Tausend Besucher(innen) mobilisiert hat. Nachtrag am 16. März: Die DASA schließt jetzt bis auf Weiteres ganz.

Die in Dortmund ansässige Auslandsgesellschaft streicht bis zum 15. April alle öffentlichen Veranstaltungen.

Das Szenetheater „Fletch Bizzel“ folgt dem Beispiel der städtischen Kultureinrichtungen und sagt alle Veranstaltungen bis Mitte April ab.

Auch im Fritz-Henßler-Haus gibt es bis Mitte April keine öffentlichen Auftritte.

Im Dortmunder Literaturhaus ist ebenfalls bis 15. April Veranstaltungs-Pause.

Die Messe „Creativa“ in den Dortmunder Westfalenhallen ist gleichfalls abgesagt und auf Ende August verschoben worden.

13. März:

Theater Dortmund: Alle Sparten haben ihre Spielpläne für diese und die kommende Saison gründlich umgeschichtet.

Schauspielhaus Bochum: Keine Veranstaltungen mehr (auch nicht mit weniger als 100 Personen). Sämtliche Aufführungen fallen aus – vorerst bis 19. April. Ähnliches gilt fürs Theater an der Ruhr in Mülheim, fürs Theater Oberhausen und das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) streicht alle öffentlichen Veranstaltungen in seinen Einrichtungen und schließt ab morgen (14. März) seine insgesamt 18 Museen, darunter das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, das Westfälische Industriemuseum mit seiner Zentrale in Dortmund (Zeche Zollern) und das LWL-Museum für Archäologie in Herne.

Das Duisburger Lehmbruck-Museum bleibt ab Samstag (14. März) zunächst bis zum 19. April geschlossen.

Das Museum Folkwang in Essen und das Emil Schumacher Museum in Hagen setzen alle Veranstaltungen bis auf Weiteres aus.

Die Kunstmesse Art Cologne (geplant für April) ist abgesagt worden.

14. März:

Das „Dortmunder U“ und das Museum Ostwall (im „U“) haben alle Veranstaltungen gestrichen. (Inzwischen ist das Haus geschlossen).

Dortmund: Keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr

15. März:

In einer Sondersitzung hat der Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund gestern beschlossen, dass ab heute (Sonntag, 15. März) bis auf Weiteres keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen. Gaststätten und Restaurants dürfen vorerst geöffnet bleiben.

Museen, Bibliotheken und Sportstätten geschlossen

Der Krisenstab der Stadt Dortmund hat heute (Sonntag, 15. März) getagt und angeordnet, Kultur- und Freizeiteinrichtungen zu schließen. In diesem Sinne werden bis auf Weiteres die städtischen Museen, die VHS, die Bibliotheken und die Musikschule sowie die städtischen Hallenbäder, Sporthallen und Sportplätze geschlossen.

Siehe dazu auch: www.dortmund.de

16. März

Auch anderorts bleiben ab sofort die Museen geschlossen, so z. B. in Essen (Folkwang), Bochum (Kunstmuseum) und Wuppertal (Von der Heydt).

Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln fällt aus.

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Aber machen wir’s kurz:

Jetzt sind alle Museen geschlossen. Und alle Kinos auch. Und alle Bühnen.

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Weitere Nachträge/Aktualisierungen

24. März

Das Dortmunder Festival Klangvokal (geplant ab 17. Mai) musste ebenfalls abgesagt werden. Möglichkeiten für Nachholtermine (September 2020 bis Juni 2021) werden derzeit geprüft. Das zugehörige Fest der Chöre soll vom 13. Juni auf den 12. September verschoben werden. Einzelheiten: www.klangvokal-dortmund.de

25. März

Die Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis zum 13. Juni in Recklinghausen hätten stattfinden sollen, sind gleichfalls abgesagt. Teile des geplanten Programms sollen nach Möglichkeit im Herbst nachgeholt werden.

Das Klavierfestival Ruhr, ursprünglich ab 21. April geplant, soll nun erst am 18. Mai starten. Die vom 21. April bis 17. Mai geplanten 23 Konzerte sollen nach den Sommerferien und im Herbst nachgeholt werden.

Die Mülheimer Stücketage (geplant 16. Mai bis 6. Juni) sind abgesagt worden.

27. März

Neuester Stand beim Klavierfestival Ruhr: Sämtliche bis Ende Mai geplanten Konzerte werden auf die Zeit nach den Sommerferien bzw. in den Herbst 2020 verlegt. Der Spielbetriebwird voraussichtlich erst Anfang Juni (Woche nach Pfingsten) beginnen. Näheres unter www.klavierfestival.de/nachholtermine

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Nähere Infos auf den jeweiligen Homepages

 




Corona: Viele Absagen für Theater, Oper und Konzert in NRW – und auch jenseits der Landesgrenzen

Sagt bis 19. April alle Vorstellungen ab: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Werner Häußner)

Für die Kulturszene in NRW hat das Corona-Virus bereits Auswirkungen. Hier ein erster Rundblick:

Die Maßnahmen, die eine weitere Verbreitung von Sars-CoV-2 – so heißt das tückische Kleinteilchen – hemmen sollen, führten bereits gestern, 10. März, zur Einstellung des Spielbetriebs des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen bis voraussichtlich 19. April.

Soeben hat auch das Theater Hagen alle Vorstellungen im Großen Haus – nicht aber in den kleineren Spielstätten – abgesagt. In Dortmunder Konzerthaus sind der Auftritt von Bodo Wartke am heutigen 11. März auf den 23. Juni verschoben und alle öffentlichen Veranstaltungen bis 15. April abgesagt. Und nun hat auch das Beethovenfest Bonn alle Konzerte zwischen 13. und 22. März abgesagt,

Seit dem Erlass des Gesundheitsministeriums vom 10. März sollen die örtlichen Behörden Veranstaltungen mit mehr als 1.000 zu erwartenden Besucherinnen und Besuchern grundsätzlich absagen. Liegt die Zahl darunter, sei – wie bisher – eine individuelle Einschätzung der örtlichen Behörden erforderlich, ob und welche infektionshygienischen Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, heißt es auf der Homepage der Landesregierung.

Düsseldorf deckelt die Zahl der Besucher

Während bei der Theater und Philharmonie (TuP) Essen die Entscheidungsfindung noch im Gang ist, hat sich die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf entschieden, vorerst weiterzuspielen, den Verkauf von Karten aber so zu deckeln, dass die Zahl von 1.000 Menschen im Raum (Besucher und Mitwirkende) nicht überschritten wird. Auch die Wuppertaler Bühnen führen momentan den Spielbetrieb weiter. Die Historische Stadthalle begrenzt ihren Kartenverkauf ebenfalls, damit die 1000er-Marke nicht überschritten wird.

Nicht – oder noch nicht – betroffen scheinen die Museen: Das Essener Folkwang Museum sagt zwar seine Ausstellungseröffnung zu Mario Pfeifer, Black/White/Grey (am 12. März, 19 Uhr) ab, hat aber ansonsten wie üblich geöffnet. Auch die Beethoven-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn bleibt unberührt.

In Sachsen spielt man vorerst weiter

Ein Blick über die Grenzen: In Bayern sind alle Staatstheater geschlossen, die Theater in Bamberg, Würzburg und Regensburg haben bereits nachgezogen und ihre Vorstellungen bis Mitte April abgesagt. In Wien schließen Burgtheater, Staats- und Volksoper. Auch in den drei Berliner Opernhäuser gibt es bis 19. April keine Vorstellungen. Sachsen dagegen meldet derzeit keine Absagen: Semperoper, Staatsoperette Dresden, Theater Chemnitz spielen, und auch die Landesbühnen Sachsen kündigen die Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ in der Regie von Manuel Schmitt – erfolgreicher Regisseur von Bizets „Perlenfischern“ in Gelsenkirchen – weiterhin für den 14. März an.

Fatale Folgen haben die Schließungen und Absagen für freie Künstler, vor allem, wenn Verträge keine Ausfallhaftung vorsehen. Sechs Wochen ohne oder mit deutlich vermindertem Einkommen führen in solchen Fällen schnell in eine prekäre Lage. Es wird sich zeigen, ob die Institutionen bzw. die Geldgeber zu unbürokratischen und großzügigen Lösungen bereit sind. Der Präsident des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, hat bereits einen Notfonds gefordert – „sehr schnell und mit wenig Bürokratie“.




Reizender Scherz im Stimmenglanz: Richard Strauss‘ „Rosenkavalier“ kehrt ins Aalto-Theater zurück

Erstaunlich frisch für eine 15 Jahre alte Inszenierung präsentiert sich Anselm Webers „Rosenkavalier“ in der Wiederaufnahme am Aalto-Theater.

Traum im Museum: Der „Rosenkavalier“ in der Inszenierung von Anselm Weber aus dem Jahr 2004 ist wieder am Aalto-Theater zu sehen. (Foto: Saad Hamza)

Wiederaufnahme-Spielleiterin Marijke Malitius hat mit dem Ensemble ganze Arbeit geleistet. Kulinarik wird nicht negiert, aber Webers Traumlogik bricht Sentimentales und Nostalgisches konsequent auf. So wird etwa der Mummenschanz des dritten Aktes über die „Kreuzer-Komödi“ hinausgeführt und nicht nur für den genarrten großsprecherischen Baron Ochs auf Lerchenau, sondern auch für die Zuschauer zum unheimlich-skurrilen Theater.

„Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“: Die Distanz zum Geschehen hebt auch die Illusion einer ungebrochenen Rokoko-Rückerinnerung des ersten Aktes auf, steigen die Figuren doch aus den Vitrinen eines Museums: Rückwärtsgewandte Imagination eines spießigen Aufsehers, der fotografierende japanische Touristinnen scheucht und sich – eine echte österreichische Thomas-Bernhard-Figur – in eine bessere Vergangenheit zurückschwärmt, die ihn am Ende ungnädig gefangen nimmt. Der Ochs auf Lerchenau, den er im Traum verkörpert, war eben doch nicht die richtige Rolle für die anbrechende Moderne.

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Der Essener GMD Tomáš Netopil. (Foto: Hamza Saad)

Bei der Premiere 2004 ein Soltesz-Paradestück, liegt das „Getöse um einen reizenden Scherz“ jetzt in den gestaltenden Händen von GMD Tomáš Netopil. Er bevorzugt einen schlank-gefassten Ton, führt das Orchester präzise und hält es durchhörbar, hätte aber ruhig ausgeklügelter zupacken dürfen: Nicht in den ausladenden Lautstärkegraden, die manchem Sänger volle Kraft voraus abverlangen. Eher in der Flexibilität der Tempi und Metren, deren Wiener Charme immer wieder hinter die bewundernswerte Präzision zurücktreten. Und auch im Feinschliff der Klänge: Die Holzbläser im ersten Akt wirken unspezifisch, fast beiläufig, und die berühmte Überreichung der „silbernen Rose“ wird zu einem prosaischen Ereignis fern ihres impressionistischen Zaubers.

Das Ensemble kann sich hören lassen: Michaela Kaune als Feldmarschallin ist zu den schlank-transparenten Klängen des Orchesters zunächst eine mädchenhafte junge Frau, gewinnt im dritten Akt Reife und stimmlich opulenten Glanz. Karin Strobos als Octavian, anfangs mit Kratzern in der Mezzo-Lasur, kann sich ebenso profilieren wie Elena Gorshunova: Die Schulmädchen-Anmutung mit Matrosenkleid und Stofftier lässt sie schnell hinter sich zugunsten einer stimmlich standfesten, selbstbewussten Sophie. Karl-Heinz Lehner als träumender Museumswärter gibt den Ochs mit genießerisch ausgespieltem Wienerisch und probater Klang-Substanz.

Szene aus dem zweiten Akt mit Heiko Trinsinger als Faninal (Mitte). (Foto: Saad Hamza)

Heiko Trinsinger als pomadig frisierter neureicher Faninal tritt stets gequält von seinen Ambitionen auf; seine Tochter ist im Bühnenbild von Thomas Dreißigacker ein Ausstellungsstück im Vitrinenschrank, der im noch unfertigen Palais mit rauchenden Industrieanlagen an den Ursprung des Reichtums erinnert. Carlos Cardoso als Sänger mit Schmelz, aber auch Michal Doron als Annina und – wie schon 2004 – Albrecht Kludszuweit als Wirt und Rainer Maria Röhr als quirliger Intrigant Valzacchi tragen wie die vielen anderen Rollen nebst einem soliden Chor zum glücklichen Eindruck des Abends bei.

Weitere Vorstellungen am 22. März und 26. April, jeweils 16.30 Uhr. Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de

 




Mammutprojekt zum Abschluss der Ära von Steven Sloane: Richard Wagners „Ring“ konzertant in Bochum

Nachdem Richard Wagners Tetralogie an der Deutschen Oper am Rhein in der Regie von Dietrich Hilsdorf seine ersten kompletten Zyklen überstanden hat und sich in Dortmund Peter Konwitschny erneut an den „Ring“ machen wird, will auch Bochum nicht hintanstehen.

Sie stellten das Bochumer „Ring“-Projekt bei einer Pressekonferenz vor: Steven Sloane und Norman Faber. Foto: Werner Häußner

In der letzten Spielzeit, in der GMD Steven Sloane die Bochumer Symphoniker leitet, will er die 27-jährige Zusammenarbeit u.a. mit einem konzertanten Nibelungen-Ring krönen. Vorgesehen sind die vier Vorstellungen zwischen 25. September 2020 („Das Rheingold“) und 22. Mai 2021 („Götterdämmerung“). Für eine „Visualisierung“ im Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum wurde der Opernregisseur Keith Warner gewonnen. Unterstützt wird das Projekt von der Familie Norman Faber und die Faber Lotto-Service GmbH. Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Projekts war von einer „bedeutsamen sechsstelligen Summe“ die Rede.

Es soll „ganz, ganz anders klingen als sonst“

Steven Sloane nennt die geplante Umsetzung des „Rings“ mit seinem Orchester in Bochum „die Erfüllung eines Traums“. Er sieht in der Konzentration auf die musikalische Umsetzung der Tetralogie eine große Chance, viele Facetten herauszuarbeiten. Wagner wird nach Sloanes Worten in dem erst 2016 eingeweihten Bochumer Konzertsaal mit einer inzwischen oft gerühmten Akustik „ganz, ganz anders klingen als sonst“. Die Zuhörer hätten die Chance, Wagner als zentrale Figur des Musiktheaters nicht in der Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum, sondern „mittendrin“ in Kontakt mit dem Orchester auf dem Podium zu erleben. Auch Mäzen Norman Faber erhofft sich das Erlebnis eines „einzigartigen Klangs“.

Ergänzt wird der „Ring des Nibelungen“ durch einen „Kleinen Bochumer Ring“ für Menschen ab 10 Jahren. Dabei kooperieren die Bochumer Symphoniker mit Bochumer Schulen und Akteuren aus der freien Kulturszene. Von jeder „Ring“-Oper gibt es vier jeweils einstündige Vorstellungen, beginnend am 31. Oktober mit „Das gestohlene Rheingold“ und endend am 9. Mai 2021 mit „Die mächtige Götterdämmerung“.

Die Besetzung des Bochumer „Rings“ wird erst später bekanntgegeben; genannt wurden jedoch bereits Eva-Maria Westbroek (Sieglinde), Emily Magee (Brünnhilde), Claudia Mahnke (Fricka), Michael Weinius (Siegfried) und Simon Neal (Wotan).

Für den „Ring“ sind Abonnements erhältlich, die ab 3. Juni im Vorverkauf sind. Einzelkarten gibt es ab dem 17. Juni. Info: www.bochumer-symphoniker.de, Tel.: (0234) 910 86 66.




Märchenhaft und phantastisch: Eine konzertante Aufführung der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ in Dortmund

Der Frankokanadier Yannick Nézét-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra sind einander durch zehn Jahre der Zusammenarbeit verbunden. (Foto: Petra Coddington)

Ein grässlicher Schrei entringt sich der Kehle der Amme. Ihr tückisches Spiel ist aus: Von der Kaiserin verstoßen, vom Boten des Geisterkönigs Keikobad verbannt, muss sie die Bühne verlassen, auf der an diesem Abend die Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss gegeben wird. Mit ihrem Abgang ist im Konzerthaus Dortmund der Weg frei für das große Happy End, für den ekstatischen Schlussjubel, der vom Publikum mit tobender Begeisterung erwidert wird.

Über das gewöhnliche Maß gehen diese Bravostürme weit hinaus. Sie sind einerseits Reaktion auf die kolossalen Klangeruptionen dieses Zaubermärchens, das von der Menschwerdung der aus dem Geisterreich stammenden Kaiserin erzählt. Durch den selbstlosen Verzicht auf eigene Kinder – symbolisiert durch den Schatten – wächst diese Frau zu unerwarteter Größe. Andererseits zollt das Publikum einer Interpretenriege Dank, die diese konzertante Opernaufführung zu einem überwältigenden Strauss-Fest erhebt.

Wo anfangen bei so viel Exzellenz? Bleiben wir zunächst bei der Amme, deren mephistophelische Natur durch Michaela Schuster packende Präsenz annimmt. Die Mezzosopranistin, als Sängerdarstellerin ein regelrechtes Bühnentier, gibt diesem Zwischenwesen die lauernde Gespanntheit einer Elektra, die auffahrende Herrschsucht einer Klytämnestra und die schmeichlerischen Zwischentöne einer Schlange.

Die aus Südafrika stammende Sopranistin Elza van den Heever sang die Partie der Kaiserin. An ihrer Seite war der Amerikaner Stephan Gould als Kaiser zu erleben. (Foto: Petra Coddington)

Ihr Gegenpol ist die feenhafte Kaiserin, die Dank Elza van den Heever tatsächlich einer anderen Welt entstiegen scheint. Ihr gläsern leuchtender Sopran bringt es auch nach kraftvollen Flügen durch stratosphärische Höhen fertig, in ein mädchenhaft-zartes Piano zurückzufinden. An ihrer Seite ist Stephan Gould ein Kaiser mit heldischem Tenor, der sich unbedingt Bahn bricht, sei es zuweilen auch mit Überdruck.

Bombenstark bei Stimme ist auch das Menschenpaar. Michael Volle singt den herzensguten Färber Barak, dem die abweisende Kälte seiner Frau arg zusetzt, mit einer vollklingend-sonoren Wärme zum Dahinschmelzen. Lise Lindstrom erhebt die Färberin zur heimlichen Hauptfigur. Unfassbar, mit welchem Volumen sie sich in immer neue Spitzen trotzigen Zorns hineinsteigert, mit welch glühender, zuweilen auch schneidender Leidenschaft sie noch im äußersten Fortissimo-Getümmel triumphiert. Zugleich lässt sie uns die Verzweiflung einer Frau spüren, die sich nicht gesehen und nicht verstanden fühlt.

Eine Ehe voller Spannungen führen der Färber Barak (Michael Volle) und seine Frau (Lise Lindstrom. Foto: Petra Coddington)

Die Nebenfiguren, der Rotterdam Symphony Chorus und der von Zeljo Davutović einstudierte WDR Kinderchor Dortmund tragen sämtlich ihren Teil zum Ausnahmerang dieses Abends bei.

Indessen muss nun endlich vom Rotterdam Philharmonic Orchestra die Rede sein, das unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Yannick Nézét-Séguin die überbordende Phantastik und die raffinierte Instrumentationskunst der Partitur auskostet, dass einem schier die Ohren übergehen. Das Orchester nimmt uns mit auf eine Reise, die im rasenden Galopp durch drei Welten führt, die uns durch finsterste Abgründe bis in silberhelle Sphären der Verklärung begleitet. Es ist ein Rausch, eine prunkvolle, exotisch gefärbte Orgie des Klangs, transparent gehalten bis in die kammermusikalischen Details. Die Musik ist aus, aber ihr ätherisches Glücksleuchten bleibt.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Menschheitsfamilie mit Gott und Teufel: Dietrich Hilsdorf inszeniert in Essen Alessandro Scarlattis „Kain und Abel“

Ein von der Zeit ausgezehrter, nobler Raum, verblichene Tapeten, ein halbblinder Spiegel. Man sitzt bei Tische, zwei Violinisten spielen Tafelmusik. Die Gewänder entsprechen der Mode kurz nach Beginn des 18. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, in der Alessandro Scarlatti in Venedig sein Oratorium über Kains Mord an seinem Bruder Abel geschrieben hat, eine der Schlüsselgeschichten des Alten Testaments aus dem vierten Kapitel des Buches Genesis.

Das Drama kennt keinen Ausweg: „Kain und Abel oder der erste Mord“ (Cain, overo il primo omicidio) von Alessandro Scarlatti am Aalto-Theater Essen. Von links: Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam), Tamara Banješević (Eva), Xavier Sabata (Gott), Philipp Mathmann (Abel). (Foto: Matthias Jung)

Am Aalto-Theater Essen kleidet sie Dietrich Hilsdorf mit seinen Ausstattern Dieter Richter (Bühne) und Nicola Reichert (Kostüme) ins Ambiente der Entstehungszeit, doch er pflegt damit keinen Historismus, sondern entwickelt ein hochartifizielles Zeichensystem, das für Scarlattis verkappte Oper aus dem Jahr 1707 komplexe Aspekte einer Deutung zulässt.

In seiner 20. Inszenierung für das Essener Theater – erinnert sei an die Skandale mit Verdis „Trovatore“ und „Don Carlo“, aber auch an spannende psychologisch fundierte Kammerspiele – macht Hilsdorf aus der biblischen Geschichte ein Familiendrama: Gott und der Teufel sind keine aus dem Off dröhnenden Übermächte, sondern heben am Tisch mit den Menschen das Glas, geraten mit ihnen in körperlichen Kontakt. Wesen aus Fleisch und Blut und dennoch durch ihre Positionen im Geschehen auf der Bühne oft seltsam enthoben: Ein treffend erfundenes Bild für die Präsenz des Transzendenten in, aber nicht seine Identität mit den Lebensvollzügen der Menschen.

Spannung in jedem Moment

Hilsdorfs Fähigkeit, die Bühne auch bei stillstehender Interaktion mit Leben und Spannung zu erfüllen, macht aus diesem pausenlosen 140-Minuten-Stück einen Abend ohne Leerlauf. In jedem Moment auf die Personen auf der Bühne konzentriert, erschließt er mit seinen Darstellern in präzis ausgeformten Gesten und Gängen ihre seelische Verfassung, ihre Emotionen, ihre inneren Entscheidungen. Und das in einem äußerlich handlungsarmen Verlauf, denn das Libretto des Kardinals Pietro Ottoboni – der gleichzeitig mit Scarlatti auch den jungen Händel förderte – stellt die theologische Reflexion gleichrangig neben die biblische Erzählung. Hilsdorfs Vorzug ist, dass er diese Ebene in seine Inszenierung integrieren kann. Der Provokateur von früher hat sich zum genau analysierenden Beobachter gewandelt.

Die Verführung tarnt sich weiblich-erotisch: Baurzhan Anderzhanov (Teufel), Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam). (Foto: Matthias Jung)

Hilsdorfs Zeichensystem lebt aus sinnenfrohen Details, die sich dennoch zu einem schlüssigen Ganzen fügen: Adam und Eva tragen Gewänder in der Bußfarbe Violett. Der Teufel tritt, in eine kostbar gearbeitete Prachtrobe gehüllt, als mondäne Frau auf – mit einer Anmutung von Macht und Erotik, die Kain in ihren Bann ziehen muss. Dass der Böse die Macht Gottes nachäfft, wird deutlich beim Entschluss zum Brudermord: Wie der Schöpfergott Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle streckt er den Finger aus, der quasi den mörderischen Funken auf Kain überträgt.

Das Böse bleibt in der Welt

Zwei Kerzen signalisieren die Opfer: Abels Kerze flammt hoch, Kains Kerze raucht nur. Zurücksetzung und die damit empfundene Ungerechtigkeit, Neid und der Dünkel des „Erstgeborenen“ motivieren die Tat Kains. Er bläst die Kerze des Bruders aus und erschlägt ihn unter der festlichen Tafel. Kain und Luzifer trinken sich zufrieden zu. Später wird Gott den Teufel aus dem Reifrock schälen und so die Täuschung aufheben: Im Untergewand am Rande sitzend, wird dieser die Trauer Adams und Evas beobachten und dabei versonnen einen Apfel schälen. Das Böse bleibt Bestandteil der Welt; es ist aber auch an der Rettung beteiligt: Wenn Adam am Ende auf die Menschwerdung Gottes in Jesus anspielt („aus meinem Blut soll der Erlöser geboren werden“), nagelt der Teufel ein Kreuz mit einem Corpus an die Wand. Das Ende bleibt ambivalent: Dass alle Protagonisten am Tisch die Suppe auslöffeln, wirkt unverkennbar ironisch, lässt aber eine endzeitliche Versöhnung nicht außer Acht. Familiendrama und universales Schöpfungs- und Erlösungsdrama gehen ineinander über.

Hilsdorf ist ein Regisseur, der – ursprünglich aus dem Schauspiel kommend – selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie vergessen hat, szenisch mit der Musik zu interagieren. In Essen führt die musikalische Sensibilität zu einer glücklichen Einheit von Bild und Klang, die über die Integration des Orchesters in das Bühnenbild hinausgeht. Dirigent Rubén Dubrovsky hält so den direkten Kontakt zu Szene, die Sänger und die Musiker stellen sich ideal aufeinander ein.

Inspirierte Musik Alessandro Scarlattis

Scarlattis Musik erweist sich in ihrer Tonarten-Dramaturgie und in ihrer vielfältigen, klangsensiblen Durcharbeitung geradezu als theologisch inspiriert. In ihrer Arie „Sommo Dio“ etwa äußert Eva die bittende Hoffnung auf Befreiung durch das „heilige Holz“ und das „geopferte Lamm“ und bringt damit die neutestamentliche, christologische Perspektive ein. Das Lamm, das Abel opfern will, ist ein anderer Verweis auf Christus, das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Die Arie steht in g-Moll, und in dieser Tonart kündigt sich das Erscheinen Gottes in einer Sinfonia – also zunächst rein instrumental – an.

Gott und Abel: Philipp Mathmann (Abel) und Xavier Sabata (Gott). (Foto: Matthias Jung)

Gottes Arie – durch die Art („mezzo carattere“) mit Abel verbunden – steht dann in F-Dur und hebt sich damit deutlich ab – die Transzendenz des Erlösung verheißenden Gottes wird betont, während er, wenn er Kain die Folgen seiner Tat klarmacht, das „menschliche“ g-Moll in G-Dur moduliert, verbunden mit einem unerbittlichen Streicher-Ostinato, welches das Schicksal des mit dem Kainsmal zugleich gezeichneten und vor dem Tod geschützten Mörders in scharfen, harten Akzentuierungen verdeutlicht.

Auf diese Weise schafft die dramatisch begründete, dennoch souverän formal gestaltete Musik Scarlattis eine enge Verbindung mit der Szene. Die Essener Philharmoniker sind in ihrem wachen, flexiblen, in Klang, Phrasierung und Artikulation nahe an historisch informierten Spezial-Ensembles. Eine fabelhafte Leistung der Musiker, die sich ja mit Repertoire aus allen Epochen befassen müssen, aber auch von Dubrovsky: Der Wahl-Wiener, der demnächst Händels „Alcina“ in Hannover und „Giulio Cesare“ in St. Gallen dirigiert, stellt die Beziehung zwischen Bühne und Orchester her und führt die Sänger sicher und in organischen, wenn auch manchmal sehr beschaulichen Tempi. Die Instrumente, etwa das Fagott in den g-Moll-Arien Evas oder die beiden Flöten sind szenisch zugeordnet, und für den Auftritt des Teufels pervertiert Felix Schönherr mit unheimlich schnarrenden Registern den sakralen Klang der Orgel.

Vorzügliche Sänger

Gesungen wird in Essen ebenfalls vorzüglich. Bettina Ranch führt ihren Mezzo elegant durch die Bravour und das Cantabile der Arien Kains, beleuchtet stimmlich die Facetten dieses Charakters, der sich keineswegs im „Bösen“ erschöpft und im Widerstand gegen die zweite Versuchung des Teufels, sich selbstbestimmt das Leben zu nehmen und damit ultimativen Widerstand gegen Gott zu leisten, einen heroischen Zug erhält.

Tamara Banješević kleidet die Trauer und Reue Evas, aber auch ihre Hoffnungen mit einem weich formenden, innigen, flexibel ausgestaltenden Sopran. Dmitry Ivanchey als gebrochener, am Stock gehender Mann in edlem Justaucorps, muss sich in seiner ersten „aria di bravura“ noch mit Mühe und fest sitzender Stimme durch Sechzehntelketten kämpfen, gewinnt aber im Lauf des Abends souveräne Präsenz. Xavier Sabata setzt einen virilen Alt für die Stimme Gottes ein, die er auch mit Schärfe und profunder Energie dramatisch aufladen kann.

Baurzhan Anderzhanov als mondäner Teufel. (Foto: Matthias Jung)

Baurzhan Anderzhanov kann mit seinem unverschleierten, in der Artikulation unbestechlichen, klanglich schlank-leuchtenden Bass in einer weiteren Glanzrolle am Aalto-Theater brillieren. An Philipp Mathmanns Stimme werden sich die Geister scheiden: Der Counter intoniert traumsicher, singt aber die Töne steif, manchmal überzogen schrill an und pflegt das geradlinige „weiße“ Timbre, das in Alte-Musik-Kreisen bisweilen sehr geschätzt wird, mit italienischem Belcanto aber wohl wenig zu tun hat. Dietrich Hilsdorf, der nach sieben Jahren an das Essener Haus zurückgekehrt ist – und in zwei Jahren eine neue Inszenierung verantworten wird – erhielt einhellige Ovationen; das gesamte Ensemble genoss den langen, herzlichen und verdienten Jubel des Publikums.

Vorstellungen am 30. Januar, 20. und 29. Februar, 4., 8., 13., 20. März und 3. Mai. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/kain-und-abel/3798/




„Dann habe ich meinen Job ja wohl richtig gemacht“ – eine persönliche Erinnerung an Martin Schrahn (1959-2019)

Sein Lachen klingt mir noch im Ohr, wenn wir am Telefon die neuesten Neuigkeiten aus dem Kulturbetrieb ausgetauscht haben.

Martin Schrahn †

Martin Schrahn †

Ich sehe seine hochgewachsene Gestalt vor mir, die mir vom anderen Ende eines Opern- oder Konzerthausfoyers zuwinkt, um mich gemeinsam mit seiner Frau Anke zur Bar zu locken, damit wir vor dem Kulturgenuss noch schnell ein Erfrischungsgetränk zu uns nehmen konnten.

Pointierte, feinsinnige und fachkundige Artikel verfasste er über das Musikgeschehen im Ruhrgebiet und darüber hinaus: Erst lange Jahre in der Kulturredaktion der Ruhrnachrichten in Dortmund und dann (nach seinem gesundheitsbedingten Ausscheiden) als freier Journalist, u. a. für die Revierpassagen. Kritisch waren seine Artikel, aber immer mit Witz und mit Liebe zu den Künstlern geschrieben. Beschwerden von diversen Kulturschaffenden, die sich in ihrer Eitelkeit verletzt oder auf den Schlips getreten fühlten, nahm er immer äußerst sportlich. „Dann habe ich meinen Job ja wohl richtig gemacht“, sagte er und lachte fröhlich.

Wie viele nette Stunden haben wir auf der Terrasse des Ehepaares Schrahn/Demirsoy verbracht oder auf ihrem gemütlichen Sofa. Einmal im Jahr gab es Apfelkuchen für alle Freunde – sozusagen aus dem eigenen Garten. Denn das Bäumchen, das wir beiden zur Hochzeit geschenkt hatten, trug ziemlich schnell Früchte.

Wir sind gemeinsam auf Berge gefahren, wir haben Münchens Museumslandschaft unsicher gemacht. Dabei war Martin Schrahn seit seiner Geburt aufgrund eines schweren Herzfehlers gehandicapt. Doch ich habe nie einen Menschen getroffen, der weniger Aufhebens von seiner Krankheit machte als Martin. Er thematisierte sie einfach überhaupt nicht. Wer nicht wusste, wie es um ihn stand, bemerkte oft gar nichts. Ich glaube, das war ihm wichtig: Seinen Interessen nachzugehen und so gut zu leben wie möglich, ganz ohne Wehleidigkeit.

Letztes Jahr hatten wir schon einmal große Angst um sein Leben: Aber er hat sich tapfer aus dieser Krise herausgekämpft und war schon wieder fast der Alte. Doch diesen Winter schlug das Schicksal erneut zu, auf grausame Art. Die letzten Wochen waren wir sehr in Sorge um ihn, aber hofften alle, dass er auch diesen Angriff auf seine Gesundheit abwehren könnte. Dass er bald aus dem Krankenhaus herauskäme und wir wieder zusammen die Kulturlandschaft durchwandeln würden.

Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt und das ist unendlich traurig; alle Worte, die diesen Schmerz zu beschreiben versuchen, kommen mir unfassbar schal vor.

Wir, seine Freunde, seine Kollegen, seine Weggefährten, seine Angehörigen und bestimmt auch seine Leser werden ihn unsagbar vermissen.




Kollektiv ohne Erbarmen: Der MiR Dance Company gelingt in Gelsenkirchen ein eindrucksvoller Einstand

Die MiR Dance Company tanzt „Le Sacre du Printemps“ in der Fassung von Uri Ivgi und Johan Greben. Die Choreographen interessieren sich dabei vor allem für gruppendynamische Prozesse in einer scheinbar ausweglosen Situation (Foto: Bettina Stöß)

Von einer archaischen, vor-zivilisatorischen Gesellschaft ist zumeist die Rede, wenn es um Igor Strawinskys Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ geht. Dieses Frühlingsopfer ist ein Fest heidnischer russischer Stämme: ein barbarisches Ritual, das ein Menschenleben fordert, um die Natur gnädig zu stimmen.

Nach Vaslav Nijinsky, Choreograph der im Tumult endenden Uraufführung 1913 in Paris, inspirierte Strawinskys explosiv rhythmische Musik viele Künstler zu immer neuen, teils Maßstäbe setzenden Fassungen: Mary Wigman (1957), Maurice Béjart (1959) und Pina Bausch (1975) sind nur einige von ihnen. In der Gegenwart versuchten sich Sasha Waltz (2013) und Mario Schröder (2018) an dem nur halbstündigen, aber schwergewichtigen Ballett-Dinosaurier.

Im Gelsenkirchener Musiktheater ist das „Sacre“ jetzt im postzivilisatorischen Gewand zu sehen. Das israelisch-niederländische Choreographenduo Uri Ivgi und Johan Greben sperrt die Natur aus, die Tänzer dafür aber in einen düsteren Bunker ein. Vergitterte Luken in Bodennähe verweisen auf unterirdische Kerker. In der Rückwand klafft ein großer Riss, als habe das Gebäude unter Beschuss gestanden. Dahinter zeigt sich keine Welt, sondern nichts als ein paar lose Kabel, Rauch und Dunkelheit (Bühne: Karol Dutczak). Claude Debussys spöttisches Bonmot vom „Massacre du Printemps“ bekommt hier eine neue Bedeutung.

Die Tänzerinnen und Tänzer der MiR Dance Company demonstrieren im Sacre ekstatische Hingabe. (Foto: Bettina Stöß)

Das liegt auch an der MiR Dance Company, der mit diesem Strawinsky-Abend ein höchst eindrucksvoller Einstand gelingt. Gelsenkirchens neuer Ballettchef Giuseppe Spota hat eine Gruppe von Tänzern formiert, die starke individuelle Qualitäten haben, aber auch im Kollektiv fantastisch funktionieren. Im „Sacre“ verschmelzen sie zu einer Masse Mensch, die das Fürchten lehrt. Sie rollen zu Haufen übereinander, branden in verzweifelten Fluchtversuchen die Wände hoch wie das Meer an den Klippen.

Endzeitstimmung macht sich breit. Die Gruppe sucht Sicherheit im Ritual, ist in Wahrheit aber orientierungslos und panisch. Immer wieder sieht sich der Einzelne plötzlich einem feindseligen Kollektiv gegenüber. Da werden Schultern und Ellbogen ausgefahren, da werden Menschen am Hals gepackt, da wird dem Individuum kein Platz gegönnt.

Das Opfer ist bei Ivgi/Greben keine Frau, sondern ein Mann. Zu Tode tanzt sich in dieser Fassung niemand. Gleichwohl kommt es zu einem erbarmungslosen Showdown. Unterstützt von der Neuen Philharmonie Westfalen, die sich unter der Leitung von Giuliano Betta sehr ehrbar durch diesen Hexenkessel komplexer Rhythmen schlägt, begeistert die MiR Dance Company durch ekstatische Hingabe und eine nachgerade gewaltbereit wirkende Körpersprache, die der absichtsvollen Rohheit der Partitur in nichts nachsteht.

Streng ritualisiert sind die Hochzeitsrituale in Strawinskys „Les Noces“. Die MiR Dance Company tanzt eine Choreographie von Mario Bigonzetti. (Foto: Bettina Stöß)

Im ersten Stück des Abends hingegen halten die Rituale der Enthemmung noch Stand. Strawinsky beschreibt in „Les Noces“ abstrakte Hochzeitszeremonien, untermalt von vier Klavieren, vier Gesangssolisten, einem Chor und viel Schlagwerk. Mario Bigonzetti zeichnet in seiner Choreographie eindringlich scharfe Bilder von der Beziehung der Geschlechter. Ein langer Tisch oder Laufsteg trennt die Sphäre der Männer von der der Frauen. Metallgestelle, die wie niedrige Hocker mit hoher Rückenlehne aussehen, engen die Körper ein (Bühne: Fabrizio Montecchi). Die MiR Dance Company zeigt einerseits formelhafte Erstarrung und Unterdrückung, andererseits Verlangen und feurige Leidenschaft.

(Informationen und Termine: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2019-20/les-noces-sacre/)




Orte der Ödnis: Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ überzeugt an der Oper Frankfurt nur musikalisch

Als Katerina Ismailowa aus unruhigen Träumen erwacht, liegt sie auf einer Rollbahre, wie man sie in der Anatomie für tote Körper verwendet. Um sie herum ist nichts, außer einer speckig glänzenden, riesenhaften Mauer, deren grün-blau-grau-braun schillernder Rund alles hermetisch abschließt. Ein Ort der Ödnis, ohne Hauch von Schönheit, Freundlichkeit, Hoffnung.

Anja Kampe als Katerina Ismailowa in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Anja Kampe als Katerina Ismailowa in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Kaspar Glarner hat für Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ in Frankfurt eine Dystopie geschaffen, die keinen Ausweg zulässt. Es ist ein Ort der seelischen Gefangenschaft, der Unterdrückung aller Lebenstriebe: Katerinas künstlich weiße Haare sind zwar im Chic der zwanziger Jahre geschnitten, zeugen aber von ihrer erloschenen Seele. Eine VR-Brille muss helfen: Doch der Ausweg ist nur virtuell; Bibi Abel lässt in ihren Videos kitschige Blumen aufploppen. Eine Perspektive hat diese Frau nicht.

Giftige Pilze, serviert ohne innere Regung

Anja Kampes neutral gefärbte, anfangs technisch zweifelhaft in seifig-enge Höhe gezogene Stimme passt zu dieser abgestumpften Frau: Ungerührt geht sie in die Knie, als ihr sadistischer Schwiegervater Boris Ismailow einen grotesken „Liebesbeweis“ fordert. Ohne eine Spur von Mitgefühl befreit sie die Hausangestellte Axinja (einigermaßen zahm: Julia Dawson) aus den Händen ihrer Peiniger. Dem brutalen Boris – Dmitry Belosselskiy singt ihn großartig mit satt strömender Stimme – reicht sie ohne Regung die vergifteten Pilze. Ihren Mann Sinowi – Evgeny Akimov als eitler, profilloser Protz mit genau ausgearbeiteter Blässe – hilft sie umzubringen, als sei Mord ein Alltagsgeschäft. Ihre abstoßende Umgebung hat sie vereist. „Kalt wie ein Fisch“, sagt Boris, als er ihr, um ihre sexuellen Trieb anzufachen, violette Unterwäsche entgegenwirft.

Dmitry Golovnin (Sergei) und Anja Kampe (Katerina Ismailowa). Foto: Barbara Aumüller

Dmitry Golovnin (Sergei) und Anja Kampe (Katerina Ismailowa). Foto: Barbara Aumüller

Dass unter all den Demütigungen die innere Energie, die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die seelische Empfindung nicht abgestorben ist, offenbart sich in der Begegnung mit dem neu eingestellten Arbeiter Sergei: Dmitry Golovnin porträtiert ihn mit funkelnd präsentem, schneidend und schmeichelnd agierenden Tenor als Schlange in einem athletischen Körper, viril, aggressiv und potent. Die Schwachstellen in Katerinas öder Existenz erfasst er sofort und nutzt sie zielstrebig für sich. Und Anja Kampe zeigt genau wie beabsichtigt die Gier der ausgehungerten Frau auf die körperliche Berührung, den Kuss, die Vereinigung.

In solchen Momenten kommt die Regie Anselm Webers zu eindrücklicher Intensität, die man in anderen Szenen vermisst. Seine Stärke zeigt der frühere Essener und Bochumer Schauspielchef, der seit 2017 das Sprechtheater in Frankfurt leitet, wenn es um die Begegnung von Personen geht, wenn viel Unausgesprochenes im Raum steht, wenn er detailliert aussagekräftige Gesten und Gänge einsetzt.

Die Konzeption von Ensembles dagegen bleibt blass und unscharf: Die Quälerei und versuchte Vergewaltigung der Axinja in einem Ölfass ist unentschlossen, weil die gespielte Brutalität nicht bedrohend wirkt. Die erste Begegnung Katerinas mit ihrem späteren „Serjoscha“ lässt keine Spannung zwischen den beiden entstehen. Die böse Ironie der Polizei-Szene im dritten Akt ist nicht überzeugend ersetzt durch die Langeweile einer Schlägerbande in einem abgewetzten Wohnzimmer. Die detailliert durchgestaltete Travestie des Popen (Alfred Reiter) lenkt lediglich von der zupackenden Dramatik der Ereignisse ab, als bei der Hochzeit der Keller mit der Leiche des ermordeten Sinowi geöffnet wird.

Das Glück des Abends kommt aus dem Graben

Tödliche Pilze: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow). Foto: Barbara Aumüller

Tödliche Pilze: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow). Foto: Barbara Aumüller

Und der vierte Akt mit einer vordergründig schmierigen Sonjetka – der ansprechend singenden Zanda Švēde – bleibt in seinem spannungslosen Bildaufbau und seiner fadenscheinigen Gegenständlichkeit ohne die schicksalhafte Hoffnungslosigkeit, die sich in der Weite der Landschaft und der Öde des ewigen Marschierens symbolisch manifestiert.

Auch Anja Kampe drückt die ultimative Demütigung Katerinas und das Entsetzen angesichts ihrer aufkeimenden Selbsterkenntnis eines verpfuschten Lebens mit ihrem lapidaren Timbre nicht aus. Empathie fühlt man mit dieser neutral sich selbst besingenden Katerina nicht. So rettet auch das szenische Ausrufezeichen nichts, den – während des ganzen Abends glänzend intonierenden und präsent agierenden – Chor aus dem Zuschauerraum singen zu lassen. Der „finster-satirische“ Charakter, den Schostakowitsch selbst seiner Oper zugesprochen hat, ist mit dieser Kolportage nicht erfasst.

Das Glück des Abends liegt im Graben: Sebastian Weigle und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester intensivieren Schostakowitschs illustrative und unmittelbar kommentierende Musik so grandios, dass sich das Drama in den Noten ereignet. In der Musik ist die innere Sehnsucht zu vernehmen, die auf der Szene kaum durch die verschlossenen Körperhüllen scheint. In der von Weigle zärtlich ausgeformten Wehmut ist die Hoffnung Katerinas zu spüren, in der Begegnung mit Serjoscha die lang vermisste innere Geborgenheit und Befriedigung zu finden. Aber auch die bissigen, grellen, brutalen Momente mit ihren gellenden Bläsern, den schäumenden Streichern und den böse meckernden oder atemlos hechelnden Holzbläsern kommen nicht zu kurz. Dabei lässt Weigle aber nie grob oder unkontrolliert spielen; er achtet auf Form und Rundung des Tons. Das gibt der Musik Schostakowitschs eine gewisse distanzierte Noblesse, die sich von krudem Naturalismus fernhält.

Musikalisch ist diese Premiere ein Triumph, szenisch rettet man sich so eben über die Runden.

Vorstellungen am 29. November, 8. und 12. Dezember.
Info: www.oper-frankfurt.de