Kulturauftrag vorbildlich erfüllt: Die Tage Alter Musik in Herne und ihre Verdienste im Salieri-Gedenkjahr

Antonio Salieri auf einer um 1815 entstandenen Lithografie.

Ohne die „Tage Alter Musik“ in Herne wäre der 200. Todestag Antonio Salieris in Deutschland sang- und klanglos vorüber gegangen. Mit einer konzertanten Aufführung seiner Oper „La Grotta di Trofonio“ erinnerte das vom WDR und der Stadt Herne getragene Festival an den 1825 gestorbenen einflussreichen Komponisten, der für die Nachwelt nur noch als angeblicher Rivale Mozarts in Erinnerung geblieben ist.

Wer sich mit Salieris Musik befasst, wird immer wieder überrascht: Zwar bleibt sein melodischer Ausdruckswille hinter dem Mozarts zurück; auch den dichten, von Überraschungen sprühenden Satz des Salzburgers sucht man bei Salieri vergebens. Aber der formale Erfindungsreichtum und der souveräne Umgang mit den konventionellen Formen der italienischen Oper belegen Salieris Meisterschaft ebenso wie die farbige Instrumentationskunst. Der 1750, also vor 275 Jahren, im oberitalienischen Städtchen Legnago geborene Komponist erweist sich außerdem als genuiner Dramatiker: Seine Musik bleibt stets nahe am Text, passt ihre Formen elegant an die Situationen an. Vor allem hat Salieri das Talent zur Satire – eine Facette, die Mozart kaum gepflegt hat.

In der nach der Uraufführung 1785 in Wien höchst erfolgreichen „opera comica“ über die „Grotte des Trophonius“ kann sich diese Vorliebe in schönsten Tönen ausleben. Das Libretto des Klerikers Giambattista Casti, eines Meisters spöttischer Dichtungen, gibt ihm die passende Vorlage. Der vom griechischen Schriftsteller Pausanias detailliert geschilderte Kult um das Orakel des Trophonius in Böotien war den in antiker Mythologie wohlgebildeten Kreisen der Opernbesucher bekannt.

Philosophische Dilettanten und Esoteriker

Casti spinnt dieses Wissen ein in eine Gesellschaftssatire, in der philosophische Dilettanten ebenso verspottet werden wie der damals weit verbreitete Spiritismus, der sich im Glauben an allerlei geheimnisvolle Naturkräfte, übersinnliche Erscheinungen und okkulte Machenschaften äußerte. Mozart hat in „Cosí fan tutte“ den damals verbreiteten Mesmerismus – eine Heilmethode mittels magnetischer Kräfte – parodiert; Salieri und Casti nehmen mit „elektrischen Dünsten, … die Nerven und Muskeln erschüttern …“, die Esoterik der Zeit aufs Korn. Bei ihnen ist der scharlatanische Zauberer Trofonio der Auslöser aller Verwirrungen: Zwei Paare, die sich schon gefunden haben, und ein Heiratspakt, natürlich nur von Männern besiegelt, geraten durch einen Besuch seiner Zaubergrotte gründlich durcheinander.

Der Gang durch die Höhle verändert die Persönlichkeit: So wird aus dem Verehrer Platons und Liebhaber antiker Philosophen Artemidoro ein leichtfertiger Spötter; aus Plistene, der sich in der Grotte lediglich ein pikantes Abenteuer mit einer Nymphe verspricht, ein vergeistigter Jüngling. Für die beiden Mädchen, die belesene Ofelia und die zu jedem Scherz aufgelegte Dori ist der Wesenswandel ihrer Bräutigame eine Katastrophe. Der Vater der beiden, schon durch seinen Namen „Aristone“ als idealer Charakter im Sinne einer graecophilen Aufklärung gekennzeichnet, versucht zu beschwichtigen. Vergeblich. Trofonio verwandelt schließlich die beiden jungen Männer zurück. Doch bevor sie ihre Bräute wiedersehen, geraten diese in die Grotte und werden zu Opfern des Zaubers.

Beim nächsten Treffen ist die Verwirrung komplett: Dori, auf einmal „Weisheit, Reife, Ernst“ suchend, kann mit ihrem flatterigen Plistene nichts mehr anfangen; Ofelia, ungeniert frech, setzt ihrem wieder würdevoll gewordenen Artemidor mit selbstbewusstem Spott zu. Die Rettung ist die Rückverwandlung seiner Töchter auf Bitten des verzweifelten Vaters. Trofonio besingt mit Pauken und Trompeten den Triumph seiner Zauberkünste. Zum guten Ende wird die unveränderliche, treue Liebe besungen und der Hexenmeister mit seinen geheimen Wissenschaften bleibt zurück.

Musikalische Anspielungen und Ironisierungen

Es ist wie bei Jacques Offenbach: Humor hat ein kurzes Verfallsdatum, und da wir Anspielungen, Ironisierungen, Parodien und Übertreibungen oft nicht mehr erkennen, erschließt sich der Sinn vieler seiner Buffonerien nur über die kulturelle Vermittlung einer verständigen Inszenierung. Auch Castis ungenierte Ironie braucht Vorwissen, um verstanden zu werden – sonst geraten die Konstellationen und Charaktere seiner Komödie ins Blässlich-Schematische.

Die Münchner Hofkapelle in Herne. (Foto: Thomas Kost)

Salieris Musik ist da ein Heilmittel: Die pathetischen Dreiklänge, der chromatische Abstieg der Melodielinie und die jähen Akzente der Ouvertüre lassen sich unschwer als Anspielungen auf die Tragödien Christoph Willibald Glucks (und Salieris eigene tragische Opern) verstehen. Das Allegro kommt beschwingt gassenhauerisch daher. Ein großer Auftritt Aristones erklärt mit einer Gleichnisarie die so unterschiedlichen Charaktere seiner beiden Töchter, spielt aber auch auf die beiden Flüsse Lethe (Vergessen) und Mnemosyne (Erinnern) an, die im Trophonius-Kult eine Rolle spielen. Nikolay Borchev erklärt die beiden Ströme aus einer Quelle mit ausladendem Bassbariton, während das Orchester das Wasser über die Steine springen und schäumen lässt.

Prägnante musikalische Charakterisierung

Maria Hegele bei der konzertanten Aufführung von Salieris „La Grotta di Trofonio“ in Herne. (Foto: Thomas Kost)

Auch die beiden jungen Damen sind musikalisch prägnant charakterisiert: Maria Hegeles Mezzsopran kleidet das sanfte Pathos der ernsten Ofelia in gepflegtes Singen, das sich auch in gerundeten Haltetönen und kunstvoller messa di voce bewährt. Später bringt sie, zu witziger Leichtlebigkeit verwandelt, ihre trällernden Frechheiten gekonnt über die Rampe. Mit frischem, hellem Timbre stellt Elisabeth Freyhoff die unbeschwerte Dori vor, die im zweiten Akt nach einer prachtvollen Arie in komischer Ernsthaftigkeit in gravitätische Tiefe hinabsteigt.

Jan Petryka darf nach den lautmalerisch durcheinanderzwitschernden Vöglein im Forst in breiter lyrischer Kantilene die erhabenen Empfindungen des Philosophen in Waldes Wonne besingen, während das Orchester im Mittelteil seiner Arie das Lärmen der Stadt imitiert. Für den galanten Schelm Plistene findet der bewegliche Tenor von Jorge Navarro Colorado den richtigen Ton. Erst in der zehnten Szene hat Jonas Müller als Trofonio seinen großen Auftritt und beschwört in unverkennbar ironisch getöntem Pathos die „unsichtbaren Geister“, bevor er den wissbegierigen Artemidor in seine Höhle lockt. Mit Pauken und Trompeten besingt er im zweiten Akt seine bleibende Zaubermacht.

Dirigent Rüdiger Lotter. (Foto: Thomas Kost)

Unter Leitung von Rüdiger Lotter zeigt sich die Münchner Hofkapelle nach unscharf artikuliertem Beginnen allen augenzwinkernden Wendungen und ironischen Spitzfindigkeiten von Salieris Musik gewachsen. Da lassen die Streicher die erhabene Lyrik triefen, lachen die Bläser über hochgestimmtes Philosophieren, ergießt sich das Orchester in edler melodischer Einfalt á la Gluck und kontrastiert sie mit leichtfüßigen Weisen aus der Buffa. Das Tempo und die Verwirrungen des ersten Finales weisen schon auf Rossini voraus; auch das Männerterzett im zweiten Akt – von Zeitgenossen gepriesen, aber auch für geschmacklos gehalten – ist mit seinem wiederholten „qua, qua, qua“ ein herrliches Beispiel sprachlich-musikalischen Slapsticks, wie wir ihn bei Rossini und Offenbach wiederfinden.

Bis zum 16. Dezember im Internet-Auftritt des WDR nachzuhören

Dass sich die Beschäftigung mit Antonio Salieri lohnt, hat diese Aufführung bei den „Tagen Alter Musik“ bewiesen. Der WDR hat damit vorbildlich seinen Kulturauftrag erfüllt und für das Salieri-Gedenkjahr einen wertvollen Beitrag geliefert. Denn ansonsten bleibt die Ausbeute zum 275. Geburtstag und 200. Todestag des Wiener Hofkapellmeisters mager, trotz der verdienstvollen Arbeit von Jürgen Partaj und seiner Initiative „SALIERI 2025“ in Wien, die etwa viele Schätze aus Salieris kirchenmusikalischem Schaffen zu Gehör gebracht hat.

Aber die europäische Opernszene nahm von den Jubiläen kaum Notiz. Nur in seiner Heimatstadt Legnago im Veneto gab es im Oktober eine szenische Aufführung von Salieris „Falstaff“; am Salzburger Landestheater setzten Alexandra Liedtke (Regie) und Carlo Benedetto Cimento (Dirigat) die fantastische Oper „Il Mondo alla Rovescia“ in Szene, in der in damals komischer Verdrehung die Frauen auf einer von einer Generalin beherrschten Insel die Macht haben.

Dass aus der Zusammenarbeit Salieris mit Giovanni Battista Casti außer der bekannten Theaterpersiflage „Prima la musica, poi le parole“ zwei weitere musikalische Satiren entsprangen, ist leider fast völlig unbekannt. Beide Opern durften aus Gründen politischer Opportunität nicht uraufgeführt werden und kamen erst im 20. Jahrhundert zu Bühnenehren: „Catilina“ (Darmstadt, 1994) ist eine makabre Abrechnung mit politischen Intrigen; „Cublai, gran Kan dei‘ Tartari“ (Würzburg, 1998) eine bissige Satire auf höfische Machtspiele. Auch die großen Tragödien Salieris wie „Les Danaïdes“ harren darauf, Jahrzehnte nach ihrer Wiederentdeckung wieder eine kritische Würdigung auf der Bühne zu erfahren.

Antonio Salieris Oper „La Grotta di Trofonio“ ist bis 16. Dezember im Internet nachzuhören: https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/konzert/audio-tage-alter-musik-in-herne–wiener-griechen-100.html




Dortmunder Jugendoper: Ein Zoo am Lager Buchenwald

Der Zoo, in Emine Güners Bühne ein trostloser Ort für den Pavian (Cosima Büsing), das Murmeltier (Wendy Krikken) und den Bären (Franz Schilling). (Foto: Björn Hickmann)

In einem Zoo lebt ein Nashorn. In einer Winternacht stirbt es plötzlich. Was war geschehen?

Vertrug das exotische Tier die Kälte nicht? Hatte es Heimweh? Das fragen sich ein Murmeltier und der kürzlich erst neu angekommene Bär. Oder hat das Nashorn „sein Horn zu tief in Angelegenheiten gesteckt, die es nichts angehen“, wie der Vater einer Pavian-Familie mutmaßt?

Den Zoo, den Komponist Edzard Locher und sein Librettist Daniel C. Schindler als Schauplatz für ihre Oper für junges Publikum ab Zwölf gewählt haben, den gab es wirklich. Er lag direkt am Zaun des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar. Der Lagerkommandant ließ ihn von den Häftlingen errichten; die Lagerbewacher und ihre Familien sollten sich dort entspannen. Alte Fotos zeigen, dass vom Tierpark aus Zaun und Lager sichtbar waren. Auch die Weimarer machten Ausflüge in den Zoo. Gewusst und gesehen haben sie natürlich nichts – ebenso wenig wie die Frau des Lagerkommandanten, die fröhlich Fotos schoss, auf denen die Baracken im Hintergrund zu erkennen sind.

Die Oper mit dem etwas umständlichen Titel „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ nennt weder den Namen Buchenwald noch den Begriff „Konzentrationslager“. In Anlehnung an ein erfolgreiches Schauspiel von Jens Raschke erzählt sie in knapp 90 Minuten eine Fabel. Der Blick auf den Ort des Grauens fällt aus der Perspektive der Tiere im Zoo. Bär, Murmeltier und Pavian erkennen „Gestiefelte“, denen es offensichtlich gut geht, und „Gestreifte“, denen übel mitgespielt wird. Sie gehen damit unterschiedlich um: Das Murmeltier schläft und vergisst, der Pavian will nichts wissen. Nur der Bär, der gibt sich nicht zufrieden: Er will herausfinden, was es mit dem Schornstein auf sich hat, aus dem so übelriechender, beißender Qualm dringt. Und er ist damit dem Schicksal des Nashorns, das er nie kennengelernt hat, auf der Spur. Sehr zum Missvergnügen des Pavians, der seine Angst vor den möglichen Folgen der Bärenaktionen laut herausschreit.

Mehr als Feigheit oder Zivilcourage

Locher und Schindler entwickeln aus der Fabel kein Zeitstück zur Geschichte der Grausamkeit im Nationalsozialismus. Sie schildern vielmehr in einer Parabel mögliche Reaktionen auf das Unsagbare: Wegschauen, Verdrängen, Verharmlosen, aber auch Courage, Wissensdurst, Entschlossenheit. Und sie entdecken im Verhalten der Zootiere die Angst, die in ihre Existenz hineinkriecht und den vermeintlich so geordneten und harmlosen Alltag vergiftet. Es sind Verhaltensweisen, wie sie Menschen an den Tag legen, die mit Unrecht, Unterdrückung, brutaler Gewalt konfrontiert werden. Schauen sie hin, fühlen sie mit, handeln sie? Oder machen sie die Augen zu, nehmen nichts wahr, ergeben sich ihrer Angst und ihren Ohnmachtsgefühlen? Da geht es um weit mehr als um Feigheit oder Zivilcourage.

Der Oper gelingt es, ohne expliziten Geschichts- oder Politikbezug, aber auch ohne belehrenden Zeigefinger zu fragen, wie wir uns verhalten – in einer Situation, in der sich die Spaltung der Gesellschaft und der Einfluss menschenverachtender Ideologien immer deutlicher abzeichnet. Für die Schülerinnen und Schüler, die bei der Uraufführung im „Operntreff“ des Dortmunder Opernhauses dabei waren, könnte das Thema bis in ihren Schulalltag reichen: Wo entdecken sie Ausgrenzung, wo versteckte oder offene Gewalt, wo Mobbing? Und wie reagieren sie?

Angst und Ignoranz

Die sensible Inszenierung von Stephan Rumphorst lässt die drei Tier-Darsteller mit ihrem nur halb verstehenden Blick auf das Lager der „Gestiefelten“ und der „Gestreiften“ die ganze Ratlosigkeit, Angst und Verdrängung ausdrücken, bis hin zu einer schmerzhaften, von einem Trommel-Exzess überdröhnten Panik-Attacke des Affen. Cosima Büsing, von Emine Güner mit rosa Wimpern und Gesäßtaschen behutsam als Pavian gekennzeichnet, spielt sich die Seele aus dem Leib, charakterisiert von schmeichelnder Kantilene bis zum schrillen Schrei die Seelenlagen ihrer Tierfigur.

Die „Bärenburg“ gab es tatsächlich im Weimarer Zoo. Emine Güner hat sie auf ihrer Bühne stilisiert nachgebaut. (Foto: Björn Heckmann)

Wendy Krikken reckt und streckt sich nach dem Winterschlaf in wohliger Ignoranz, auch wenn dem Murmeltier klar ist, dass „das Nashorn etwas gesehen hat“. Immerhin: Es nimmt sich vor, den gestorbenen Kumpel nie zu vergessen. Am Ende wird in einer Szene, die für Jens Raschke der Ausgangspunkt seines Stücks war, in einem poetischen Bild die Wahrheit über den Tod des Nashorns offenbart – in einer Schilderung, deren träumerische Magie über den Fabel-Realismus der Geschichte hinausreicht. Da ist der Bär (Franz Schilling, deutlich artikulierend und mit der Stimme gestaltend) schon mit jungenhaftem Elan aus seiner „Bärenburg“ ausgebrochen und Opfer seines Wissen-Wollens geworden.

Dass beschränkte Mittel starke Ergebnisse möglich machen, ist an der Musik von Edzard Locher abzulesen: Die atmosphärisch bedrückende, trostlos graue Bühne Emine Güners ist flankiert von zwei Schlagzeugbatterien, zwischen denen Sven Pollkötter hin und her eilt, um vom Vibraphon bis zum Gong Klangerzeuger jeglicher Machart zu bespielen. Charmant beginnt die Musik – unsichtbar von Olivia Lee-Gundermann dirigiert – mit melodischen Motiven, die jeweils einem Tier zugeordnet sind, sich aber im Verlauf des Stücks nicht als Leit- oder Charaktermotive vordrängen.

Musik verdichtet die Emotion

Der Autor der Schauspiel-Vorlage für die Oper, Jens Raschke, und (rechts) Komponist Edzard Locher. (Foto: Werner Häußner)

Lochers Musik schafft Stimmungen und stützt die Stimmen, die er meist wortfreundlich, in emotional hitzigen Situationen aber auch in extreme Höhen und Lautstärken führt. „Was das Nashorn sah …“ ist seine erste Arbeit für das Musiktheater, das der Komponist aus der Praxis gut kennt: Er ist seit 2016 Erster Schlagzeuger des Orchesters des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden und so mit dem Repertoire der Oper wohl vertraut. Im Nachgespräch nach der Uraufführung waren es junge Zuschauer, denen in der Musik die verdichtete, über das bloße Wort hinausführende Emotion auffiel.

Mit dieser Premiere einen Tag nach dem Gedenken an die Reichspogromnacht leistet die Junge Oper Dortmund einen eindrücklichen Beitrag zum Erinnern. Die Kunst spricht, wo die Zeitzeugen verstummen. Und das an einem Ort in Dortmund, der mit den Schrecken der braunen Jahre eng verbunden ist: Das Opernhaus steht an der Stelle der 1938 von den Nazis abgerissenen Synagoge.

Weitere Vorstellungen: 18., 21. November; 3. Dezember; 21. Januar; 5. Februar; 15. Mai; 17. Juni. Beginn jeweils 11 Uhr. Weitere Termine in Planung. Info: https://www.theaterdo.de/produktionen/detail/was-das-nashorn-sah-als-es-auf-die-andere-seite-des-zauns-schaute/




Groteske Sozialkritik im Asia-Restaurant: In Hagen startet eine neue Intendanz mit Peter Eötvös‘ „Der Goldene Drache“

Spielfreudiges Ensemble (von links): Nike Tiecke, Anton Kuzenok, Angela Davis, Kenneth Mattice, Ks. Richard van Gemert. (Foto: Leszek Januszewski)

Abschied und Neubeginn: Mit dem ehrgeizigen Projekt einer Uraufführung hat Intendant Francis Hüsers in Hagen noch einmal für einen Höhepunkt gesorgt. Auch sein Nachfolger Søren Schuhmacher bekennt sich zum Musiktheater der Gegenwart.

„American Mother“, die Oper der amerikanischen Komponistin Charlotte Bray, einfühlsam inszeniert von Travis Preston und vom Orchester unter dem ebenfalls scheidenden GMD Joseph Trafton auf makellosem Niveau gespielt, setzte einen tief bewegenden Schlusspunkt unter Hüsers achtjährige Intendanz.

Schuhmacher wird sich am 4. Oktober mit einem Klassiker, Verdis „La Traviata“, als Regisseur vorstellen. Seine auf fünf Jahre angelegte Intendanz eröffnet er jedoch mit Zeitgenössischem: „Der goldene Drache“ des im letzten Jahr verstorbenen Peter Eötvös stellt zugleich das neue Format „CloseUP!“ vor: Das Publikum darf auf die Bühne, sitzt auf drei Seiten um eine zentrale Spielfläche. Die vierte Seite, zum offenen Bühnenportal und dem leeren Zuschauerraum hin, besetzen die sechzehn Musiker des Orchesters.

Seit der Uraufführung 2014 in Frankfurt wird „Der goldene Drache“ häufig gespielt. Das liegt sicher auch an der perfekten Machart der Vorlage, einem Schauspiel von Roland Schimmelpfennig, das 2010 zum „Stück des Jahres“ gekürt wurde. Die Story dreht sich um einen jungen, illegal in einem Schnellrestaurant arbeitenden Chinesen mit wahnsinnigen Zahnschmerzen. Da er nicht zum Zahnarzt gehen kann, reißen ihm die Kollegen den kariösen Zahn mit einer Rohrzange. Der „Kleine“ verblutet; sein Leichnam wird in einen Fluss geworfen.

Lakonisches Erzählen und surreale Komödiantik

Wie Schimmelpfennig verbindet Eötvös sozialkritischen Realismus mit grotesken Zügen, verwebt in das Drama des „Kleinen“ die alte Fabel von der Grille und der Ameise. Sie wird zum schockierenden Gleichnis ausbeuterischer Abhängigkeit und sexuellen Missbrauchs. Kennzeichnend für die stark gekürzten Textfassung, die Eötvös in Absprache mit Schimmelpfennig für sein Musiktheater erstellt hat, ist das Ineinandergreifen von lakonischem Erzählen und surrealer Komödiantik, die einmünden in eine fantastische Übersteigerung am Ende, wenn der „Kleine“ als Toter übers Meer nach Hause schwimmt.

Der Monolog des toten jungen Chinesen ist das einzige ariose Innehalten in den gut 90 Minuten und sprengt die Erzählebenen. Wenn zuletzt der gezogene Zahn in einen Fluss gespuckt wird, erinnert die absurde Szene nicht nur an den von Eötvös geschätzten Samuel Beckett, sondern reißt einen transzendenten Horizont auf: Der junge Mensch und sein Zahn sind im Fließen des Wassers wieder vereint. „Der Zahn ist weg, als ob er nie dagewesen wäre“, ist der letzte Satz des Stücks.

Zwischen leichtfüßigem Boulevard und verstörender Intensität

In ihrer Inszenierung in Hagen bricht Julia Huebner den Strang des Erzählens auf, gibt den realistisch anmutenden Abschnitten in der beengten Küche des Asia-Restaurants einen verfremdenden Touch von überzogenem Boulevard, setzt die Fabel-Szenen der Grille durch eine Gondel und Live-Videos auf Distanz, lässt sie dadurch gleichzeitig verstörend eindringlich wirken.

Das Spiel der fünf Hagener Ensemblemitglieder, die in achtzehn Rollen schlüpfen, hat Züge des Impro-Theaters und wirkt leichtfüßig und überzogen, als käme es von der Bretterbühne eines Jahrmarkts. Die Kostümwechsel auf offener Szene (punktgenau karg von Iris Holstein) unterstreichen die Distanz vom naturalistischen Spiel und heben die Extreme und Kontraste hervor, auf die Eötvös abgezielt hat.

Mit der Musik von Peter Eötvös demonstrieren die Hagener Musikerinnen und Musiker, wie vertraut sie mittlerweile mit dem Idiom zeitgenössischer Klänge und Strukturen sind. Steffen Müller-Gabriel spornt an, wo es um rhythmische Pointen oder Klangakzente geht, dämpft aber ab, wo untergründiges Flüstern, dünnwandige Tongebilde und verhaltene Akkorde gefragt sind. Eötvös‘ setzt nicht auf Schärfe und Überwältigung, aber auch nicht auf süffiges Illustrieren. Er nimmt Anleihen bei Kabarett- und Operettenmusik, lässt dem Sprachrhythmus und dem verständlichen Wort stets den Vortritt. Wenn sich die Leichtigkeit verdichtet, bilden sich magisch schillernde Blasen luftigen Klangs.

Angela Davis in „Der Goldene Drache“, u.a. als Ameise. (Foto: Leszek Januszewski)

Das Hagener Ensemble mit Angela Davis, Anton Kuzenok, Richard van Gemert, Kenneth Mattice und der leichtstimmigen, ursprünglich aus dem Musical kommenden Sopranistin Nike Tiecke als „Kleinen“ findet die Balance zwischen Disziplin und Momenten grotesker Übertreibung. Ein gelungener Start in die neue Spielzeit, der hoffen lässt, dass Schuhmacher das bisherige Niveau in Hagen hält und durch neue Akzente bereichert.

Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/der-goldene-drache-1926/0/show/Play/




Auf der Suche nach einer geträumten Melodie: Marc L. Voglers „Klangstreich“ in der Jungen Oper Dortmund

Der Komponist Marc L. Vogler wuchs in Gelsenkirchen auf. (Foto: Christian Palm)

Finn ist nur eine kleine Note, aber mit einem großen Traum. Im Reich der Wünsche und Imaginationen hat sie eine wunderschöne Melodie gehört, die sie nicht mehr loslässt. Davon erzählt „Klangstreich“, eine Oper für Menschen ab vier Jahren, geschaffen von einem 27 Jahre alten Komponisten, uraufgeführt während des Theaterfestes als Auftragswerk der Jungen Oper Dortmund.

Eigentlich gehört die Note in ein Geburtstagslied; da springt sie einfach raus. Das Lied hat jetzt ein Loch. Aber die kleine Note Finn macht sich auf den Weg. Sie begibt sich auf die Suche nach ihrer eigenen, ihrer geträumten Melodie. Und dazu braucht sie Hilfe.

Marc L. Vogler, letzter Schüler von Manfred Trojahn, hat das Libretto von Dany Handschuh – nach dem Kinderbuch „Klangstreich – eine Note tanzt aus der Reihe“ von Inge Brendler – zu einem knapp 40-minütigen Capriccio für drei Sänger verarbeitet. Keine Instrumente, keine Begleitung, nur drei Stimmen: Eine kreative Herausforderung, die überraschend lebendig und farbig gelungen ist.

Vogler – nicht verwandt mit dem einst berühmten schwedischen Hofkapellmeister, Komponist und Musiktheoretiker Abbé Georg Joseph Vogler – hat bereits mit 17 in seiner Heimatstadt Gelsenkirchen als Pianist debütiert. Zwei Monate später, am 15. Januar 2016, kam seine erste Oper „Streichkonzert – Con brio ohne Kohle“ mit einem selbst verfassten Libretto auf die Bühne des Kleinen Hauses des Musiktheaters im Revier. Die Satire kam an; Vogler begann sein Studium bei dem ausgewiesenen Opernkomponisten Manfred Trojahn, gewann 2022 den Deutschen Musikwettbewerb und ist seither in allen musikalischen Genres gefragt und produktiv. In den Spielzeiten 2024/25 und 2025/26 ist Vogler Composer in Residence an der Oper Dortmund. Dort wurden bisher seine Opern „Marie Antoinette oder: Kuchen für alle“ und die Bürger:innenoper „Who cares?“ uraufgeführt.

Im Operntreff des Dortmunder Opernhauses, eine als variable Spielstätte genutzte ehemalige Cafeteria, lassen sich Kinder und ihre erwachsenen Begleitungen in einem kissengepolsterten Rund nieder. Anna Hörling hat die Bühne mit einfachen Requisiten für den mobilen Einsatz, etwa in Schulen, gestaltet: Als Schauplatz der Wanderung der Note Finn genügen ein mannshohes Metronom und ein Paravent mit abknickenden Notenlinien. Da stecken die drei Sänger ihre (Noten-)Köpfe durch und intonieren „Du hast heut‘ Geburtstag …“ Finn (Franz Schilling), schwarz-weiß mit Fliege und kurzer Pluderhose, macht sich auf den Weg: Eine Band probt, und Sängerin Wendy Krikken rockt mit der E-Gitarre, deren jaulende Glissandi und Tonpassagen von Cosima Büsing allein mit der Stimme nachgeahmt werden.

Weiter geht’s in ein Jazz-Café, wo ein – ebenso vokal imitiertes – Plüsch-Saxofon schmeichelt und ein Beatbox-Kontrabass den Rhythmus vorgibt. Aber die ersehnte Melodie bleibt aus: „Die wirst Du hier nicht finden“, bedeutet die Sängerin Antonia der kleinen Note. Wie Prinz Tamino in der „Zauberflöte“ geht Finn seinen Erkenntnisweg weiter, streift durch trocken auf Papier konservierte Musik und durch pseudo-bayerische Jodeljuchzer, bis sich endlich – schwebend, leuchtend, wunderschön – die gesuchte Melodie einstellt. Alle dürfen mitsingen; die Kinder im Publikum, vorher gebannt lauschend, überwinden endlich ihre Scheu vor fremdem Raum und unvertrauten Menschen, und sie machen mit.

Anspruch ist so hoch wie in der „großen“ Oper

Gerade die offene Neugier, das unverbrauchte Gehör und die unverbaute Auffassungsgabe von Kindern und Jugendlichen lässt sie vorbehaltloser als so manchen Klassik- oder Opern-Roué auf zeitgenössische Musik reagieren. Vogler macht keine Kompromisse, um sein Werk „leichter“, „fasslicher“ oder „zugänglicher“ zu gestalten. Er unterscheidet nicht, ob er für die „große“ Oper schreibt oder ob seine primäre Zielgruppe Kinder oder Familien sind. „Die Verantwortung, der Anspruch ist immer derselbe“, sagt der Komponist. „Die Liebe zum Detail, die Begeisterung für die stilistische Vielfalt ist bei einem Kinderstück gleich – wenn nicht noch höher. Denn Kinder sind gnadenlos ehrlich. Wenn ich es schaffe, ein Kinderpublikum mit Musik zu begeistern, dann weiß ich, dass da Qualität drinsteckt.“

Mit „Klangstreich“ wird dieser Anspruch eingelöst – unter erschwerten Bedingungen. Mit nur drei Stimmen, ohne jede Instrumentalbegleitung, die Spannung zu halten und musikalische Abwechslung zu garantieren, fordert von den drei Protagonisten, in jedem Moment präsent und konzentriert zu sein. Dazu kommt die Nähe zum Publikum. Franz Schilling, Wendy Krikken und Cosima Büsing schlüpfen gekonnt in ihre unterschiedlichen Rollen und setzen die polyphone und polystilistische Musik Voglers mit fabelhafter Intonation um. Ob Beatbox oder Kantilene, Geräusch, Gesang oder raffiniert verpacktes „Carmen“-Zitat: Die Drei harmonieren im besten Sinn des Begriffs und entfalten so eine Geschichte, die nicht nur unterhaltsam durch musikalische Genres streift. Die kleine Note Finn, die alleine nur für einen kläglichen Ton steht, findet erst in der Harmonie zu sich selbst und zu ihrem Traum. Wer will, mag darin auch eine berührende humane Botschaft entdecken.

Geplant sind bisher 14 Vorstellungen, zehn davon mobil, der Rest im Foyer des Opernhauses Dortmund. Das Stück ist für Schulen, Gruppen etc. mobil buchbar. Info: crschmidt@theaterdo.de

 




Zum Schunkeln und Mitsingen: „Carmen“ als Comic in Berlin

Szene aus „Carmen“ am Berliner Maxim Gorki Theater – mit (v. li.): Catherine Stoyan, Till Wonka, Lindy Larsson, Via Jikeli, Marc Benner. (© Foto: Ute Langkafel / MAIFOTO)

In einem pinkfarbenen, mit Rüschen verzierten und lässig über den Boden schleifenden Flamenco-Kleid bringt Carmen stolzen Schrittes und flammenden Blickes die zur Wachablösung versammelten Soldaten um den Verstand und die militärisch ohnehin ziemlich schlappe Parade völlig aus dem Tritt.

Die in zitronengelben Uniformen und mit kalkweißen Gesichtern wie computergesteuerte Wesen der Künstlichen Intelligenz fremdgesteuert herum zappelnden Soldaten haben nur noch Augen für die hünenhafte Drag-Queen, die da gerade im feinsten Fummel zur Mittagspause aus der Zigarettenfabrik schlendert und es auf José, den kleinen Kerl, abgesehen hat, der sich sichtlich unwohl fühlt in seinem knallgelben Outfit und mit ängstlichen Glupsch-Augen zu Carmen hinüber linst. Dass ausgerechnet diese von allen Machos umschwärmte Diva dem mickrigen Männlein erotische Avancen macht, ihm kokett eine Blume vor die Füße wirft und mit kräftigem Gesang davon trällert, dass die „Liebe bunte Flügel“ hat, erregt José, macht ihn fassungslos und zieht ihn in einen von Eifersucht und verletzter Männlichkeit beherrschten Liebesrausch, der, wir wissen es alle, tödlich enden wird.

Christian Weise bringt seine ganz eigene Sicht auf George Bizets „Carmen“ auf die Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters. Der Regisseur, der seit einigen Jahren auch am Nationaltheater Mannheim spielerisch und bildgewaltig, komödiantisch und musikalisch die Klassiker des Musik- und Sprech-Theaters zerfleddert, macht auch mit der 1875 in Paris uraufgeführten Oper das, was er immer macht: Er liest sie gegen den Strich, streut Fremdtexte ein, reibt sich an Klischees, zerstört tradierte Rollen und entwirft neue Identitäten.

Raus aus der alten männlichen Ordnung

Der Schwede Lindy Larsson, hoch gewachsener Schauspieler-Sänger und Abkömmling umherziehender Roma, schlüpft in die aufreizenden Kostüme der geheimnisvollen Carmen, die man einstmals diskriminierend als „feurige Zigeunerin“ bezeichnete und zur Projektionsfläche gefährlicher erotischer Versuchungen aufbaute: Wenn José sie in rasender Eifersucht tötete, war das zwar bedauerlich, stellte aber die alte männliche Ordnung wieder her.

Davon mag die von Christian Weise auserkorene Carmen nichts wissen. Lindy Larsson unterbricht immer wieder die sich erstaunlich nahe an Bizets Vorlage entlang schlingernde Handlung und setzt dann zu englischsprachigen Monologen an, erzählt von seinem Alltag als Roma und erklärt, sie sei es müde, seit 150 Jahren immer wieder alle Männer durch einen Märchenwald aus Liebe und Hass lotsen zu müssen und schließlich nur, weil sie ein freies, emanzipiertes Leben führen wolle, mit dem Messer abgestochen zu werden. Deshalb nimmt sie ihr Schicksal jetzt selbst in die Hand und erscheint zum blutigen Finale ganz in Schwarz. Sie wirkt wie eine Witwe, die ihren eigenen Tod schon betrauert, bevor sie ihn erleiden muss, fordert José auf, endlich sein Messer zu zücken und die ganze leidige Carmen-Show ein für alle Mal zu beenden.

Natürlich tut José, wie ihm geheißen. Er ist Wachs in Carmens Händen und fühlt sich erbärmlich in seiner Rolle. Kein Wunder: Er ist eine Frau, heißt mit bürgerlichem Namen Via Jikeli und ist eine wunderbar-wandelbare Schauspiel-Sängerin. Sie agiert linkisch wie Charlie Chaplin und singt herrlich-schräg und zittrig-schön. Fast könnte man bei all der parodistischen Verballhornung vergessen, dass einst Opern-Größen wie Maria Callas und Agnes Baltsa einer Carmen ihre silbrig schillernden Stimmen liehen, Enrìco Caruso und Placido Domingo als José brillierten.

Schnelle Lachnummern und Gassenhauer

Aber von „großer Oper“ hält Weise nicht viel. Seine Slapstick-Komödie zielt auf schnelle Lachnummern und einen bunten Unterhaltungs-Reigen. Deshalb schleppt auch der abgehalfterte Stierkämpfer Escamillo (Till Wonka) einen dicken Bierbauch durch die Gegend und muss immer wieder sein kerniges Trinklied „Auf in den Kampf“ wie einen fröhlichen Gassenhauer intonieren. Da möchten manche gern schunkeln und mitsingen. Oder mit Carmens Widersacherin Michaela (Riah Knight), die mit ihren bodenlangen Zöpfen aussieht wie Rapunzel und die Unschuld vom Land gibt, ein kesses Tänzchen wagen.

Musiker Jens Dohle (Schlagwerk, Vibraphon und Klavier) und seine beiden Mitstreiter (Cello, Kontrabass und Akkordeon) verwandeln Bizets komplizierte Arien und erotisierenden Duette in poppige Schlager, schleimige Schnulzen und schlüpfrige Chansons. Dazu passend gestalten Julia Oschatz und Felix Reime die Bühne zum Comic-Heft, in dem man lustvoll blättern kann. Auf die weißen Wände werden schwarze Wörter, Sätze, Skizzen und Regieanweisungen projiziert. Alles sehr komisch. Wie die ganze kurzweilige Bizet-Persiflage. Intellektuellen Mehrwert aber hat das ganze muntere Treiben eigentlich nicht.

Weitere Aufführungen am 17. und 18. Juni sowie am 11. Juli (jeweils 19.30 Uhr). Maxim Gorki Theater, Am Festungsgraben 2, 10117 Berlin. Kartentelefon: 030/20221115. www.gorki.de

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Zur Person

Christian Weise wurde 1973 in Eisleben geboren. Er studierte 1992-1996 Puppenspiel an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, arbeitete danach als Puppenspieler und Schauspieler. Seit 2002 ist er freier Regisseur, inszenierte in Stuttgart und Köln, Halle und Dessau, Düsseldorf und Darmstadt, Weimar und Berlin. Als Hausregisseur brachte er am Nationaltheater Mannheim u. a. „Die Räuber“ (2018) und „Die Möwe“ (2019) auf die Bühne, außerdem inszenierte er „Das Floß der Medusa (2021), „Was ihr wollt“ (2023), „Die Dreigroschenoper“ (2024) und für die 22. Internationalen Schillertage „Wilhelm Tell“ (2023).

 

 

 

 




Im Geniekult vergessen: Vor 200 Jahren starb der Komponist Antonio Salieri

Antonio Salieri auf einer um 1815 entstandenen Lithografie.

Er gehört zu den bedeutendsten musikalischen Figuren im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Aber die Nachwelt hat aus Antonio Salieri einen zweitrangigen Kleinmeister und Rivalen Mozarts gemacht. Noch in seinem Theaterstück „Amadeus“ – weltbekannt geworden durch Miloš Formans gleichnamigen Film von 1984 – benutzt Peter Shaffer die längst widerlegte Legende, Salieri habe Mozart mit Gift beseitigt.

Der Film erzählt, wie der Italiener das kindlich-amoralische Genie „Amadeus“ durch seelischen Druck langsam ums Leben bringt. Er will damit Gott seine Macht zeigen: Jenem Gott, der sich in Mozarts perfekter Musik offenbart. Ihn, Salieri, dagegen hat er dazu verdammt, als einziger zu erkennen, wie mittelmäßig seine eigenen Kompositionen in Wirklichkeit sind. Und das, obwohl sich Salieri Gott mit all seiner kreativen Kraft und einem moralisch einwandfreien Leben als Instrument der Offenbarung zur Verfügung gestellt hat.

Die Wirklichkeit ist weniger melodramatisch: Mozart und Salieri waren im Wien Josephs II. keine Konkurrenten und schon gar keine Gegner, im Gegenteil. Alle Äußerungen in den Quellen, die etwa von „Cabalen“ gegen die „Hochzeit des Figaro“ raunen, halten einer Überprüfung nicht stand. Mozart selbst berichtet in seinem letzten Brief an seine Frau Constanze, Salieri habe „Die Zauberflöte“ mit aller Aufmerksamkeit gesehen: „ … von der Sinfonie bis zum letzten Chor, war kein Stück, welches ihm nicht ein bravo oder bello entlockte.“ Salieri sorgte nach dem Tod Mozarts weiterhin für Aufführungen seiner Werke und Constanze gab ihren jüngsten Sohn Franz Xaver bei ihm in den Kompositionsunterricht. Feindschaft sieht anders aus.

Warum also die haltlosen Gerüchte, woher die Abwertung Antonio Salieris und die Schmähung seiner Musik als bedeutungslos? Da spielt der gerade in Deutschland gepflegte Geniekult des 19. Jahrhunderts eine gewichtige Rolle: Gegen den strahlenden Stern Mozarts hatten italienische „Kleinmeister“ keine Chance zu bestehen. Der antiitalienische Affekt des ersten Mozart-Biographen Franz Niemetschek tat ein Übriges: Das Genie wurde dem intriganten Haufen „verdienstloser Menschen“ und ihrem „welschen Geklingel“ gefährlich und entfachte den „Neid mit der ganzen Schärfe des italienischen Giftes“, unterstellt er.

So verschwanden Salieris rund 40 Opern von den Spielplänen. Bei seinem Tod am 7. Mai 1825 in Wien war er als Autorität hoch geachtet, als Komponist jedoch schon so gut wie vergessen. Seine Schüler Ludwig van Beethoven und Franz Schubert hatten ihn verdrängt, das Rossini-Fieber die Wiener Opernbühne geradezu ins Delirium versetzt. Aber seine pädagogische und organisatorische Arbeit wirkte nach: Der Pianist Karl Czerny gehört zu seinen Schülern, der Komponist Joseph Leopold von Eybler, ebenso Johann Nepomuk Hummel und der Franzose Ferdinand Hérold. Er nahm Franz Schubert unter seine Fittiche. Salieri unterrichtete Größen wie Giacomo Meyerbeer, der zu den einflussreichsten Opernschöpfern des 19. Jahrhunderts gehört, Simon Sechter, den Lehrer Anton Bruckners, und in seinen letzten Lebensjahren den jungen Franz Liszt. Er war 1823 an der Gründung des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien beteiligt. und bildete zahlreiche exzellente Sänger aus, so auch Mozarts „geläufige Gurgel“ Catarina Cavalieri.

Erst in den letzten Jahrzehnten sind die Werke Salieris wieder entdeckt worden, seit 1975 sein „Falstaff“ in Verona wieder aufgeführt wurde. Seine erfolgreichen Pariser Opern in der Nachfolge Christoph Willibald Glucks („Tarare“, „Les Danaïdes“) ließen die Eigenart seiner Kompositionsweise einem staunenden Publikum vor Augen treten: Salieri bleibt stets nahe am Text, deutet lebhaft, farbig und dramatisch dicht die Aussagen des Librettos aus. Nicht umsonst haben Kapazitäten wie Cecilia Bartoli  Salieris Musik für sich entdeckt. 2004 sang Diana Damrau eine der extrem anspruchsvollen Sopranpartien von Saliers „L’Europa riconosciuta“ anlässlich der Wiedereröffnung des renovierten Mailänder Teatro alle Scala. Das innovative, bei der Uraufführung enthusiastisch gefeierte Werk erklang 1778 zur Eröffnung der Scala zum ersten Mal.

Salieris Freude an der Textdeutung kommt seinen satirischen Werken zugute – eine Facette, die Mozart kaum gepflegt hat: Die aus politischen Gründen unaufgeführt gebliebene Oper „Cublai, großer Khan der Tartaren“ („Cublai, Gran kan de‘ Tartari“) erwies sich bei ihrer Entdeckung 1998 am Theater Würzburg als beißender Spott auf beschränkt-gefährliche Machthaber, manipulative Priester und Erzieher, intrigante Hofschranzen und eitle Liebhaber. In dieser Produktion sang Diana Darmau die Rolle der persischen Prinzessin Alzima. Eine ähnliche politische Satire, „Catilina“, konnte erst 1994 in Darmstadt uraufgeführt werden.

Derzeit in Salzburg zu erleben ist eine Rarität aus der Feder Antonio Salieris: „Il mondo alla rovescia“ („Die verdrehte Welt“). Hier ein Szenenfoto mit Luke Sinclair, Alexander Hüttner und dem Unterstimmenchor. (Foto: SLT/Tobias Witzgall)

Zum Salieri-Jubiläum 2025 – zu feiern ist am 18. August auch der 275. Geburtstag des italienischen Meisters – veranstaltet seine Heimatstadt Legnago eine Serie „Salieri 200“ mit Konzerten und einer Aufführung von „Falstaff“. In Legnago verlebte der Kaufmannssohn die ersten 16 Jahre seines Lebens, bis er 1766 vom Komponisten Florian Leopold Gasmann in Vendig entdeckt und nach Wien mitgenommen wurde, wo er ab 1774 als Kammerkompositeur und Kapellmeister der italienischen Oper wirkte .

In Wien steht Salieris Gedenkjahr im Schatten des Johann-Strauß-Jubiläums. Dennoch bietet eine Initiative „Salieri 2025“ zahlreiche Veranstaltungen wie Vorträge, Symposien, Konzerte mit seiner Musik und der seiner Schüler sowie ein Opernprojekt zur Satire „Prima la musica, poi le parole“ an. In Salzburg zeigt das Landestheater noch bis 27. Mai „Il Mondo alla Rovescia“ („Die verdrehte Welt“), ein absurdes Spiel um Geschlechterrollen und -identitäten.

https://www.salieri2025.at/
https://teatrosalieri.it/salieri200/
https://www.salzburger-landestheater.at/de/produktionen/die-verdrehte-welt-il-mondo-alla-rovescia.html?m=535




Wachsendes Interesse an Musik von Frauen: Warum der Weg ins Repertoire verwehrt blieb und was sich heute ändern muss

Zur „Wiederentdeckung des Jahres“ kürte das Fachmagazin „Opernwelt“ Louise Bertins Oper „Fausto“, die am Aalto Musiktheater im vergangenen Jahr ihre deutsche Erstaufführung feiern konnte. Jetzt war das Stück erneut in Essen zu erleben, mit Mirko Roschkowski (Fausto, rechts) und Almas Svilpa (Mefistofele). (Foto: Froster)

Komponierende Frauen gibt es, seit es die europäische Kunstmusik gibt, nur ist ihnen die Beachtung über den Tag hinaus versagt geblieben. Erst in jüngster Zeit gelingt es Komponistinnen, dauerhaft im Blick der musikalischen Öffentlichkeit zu bleiben. Die vor wenigen Tagen verstorbene Sofia Gubaidulina ist eine von ihnen, oder die Finnin Kaija Saariaho, die 2023 gestorben ist und deren letzte Oper „Innocence“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen eine großartige deutsche Erstaufführung erlebt hat.

Für das Defizit gibt es vielerlei Gründe, die nicht in der Qualität der Musik liegen: Im 19. Jahrhundert etwa waren Frauen wie die Italienerin Orsola Aspri (um 1807-1884) selbstverständlicher Bestandteil des römischen Operngeschäfts, wie die Wiener Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld festgestellt hat. Warum Werken von Frauen den Weg ins historische Repertoire verwehrt wurde, hat gesellschaftliche und ideologische Gründe: eine männlich geprägte Presse, männliche Träger der Überlieferung und der Wissenschaft, schließlich auch der „Geniekult“ des 19. Jahrhunderts, für den ein auf Augenhöhe komponierendes „schwaches Weib“ undenkbar war.

In den letzten Jahren wächst das Interesse an dem, was Frauen hinterlassen haben. Bevor die Qualität ihrer Musik einem nach heutigen Kriterien fundierten Urteil unterworfen werden kann, muss sie erst einmal entdeckt und gehört werden. Denn noch so sorgfältige Editionen, noch so detaillierte musikhistorische Vergleiche nützen nicht viel, wenn sie nur zum Rascheln von Papier führen.

Merle Fahrholz bei der Pressekonferenz zu ihrer Vorstellung als neue Essener Intendantin 2021. (Foto: Werner Häußner)

Merle Fahrholz, die 2022 angetretene und 2027 schon wieder scheidende Intendantin des Aalto-Theaters Essen hat sich dieses Themas schon als Dramaturgin in Dortmund angenommen und für ihre Intendanz die Sicht- bzw. Hörbarkeit der Stimmen von Frauen zu einem programmatischen Schwerpunkt erklärt. Dass ein solches Projekt beim eher vorsichtig-traditionell geprägten Essener Publikum nicht gleich auf heftige Gegenliebe stößt, müsste auch den Verantwortlichen klar gewesen sein, die Fahrholz ihr Vertrauen geschenkt haben. Dass es nun ab 2027 wohl wieder weitergehen könnte, wie gehabt, ist bedauerlich.

Ein französischer „Faust“

Dabei ist nicht recht einzusehen, warum eine Oper wie Louise Bertins „Fausto“ – 2023 in deutscher Erstaufführung auf die Aalto-Bühne gebracht – auch bei einem eher das Gewohnte liebende Publikum nicht auf Gegenliebe stoßen sollte. Die Französin Bertin, eine körperlich beeinträchtigte junge Frau, die von ihrem Vater in jeder erdenklichen Weise gefördert wurde, konnte immerhin drei ihrer vier Opern auf Pariser Bühnen unterbringen – und der Konkurrenzdruck war um 1830 riesig!

Die Essener Aufführung in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca, die im Februar noch einmal für eine kleine Serie wieder aufgenommen wurde, zeigt Bertins Eigenheiten im Umgang mit dem Stoff: Sie benutzt andere Quellen als Goethe und schildert einen Faust, der einem unerreichbaren Glück hinterherjagt und dafür bereit ist, die Existenz der jungen Margarita zu zerstören. Die Menschen in diesem Stück sind wankelmütig, manchmal zynisch, aber auch den Zwängen ihrer Gesellschaft unterworfen. Für die Mädchen etwa ist die Liebe Segen und Fluch zugleich: Sie sehnen sich nach Beziehung, wissen aber auch, wie ambivalent die Ehe als einzige akzeptierte gesellschaftliche Form sein kann. Und Mephisto ist bei Bertin eher ein Kommentator, der sich wundert, wie die Menschen sich ihr Glück und Leben selbst zugrunde richten.

Komponistin Louise Bertin. (Foto: Bru Zane Mediabase)

Das ist ein Stoff, der unter den Libretti bekannter Opern problemlos mithalten kann. Und die Musik? Bertin ist sich ihrer Mittel bewusst. Sie kennt den „Tonfall“ ihrer Zeit: Kantilenen á la Donizetti, Buffoneskes nach Art Rossinis, dazwischen Lyrismen, die aus dem Zauberkasten der erfolgreichen Opern Daniel François Esprit Aubers stammen könnten. Aber der Ton ist auf eine charmante Weise eigen, das Eklektische in der Musik hat seinen Platz. Man spürt, dass es dieser komponierenden Frau ums Ganze geht.

Blick in die Vergangenheit reicht nicht

Den Blick nur in die Vergangenheit zu richten, wäre eine halbe Sache: Frauen gehören in der zeitgenössischen Szene zwar vorbehaltlos dazu. Eine „Quote“ wäre auch abwegig und würde ihrer Musik einen Stempel aufdrücken, der ihr nicht bekommt. Gespielt werden soll, was gut ist. Aber neue Stücke müssen sich durchsetzen – und das bedeutet, dass eine Uraufführung hier und da zwar dienlich, aber nicht nachhaltig ist.

Das Fahrholz-Team weiß das, und hat für eine deutsche Erstaufführung die Oper „The Listeners“ der Amerikanerin Missy Mazzoli nach Essen geholt. Ein Werk, das den Stand des Komponierens in den USA anschaulich repräsentiert. „Accessible and surprising“ beschreibt Mazzoli ihre Absicht, mit ihrer Musik Menschen zu erreichen, ohne Kompromisse in der Qualität zu machen. Bei ihr stehen nicht Form und Struktur im Vordergrund, sondern der Klang, den der Essener GMD Andrea Sanguineti „eine Umarmung“ genannt hat.

Szene aus der Deutschen Erstaufführung von Missy Mazzolis „The Listeners“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Alvise Predieri)

„The Listeners“ ist ein ambivalenter Titel: Es geht um Menschen, die einen Brummton hören, der nicht von innen kommt und als Teil der Außenwelt feststellbar ist. Claire bricht – von diesem Ton gepeinigt – aus ihrer geordneten Lehrerinnen- und Familienwelt aus. Sie schließt sich mit Kyle, einem ihrer Schüler, der den „Hum“ auch hört, einer Selbsthilfegruppe an, die immer deutlicher sektenähnliche Züge zeigt. Schließlich entlarvt Claire den charismatisch-manipulativen Führer Howard und wird selbst zur Anführerin der Gruppe der „Hörenden“. Ein offenes Ende, denn Claire hat sich zwar von ihren bisherigen Rollenzwängen befreit, ob sie aber die Gruppe in eine bessere Zukunft führt, ist fraglich.

Manipulation und Befreiung

Das Thema des Librettos nach einer Erzählung von Jordan Tannahill lässt unterschiedliche Verständnisfacetten zu: Es schildert typische Mechanismen einer Sektenbildung und die Dynamik einer Manipulation, wie sie etwa bei Scientology beobachtet wurde. Aber es rückt auch den Entwicklungsprozess einer Frau ins Zentrum, die zu ihrer eigentlichen Bestimmung durchbricht. Die vieldeutige Figur eines Koyoten, dargestellt von einem Tänzer, eröffnet zusätzliche Horizonte, wenn man die Rolle des Tieres in der amerikanischen Mythologie einbezieht oder in ihm ein Symbol von „Wildheit“ oder „Natur“ erblickt. Anna-Sophie Mahlers Inszenierung hat diese Aspekte von Mazzolis Oper anklingen lassen, ohne sich zu sehr festzulegen.

Zur letzten Vorstellung von „The Listeners“ stellt sich im Rahmen des Festival „her:voice“ die extra angereiste Komponistin Missy Mazzoli den Fragen des Publikums. (Foto: Werner Häußner)

„The Listeners“ ist auch beachtenswert, weil es gelingt, einen zeitgenössischen Stoff ohne literarische Vorbilder oder historische Bezüge auf die Bühne zu bringen. Das erreichte auch Kaija Saariahos „Innocence“, zu der die finnische Librettistin Sofi Oksanen die Grundlage geliefert hat. Auch hier geht es um Gegenwärtiges: Zehn Jahre nach einem Schulmassaker müssen sich die Familie und die Schulfreunde des Amokschützen ihren Erinnerungen, ihren Gefühlen und auch ihrer Mitschuld stellen. In der Regie von Elisabeth Stöppler und der musikalischen Ausdeutung durch Valtteri Rauhalammi gelang ein erschütternder Abend im Musiktheater. Derzeit wird das Werk auch an der Semperoper Dresden in einer Inszenierung von Lorenzo Fioroni gezeigt.

Für die Amerikaner ist das „well made play“ ein wichtiges Kriterium für ein Stück – ein Konzept, das von manchen von Intellekt triefenden Libretti der deutschen Opernszene weit entfernt ist. Mazzolis Librettist Royce Vavrek gehört zu den am meisten gefeierten Musiktheater-Literaten der USA. Warum, war nicht nur in „The Listeners“ erfahrbar: Die Oper „Dog Days“ etwa, die er mit dem Komponisten David T. Little 2012 geschaffen hat, war in Bielefeld, Schwerin und Braunschweig zu sehen und hat in ihrer dystopischen Rätselhaftigkeit den Ruf Vavreks bestätigt. Für die „New York Times“ hat die Oper das Zeug zum „bahnbrechenden amerikanischen Klassiker“.

Kammermusik und Symphonik

Viel mehr noch als für die Oper haben Frauen im Bereich der Kammermusik geleistet. Sie waren entweder selbst ausübende Musikerinnen wie Clara Schumann, Sängerinnen wie Pauline Viardot-Garcia, oder hatten die private Sphäre eines Salons als Plattform, um sich als Komponistin zu zeigen. Wie diese Werke klingen, war in Essen beim zweiten Komponistinnenfestival „her:voice“ hörbar: In einem Kammerkonzert erklang Musik von Alma Mahler-Werfel, die derzeit auch im Essener Museum Folkwang in einer Ausstellung („Frau in Blau – Oskar Kokoschka und Alma Mahler“) präsent ist. So gut wie unbekannt sind ihre Zeitgenossinnen Evelyn Faltis (1887-1937) und Mathilde Kralik von Meyerswalden (1857-1944).

Alma Mahler stand auch beim Symphoniekonzert der Essener Philharmoniker im Zentrum: Bearbeitet für Alt und Orchester von Jorma Paula, erklangen fünf ihrer Lieder, die erhalten sind, weil sie der begeisterte Gustav Mahler im Druck erscheinen ließ. Es sind lyrische Miniaturen, durchtränkt von spätromantischer Melancholie, in denen sich Liebende im weiten Wald in sternlosem Dunkel finden und im düsteren Nebel ein Kindermund ein „Lichtlein“ aufgehen lässt. Bettina Ranch sang die Kostbarkeiten, gestützt von der gekonnt revitalisierten romantischen Orchestersprache, eher auf Klang als auf Deklamation bedacht mit weich strömenden Vokalen und Brokatschimmer im Timbre.

Auch im Falle der Symphonik wirkt in der Entstehung des „Kanons“ von Beethoven bis Bruckner und Mahler ein analytischer Filter mit: Relevant und anerkannt ist, was gattungsgeschichtlich Neues mit sich gebracht hat. Zu den nicht wenigen Symphonien, die diesen Anspruch nicht erfüllen, aber dennoch satztechnisch tadellose, abwechslungs- und einfallsreiche Musik bieten, gehören nicht nur Werke komponierender Frauen. Auch Symphoniker wie Charles Gounod oder Louis Théodore Gouvy ereilte das Schicksal einer – zudem nationalistisch gefärbten – Nichtbeachtung. Wie viel schwerer haben es in solchem Ambiente komponierende Frauen wie Emilie Mayer (1812-1883), Louise Farrenc (1804-1875) oder Charlotte Sohy (1887-1955) mit ihrer einzigen Symphonie.

Einfallsreich und professionell

Wer die Werke hört, die sich allmählich in Konzertprogrammen durchsetzen, kann nur bedauern, wie solche einfallsreichen und professionellen Arbeiten einfach verschwinden konnten. Sohys cis-Moll-Sinfonie „La grande guerre“, geschrieben 1914-1917, erstmals aufgeführt 2019, ist nur bedingt dazu zu zählen. So eindrucksvoll die gedrückte Stimmung des Beginns ist, so gekonnt sie Melodien ausbreitet und im zweiten Satz „vif“ Scherzo-Anklänge einführt: Die Instrumentierung ist stets dick, Kontraste fehlen und dem Hörer fällt es schwer, thematische oder strukturelle Fixpunkte zu erkennen – zumal die Essener Philharmoniker unter der sich wacker durchschlagenden Düsseldorfer Kapellmeisterin Katharina Müllner nicht zur gewohnten plastischen Durchzeichnung der dichten Gewebe finden. Da fällt der Kontrast zur Musik einer souveränen Könnerin drastisch aus: Kaija Saariahos „Ciel d’Hiver“ ist ein Meisterstück feinster fragiler flimmernder Klänge, in dem die Essener Philharmoniker zeigen, wie gut sie ihre solistischen Passagen untereinander abstimmen.

Überzeugender wirkt, was der Dirigent Jakob Lehmann vor einiger Zeit in Köln mit dem Concerto Köln aus Frauenfeder präsentiert hat: Louise Farrenc (1804-1875) ist in den Jahren 1845 bis 1849 mit drei Sinfonien hervorgetreten, die allen Maßstäben ihrer Zeit standhalten können. Auch ihre in Köln erklungene Es-Dur-Ouvertüre op. 24 aus dem Jahr 1834 ist ein mitreißendes Werk, vom düsteren Don-Giovanni-Pathos der Einleitung, über die einprägsame Thematik des Allegro bis zur gekonnten Finalwirkung. Man hört eine abwechslungsreiche Instrumentierung und aparte melodische Erfindung. Auch Emilie Mayers viersätzige Sinfonie Nr. 7 in f-Moll von 1856 kann mühelos mithalten: eine regelgerechte, dennoch nicht unoriginelle Sonatenform im Kopfsatz, ein farbenreicher Gesang im Adagio, der sich im Blech hymnisch erhebt, ein Scherzo mit rhythmischem Pep und einigen Überraschungen und ein energisches Finale. Das ist Musik, die man gerne wieder hört.

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Im Januar 2027 plant das Aalto-Theater Essen die Uraufführung der Oper „Day of Night“ der finnischen Komponistin Outi Tarkiainen. „Day of Night“ ist eine Koproduktion des Aalto Musiktheaters und der Finnish National Opera, wo die Oper dann im Herbst 2027 gezeigt wird. „Day of Night“ basiert auf dem gefeierten Debütroman „Halla Helle“ von Niillas Holmberg. Das Buch setzt sich den in Nordskandinavien beheimateten Sámi, dem einzigen indigenen Volk Europas, auseinander, dem Holmberg selbst angehört. Der finnisch-französische Autor Aleksi Barrière hat aus dieser Vorlage ein packendes Opernlibretto geschaffen. Intendantin Merle Fahrholz schreibt dazu: „Die Oper thematisiert den Wandel einer Region hinsichtlich Natur und Industrie, der sich auch im Ruhrgebiet beobachten lässt.“




Ein Prinzip wird Gestalt: Ilaria Lanzino deutet Mozarts „Don Giovanni“ in Dortmund als zeitlose Figur

„Don Giovanni“ in Dortmund: Gleich umzingeln die Schlangen eines Medusenhaupts den Titelhelden (Denis Velev); sein Kumpan Leoporello (Morgan Moody, rechts) ist fassungsloser Zeuge des unheimlichen Geschehens. (Foto: Björn Heckmann)

Ein großbürgerlicher Wohnsalon. Eine Dame sitzt da und langweilt sich, während nebenan im Raucherzimmer zwei Herren angeregt parlieren, offensichtlich der Komtur und Don Ottavio. Es ist zu vermuten, dass da die Konditionen der Verheiratung verhandelt werden.

Die Frau ist dabei nicht gefragt. Mit Staunen blickt sie auf einen Mann im Kostüm eines Kavaliers des 18. Jahrhunderts. Doch die Faszination weicht rasch nacktem Entsetzen: Donna Anna wird auf dem Tisch vergewaltigt.

Don Giovanni bricht in diese Welt ein wie ein Anachronismus, ein Dämon aus der Vergangenheit zwischen all die Menschen, die Emine Güner an der Oper Dortmund in Kleider von heute gesteckt hat. Mal scheint es, als bleibe ihnen der Held der Oper unsichtbar, mal reagieren sie auf ihn wie auf eine Erscheinung. Für Ilaria Lanzino ist dieser Kontrast eines der Mittel, mit denen sie in ihrer Regie am Opernhaus Dortmund Don Giovanni einer konkreten Individualität entkleidet. Er ist ein Gestalt gewordenes Konzept, eine Unperson. Eine Metapher des Bösen, das sich im Gewand einer schrankenlosen Männlichkeit zeigt.

Hier geht es nicht mehr um Moral, Schicklichkeit oder Standesehre. Lanzino deckt auf, wie dieses aus der Vergangenheit überkommene Konzept einer rücksichtslosen, gewalttätigen, aber auch getriebenen Übergriffigkeit Frauen aus drei Generationen beschädigt. Sie bleibt dabei nahe am Stück und nahe an der Musik. Und sie offenbart, was vordergründige Deutungen, die sich an Erotik oder Sexualität abarbeiten, nicht einholen können: Don Giovanni ist bei Mozart und Lorenzo da Ponte kein bloß viriler Verführer. Er ist die Verkörperung eines Prinzips, ein Widersacher jeder Humanität. Eine Macht, die erst gestoppt wird, als sie die Übermacht des Transzendenten herausfordert.

Ohne Moral: Das Ende einer metaphorischen Figur

Lanzino verfällt in der letzten Szene aber nicht auf die vordergründige Lösung, die Power der Frauen-Solidarität von Anna, Elvira und Zerlina über die besoffene Männerhorde siegen zu lassen, die sich zum finalen Gastmahl versammelt. Die Stimme des Komturs tönt aus einem riesenhaften Medusenhaupt, dessen Schlangenhaare Don Giovanni umzingeln und verschwinden lassen. Die Lösung braucht die offene Perspektive des Mythos; in der konkreten Welt finden Leporello und Donna Elvira, zwei geschundene Opfer Don Giovannis, als Paar zueinander. Auch Ilaria Lanzino beendet – wie Roland Schwab in seiner tiefsinnigen Berliner Inszenierung – die Oper wie die Romantiker des 19. Jahrhunderts ohne das abschließende Sextett. Das Ende einer metaphorischen Figur entzieht sich der Moral.

Ihr Konzept will Lanzino durch eine detailreiche Durchzeichnung der Personen verdeutlichen. Frank Philipp Schlößmanns Bühne eröffnet dafür konkrete Raum-Orte: die vornehme Wohnung Donna Annas und Don Ottavios, ein Jugendzimmer mit Herzchen-Luftballons für Zerlina, in dem als Bild an der Wand allerdings schon das Gorgonenhaupt des Finales zu erkennen ist. Und für Donna Elvira ein Badezimmer, in dessen Wanne sie sich die Beine rasiert. Don Giovannis Sphäre dagegen ist von einer schwarzen, schräg nach hinten gekippten Neonröhren-Wand gekennzeichnet – ein undefinierbarer, mythischer Ort.

Nicht immer gehen die szenischen Chiffren so auf wie diejenige eines blauen Tuchs, das Donna Anna zunächst fasziniert ihrem Verführer überreicht – Blau als Farbe der Romantik? – und an dem sie ihn später wiedererkennen wird. Dass Donna Anna schwanger ist und später ein Baby mit sich trägt, fügt der Figur keine entscheidende Facette hinzu. Auch Donna Elvira ist als ältere, offenbar an ihrer schwindenden äußerlichen Attraktivität leidende Frau mit furiosen Zügen ziemlich verzeichnet. Dass sie ähnlich wie Leporello eine Liste führt, signalisiert eine Beziehung zwischen den beiden, die bis zum Finale verdichtet wird, ohne dass sie zu mehr Klarheit über die Personen beiträgt. Überzeugender ist, wie der Mythos mittels einer Horde von Männern trivialisiert wird: In der finalen Szene stimmen sie – ausgelassen das Mahl Don Giovannis mitfeiernd – ein, als Mozart im Orchester das Zitat aus „Le Nozze di Figaro“ erklingen lässt; fassungslos erkennt Zerlina, dass auch Masetto demonstrativ in der Schar der Möchtegern-Don-Juans mitmacht.

Ohne Romantisierung: Musik in striktem Tempo

Musikalisch führt George Petrou am Pult die Dortmunder Philharmoniker durch einen „Don Giovanni“ ohne Überraschungen. Manchmal fehlt es an Trennschärfe und Konzentration. Düsteres Moll wird nicht romantisiert. Anklänge an zu Mozarts Zeit schon „alte“ Musik, wie sie etwa Donna Elvira begleiten, wirken angemessen rhetorisch. Die Ensembles machen Freude, weil sie in den Tempi strikt, aber nicht steif, in der Gliederung durchsichtig, aber nicht konstruiert klingen.

Bei den Sängern wünscht man sich den Feinschliff, mit dem zum Beispiel die Streicher des Orchesters ihre Töne formen. Denis Velev fühlt sich als Don Giovanni am wohlsten, wenn er mannsbildhaft mit vollem Sound protzen kann; für die eleganten, verführerischen Töne des Duetts mit Zerlina („La ci darem …“) und die Canzona „Deh, vieni alla finestra“ ist sein Bass nicht geschaffen. Sein unfreiwilliger Kumpan Leporello wird von Morgan Moody anfangs eher üppig als schlank, später mit angemessen buffonesken Zügen gesungen. Sein Herr hat deutlich auf ihn abgefärbt – das Rot des Jackettfutters signalisiert es –, aber im Wettstreit mit der Aura Don Giovannis kann er als Mensch aus Fleisch und Blut nur den Kürzeren ziehen. Sungho Kim bleibt trotz seines feinfühlig geführten Tenors als Bühnenerscheinung noch blasser, als es die Rolle selbst vorsieht. Imposant, aber ein Riese auf wackligen Beinen: Artyom Wasnetsov als stimmstarker Komtur.

Anna Sohn kann als Donna Anna ihren zuverlässigen, rund und klangvoll gebildeten Sopran zeigen, kommt an technische Grenzen, läuft aber in der Arie „Non mi dir, bell’idol mio“ zu großer Form auf. Tanja Christine Kuhn kann als Darstellerin eindrücklicher überzeugen als mit ihrer überforderten Stimme, die immer wieder stumpf und nicht ausreichend in den Raum projiziert wirkt. Sooyeon Lee spielt als Zerlina den Soubretten-Liebreiz aus, der mit dem frischen Bariton ihres Masetto, Daegyun Yeong, bestens harmoniert.

Letzte Vorstellung am 15. März. Tickets unter www.theaterdo.de und telefonisch unter (0231) 50 27 222.




Die Zähne des Haifischs: Vor 125 Jahren wurde der Komponist Kurt Weill geboren

Kurt Weill (li.) und Bert Brecht. (Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau)

Ernste Musik? Unterhaltungsmusik? Dieser Unterscheidung gab es für Kurt Weill nicht. Für ihn gab es nur „gute und schlechte Musik“. Verwirklicht hat er dieses Konzept, mit dem er die Grenzen zwischen „hoher“ und „populärer“ Kunst niederriss, 1928 mit dem Sensationserfolg der „Dreigroschenoper“. Gemeinsam mit Bertolt Brecht schuf der 28-Jährige dieses Meisterwerk des musikalischen Theaters, das zu den größten Bühnenerfolgen des 20. Jahrhunderts gehört.

Von Anhalt an den Broadway

Der am 2. März 1900 geborene Sohn des Kantors der jüdischen Gemeinde in Dessau ging diesen Weg nicht freiwillig. Schon 1933 floh er vor den Nazis nach Paris; zwei Jahre später emigrierte er mit seiner Frau Lotte Lenya in die USA. Weill gelang es, jenseits des großen Teichs Fuß zu fassen. Er tauchte tief in die amerikanische Kultur ein, wollte ein durch und durch „amerikanischer“ Komponist werden. Ab 1936 baute er eine stetige Musical-Karriere auf, die von „Johnny Johnson“ über die Erfolgsstücke „Lady in the Dark“, „A Touch of Venus“ und „Street Scene“ bis zu seiner „musikalischen Tragödie“ mit dem Titel „Lost in the Stars“ 1949 führt. Über der Arbeit zu einem Musical nach Mark Twains „Huckleberry Finn“ erlitt Weill einen Herzinfarkt, an dessen Folgen er vor rund 75 Jahren, am 3. April 1950 starb.

Prägende Zeit in Lüdenscheid und Berlin

Weills musikalische Entwicklung begann früh: Schon in der Schulzeit in Dessau schrieb er erste kleine Kompositionen und betätigte sich als Liedbegleiter. Mit achtzehn Jahren ging er nach Berlin und studierte u.a. Komposition bei Engelbert Humperdinck. Seine Suche nach Neuem hätte ihn beinahe zu Arnold Schönberg nach Wien geführt, aber die prekäre Situation seiner Familie – sein Vater hatte die Stellung als Kantor der jüdischen Gemeinde in Dessau verloren – zwang den Neunzehnjährigen zum Geldverdienen.

Seine erste Stelle fand er am Friedrich-Theater seiner Heimatstadt Dessau als Korrepetitor unter dem damaligen musikalischen Leiter Hans Knappertsbusch. Dessen autoritärer Stil ließ den jungen Weill bei erster Gelegenheit das Weite suchen. Ende November 1919 trat er ein Engagement als Kapellmeister am Stadttheater Lüdenscheid an. Dort sollte er viel über den Alltagsbetrieb eines Theaters lernen, fand er doch die „typischen Verhältnisse einer ‚Schmiere‘ vor, wie Weill-Biograf Jürgen Schebera beschreibt.

Seiner Schwester Ruth berichtet Weill in Briefen vom anstrengenden Alltag an einem kleinen Dreispartentheater, wo fast in jeder Woche eine Premiere stattfinden musste: „Du kannst Dir denken, wie ich zu tun habe. Sonntag nachmittag ,Fledermaus‘, abends ,Cavalleria rusticana‘, Montag nachmittag ,Zigeunerbaron‘, abends Premiere einer neuen Operette. Wie ich mit den Proben fertig werden soll, ist mir schleierhaft …“. Und ein anderes Mal beklagt er sich: „Morgen habe ich wieder Premiere, eine furchtbar dreckige Gesangsposse ‚Im 6. Himmel‘ …“. Dennoch: In Lüdenscheid, so erinnert er sich Jahre später in den USA, habe er erkannt, „dass das Theater meine eigentliche Domäne werde würde“.

Meisterschüler bei Busoni

Weill blieb nicht lange in Lüdenscheid; Ende Mai war die Spielzeit zu Ende. Sein Vater hatte eine neue Stelle angetreten; Weill strebte nach Berlin zurück und hatte Glück: Ferruccio Busoni nahm ihn Ende 1920 als einen von fünf Meisterschülern in seine neue Kompositionsklasse auf. Die Zeit in der brodelnden Kulturmetropole sollte für Weill prägend werden. Als Student schrieb er bereits sein Streichquartett h-moll, eine Suite für Orchester und 1921 eine einsätzige Symphonie No. 1. Andere seiner frühen Werke sind verloren.

Weill hielt daran fest, dass seine große Begabung die Arbeit für die Bühne sei. Mit 22 Jahren schrieb er die Musik zu einer Ballettpantomime „Zaubernacht“. Darin geht es um einen Kindertraum: Sobald Jungen und Mädchen eingeschlafen sind, kommt die Zauberin und lässt Spielsachen und Märchenfiguren lebendig werden. Partitur und Stimmen waren verschollen und wurden zufällig in der Yale Universität wiederentdeckt. Erst 2010 wurde das Stück beim Musikfest Stuttgart wieder aufgeführt. Eine Kritik würdigte die Musik: „Weill verwendet genial alle Möglichkeiten seiner Zeit, arbeitet mit atonalen Passagen, lässt die Streicher in schönster Walzerseligkeit schluchzen, imitiert den Neoklassizismus, aber auch die harmonischen Errungenschaften der Zweiten Wiener Schule.“

Ein „Ruhrepos“ mit Bertolt Brecht

Nach der erfolgreichen Aufführung seiner ersten Oper „Der Protagonist“ lernte Weill im April 1927 Bertolt Brecht kennen. Ihr erstes großes gemeinsames Projekt hätte eine monumentale „Ruhroper“ werden sollen, deren Konzept bereits im Juni 1927 weit gediehen war. „Das Ruhrepos soll sein ein künstlerisches Dokument des rheinisch-westfälischen Industrielandes, seiner eminenten Entwicklung im Zeitalter der Technik, seiner riesenhaften Konzentration werktätiger Menschen und der eigenartigen Bildung moderner Kommunen. Da nun aber der ganze Aufbau des Ruhrgebiets für unsere Zeit charakteristisch ist, soll das Ruhrepos gleichzeitig ein Dokument menschlicher Leistung unserer Epoche überhaupt sein“, umreißt Brecht die künstlerische Absicht des Projekts.

Kurt Weill hatte für die Musik sehr konkrete Vorstellungen: Sie schließe „alle Ausdrucksmittel der absoluten und der dramatischen Musik zu einer neuen Einheit zusammen“, schreibt er kühn. Geplant seien keine „Stimmungsbilder“ oder „naturalistische Geräuschuntermalung“. Sondern die Musik präzisiere Spannungen der Dichtung und der Szene in Ausdruck, Dynamik und Tempo. Abgeschlossene Orchesterstücke sollten als symphonische Vor- und Zwischenspiele dienen. Arien, Duette, Ensemblesätze, kleinere Instrumentengruppen oder über den Raum verteilte Chöre mit ihren Instrumenten, aber auch Songs mit Jazz-Rhythmus oder „kammermusikalische Stücke komischer Art“ waren vorgesehen. Mit Filmen und Lichtbildern des Filmregisseurs Carl Koch sollte das Werk ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen.

Das Projekt scheiterte an der antisemitischen Hetze nicht zuletzt in der Presse und an provinziellen Ressentiments gegen die Berliner Kultur, während das Mahagonny-Songspiel Weills und Brechts im Juli 1927 in Baden-Baden einen Skandal-Erfolg erlebte. Drei Jahre später hatte die aus dem Songspiel entwickelte Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in Leipzig ihre sensationelle, aber bereits von den Nationalsozialisten massiv gestörte Uraufführung. Ein Jahr nach diesem wohl größten Theaterskandal der Weimarer Republik endete Weills Zusammenarbeit mit Brecht: Weill wollte sich mit der für ihn allzu restriktiven Rolle der Musik in Brechts politischem Theater nicht abfinden.

Gegen das Illusions- und Gefühlstheater

Für Brecht und Weill war es erklärtes Ziel, Formen des bürgerlichen Theater- und Opernbetriebs aufzubrechen und nach neuen Wegen zu suchen. In „Mahagonny“ sah Kurt Weill den Versuch, „das Wesen unserer Zeit von innen her zu beleuchten“. Er traf sich mit Brechts Intention, der damals verkündete: „Wenn man sieht, dass unsere heutige Welt nicht mehr in das Drama passt, dann passt das Drama eben nicht mehr in die Welt.“ Weill stand der herkömmlichen Form der Oper, dem Illusions- und Gefühlstheater, ebenso kritisch gegenüber: „Wenn also der Rahmen der Oper eine derartige Annäherung an das Zeittheater nicht verträgt, muss eben dieser Rahmen gesprengt werden.“

Vor diesem Skandal lag jedoch noch der Riesenerfolg der „Dreigroschenoper“: Die Story aus dem Gauner- und Proletenmilieu bedeutete für Weill nicht nur den endgültigen Schritt in eine neue Art von Musiktheater, sondern – ganz prosaisch – das Ende aller finanziellen Sorgen. Bis heute sind die Songs weltberühmt, allen voran die Moritat von Mackie Messer: „Und der Haifisch, der hat Zähne …“.

Passend zum Weill-Jubiläumsjahr 2025 bringt die Oper Bonn ab 6. April Brecht und Weills „Die Dreigroschenoper“ in einer Neuinszenierung von Simon Solberg. Daniel Johannes Mayr dirigiert. Termine: 6., 8., 20. April; 10., 29. Mai; 1., 8., 17., 19. Juni; 3., 9. Juli. Tickets im Internet unter www.theater-bonn.de oder telefonisch unter (0228) 77 8008.

Noch bis 16. März findet in Weills Heimatstadt Dessau das Kurt Weill Fest unter dem Motto „Farben des Lebens“ mit 72 Veranstaltungen statt. Info: www.kurt-weill-fest.de




Ausflug nach Holland: Opern-Akademie zeigt Haydns Rarität „Die belohnte Treue“

Das Ensemble der Dutch National Opera Academy in Joseph Haydns „Die belohnte Treue“. (Foto: Reinout Boss)

Die Welt im ausgehenden 18. Jahrhundert kennt die großen Opernhäuser von Paris, Wien, Mailand, Neapel. Dort werden die Werke aufgeführt, die Geschichte machen. Dass abseits der Herzkammern der Opernwelt – am Eingang zur ungarischen Tiefebene – der Puls des Musiktheaters ebenso heftig schlägt, bleibt unbemerkt.

Dort in Esterháza, einem Nest mit gewaltigem Schloss, entstehen Opern, die wohl in London oder Venedig Furore gemacht hätten, wären sie dort einem Kenner-Publikum präsentiert worden.

Allein: Ihr Schöpfer, „Haus-Officier“ am Hofe des Fürsten Esterházy, hatte kaum eine Chance, sie der großen weiten Welt vorzustellen. Joseph Haydn schrieb für seinen Dienstherrn und dessen Entourage. Und so blieben Meisterwerke wie „Il Mondo della Luna“, „Orlando Paladino“ oder „La vera Costanza“ dem Auge und Ohr der Welt verborgen. Haydn kannte die modernen Musikströmungen seiner Zeit, aber seine Zeit kannte ihn nicht. Und als sich das änderte, waren seine Werke schon vom Ruch des Altmodischen durchweht.

Leider hat sich daran nicht so furchtbar viel verändert: Feinsinnige Liebhaber schätzen Haydns Bühnenwerke, aber der Mainstream wälzt sich ungeniert über sie hinweg. Im Repertoire spielen sie nicht einmal auf mittleren Plätzen mit. Und so ist es überaus verdienstvoll, dass die Dutch National Opera Academy und ihr Künstlerischer Leiter, der Tenor Paul McNamara, den jungen Sängerinnen und Sängern dieser niederländischen Ausbildungseinrichtung mit „Die belohnte Treue“ („La Fedeltá premiata“) eine der kostbarsten Haydn-Opern für eine Aufführung anvertrauen. Die jungen Menschen lernen, so ist zu hoffen, zu schätzen, was ihnen der Eremit aus Esterháza zu bieten hat.

Konstellationen des Augenblicks

Dieses „dramma pastorale giocoso“ vereint in einer turbulenten Geschichte von Giambattista Lorenzi Elemente der opera seria, der komischen Oper und des modischen Schäferspiels der Zeit zu einem Plot, den man kaum nacherzählen kann, aber auch nicht verstehen muss. Denn es geht weniger um ein logisch entwickeltes Drama, sondern eher um Momente der Begegnung und Verstrickungen des Affekts, um Situationskomik oder -tragik, um Konstellationen des Augenblicks und um die Zeichnung von Typen.

Da ist das Paar Fillide (getarnt als Celia) und Filino, das aus der empfindsamen Sphäre stammt und dem Haydn zärtlich-wehmütiges Melos schenkt. Da ist der Priester Melibeo, eine zwielichtige Gestalt mit der undankbaren Aufgabe, einem Untier einmal pro Jahr ein Paar treuer Liebender zu opfern. Da entzücken die „eitle und arrogante“ adlige Dame Amaranta und ihr windiger Bruder Lindoro, mit denen die Blaublütigen in Esterháza ihr Vergnügen gehabt haben dürften, wenn sie sich selbst erkannt haben. Und schließlich stellt der exaltierte Conte „Perruchetto“ allen Frauen ohne Unterschied nach. Ob der Fürst im „Graf Perücke“ Wesenszüge seiner selbst entdeckt hat? Haydns Ironie jedenfalls ist in seinen Figuren und ihrer musikalischen Zeichnung unüberhörbar.

Gut, dass sich Regisseurin Anja Kühnhold nicht in Deuteleien verkünstelt: Sie richtet den Fokus auf die handelnden Personen und ihre Beziehungen, lässt Wehmut und Sehnsucht ebenso zu wie empathielose Blasiertheit, falsches Pathos und sarkastische Gleichgültigkeit. In der Charakterisierung der Figuren – unterstützt von den verschmitzt stilisierenden Kostümen von Anna Sophia Blersch – geht sie auf Haydns Musik ein, setzt die musikalische Gestik in den Konstellationen auf der Bühne, im Spannungsfeld von Annäherung und Distanzierung und in den abgestuften Graden des Grotesken in Bewegung und Haltung um. So entsteht ein unbeschwertes, wie von selbst laufendes Spiel, das auch Momente überbrückt, die der moderne Betrachter als langatmig empfinden könnte.

Eine Musik voller Ideen

Die Schouwburg in Leiden nimmt für sich in Anspruch, das älteste Theater der Niederlande zu sein. Foto: Werner Häußner

Haydns Musik, die wie stets voll Ideen und überraschenden Wendungen steckt, ist beim Orchester des 18. Jahrhunderts bestens aufgehoben. Von den Musikern wird viel Anpassungsvermögen erwartet: Die sechs Aufführungen fanden in unterschiedlichen Räumen statt: die Premiere im Konservatoriumssaal Amare in Den Haag, die hier besprochene Vorstellung in der entzückenden Schouwburg in Leiden, einem Theater von 1865, das an die vielen im Krieg verlorenen Stadttheater kleiner und mittlerer Städte erinnert. Da sich seit 1705 an derselben Stelle an der „Oude Vest“ ein Theaterbau befindet, nehmen die Leidener für ihre Schouwburg stolz den Titel des ältesten Theaters der Niederlande in Anspruch. Die Akustik lässt das aus dem kleinen Graben tönende Orchester nicht günstig klingen: Instrumente sind unausgewogen in der wahrgenommenen Lautstärke, je nach Platz driftet der Klang auseinander.

Aber die Energie, Dynamik und Detailarbeit der Musiker teilt sich mit, und Dirigent Benjamin Perry Wenzelberg gestaltet Tempo und Rhetorik mit viel Feingefühl. Auch die Sängerinnen und Sänger sind bei ihm in guten Händen: Der Dirigent achtet auf ihre stimmlichen Kapazitäten und lässt ihnen den Raum, ihre Fähigkeiten als Darsteller auszuformen. Das entspricht dem Ausbildungsziel der Dutch National Opera Academy: Sie richtet sich mit ihrem zweijährigen Trainingsprogramm an junge Sänger, die stimmlich bereits ausgebildet sind, aber für eine erfolgreiche Bühnenlaufbahn darstellerische Fähigkeiten, Körperbeherrschung und Theaterpraxis erwerben sollen. Auf diese Weise wird ihnen der Übergang in eine professionelle Karriere erleichtert.

Ensemble mit professionellem Anspruch

Das Ensemble der „Fedeltá premiata“ erfüllt die von Haydn geforderten hohen vokalen Standards erfreulich gut. Nachbesserungen empfehlen sich, wo die jungen Stimmen noch zu wenig im Körper verankert sind und die Projektion des Tons in den Raum nicht in allen Lagen gleichmäßig erfolgt. Femke Hulsman bringt das wehmütig verschattete Timbre mit für die Klagen und Sehnsüchte der Schäferin Fillide, die als Celia auf der Suche nach ihrem Geliebten ist. Ihre erste Arie „Placidi ruscelletti“ ist feinsinnig ausgesponnen; für das berühmte Accompagnato des zweiten Akts bräuchte es noch das Fundament eines sicheren Atems und einer kontinuierlichen Entwicklung des Tons aus dem Körper.

Aimee Kearney hat als Amaranta mit der brillanten Wut ihrer Arie „Vanne, fuggi, traditore“ ebenso wenig Probleme wie mit den tiefen Empfindungen ihres großen Auftritts im zweiten Akt. Auch Thalia Cook-Hansen bewältigt mit leichtem, kleinem, aber nicht spitz klingendem Sopran den munteren Auftritt der Nerina mit Charme. Salvador Simão bringt für den Fileno einen duftigen Tenor mit, der vor allem in den langsamen Arien des ersten Akts Ratlosigkeit, Trauer und schließlich entschlossene Verzweiflung des jungen Hirten aus Arkadien ausdrückt.

Wessel Wirken als Graf Perruchetto. Foto: Reinout Bos

Wessel Wirken als Graf Perruchetto laviert mit seiner Figur zwischen komisch exaltiert und zynisch gleichgültig an der Grenze der gestischen Übertreibung entlang; stimmlich bringt der junge Bariton eine klare Artikulation und einen sauber fokussierten Ton mit, der aber noch nicht ausreichend fundiert ist. Milan de Korte als vorwitziger Lindoro und Román Bordón als durchtriebener Priester der Diana erfüllen ihre Rollen mit Elan und Spielwitz. „La Fedeltá premiata“, erst 1970 beim Holland Festival in einer Regie von Jean-Pierre Ponnelle wiederbelebt, zeigt sich auch in dieser Produktion als ein feingeschliffenes Juwel der Oper zwischen Gluck und Mozart. Das Licht eines lebendigen Theaters bringt es zum Funkeln.

Die nächste Vorstellung der Dutch National Opera Academy ist am 25. April in Amsterdam mit Gioachino Rossinis „La Cambiale di Matrimonio“. Info: https://www.opera-academy.nl/performances/la-cambiale-di-matrimonio/

 




Wahn und Wirklichkeit: „Englischer“ Opern-Doppelabend in Duisburg

Ein Ort unheimlicher Vorgänge ist der Leuchtturm in Peter Maxwell Davies‘ Oper am Theater Duisburg. Auf dem Bild Roman Hoza (Blazes/2. Offizier), Sami Luttinen (Arthur/3. Offizier), Adrian Dwyer (Sandy/1. Offizier). (Foto: Anne Orten)

Peter Maxwell Davies dürfte gewusst haben, worüber er schreibt: Der Komponist lebte bis zu seinem Tod 2016 auf den Orkney-Inseln. Er kannte die Nächte, in denen der Sturm ums Haus heult, der Regen prasselt, das Meer brüllt. Oder wenn Nebel bleiern und grau alle Geräusche in unheimlicher Dämpfung erstickt, die Schwärze der Nacht sich mit den Ausgeburten der eigenen Phantasie zu monströsen Ängsten verbindet.

Der „Leuchtturm“ ist so ein Ort, dessen massive Mauern kühn den Elementen trotzen, ohne dem Menschen in seinem Innern Schutz geben zu können – Schutz vor den Gespenstern in der Seele, Schutz vor dem Unberechenbaren im Anderen, Schutz vor der „Bestie“ des eigenen Wahns oder des Meeres – wer weiß?

Davies‘ Kammeroper „The Lighthouse“, 1980 beim Edinburgh Festival uraufgeführt, 1984 in Gelsenkirchen nachgespielt und bis in die 2000er-Jahre vielfach neu inszeniert, spielt mit solchen Ängsten. In bester englischer Gruselgeschichten-Tradition berichtet sie vom rätselhaften Verschwinden dreier Leuchtturmwärter, ein historischer Fall aus dem Jahre 1900, als ein Versorgungsschiff ein Leuchtfeuer auf den äußeren Hebriden verlassen vorfand. Der Fall blieb ungeklärt, die Umstände des Verschwindens der Männer mysteriös.

So wenig damals eine Erklärung gefunden wurde, so wenig löst sich das Geschehen in den 75 Minuten Oper. Trieb jemand oder etwas die Männer in den Wahnsinn? Erhob sich gar die von den Wärtern beschworene unheimliche Bestie im Sturm aus dem Meer, ein Loch-Ness-Ungeheuer der Nordsee? Wurden sie Opfer ihrer eigenen Wahnvorstellungen, der Gespenster aus ihrem Unterbewusstsein? Brachten sie sich gegenseitig um, getrieben von den Furien ihrer Vergangenheit? Kamen sie in der kochenden Sturmsee ums Leben? Oder waren die Offiziere des Schiffes an ihrem Verschwinden nicht schuldlos? Deren Aussagen sind widersprüchlich und unklar. Sie scheinen mehr zu wissen als sie aussprechen. Davies‘ Libretto ist ein Meisterstück, in seiner unheimlichen Vieldeutigkeit vergleichbar mit „The turn of the screw“ von Henry James, auf dem Brittens gleichnamige Oper basiert – ebenfalls ein Stück, bei dem man vor Gespenstern nicht sicher ist.

Eine herausfordernde Aufgabe für Haitham Assem Tantawy, der die 75minütige Oper als ersten Teil eines Doppelabends inszeniert. Er hat sich für sein Regiedebüt an der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg das geheimnisvolle Stück gewünscht, das er während seines Studiums in Karlsruhe kennengelernt hatte. In „The Lighthouse“ fasziniert ihn, wie ein tatsächlich stattgefundenes Ereignis mit Mythos, Tiefenpsychologie und Philosophie verbunden wird. „Davies hat eine Tür aufgemacht für das Übernatürliche, auch für die inneren Traumata der drei verschwundenen Leuchtturmwärter.“ Zudem spielt die Prophezeiung der Tarot-Karten im Stück für seine Inszenierung eine Rolle. Doch auch Tantawy lässt das Ende rätselhaft offen.

Emotionale Kraft, ausgeprägte Theatralik

Debüt an der Rheinoper: Dirigent Killian Farrell. (Foto: Andrew Bogard)

Mit dem zweiten Teil des Abends hat „The Lighthouse“ erst einmal nichts zu tun – außer, dass beide Stücke von englischen Komponisten stammen: Henry Purcells „Dido and Aeneas“ ist rund 300 Jahre früher entstanden. Für den Dirigenten des Abends ein reizvoller Kontrast: Killian Farrell, in Irland geboren, sieht nicht nur das Meer als gemeinsames Element. „Je mehr ich mich mit den Stücken beschäftige, desto mehr Verbindungen finde ich. Beide Opern sind in ihrer Komposition sehr auf das Drama konzentriert, beide haben eine große emotionale Kraft und eine ausgeprägte Theatralik.“ Farrell ist auch begeistert von der Bühne von Matthias Kronfuß: „Sie reflektiert die Innenwelt und setzt viele fantastische Effekte klug und reizvoll ein.“ Das sei wichtig für das Stück mit seiner atmosphärischen, geräuschhaft malenden, psychologisch vertiefenden, aber auch sperrigen, nicht äußerlich illustrierenden Musik. Killian Farrell, seit 2023 Generalmusikdirektor am traditionsreichen Staatstheater Meiningen, debütiert mit dem Doppelabend an der Deutschen Oper am Rhein.

Begegnung im Computerspiel

Dido und Aeneas in der virtuellen Welt: Morenike Fadayomi (Zauberin), im Hintergrund Charlotte Langner (Geist) und Anna Harvey (Dido). (Foto: Anne Orten)

„Dido and Aeneas“ ist für Regieassistentin Julia Langeder ebenfalls die erste selbständige Inszenierung an der Rheinoper. Sie erzählt die Geschichte aus dem trojanischen Sagenkreis als heutige: Dido und Aeneas treffen sich in einer virtuellen Welt. „Ich habe mich schwer getan mit dem Gedanken, dass sich eine so starke Frau und Königin wie Dido aus Liebeskummer umbringt.“ So fragt Langeder, was heutige Gründe für einen Suizid sein können, und findet Depressionen, psychische Erkrankungen, aber auch Hass und Mobbing im Netz. „So kam ich über Cybermobbing und unsere wachsende Abhängigkeit von der virtuellen Welt auf die Idee, die Begegnung der beiden Menschen in einem Computerspiel ‚Karthago‘ stattfinden zu lassen. Beide Figuren sind bei Vergil ja auch von den Göttern fremdgesteuert, ähnlich wie Avatare im Computerspiel. Dido und Aeneas treffen sich in meiner Inszenierung nie in der Realität.“

Die Premiere des „englischen“ Doppelabends mit „The Lighthouse“ und „Dido and Aeneas“ findet am Freitag, 7. Februar, 19.30 Uhr im Theater Duisburg statt. Weitere Vorstellung gibt es am 9. Februar (15 Uhr), 21., 23. Februar, 2. März (15 Uhr) und 5. März 2025. Tickets unter (0203) 283 62 100 oder im Internet unter www.operamrhein.de




Bildhauer Tony Cragg stattet erstmals eine Oper aus: „Castor et Pollux“ von Jean-Philippe Rameau am Staatstheater Meiningen

Sir Tony Cragg (links) bei der Besichtigung der Meininger Bühne mit dem Intendanten des Theaters, Jens Neundorff von Enzberg. (Foto: Christina Iberl)

Tony Cragg stattet erstmals eine klassische Oper aus. Das Staatstheater im thüringischen Meiningen hat für 21. Februar 2025 Jean-Philippe Rameaus „Castor et Pollux“ in einer Bühne des in Wuppertal lebenden Bildhauers angekündigt.

Die Inszenierung übernimmt Adriana Altaras; der Intendant des traditionsreichen Hauses, Jens Neundorff von Enzberg, hat die Spielfassung der Oper Rameaus erstellt. Co-Bühnenbildnerin ist die in Würzburg lebende Verena Hemmerlein. Die Meininger Hofkapelle wird geleitet von Christopher Moulds. Der britische Dirigent ist bekannt für seine Dirigate von Opern von Komponisten wie Claudio Monteverdi, Francesco Cavalli oder Georg Friedrich Händel in Amsterdam, Berlin, Glyndebourne, Halle, München, Salzburg oder Zürich.

Das Meininger Staatstheater. (Foto: Werner Häußner)

Cragg wird nach den Worten von Intendant Jens Neundorff von Enzberg in seinem Bühnenbild als Bildhauer wie als Zeichner sichtbar sein. Sein Kontakt mit dem Künstler reiche über 20 Jahre zurück, seit er als Chefdramaturg und Operndirektor die Oper Bonn mit der Kunsthalle und mit bildenden Künstlern verknüpft habe, erklärte Jens Neundorff von Enzberg.

Diese Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern hat er in Meiningen wieder aufgegriffen: Markus Lüpertz stattete dort Giacomo Puccinis „La Bohème“ aus. Der Großmeister monumental gesteigerter expressionistischer Malerei und Skulptur schuf auch die Ausstattung für Vicente Martín y Solers Oper „Una cosa rara“, die 2018 am Theater Regensburg von Andreas Baesler neu inszeniert und 2024 nach Meiningen übernommen wurde. Auch Achim Freyer hat für Meiningen gearbeitet: Auf eine „Zauberflöte“ (2022) folgte in dieser Spielzeit Giuseppe Verdis „Don Carlos“.

Organisch sich windende Skulpturen

Sir Tony Cragg, 1949 in Liverpool geboren, hat bisher nur zwei Mal eine Bühne gestaltet: 2015 für eine spartenübergreifende Produktion von Shakespeares „Romeo und Julia“ und 2021 für ein Musical nach Hermann Melvilles „Moby Dick“ mit der Musik von Alexander Balanescu, beide in Wuppertal in der Regie von Robert Sturm.

Die Skulpturen Sir Tony Craggs für die Inszenierung von „Castor et Pollux“ in Meiningen. (Foto: Christina Iberl)

Der Künstler ist spätestens seit Mitte der Achtziger Jahre durch seine ungegenständlichen, sich windenden, organisch wirkenden, oft metallisch glänzenden Skulpturen bekannt geworden. Seine abstrakten Werke mit Plastik als Material machten vorher schon auf bedeutenden Ausstellungen wie der Kasseler documenta, der Biennale di Venezia oder in Museen wie dem Brooklyn Museum New York oder der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf auf ihn aufmerksam.

Tony Cragg lebt seit 1977 in Wuppertal. Ab 1979 lehrte er – mit einem Intermezzo in Berlin von 2001 bis 2006 – an der Kunstakademie Düsseldorf, deren Rektor er von 2009 bis 2013 war. 2006 erwarb er in Wuppertal Park und Villa Waldfrieden und gestaltete das 15 Hektar große Gelände zum Skulpturenpark um.

Cragg hat zahlreiche Ehrungen empfangen, so den Turner Prize und die Ordre des Arts et des Lettres. Er ist Ehrenbürger der Stadt Wuppertal und seit 2015 Ehrenmitglied der Kunstakademie Düsseldorf. Derzeit und bis zum 4. Mai zeigt in Rom das Museo Nazionale Romano in den Diokletiansthermen eine große Einzelausstellung mit 18 Skulpturen Tony Craggs aus den letzten zwei Jahrzehnten. Im Sommer ziehen dann vom 24. Juli bis 6. Oktober Skulpturen Craggs in die Prunkräume der Alten Residenz in Salzburg ein.




Kleine, große Lichtgestalt: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt erstmals „Der Kreidekreis“ von Alexander Zemlinsky

Beide Frauen wollen das Kind: Lavinia Dames (l.) als Tschang-Haitang und Sarah Ferede als Yü-Pei, eifersüchtige Erstfrau des Herrn Ma. (Foto: Sandra Then)

Die Federn fallen, fallen wie von weit, als kämen sie aus einer fernen Sphäre. Sanft schweben sie von den Vogelkäfigen nieder, in denen die Frauen eingesperrt sind, die für den Teehausbesitzer Tong arbeiten: gefallene Engel, verkaufte Kreaturen. Weiß sind ihre Gewänder, weiß die Federn. Weiß leuchtet hier alles, was noch gut und recht sein kann in einer düsteren Welt.

Es waren finstere Zeiten, in denen der 62-jährige Alexander Zemlinksy 1933 seine letzte vollendete Oper „Der Kreidekreis“ schrieb. Im alten Textgewand eines chinesischen Märchens steckend, ist sie eine typische Zeitoper der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Nach der Machtübernahme der Nazis verfiel sie – wie auch ihr jüdischer Komponist – der Verfemung. Regisseur David Bösch hat sie nun für die Rheinoper Düsseldorf in Szene gesetzt, zum ersten Mal in der Geschichte des Hauses.

Für sein Düsseldorfer Debüt greift Bösch gewissermaßen selbst zur Kreide. Mit liebevollem Strich zeichnet er den Lebensweg des Mädchens Tschang-Haitang nach, auf einer dunklen Spielfläche vor schwarzem Hintergrund. Von der Mutter verkauft, vom Teehausbesitzer weiterverschachert, als Nebenfrau eines Mandarins von dessen Erstfrau bekämpft und schließlich des Mordes bezichtigt, wird diese Figur bei ihm zu einer Lichtgestalt der bescheidenen Art: keine große Heldin und schon gar keine Rebellin, eher eine chinesische Butterfly.

Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird verkauft und wie ein Vogel in einen Käfig gesperrt. (Foto: Sandra Then)

Wie sie sich den Verhältnissen beugt, wie sie trotz aller Demütigungen ihre Würde bewahrt, wie sie in einer Welt voller Unrecht und Lüge aufrecht und wahrhaftig bleibt, steht mächtig – und durchaus irritierend – quer zum Kampf für Frauenrechte. Mit empathischem Blick arbeitet Bösch heraus, dass Tschang-Haitang nicht einfach unterwürfig ist, sondern sich auf ihre Weise behauptet, im märchenhaften Happy End sogar in eine Position der Stärke gelangt. Dass sie Prinz Pao glatt eine Vergewaltigung verzeiht, ist nur die halbe Wahrheit: Sie nutzt sein Geständnis für einen Deal, der ihr und ihrem Kind Sicherheit gewährt. Dann legt sie sich stolz seinen Königsmantel um. Böschs Inszenierung ist von dem Credo geprägt, dass selbst der Kleinste den großen Weltenlauf zu ändern vermag.

Die Regie fordert für dieses Märchen unseren kindlichen Blick. Strichmännchen aus Kreide, auf die Vorhänge zwischen den Akten projiziert, raffen die folgende Handlung zusammen. Das Kind, um das Tschang-Haitang mit der Erstfrau des Mandarins streitet, ist ein übermenschlich großes Riesenbaby mit einem Pappmaché-Kopf, wie Bert Brechts Meisterschüler Achim Freyer ihn seinen Bühnenfiguren zu geben pflegte. Gleich zu Beginn nimmt es auf der Bühne Platz und zieht den Kreidekreis um sich, aus dem beide Frauen das Kind herauszuziehen versuchen. Der salomonische Richterspruch ist auch aus der Bibel und aus Brechts Drama bekannt.

Im Elend: Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird zu Unrecht als Mörderin verurteilt. (Foto: Sandra Then)

Bühne und Videos (Patrick Bannwart) tragen uns aus dem Alltag fort. „Eine bessere Welt ist möglich!“ raunt nahezu alles, was wir sehen. Der Flügelschlag der Möwen, die als heller Schattenriss über den Bühnenhintergrund schweben. Die zarten Lampions in Blütenform, die auf der dunklen Bühne blühen. Die Kreideskizzen an den Wänden, die Kindheitstage heraufbeschwören. Und während das durch und durch korrupte Gerichtspersonal Papierfahnen entrollt, die Kindsraub, Vergiftung und Terror propagieren, schweben chinesische Schriftzeichen von der Decke, die hohe Ideale formulieren: Freiheit, Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Die Kostüme (Falko Herold) fügen sich perfekt in diese poetische Bühnensprache ein.

Die Fabel vom Kreidekreis entstand im 13. Jahrhundert in China, sie wird dem Chinesen Li Xingdao zugeschrieben. Klabund griff sie 1925 auf, Zemlinsky 1933, Bertolt Brecht 1944.
(Foto: Sandra Then)

Das zwischen Schauspiel und Oper changierende Zwitterwerk zusammenzuhalten, ist keine leichte Aufgabe. Der Stilmix ist unerhört: Es gibt freie und rhythmisch gebundene Sprache, Gesang Brecht-Weill’scher Prägung, Jazzelemente, fernöstliches Kolorit, schwelgerisch romantische Orchesterfarben und Klänge einer neuen Sachlichkeit. Die Nahtstellen zwischen Text und Musik sind kritisch, das Timing ist für die Sängerinnen und Sänger folglich heikel. Aber die Quadratur des Kreises gelingt: Die Düsseldorfer Symphoniker und das Gesangsensemble der Deutschen Oper am Rhein ziehen die Linie bemerkenswert geschlossen durch.

Unter der kundigen Leitung des Dirigenten Hendrik Vestmann fügt sich die stilistische Vielfalt zu einem faszinierenden Abenteuer für die Ohren. Was fließt da nicht alles ineinander: Jazzelemente und fernöstliche Pentatonik, romantische Schwärmerei und lakonische Sachlichkeit, Drohendes und Intimes und Groteskes, Turandot-Wucht und Butterfly-Zartheit. Das differenzierte und expressive Spiel der Düsseldorfer Symphoniker gereicht Zemlinsky zur Ehre.

Durch Leitmotiv-Techniken wird das Orchester an diesem Abend zum Erzähler, zum unentbehrlichen Kommentator. Es gleicht einer tönenden Karikatur, wie es den korrupten Richter Tschu-Tschu ankündigt, der nach durchzechter Nacht die Szene betritt. So verkatert, wie das Fagott hier in höchster Lage wimmert, und so unstet, wie die Takte hier ins Taumeln geraten, ist bereits alles gesagt, bevor dieser höchst fragwürdige Amtsträger auch nur den Mund aufmacht.

Das Gericht ist weder hoch, noch spricht es Recht: Tschang-Haitang (Lavinia Dames, am Boden), Richter Tschu-Tschu (Werner Wölbern, im roter Robe) und die Statisterie der Deutschen Oper am Rhein. (Foto: Sandra Then)

Der Schauspieler Werner Wölbern verkörpert ihn nach allen Regeln der Kunst als anmaßenden, schlecht gelaunten Gierlappen, der keinen Funken Interesse am Schicksal derer hat, über die er zu Gericht sitzt. Der Prozess führt zu einer mächtigen Steigerung im Orchester, die sich drohend aufbäumt, und einem Verzweiflungsausbruch von Tschang-Haitang, die Lavinia Dames uns mit ihrem Sopran nahebringt. Wie die Sängerin eine stille Traurigkeit in ihre hellen Farben mischt, wie sie sich stimmlich biegsam zeigt, ohne in den dramatischen Höhepunkten zu brechen, gleicht einer vokalen Studie des Phänomens, das heute Resilienz genannt wird. Für diese anrührende Charakterstudie wird die Sängerin vom Publikum begeistert gefeiert.

Dames ist von einem Ensemble umgeben, das seine Figuren nicht weniger genau zeichnet. Die Frauenstimmen ergänzen ihre Farbpalette: Katarzyna Kuncio als Tschang-Haitangs Mutter mit entsprechender Wärme, Sarah Ferede als intrigante Erstfrau Yü-Pei mit hochfahrender Dramatik. Im Baritonfach glänzen Richard Šveda, der dem Bruder der Hauptfigur wütende und rebellische Töne gibt, und Joachim Goltz, der den Mandarin Ma auch stimmlich von starrer Autorität in einen weicheren, liebenderen Mann verwandelt. Hinzu kommen Matthias Koziorowski (als Prinz Pao mit teils heldischen Farben), Jorge Espino (als Gerichtssekretär Tschao mit abgerundet sonorem Volumen), sowie einige hübsch gestaltete Mini-Rollen.

„Es ist Zemlinksy-Zeit“, heißt es im Programmheft der Rheinoper: Eine Behauptung, die durch diese starke Premiere beglaubigt wird. „Der Kreidekreis“ verdient unsere Aufmerksamkeit. Es ist Zeit für dieses Klangabenteuer, für dieses Werk, in dem die Schwachen die Starken sind und die Menschlichkeit gegen Gewalt und Lüge gewinnt.

(Karten und Termine: www.operamrhein.de)




Seelenfenster geöffnet: Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in Krefeld-Mönchengladbach

Sofia Poulopoulou als Tatjana in der Inszenierung von Helen Malkowsky am Theater Mönchengladbach. (Foto: Matthias Stute)

„Eugen Onegin“ hat in diesem Jahr Konjunktur in Nordrhein-Westfalen. Bonn, Düsseldorf und Krefeld-Mönchengladbach zeigten Peter Tschaikowskys Meisterwerk. In Mönchengladbach wird die Inszenierung nun wieder aufgenommen.

Am 25. Februar dieses Jahres näherte sich Michael Thalheimer in Düsseldorf den „Lyrischen Szenen“ in einem harten hölzernen Verschlag von Henrik Ahr mit strengem, unbestechlich beobachtendem Minimalismus, gestützt von der leidenschaftlichen Lesart des neuen GMD der Rheinoper, Vitali Alekseenok (Wiederaufnahme war am 28. September). Nur eine Woche später präsentierte Regie-Shootingstar Vasily Barkhatov eine detailverliebte, psychologisch präzise Version der tragisch verfehlten Liebesgeschichte in opulenten Bildern von Zinovy Margolin an der Oper Bonn, begeisternd flexibel und transparent dirigiert vom neuen GMD des Theaters Hagen, Hermes Helfricht.

Einleuchtend erzählte Geschichten

Die Neuinszenierung in Mönchengladbach, die jetzt wieder aufgenommen und ab 16. November in Krefeld gezeigt wird, stammt von Helen Malkowsky, Wieder einmal stellt sie unter Beweis, wie einleuchtend sie eine Geschichte zu erzählen, wie unverkünstelt sie Figuren führen und Konstellationen entwickeln kann. Originelle, aber nie aufgesetzte Konzepte entwickelte die Professorin für Musiktheaterregie und Szenische Interpretation an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien schon vor 20 Jahren, als sie in Nürnberg „Der fliegende Holländer“ oder Aribert Reimanns „Melusine“ mit Sensibilität für metaphorische Bühnenlösungen in szenische Psychogramme verwandelte. In ihre Zeit als Operndirektorin in Bielefeld (2010 bis 2013) fielen die faszinierend doppelbödigen „Contes d’Hoffmann“; an den Vereinigten Bühnen Krefeld-Mönchengladbach entdeckte sie bereits in Tschaikowskys „Mazeppa“ ebenso wie in Verdis „Stiffelio“ und Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ die heute relevanten Aspekte der Stoffe.

Nun also „Eugen Onegin“: Der junge, schlanke Dandy bricht absichtslos in die bleigraue Welt auf Larinas Gut ein, sein goldener Rock (Kostüme: Anna-Sophie Lienbacher) spiegelt die zögerliche Faszination der Frauen wieder, stellt aber auch seine in diesen stumpfen Räumen schillernde Exotik aus. Malkowksy erfindet keine Charakterzüge über die im Stück angelegten hinaus, aber sie schärft das Profil der Menschen, indem sie – ähnlich wie Dietrich Hilsdorf in seiner sensationellen Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – genau beobachtet. Sie arbeitet mit sprechenden Gesten und offenbarenden Konstellationen: Larina (Katarzyna Kuncio) ist eine pragmatisch gewordene Frau in mittlerem Alter, Filipjewna (Satik Tumyan) ein sympathisch mütterliches Wesen, gezeichnet mit feinem Humor.

„Das Glück, es war so nah“: Tatjana (Sofia Poulopoulou) und Onegin (Rafael Bruck) verfehlen sich auf tragische Weise. (Foto: Matthias Stutte)

Vor den vermauerten oder zugeklebten stilisierten Fenstern der Bühne Tatjana Ivschinas fehlt der verträumten Tatjana mit ihren langen dunklen Haaren ebenso die Wärme wie dem Licht, das eine Trauergesellschaft in fahle Helle kleidet. Offenbar ist der Gutsherr verstorben; Damen und Herren mit Mantel und Hut in Schwarz kondolieren. Der Vorsänger (Irakli Silagadze) singt tonschön und entspannt, wie es selten in dieser kleinen Partie zu erleben ist.

Nuancen von bösem Gelb

Die Briefszene gestaltet die vorzüglich dunkelglühend singende Sofia Poulopoulou – in weißem Kleid und barfuß ganz bei sich selbst – als einen verzweifelt-feurigen Ausbruchs- und Erweckungsmoment. Das Chaos ihrer Gefühls- und Gedankensplitter kritzelt sie auf Papier, das sie von den halb blinden, halb von Regentränen benetzten Fenstern kratzt, und bindet die Blätter zuletzt zu einem Konvolut. Das Öffnen eines der Fenster mag eine konventionelle Metapher sein: Malkowsky inszeniert es als ein ergreifendes Befreiungserlebnis. Die Zurückweisung Tatjanas wiederum wird zur Charakterstudie Onegins. Gelangweiltes Wohlwollen, unterschätzende Belehrung: Rafael Bruck gestaltet diesen Moment wort- und klangsensibel.

Beim Namensfest Tatjanas tragen die Protagonisten wie die geschwätzigen Gäste Kostüme in den Nuancen von bösem Gelb. Die Inszenierung schildert, wie sich Lenski, vom Alkohol benebelt, in seine Eifersucht hineinsteigert. Wie sorgfältig auch Nebenfiguren gezeichnet werden, ist am Triquet von Arthur Meunier abzulesen: Endlich einmal kein übergriffiger Fummler oder kasperlhafter Trottel, sondern ein sanft frustrierter, still mitwissender Charmeur mit leichtem Hang zur Selbstübersteigerung. Eine Studie, die Meunier auch durch solides gesangliches Gestalten aufwertet.

Nur die Olga der leuchtend leicht singenden Kejti Karaj aus dem Opernstudio Niederrhein bleibt etwas zu sehr am Rande. Das ist aber angemessen, denn das „Kind“ ist nichts weiter als eine Projektionsfigur der romantisch übersteigerten Wünsche des Dichters Lenski, die beim verhängnisvollen Tanz mit Onegin nichts, aber auch gar nichts provoziert. Lenski ist bei Woongyi Lee, ausgestattet mit einem fast überpräsent in der Maske gebildeten, in der Höhe gezwungenen und daher nicht immer intonationsreinen Tenor, ein verstiegener junger Mann, der sich im Duell todesbereit präsentiert. Seine Arie singt Lee mit gestalterischem Feinsinn. Nicht der widerstrebende Onegin erschießt ihn, sondern die Pistole entlädt sich, während jener mit dem Sekundanten ringt. Gereon Grundmann ist der düstere Hüter der Duellregeln und wirkt damit wie ein metaphorischer Repräsentant einer obstruktiven Ordnung, die es wieder herzustellen gilt. Matthias Wippich als balsamfrei singender Fürst Gremin ist im letzten Bild dann der Katalysator für die finale Lebenskatastrophe Onegins.

Die Niederrheinischen Sinfoniker und der Opernchor Krefeld-Mönchengladbach, einstudiert von Michael Preiser, haben in GMD Mihkel Kütson einen erfahrenen Kenner der russischen Romantik am Pult. Kütson hat auch „Mazeppa“ dirigiert und sich mit CD-Aufnahmen entlegenen russischen Repertoires etwa von Alexander Glazunov und Mili Balakirev hervorgetan. Das Orchester überzeugt mit einem dunkel-weichen Klang und ist auch in dramatischen Momenten nie unkontrolliert massiv. Kütson sorgt für sorgfältig gestaltete Tempi und Übergänge, einen überlegten Aufbau emotionaler Spannungen, lyrische Finesse und wehmütige Pastellfarben. Die Konkurrenz mit Düsseldorf und Bonn müssen die Niederrheiner nicht scheuen.

Eine weitere Vorstellung am 10. Oktober in Mönchengladbach-Rheydt. Premiere in Krefeld ist am 16. November, weitere Termine am 20.11., am 5., 14., 29.12 sowie 10.01., 4. und 14.02.2025. Info: https://theater-kr-mg.de/spielplan/eugen-onegin/




Ruhrtriennale will Lust auf Zukunft wecken

Szene aus „Pferd frisst Hut“ nach Eugène Labiche mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: © Thomas Aurin / Theater Basel / Ruhrtriennale)

Man muss schon sehr tief in die jeweilige kreative Materie eindringen, um solche Kombinationen und Mischformen zu realisieren, wie es auch bei der kommenden Ausgabe der Ruhrtriennale wieder geschehen soll: Unter dem neuen Dreijahres-Intendanten, dem renommierten belgischen Theatermacher Ivo Van Hove (er amtiert bis 2026 im Revier), sollen beispielsweise Lieder von Edvard Grieg inszenatorisch mit Rock-Energie aufgeladen oder Chorwerke von Anton Bruckner mit Songs der Isländerin Björk in elektrisierende Verbindung gebracht werden. Da horcht man doch jetzt schon auf und wünscht gutes Gelingen!

Ivo Van Hove, der bereits in früheren Triennale-Zyklen als Gastregisseur fünf Inszenierungen beigesteuert hat (davon drei unter der Intendanz von Johan Simons), erinnerte sich zu Beginn der heutigen Programm-Pressekonferenz an seine künstlerischen Anfänge. Damals, in seinen frühen Zwanzigern, habe er fast alles langweilig gefunden, was sich seinerzeit in (belgischen) Theatern begab. Die nachhaltige Inspiration kam dann mit Produktionen in verlassenen Hallen am Hafen von Antwerpen – ein Szenario, wie es dann eben vergleichbar die 2002 begründete Ruhrtriennale in aufgelassenen Fabrikgebäuden erschlossen hat. Insofern fühlt sich die neue Aufgabe für Van Hove wie ein Heimkommen an.

Hauptrolle für Sandra Hüller

Ivo Van Hove, der neue Intendant der Ruhrtriennale. (Foto: © Thomas Berns)

Die Industriebauten sind denn auch bereits der wesentliche Beitrag des Ruhrgebiets zur rund 17 Millionen Euro schweren Triennale, die sich (verdichtet auf die Zeit vom 16. August bis zum 15. September) 2024 auf die Städte Bochum, Duisburg und Essen konzentriert. Ansonsten spricht man liebend gern Englisch und vergibt auch die meisten Produktionstitel in dieser Weltsprache, die eben immer noch nicht allen „Ruhris“ total geläufig sein dürfte. Es beginnt schon mit der Eröffnungs-Inszenierung am 16. August, die Ivo Van Hove selbst übernimmt: „I Want Absolute Beauty“ (Ich will absolute Schönheit) handelt (nicht nur) von weiblicher Selbstverwirklichung und wird durch Songs von PJ Harvey in Bewegung gesetzt. Van Hove stellt eine neue Form von Musiktheater in Aussicht, mit der er auch neues Publikum anlocken möchte. Die Hauptrolle spielt und singt die auch international hochgelobte Sandra Hüller. Schon das ist ein Signal erster Güte.

Auch das Motto des ganzen Veranstaltungsreigens lautet Englisch: „Longing for Tomorrow“ (etwa: Sehnsucht nach Zukunft). Noch ein Beispiel für die vorherrschende Anglophilie: „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“, ein Abend über queeres Selbstbewusstsein und die sanfte Kraft der Gewaltlosigkeit. Um etwaige Missverständnisse auszuräumen: „Faggot“ ist ein Slangwort für Schwule und hat nichts mit einem ähnlich geschriebenen Musikinstrument zu tun. Weitere Produktionen, die wir hier nicht weiter auffächern können und wollen, nennen sich „One One One“, „Pump Into the Future Ball“ oder auch – gedacht für unter sechsjährige Menschen – „Little Ears, Tiny Feet“…

Immerhin ein Titel ist französisch: „Bérénice“, 1670 uraufgeführte Tragödie von Jean Racine, kommt als Einpersonendrama zur Triennale. Es spielt ein Weltstar des Theaters und Kinos, nämlich die unvergleichliche Isabelle Huppert.

Isabelle Huppert als Racines Tragödiengestalt „Bérénice“ (Foto: © Alex Majoli)

Ganz ohne waltenden Zeitgeist geht es natürlich auch bei der Triennale nicht. Da wird vielfach schwarze Geschichte aufgerufen, zudem werden queere Identitäten „sichtbar gemacht“. Im breiten Themenspektrum finden überdies Natur und Klima ihre gebührenden Plätze. Schließlich sind einige Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine an diversen Projekten beteiligt.

„Slapstick-Operette“ mit Grönemeyers Musik

Die hauptsächlichen Schwerpunkte liegen auf allerlei Musiktheater-Mischungen mit mehr oder weniger kühnen Grenzüberschreitungen zwischen so genannter „E-Musik“ und Rock. Eine ganz spezielle Darbietung rankt sich um 16 Songs von Herbert Grönemeyer (!). Die Chose wird als „erstes deutsches Slapstick-Operetten-Musical“ angepriesen, wobei „Herbie“ gar in die Nähe eines Rossini gerückt wird. Die turbulente Handlungs-Vorlage stammt jedenfalls vom Komödien- und Farcenschreiber Eugène Labiche und heißt „Ein Florentinerhut“. Der Triennale-Titel des ziemlich schräg anmutenden Projekts lautet „Pferd frisst Hut“. Wohl bekomm’s.

Dermaßen vielfältig kommt die nächste Triennale-Ausgabe daher (u. a. auch mit  Tanzproduktionen, Bildender Kunst, Autorenauftritten und Filmen), dass man sich möglichst die Programmdetails im Internet-Auftritt anschauen oder aber gleich das Programmbuch besorgen sollte. Der Vorverkauf der rund 40.000 Tickets hat unterdessen bereits heute (15. April) begonnen. Wer zuerst kommt…

Ruhrtriennale: 16. August bis 15. September 2024 in Bochum, Essen und Duisburg.

Kartenverkauf:

Ticket-Hotline: 0221/28 02 10 (Mo-Fr 8-20, Sa 9-18, So 10-16 Uhr) www.ruhrtriennale.de/de/tickets




Jede Oper eine eigene Welt: Mit Peter Eötvös verliert die musikalische Welt einen prägenden Komponisten

Das Bild zeigt Peter Eötvös bei einem Gespräch am 25. Juni 2014 anlässlich der Uraufführung seiner viel gespielten Oper „Der goldene Drache“ in Frankfurt. (Foto: Werner Häußner)

Eine typische Selbsttäuschung: Zuerst wollte ich die Nachricht gar nicht glauben, dachte, es sei eine Falschmeldung. Doch schnell bestätigte sich: Peter Eötvös ist am Sonntag, 24. März gestorben, mit 80 Jahren. Innerhalb nur weniger Tage hat die musikalische Welt nach Aribert Reimann (1936-2024) einen zweiten prägenden Komponisten der letzten Jahrzehnte des 20. und ersten des 21. Jahrhunderts verloren. Nachrufe wird es genug geben, daher hier ein paar persönliche Erinnerungen an einen Herzblut-Musikmenschen, der auch mit dem Rheinland eng verbunden war.

Der Ungar Peter Eötvös, geboren 1944 in Székelyudvarhely in Siebenbürgen, war ein wunderbar kreativer Kopf. Seine vierzehn Opern sind jede für sich ein individuelles Meisterwerk, verbinden immer neu gedachte Musik und mitreißende Bühnenwirkung. „Jede Oper muss eine eigene Sprache, eine eigene Welt, eine eigene stilistische Klangsprache haben“, sagte er einmal. 1998 gelang ihm der internationale Durchbruch mit der in Lyon uraufgeführten Oper „Tri Sestri“.

Schon ein Jahr später brachte die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf das Werk nach dem Drama „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow nach Deutschland, wo es mehrfach nachgespielt wurde: Gabriele Wiesmüller inszenierte es mit scharfem Blick auf die ausweglose Situation der Figuren in Koblenz; im letzten Jahr war in Hagen eine Inszenierung von Friederike Blum zu sehen. Sie ließ erleben, wie die Menschen in folgenlosen Träumen und vergeblichen Sehnsüchten gefangen sind. Eötvös und sein Librettist Claus H. Henneberg weichen von der linearen Erzählweise Tschechows ab und nehmen in drei Sequenzen die Perspektive der Figuren Irina, Andrej und Mascha ein.

Auf dem Deckchen: „Tri Sestri“ in Hagen mit Vera Ivanovic (Natascha) in der Mitte. (Foto: Leszek Januszewski)

Über 200 Uraufführungen dirigiert

1998 war Eötvös bereits als Dirigent hervorgetreten. Zuvor hatte er 1958 mit Vierzehn das Studium an der Budapester Musikakademie bei Zoltán Kodály aufgenommen und ab 1966 in Köln Dirigieren studiert. Ab 1968 arbeitete er eng mit Karlheinz Stockhausen zusammen; zehn Jahre später übertrug ihm Pierre Boulez die Leitung des Ensembles „Intercontemporain“. Eötvös stellte das Komponieren zurück und widmete sich dem Dirigieren. Über 200 zeitgenössische Werke konnte er mit dem Ensemble uraufführen.

Aber er brachte mit seiner freundlichen Art und seiner Leidenschaft vielen großen Orchestern seinen Begriff von zeitgenössischer Musik nahe, vom Concertgebouw Orkest Amsterdam über die Berliner bis zu den Wiener Philharmonikern  – und nicht zuletzt seinem Radio Kammerorchester Hilversum, das er zehn Jahre bis 2004 leitete. Im Funkhaus Köln hatte Eötvös seine ersten Schritte getan; sein geplantes Konzert am 23. September 2023 mit dem WDR Sinfonieorchester mit eigenen Werken und Kompositionen seines Landsmanns György Kurtág und seines langjährigen künstlerischen Partners Karlheinz Stockhauen musste er bereits „aus anhaltenden gesundheitlichen Gründen“ absagen.

Stockhausen-Uraufführung in Mailand

Der Besetzungszettel der Uraufführung von „Donnerstag aus Licht“ aus dem Teatro alla Scala in Milano mit Peter Eötvös als Dirigent. (Repro: Archiv Werner Häußner)

Das erste Mal als Dirigent habe ich ihn in „Donnerstag aus Licht“ von Karlheinz Stockhausen 1981 an der Mailänder Scala erlebt. Das war die szenische Uraufführung des ersten Tages aus dem riesigen, alle sieben Wochentage umfassenden Zyklus des „Licht“-Musiktheaters.

Und die erste Oper, die ich von Eötvös gesehen habe, hat mich sofort fasziniert: „Love and other Demons“ 2009 in Chemnitz unter Frank Beermann hat in der subtilen Regie von Dietrich Hilsdorf den „magischen Realismus“ der Vorlage von Gabriel García Márquez eingefangen. Nichts in dieser Welt war so, wie es schien, Bilder und Figuren blieben unaufgelöst mehrdeutig: Die Offenheit erzeugte eine kaum mehr erträgliche Spannung. Dahinter blieb die Kölner Inszenierung von Silviu Purcarete 2010 in ihrer erzählenden Eindeutigkeit weit zurück.

Denn Eötvös erzählt in seinen Opern nicht einfach Geschichten. Ohne in platte Aktualisierung zu verfallen, greift er gesellschaftliche Entwicklungen auf. Dabei bleibt er aber nicht stehen, sondern gibt seinen Stoffen durch die Musik die Qualität erzählter Philosophie – etwa in der „Tragödie des Teufels“ durch einen vielfach gebrochenen, gleichnishaften Blick auf die in sich zerrissene menschliche Existenz, in „Liebe und andere Dämonen“ auf die unkalkulierbare Welt und den „romantischen“ Verdacht, hinter den erfahrbaren Eindrücken könnten noch ganz andere Kräfte stecken. „Angels in America“, in Frankfurt von Johannes Erath beklemmend intensiv inszeniert und in Münster von Carlos Wagner zu einer Weltentragödie erweitert, ist so nicht nur ein Stück über die zerstörerischen Folgen von HIV, sondern eines über die Zerbrechlichkeit des Menschen und seiner Beziehungen.

Bei der bislang einzigen Inszenierung seiner erfolgreichen, 2014 in Frankfurt uraufgeführten Oper „Der goldene Drache“ in der Rhein-Ruhr-Region 2019 in Krefeld durch Petra Luisa Meyer kam Eötvös zur B-Premiere nach Mönchengladbach und sprach – wie so oft andernorts – mit dem Publikum im Theatercafé. Zum „Requiem“ für ihn wurde nun die jüngste Uraufführung seiner Oper „Valuschka“ in Regensburg am 3. Februar 2024. Zur Premiere konnte er – schwer erkrankt – schon nicht mehr kommen, begleitete aber aus der Ferne den Produktionsprozess. Die groteske Tragikomödie über das Hereinbrechen einer Katastrophe thematisiert Angst, Macht und entfesselte Gewalt.

Peter Eötvös hat wie der am 13. März mit 88 Jahren verstorbene Aribert Reimann – dessen Oper „Bernarda Albas Haus“ in einer Inszenierung von Dietrich Hilsdorf in der vergangenen Spielzeit in Gelsenkirchen zu den Höhepunkten der Saison gehörte – gezeigt: Die Oper im 21. Jahrhundert ist keineswegs tot. Sie hat die Kraft, Menschen in ihren Bann zu ziehen und bleibt auch unter den Vorzeichen der Postmoderne ein unerschöpfliches „Kraftwerk der Gefühle“.




Märchenwelten: Das Musiktheater im Revier vereint Kurzopern von Tschaikowsky und Strawinsky zum reizvollen Doppel

Ein Garten wie eine Insel: Jolanthe (Heejin Kim) ist blind und lebt abgeschieden von der Welt. Doch Ritter Vaudémont naht (Khanyiso Gwenxhane. Foto: Pedro Malinowski)

Die Liebe lehrt sie sehen: Jolanthe, blinde Titelheldin von Tschaikowskys letzter Oper, gleicht einer Dornröschenfigur, die erwacht – und dadurch erwachsen wird. Von ihrem Vater streng behütet, erfährt sie erst durch einen fremden Ritter, dass es jenseits ihres abgeschiedenen Gartens eine sichtbare Welt voller Farben und Formen gibt.

Märchenhafte Züge trägt auch Igor Strawinskys Oper „Le rossignol“ (Die Nachtigall), ein Auftragswerk nach einer Vorlage von Hans Christian Andersen. Weil beide Werke nicht abendfüllend sind, erlebt man sie selten auf der Bühne. Das Gelsenkirchener Musiktheater (MiR) bindet sie jetzt zu einem reizvollen Doppel zusammen.

Das ist eine hübsche Alternative für alle, die dem engen Repertoire von Spielplänen entkommen möchten, die allseits bekannte Evergreens immer wieder neu auflegen. „Carmen“, „Die Zauberflöte“ und „Rigoletto“ bringen eben gute Publikumszahlen, und wer oder was würde heutzutage nicht an der Quote gemessen? Dabei gäbe es so viel gute Musik zu entdecken. Der neue Doppelabend in Gelsenkirchen ist dafür ein schöner Beweis.

Jolanthe (Heejin Kim) wird von ihren Dienerinnen eingekleidet (Foto: Pedro Malinowski)

Weil beide Kurzopern eine fantasievolle, optisch ästhetische Umsetzung erfahren, verzeiht sich manche Unbeholfenheit der Regie. Zu deren Verteidigung muss auch gesagt werden, dass Tschaikowskys „Jolanthe“ nach stimmungsvollem Beginn ins Sentimentale abrutscht. Das versucht Tanyel Sahika Bakir zu verhindern, indem sie das „Erwachen“ der Titelheldin nicht in allgemeines Gotteslob münden lässt, sondern Jolanthe von ihrer Insel der Seligen holt. Ihr Gartenrondell schwimmt wie eine Seerose in einem tristen Bühnenhalbrund, in dem schwer bewaffnete Männer die Herrschaft ihres Vaters durchsetzen (Bühne: Julia Schnittger).

Ihn, den König René, erkennt sie erst nach der Heilung durch den Arzt Ibn-Hakia als Despoten. Aber das erschließt sich erst nach der Lektüre des Programmhefts. Um zu diesem Ende hinzuführen genügt es nicht, eine gesichtslose Soldateska ausgiebig mit Gewehren herumfuchteln zu lassen. Eine Duell-Konstellation zwischen dem Ritter Vaudémont, der Jolanthe liebt, und König René, der die Tochter weiter unter Kontrolle halten will, wird nicht deutlich. Stattdessen scheint plötzlich jeder auf jeden zu zielen. Das hinterlässt Fragezeichen.

Mit Waffengewalt wird Jolanthes Welt beschützt (Foto: Pedro Malinowski)

Alles Weitere fügt sich in der Produktion so ineinander, dass dieser Jolanthe ein angemessener Liebreiz zuwächst: eben nicht süßlich, sondern lyrisch und licht. Dafür sorgen an erster Stelle das Gesangsensemble und die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Rasmus Baumann, die Tschaikowskys Partitur mehr und mehr in Fluss bringen.

Aus dem kammermusikalischen Beginn – nur Holzbläser und Hörner gestalten das Vorspiel – entwickelt sich ein grandioses Melos, das in die Seele der Hauptfiguren hineinleuchtet. Dazu gibt es lautmalerische Effekte, wenn die Ankunft des Königs mit Hörner- und Trompetenschall zelebriert wird, wenn Bratschen und Celli das Getrappel der Pferde nachahmen oder wenn der Arzt Ibn-Hakia sein Therapiekonzept mit orientalischen Melismen ausschmückt.

Heejin Kim versteht sich darauf, ihren Sopran aus innigem, beinahe schüchternem Piano aufblühen zu lassen. Auch wenn die große Entdeckung, die Jolanthe durch den Ritter Vaudémont macht, immer höhere Wogen schlägt, behält die Sängerin diesen hellen Schimmer bei, nimmt sie uns mit auf einen Wellenritt der Emotionen. Für ekstatische Höhepunkte hat sie genug Durchschlagskraft, setzt diese aber mit eleganter Zurückhaltung ein. Khanyiso Gwenxhane zeigt sich als Ritter Vaudémont auch stimmlich glänzend gerüstet: Sein Tenor vereint Geschmeidigkeit mit hellen Farben. Dem setzt Philipp Kranjc (König René) als sein Gegenspieler einen markigen Bass entgegen. Benedict Nelson mischt als Arzt Ibn-Hakia zweifelnde Töne in seinen warmen, empathisch klingenden Bariton.

Unterstützt werden die musikalischen Leistungen durch die Kostüme von Hedi Mohr, die unaufdringlich ein Aufeinandertreffen von Islam und Christentum andeuten, und die Beleuchtung von Patrick Fuchs, die das künstliche Rondell aus dem Dunkel herausschneidet, als sei es das verlorene Paradies.

Ja wo ist sie denn? Der Hofstaat sucht nach der Nachtigall, denn sie wird vom Kaiser von China erwartet. (Foto: Pedro Malinowski)

Deutlich bunter, ja beinahe comichaft geht es in Strawinskys „Le rossignol“ zu, in der sich die Regie von Kristina Franz sehr wirkungsvoll mit dem Puppentheater ergänzt. Das Märchen von der chinesischen Nachtigall, die in der kaiserlichen Gefangenschaft zunehmend versagt und leichtfertig durch einen Automaten ersetzt wird, deutet die Regie als Kampf zwischen Natur und Künstlichkeit, letztlich auch zwischen Leben und Tod. Auch dies erschließt sich eher im Programmheft als auf der Bühne, aber die szenische Umsetzung ist so hübsch anzusehen und Strawinskys Musik so originell, dass sich darüber hinwegsehen lässt.

Im Wesentlichen ist „Le Rossignol“ ein stimmlicher, mit Koloraturen und Spitzentönen gespickter Hochseilakt. Den meistert die belgische Sopranistin Lisa Mostin bewundernswert schwindelfrei; die Spezialisierung auf dieses Fach ist ihr anzuhören. Frei bewegt sie sich aber nicht nur stimmlich: Sie stellt auch in ihren Bewegungen ein Naturwesen dar, in einem unscheinbaren braunen Kleid, das sich von der farbenfroh gewandeten Hofgesellschaft absetzt (Kostüme: Hedi Mohr).

Eine Schachfigur erwacht zum Leben: Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma und Maximilian Teschemacher führen eine Puppe von Jonathan Gentilhomme (Foto: Pedro Malinowski)

Der zweite große Clou dieser Inszenierung sind die Puppen von Jonathan Gentilhomme, der einer kleinen weißen Schachfigur zunächst einen kleinen Kobold entsteigen lässt, der allmählich zum Riesen wächst (und laut Programmheft den Tod darstellen soll). Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma und Maximilian Teschemacher bewegen diese Figuren so kunstvoll, dass sie ein staunenswertes Leben gewinnen.

Vokaler Höhenflug: die belgische Sopranistin Lisa Mostin als Nachtigall (Foto: Pedro Malinowski)

Im Orchestergraben gelingt es Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen, der Musik über den Bruch hinweg zu helfen, der sich durch die zwischenzeitliche Uraufführung von „Le Sacre du Printemps“ im Kompositionsprozess ergab. Klingt im ersten Akt noch Impressionistisches à la Claude Debussy durch, wird es im weiteren Verlauf deutlich moderner, ragt das Werk hörbar ins 20. Jahrhundert hinein. Dass „Le Rossignol“ sich auf der Opernbühne nie so recht durchsetzen konnte, ist nicht allein der Musik wegen schade. Kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs entstanden, besitzt die Fabel einen zeitlos aktuellen Kern: Mensch, Natur und Seele stehen auf der einen Seite, der kalte Mechanismus der Maschine auf der anderen.

(Karten und Termine: www.musiktheater-im-revier.de)




Seelische Zerstörung: Floris Vissers penetrantes Bildertheater für Mozarts „Idomeneo“ in Köln

In der Gummizelle: Kathrin Zukowski (Ilia), Kinderstatist, Anna Lucia Richter (Idamante), Peter Bermes (Idomeneo). (Foto: Sandra Then)

Der alte Mann entkommt seiner Zelle nicht. Auf weiße gepolsterte Wände zeichnet er mit nervösem Strich immer wieder das gleiche Männchen, mit einem Dreizack in der Hand. Beim Familienbesuch rastet er aus, muss mit einer Spritze ruhiggestellt werden.

Floris Visser führt während der Ouvertüre von Wolfgang Amadeus Mozarts „Idomeneo“ die Titelfigur als einen Gezeichneten ein. Kein herkömmliches Regietheater-Irrenhaus-Setting: Denn die Zelle weitet sich, eröffnet einen Hintergrund in hyperrealistischem Licht, mit dem James Farncombe die felsige Strandlandschaft der Bühne Jan Philipp Schlößmanns in überzeichnet scharfe Konturen taucht. Der Naturalismus eines „Schauplatzes“ wird so ausgehebelt; der alte Mann, unschwer als Idomeneo zu identifizieren, beginnt durch seine innere Landschaft zu irren.

Mit seiner Inszenierung an der Oper Köln im Staatenhaus versucht Visser, diese Seelenwelt eines Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einzuholen – einer psychischen Verwundung, die in Flashbacks Erlebnisse der eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit so intensiv zurückholen kann, dass die betroffene Person die Erfahrung wieder und wieder mit der gleichen emotionalen Intensität durchleidet und sogar unfähig sein kann, sie als Erinnerung zu identifizieren. So flutet Visser die Bühne mit heterogenen Bildern und Szenen, in denen Idomeneo doppelt präsent ist – als Uniform tragender Soldat Bestandteil des Geschehens; als Greis im Nachthemd ein stummer, staunender oder leidender Beobachter. Er steht im wahrsten Sinn des Wortes „neben sich“, wenn er sogar einmal den gemarterten Feldherrn Idomeneo in den Arm nimmt.

Unablässiger Aktivismus

Drei Stunden dichte, in kaum einem Moment ihre Tiefe und Komplexität verlassende Musik hat Visser szenisch zu bewältigen. Er setzt den langen Rezitativen einen unablässigen Aktivismus entgegen. Auch die Arien erlauben keine Ruhepunkte. Im Sinne des Konzepts ist das folgerichtig, denn ein Flashback kennt kein Innehalten und Reflektieren. Aber der Zuschauer, der nach dem Zeichenhaften der Aktionen sucht, wird von der Dynamik der szenischen Unermüdlichkeit zugeschüttet. Irgendwann stumpfen die visuellen Ausrufezeichen ab. Aber – das muss Visser zugestanden werden: Die penetrante Qual, die im Wiederholen traumatisierender Momente liegt, spiegelt sich in dieser Tretmühle der Zeichen wider.

Der Fluch der Gewalt gebiert das Trauma: Daniel Calladine personifiziert es in Floris Vissers „Idomeneo“-Inszenierung in Köln. (Foto: Sandra Then)

Visser verwendet Bilder aus den Kriegen der Gegenwart: Leichensäcke am Strand, Menschen, die Tote identifizieren müssen, das ertrunken angespülte geflüchtete Kind Alan Kurdi, die Anzüge von Abu Ghraib in Orange, Opfer mit verhüllten Köpfen, eine Trauerfeier an sandigem Gestade. Er verbindet diese Kriegs- und Gewaltchiffren mit Hinweisen auf den antiken Mythos: Eine schwarze Gestalt, „das Trauma“ (Daniel Calladine) geistert mit einem Beil durch die Szenerie, das auf den Tod Agamemnons und den Fluch der Atriden hindeutet. Anderes wirkt überzogen, etwa eine Szene, in der Idomeneo offenbar in den trojanischen Krieg abberufen wird, als er gerade mit seinem Kind Idamante am Strand ein Badetuch ausgebreitet hat. Deplatziert auch die griechische Fahne, neben der am Ende einträchtig eine türkische flattert. Solche allzu expliziten Verweise stören den psychologischen Gedankengang durch weit hergeholte politische Konkretion.

Zweifel am Sieg der Liebe

Wenn im Finale „die Stimme“ (Lucas Singer) – und, wohlgemerkt, nicht Neptun oder ein anderer der Götter – die Lösung verkündet, spricht der alte Idomeneo (Peter Bermes) tonlos auf der Bühne mit. Ein Funke Hoffnung? Ob aber wirklich die Liebe über alles siegt, zweifelt Vissers Schlussbild leise an: Sinnierend liest Ilia, die trojanischen Prinzessin, die eigentlich die „natürliche“ Feindin der Griechen sein müsste, ein Holzpferd ihres Kindes auf – ein Verweis auf das trojanische Pferd und die eigene, nach Vergeltung rufende Wunde?

Auch im Orchestergraben gelingt es nicht durchgehend, die Spannung zu halten. Bei aller Wertschätzung dieses genialen Wurfs eines 25-Jährigen neigt man dazu, die eine oder andere Kürzung in den Rezitativen als sinnvoll zu erachten. Rubén Dubrovsky verführt das Gürzenich Orchester schon in der Ouvertüre zu feinsinnig detailreichem Spiel. Er fasst den Klang mit scharfer Kontur, lässt luftige Bläserakzente setzen, hebt generell hervor, mit wie unermüdlicher Kreativität Mozart die Fallen gleichförmiger Wiederholungen, stereotyper Harmonie oder schematischer Instrumentation umgeht. Anderes, so das berühmte Quartett des dritten Akts, bleibt seltsam blass. Aber das Gürzenich Orchester spielt in der ganzen langen Zeit hoch konzentriert und verströmt elegant ausgewogenen Mozartklang.

Insgesamt eine gediegene Besetzung

Intendant Hein Mulders hat für diesen ambitionierten „Idomeneo“ eine insgesamt gediegene Besetzung verpflichten können: Sebastian Kohlhepp ist ein anfangs etwas kehlig intonierender, sich zunehmend frei singender Idomeneo, der in den Koloraturen seiner Arie „Fuor del mar“ alle inneren Qualen freilegt, da er die Bedrohung durch Neptun im fürchterlichen Meer seines Herzens weiter spürt.

Kohlhepp ist in den dramatischen Momenten ebenso sicher wie in dieser expressiven Beweglichkeit, die weniger auf technischen Glanz als auf den existenziell aufgewühlten Ausdruck achtet. Auch als Darsteller steigert er sich mit beinah stummfilmhafter Intensität in die Rolle eines Menschen, dessen furchtbarstes Schicksal ist, sich selbst nicht entkommen zu können. Floris Vissers Vorzeigetheater lässt ihn dabei keinen Moment allein. In der Arie „Vedrommi intorno“ erweitert er den Schauder vor dem bald zu vergießenden Blut: Eine nackter blutiger Junge erinnert Idomeneo wohl auch an die Opfer, die der Krieg um Troja gekostet hat. Die Orchesterbegleitung dieser Arie gehört übrigens zu den Höhepunkten des Abends.

Aus der Stimme gestaltete Musik

Anna Lucia Richter als Idamante. (Foto: Sandra Then)

Eine nahezu ideale Besetzung ist Anna Lucia Richter in der Rolle des Idamante: eine sanft geführter, ausgeglichener, leuchtender Mezzo, der den edlen, empfindsamen Charakter des jungen Prinzen in purem Wohllaut repräsentiert, ohne die entspannte Tonbildung aufgesetzten expressiven Gesten zu opfern. Gestaltung aus der Musik und aus dem Material der Stimme: Hier wird’s zur beglückenden Realität.

Auch Kathrin Zukowski punktet als Ilia mit kultiviertem Singen und einem zarten, gepflegten Timbre. Sie neigt allerdings zu flachen, manchmal dünn-ungestützten Tönen, die sie nicht nötig hat, um die lyrische Grundierung etwa von „Zeffiretti lusinghieri“ – einem vokalen Paradestück der Oper – zu sichern. Mit einer abgesicherten Stütze im Körper könnte Zukowski auch die ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen technisch perfektionieren.

Ana Maria Labin stellt sich mutig und erfolgreich der Herausforderung, die „Furien der grausamen Unterwelt“ – bei Visser treten sie natürlich leibhaftig auf – in schneidender Dramatik zu beschwören und die bizarren Ausbrüche ihres wütenden Abgangs am Ende zu erfassen. Aber in ihrer Liebesarie im zweiten Akt zeigt sie auch ihre andere Seite, die einer zärtlich fühlenden Frau, die sich trügerischen Hoffnungen hingibt und daher umso herber enttäuscht wird. Anicio Zorzi Giustiniani darf sich als Arbace mit ausgeprägtem, manchmal zu grell nach vorne gedrängtem Ton ebenfalls in zwei Arien zeigen; John Heuzenroeder ist ein würdig gefasster Oberpriester.

Der Chor der Oper Köln (Rustam Samedov) ist eines großen Kompliments würdig für die wie selbstverständlich wirkende Integration in die szenische wie musikalische Seite der Aufführung. Floris Vissers Bildertheater ist durchaus eine Zumutung; wer sie als bloß illustrativ wahrnimmt, wird des Abends irgendwann einmal überdrüssig. Wer sie als Spiegel einer seelischen Zerstörung akzeptiert, wird in ihrer Penetranz die unheilvollen psychischen Abläufe erkennen, die – über den Kriegsheimkehrer Idomeneo hinaus – heute Tausende von Menschen innerlich überfluten.

Weitere Vorstellungen: 25., 28. Februar, 2., 8., 10., 13. März. Info: https://www.oper.koeln/de/programm/idomeneo/6687




„Also hieß es wieder Koffer packen“ – Erinnerungen des Theatermannes Jürgen Flimm

Schon als kleiner Kölner Junge ist Jürgen Flimm rettungslos dem Theater und der Musik verfallen, er singt im Knabenchor und liebt kindliche Rollenspiele. Im Schlepptau seiner Großmutter besucht er die städtischen Bühnen und Konzerthallen. Die Freikarten werden ihnen von einem Onkel zugesteckt, der als Organist und Journalist in der Domstadt sein kulturelles Unwesen treibt.

Jürgens Vater ist tagsüber Mediziner und verbringt abends als Theater-Arzt viele Stunden im Dunstkreis der Bühnen. Kaum verwunderlich, dass es auch den jungen Studenten Jürgen magisch zur Kunst und zur Avantgarde zieht. Von Dada ist es nicht weit zu Fluxus, von Kurt Schwitters und Hans Arp ist es nur ein Steinwurf zu Karlheinz Stockhausen, Joseph Beuys, Pina Bausch und Samuel Beckett. „Keine Frage, ich wollte Regisseur werden, was das auch immer war. Wie aber lernt man das? Und wo?“

Ein Weltbürger aus Köln

In seinen „Erinnerungen“, an denen Jürgen Flimm lange gefeilt hat und die jetzt (ein Jahr nach seinem Tod) erschienen sind, beschreibt der 1941 geborene Theater- und Opern-Berserker, der an vielen Bühnen Spuren hinterließ, mit rheinischem Humor, wie er zum künstlerischer Weltbürger wurde. Geradezu larmoyant schreitet er wichtige Stationen seines von Erfolgen und Niederlagen gezeichneten Weges durch die internationale Bühnenwelt ab, lässt nebenbei die Namen von unzähligen Kollegen wie Brosamen vom Kultur-Tisch fallen, skizziert Intention und Machart seiner Inszenierungen, die ihm oft Einladungen zum Berliner Theatertreffen bescherten.

Tief steigt Jürgen Flimm hinab in die Abgründe und Intrigen der Kulturpolitik, die ihn immer wieder sprachlos machten, deren Spiel er aber furios beherrschte. Wäre Flimm, dem das Genialische fehlte, sonst als Intendant ans Kölner Schauspielhaus und ans Hamburger Thalia Theater berufen worden, zum Leiter der Ruhrtriennale und der Salzburger Festspiele und zum Intendant der Berliner Staatsoper geworden? Flimm wusste, wie man bei Sponsoren Geld locker macht, Politiker umgarnt und Schauspieler bezirzt.

Mannheim – welch ein Irrtum!

Vieles ist ihm, der sich alles hart erarbeiten musste, gelungen. Sein Bayreuther „Ring“ war denkwürdig, seine Arbeiten an der Met in New York sorgten für Furore. Doch einige bittere Pillen musste auch er schlucken: Seine Zeit als Spielleiter an der Salzach (2006-2010) bezeichnet er freimütig als „Fehler“, den kurzen Abstecher (1972/73) nach Mannheim als „Unglück“: Der damals noch ziemlich unbekannte Flimm hatte Rosinen im Kopf, sagte sich: „Geh doch erst mal in die Provinz, da lernst du, abseits der Metropolen. Da kannst du in der Abgeschiedenheit sorgsam vor dich hin werkeln. Welch ein Irrtum!“ Flimm und das Ensemble, besoffen von Mitbestimmungs-Ideen, Kollektiv- und Kommune-Idealen, „scheiterte dann aber schnell an der städtischen Kulturbürokratie und der Verantwortungsphobie des Generalintendanten“. Die Inszenierungen zündeten nicht, die Stimmung wurde frostig.

Dazu kam ein privates Unheil, als nur drei Wochen nach der Geburt sein kleines Kind starb. Flimm und seine damalige Ehefrau, die Schauspielerin Inge Jansen, entschlossen sich zur „hastigen Flucht“ aus Mannheim: „Also hieß es wieder Koffer packen.“ Weiter ziehen. Irgendwo wartete bestimmt eine neue Herausforderung, eine neue Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“, die ihn schon als Student in einem Kölner Kellertheater faszinierte und die er später immer wieder – auch in New York – inszenierte. Mit leichter Hand und feinem Schmunzeln erzählt Flimm davon in seinen „Erinnerungen“, deren Titel („Mit Herz und Mund und Tat und Leben“) er sich bei Johann Sebastian Bach und seiner wunderbaren Kantate „Jesus bleibet meine Freude“ ausgeliehen hat. Flimm griff eben immer gern ins ganz große Regal. Schade nur, dass der Verlag auf ein Namens- und Inszenierungs-Verzeichnis verzichtet hat.

Jürgen Flimm: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben. Erinnerungen.“ Kiepenheuer & Witsch. Köln 2024, 350 Seiten, 26 Euro.




Musikalisch lohnende Mozart-Rarität: „Ascanio in Alba“ an der Oper Frankfurt

Die künstliche Welt im Zentrum: „Ascanio in Alba“ mit Kateryna Kasper (Venus) und Cecelia Hall (Ascanio). (Foto: Monika Ritterhaus)

Glückliche Menschen, wenn das Sollen und das Wollen in so wunderbarer Übereinstimmung zueinander finden. Für die junge Silvia ist der vorher bestimmte Bräutigam zugleich der Mann ihrer Träume.

Ein Wunder ist das nicht, hat doch keine Geringere als die Göttin der Liebe, Venus höchstpersönlich, das Verhältnis für ihren Sohn Ascanio arrangiert und Amor losgeschickt, um die Träume des Mädchens zu manipulieren, das sich prompt in das Traumbild Ascanios verliebt.

Der Konflikt, der daraus in Wolfgang Amadeus Mozarts „Ascanio in Alba“ entsteht, ist ein milder. Nur kurz währt die Wehmut, als Silvia einen jungen Unbekannten kennenlernt, der dem Mann ihrer Träume gleicht. Aber sie ist ja „Ascanio“ versprochen, den sie nie gesehen hat. Dieser Verpflichtung bleibt sie, ihre Neigung unterdrückend, treu. Bald belohnt Göttin Venus die standhafte Braut und offenbart ihre sorgfältig eingefädelte Tugendprobe: Der Geliebte aus ihren Träumen ist niemand anderes als ihr Bräutigam! Silvia und Ascanio haben die Prüfung bestanden und werden verheiratet; Wonne und Jubel durchziehen das Ende der musikalisch erstaunlich avancierten Partitur des 15jährigen Mozart.

Eine Allegorie für die Gegenwart?

Bei der Frankfurter Erstaufführung der „festa teatrale“ (aus dem Jahr 1771) versucht Regisseurin Nina Barzier tapfer, die Allegorie auf die Hochzeit des Habsburgers Ferdinand Karl mit Maria Beatrice d’Este in die Gegenwart zu holen. Im Bockenheimer Depot baut Christoph Fischer dafür eine kugelförmige Bühne wie einen abgeschlossenen Globus, in dem alle gefangen sind. Eine Galerie bietet der Göttin Venus – im beziehungsreich ausgedachten Libretto von Giuseppe Parini ein Reflex auf die Mutter Ferdinands und Ehestifterin Kaiserin Maria Theresia – den passend erhobenen Auftrittsraum.

In Fenstern ist verschwommen eine Außenwelt zu ahnen, die aber keine Rolle spielen darf. Die Natur muss draußen bleiben. Auf einer halbierten Weltkugel rollt dagegen eine kristalline, magisch beleuchtete Skyline herein: Symbol der neuen Stadt Alba, die der mythische Gründer Ascanio errichten soll, aber auch eine Chiffre für die künstliche, selbst konstruierte Welt der Figuren. Denn Venus tritt bei Brazier auf wie eine coole Konzernchefin, die alles unter Kontrolle hat – eine mächtige Frau wie aus einem Science-fiction-Märchen, in dem es freien Willen oder wild wuchernde Emotionen nicht mehr gibt, die Menschen aber auch nicht mehr merken, wie sie manipuliert sind – oder es willig akzeptieren.

Ein Spiel mit komplementären Farben

Dieses luftige Spiel mit künstlichen Konflikten wird von einer raffinierten Farbwahl der Bühne Fischers und den Kostümen von Henriette Hübschmann sinnlich unterstützt. Jonathan Pickers flutet das Bühnen-Ei mit sattgelbem Licht, in dem das saftige Blau der Kostüme des Venus-Gefolges durch die komplementäre Farbwirkung umso kraftvoller wirkt. Die Pink-Schattierungen, in denen Ascanio und Silvia auftreten, beißen sich damit – aber wenn sich das Licht ins Lindgrüne verschiebt, ergibt sich auch mit dem Pink ein komplementärer Gegensatz. So spiegeln sich in den intensiven Farben die Beziehungen und die wirklichen Verhältnisse der Figuren wider. An so viel kluger Offensichtlichkeit hat man seine Freude.

Viel zu gewinnen für heute ist aus diesem Jugendwerk ansonsten nicht, auch wenn Nina Brazier versucht, die Problematik der arrangierten, politisch motivierten Ehe in die Gegenwart ´zu übertragen. Aber die klassische Konfliktsituation zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen findet sich in anderen Opern des 18. Jahrhunderts eindrücklicher und emotional-musikalisch bewegender gestaltet. Was über die Zeit hinaus spannend wäre, der Konflikt zwischen dem Traumbild eines Menschen und seiner realen Existenz, bleibt in Braziers Inszenierung ein Nebenthema. Da sich die Regie aber auf die Personen einlässt, ihnen Profil gibt und die Bezüge szenisch intensiv gestaltet, kommen keine Längen auf. Die knapp zweieinhalb Stunden ziehen sich nicht.

Souveräne Musik eines 15-Jährigen

Das ist auch Verdienst der Musik, die letztlich rechtfertigt, das aus der Zeit gefallene, stark an seinen Zweck gebundene Stück zu spielen. Mozarts formale Souveränität, seine melodische Erfindungskraft, seine Instrumentation – die Bläser sind markant, aber noch nicht so selbständig wie später – tragen den Abend. Alden Gatt, seit dieser Spielzeit Kapellmeister und Assistent des GMD an der Frankfurter Oper, leitet das Frankfurter Opern- und Museumsorchester zu straffen, aber nie überzogenen Tempi an, sucht einen eher strahlend kompakten statt transparenten Klang, lässt den Sängern Raum, sich zu entfalten…

…und die nutzen ihre Chance fabelhaft. Wieder einmal ist zu hören, wie erfolgreich sich Bernd Loebes beharrliche Ensemblepflege auswirkt. Die Rollen sind nach Typen besetzt, aber die jungen Leute auf der Bühne bringen auch technisch ungetrübt ausgebildete Stimmen mit und setzen ihr Potenzial erfrischend musikalisch gestaltend ein. Kateryna Kasper ist die erfahrenste unter den Solistinnen und bereits seit zehn Jahren im Ensemble. Ihre Venus changiert mit Autorität zwischen den mütterlichen und den herrscherlichen Zügen der Figur, die nach dem Vorbild Maria Theresias durchaus die umfassende Kontrollgewalt über ihre „Kinder“ beansprucht.

Cecelia Hall als Ascanio. (Foto: Monika Ritterhaus)

Karolina Bengtsson, seit dieser Spielzeit im festen Ensemble, hat das passende Timbre und die bezaubernde Finesse für die Rolle der jugendlichen Braut Silvia. Ascanio, mit sanftem Sentiment und runden Tönen gesungen von Mezzo Cecelia Hall, ist der wohlerzogene Bräutigam, ganz so fügsam wie das historische Vorbild, der zur Zeit seiner Hochzeit 17jährige Ferdinand. Ein formidabler Tenor aus dem Opernstudio, Andrew Kim, ist eigentlich als Priester Aceste ein williger Helfer der Venus auf Erden – in Braziers Deutung mutiert er zu einer Art Assistent. Kim singt mit unbekümmerter Verve, glänzendem Material und ein wenig zu jugendlich riskanter technischer Brillanz.

Ähnlich Anna Nekhames als Fauno mit dekorativen virtuosen Koloraturen und anspruchsvollen, mit technischen Kunststückchen gespickten Läufen: Die junge Sopranistin, 2022 dem Opernstudio entflattert und gleich zur „Königin der Nacht“ avanciert, lässt es nicht an der „geläufigen Gurgel“ mangeln, darf aber in der Kontrolle des Stimmsitzes noch zulegen, um ihre künftige Entwicklung gefährdungsfrei weiterzuführen. Auch Sekretärin (Aijan Ryskulova), Bodyguard (Stefan Biaesch) und die beiden als liebreizrosa Hostessen ausstaffierten Freundinnen Silvias (Valentina Ziegler, Isabel Casás Rama) fügen sich bruchlos in das visuelle und vokale Konzept der Aufführung ein. „Ascanio in Alba“ wird allein wegen seiner Thematik eine Mozart-Rarität auf der Bühne bleiben, musikalisch lohnt sich die Begegnung jedoch allemal.

Vorstellungen noch am 30. Dezember, 1. und 3. Januar. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/ascanio-in-alba/?id_datum=3576




Auf Augenhöhe: Lydia Steier stellt sich mit „Aida“ der legendären Regie von Hans Neuenfels

„Aida“ in Frankfurt: vorne in der Bildmitte Nicholas Brownlee (Amonasro) und Guanqun Yu (die Aida der Premiere), dahinter Claudia Mahnke (Amneris; in rotem Kleid), umgeben vom Ensemble. (Foto: Barbara Alumüller)

Eben noch besang die ägyptische Gesellschaft Ruhm und Ehre, da wird das Opernhaus dunkel und durch die Schwärze dröhnen Explosionen, Granateneinschläge, Geschützfeuer und tuckernde Panzermotoren.

Lydia Steier lässt in ihrer Frankfurter Neuinszenierung von Giuseppe Verdis „Aida“ den Krieg nicht zum beschaulichen Kostümfest verniedlichen. Sie beschwört ihn mit Geräuschen im Finstern. Beklemmend, unheimlich, und für manchen Zuschauer unbehaglich nahe rückend.

Radikal ist die Inszenierung der amerikanischen Regisseurin auch, wenn es um die (Über-)Zeichnung einer verkommenen, gealtert erstarrten Gesellschaft geht. Da marschieren keine knackigen Soldaten auf, wenn Radamès zum Feldherrn gekürt wird. Da versammelt sich eine Horde seniler Ordensträger, teilweise in den Rollstuhl gebannt, teilweise nur noch vom Sauerstoffgerät inspiriert, um mit „gloria“ und „onore“ den Krieg zu verklären und in eine zittrige Ekstase gereckter Greisenfäuste zu geraten.

Den Krieg muss Hausmeister Radamès erledigen, eher ein Zufallswahl, weil er gerade mit einem Wagen in den Raum fährt, um Fußbodenpaneele zu verlegen. Denn wir befinden uns nicht zwischen Palmen und Pyramiden, sondern in einem abgeranzten Saal (Bühne: Katharina Schlipf), wie er in einem Kolonialgebäude in Kairo vorfindbar sein könnte: Art-Deco-Lampen, die nicht mehr funktionieren, eine eingebrochene Decke mit einer Galerie, von der später der König und seine Entourage herabschaut, siffige Fliesen mit Schimmelrändern.

Erinnerung an „Putzeimer-Aida“ von 1981

Guanqun Yu (die Aida der Premiere) und Stefano La Colla (Radamès) in der Finalszene der Oper. (Foto: Barbara Alumüller)

Die vergreiste Gesellschaft hält sich Jugend nur in uniformierter Form: Junge Männer sind da nicht präsent, aber ein Kind: Mehrfach taucht ein kleiner Junge in der Uniform von Radamès auf – eine Metapher für die Seele des Heerführers oder (mehr noch) ein Sinnbild einer Jugend, die gemeuchelt und als Opfer davongetragen wird? In solchen Momenten ist Steiers detailverliebte Inszenierung in Gefahr, den Fokus zu verlieren und sich erläuternd auf Nebenkriegsschauplätzen zu verzetteln.

Präsent sind Kohorten junger Frauen, alle in adretten rosa Dienstmädchen-Kostümen und einheitlichen lackschwarzen Frisuren, die an brave japanische Manga-Schulmädchen erinnern. Am Anfang schrubben zwei von ihnen den Boden – eine ironische Anspielung auf die „Putzeimer“-Aida von Hans Neuenfels, die 1981 an der Frankfurter Oper Furore machte und zu einer Ikone des Regietheaters wurde? In Steiers Setting gelten Unterordnung und Disziplin alles, das macht Amneris brutal deutlich: Ein Fehler beim Frisieren entfacht ihre Wut, der Schuldigen bohrt sie die Augen aus. Eine andere Dienstbotin, die ihr beim sadistischen Metzeln in den Arm fällt, wird eiskalt abgestochen.

Man glaubt es kaum, dass eine solche enthemmte Gewalttäterin später ihre andere Facette, die der verzweifelt liebenden Frau zeigen wird. Eine harte Szene, auf die im Zuschauerraum ein massiver Buhruf reagiert. In der Tat: Steier flüchtet nie in malerische Opern-Harmlosigkeiten; sie nimmt die Zumutungen, die im Libretto Antonio Ghislanzonis stehen, radikal ernst. Das hat sie bereits 2011 in Heidelberg getan: Die Frankfurter Version darf als überarbeitete Neuauflage der damals heftig diskutierten Inszenierung gelten.

Der aufgewertete Ramfis

Eines ihrer Kennzeichen ist die erheblich erweiterte und aufgewertete Figur des Ramfis, eine Paraderolle für Andreas Bauer Kanabas. Ein soignierter Herr in schwarzem Anzug, äußerlich gelassen mit der Zigarette zwischen den Lippen. Aber ein Mensch, der offenbar unter seinem inneren Zwiespalt leidet und mit der ideologischen Weltsicht seiner Klasse nicht einverstanden ist. Die Fernchöre der Tempelszene im ersten Akt erklingen eher im Kopf von Ramfis: Er windet sich, presst die Hände an die Schläfen, klagt, wimmert, greint vor innerem Schmerz. Wenn am Ende der Oper Amneris entkräftet nach „Frieden“ ruft, wirft er sich auf eine Bank, eine Pistole in der Hand. Ob er damit einen Alptraum beendet, bleibt offen.

Amneris wird in Steiers Version zur Hauptperson der Oper. Ihr Auftritt ist der eines Mannweibs, der graue Anzug mit roter Krawatte ist eine perfekte Mimikry, um in einer maskulin korsettierten Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Nur die weißblonden Haare markieren den Rest einer auf ein sexuelles Signal reduzierten Weiblichkeit. Als es darum geht, Radamès für sich einzunehmen, wechselt sie auf eine andere Kleidungschiffre: Mit rotem Abendkleid und neuer Frisur wird sie zur femme fatale; später, in der Szene des Triumphs, tritt sie mit kunstvollen weißen Haaren auf wie eine der ältlichen Sponsorinnen der Met aus der amerikanischen Society. Siegfried Zoller hat einfach tolle Kostüme erdacht.

Mit der Mimikry ist es erst vorbei, als sie im vierten Akt um das Leben von Radamès kämpfen muss: Da wälzt sie sich im Unterrock in der schmutzigen Brühe, die im dritten Akt als Nil-Reminiszenz schwappt und in der die Leiche des von Radamès erschossenen Amonasro liegt. Der erhebt sich mit mahnendem Arm wie der tote Siegfried in der „Götterdämmerung“. Amneris küsst ihn, schließt ihn in die Arme – eine der sinistren, verstörenden Szenen, mit denen Steier ihre Inszenierung verrätselt. Ramfis „erlöst“ Amneris mit einer Drogenspritze. Im Triumphmarsch erhielt auch Radamès seinen Cocktail in den Nacken gespritzt: Er, der traumatisierte Kriegsheimkehrer, hat keine so rechte Lust zu feiern; nach der Injektion stimmt er begeistert willenlos in den kollektiven Jubel ein.

Bei Claudia Mahnke sitzt jedes Detail

Frankfurt hat das Glück, mit Claudia Mahnke eine Darstellerin für die Amneris zu haben, die in imponierender Detailschärfe die Entwicklung dieses Charakters auszuspielen weiß. Da sitzt jede Nuance zwischen höhnischem Lächeln, die Gesichtszüge verzerrender Wut, namenloser Verzweiflung, trostlosem Leid. Jeder Schritt, jede Bewegung der Arme und Hände, jedes Drehen des Kopfes hat seine Bedeutung, macht die Figur sprechend und lebendig.

Nur die Stimme Mahnkes will nicht so recht zur Vollblut-Italianità einer Amneris passen. Das Legato wird durch ein grießeliges Flackern aufgeraut, in der Attacke fehlt der strahlend-präsente Ton. Mahnke kann den Wechsel zum tiefen Register nicht gut verblenden, versucht, die sonore Contralto-Lage allzu brustig und ordinär einzuholen. Dazwischen gibt es, wenn es um entspanntes Singen geht, Momente cremiger Tonfülle und subtil ausgeleuchteter Passion.

Aida ist die Ukrainerin Ekaterina Sannikova, ein typischer Sopran aus dem Osten mit ausgeprägtem Vibrato und fleischiger, manchmal ins Gaumige rutschender Tongebung. Solche Stimmen werden heute – vielleicht auch mangels Alternativen – für „Verdi-Sängerinnen“ gehalten, haben aber weder die Finesse des Stils noch die Flexibilität in der Bildung des Tons. Am passendsten gelingen Sannikova „Numi pietà“ und „O patria mia“ im Dritten Akt, aber es fällt auch auf, dass sie die Phrasen nicht auf dem Atem blühen lassen kann und immer wieder zurücknimmt, wo sie den Ton befreit strömen lassen müsste.

Auch Stefano La Colla operiert an den Grenzen seiner stimmlichen Mittel. Er bemüht sich um Piano-Schattierungen. Aber an ein „b“ im Piano oder Diminuendo am Ende der Auftrittsarie des Radamès glaubt man eh nicht mehr. Dort, wo er Kraft einsetzt, sind das Ergebnis eher enge Trompetenstöße. Der ätherische Schluss der Oper wird auf diese Weise zu einem bemühten Vorwärtshangeln von Phrase zu Phrase, bei der die technische Bewältigung volle Aufmerksamkeit fordert – an schimmernde, zu verhaltenem lyrischem Leuchten gesteigerte Bögen darf man nicht denken.

Dynamische Strapazen

Nicholas Brownlee ist in Wagners „Meistersingern“ als Hans Sachs und in Giordanos „Fedora“ als klug gestaltender Sänger aufgefallen; dass er den Amonasro vor allem als Chance auffasst, voluminöse Stimmgewalt aufzufahren, enttäuscht. In den kürzeren Rollen: Kihwan Sim (König), Kudaibergen Abildin als eindrucksstarker Bote und Monika Buczkowska als Priesterin. Das am besuchten Abend arg lärmig aufspielende Opern- und Museumsorchester blieb unter seinem Niveau, das auch durch Dirigent Erik Nielsen nicht zu heben war: Neben gekonnt formulierte Details treten zu viele klanglich undifferenzierte und dynamisch strapazierte Stellen.

Das Triumphbild, in dem der Chor von Tilman Michael seinen großen Moment hat, gefällt sich in massiertem Gedröhn, das man vielleicht der martialischen Stimmung für angemessen halten mag, das aber Verdis gezieltes Arbeiten mit „banaler“ Musik eher im Getöse erstickt als offenbar macht. Mit Lydia Steiers „Aida“ hat die Frankfurter Oper wieder ein Repertoirestück, das in seiner entschiedenen Art, den Themen auf den Grund zu gehen, auf Augenhöhe mit Neuenfels‘ legendärer Inszenierung steht.

Weitere Vorstellungen: 17., 21., 26., 29. Dezember; 1., 13., 20. Januar 2024, Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/aida/

 




Was wäre ich geworden, wenn…? – Uraufführung der Oper „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in Düsseldorf

Surreale Treppen auf der Bühne von Heike Scheele: „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in der Inszenierung von Johannes Erath in Düsseldorf mit Holger Falk (Osbert Brydon) und Juliane Banse (Ellice Staverton). (Foto: Wolf Silveri)

Spätestens, seit die Romantik die Welten hinter der Welt entdeckt hat, werden die Grenzen zwischen der positivistischen Realität in einer aufklärerisch-rationalen Perspektive und der Fiktion brüchig.

Einer Fiktion, die sich als mächtiger Einfluss auf das offenbart, was gemeinhin als „real“ beschrieben wird. Einer Fiktion, die sich im Begriff manifestiert, jenem denkerischen Instrument, mit dem wir unsere Welt „begreifen“. Aber auch, wenn Gott ein Hirngespinst sein sollte, auch, wenn Heilige und Helden nie leibhaftig gelebt haben, so existieren sie doch, haben auf den Lauf der Ereignisse gewaltigen Einfluss. Doktor Faust oder Harry Potter: Die Erinnerung, die Erzählung macht sie zu Personen unserer inneren Welten.

Erfahrungen und Erinnerungen, Träume und Traumata, Visionen und Projektionen: Die Antriebskräfte, die das Leben mit vitaler Dynamik aufladen, balancieren zwischen Realem und Fiktionalem, durchdringen das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, geben ihm Sinn, Motiv und Richtung.

In Manfred Trojahns neuer Oper „Septembersonate“ treffen sich zwei Menschen, die schon in ihrer Existenz die Grenzüberschreitung in sich tragen: Er, Osbert Brydon, hat vor Jahrzehnten die auf realen Gelderwerb zielenden Aktivitäten seiner vermögenden Familie verlassen und ist nach „dort drüben“ gegangen, um ein Schriftsteller zu werden – also jemand, der fiktive Welten gestaltet. Sie, Ellice Staverton, ist Schauspielerin geworden, wechselt die Rollen und verleiht im Spiel fiktiven Personen eine leibhaftige Existenz. Beide liebten einst als Kinder das Puppentheater, in dem die Frauen Königin werden – oder das Krokodil.

Manfred Trojahn. (Foto: Dietlind Kobold)

Eine „Konjunktiv-Oper“ nannte Dramaturgin Anna Melcher Trojahns gut 100 Minuten wenig dramatisches, aber intensiv meditatives Musiktheater. Ein Satz der früheren Jugendfreundin bringt Osbert zum Nachdenken: „Was hätte ich dafür gegeben, Sie als junge Frau so getroffen zu haben, ich hätte mich auf der Stelle in Sie verliebt.“ Die Möglichkeit – die Frage „Was wäre, wenn?“ – lässt den Schriftsteller nicht mehr los. Im Traum, so Ellice, habe sie den anderen Osbert gesehen – den, der er geworden wäre, hätte er sich den Konten und Häusern seiner Familie gewidmet.

Wer ist dieser „Andere“? In einer surrealen Vision – oder ist es eine gespenstische Manifestation? – trifft Osbert auf sein anderes Ich: „Voll Wehmut grüßt der, der ich bin, den, der ich hätte sein können.“ Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ geben den Protagonisten die letzten Worte: „Du machst mich allein ….“ Das Ende bleibt offen.

Trojahn hat sein eigenes Libretto nach der Erzählung „The Jolly Corner“ von Henry James entworfen – jenem amerikanischen Schriftsteller, dessen Biografie sich in seiner 1908 erschienenen Story spiegelt. James ist ein Meister des Ungesagten, des Uneindeutigen, des dunkel Ungreifbaren – Benjamin Britten hat das in „The Turn of the Screw“ in unerreichter Meisterschaft in Musik gefasst. Auch bei Trojahn findet sich diese Atmosphäre mit dem Hauch des Surrealen und einer dämonischen Transzendenz wieder.

Blasen aus leiser Grundierung

Zitiert wird Richard Strauss‘ „Tod und Verklärung“, über Reminiszenzen an „Arabella“ oder an Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ berichtet der Komponist im Programmbuch. Erinnerungen werden wach, an Korngolds „Die tote Stadt“, an Debussys „Pelléas et Mélisande“, an Richard Rodney Bennetts „The Mines of Sulphur“ oder an Philip Glass‘ „The Fall of the House of Usher“. Aber das fünfzehnköpfige Orchester, schon vor dem ersten Ton von einem ständigen Herzschlag-Pochen grundiert, findet nicht oft zu klangfülligem Ausbruch, bewegt sich meist in unendlichen Variationen von trüben Piano- bis delikatesten Pianissimo-Klängen, intim bis zum verschwimmenden Verschwinden.

Juliane Banse (Ellice Staverton) in der „Septembersonate“ in Düsseldorf. (Foto: Wolf Silveri)

Musikalisch erinnert nichts an eine „Sonate“: der Komponist hat den Begriff nicht strukturell, sondern eher atmosphärisch verstanden. Stattdessen sind flexibel-flächige Tonfolgen zu hören, die lange gleich bleiben, um sich plötzlich wie Blasen aus leiser Grundierung zu einem kurzen Forte aufzuwölben. Ihre Klangglätte wird aufgeraut, wenn Trojahn von den Ketten der Triolen oder Quintolen Staccato oder Marcato fordert. Die Gruppe der fünf Bläser (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn) agiert im Kontrast oder in Wechselwirkung mit den Streichern, bei denen die Violinen fehlen, dafür die tiefen Instrumente in extreme Höhen getrieben werden. Die Folge ist ein melancholischer, an signifikanten Stellen unwirklich schwebender Flageolett-Klang.

Harfe, Klavier und Schlagzeug akzentuieren sparsam, brechen aber ebenfalls punktuell kraftvoller durch das Gewebe der Töne. Die Celesta taucht erstmals in der zweiten Szene auf, in der Osbert in seine Vergangenheit, in seine Erinnerung tanzt. Ihr entrückter Klang umschwebt das Bedrohliche der Erinnerung, vor dem die Haushälterin Mrs. Muldoon warnt: Sie versucht, das Nachwirken des Gewesenen zu verdrängen und auszulöschen – wie Mrs. Grose in „Turn of the Screw“.

Ein Meister des Uneigentlichen

Ein Meister des Uneigentlichen ist auch Regisseur Johannes Erath, der an der Deutschen Oper am Rhein zuletzt mit Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“ ein anderes Werk mit schwankendem Realitätsbegriff inszeniert hat. Er nimmt die Statisterie der Rheinoper in Beschlag, um den geheimnisvoll in schwärzliche Fernen geöffneten Bühnenraum Heike Scheeles mit stummen Menschen(gruppen) zu füllen – einzig durch ihr Dasein sprechende Resonanzkörper zu den vier Akteuren.

Bibi Abel erweitert die Raumwirkung mit Video-Stills surrealer Treppenkonstruktionen – manchmal scharf definiert, als wären sie gegenständlich in drei Dimensionen erbaut, manchmal nur in Konturen in den wunderbar plastisch geführten Lichtakzenten Nicol Hungsbergs zu erahnen, dann wieder deutlich als Projektionen erkennbar, in denen sich dennoch die Protagonisten wie schwarze Schatten bewegen, so als seien die Stufen aus fester Materie.

Erath wechselt zwischen handfester Aktion und traumnahen Bewegungssequenzen. Osberts zweites Ich – der Kampf beider spielt sich in cineastisch wirkender Großaufnahme ab – wankt mit wunderliche Eselsohren durch die Szene. Ellice, die Schauspielerin, manifestiert sich in vielerlei „Rollen“-Kostümen, vom Zwanziger-Jahre-Girl über die Projektion einer ikonischen Szene von Marylin Monroe mit aufgebauschtem Kleid bis hin zur Diva, die auf einem lackweißem Krokodil reitet und von Bibi Abel einen opulenten Theatervorhang – als Projektion! – bekommt. Erath legt sich bewusst nicht fest, stellt eher Fragen als Antworten zu geben. Der Abend endet mit einem Coup, einer weiteren Ebene von Fiktionalität, die den Zuschauer von vielleicht mühsam errungenen Gewissheitsinseln in finale Unsicherheit vertreibt.

Souveräner Dirigent

Unter der souveränen Leitung des designierten Chefdirigenten der Deutschen Oper am Rhein, Vitali Alekseenok, sind die Solisten der Düsseldorfer Symphoniker hochkonzentriert und mit Klangsinn am Werk. Die vier singenden Darsteller gehen in ihren Rollen auf: Holger Falk als zunehmend an Boden verlierender Osbert Brydon, mit sprechstimmenhaft zurückgenommenem Bariton, aber exzellent deklamierend, kämpft manchmal mit dem Orchester. Juliane Banse als Ellice setzt all ihre Stimmkoloristik, all ihre körperhafte Präsenz, all ihre variablen Tonbildungskünste ein, um eine schillernde, kraftvolle Frauenfigur auf die Bühne zu zaubern.

Roman Hoza ist das andere Ich Osberts und achtet in seinen wenigen Sätzen darauf, das Spannungsfeld zwischen Distanz und Identifikation nicht zu verletzen. Susan Maclean (Mrs. Muldoon) wirkt zunächst tief in der Vergangenheit erstarrt, wie ihr pompöses viktorianisches Kostüm signalisiert, deutet aber am Ende eine überraschende Wendung an: Zögernd schlägt sie eine Taste der Schreibmaschine an, deren Geklapper am Beginn der Oper, vielfach multipliziert, als Signet für jene andere Welt steht, in der sich Osbert und Ellice ihre erinnerungsgetränkten Wenn-Fragen gestellt haben.

Manfred Trojahns „Septembersonate“ steht am 9.,14., 29. Dezember 2023 und am 3., 14. und 27. Januar 2024 auf dem Spielplan der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/a-z/septembersonate/

Am Sonntag, 10. Dezember, 11 Uhr, zeigt das Opernhaus den halbstündigen Film „Das weiße Blatt“ mit anschließendem Publikumsgespräch. Der Film von Jo Alex Berg zeigt, wie die Uraufführung entstanden ist. Er begleitet die Künstler von der Arbeit an der Partitur bis zur ersten Hauptprobe auf der Bühne. Der Eintritt ist frei.




Jenseits der Mythen – Interview mit dem Callas-Biographen Arnold Jacobshagen

Vor 100 Jahren, am 2. Dezember 1923, wurde in New York eine der bedeutendsten Sängerinnen der Musikgeschichte geboren: Maria Callas. Zum ihrem 100. Geburtstag sprach Werner Häußner mit dem Autor einer neuen Biographie, dem Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen, über das Geheimnis der Gesangskunst der Callas und die Mythen um ihre Person.

Als Achtzehnjährige begann Maria Callas 1942 in Giacomo Puccinis „Tosca“ eine beispiellose Karriere. Mit Rollen wie Vincenzo Bellinis Norma und Amina („La Sonnambula“), Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor und Anna Bolena, Giuseppe Verdis Aida und Violetta („La Traviata“), vor allem aber mit der Wiederentdeckung von Opern wie Luigi Cherubinis „Medea“, Gasparo Spontinis „La Vestale“ oder Gioachino Rossinis „Armida“ wurde Maria Callas zur bis heute unerreichten Wegbereiterin des damals vergessenen Belcanto-Repertoires des 19. Jahrhunderts und eines technisch perfektionierten, von dramatischem Ausdruck geprägten Singens. Der Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen hat sich in seinem im Reclam-Verlag erschienenen Buch „Maria Callas. Kunst und Mythos“ auf die Spuren der großen Künstlerin jenseits des Mythos und hartnäckig wiederholter Klatschgeschichten begeben.

Was war Ihre Motivation, ein Buch über Maria Callas zu schreiben, nachdem es von John Ardoin bis Jürgen Kesting bereits viel und auch seriöse Literatur über diese Jahrhundertsängerin gibt?

Maria Callas ist für jeden, der sich intensiv mit Oper beschäftigt, eine Herausforderung. Besonders für mich, weil mich das italienische Belcanto-Repertoire von Rossini bis Puccini sehr interessiert. Ihre Stimme ist für viele Partien aus diesem Repertoire bis heute unübertroffen, auch wenn ich die Schwierigkeiten in ihrer stimmlichen Entwicklung sehe und hoffentlich auch gerecht beschrieben habe. Was die Callas-Literatur betrifft: Es gibt einige sehr gute und sehr viele nicht so gute Bücher, die leider bis heute das Callas-Bild prägen. Dieses etwas zu entrümpeln und einige Mythen zu hinterfragen war das eine Anliegen meines Buches. Das andere ist, ihre künstlerische Entwicklung möglichst genau zu beschreiben.

Wissenschaftler interessieren ungeklärte Fragen und Gebiete, auf denen man etwas Neues entdecken kann. Gibt es im Leben und der Karriere von Callas überhaupt noch „weiße Flecken“?

Ja, angefangen mit ihrer frühen Karriere in Athen, wo sie doch mehr als bisher bekannt von der Protektion der deutschen Besatzungsherrschaft profitiert hat. Das führte allerdings auch dazu, dass sie 1945 von der Operndirektion in Athen entlassen wurde und erst einmal zwei Jahre nicht auftreten konnte. In der späteren Karriere ist vieles gut bekannt. Wenig reflektiert sind die wahren Hintergründe ihres stimmlichen Abbaus, die vermutlich mit der erst 1971 diagnostizierten Dermatomyositis zusammenhängen. Die schleichende, aber dramatische und seltene entzündlichen Muskelerkrankung war ihr selbst bis dahin nicht bekannt. Sie führt zu einem kontinuierlichen Abbau des Muskelgewebes mit allen Konsequenzen für die Stimme. Den stimmlichen Niedergang, der ab 1957 offensichtlich war, kann man heute aus medizinischer Sicht besser verstehen. Die anderen Geschichten, die in der Callas-Literatur angeführt werden, die Onassis-Beziehung zum Beispiel, spielen hier keine wichtige Rolle.

Der Kölner Musikwissenschaftler und Callas-Biograph Arnold Jacobshagen. (Foto: privat)

Gehört dann auch die Rolle, die ihrer Gewichtsabnahme zugeschrieben wird, zu den aufklärungsbedürftigen Mythen?

Das ist ein komplexer Prozess, der auf die Singstimme unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Es gibt positive wie negative Effekte; die positiven werden, denke ich, überwogen haben. Singen ist eine körperliche Ausdauerleistung. Gerade in den Jahren 1953 bis 1955, die den Höhepunkt ihrer künstlerischen Karriere bilden und die größte Dichte und Intensität an Auftritten in großen, unterschiedlichen Partien aufweisen, hat sie sehr wenig gegessen und einige Spezialbehandlungen wahrgenommen, um ihr erwünschtes Gewicht zu erreichen und zu halten. Über andere Ursachen für den frühzeitigen Verschleiß der Stimme kann man spekulieren. Man muss auch bedenken, dass Maria Callas sehr früh ihre Karriere begonnen hat. Aus meiner Perspektive müssen diese Faktoren eben anders gewichtet werden als bisher in der Literatur.

Stichwort Karriere: Es ist aus heutiger Perspektive sehr ungewöhnlich, dass eine 15-Jährige Santuzza, eine Frau mit Anfang Zwanzig Tosca, Kundry, Isolde und kurze Zeit später Bellinis Norma und Elvira in „I Puritani“ singt. Kommt man dem Geheimnis der Gesangstechnik auf die Spur, die so etwas ermöglicht?

Man kann vergleichen mit Sängerinnen der Gegenwart, aber auch der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Im 19. Jahrhundert gibt es dafür Beispiele wie die von Callas bewunderte Rosa Ponselle oder Maria Malibran, die auch schon mit Fünfzehn die Rosina in Rossinis „Barbiere di Siviglia“ in London, einer der wichtigsten Bühnen der damaligen Welt, gesungen hat. Natürlich waren das Ausnahmepersönlichkeiten – genau wie Maria Callas. Da muss man andere Maßstäbe anlegen als an den Durchschnitt von Bewerberinnen an einer heutigen deutschen Musikhochschule.

Die Vielfalt der Repertoires, das sie in jungen Jahren gesungen hat, gehört dazu – gerade die Wagner-Partien, die sie zwischen 1947 und 1950 mit großer Freude gesungen hat. Sie sagte, Wagner sei einfach zu singen, da es keine komplizierten Verzierungen und Kadenzen gebe. Und dann habe man noch das wunderbare Orchester, das die Stimme trägt! Die meisten Sängerinnen fürchten sich dagegen davor, vom Orchesterklang erschlagen zu werden.

Callas hatte die enormen Möglichkeiten einer „grande vocaccia“, einer großen Stimme, die gepaart mit einer brillanten Technik Wagner und Bellini-Partien mit anspruchsvoller Agilität scheinbar mühelos bewältigen konnte. Größere Probleme hatte sie etwa mit der Partie der Turandot, die auch hochdramatisch ist, aber im Unterschied etwa zu Kundry ständig sehr hoch liegt. Turandot hat sie 1948/49 häufig gesungen, aber diese Rolle hat sie, wie sie selbst beklagt, zu viel Kraft gekostet.

Es gibt ja auch andere, die gesangstechnisch ein unglaubliches Repertoire auf einem ähnlichen Qualitätslevel gesungen haben, Lilli Lehmann etwa. Heute gibt es solche Sängerinnen so gut wie nicht mehr. Warum nicht?

Eine schwierige Frage. Es gibt ja hin und wieder Sängerinnen, die versuchen, in die Fußstapfen von Maria Callas zu treten, zuletzt Anna Netrebko. Heute gibt es eine starke Spezialisierung der Fächer, die Callas immer vehement bestritten hat. Sie hat immer gesagt, ein Sopran müsse alles singen können. Heute wird man schon in der Ausbildung auf Fächer festgelegt, in denen die Lehrer das Entwicklungspotenzial der Stimme sehen. Das hat alles gute Gründe. Solche Ausnahmeerscheinungen wie Maria Callas sehe ich heute allerdings nicht mehr.

In der Ausbildung von Maria Callas spielt Elvira de Hidalgo ja eine entscheidende Rolle. Sie haben aber noch einen Gesangslehrer erwähnt, Ferruccio Cusinati, langjähriger Chordirektor der Arena di Verona: Ist das eine Person, die bisher nicht genügend gewürdigt wurde auf dem Weg der Callas zum technisch perfekten Singen?

Das wäre übertrieben, aber er wird in der bisherigen Callas-Literatur nicht einmal erwähnt; der einzige war Callas‘ Ehemann Giovanni Battista Meneghini, der den Kontakt zu Cusinati vermittelt hatte. Es ging ab 1947 einfach darum, bei Callas, die zwei Jahre ohne wesentliche Auftritte in New York gelebt hat und nun in die italienische Opernszene eingeführt werden sollte, möglichst schnell Lücken ihres Repertoires zu schließen, damit sie als Primadonna auf dem Markt von ihrem künftigen Ehemann platziert werden konnte. Cusinatis Leistung war, mit ihr Rollen zu studieren, wohl auch Schwächen auszubügeln und die italienische Diktion zu perfektionieren. Die technischen Grundlagen hat Elvira de Hidalgo gelegt, die eine der letzten virtuosen Koloratursoprane war.

De Hidalgo hat ihre Partien ja noch ganz aus dem Geist des Belcanto gesungen, mit völlig ebenmäßig gebildeten Tönen und einer tollen Projektion des Klangs in den Raum, aber eben auch sehr instrumental. Dieses Streben nach absoluter Schönheit unterscheidet sie von Callas, die all ihre Farben einsetzt, um ihre Partien zu gestalten.

Der Vergleich vokal – instrumental ist interessant, denn es ist eine der besonderen Qualitäten der Stimme von Maria Callas, dass sie über unglaublich viele Schattierungen und Facetten verfügte. Darin liegt aber auch ein Problem des Kontrollverlustes. Man kennt ja die Schwierigkeiten, die sie bei Registerübergängen immer hatte. Es gibt auch unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob Callas diese Palette vokaler Schattierungen bewusst eingesetzt oder aus der Not eine Tugend gemacht und dieses unglaubliche Organ gar nicht kontrolliert eingesetzt habe, so wie es Elvira de Hidalgo in dieser Feinheit und Instrumentalität beherrscht hat. Für Callas war der Ausdruck der notwendige Kontrapunkt zur vorhandenen technischen Meisterschaft. Eines der Geheimnisse ihrer Stimme ist sicher, dass sie Expressivität mit einer stupenden Technik vereinen konnte.

Maria Callas war ja keine Intellektuelle. Woraus speist sich ihre unglaubliche dramatische Kompetenz? War das ein instinktives Erfassen ihrer Rollen, eine Empathie, die in ihrer Persönlichkeit wurzelt? Oder hatte sie ein tiefes Verständnis von den tragischen Seiten der menschlichen Existenz?

Ich denke beides. Es ist nicht notwendig, eine belesene Intellektuelle zu sein, um eine tragische Partie zu durchdringen, Dazu gehört eher Lebenserfahrung, Charakter, Empathie, Musikalität sowieso, weil Callas überzeugt war, dass alles, was eine Partie ausmacht, aus der Musik kommt. Sie hat auch viel übernommen von ihren Lehrern und den Dirigenten, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Und so unbelesen war sie gar nicht: Zumindest nach dem Abschied von der Bühne hat sie sich Bücher empfehlen lassen und gelesen. Aber ich bezweifle, dass es unter den Sängerinnen ihrer Generation sonst so viele ausgewiesene Intellektuelle gab. Dessen ungeachtet ist die Frage nach der Bildung für das Verständnis der Partituren, die Aufführungspraxis oder die Art und Weise der Interpretation sehr wichtig. Maria Callas hatte eine rasche Auffassungsgabe, ihre Partien in kürzester Zeit beherrscht und ihre eigene Interpretation immer weiter verfeinert und vertieft.

Maria Callas wird in der Literatur als Persönlichkeit unterschiedlich beschrieben. Es gibt diesen Mythos von der tragisch verschatteten Existenz. Sie schreiben, sie sei in den meisten Phasen ihres Lebens ein glücklicher Mensch gewesen, der viel Liebe erfahren und sich wohl gefühlt habe.

Es wurden viele kurzschlüssige Folgerungen gezogen. Man hat ihre Bühnenpräsenz und ihre tragischen Rollen zum Ausgangspunkt genommen, ihre Persönlichkeit zu bewerten. Das heißt, man hat die vielen tragischen Frauenschicksale der Opern auf sie selbst projiziert. Die äußeren Umstände, besonders die Begegnung mit Aristoteles Onassis und der Verlust dieser Beziehung durch die auftretende Rivalin Jackie Kennedy, boten genügend Anlass, diese Mythen weiterzuspinnen. Aber selbst diesen Schicksalsschlag scheint sie einigermaßen schnell bewältigt zu haben, abgesehen davon, dass er mit ihrer künstlerischen Karriere nichts zu tun hat, denn er lag Jahre nach ihren großen Opernauftritten.

Was ist aus Ihrer Sicht des kritischen Wissenschaftlers der ärgerlichste Mythos über Maria Callas?

Das ist die Vorstellung, dass eine Frau aus Liebe zu ihrem Mann ihre Karriere aufgibt und dadurch in eine tragische Sackgasse gerät. Das ist vollkommen absurd: Maria Callas hat ihre Karriere aus künstlerischen und gesundheitlichen Gründen Ende der fünfziger Jahre stark reduzieren müssen und natürlich in ihrem Privatleben dann größere Erfüllung gefunden. Das eine muss man vom anderen trennen, und das geschieht in der Literatur nicht.

Ich halte es für ein sexistisches Element, Frauen grundsätzlich anders zu bewerten als Männer. Niemand käme auf die Idee, einen männlichen Sänger in gleicher Weise in einer – fast sklavischen – Abhängigkeit von einer Liebesbeziehung darzustellen. Ein Mann macht seinen Weg, aber von einer Frau wird erwartet, dass sie durch eine schicksalhafte Begegnung mit einem Mann ihre ganze Karriere verändert? Das mag man im 19. Jahrhundert erwartet haben – und diese Vorstellung scheint heute in vielen Köpfen noch so präsent, dass man einer Jahrhundertkünstlerin nicht zugesteht, auch unabhängig von Männergeschichten großartige Kunstwerke auf die Bühne zu stellen. Das finde ich sehr ärgerlich, obwohl ein guter Teil der Callas-Literatur von Frauen verfasst wurde.

Eine Frage zur Diskografie. Callas hat viel aufgenommen, es gibt auch viele Live-Mitschnitte. Welche Aufnahmen würden Sie als maßstäblich und unverzichtbar bezeichnen? Welche wären für Sie für die „einsame Insel“?

Heute hat man’s einfach, weil man mit der 131-CD-Box von Warner Classics alles mit auf die Insel nehmen kann. Aber im Unterschied zu vielen Callas-Enthusiasten würde ich die Studioproduktionen der früheren Zeit komplett mitnehmen. Sie war ja der erste Superstar in der Ära der neu entwickelten Langspielplatte. Wie Enrico Caruso durch die Schellackplatte hat Maria Callas von dieser medientechnischen Innovation profitiert. Gerade die frühen Aufnahmen sind technisch perfekte, mustergültige Interpretationen „für die Ewigkeit“, und es ist zu bedauern, dass Produzent Walter Legge kein großer Kenner des italienischen Opernrepertoires war und viele Rollen, die Callas live gesungen hat, nicht im Studio produziert hat. Umgekehrt finden viele Enthusiasten die wahre Diva in ihren Bühnenauftritten und nicht in den Studioaufnahmen.

Callas und die Region: Ihre deutschen Stationen waren Berlin und Köln.

Ja, in Köln gab es im Juli 1957 eine Jubiläumswoche der Mailänder Scala zur Eröffnung des Kölner Opernhauses. Zwei der insgesamt vier Opernvorstellungen mit Maria Callas in Deutschland fanden in Köln statt, beide Male Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“. Die beiden anderen, zwei Mal „Lucia di Lammermoor“, gingen unter der Leitung von Herbert von Karajan in Berlin über die Bühne. Köln ist also eigentlich eine der deutschen Callas-Metropolen. Später ist sie noch öfter in Deutschland aufgetreten, aber nur in Konzerten – bis hin zu der problematischen Abschiedstournee mit Giuseppe di Stefano 1973/74.

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Arnold Jacobshagen: „Maria Callas. Kunst und Mythos“. Reclam, 367 Seiten, 38 Abbildungen. 25 Euro.




Vom Pasta-Rezept zur Bellini-Oper und zurück

Im Entstehen begriffen: das erwähnte Pasta-Rezept mit Penne Rigate. (Foto: BB)

Zufälle gibt’s! Beispielsweise solche, die sich zwischen Kulinarik und Opernwelt begeben.

Der Reihe nach: Wir haben ein Rezept ausprobiert, es trägt den Titel „Sizilianische Pasta mit Ricotta und Auberginen (alla Norma)“ und soll hier selbstverständlich auch sogleich verlinkt werden. Damit niemand sagen kann, er/sie sei um den Genuss gebracht worden.

Ich will aber auf etwas anderes hinaus. Warum trägt das Gericht eigentlich die Zusatz-Bezeichnung „alla Norma“? Dazu verzeichnet Wikipedia zwei Erklärungsversuche. Der eine besagt, ein sizilianischer Koch sei vor Zeiten so begeistert gewesen, dass er die Pasta-Variation nach der Oper „Norma“ des ruhmreichen Komponisten Vincenzo Bellini benannt habe, der just in Catania (Sizilien) geboren wurde. Die zweite Version klingt weniger leidenschaftlich, sie bezieht sich auf den Ausdruck „una vera norma“ („eine echte/wirkliche Norm“), der die Beispielhaftigkeit allgemein feiert.

Zurück zu Bellini. Seine hochdramatische Belcanto-Oper umkreist jene gallische Druiden-Priesterin Norma und spielt zur römischen Besatzungszeit, rund 50 Jahre vor Christus. (Wer sich nebenbei an Asterix erinnert fühlen sollte, kann schwerlich daran gehindert werden). Norma lässt sich jedenfalls – sozusagen gegen jede gesellschaftliche Norm – mit dem römischen Prokonsul Pollione ein, also mit dem Feind ihres Volkes. Die beiden haben sogar zwei Kinder miteinander, die Norma versteckt hält. Als sich Pollione in die gallische Novizin Adalgisa verliebt, nimmt eine tödliche Tragödie ihren Lauf…

Ein aufwühlender Stoff, fürwahr, der sich in Arien sondergleichen ergießt. Auch und vor allem Maria Callas hat damit Erfolge gefeiert. Und doch musste ich, der ich mit Opern fremdele, ziemlich schmunzeln, als ich las, wer die Titelpartie bei der Uraufführung am 26. Dezember 1831 in der Mailänder Scala gesungen hat. Ob Zufall oder Fügung: Der Weg führt verbal zum eingangs erwähnten Rezept zurück, denn die Dame hieß Giuditta Pasta.

Jaja, ich weiß, keine Scherze mit Namen. Nennt mich albern. Ich kann es doch auch nicht ändern. Und damit Basta!




Fleisch und Geist: Dortmunder Festival „Klangvokal“ geht zurück zu den Anfängen der Oper

„Vox Luminis“ im Reinoldihaus Dortmund beim Festival „Klangvokal“. (Foto: Klangvokal)

Das Festival „Klangvokal“ in Dortmund pflegt über seinen Schwerpunkt im Mai/Juni hinaus eine Serie von Konzerten über das ganze Jahr hinweg. Letzter Höhepunkt war eine halbszenische Aufführung von Emilio de‘ Cavalieris „Rappresentatione di Anima, et di Corpo“. Damit geht das Musikfestival an den Anfang der Operngeschichte zurück.

De‘Cavalieri, ein hochgebildetes Multitalent, schrieb das allegorische Spiel im Jahr 1600 für die Bruderschaft des heiligen Filippo Neri in Rom. Jacopo Peri, der gemeinsam mit seinem römischen Kollegen mit seiner „Euridice“ am Ursprung der Oper steht, rühmt die „wundervolle Erfindungsgabe“ der Musik. In Dortmund sorgte das Ensemble „Vox Luminis“ mit einem vielfarbigen Instrumentarium nicht nur für beredte Rhythmen und variablen Klang, sondern vor allem für Transparenz, damit die kontrapunktischen Experimente, die sich über dem Generalbass erheben, deutlich zu verfolgen sind.

Cavalieris Spiel über den alten Gegensatz von Fleisch und Geist ist eindeutig für eine szenische Aufführung gedacht, denn die ersten Ausgaben enthalten Bühnenanweisungen. Kein Oratorium also, sondern eine in Szenen gegossene theologische Philosophie, geschrieben von Agostino Manni, einem Juristen, Schriftsteller und Biographen Filippo Neris. Die flüchtige Zeit – der Tenor Raffaele Giordani – äußert sich zuerst, dazu schlägt die Harfe (Sarah Ridy) eine tiefe Saite an wie den Glockenschlag einer Uhr. Der Theologe Anselm von Canterbury und der große Augustinus lassen grüßen, wenn der Verstand nach dem unstillbaren gierigen Verlangen fragt und eigentlich schon die Antwort des ganzen geistlichen Dramas vorwegnimmt: Zu erstreben ist das höchste Gut, das jedes andere Gut in sich einschließt – und das ist im christlichen Horizont des Stücks die Gemeinschaft mit Gott, die alles Sehnen stillt. André Peréz Muíño reflektiert diese existenziellen Fragen mit präsentem, brillant gebildetem Tenor.

Aber zuvor haben Körper und Geist ihren Weg der Erkenntnis zurückzulegen. Der führt über die Einsicht, dass Genuss den brennenden Durst des Menschen nur verstärkt und die Seele in sich selbst keine Befriedigung auf Dauer  erreichen kann. Giordani und seine Seelen-Partnerin – Sophia Faltas mit dem in der „alten“ Musik üblichen flach-schneidenden, vibratolosen Ton – formulieren diesen Disput sehr wort- und bedeutungsorientiert. Spannend im Sinne einer christlichen Auffassung ist, dass der Körper am Ende des ersten Aktes keinem Dualismus das Wort redet, sondern gemeinsam mit der Seele die Liebe, den Himmel, das ewige Leben und Gott, den Herrn suchen will.

Heiterkeit und Harmonie des Paradieses

Die Hindernisse, die es zu bewältigen gilt, formulieren zunächst der Counter Jan Kullmann als „Piacere“ mit seinen Begleitern Roberto Rilievi und Guglielmo Buonsanti in einem rhythmisch ausgelassenem Terzett, das in polyphoner Wirrnis endet. Das Vergnügen kann mit seiner irdischen Genuss-Botschaft nicht überzeugen. Geschliffenere Waffen zücken dann die Welt und das irdische Leben (scharf und kokett: Estelle Lefort), aber sie werden entlarvt und erweisen sich unter ihrer Verkleidung als todesträchtig. Ein Schutzengel (nicht ohne Mühe: Victoria Cassano) bestärkt die beiden Wanderer durch die Untiefen der Versuchung. Das lyrische Lamento des Körpers („Non so s’è stato bene“) und die folgende Echo-Arie der Seele sind Höhepunkte der Komposition de’Cavalieris.

Im dritten Akt erweitert sich dann der Horizont: Unter kräftiger Anteilnahme des „Guten Rats“ (Massimo Lombardi bringt eine neue Farbe ins Spiel, könnte aber die Stimme sorgfältiger kontrollieren) zeugen auch die seligen und die verdammten Seelen vom ewigen Tod und ewigem Leben (Zsuzsi Tóth und Lóránt Najbauer), bevor in einem finalen „Fest“ der Chor Heiterkeit und Harmonie des Paradieses besingen, wobei der Tenor Olivier Berten und vor allem der Altus Korneel van Neste wohlklingende, technisch befriedigende Stimmen erklingen lassen.

Die geschmückte Erde als Abbild des Himmels ist das in kraftvollen Farben gemalte musikalische Schlussbild, und sicherlich hat Emilio de‘ Cavalieri nichts gegen die Aufforderung an die „himmlischen Hierarchien“ gehabt, „neue Melodien“ zu machen. „Vox Luminis“ jedenfalls, unter der diskreten Leitung des Bassisten Lionel Meunier hat mit seiner beherzten Spielweise, seinem farbigen Instrumentarium, auch den durchaus unterhaltsamen Intermezzi und seiner Sensibilität für das gesungene Wort einen brillanten Beitrag geleistet, ein Stückchen Himmel auf dieser Erde erscheinen zu lassen.

Weiter geht’s am 10. November

Am Freitag, 10. November, setzt das Festival „Klangvokal“ die Reihe seiner Konzerte fort: Im Reinoldihaus Dortmund gestalten um 19.30 Uhr die Tenöre Emiliano Gonzalez Toro und Anders Dahlin zusammen mit dem Ensemble Gemelli Vokalmusik des italienischen Frühbarock und machen dabei auch auf unbekannte Komponisten wie Vincenzo Calestani oder Francesco Turini aufmerksam. Das Naghash Ensemble folgt am Freitag, 1. Dezember (19.30 Uhr) an gleicher Stelle mit Musik aus Armenien.

Tickets und Infos: www.klangvokal.de, Ticket-Hotline (01806) 57 00 70.    

 




Abschied ohne Nostalgie: Waltraud Meier hat die Opernbühne verlassen

Waltraud Meier auf der Bühne der Berliner Lindenoper. Die große Künstlerin hat ihre Karriere beendet. (Foto: Jakob Tillmann)

Eine der prägenden Künstlerinnen der Opernbühne der letzten Jahrzehnte hat Abschied genommen: In Berlin sang Waltraud Meier zum letzten Mal die Klytämnestra in Richard Strauss‘ „Elektra“. Werner Häußner kennt die Sängerin seit ihrem Debüt in Würzburg 1976 und lässt Stationen einer Karriere Revue passieren, die von 1980 bis 1983 auch nach Dortmund führte. Dort sang Meier erstmals die Kundry in Wagners „Parsifal“. Eine Rolle, die ihr 1983 den Durchbruch in Bayreuth bescherte.

Was soll man zum Bühnenabschied einer Sängerin schreiben, über die in den 47 Jahren ihrer Karriere wohl alles schon in Zeilen gefasst wurde, was öffentlich zu sagen ist? Wozu den Lebenslauf rekapitulieren, der überall nachzulesen ist; wozu das umfangreiche Repertoire aufzählen, das nun eh der Vergangenheit angehört?

Oder sollte man die Stimme von Waltraud Meier preisen, die am Freitag, 20. Oktober 2023, in der Berliner Staatsoper unter den Linden zum letzten Mal in einem Theater erklungen ist? Sollte noch einmal das „Bühnentier“ in den Vordergrund treten, das um 20.44 Uhr, nach langem herzlichem Beifall raschen Schrittes von der offenen Szene eilt, die Richard Peduzzi einst für Patrice Chéreaus „Elektra“ gebaut hat und die nun abgespielt ist?

„Tschüss“ für ein wunderbares Publikum

Waltraud Meier hat beklagt, dass heutzutage keine Blumen mehr geworfen werden. Bei ihrem Abschied in Berlin war das anders. (Foto: Jakob Tillmann)

Berlin erlebte den Bühnenabschied einer Sängerin, die mehr ist als eine verkörperte Stimme, die als „Jahrhundertsängerin“ bewundert, als „Callas der Jetzt-Zeit“ gerühmt wurde. Alle Rekapitulationen oder Lobeshymnen klingen in einer solchen Situation wie ein Nachruf, und den hätte Waltraud Meier noch lange nicht verdient und hoffentlich noch viel länger nicht nötig. Von ihrem „wunderbaren treuen Publikum“ verabschiedet sich mit einem fast schüchtern klingendem „Tschüss“ eine entschlossene Frau, bereit, das Leben nach dem Bühnendasein anzupacken und zu genießen. Wehmut? Wenn, ist er tapfer verborgen. Nostalgie oder gar Tränen? Das sind Waltraud Meiers Sachen nicht.

In Interviews hat sie deutlich gemacht: Es wird keine Rückkehr mehr geben, Altersrollen sind ausgeschlossen, und das Leben geht auch ohne Klytämnestra, Kundry, Waltraute oder Isolde weiter. Waltraud Meier hat musikalisch gesagt, was sie zu sagen hatte, jetzt ist Schluss. So kontrolliert, so entschieden und klar kennt man die Fränkin, die 1976 am Stadttheater Würzburg als Lola in Mascagnis „Cavalleria rusticana“ ihre Bühnenkarriere begann. Da hatte sie die Szene noch nicht betreten und war schon nach Mannheim wegengagiert.

Zum letzten Mal Klytämnestra in „Elektra“ von Richard Strauss, u. a. mit Ricarda Merbeth (Elektra) und Vida Miknevičiūtė (Chrysothemis). Dirigiert hat den Abschiedsabend Markus Poschner anstelle des ursprünglich vorgesehenen Daniel Barenboim, der leider nicht anwesend sein konnte. Waltraud Meier bedankte sich mit warmen Worten bei ihrem „Lebensdirigenten“: „Ich habe den ganzen Abend an ihn gedacht und er bleibt in meinem Herzen“. (Foto: Jakob Tillmann)

Was bleibt also noch übrig? Vielleicht ein paar persönliche Erinnerungen an die Anfänge von Waltraud Meiers Laufbahn, ein paar Eindrücke von Stationen dieses beinahe halben Jahrhunderts, in dem sich auch die Welt der Oper neuen Zeiten angepasst hat. Welcher Intendant würde heute eine zwanzigjährige Romanistikstudentin verpflichten, die keine „ordentliche“ Hochschulausbildung absolviert hat, beim Chordirektor des Hauses (damals war das Anton Theisen) Unterricht bekam und ansonsten „nur“ von unbändiger Lust am Singen angetrieben war? Wo fände sich noch ein Ensemble wie die Bühnenfamilie in Würzburg, die dieses Küken aufnimmt und mitträgt? Welcher Regisseur hätte noch die Geduld, mit einer unerfahrenen, aber selbstbewussten jungen Frau kleine Rollen sorgfältig einzustudieren? Aus Würzburg kann Waltraud Meier köstliche Anekdoten erzählen – sympathische Reminiszenzen an ein Theater, das es heute so wohl kaum mehr gibt.

Angeschwipst die Treppe runter

Die Lola habe ich von ihr gesehen und gehört, kann mich aber eher an die fulminante Gertraud Halasz-Kiefel erinnern, die Santuzza des Abends. Genauer steht mir die Rolle der Berta vor Augen, deren hübsche melodische Arie Waltraud Meier im Würzburger „Barbier von Sevilla“ singen durfte. Regisseur Wolfram Dehmel wollte sie als angeschwipstes, gar nicht so ältliches Fräulein eine Treppe hinuntertänzeln lassen, und in solchen Szenen zeigte sich ihre rasche Auffassungsgabe und ihre Bewegungsfreude. „Ich bin eigentlich ein Bewegungsmensch. Mein Ausdruck kommt nicht nur über die Stimme, sondern auch über den Körper, die Bewegung“, sagt sie in einem Interview.

Das war in Würzburg schon zu erkennen: Ihre Muse in „Hoffmanns Erzählungen“ und die Concepcion in Ravels „Die spanische Stunde“ profitierten nicht nur vom jugendlich frischen, warmen, dunkel-sinnlichen Klang ihres Mezzosoprans, sondern auch von diesem Geschick, eine Person mit dem Körper zu formen. Waltraud Meier stand auch in diesen Jahren nie einfach herum; sie hatte selbst dem provinziellsten Stückeeinrichter etwas anzubieten.

„Lebensfreude, Lebensenergie, Lebenslust will sich manifestieren durch Stimme. Wo das Wort nicht ausreicht, da geht die Emotion in Gesang über.“
(Waltraud Meier)

Die Stimme: Erinnerungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, drohen zu verblassen oder verklärter zu schimmern, als sie in der Routine-Wirklichkeit der Zeiten tatsächlich waren. Waltraud Meier sang 1976 in einer bemerkenswert atmosphärischen Inszenierung von Manfred W. von Wildemann die Alisa in „Lucia di Lammermoor“. Einer der beteiligten Sänger hatte sich einen Mitschnitt angefertigt, auf dem auch der noch nicht erstrahlte künftige Star zu hören ist.

Waltraud Meier. (Foto: Nomi Baumgartl)

Das Dokument bestätigt: Bei aller Entwicklung, die Waltraud Meier vor allem in ihren „Galeerenjahren“ in Mannheim und Dortmund durchmachte und für die sie immer wieder den Dirigenten Hans Wallat erwähnte: Die Stimme von damals ist in ihrer Klarheit und in ihrem sinnlich-individuellen Timbre unzweifelhaft identifizierbar. Der Keim des Erfolgs spross damals schon ins schummrige Licht eines stilisierten schottischen Friedhofs, mit dem Wildemann in der „Provinz“ die Oper Donizettis ernst genommen und aus der Rolle des „Primadonnenvehikels“ erlöst hat, als die sie in den siebziger Jahren an den Staatstheatern noch zelebriert wurde.

Wort und Klang durchdringen sich

Für den Belcanto hat sich Waltraud Meier in den kommenden Jahren nicht besonders interessiert. Die artifizielle Kunst des Singens, so sehr sie auch Seelenströme offenbaren kann, blieb ihr fremd. Klar, die großen Verdi-Partien, die Azucena, die Amneris, die Eboli waren von ihr zu hören – und manchmal bedauerte sie, auf Wagner festgelegt und für Verdi nicht gefragt zu werden. Aber ihre Domäne lag woanders. Nicht umsonst bestimmte Richard Wagner einen großen Teil ihres Bühnenlebens. Das „Gesamtkunstwerk“ hatte sie gepackt.

Mit Regisseuren wie dem von ihr unendlich geschätzten Patrice Chéreau, mit Dirigenten wie dem seit Jahrzehnten mit ihr verbundenen Daniel Barenboim („mein Lebensmensch“) konnte sie Musik, Wort und Szene mit der Intensität durchdringen, die für sie Voraussetzung einer gelingenden, glaubwürdigen, fundierten Interpretation ist. Das war in ihrer letzten Rolle in Berlin noch einmal deutlich zu spüren: Der Moment, in dem Klytämnestra auf extra ausgelegtem rotem Teppich aus dem Palast eilt und Ricarda Merbeth als Elektra fixiert, reißt in den wenigen Sekunden einer stummen Konfrontation dieses verdorbene Mutter-Tochter-Verhältnis auf. Und das Erschlaffen der anfangs so beherrschten Königin – „Götter … warum verwüstet ihr mich so“ – ist das erste Signal, dass diese Frau nur mit „furchtbarer Anstrengung“ Haltung bewahren kann.

„Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“ singt Waltraud Meier mit der ihr eigenen Gabe, Wort und Klang zu Ausdruck zu verschmelzen. Hier ist sie, die Größe einer Sängerin, die über die schönen Töne hinaus in die Tiefe des Gesungenen dringt. Joachim Kaisers Wort von der „Callas“ wirkt in solchen Momenten zutreffend: Waltraud Meier ist nicht zum Scherzen aufgelegt, wenn es darum geht, eine glaubwürdige Figur zu erschaffen. Da arbeitete sie so hart und beharrlich wie Maria Callas. Der Scherz kommt später, in den Anekdoten, in den witzig absurden Momenten, die sich ereignen, weil auf der Bühne eben auch „nur“ Menschen arbeiten. Aber: Was die Wahrheit einer Rolle ist, das herauszubringen, war ihr Ziel.

Mit Loriot ins komische Genre

In einem der hoffentlich nächsten Gespräche werde ich ihr die Frage stellen, welches Verhältnis sie eigentlich zur „lustigen Person“ auf der Bühne hat. Komische Rollen? Ihr Repertoireverzeichnis auf ihrer Webseite verzeichnet keine einzige. Wie gut hätte man sich vorstellen können, in Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ oder als Lady Billows in Brittens „Albert Herring“ ganz andere Seiten als die Wagner’sche Schwere an Waltraud Meier zu entdecken. Aber das hat sie ihrem Publikum – soweit ich mich erinnere – nur einmal wirklich von Herzen gegönnt: als Vicco von Bülow, der im November 100 Jahre alt werden würde, in Stuttgart Friedrich von Flotows „Martha“ als feine erotisch-ironische Petitesse inszeniert hat. Da war sie, Loriot zuliebe, mit allem Spielwitz dabei.

„Das hier ist das Ende einer Ära“, sagte ein Besucher der Lindenoper beim Rausgehen im Foyer. Das stimmt, weil mit Waltraud Meier eine prägende Bühnenkünstlerin der letzten 40 Jahre ihre Karriere beendet hat. Aber es stimmt auch nicht: Das Pathos, das im Begriff der „Ära“ steckt, wollte sich nicht einstellen, weil der Abschied die unverkennbar frischen Züge eines Aufbruchs trägt. Ein Aufbruch in einen neuen Abschnitt des Lebens. „Io me ne vado“, singt Lola leichtherzig bei ihrem Abgang in „Cavalleria rusticana“.

Auch Waltraud Meier hat nun die Bühne verlassen – und wie sie immer wieder beteuerte, nicht mit Herzensschwere. So wünschen wir der wunderbaren, einzigartigen Künstlerin dankbar auch für die kommenden Jahre die Leichtigkeit des Herzens und die Lebensfreude und Lebenslust, aus der heraus sie ihr Publikum 47 Jahre lang mit ihrer Stimme, ihrer Kunst und ihrem Wesen beschenkt hat.




Das „Opernhaus des Jahres“ Frankfurt zeigt „Le Nozze di Figaro“ als schwerelose Komödie

Danylo Matviienko (Graf Almaviva) und Elena Villalón (Susanna) in der Frankfurter Neuinszenierung von Mozarts „Hochzeit des Figaro“. Foto: Barbara Aumüller

Im Frankfurter Opernhaus atmet alles Leichtigkeit. Thomas Guggeis, neuer GMD als Nachfolger von Sebastian Weigle dirigiert zum Einstand Wolfgang Amadeus Mozarts so leichtfüßiges wie gewichtiges Meisterwerk „Le Nozze di Figaro“.

Sein blonder Schopf hebt sich über die Brüstung des Grabens. Rötlich schimmern die Haare, rucken im Rhythmus eines Körpers, der dem Orchester Signale setzt. Eine Hand erscheint, dreht sich, winkt, zeigt, kommandiert, schlängelt sich um ein scheinbar ohne Widerstand bewegliches Gelenk. Das diskret alle Nuancen ausspielende Orchester zieht so federnd und flexibel mit, als würde Rossini den Musikern Bögen, Tasten, Klappen, Ventile und Schlägel führen.

Und Tilmann Köhlers Regie kleidet Beaumarchais‘ und da Pontes untergründig aufgeladene Komödie entsprechend in gewichtslose Beweglichkeit, bei der die jungen Darsteller mit Freude und Witz dabei sind. Bedeutung wird nicht vorgezeigt, nicht aufgesetzt, sondern ergibt sich wie von selbst aus der Bewegung eines Augenblicks, einem betonten Gang, einer kräftiger nuancierten Geste. Nichts wirkt schwer, wir blicken auf keine Atlanten, die das Gewölbe einer Deutung zu tragen hätten. Sogar das Finale lässt einen „glücklichen“ Ausgang offen: Der fast schon genetische Pessimismus heutigen Post-Regietheaters ist lustvoll mit leichter Hand gebannt. Das tut, gerade bei Mozarts quirliger, nervöser, manchmal hyperaktiver Musik richtig gut!

Schmerz in luftigem Gewand

Die sich beißenden Farben der Kostüme zeigen: keine Harmonie zwischen Graf und Gräfin (Adriana González). Foto: Barbara Aumüller

Das heißt nun nicht, dass Köhler die verschattete Seite der Medaille gnadenlos trivial wegleuchtet. Die kindlich-feine Verzweiflung der – reizend gesungenen – Barbarina Karolina Bengtssons lässt ahnen, wie sich Schmerz in luftiges Gewand hüllen kann. Und wenn die Gräfin in sattem Rot ihrer Robe auftritt, weht Melancholie durch den Saal. Thomas Guggeis wandelt dann die musikalischen Haltung hin zu einem träumerischen Impressionismus, den Adriana González auch vokal verströmt, wenn sie ihre Piano-Phrasen korrekt auf den Atem legt und sich nicht, wie manches Mal im Ensemble, auf zweifelhaft gelagerte Töne verlässt.

Aber auch dieser Hauch der anderen, der seelenmörderischen Welt strömt schwerelos: Die Qual enttäuschter Liebe trägt ja für die Außenwelt oft komische Züge; das Weh der bitteren Erkenntnis einer verdorbenen Lebenschance muss nicht zwangsläufig Betroffenheit oder Empathie auslösen. Das ordnet die Figur der Gräfin Rosina in die Komödie ein, macht aber ganz behutsam auch ihre endlose Einsamkeit spürbar. Wenn sich solche feinsten Charakter-Schattierungen vermitteln, ist Regie – auch ohne spektakulären Zugriff – gelungen.

Auch Thomas Guggeis kann im Graben getrost auf Spektakel verzichten. Er versteht die endlosen Achtelketten Mozarts als den dynamischen Triebimpuls der Musik, die vorwärts strebt, keine Pause einlegen will. Das passt zum Tempo der Musik, die ja „presto“ drängt und drängt und selbst im Innehalten den nächsten Impuls zum Lospreschen kaum zurückhalten kann. Guggeis macht aber auch deutlich, wo dieser hurtige Fluss auf Klippen stößt und scharfe Kanten umspülen muss: Die Bläser grätschen scharf dazwischen, wenn sich Figaro und Susanna in die Wolle kriegen, und die Dissonanzen im Umgang der Personen hallen nicht nur in Kostümen von Susanne Uhl, sondern auch im Orchester deutlich wider.

Ungeduldige Energie hat ihren Preis

Bei all der luftigen Präzision, dem ziselierten Tempo, das die Streicher des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters vorlegen, den lichtvollen Bläserakkorden und den sanft, aber mit Kontur getupften Staccati ist es kein Wunder, dass Guggeis nach dreieinhalb Stunden herzlich gefeiert wird. Aber man hört auch, dass der jugendliche Überschwang und die ungeduldige Energie einen Preis haben: Die Ouvertüre gerät überraschend flach, das Wechselspiel von Flöten und Klarinetten auf der einen aufsteigenden, Oboe und Horn auf der anderen absteigenden Seite bleibt beiläufig, die Doppelachtel der Bläser in Takt 16 und 17 sind nicht deutlich artikuliert, so wie zuvor die Violinen ihre Mini-Verzierungen nicht ausformen können.

„Presto“ ist, das ist den Mozart-Tempolimitgegnern á la Currentzis immer wieder vorzuhalten, eben eine Musizierhaltung, und keine Anweisung, sich das „Blaue Band“ der Orchesterrennen zu holen. Ein organischer Atem lässt selbst bei raschestem Puls Zeit, Melodie zu formen und Details zu modellieren. Schnappatmung verbreitet nur Hektik. Und das ist keine Frage der Virtuosität des Orchesters, dessen Mitglieder wohl in allen Taktschnellen den Kopf über Wasser halten können. Guggeis vergibt sich so manche Chance, den Klang plastisch zu gestalten, die Haltung zu wechseln, mit der Varietät des Tempos Ausdruck zu gestalten. Aber so, wie er dirigiert, wie er dann wieder den Sinn von Ensembles, von ariosen Momenten, von Rhythmus-Coups Mozarts erfasst, mag man getrost sagen: Kommt noch!

Was Guggeis als glückliche Wahl für die Oper Frankfurt qualifiziert, ist seine Expertise im Umgang mit den Sängern. Es ist ein Vergnügen zu beobachten, wie klar er durch komplexe Ensembles führt, wie er den Menschen auf der Bühne hilft, wie er dadurch Präzision und souveräne Leichtigkeit erreicht, auch, wie er selbst am Flügel die Rezitative mit witzigen Erinnerungsmotiven verziert. So kann Kihwan Sim seinen klangvollen Bassbariton frei entfalten und seinem Konkurrenten, dem Grafen von Danylo Matviienko Paroli bieten. „Non piu andrai“, von ausnehmend aparten Bläsern veredelt, vertrüge deutlicher ironische Farben in der Stimme. Matviienko hebt dagegen mit seiner stimmlichen Eleganz hervor, dass er das Spiel der Geschlechter durchaus als solches verstehen will, manchmal vordergründig gefasst, aber nie harmlos.

Vollendete Studie eines Zwischenwesens

Ganz zeitgenössisch, auch im Kostüm: Kelsey Lauritano (links) mit der Gräfin (Adriana González) als Cherubino – ein Wesen ohne festgelegte Geschlechtssignale. Foto: Barbara Aumüller

Kelsey Lauritanos Cherubino ist eine vollendete Studie eines Zwischenwesens, das sich im Labyrinth der Geschlechter erst orientieren muss. Die Sängerin gestaltet eher hell und brillant als mit sanften Mezzorundungen; ihr „Non so piu cosa son …“ huscht wie ein Irrwisch vorbei, ein rastloser Spuk ohne die Chance, auf differenzierte Artikulation. Auch „Voi che sapete“ könnte Lauritano sicher bewusster ausformen, würde ihr der Dirigent eine Spur mehr Zeit geben. Elena Villalón brilliert als Susanna in den Ensembles mit einer fabelhaften Sprach-Musik-Sensibilität. Zwischendurch will es ihr nicht gelingen, die Stimme im Körper zu halten – die Töne werden spitz und kopfig. Aber ihre Arie im vierten Akt ist ein Musterbeispiel bewussten, makellosen Singens.

Dass Frankfurt nicht umsonst zum wiederholten Mal den Titel „Opernhaus des Jahres“ eingeheimst hat, ist nicht nur der exquisiten Spielplanpolitik von Intendant Bernd Loebe zu verdanken, sondern auch seiner Ensemblepflege. Die zeigt sich in diesem „Figaro“ von ihrer besten Seite: Die kleineren, dennoch wichtigen Rollen sind mit der leuchtenden Cecilia Hall als Marcellina, dem wunderbar diskret polternden Donato di Stefano als Bartolo, dem fast zu schönstimmigen jungen Tenor Magnus Dietrich als Basilio und dem bewährten Franz Mayer als Antonio durchweg vorzüglich besetzt. Sie alle nutzen die Chance des neutralen Bühnenkastens von Karoly Risz, der sich mit raumhohen Drehlamellen durchlässig oder verschlossen geben kann: Hier triumphieren nicht die Szenerie, nicht die Atmosphäre, sondern die Darsteller.

Weitere Vorstellungen: 12., 14., 21. Oktober; 28., 30. Dezember 2023; 5., 7., 18., 21. Januar 2024. Info: https://oper-frankfurt.de/de/spielplan/le-nozze-di-figaro_3/




Wer hat die Nase vorn? „Parsifal“ in Düsseldorf und Hannover

Szene aus dem dritten Aufzug des „Parsifal“ in Düsseldorf mit Daniel Frank (Parsifal) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Sandra Then)

In Düsseldorf steht er mit leeren Händen im gleißenden Licht, der neue Gralskönig Parsifal. In Hannover bleibt von den Wirrnissen der Ritter- und der Klingsor-Welt ein Kind übrig. Erlösung wird der Welt in beiden Inszenierungen nicht zuteil. Die Sicht auf Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“ ist pessimistisch, bei allen Unterschieden. Und die sind markant, in der szenischen wie in der musikalischen Gestaltung.

Die Premiere in Düsseldorf bringt den viel gelobten „Parsifal“ aus Genf an den Rhein, in einer minimalistischen Regie von Michael Thalheimer, der in der letzten Spielzeit einen faszinierenden Verdi-„Macbeth“ an der Deutschen Oper herausgebracht hat. Auf der Drehbühne (Henrik Ahr) ein Podest, abgeschlossen nach hinten durch eine mittig vertikal geteilte, schmutzigweiße Wand, horizontal gegliedert durch einen Querbalken. So ergibt sich ein Kreuz, einziger Hinweis auf die christlichen Konnotationen von Wagners Weltabschiedswerk.

Der künftige Erlöser schreitet strahlend weiß aus diesem Spalt auf eine Fläche, auf der Gurnemanz, ein stattlicher, gebrochener Mann, allzu hörbar schlurfend seine Runden dreht. Bis zu den Hüften muss er einmal im Blut gestanden haben – so wirkt jedenfalls sein schwerer Mantel. Das Blut holt alle ein: Die Gewänder von Michaela Barth, in denen die Gralsritter geistern, sind rot verschmiert; Kundry malt im dritten Aufzug unentwegt den Kernsatz des Werks wie eine Beschwörungsformel an die Wand: „Durch Mitleid wissend der reine Tor. Parsifal“. Die Sphäre Klingsors ist schwarz und vertikal gebrochen – die Rückseite der Welt der Gralsgesellschaft.

Woher das Blut, woher die Schuld? Thalheimer verweigert die Antwort, so wie er seinen „Parsifal“ überhaupt strikt von Deutung frei hält und damit bisweilen Bedeutung gefährdet. Mit den Mitteln minutiöser Personenführung und der peniblen Planung von Gesten und Gängen schafft Thalheimer ein zugespitztes Kammerspiel, das die Gefahr öder Langeweile bannt, weil die Figuren auch durch die szenische Konzentration der Darsteller selbst in langen Passagen gesungener Texte spannend und lebendig bleiben. Dieser „Parsifal“ hat viel mit der Magie des Spielens zu tun und ist deshalb auch ein Stück faszinierendes Schauspieler-Theater.

Vollgepackte Bühne in Hannover

Der Kontrast zu Hannover könnte nicht größer sein: Dort inszeniert einer der neuen Mode-Regisseure, der Isländer Thorleifur Örn Arnarsson, designiert für „Tristan und Isolde“ in Bayreuth 2024. Er schafft es, auf der vollgepackten Bühne von Wolfgang Menardi trotz ausgiebigen Einsatzes von Licht, Nebel und Personal langatmige Ödnis zu verbreiten. Auch bei Arnarsson gibt es verlangsamte Bewegung, wankende Choraufmärsche wie weiland bei Wolfgang Wagner, aber auch Schreiten und Stolpern, Holpern und Rennen, dazu einen nervigen Umbau bei offener Bühne, ein auf- und abfahrendes Gerüstpaneel mit Neonröhren über einem rätselhaften Becken, und verkohlte Baumstämme, die uns die wie auch immer geartete Katastrophe signalisieren und am Ende des ersten Aufzugs erwartungsgemäß nach oben entschweben.

Irgendwie Katastrophe: Die Bühne von Wolfgang Menardi für den „Parsifal“ in Hannover, hier mit Marco Jentzsch (Parsifal) und Shavleg Armasi (Gurnemanz). (Foto: Sandra Then)

Im Klingsor-Akt umschließt ein weißer Kasten eine steril-museale Landschaft, bevölkert von lethargischen Frauen mit aufgemalten primären Geschlechtsmerkmalen auf halbtransparenten Verschleierungen (Kostüme: Karen Briem). Das Gespräch zwischen Parsifal und der unruhig auf und ab tigernden Kundry wird zum finalen Durchhänger eines mit geschäftigen Leerläufen gesegneten Abends. Der im Interview im Programm zitierte C.G. Jung mag erklären, warum Arnarsson Amfortas und Klingsor vom selben Sänger – dem energisch, rotzig und gewalttätig, aber auch erbarmenswert schmerzvoll singenden Michael Kupfer-Radecky – verkörpern lässt. Aber die zentrale Idee der Regie wirkt trotz Psychologie als bloße Bedeutungs-Behauptung: Parsifal erscheint als Kind, junger Erwachsener und reifer Mann, um seine Entwicklung erfahrbar zu machen. Doch die Doppelungen und Mehrfachauftritte von Sänger Marco Jentzsch mit den Kindern Maximilian Blossfeld und Leandro Klyszcz vermitteln keine konzentrierte Erzähllinie.

Steril und ohne Blumenzauber: Klingsors Welt in Hannover. Im Zentrum Michael Kupfer-Radecky. (Foto: Sandra Then)

Was am Ende des Assoziationstrubels bleibt, als die blendende Weißlichtfläche, die wohl den „Gral“ symbolisieren soll, endgültig zur Hölle gefahren ist und die Gralsritter ihre Hörnerhüte – eine Assoziation an Hägar-der-Schreckliche-Helme und Frickas Widder – abgelegt haben, bleibt unklar. Die Sinnlosigkeit jeder Entwicklung? Das Kind – der Anfang der immergleichen Geschichte? Das Panorama vergeblicher menschlicher Versuche, der Akzeptanz des immerwährenden Leids der Welt zu entkommen? Das Gefühl der Erlösung jedenfalls wird nur in der erleichterten Erkenntnis spürbar, dass der Abend endlich zu Ende geht.

Spannungsreiches Klangbild

Musikalisch allerdings hätte er noch länger dauern dürfen, denn der Hannoveraner GMD Stephan Zilias spornt das vorzüglich auf Wagner eingestellte Niedersächsische Staatsorchester zu einem lebendigen und spannungsreichen Klangbild an. Man mag über das eine oder andere langsame Tempo an der Grenze zum Zähen streiten, man mag manche Steigerung für zu überbordend halten – am fabelhaften Eindruck des Abends ändert das nichts.

Zilias zeigt, dass „Parsifal“ sich nicht im Rausch der Linien erschöpft, dass die psychedelische Verführungsabsicht Wagners keineswegs das bestimmende Element der Musik sein muss, wie offenbar ein hartnäckiger, Protest im Publikum hervorrufender Buh-Rufer annimmt. Deutlich wird vielmehr, dass die Musik aus Konturen lebt, dass der Klang ausdifferenziert werden will, dass Einsätze, Farb- und Haltungswechsel nicht nur unmerklich ineinander übergehen, sondern akzentuierenden Zugriff brauchen. Auch der Chor von Lorenzo da Rio verliert sich nicht im Säuseln, lässt im marcato auch die aggressive Note dieser Gesellschaft erkennen. In den Fernchören gibt es schmerzhafte Wackler, das ist aber auch in Düsseldorf nicht anders, wo Gerhard Michalski seine Herren auf satte Sonorität und entschieden drängenden Gleichklang getrimmt hat.

Axel Kober in Düsseldorf, mit der Erfahrung des Bayreuther „Abgrunds“ im Sinn, liest die „Parsifal“-Partitur mischklangverliebter, aber auch mit Lust an langsamem, im ersten Aufzug zerfließend lahmendem Zeitmaß. Die Düsseldorfer Symphoniker zeigen in den Violinen wenig Kontur, bleiben im Finale zu sehr im Hintergrund und ohne Magie. Für die sensualistischen Provokationen der Klingsor-Welt produziert das Orchester nur gedeckte Farben und schalen erotischen Kitzel.

Sänger-Triumphe an beiden Häusern

Düsseldorf: Hans-Peter König (Gurnemanz) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Andreas Etter)

Gesungen wird an beiden Häusern sehr achtbar, teilweise auf einem Niveau, das man sich für Bayreuth wünschen würde. Der Trumpf in Düsseldorf heißt Hans-Peter König: ein beispielhafter Wagner-Sänger, klangvoll im Timbre, ausgeglichen in der Tonproduktion, wortverständlich und mit musikalischen Nuancen gestaltend. Ein großartig erzählender Gurnemanz. Aber auch Luke Stoker als präsenter Titurel überzeugt auf ganzer Linie. Michael Nagy erscheint im Zentrum der sich kreuzenden Linien der Bühne als blutige Christus-Assoziation und singt entspannt und expressiv – ein markanter Kontrast zum Klingsor von Joachim Goltz, der mit bewusst gehärteten, schneidenden Tönen und konzentriert fokussierend aus dem verstoßenen einstigen Gralsritter die grimmige Enttäuschung und den Willen zur Vergeltung herausstößt.

Daniel Frank, der Düsseldorfer Parsifal, wirkt zunächst recht dünnstimmig und grell, fängt sich im zweiten Aufzug und kann im dritten beweisen, dass er mit Kern und gesichertem Klang aussingen kann. Sarah Ferede wird in die Partie der Kundry noch hineinwachsen: Ihr Auftritt im Reiche Klingsors beginnt imposant, ihren Schmeicheltönen fehlt es nicht an Schmelz. Die letzte Rundung, die Souveränität über die Momente des Extremen, das Vermeiden von Schärfe in der Kraft fordernden Höhe sind noch nicht ausgereift. Auch Irene Roberts, die Kundry in Hannover, ist noch nicht so weit: Lautstärke ist keine Garantie für die Intensität des Ausdrucks, eine Stimme am Limit wirkt eher gefährdet als gefährlich und das Vibrato darf kontrollierter sein.

Der Star in Hannover heißt Michael Kupfer-Radecky – in Bayreuth war er Wotan in der „Walküre“ und Gunther in der „Götterdämmerung“. In der Doppelrolle Amfortas/Klingsor versteht er es, das Gemeinsame der ähnlichen existenziellen Verletzung, aber auch die Spannung zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren herauszuarbeiten. Sein Bariton ist kraftvoll, aber nicht übermächtig, der Klang konzentriert, ohne verfestigt zu wirken. Kupfer-Radecky legt die Seele der Worte frei, und allenfalls in der einen oder anderen Verzerrung eines Vokals macht sich bemerkbar, wie viel Einsatz und Mühe hinter einer solchen Gesangsleistung steckt.

Daniel Eggert rückt als Titurel nicht in den Vordergrund; er singt klangschön zurückhaltend, Shavleg Armasi ist ein beredter Gurnemanz, der dieser Figur eine sympathische menschliche Note mitgibt – kein Grund, Missfallen zu äußern, wie es am Ende vom Rang herabschallte. Marco Jentzsch entkleidet den Parsifal in Hannover jeder heldischen Attitüde, hat aber nicht die Reserven, um die plötzliche Einsicht nach dem Kuss Kundrys und die daraus folgende Entschlossenheit zu beglaubigen. Zumal der Tenor auch im Lyrischen dünn wirkt, Piani nicht gestützt sind und die ausgemergelte Schärfe des Tons in dramatischen Momenten nur lautes und explosives Stemmen erlaubt. Dennoch bleibt es dabei: Musikalisch hat Hannover wegen der Klasse des Orchesters und einem spannungsvolleren Dirigat die Nase vorn, szenisch muss sich Düsseldorf vor dem Aufwand auf der niedersächsischen Bühne in keinem Augenblick verstecken.

Vorstellungen in Düsseldorf: 1., 15., 21.10.2023; 29.03., 07.04.2024. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/kalender/parsifal/1285/?a=termine

Vorstellungen in Hannover: 3., 8., 15., 22., 31.10. Info: https://staatstheater-hannover.de/de_DE/programm-staatsoper/parsifal.1343152

 




Unauflösliche Märchenwelt: Oper Köln eröffnet die Spielzeit mit „Die Frau ohne Schatten“

Daniela Köhler (Kaiserin) und Irmgard Vilsmaier Der(Amme). (Foto: Matthias Jung)

Dem früheren Intendanten des Aalto-Theaters Essen, Hein Mulders, ist mit der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ zum Spielzeitauftakt ein markantes Statement gelungen. Die Inszenierung von Katharina Thoma hat jedoch Leerstellen, die auch von der hervorragenden Orchesterleistung unter Marc Albrecht nicht verfüllt werden können.

Das üppige Orchester, die häufigen Verwandlungen, die Länge und die fünf extrem anspruchsvollen Hauptpartien: Richard Strauss‘ und Hugo von Hofmannsthals „letzte romantische Oper“ über ein Zwischenwesen aus dem Geisterreich, das keinen Schatten wirft, ist ein dicker Brocken selbst für große Bühnen. Im Staatenhaus, der Spielstätte der Oper Köln bis zur hoffentlich baldigen Wiedereröffnung des Hauses am Offenbachplatz, sind häufige Verwandlungen oder ein technischer Bühnenzauber nicht zu realisieren. So macht Johannes Leiacker die Not zur Tugend: Eine Erhöhung, aus Schichten geformt wie eine geologische Formation, ganz in Weiß, in organisch verlaufenden Kurven, mit einem krönenden Felsen – das war’s in Sachen Bühnenbild.

Das Gürzenich-Orchester sitzt weit gestaffelt rechts von der Bühne: Der Klang ist weniger fokussiert als in einem Graben. Dirigent Marc Albrecht lässt die Musiker diesen Raum nutzen: Strauss‘ filigran verwobene Linien und Motive bündeln sich, streben massiert zusammen, spritzen in glitzernder Gischt wieder auseinander, entfalten sich frei und räumlich. Die wundervoll ausgekosteten Piano-Stellen tragen. Albrecht kann die Musik großzügig aufblühen lassen, breitet ein leuchtendes Spektrum aparter Klangfarben aus, baut vom zurückhaltenden ersten bis zum pathossatten dritten Akt einen Spannungsbogen auf, der sich nicht dynamisch verausgabt, bevor er die Kulminationspunkte in der zweiten Hälfte des Abends erreicht.

Sinnlich und klug disponierte Musik

Die Musiker des Gürzenich-Orchesters können zeigen, was sie drauf haben, ob Celli oder Celesta, die fünf Tuben oder Tamtam und chinesische Gongs. Aber der Raum setzt auch Grenzen: Blechbläsereinsätze geraten allzu gerundet, wo sie scharf attackieren müssten, die Holzbläser gehen seltsamerweise immer wieder unter. Trotzdem: Albrecht präsentiert sich als ein Strauss-Dirigent von Format, der diese „Frau ohne Schatten“ so sinnlich wie klug disponiert und nicht an den knalligen Effekt verrät.

Der Kaiser (AJ Glueckert) und sein Falke (Giulia Montanari). (Foto: Matthias Jung)

Für die Sänger ist der Vorteil unüberhörbar: Sie müssen nicht forcieren, werden vom Orchester nicht übertönt, auch wenn Albrecht die massive Wucht dieser vollkommenen Synthese des Symphonischen und des Dramatischen auskostet. Diese Chance nutzt AJ Glueckert als Kaiser. Er nimmt die Dramatik zurück, legt die Partie kantabel an, betont so, dass dieser romantische Jäger der weißen Gazelle, die sich zur Frau verwandeln sollte, ein verträumter Held ist, dem Geisterreich nicht zugehörig, aber zugetan. Der Stimme des Tenors kommt dieser Ansatz sehr entgegen.

Die Kaiserin Daniela Köhler setzt zu Beginn („Ist mein Liebster dahin …“) zu viel Vibrato ein und stört damit den ruhigen Fluss der Stellen im piano. Doch mit zunehmend bewusstem Stützen normalisiert sich das Schwingen des Soprans, der substanzvoll, leuchtend und sich in den typischen weiten Strauss-Phrasen blühend aufschwingt. Köhler verkörpert die zentrale Figur dieser Inszenierung: Das Streben nach einem Schatten führt sie in die Welt einfacher Menschen, in der sie mehr und mehr erkennt, wie Empathie und Zuwendung das Leben menschlich machen – und der Schatten steht ja als Symbol nicht nur für weibliche Fruchtbarkeit, für die Erweiterung der Person in die Welt hinein, sondern für die ambivalente menschliche Existenz, die auch Schmerz, Opfer und Tod umfasst. Im Kontakt mit dem Färber Barak und seiner unverbrüchlich naiven Bereitschaft, Schattenseiten anzunehmen und zu ertragen, erkennt sie, was es bedeutet, als Mensch zu fühlen und zu handeln. Deutlich wird ihr Wandel in einer berührenden Szene im zweiten Akt, als sie dem erschöpften Barak den Schweiß von Stirn und Füßen wäscht.

Kampf mit vokalen Herausforderungen

Die Hierarchie ist klar: Oben steht die Kaiserin (Daniela Köhler), unten die Färberin (Lise Lindstrom), dazwischen die Amme (Irmgard Vilsmaier). Foto: Matthias Jung.

Auch die Färberin gestaltet ihre Rolle als einen Lernprozess: Lise Lindstrom kämpft nicht nur mit der Armut, mit den Zumutungen der drei versehrten Brüder im Haushalt (Insik Choi, Christoph Seidl, Ralf Rachbauer), sondern auch mit ihren unerfüllten Wünschen. Die bunten Kleider, die ihr Kostümbildnerin Irina Bartels verpasst, stehen für ein Lebensbegehren, das die Färberin im Mutterglück sucht, und für das Streben nach Anerkennung in einem Haus, in dem sie als „Weib“ abgewertet und lediglich „gehegt und gefüttert“ wird. Beide, der Färber und seine Frau, lernen, sich zu achten und Liebe aus gegenseitigem Respekt zu gewinnen.

Lindstrom kämpft aber auch mit den vokalen Herausforderungen: Ihr Sopran leidet unter übermäßigem Vibrato. Spitzen- und andere im Metrum bedeutende Töne werden überstark herauskatapultiert, während Linien unterbelichtet bleiben und nicht kontinuierlich durchgestützt werden. Die flackernde Tonproduktion lässt die Farben der Stimme verblassen und stört eine saubere Artikulation. Anders der Färber von Jordan Shanahan: Er singt verständlich, bildet den Klang füllig und sonor, ist auf entspannten Fluss bedacht.

Als Amme hat Irmgard Vilsmaier eine Reihe exponierter Momente, in denen sie stimmlich alles geben muss. Als alte Dame mit Stock, altbackenem Hütchen und einem großmütterlich schwarzem Kostüm mit weißen Handschuhen steht die Amme zwischen dem cleanen, gestylten Weiß der Geister und der realistisch farbvielfältigen Welt der Menschen. Die „schwarz-weiße Schlange“ wirkt enthoben und mutiert zum Symbol, wenn sie im zweiten Akt als Spinne in einem projizierten Netz den Schlaftrunk für Barak bereitet, auf dass der verführerische Jüngling als Preis für den Schatten ungestört für die Färbersfrau verfügbar sei. (Bryan Lopez Gonzalez sieht blendend aus, bewältigt die Rolle aber mit müden und mühevollen Tönen unbefriedigend). „Was Menschen bedürfen, du weißt es zu wenig“ sagt ihr die Kaiserin: Die Amme konnte die Entwicklung ihres Schützlings nicht mitvollziehen. Stimmlich wie szenisch bleibt Irmgard Vilsmaier mit herben und gleißenden Tönen präsent, bis sie von der machtvollen Stimme des Boten (Karl-Heinz Lehner) aus dem Geisterreich verstoßen und bewegungslos hinausgefahren wird.

Zwischen Phantastik und Sozialrealismus

Der Vorzug der Inszenierung von Katharina Thoma ist, den Personen den erzählerischen Raum zu öffnen, soweit die Berg-Insel Leiackers es zulässt. Doch wohin mit dem Märchenhaften der „Frau ohne Schatten“, mit dem Symbolismus? Der Falke ist lediglich eine aparte, rot leuchtende Erscheinung (Giulia Montanari), aber die Nachtwächter (Sinhu Kim, Yongmin Kwon, Michael Terada) dürfen in schwarzen Priestersoutanen über die Bühne schreiten und ihren Sinnspruch in magischen Strauss-Choralklängen verkünden. Und wohin mit dem anfechtbaren Frauenbild oder gar dem Immanentismus von Richard Strauss, der seltsam quer zu den transzendierenden „romantischen“ Bestrebungen des Hoffmannsthal-Librettos steht? Dafür bietet Thoma keine plausible Lösung.

Die Regisseurin, Wunschkandidatin von Intendant Hein Mulders, gestaltet in den ersten beiden Aufzüge weitgehend die Story aus, nutzt Georg Lendorffs Projektionen, um erzählerischen Realismus aufzubrechen, setzt aber mit dem Verteilen und Verpacken von Altkleidern szenische Markierungen, die sich erst im dritten Aufzug auflösen: Jetzt wird verständlich, warum vorher schon Kinder die Fetzen und Lumpen von der Bühne geräumt haben. Alttextilhändler Barak ist am Werk! Doch jetzt, nach der videogesättigten Katastrophe am Ende des zweiten Aufzugs, wird ein Lebloser von Sanitätern abtransportiert, bevölkern Kinder und Erwachsene die Stufen wie Migranten den Strand von Lampedusa.

Gleichzeitig kriechen fantastische Lemuren am Bühnenrand entlang, die später die Amme hinausfahren werden. Die Kaiserin hat ihr Geisterweiß verloren und tritt in fraulichem Gewande auf, der Fels, an dem der Kaiser bereits in ununterscheidbarem Grau angeklebt war, zerbricht. Übermächte und Sozialrealismus vermischen sich, ohne dass eine Sinn-Synthese geboren würde. Katharina Thomas Inszenierung verpufft. Was bleibt, sind szenische Bilder und das Gefühl, diese unzeitgemäße „Frau ohne Schatten“ beharre starrköpfig in einer unauflösbaren Märchenwelt.

Weitere Vorstellungen am 23., 29. September, 3., 8., 11. Oktober.
Info: https://www.oper.koeln/de/programm/die-frau-ohne-schatten/6547




„Wenn man einmal in Bayreuth war, ist man süchtig danach“: Altistin Karolin Zeinert aus Düsseldorf singt im Chor der Festspiele

Karolin Zeinert vor dem Bayreuther Festspielhaus. (Foto: Werner Häußner)

Die Düsseldorfer Altistin Karolin Zeinert singt mittlerweile in ihrer 11. Spielzeit im Chor der Bayreuther Festspiele. Im Interview erzählt sie, wie sie in Bayreuth ihre professionelle Laufbahn begonnen hat und warum es so faszinierend ist, im Chor der Festspiele mitzuwirken.

Wie hat’s bei Ihnen begonnen mit Bayreuth?

Ich habe immer gerne im Chor gesungen. Mit fünf habe ich damit angefangen, bin dann in meiner Heimatstadt Gera auf ein chororientiertes Gymnasium gegangen und wollte immer Choristin werden. Ich habe dann das Studium begonnen, war nach vier Semestern beim RIAS Kammerchor als Praktikantin und habe festgestellt: Chorsingen ist wirklich meins. Dann habe ich an verschiedenen Theatern Produktionen mitgemacht. Nach dem Abschluss meines Studiums habe ich mich initiativ in Bayreuth beworben. Wagners Musik mochte ich immer, ich habe ja auch am gleichen Tag wie er Geburtstag. Ich habe vorgesungen und ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass es klappt, aber ich wurde genommen und bin nun seit 2012 jedes Jahr bei den Festspielen in Bayreuth. Als ich 2014 an der Deutschen Oper am Rhein ins Festengagement ging, habe ich mir das Okay geholt, dass ich im Sommer nach Bayreuth gehen kann. Mein Chef ist da extrem kulant und die Kollegen haben Verständnis für mich. Das klappt also ganz gut.

Sie sind also bei den Bayreuther Festspielen in Ihre professionelle Laufbahn eingestiegen?

Karolin Zeinert. (Foto: privat)

Ja, tatsächlich. Vorher war ich mal eine Spielzeit in Leipzig, hatte aber sonst immer nur Gastverträge. Ich habe so mein Studium finanziert und Erfahrungen gesammelt. Und nicht zuletzt für mich geklärt, ob ich diesen Job mein Leben lang machen möchte und auch kann. Denn das Singen im Chor ist schon ein spezieller Beruf. Man ist viel unterwegs, soziale Kontakte zu Menschen außerhalb des Theaterbetriebs sind schwierig, und immer, wenn andere frei haben, arbeiten wir. Aber Bayreuth war schon das Highlight für mich. Als ich hier anfing, war ich 26, und lange war ich die jüngste unter den zweiten Altistinnen im Festspielchor.

War Bayreuth neu für Sie? Waren Sie vorher einmal hier?

Weder als Gast noch als Stipendiatin. Die Festspiele waren für mich totales Neuland. Ich kannte auch die Stadt nicht, fühlte mich aber sehr schnell zu Hause. Auch weil ich in Weimar studiert hatte, eine Stadt von ähnlicher Größe und Struktur.

Und wie sind sie mit der Arbeit am Grünen Hügel umgegangen? Hat Sie ein besonderes Bayreuth-Gefühl erfasst?

Die Damen des Bayreuther Festspielchores in Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ mit Nadine Weissmann als Mary (links) und Elisabeth Teige als Senta. (Foto: Enrico Nawrath)

Ich erinnere mich, dass ich an einem der ersten Tage einmal an der Hinterbühne vorbeigegangen bin. Die großen Tore waren offen, so dass man von dort in den Zuschauerraum blicken konnte. Ich hatte noch nie in einem Haus mit so vielen Plätzen gesungen und noch nie ein Theater mit so einer tiefen Bühne gesehen. Das war ehrfurchtgebietend, aber ich habe es damals nicht als furchteinflößend erlebt. Erst später, wenn ich jungen Kollegen davon erzählt habe, wurde mir bewusst, was man für Produktionen erlebt hat und mit welchen Sängern man zusammen auf der Bühne gestanden hat. Da habe ich so ein bisschen „das Fürchten gelernt“. Der Premierentag in Bayreuth macht mich immer noch etwas nervös und auch die Vorstellungen sind etwas Besonderes, wenn ich zum Beispiel die kleine Rolle eines Edelknaben im „Tannhäuser“ singe. Da herrscht eine andere Anspannung, weil man es besonders gut machen möchte.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Wagners Musik entwickelt?

Ich hatte eine Lehrerin in Weimar, die schon recht früh gesagt hat, meine Stimme passe gut ins deutsche Fach und zu Wagner. Daher habe ich mich bald dran versucht und im Studium Erda oder die Wesendonck-Lieder gesungen. Das lag mir gut und passte zu meiner Stimme, weil es viel um die Ausgestaltung von Text geht. So habe ich mich in Wagner reinverliebt. Meine erste Produktion, da war ich Anfang Zwanzig, habe ich in Gera mitgemacht, das war „Tannhäuser“ mit einem Vierzig-Personen-Chor. Das habe ich sehr genossen, und so habe ich mich nach und nach mit den anderen Opern befasst.

Welche ist Ihre Wagner-Lieblingsoper?

Karolin Zeinert im Kostüm – hier für Wagners „Tannhäuser“. Rainer Sellmaier hat die Kostüme für Tobias Kratzers Inszenierung entworfen. (Foto: privat)

Das ist eine fiese Frage, schwierig zu beantworten und von den Umständen abhängig. Beim Bayreuther „Ratten-Lohengrin“ von Hans Neuenfels dachte ich, ja, das ist „meine“ Wagner-Oper. Dann kam der nächste „Lohengrin“, der szenisch anders war und bei dem ich die Längen des Stücks spürte. Ich bin auch eine große Freundin von „Parsifal“, der kann aber auch ewig dauern. Wenn ich mich entscheiden müsste, dann zwischen „Tannhäuser“ und „Parsifal“. Das Elegische im „Parsifal“ finde ich ganz wunderbar, und das zaubert Pablo Heras-Casado in diesem Jahr wirklich toll. Er lässt das Orchester so leise spielen, dass wir in der Höhe stehen und uns manchmal fragen, ob das Orchester überhaupt noch spielt. Für jemanden, der in Bayreuth debütiert hat und die akustischen Finessen des Hauses noch nicht kennt, hat er die Musik großartig umgesetzt. Er hat auch eine Chorsaalprobe mit uns gemacht und ganz fein gearbeitet. An einem normalen Haus ist gar keine Zeit, so intensiv an Details zu arbeiten. Hier ist es möglich, auszuprobieren, wie weit man ein piano dimmen kann, damit es noch trägt und hörbar bleibt. Das hat großen Spaß gemacht.

Wenn Sie die Arbeit hier mit Düsseldorf oder anderen Theatern vergleichen: Was ist das Spezielle in Bayreuth? Gibt es das?

Ja, das gibt es auf jeden Fall, und zwar unter einigen Aspekten. Zum einen ist der Chor mit 134 Personen hier groß genug. Wir haben zum Beispiel in Düsseldorf auch einen „Fliegenden Holländer“, und da ist es nicht üblich, dass am Abend die Matrosen und der Geisterchor beide live gesungen werden. Die Geister kommen in aller Regel vom Band. Und dabei sind wir in Düsseldorf mit 65 Sängern ein relativ großer Chor – aber hier ist es eben das Doppelte. Hier kommt alles live. Zum anderen konzentriert man sich hier nur auf Wagner. In Düsseldorf haben wir innerhalb einer Spielzeit ein breites Repertoire. Da ist für eine solche Konzentration einfach kein Raum. Es gibt auch nicht so viele musikalische Proben und nicht so viel Zeit, an kleinsten Nuancen zu feilen.

Hier machen wir zehn Wochen lang nichts anderes als Wagner. Wir treffen uns bei „Parsifal“ vor jeder Vorstellung, sogar vor jedem Akt, und singen uns ein. Das heißt, man singt sich zusammen, geht nahe ans Dirigat, lotet noch einmal die Dynamik aus. Man ist hier sehr darauf angewiesen, auf die Chordirigenten zu achten, weil auf der Bühne eine andere Akustik herrscht als im Saal. Wir sind extrem davon abhängig, dass unsere Chordirigenten gut hören und uns perfekt führen. Wir leben hier in der „Glocke Bayreuth“, das ist keine Alltagssituation.

Was nehmen Sie mit aus Bayreuth für Ihre Arbeit an Ihrem Stammhaus? Auch wenn das Niveau der Dirigate unterschiedlich beurteilt wird, arbeiten Sie hier mit verschiedenen musikalischen Charakteren mit unterschiedlichen Auffassungen.

Man nimmt in jedem Fall die unterschiedlichen Weisen des Herangehens an die Musik mit. Wir haben dieses Jahr mit Nathalie Stutzmann im „Tannhäuser“ eine Sängerin als Dirigentin, und es ist interessant, wie ganz anders sie mit der Musik umgeht als Axel Kober, der ja mein Chef in Düsseldorf ist und mit dem wir hier in den letzten Jahren viel Freude hatten. Frau Stutzmann macht viel vor, dirigiert sehr gesanglich, mit viel Bogen und Fläche. Für das Orchester mag das schwierig sein, weil sie wohl weniger akzentuiert. Aber für uns im Chor ist das etwas ganz anderes. Manchmal ist es auch ein bisschen schwierig, wenn ich zurückkomme und von Bayreuth eine genaue Vorstellung mitbringe, wie bestimmte Stellen zu klingen haben.

Aufschlussreich ist auch zu beobachten, wie unterschiedlich Dirigenten im Umgang mit dem Orchester, dem Ensemble und auch mit Regisseuren sind – und welche Entwicklung sie im Lauf der Zeit machen. Ich erinnere mich an meine ersten Begegnungen mit Christian Thielemann, bei denen ich dachte: Oh, das ist hier aber ein harscher Ton. Einige Jahre später habe ich ihn viel gelöster erlebt. Da wirkte er, als wäre er „angekommen“. Was ich an Bayreuth schätze, ist das Verschwimmen der Distanz zu den „großen“ Sänger-Solisten. Man sitzt in der Kantine, und dann setzt sich ein Georg Zeppenfeld einfach mit an den Tisch. Wenn solche Solisten an einem Haus als Gast kommen und gehen, kommt dieses Miteinander nicht auf.

Wie erleben Sie die Arbeit mit den Regisseuren?

In den letzten elf Jahren habe ich hier – wie auch anderswo – festgestellt: Arbeit und Name gehen nicht immer konform. Es gibt Leute mit großem Ruf, bei denen ich bei der Arbeit die Hände über dem Kopf zusammenschlage und denke, die Ergebnisse sind nur ihrem Team zu verdanken. Und dann gibt es welche, die vielleicht nicht den prominentesten Namen haben, aber genau wissen, was sie wollen und eine tolle Arbeit machen, bei der man sich als Choristin auch mitgenommen fühlt. Die große Herausforderung speziell in Bayreuth ist, dass man den großen Chor auf der Bühne abholt und mitnimmt. Wenn von 134 Leuten jeder am Abend wissen soll, was er zu tun hat, wie seine Rolle und Funktion ist, dann ist das nochmal eine andere Hausnummer als beispielsweise den Chor in Düsseldorf zu führen, der halb so groß ist. Manche Regisseure sind von dieser Menschenmasse einfach eingeschüchtert und vielleicht auch überfordert.

In welchen Inszenierungen haben Sie sich besonders wohl gefühlt?

Die beste Produktion, die ich in den letzten Jahren mitgemacht habe, ist sicherlich der „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer. Er kam zur ersten Probe und konnte jeden mit Namen ansprechen! Jeder hat von ihm eine Intention, eine Rolle bekommen, hat genau erfahren, was er wann und wo zu tun hat. Da ist eine solche Truppe dann natürlich voll dabei. Genauso Barrie Kosky. Bei ihm würde ich gerne noch einmal eine Regierarbeit mitmachen, weil mich seine Perfektion beeindruckt hat. Das ist natürlich anstrengend. Im letzten Akt seiner „Meistersinger“ gab es einige „freeze“-Situationen, in denen alle Bewegungen auf Stichwort „einfrieren“ müssen. Das hat er so lange geprobt, bis es 134 Leute plus Statisterie auf den Punkt gemacht haben. Das beeindruckt, nimmt den Chor mit und macht Spaß. Bei Regisseuren, die den Chor eher als Masse oder als Kollektiv betrachten, fühlen sich nicht alle angesprochen. Das ist ein normales Gruppenproblem.

Hat der Bayreuther Festspielchor im Vergleich zu anderen Chören eine eigene Gruppendynamik?

Von den 134 Menschen, die wir in diesem Jahr glücklicherweise wieder sind, sind nicht alle in festen Engagements. Viele arbeiten frei, treffen sich im Sommer hier und haben Bayreuth als Schwerpunkt in ihrem Arbeitsplan. Wer nach Bayreuth kommt, um hier seinen Sommerurlaub zu verbringen, bringt ein spezielles Arbeitsethos mit. Das zeigt sich, wenn der Chor nach einem Jahr wieder zusammenkommt zur ersten Probe. Wir haben die Stücke im Jahr zuvor so minutiös geprobt, dass man das Ergebnis unter den Umständen eines anderen Opernhauses ohne weiteres auf die Bühne stellen könnte. Aber an diesem Punkt beginnt die Arbeit in Bayreuth erst. Da wird an der Intonation gefeilt, da werden Einzelstimmen herausgekitzelt. Das ist anstrengend, aber die Chorsänger, die hier sind, wollen genau das. In einem normalen Opernhaus würde man das zeitlich überhaupt nicht schaffen. Außerdem ist das Klangerlebnis ein ganz anderes. In Düsseldorf haben wir sechs Stellen im zweiten Alt, hier sind es zwölf. Das ist ein ganz anderes Gefühl in der Gruppe. Wenn man da die Augen zumacht, ist der Klang traumschön.

Kann es dieses Erlebnis nicht doch auch anderswo geben?

Ich glaube, das kann man an keinem anderen Haus erreichen. Der Chor ist auch sehr multikulturell, die Sänger kommen von überall her, man trifft so viele Leute, was total schön ist und ein ganz eigenes Gefühl erzeugt. Dann bilden sich Freundschaftsgruppen, die auch Bayreuth überdauern. Man hat eine gemeinsame Leidenschaft, gemeinsame Erinnerungen. Das sind Gründe, warum sich so viele Leute den Sommer um die Ohren schlagen und lange dabei bleiben. Wir feiern regelmäßig 30jährige Jubiläen. Viele sagen: Wenn man einmal in Bayreuth war, dann ist man süchtig danach.




Rudi Stephans einzige Oper „Die ersten Menschen“ in Frankfurt: Tobias Kratzer entdeckt ein aktuelles Endzeitstück

BegBegehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel)ehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). Foto: Matthias Baus.

Begehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). (Foto: Matthias Baus)

Die Frau steht am Fenster und schaut hinaus auf sanft geschwungene Hügel, grüne Hecken, blühende Rapsfelder unter blauem Himmel. Im Raum waltet werkelnd ein Mann, pflegt ein Beet unter einer UV-Lampe. Ein Stromaggregat ist zu erkennen, neben der Wohnküche eine Kammer mit Dosen und Einmachgläsern. Bis zu 200.000 Prepper bereiten sich Schätzungen zufolge in Deutschland auf einen Zivilisationskollaps vor; auf der Bühne der Oper Frankfurt blicken wir in Rudi Stephans Oper „Die ersten Menschen“ auf eine Familie, die in ihrem Bunker eine solche Katastrophe überlebt hat.

Nach draußen geht der Weg über einen Schacht, der nur mit Schutzmaske erklettert wird. Die Naturidylle in den Fenstern erlischt bei einem Stromausfall und erweist sich als bloße Projektion auf LED-Screens. Frau, Mann, zwei erwachsene Söhne: die letzten Menschen stehen vor uns.

Tobias Kratzer, ab 2025 Intendant der Hamburgischen Staatsoper und ein gesuchter Regisseur („Tannhäuser“ in Bayreuth), hat das Thema der Oper virtuos umgedeutet, ohne dem Sujet Gewalt anzutun. Denn eigentlich geht es um Adam und Eva, Kain und Abel – das ist das Personal von Rudi Stephans Oper aus dem Jahr 1914. Der höchst begabte Komponist blieb 1915 in der heutigen Ukraine auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs, eines von Millionen sinnlosen Opfern; einer, dessen Genius elend ausgelöscht wurde.

Passionierte, drängende Musik

Die Sehnsucht nach dem "wilden süßen Weib":

Die Sehnsucht nach dem „wilden süßen Weib“ führt zu einem ersten Gewaltausbruch: Iain MacNeil (Kajin) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm). (Foto: Matthias Baus)

Welches Potenzial in dem 28-Jährigen am Erwachen war, eröffnet Sebastian Weigle dem Ohr mit dem sinnlich-üppig aufblühenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester – die letzte von 38 Premieren mit ihm in 15 Jahren als Generalmusikdirektor in Frankfurt. Eine würdige Wahl: Die Epoche der in die Moderne hinüberklingenden Spätromantik liegt dem Dirigenten besonders nahe, das hat er mit Richard Strauss oder Franz Schreker bewiesen. Und der junge Rudi Stephan zeigt in jedem Moment seiner passionierten, drängenden Musik, dass er alle Mittel seiner Zeit verlegenheitslos beherrscht. Es gibt keine Durchhänger in den zweieinhalb Stunden.

Schon in der ersten Szene deckt Kratzer auf, welche psychischen Konstellationen die Beziehungen bestimmen. Auch dass die Figuren der Bühne mehr repräsentieren als ein individuelles Schicksal. Es geht um Lebenstriebkräfte, die den Zugang eines Menschen zu seiner Welt bestimmen: Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung (Eva), Arbeit und Weltgestaltung (Adam), sexuelles Begehren (Kain) und Erfahrung des Transzendenten, die sich im Begriff „Gott“ verdichtet (Abel). Das Libretto verwendet die hebräischen Namens-Umschriften Adahm, Chawa, Kajin und Chabel mit einem dialektischen Sinn: Die Personen werden näher an die jüdische Heilige Schrift gerückt, gleichzeitig markieren die Bezeichnungen eine Distanz zur christlich-lateinischen Überlieferung und zur biblischen Thematik des Sündenfalls und der gestörten Gottesbeziehung.

In diesem Setting entwickelt sich eine Familienkonstellation, die eher an Ibsen, Strindberg und Freud denken lässt als an die Bibel. Adahm ist der unermüdliche Gestalter, der auch nach der Katastrophe aus seinem Geiste die Welt „neu pflanzen“ will. Seine Emotionen sind „im Brunnen in der Brust“ tief verschüttet. Chawa formuliert nach einem an Wagners „Tristan“ erinnernden Englischhorn-Solo in großen erotisch geladenen Bögen ihre Sehnsucht nach Nähe, unverständlich für ihren Mann, der den Sinn des Lebens in Arbeit sucht, ein „höheres Eden“ schaffen will: Das „neue Kleid“ für seine Frau ist eine praktische Schürze. Explizit und von explosiver Musik drastisch unterstützt, formuliert das Libretto das Erwachen von Kajins jugendlich ungestümer Sexualität: Aus unbestimmtem Drängen – er „fühlt nicht, was es ist, und fühlt doch, es ist da“ – kristallisiert sich das Begehren, das sich auf die einzige Frau dieser hermetischen Welt, seine Mutter Chawa richtet.

Präziser Sprach-Expressionismus

Der heute völlig unbekannte Dramatiker Otto Borngräber (1874-1916) hat diese Entwicklung in der überspannt expressionistischen Sprache des Librettos ohne blumige Umschreibung ausgedrückt – so explizit, dass die Uraufführung seines Schauspiels 1912 in München zum Skandal geriet und das Stück verboten wurde. Bei aller möglichen Kritik am Pathos der Worte: Borngräber erfasst die menschlichen Triebkräfte ungeniert direkt, anders als etwa Hugo von Hofmannsthal im raunenden Ungefähr seiner allegorischen und symbolischen Verschlingungen.

Ambur Braid (Chawa) und Iain MacNeil (Kajin). Foto: Matthias Baus.

Wenn sich Kajins aggressive Suche nach der Erfüllung seines sexuellen Begehrens zuspitzt, wechselt der Schauplatz auf Rainer Sellmaiers Bühne. Im düsteren Licht (Joachim Klein) wird eine zerstörte Welt sichtbar. Baumstümpfe, ein hoch gemauerter Kamin, ein aschgrau ausgebranntes Auto. Die Gestelle von Kinderschaukeln und ein wunderhaft farbenfroh gebliebenes Aufblas-Schwimmbecken signalisieren: Hier könnte einst ein Garten Eden gewesen sein, ein Zauberland verlorener Kindheit, bevor die Schlange dem Menschen das Wissen um „Gut“ und „Böse“, die Distanz zu sich selbst und zu seiner Umwelt eröffnet hat. Hier legen Chabel und Chawa ihre Masken ab, hier kommt es in einer Mischung aus religiöser Ergriffenheit und zitterndem Begehren zum Sex. Kajin, der zu kurz gekommene Bruder, oft begleitet vom „schmutzigen“ Instrument Saxophon, erschlägt Chabel in einem urgewaltigen Ausbruch purer Verzweiflung, ohnmächtig seiner ausbrechenden Gewalt ausgeliefert. In solchen Momenten zeigt sich, wie genau Kratzer die Personen führen kann, wie gekonnt er die inneren Kräfte und Konflikte der Charaktere freilegt.

Das Ende umreißt noch einmal den ganzen Horizont des Geschehens – und Stephans Oper bezieht in ihre Dramatik Eckpunkte der Religionskritik ein, die bis heute gültige Fragen stellen. Es geht um den Begriff des Existenz Gottes: Ist „Gott“ eine grenzenlose Lüge, schaffen wir ihn uns selbst, um unserer durchs All taumelnden Welt einen Sinn zu geben? Hat alles Geschehen seinen Grund, aber der ist ein Fluch (Adahm)? Was bringt es dem Leben, wenn ich einen Begriff von Gott habe (Chawa)? Und vor allem: Ist Gott gerecht, sieht er das „blutenden Herz“ (Kajin)? Was in Borngräbers Text formuliert ist, macht Kratzer auf der Bühne erlebbar: Theaterkunst von ungeahnter Tiefe und hohem Können. Wenn am Schluss für den sich selbst kastrierenden Kajin und das Elternpaar ein „neuer Tag“ anbricht, kriechen lemurenhaft graue Gestalten aus den Trümmern der alten Welt. Einer Welt, deren Bedürftigkeit nach Erlösung aus jeder ihrer düsteren Klüfte klagt.

Entdeckungen beanspruchen Aktualität

Die Frankfurter Produktion der „ersten Menschen“ bestätigt die Erfahrung mit anderen Werken abseits des Repertoires: Eine früher gar nicht einmal erfolglose Oper, länger vergessen, erweist sich als aktuell in ihrer Korrespondenz mit drängenden Themen unserer Gegenwart. Dafür hat es in den vergangenen Spielzeiten einige überraschende Beispiele gegeben: Karol Rathaus‘ „Fremde Erde“ in Osnabrück, Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“ in Bonn, Walter Braunfels‘ „Die Vögel“ in Köln, Ernst Kreneks „Leben des Orest“ in Münster, Peter Tschaikowskys „Zauberin“ in Frankfurt, Gioachino Rossinis „Le Siege de Corinthe“ in Erfurt, Benjamin Godards „Dante“ in Braunschweig. Nicht zu vergessen eindrucksvolle Uraufführungen, von „Dog Days“ von David T. Little ebenfalls in Braunschweig über „Blühen“ von Vito Žuraj in Frankfurt bis „Dogville“ von Gordon Kampe in Essen. Keine Rede davon, dass die Kunstgattung Oper an ihr Ende gelange, was im Zusammenhang mit der eingebrochenen Kartennachfrage bei den Bayreuther Festspielen wieder herbeigeraunt wird.

Doch Frankfurt macht auch auf Rudi Stephans „eigene, neuartige Tonsprache“ – so der Kritiker Paul Bekker – aufmerksam, die sich zwischen Wagner-Erbe, Strauss-Innovation und Schreker-Sensualismus ihren Weg erkämpft. Sebastian Weigle schreitet den musikalischen Horizont ab, von Stephans Spektrum grell dissonanter Akzente bis zu smarten Akkordfolgen, wie sie zwanzig Jahre später Paul Abraham in seinen Operetten verwendet hat, von einer Klangfarbenpalette auf der Höhe der Zeit bis zu ausladenden melodischen Konstrukten für die Solisten.

Das Personenquartett ist szenisch gefordert und muss sich musikalisch im Wagner-Format bewähren. Ambur Braid als Chawa zeigt gestützte Präsenz, lässt aber auch die Anstrengung der großen Bögen in der Höhe merken. Andreas Bauer-Kanabas gibt den leidenschaftslosen Adahm präzis deklamierend, aber auch mit einer trockenen Verzweiflung, die sich hinter Pragmatismus verkriecht. Iain MacNeil hat als Kajin die komplexeste Figur zu verkörpern und realisiert sein wildes Aufbegehren, seinen verzweifelten Zynismus, aber auch das drängende Pathos der Figur mit einem in Farben und Klang imponierenden Bariton. Ian Koziara sichert die visionären Leuchtetöne des Chabel im Timbre seines Zentrums ab, die Passaggio-Übergänge und die Höhen wirken angefochten.

Die Oper Frankfurt hat mit Rudi Stephans singulärem Werk wieder einmal längst fällige Entdeckerarbeit geleistet und sich als wichtiges Kraftzentrum der Oper in Europa bewiesen. In der kommenden Spielzeit mit ihren elf Premieren setzt Intendant Bernd Loebe diese Linie fort. Während sich der Nachfolger von Sebastian Weigle als GMD, Thomas Guggeis, am 1.Oktober mit Mozarts „Le Nozze di Figaro“ vorstellt, verspricht der Spielplan mit „Le Grand Macabre“ des vor 100 Jahren geborenen György Ligeti, Mozarts Frühwerk „Ascanio in Alba“, Alexander Zemlinskys „Der Traumgörge“ und Wolfgang Fortners „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“ wieder erstrangige Befragungen jenseits des Mainstreams.

 




Die Natur des Menschen erkunden – Programm der Ruhrtriennale

Auch diesmal eine zentrale Spielstätte der Ruhrtriennale: die Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: © Jörg Brüggemann)

Rühmen ist eine Kunst, auf die sich nicht alle verstehen. Ganz anders heute bei der Programm-Pressekonferenz zur Ruhrtriennale, die streckenweise geradezu schwärmerisch verlief. Das überwiegend weibliche Leitungsteam um die Intendantin Barbara Frey ließ nach und nach sämtliche am Festival beteiligten Künstlerinnen und Künstler hochleben. Darüber wurden die geplanten 90 Minuten arg knapp.

Intendantin und Sparten-Leiterinnen gingen überdies einfach mal davon aus, dass die Kreativen doch sicherlich samt und sonders allseits bekannt seien. Nun, für ausgesprochene Triennale-Afficionados und dito Habitués mag das wohl zutreffen. Oder eben für die Macherinnen selbst. Ich möchte hingegen wetten, dass nicht ausnahmslos alle Medienschaffenden sofort bei allen Namensnennungen gänzlich im Bilde waren. Aber was soll’s. Manche Vorhaben klingen wirklich vielversprechend, andere beim ersten Hinhören etwas gewöhnungsbedürftig. Oder halt „interessant“; ganz nach dem offenherzigen Motto: „Dann lasst doch mal sehen!“

Vom 10. August bis zum 23. September werden an 12 Orten in den Städten Bochum, Duisburg, Essen und Dortmund (Rachmaninow-Projekt „Abendlob und Morgenglanz“, ab 16. Augustin in der Zeche Zollern) insgesamt 34 Produktionen und Projekte gezeigt, darunter fünf Uraufführungen. Vielfach handelt es sich – wie bei der Ruhrtriennale üblich – um Mischformen („Kreationen“) zwischen Schauspiel, Musiktheater, Tanz, Performance und sonstigen Künsten. Auch der Film kommt diesmal (im Bochumer „Metropolis-Kino“) deutlicher zu seinem Recht als sonst. Noch mehr Zahlen? Bitte sehr: Alles in allem wird es 113 Veranstaltungen geben, der recht ordentliche Jahresetat beträgt rund 16 Millionen Euro.

Nun aber gilt’s der Kunst, notgedrungen anhand von wenigen Beispielen:

Die Eröffnungspremiere (10. August, Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord) inszeniert Barbara Frey selbst. Als Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater, aber zuerst im Revier zu sehen, steht William Shakespeares immer noch und immer wieder wunderbar rätselvoller „Sommernachtstraum“ auf dem Spielplan. Barbara Frey sieht das im zauberischen Wald angesiedelte Stück in inniger Verknüpfung mit dem zentralen Festival-Themenkreis: Was ist die Natur des Menschen und wie behandelt dieses seltsame Wesen die Natur um sich herum? Es gehe bei Shakespeare um alles: Kunst, Natur, Macht, Eros und Traum. Kein leichtes Unterfangen also, aber wohl ein reichlich lohnendes. Übrigens habe der weltberühmte Dramendichter auch schon Angst um die Natur gekannt. Schon zu seiner Zeit seien großflächig Wälder abgeholzt worden.

Inszeniert den „Sommernachtstraum“ als Eröffnungs-Premiere: Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey. (Foto: © Daniel Sadrowski)

Die größte Musiktheater-Poduktion heißt „Aus einem Totenhaus“ (Premiere am 31. August, Jahrhunderthalle Bochum) und stammt vom Komponisten Leoš Janáček. Seine Vorlage waren Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, in denen der Schriftsteller seine Leiden im sibirischen Arbeitslager geschildert hat. Die mit rund eineinhalb Stunden Spielzeit ziemlich kurze Oper wird von Dmitri Tcherniakow in Szene gesetzt. Das Publikum soll sich dabei durch eine finstere Gefängniswelt bewegen, die Trennung zwischen Bühne und Parkett werde aufgehoben. Zuschauer würden den Mitgliedern des Ensembles beispiellos nah kommen, heißt es. Zuschauerinnen natürlich auch. Durchgängiges „Gendern“ ist im Triennale-Team versiert ausgeübte Pflicht.

Zumindest indirekte Bezüge zur industriellen Ruhrgebiets-Vergangenheit hat das Musiktheater-Vorhaben mit dem Titel „Die Erdfabrik“ (ab 11. August, Gebläsehalle, Duisburger Landschaftspark). In der Auftragsproduktion, realisiert von dem Komponisten Georges Aperghis und dem Schriftsteller Jean-Christophe Bailly, sollen sich Bergbau-Minen als metaphorische Orte erweisen. Drunten, im tiefsten Dunkel, verwirre sich die gewöhnliche Ordnung der Welt, hier müssten Ur-Ängste überwunden werden, wie Barbara Eckle ausführt, die Leitende Dramaturgin fürs Musiktheater der Triennale. Zugleich habe der Gang in die Tiefe mit unvordenklichen Zeitschichten zu tun, die Kohle lagere dort seit vielen Millionen Jahren.

Eine besondere Tanzproduktion verspricht „Skatepark“ der Dänin Mette Ingvargtsen zu werden, die sich von sozialen „Choreographien“ der Skateboard-Community herleitet und selbige künstlerisch aufbereitet (ab 12. August, Jahrhunderthalle Bochum). Bei den Konzerten ragt u. a. ein „Schlagzeug-Marathon“ (26. August, PACT Zollverein in Essen) heraus, beispielsweise mit Billy Cobham und Mohammed Reza Mortazavi. „Play Big“ (ab 21. September, Jahrhunderthalle Bochum) heißt ein groß gedachtes und in jeder Hinsicht raumgreifendes Zusammentreffen von Sinfonieorchester, Chor und Bigband, bei dem es zu gleitenden oder auch kontrastreichen Übergängen zwischen E-Musik und U-Musik kommen dürfte.

Mit dem dritten Teil dieser Ruhrtriennale endet vertragsgemäß die Intendanz der Schweizerin Barbara Frey, die vordem u. a. das Schauspielhaus in Zürich geleitet hat. Die Journalistenfrage, womit sie wohl in hiesigen Breiten in Erinnerung bleiben werde, mochte sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht beantworten. „Lassen wir es offen.“

Durchzählen unnötig: Wir haben hier selbstverständlich nur einen Bruchteil der Produktionen nennen können. Der ganze große „Rest“ steht im gedruckten Programmheft und auf der Homepage des Festivals. Der Vorverkauf hat bereits begonnen, er läuft seit heute (27. April). 34.000 Tickets sind im Angebot, bis zum 4. Juni gibt es einen „Frühbuchungs-Rabatt“ von 15 Prozent. Und nun bitte hier entlang:

www.ruhrtriennale.de

 




Durch die virtuelle Brille: Ein Opernbesuch mit Spitzentechnologie auf dem Nasenrücken

Kein Sonnenschutz: Die Besucher der Rheinoper tragen eine so genannte AR-Brille, die virtuelle Informationen zum Stück und zu den Interpreten einspielt (Foto: Lukas Voss)

Heute mal ein kleines Experiment: Wir lassen uns darauf ein, eine Opernpremiere durch eine virtuelle Brille zu sehen. Korrekter gesagt, durch eine AR-Brille. AR steht für Augmented Reality, zu deutsch eine erweiterte Wirklichkeit, für die es natürlich Computer braucht. Die Brille kann während der Vorstellung Untertitel einblenden, aber auch diverse Informationen zum Stück und zu den Interpreten liefern.

Zudem ist sie mit drei Live-Kameras im Orchestergraben verbunden, die es ermöglichen sollen, dem Dirigenten sowie den Musikerinnen und Musikern aus nächster Nähe zuzuschauen. Lässt so viel Ablenkung es noch zu, sich auf das Stück zu konzentrieren? Die Aufführung tief zu genießen? Diese Fragen schweben über dem Pilotprojekt, für das sich die Rheinoper Düsseldorf mit dem ebenfalls in Düsseldorf ansässigen Unternehmen Vodafone zusammengeschlossen hat.

Beide Seiten versprechen sich Vorteile von der Kooperation. Die Rheinoper versucht neue, technikbegeisterte Publikumsschichten zu gewinnen, will auch Trendsetterin sein, die Erfahrungen an andere Häuser weitergeben kann. Vodafone ist daran interessiert, den hochmodernen Prototypen in möglichst vielen Sphären auszuprobieren. Nach Ausflügen in die Welt des Fußballs (VfL Wolfsburg), in die Küche von Steffen Henssler und in die Neurochirurgie von Universitätskliniken deshalb jetzt die Zusammenarbeit mit der Oper.

Die AR-Brille ist mit einem Handy und mit einem zusätzlichen Akku gekoppelt. (Foto: Lukas Voss)

Nun aber rasch hinauf in den 2. Rang, wo insgesamt 30 teure AR-Brillen an die Gäste der Premiere von Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ ausgegeben werden. Zum Etui, das ziemlich groß ist, gibt es ein zusätzliches Handy, mit dem die Brille per Kabel verbunden werden muss. Zudem einen Extra-Akku, weil das Handy sonst während der knapp dreistündigen Premiere schlappmachen würde. Damit hat man beide Hände ziemlich voll, und es hilft nur wenig, dass sich alles mit einer kurzen Schlaufe um den Hals hängen lässt. Denn so ist es kaum möglich, die Geräte zu bedienen.

Es gibt eine kurze, nicht allzu kompliziert klingende Einführung durch einen Vodafone-Mitarbeiter. Dann nehmen alle Brillenträger ihre Plätze im 2. Rang ein, wo sie en bloc sitzen. Nur an dieser Stelle im Haus ist der 5G-Empfang problemlos möglich, der für den schnellen Austausch großer Datenmengen nötig ist. Die Tickets für diese Plätze kosten aber nicht mehr als sonst üblich.

Displays leuchten auf, als das Licht im Saal herunter gedimmt wird und Dirigent Axel Kober zum Pult strebt. Die meisten scheinen zunächst leichte Schwierigkeiten zu haben, das Gerät zu starten. Jeder von uns blickt aus einem etwas anderen Winkel auf die Bühne: Daher muss zunächst das Sichtfeld ausgerichtet werden. Den Rahmen des entsprechenden Rechtecks mit der Maus zu „packen“ und in die richtige Position zu ziehen, kostet etliche Versuche, weil das nur über die Bewegungen des Kopfes und der Augen geht.

Nur im 2. Rang ist der 5G-Empfang gut genug, um die AR-Brille mit Gewinn tragen zu können. (Foto: Lukas Voss)

Dann ist es geschafft. Jetzt laufen die Untertitel nicht mehr mitten durch die Szene, sondern so weit unten, dass die Sicht nicht behindert wird. Aber sie ist stärker abgedunkelt als gedacht. Über den eigentlich kräftigen Farben der Kostüme und der Beleuchtung der Szene scheint ein graubrauner Schleier zu liegen. Die Distanz zur Bühne wächst gefühlt; sie rückt in noch größere Ferne. Weil unten im Sichtfeld vier Icons aufleuchten, die man mit dem Blick ansteuern und öffnen kann, ist es beinahe, als würde man zugleich am heimischen Computer und im Opernhaus sitzen. Es ist ein gefiltertes Erleben, wie aus zweiter Hand.

Wer das Buch-Symbol anwählt, kann die Handlung des jeweiligen Aktes nachlesen. Unter dem Personen-Symbol verbergen sich Informationen zu denjenigen Sängerinnen und Sängern, die aktuell auf der Bühne agieren: keine langen Biographien, sondern lediglich zwei oder drei Sätze. Auch über die Düsseldorfer Symphoniker und den Dirigenten Axel Kober lässt sich hier mehr erfahren. Wer sich ein wenig auskennt, braucht das eigentlich nicht.

Das Icon „Live“, dargestellt durch eine Art Brille, steht für die drei Webkameras im Orchestergraben, die sich hier anwählen lassen. Deren Bilder entpuppen sich als enttäuschend unscharf und ruckhaft. Die Bewegungen der Streicher sehen so abgehackt aus, als seien Roboter am Werke. Noch störender wirkt sich die Zeitverzögerung aus: Was das Auge sieht, hat das Ohr zwei Sekunden zuvor bereits gehört. Das ist eher unbefriedigend, lenkt auch vom Bühnengeschehen ab, weil es überblendet wird.

Weit sinnvoller sind kleine Informationshäppchen zum Stück und zur Regie, die an ausgewählten Stellen der Oper automatisch eingeblendet werden. Sie helfen zu verstehen, was auf der Bühne geschieht und welchen Ansatz die Regie verfolgt. Und doch verrät erst der Blick ins Programmheft, warum so viele Puppen im Spiel sind. Der Witwer Paul, der sich in der „toten Stadt“ Brügge ganz in die Trauer um seine verstorbene Frau Marie vergraben hat, ist in der Inszenierung von Daniel Kramer ein Puppenmacher. Als solcher versucht er, den Verlustschmerz abzumildern, indem er ein möglichst originalgetreues Abbild seiner Frau schafft.

Der Witwer Paul (Corby Welch), in der Düsseldorfer Inszenierung von „Die tote Stadt“ ein Puppenmacher, trauert um seine verstorbene Frau Marie. (Foto: Sandra Then)

Als Paul der Tänzerin Marietta begegnet, die seiner verstorbenen Frau ähnlich sieht, kommt die an Hitchcocks „Vertigo“ erinnernde Handlung in Gang. Hin und her gerissen zwischen der Verlockung einer lebenden Frau und der Treue zu einer Toten, gerät Paul in einen zunehmend wirren Alptraum. Erst am Schluss der Oper erwacht er mit der Erkenntnis, dass er sich lösen und nach vorne gehen muss, einer ungewissen Zukunft entgegen.

Gerne hätten wir die AR-Brille zwischendurch abgesetzt, um das Opernerlebnis wie gewohnt zu genießen: live, ungeschnitten, ungefiltert. Das ist zwar möglich, aber dafür muss die Brille vom Handy entkoppelt werden. Mit der Folge, dass beim erneuten Aufsetzen alle Einstellungen neu vorgenommen werden müssen. Das ist lästig und lenkt erheblich ab. Vielleicht ist das der Grund, weshalb so viele die Brille die meiste Zeit aufbehalten?

Fleißig schreibt jemand neben uns während der Vorstellung Textnachrichten. Sollte er sich mehr für sein Handy interessieren als für die Oper? Falsch geraten: Der Sitznachbar entpuppt sich als Mitarbeiter von Vodafone, der Rückmeldungen an seine Kolleginnen und Kollegen gibt. Man stehe mit dieser Technik noch ganz am Anfang, gibt er im Gespräch zu. Es gebe an diesem Zusatzangebot, das rein freiwillig sei, noch viel Verbesserungsbedarf. Dem können wir nur zustimmen.

(Informationen und Termine, auch zu „Das digitale Opernglas“, unter https://www.operamrhein.de.)




Schmerzlicher Verlust: Der Bonner Operndirektor Andreas Meyer ist überraschend gestorben

Andreas K. W. Meyer, Aufnahme aus dem Jahr 2012. Foto: Christian Hahn

Die Nachricht ist schockierend: Einer der profiliertesten Dramaturgen in der europäischen Opernlandschaft ist tot. „Mit großer Bestürzung“ teilte das Theater Bonn am Ostermontag den Tod seines Operndirektors Andreas K. W. Meyer mit. Meyer verstarb mit 64 Jahren infolge von Herzversagen am Karsamstag, 8. April 2023.

Andreas K. W. Meyer war keiner von denen, die sich an den Top-Positionen der Aufführungsstatistik entlanghangeln und ihre Spielpläne basteln, garniert mal mit einer Rarität, mal mit einer Uraufführung. Er schaute genau hin und durchforstete die Geschichte der Oper nicht unter der fragwürdigen Annahme, der historische Rezeptionsprozess habe in einer quasi natürlichen Auslese das Beste überleben und das weniger Gute in den Archiven verschwinden lassen.

Er war sich der Bedingungen bewusst, unter denen gerade im ideologisch aufgeladenen 20. Jahrhundert, aber auch schon zuvor Werke von den Bühnen verbannt wurden, deren Aktualität sich unter veränderten Konstellationen und in einem gewandelten geistigen Klima heute überraschend offenbart. Meyer hat bei einem untrüglichen Gespür für Qualität nicht einfach „Raritäten“ ausgraben lassen, sondern die Neuentdeckungen stets in einem größeren historischen, gesellschaftlichen und philosophischen Kontext betrachtet. Genauso, wie er scheinbar Bekanntes unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen aufregend neu zu lesen verstand, so etwa die Werke Richard Wagners.

Beispielhaft: Die Reihe „Fokus ’33“

Höhepunkt seiner Arbeit in den letzten Jahren war in Bonn die ehrgeizige und einzigartige Reihe „Fokus ’33“, eine „Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben“. In diesem beispielhaft auf mehrere Spielzeiten angelegten Inszenierungsreihe zeigte sich die Aktualität eines modernen, aber weitgehend vergessenen Werks wie Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“. Die Ausgrabung von Giacomo Meyerbeers „Ein Feldlager in Schlesien“ brachte eine spannende Facette des Pariser Meisters der „grand opéra“ und preußischen Generalmusikdirektors auf eine opulent ausgestattete Bühne.

Eine Szene aus Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“ an der Oper Bonn in der Inszenierung von Jürgen R. Weber und der Ausstattung von Hank Irwin Kittel. Foto: Thilo Beu

„Asrael“ des jüdischen italienischen Komponisten Alberto Franchetti konfrontierte mit einem symbolistischen, religiös aufgeladenen Stück Operntheater mit faszinierender Musik. Meyers Programmhefte zu solchen aus dem Bewusstsein entschwundenen Werken waren voluminöse Kompendien mit nicht selten grundlegenden Beiträgen. Besonders am Herzen lag Meyer die Wiederaufführung von Clemens von Franckensteins „Li-Tai-Pe“. Zuletzt arbeitete er mit Hochdruck an der ersten ungestrichenen Wiederaufführung von Franz Schrekers „Der singende Teufel“, deren Premiere am 21. Mai ansteht.

Seit 2013/14 an der Oper Bonn

Als Dramaturg prägte Andreas Meyer seit der Spielzeit 2013/14 das Gesicht und die Geschicke des Bonner Opernhauses entscheidend mit. Zu Beginn seiner Bonner Zeit brachte das Haus Opern wie „Der Traum ein Leben“ von Walter Braunfels, Emil Nikolaus von Rezniceks „Holofernes“ oder Hermann Wolfgang von Waltershausens „Oberst Chabert“ zur Aufführung. Doch das Interesse des 1958 in Bielefeld geborenen Musikdramaturgen und –publizisten an solchen Entdeckungen setzte nicht erst in Bonn ein, wurde dort aber von Intendant Bernhard Helmich nachhaltig gefördert.

Die Oper Bonn, letzte Wirkungsstätte von Andreas Meyer, hier mit Werbung für „Li-Tai-Pe“ und Giuseppe Verdis „Ernani“. Foto vom Mai 2022: Werner Häußner

Nach einem privaten Kompositionsstudium bei Rudolf Mors studierte Andreas K. W. Meyer ab 1981 Musikwissenschaft sowie Kunstgeschichte und Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. 1987 begann er eine Tätigkeit als freier Kritiker, unter anderem für die Frankfurter Rundschau und verschiedene Rundfunkanstalten, vornehmlich für den WDR und den BR.

Stationen in Kiel und Berlin

Von 1993 bis 2003 arbeitete er als Musikdramaturg an der Oper Kiel, zunächst unter Generalintendant Peter Dannenberg, ab 1995 als leitender Musikdramaturg sowie ab 2002 als Chefdramaturg Musik und stellvertretender Opernintendant unter Kirsten Harms. 2004 wechselte er zusammen mit ihr an die Deutsche Oper Berlin, deren Chefdramaturg er bis 2012 war. Die Wiederentdeckung von Franco Alfanos „Cyrano de Bergerac“ hatte ein europäisches Echo.

Auch ein Zyklus mit weniger bekannten Werken von Franz Schreker und die Neubefragung von Gian Francesco Malipieros „I Capricci di Callot“ oder Richard Strauss’ „Die Liebe der Danae“ verhalfen der Oper Kiel zu erheblichem überregionalem Interesse. An der Deutschen Oper Berlin kamen Alberto Franchettis „Germania“ und Alexander von Zemlinskys „Der Traumgörge“ hinzu. Die „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels in der Regie von Christoph Schlingensief wurden bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt im Jahre 2008 zur „Wiederentdeckung des Jahres“ gekürt.

Andreas K. W. Meyer wird schmerzlich fehlen. Seine ruhige, beharrliche Ernsthaftigkeit, sein Humor und sein enormes Wissen sind nicht zu ersetzen. All jene, die ihn gekannt und gemocht haben, werden ihn als Freund oder Ratgeber vermissen. Was bleibt, ist Trauer, aber auch zuneigende Erinnerung und Dankbarkeit für ein großes Lebenswerk.




Sehnsüchte und Selbsttäuschungen: Mit Peter Eötvös‘ Oper „Tri Sestri“ nach Tschechow wächst das Theater Hagen über sich hinaus

„Drei Schwestern“: Dorothea Brandt (Irina), Maria Markina (Mascha), Lucie Ceralova (Olga). (Foto: Leszek Januszewski)

Bis in die siebziger Jahre hinein waren sie in Mode und in jedem gepflegten Haushalt anzutreffen: Runde Deckchen, gehäkelt oder bunt bedruckt, schmückten Tischchen, Vitrinen, Buffets. Die Familie Prosorow macht es sich in Friederike Blums Inszenierung der Oper „Tri Sestri“ von Peter Eötvös im Theater Hagen auf einem solchen Accessoire der Gemütlichkeit bequem.

Eine mehrdeutige Chiffre mitten in der kargen Raffinesse von Tassilo Tesches Bühne. Sie steht für den trügerischen Schein des Äußerlichen, für den vergeblich gesuchten Schutzraum vor den Stürmen der Welt und der eigenen Gefühle, für Sehnsüchte und Selbsttäuschungen. Andrej, der gescheiterte Bruder der „Drei Schwestern“, wird sich darin einhüllen wie in einen Schutzmantel.

Mit Peter Eötvös‘ erster abendfüllender, vor 25 Jahren in Lyon uraufgeführter und 1999 an der Rheinoper Düsseldorf in Deutschland erstmals gespielter Oper „Tri Sestri“ ist das Theater Hagen über sich selbst hinausgewachsen und hat einen Abend präsentiert, an dem einfach alles stimmt. Möglich wird dieser Kraftakt durch den Fonds Neues Musiktheater des Landes Nordrhein-Westfalen und die Kunststiftung NRW.

Geld macht aber noch keinen künstlerischen Erfolg aus: Der ist gleichermaßen zuzuschreiben der wohltuend unspektakulär erarbeiteten Inszenierung Friederike Blums, der Klang- und Rhythmuspräzision des Philharmonischen Orchesters Hagen und dem Ensemble Musikfabrik, Hagens GMD Joseph Trafton und seinem Co-Dirigenten Taepyeong Kwak und dem in allen Partien glänzenden Sängerensemble mit seinen Gästen. Eine runde Leistung auf einem Niveau, das auch ein mit Mitteln reicher gesegnetes Theater in einem solch ambitionierten Stück nicht ohne weiteres erreicht.

Auf Tassilo Tesches Bühne bleibt sichtbar, dass die Oper zwei Orchester fordert: Die 18 Mitglieder des Ensembles Musikfabrik spielen im Graben; das Hagener Theaterorchester ist auf der Bühne platziert und bildet eine (Klang)-Landschaft, die mit Spiegeln im Hintergrund vielfach gebrochen, aber auch ins Spiel mit einbezogen wird. Für die drei „Sequenzen“ der rund 100minütigen Oper wird das weiße Deckchen jeweils neu ausgelegt. Die szenische Geste unterstreicht, dass Eötvös und sein Librettist Claus H. Henneberg von der linearen Erzählweise Anton Tschechows abweichen und den fragmentierten Stoff des Schauspiels aus der Perspektive der Figuren Irina, Andrej und Mascha betrachten.

Auf dem Deckchen: „Tri Sestri“ in Hagen mit Vera Ivanovic (Natascha) in der Mitte. (Foto: Leszek Januszewski)

Keine Tragödie für Olga

Olga, die dritte Schwester, hat keine eigene Sequenz: Sie hat, so sagt der Komponist, „keine Tragödie“, sie macht pragmatisch ihre Sehnsucht an der Welt fest, die sie vorfindet. Lucie Ceralová gestaltet sie als strenge Person, die nicht versteht, wie ihre Schwester Mascha ihrer Zuneigung zu einem Mann nachgeben kann, der die Ordnung ihrer Ehe mit dem sanften, aber farblosen Kulygin (Dong-Won Seo) stört. Mascha (Maria Markina) und der Offizier Werschinin (Insu Hwang) lassen – beide sensibel singend – in ihrem Duett den einzigen Moment anklingen, in dem zwei Menschen tatsächlich zueinander finden könnten, aber das innige Verstehen wird abrupt beendet, als mit der Tee servierenden alten Amme Anfisa (Igor Storozhenko) die gesellschaftliche Konvention einbricht.

In dieser, aber auch in der starken Abschiedsszene zwischen Mascha und dem mit seiner Einheit abziehenden Offizier zeigt die Regie, wie nahe das Schicksal dieser beiden Menschen einer Tragödie kommt, ohne deren Unbedingtheit zu erreichen: Ihre Träume bleiben für das Handeln folgenlos, bedeuten Sehnsucht und Flucht, nicht aber Motiv oder gar Ansporn. Tragische Züge finden sich auch in der Gestalt des Bruders der drei Schwestern, Andrej: Er, der zu Beginn seiner Sequenz eine Sanduhr aufstellt, treibt in der verrinnenden Zeit dahin und erreicht nichts – weder die erstrebte Professur, noch die Liebe seiner überdrehten Frau Natascha (Vera Ivanovic), der Eötvös geradezu obszöne Sprünge und exaltierte Koloraturen geschrieben hat. Kenneth Mattice ist ein melancholisch gebrochener Andrej, weltverloren in seiner wehmütigen Verkrümmung in sich selbst.

Kenneth Mattice als Andrej. (Foto: Jörg Landsberg)

Lichtgestalt Irina

Irina dagegen, weiß gekleidet wie eine Lichtgestalt und durch den leuchtenden Sopran von Dorothea Brandt charakterisiert, versucht als erste, aus der im eröffnenden Terzett der Schwestern – mit seinen langgezogenen Phrasen und engen Intervallen ein musikalischer Spiegel lastender Langeweile –  angesprochenen Angst vor dem Verfließen der Zeit auszubrechen. Doch als sie sich endlich entschließt, dem pragmatischen Rat ihrer Schwester Olga zu folgen und den smarten Baron Tusenbach (Dmitri Vargin) zu heiraten, ist es zu spät: Der junge Soldat fällt im Duell mit seinem Konkurrenten um die Liebe Irinas, dem durch aggressive Pauken gekennzeichneten Soljony, mit der nötigen offensiven Power gesprochen und gesungen von Valentin Ruckebier aus dem Opernstudio der Deutschen Oper am Rhein. Der jungen Frau bleibt nur die Sehnsucht „nach Moskau“, der Stätte ihrer Kindheit – eher der Begriff eines unbestimmten Erinnerns an einen Zustand des Glücks als ein realer Ort.

In Hagen gelingen diese an sich handlungträgen Abläufe atemberaubend spannend und gleichzeitig in einer lähmend bleiernen Atmosphäre, die dem Stück Tschechows eingeschrieben und hier kongenial in die Oper übertragen ist. Wesentlichen Anteil daran haben die Musiker der beiden Orchester, darunter allein vier Schlagzeuger, die Eötvös‘ musikalisches Spektrum in allen Farben leuchten lassen, vom dumpfen Pianissimo-Pochen bis zu gellenden Bläser-Aufschrei, von der kammermusikalischen Finesse der einzelnen Figuren zugeordneten Instrumente bis zum harmonisch verdichteten Arioso. Eine herausragende Leistung des scheidenden Hagener GMD Joseph Trafton, der keine Wünsche bei rhythmischem Zugriff und klanglicher Balance offen lässt.

Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Sänger der Rollen, die nicht im Mittelpunkt stehen: Anton Kurzenoks burlesker Doktor, der in der Oper nicht die tragende Rolle des Tschebutykin in Tschechows Vorlage hat, Ilja Aksionov, Student an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf, als schönstimmiger Rodé und Robin Grünwald als Fedotik.

Vorstellungen von „Tri Sestri“ am 20., 29. April, 21. Mai, 14. Juni 2023, Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/drei-schwestern-1562/0/show/Play/

 




Unsterblicher Mythos: Der künftige Essener Orchesterchef Andrea Sanguineti dirigiert Berliner „Don Giovanni“

Finale von Mozarts „Don Giovanni“ in der Deutung von Roland Schwab an der Deutschen Oper Berlin mit Mattia Olivieri (Don Giovanni), Lidia Friedman (Donna Elvira) und Tommaso Barea (Leporello). (Foto: Bettina Stöß)

Dem Mythos „Don Giovanni“ hatte sich Roland Schwab 2010 in Berlin genähert. Die Arbeit des Regisseurs, der am Aalto-Theater Essen mit Verdis „Otello“ und Puccinis „Trittico“ bildmächtige Inszenierungen geschaffen hat, stand an der Deutschen Oper wieder für vier Vorstellungen auf dem Kalender. Am Pult: der designierte Essener GMD Andrea Sanguineti.

Der Mythos Don Juan ist unerschöpflich. Nicht einmal über Faust wurde so viel gedacht und geschrieben wie über den vom spanischen Mönch Tirso de Molina in die literarische Welt erhobenen „Burlador de Sevilla“. Viriler Verführer, lustbetonter Eroberer, amoralisches Scheusal, Leidender in einer absurden Welt, zynischer Nihilist, scheiternder Gottsucher, Metapher des Bösen: In tausenderlei Gestalten tritt er uns entgegen. Der kluge, theologisch gebildete Dichter Lorenzo da Ponte hat ihn für Wolfgang Amadé Mozart in ein vielsagendes Libretto, der Komponist hat es in unsterbliche Musik gekleidet. Heute ist „Don Giovanni“ auf der Bühne vor allem in dieser Oper präsent. Entsprechend vielgestaltig sind die Deutungen.

Roland Schwab gelang vor gut zwölf Jahren mit einer von seiner Lehrerin Ruth Berghaus geschulten Hand, die innere Spannung von Mozarts „dramma giocoso“ zu inszenieren, ohne seine Kraftpole auszuschalten. Denn da ist die erzählte Handlung, eine Geschichte voller (Wort-)witz und bedeutungsvollen Momenten. Und auf der anderen Seite das Bewusstsein des Mythos, die Repräsentation einer Figur auf der Bühne, die unerschöpflich ist und ein zeitloses Geheimnis in sich trägt.

Schwab verzichtet mit seinem Bühnenbildner Piero Vinciguerra auf jeden Schauplatz. Und nicht ein einzelner Don Giovanni, nicht nur ein Leporello werden in ihren Konturen in der Schwärze der Bühne sichtbar: Sie vervielfachen sich, werden zum Kollektiv, oder, wenn man so will, zu einem Schwarm ihrer Erscheinungsformen im Lauf ihrer Geschichte. Auch der Komtur – am Ende nur noch dröhnend mahnende Stimme – schält sich als einer aus den Vielen heraus. Ein sinniges Bild für den Mythos, der sich in der Zeit vervielfacht hat, der, wenn er denn greifbar wird, nur einen Ausschnitt seiner ganzen Wirklichkeit kolportiert.

Ein Sisyphus der Lust

In Schwabs Deutung konkretisiert sich der Mythos aus purer Notwendigkeit im Individuum eines Don Giovanni (Mattia Olivieri) und seinem Leporello-Alter-Ego Tommaso Barea. Doch sie erinnern immer daran, dass sie keine Personen im klassischen Sinne sind. Auch die Kostüme von Renée Listerdal variieren die Konkretion immer wieder: In der komödiantischen Verwechslungsszene im zweiten Akt wird etwa das alte Mantel-und-Degen-Stück zitiert. Und wenn das Outfit der beiden Akteure sich immer deutlicher an Fetisch-Leder aus der SM-Szene annähert, entspricht das der ambivalenten Rolle des Don Giovanni: Er ist der Quäler der Menschen seines Umfelds und er wird gequält von seiner Existenz, die sich in der ständigen Wiederholung des Immergleichen erschöpft.

Schwab sieht offenbar Parallelen zu Sisyphus. Doch wenn der antike Steinroller zumindest bei Albert Camus‘ im Moment, in dem er die Absurdität seines Daseins annimmt, ein glücklicher Mensch ist, macht Schwab das Leiden seines Protagonisten deutlich: Geradezu flehentlich senkt er im ersten Finale den Kopf, um den Schwerthieb von Don Ottavio zu empfangen – aber sein Widersacher hat nicht das Format, um zuzuschlagen. Am Rand der Bühne strampelt derweil ein halbnackter Athlet auf einem Hometrainer – ein Fahrrad, das trotz größter Anstrengung nicht von der Stelle weicht.

Existenzieller Schmerz und Sehnsucht nach Erlösung. Szene aus dem ersten Finale von Mozarts „Don Giovanni“ an der Deutschen Oper Berlin (Aufnahme von 2015). (Foto: Bettina Stöß)

Zum genial komponierten musikalischen Chaos Mozarts drehen sich zwei Gestänge-Burgen wie gigantische Mahlwerke gegeneinander; eine davon erinnert an eine Parabolantenne, die Signale aus galaktischen Fernen empfangen könnte. Sie scheinen wie das magische Theater in Hermann Hesses „Steppenwolf“ alle zu verschlingen, nur Zerlina wandelt wie in Trance außen vorüber. Eine enge Pforte, einer Flughafenschleuse ähnlich, zitiert das Inferno-Motto Dantes: Lasst alle Hoffnung fahren. Eine bestürzende Umsetzung des Perpetuum-mobile-Kreiselns, das Mozart in der sogenannten Champagnerarie Don Giovannis musikalisch ausgeformt hat.

Der Butler stolpert über eine Leiche

In der letzten Szene überschlagen sich dann die Assoziationen: In den schemenhaft sich abzeichnenden Trümmern einer beständig gegenwärtigen Vergangenheit imitiert Leporello Freddie Frinton in „Dinner for one“, stolpert aber statt über den Tigerkopf übe die Leiche einer ermordeten jungen Frau. Don Giovanni füttert schwarze Gestalten wie Hunde, als säße er in Pasolinis „Salò – Die 120 Tage von Sodom“, Leonardos „Abendmahl“ wird heraufgerufen. Das Ende imaginiert Schwab wie die Romantiker des 19. Jahrhunderts ohne das abschließende Sextett. Das Schicksal des bestraften „Wüstlings“, eines von allen humanen Bindungen freien Charakters, entzieht sich der Moral. Eine entscheidenden Abweichung, die den Mythos für unsterblich erklärt. Die Tortur des Sisyphus geht weiter.

Dirigent des Berliner „Don Giovanni“: der künftige Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

Musikalisch hinterlässt die Aufführung unter Andrea Sanguineti einen zwiespältigen Eindruck. Das liegt in erster Linie an einer akzentarmen, die Melodiestimmen betonenden Spielweise des Orchesters, der Sanguineti offenbar keine Impulse zu geben hat. Die Ouvertüre, schlank und ohne Abgründe, wirkt im Adagio eine Spur zu schnell, zu unverbindlich, wechselt mit dem Tempo im Allegro ihre musikalische Haltung nicht und bildet so keinen Kontrast aus.

Im Lauf des Abends zeigt sich Sanguineti als bedachter Begleiter der Sänger. Die reüssieren unterschiedlich: Mattia Olivieri singt „Fin ch’an dal vino“ vital und draufgängerisch, zeigt im Ständchen eine Stimmkultur, die es zu einem wehmütig-poetischen Intermezzo machen. Aber in den Rezitativen stößt er wie Leporello an seiner Seite die Silben heraus. Man mag diesen Verzicht auf elegante Formulierung dem Konzept der Figuren anrechnen, aber das forcierte Spucken der Silben macht wenig Freude und eröffnet in Tommaso Bareas „Registerarie“ keinen expressiven Zugewinn. Der Don Ottavio Giovanni Salas singt gepflegt, muss aber rollengemäß blass bleiben. Artur Garbas erfüllt die Erwartungen, die man an einen Masetto stellt, stimmlich mühelos, im Spiel zum Glück ohne übertreibende Möchtegern-Komik. Patrick Guetti darf als Commendatore aus dem Lautsprecher dröhnen.

Elvira ohne Schweißtropfen

Unter den Damen gebührt Lidia Fridman als Donna Elvira die Palme: Sie bewältigt den Umfang, die heiklen Sprünge und die heroinenhafte Attacke anstandslos, mit gleichmäßig geformten und verfärbungsfrei positionierten Tönen bei einwandfreier Artikulation. Endlich einmal eine Elvira, die der Partie ohne Schweißtropfen auf der Stimme gerecht wird. Elisa Verzier macht als Zerlina mit unverbrauchtem Timbre und sorgsamer Gestaltung auf sich aufmerksam. Flurina Stucki hat für die Donna Anna die Beweglichkeit und die melancholischen Töne, in dramatischen Momenten wirkt die Stimme im Kern zu klein und hilft sich mit aufgeblähtem Vibrato.

Roland Schwab hat mit dieser Arbeit die riskante Herausforderung bewältigt, den „Don Giovanni“-Mythos komplex chiffriert in all seinen Spannungen sinnlich erfahrbar zu machen; dass die Inszenierung nach zwölf Jahren noch so unmittelbar wirksam ist, dürfte auch der Spielleitung (Silke Sense) zu verdanken sein.

 




Schlüssige Psychologie: Verdis „Rigoletto“ in Wuppertal

Bereit zur Entführung der Tochter Rigolettos: die verkleideten Funktionäre von Mantua. (Foto: Wil van Iersel)

Die Hofnarren von heute sind die Berater und Medienmacher, die Duodzefürsten von damals findet man heute in Vorständen und auf Vorsitzendenposten. Dort lassen sie ihre grauen Männer nach Gusto tanzen. Im Wuppertaler „Rigoletto“ verformt Timofey Kulyabin, der mittlerweile im Exil lebende russische Regisseur, Mantua zu einem Zwergstaat der Nachsowjetära.

Das dunkel holzgetäfelte Machtzentrum, in diesem Fall eine Parteizentrale, erinnert mit protzigem Schreibtisch und Schummerlicht an den verblassten, altmodischen Repräsentationsstil, den jeder kennt, der zum Beispiel einmal in Josip Broz Titos Feriendomizil „Villa Bled“ in Slowenien genächtigt hat. Wie man in diesem Ambiente mit Frauen umgeht, macht schon die erste Szene klar. Dem Leitwolf gehören alle, und der beißt nicht eben sanft zu. Was die Gräfin Ceprano (Christiane Inhoffen) erwartet, ist kein Schäferstündchen, sondern eine Schändung.

Bis Sommer 2023 Intendant der Oper Wuppertal: Berthold Schneider. (Foto: Jens Grossmann)

Mit diesem „Rigoletto“ ist Kulyabin ein Coup gelungen, der heute vielleicht noch beklemmender wirkt als bei seiner Premiere 2016. Wuppertals zum Ende der Spielzeit scheidender Intendant Berthold Schneider hat also gut daran getan, die Produktion noch einmal aufzunehmen. Kulyabin analysiert die Figuren des Stücks scharfsichtig und überträgt ihre Eigenschaften in Verhaltensformen und Machtstrukturen der Gegenwart. So wird aus der körperlichen Entstellung des „buckligen“ Rigoletto eine seelische: Der Mann verkauft seine innersten Gefühle dafür, dazuzugehören, was am Ende in einer kurzen, hinzugefügten Szene verstörend offenbar wird.

Vittorio Vitelli schlängelt sich geschmeidig durch die Schar der Funktionäre, singt klar artikuliert mit schlankem Bariton und lyrischer Noblesse. Die Farben des Schmerzes, der Wut, der Zynismus gehen ihm ab, dazu fehlt der Stimme gestalterisches Potenzial. Dass sich in seiner Vaterliebe obsessive Züge mit einem Zwang zum Überbehüten mischen, macht Vitelli in der Begegnung mit seiner Tochter deutlich, die am Anspruch Rigolettos überfordert zerbricht.

Einmal Clown, einmal Sadist

Das Narrenkostüm trägt in dieser Version der Herzog; es ist eines der „costumi“, mit denen er seine Umwelt manipuliert. Später tritt er tatsächlich mit Herrschermantel und Kappe auf, um Gilda zu zeigen, wer er „wirklich ist“. Im vierten Akt deuten die Klamotten (Kostüme: Galya Solodovnikova) ein sadistisches Spiel mit Maddalena an, die von Iris Marie Sojer untadelig und entspannt gesungen wird. Nur ein wenig mehr Entspannung in der Stimme hätte man sich von Sangmin Jeon gewünscht: Der Tenor hat das präsente Draufgänger-Timbre für den Herzog, kann die Emission des Tones dosieren von unbekümmerter Leichtigkeit für „La donna é mobile“ bis zum offensiven Selbstbewusstsein von „Possente amor mi chiama“.

Der Boss (Sangmin Jeon, Mitte) hält Hof. (Foto: Wil van Iersel)

Auch szenisch gibt Jeon seiner Rolle – vom machtbewussten Chef über den brutal fordernden Verführer bis zum leichtfertigen Spieler – scharfes Profil. Das zeigt sich besonders in „Parmi veder le lagrime“, in der Kulyabins Regie eine Deutung ausschließt, die dem Herzog einen Anflug echter, tiefer Liebe zugesteht. Das faszinierend durchgestaltete Doppelspiel mit seiner erniedrigten Gattin – Hong-Ae Kim in der eingefügten stummen Rolle – verdächtigt die Musik Verdis der Täuschung und legt den wahren Charakter des Herzog jenseits seiner Verkleidungen frei. Insofern passt es zur Zeichnung dieser Figur, dass Jeon auf belcanteske Raffinesse verzichtet.

Der Tick ist kein Trick

Die kaum überwindbare Problematik, eine Person wie Gilda in einen heutigen Verständnishorizont zu übersetzen, löst Kulyabin nur scheinbar mit einem muffigen Trick des Regietheaters: Rigolettos Tochter lebt in der geschlossenen Psychiatrie, Giovanna (Ute Elisabeth Temizel) ist die fürsorgliche Ärztin, die dem in seine Welt versponnenen Mädchen mal ein nettes Abenteuer mit einem Studenten gewähren möchte und am Ende mit dem Tod bezahlt. Ralitsa Ralinova ist die hochgelobte Gilda – und demnächst die Violetta in „La Traviata“ – in Wuppertal, konnte aber am besuchten Abend ihre Stimme nicht klingen lassen.

Akiho Tsujii vom Mainfrankentheater Würzburg lieh ihr von der Seite Ton und Klang – und das auf sympathische, wohllautende und versiert gestaltende Weise. Dass Ralinova trotz Krankheit spielte, ist ihr hoch anzurechnen, denn die szenische Darstellung einer von Ticks und zeitweiligem Aussteigen aus der Realität gehandicapten Person lässt sich nicht in einer Stellprobe vermitteln. Aber so erklärt sich das Verhalten Gildas, die strikte Klausur, zu der Rigoletto seiner Tochter zwingt, sogar das Liebesopfer des Mädchens am Ende.

Kulyabin vermeidet jede metaphorische oder metaphysische Überhöhung. Seine auf psychologische Schlüssigkeit konzentrierte Personenanalyse ist bei Gilda wagemutig, aber gelungen durchgezogen. Von daher: Keine Regieverlegenheit, sondern Regiekonsequenz. Der Überwachungsmonitor des zwielichtigen Security-Mannes Sparafucile – Sebastian Campione gibt den „Fremden“ mit südlichem Aussehen, Salafistenbart und spröder Stimme – zeigt Gilda zur rechten Zeit für den Mord vor der Tür. Für solche Szenen hat Oleg Golovko auf der Bühne einen kahlen Nebenraum geschaffen: Dort verhandelt Rigoletto mit dem Auftragsmörder, beklagen die erniedrigten Frauen ihr Schicksal, lagert der Müllsack mit dem Mordopfer. Kulyabins Konzept, mag zunächst wie eine der übergestülpten „Subtext“-Erzählungen wirken, ist aber tatsächlich wie eine neue Haut, die sich geschmeidig über das Stück spannt und seine wahren Konturen offenbart.

Warten auf dramatischen Nachdruck

GMD Patrick Hahn. (Foto: Gerhard Donauer)

Im Graben waltet kein Geringerer als GMD Patrick Hahn, der sich mit „Rigoletto“ die italienische Oper geöffnet hat. Er nähert sich vorsichtig, in gemäßigten Tempi, gönnt dem kurzen Vorspiel keine drängende Dramatik. Auch im Lauf des Abends lässt dramatischer Nachdruck öfter auf sich warten – auf der anderen Seite hütet sich Hahn davor, Erregung durch Lärm vorzutäuschen. Das ist ein kluger Ansatz, der jedoch die mangelnde Markanz in den Violinen, die Formung einer energischen oder auf den Bogen achtenden Phrasierung, die Emanzipation von scheinbar begleitenden Figuren zu tragenden musikalischen Momenten nicht verhindern sollte. Schlüsselszenen wie Gewitter und Quartett im vierten Akt gelingen in sich, der große Entwicklungsbogen könnte noch eindringlicher geformt werden.

Nicht zu vergessen: Die Höflinge und der Chor der Wuppertaler Bühnen gefielen allesamt, weil sie sich auf die detaillierte Personenführung eingelassen und jeder ihrer Rollen damit Gewicht gegeben haben. Ein „Rigoletto“, der aus der Masse alltäglicher Aufführungen heraussticht und einen berührenden Zugang zum Schicksal der Menschen auf der Bühne eröffnet. Siehe da, das alte Melodrama lebt und Victor Hugos Personal erkennen wir auch in der Gegenwart wieder.

Weitere Vorstellungen: 5. und 18. Februar. Tickets: (0202) 5673 7666, www.oper-wuppertal.de




Papsttochter am Aalto-Theater: Donizettis „Lucrezia Borgia“ öffnet den Blick auf psychische Extreme

Marta Torbidoni, die gastierende Premierensängerin, als Lucrezia Borgia in Ben Baurs atmosphärisch gelungenem Bühnenbau. (Foto: Bettina Stöß)

In Bergamo, dem Geburtsort Gaetano Donizettis, gibt es in jedem Herbst ein Festival, bei dem sich kaum gespielte Opern als überraschend gegenwärtig erweisen. So im Herbst 2022 zum Beispiel Donizettis „L’aio nell‘ imbarazzo“ („Der Hauslehrer in Verlegenheit“), eine skurrile Studie über extreme – heute würde man sagen – Verhaltensauffälligkeiten. Hin und wieder haben Opern Donizettis abseits des Mainstreams aber auch in Deutschland eine Chance.

Das Aalto-Theater Essen zeigt als zweite Premiere der Intendanz von Merle Fahrholz eine noch von ihrem Vorgänger Hein Mulders programmierte und wegen der Corona-Pandemie verschobene, selten zu sehende Donizetti- Oper: „Lucrezia Borgia“.

Hauptperson ist die uneheliche Tochter Papst Alexanders VI.: Borgia, deren – heute historisch entkräfteter – Ruf als verruchte, ausschweifende Giftmischerin im 19. Jahrhundert für schaudernde Faszination sorgte. Donizettis Oper von 1833 wurde für Deutschland eigentlich erst 2009 wiederentdeckt, als Edita Gruberova an der Bayerischen Staatsoper München in der Regie von Christof Loy als Lucrezia debütierte. Trotz gelegentlicher Neuinszenierungen – so vor einigen Jahren in Halle/Saale – bleibt das Werk eine Rarität.

Das dürfte nicht an der stupend ausgearbeiteten Musik aus einer Hochphase des Schaffens Donizettis liegen, sondern am Sujet. Ähnlich wie „Parisina d’Este“ (1833) oder „Maria de Rudenz“ (1837) ist „Lucrezia Borgia“ ein Stück der psychischen Extreme. Mit den nachtschwarzen Liebesgeschichten des romantischen „melodramma“ und seinen Opfer-Heroinen hat es nichts mehr zu tun. Eher weist die Oper in die Richtung, die Giuseppe Verdi später mit „Rigoletto“ eingeschlagen hat. Das ist kein Wunder: Beide Opern basieren auf Dramen von Victor Hugo, der seine „Lucrèce Borgia“ bewusst als Gegenstück zu „Le roi s’amuse“, der Vorlage für „Rigoletto“, konzipiert hat.

Geächtete Menschen

Beide sind Menschen, die gesellschaftlich geächtet sind – der eine wegen seiner körperlichen Entstellung, die andere aufgrund ihrer moralischen Verkommenheit. Und beide sollen Mitgefühl erzeugen, ja den Zuschauer laut Hugo „zum Weinen bringen“: Rigoletto durch seine Zärtlichkeit als Vater, Lucrezia durch die Qual, die sie über ihr verbrecherisches Vorleben empfindet, und durch ihre reine Mutterliebe. Die inneren Widersprüche der Existenz interessierten Hugo wie Donizetti; spätere Generationen hielten solche Sujets eher für widerlich.

Im Gegensatz zu „Rigoletto“ bleiben die Personen bei Donizetti aber in einer Sphäre zwischen Traum und Realität befangen. Lucrezia hat einen Sohn, Gennaro, von dem nur sie alleine weiß, nach dem sie sich sehnt, der aber in ihrem Leben tatsächlich keinen Platz haben darf. Gennaro, ein erfolgreicher Soldat ohne Wurzeln – Vater unbekannt, Mutter verschollen – ist abhängig von der Obsession für ein überhöhtes Mutter-Ideal. Die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Lucrezia und Gennaro bleibt bis zum Ende unausgesprochen, bestimmt aber den tödlichen Verlauf der von fatalen Zufällen bestimmten Handlung. Gennaro fühlt sich von der unbekannten Dame unerklärlich angezogen. Die rätselhafte Zuneigung schlägt in Hass um, als am Ende des als „Prolog“ betitelten ersten Teils der Oper ihre Identität aufgedeckt wird: Sie ist das Monster „Borgia“.

Mutter und Monster: Diesen Gegensatz hat Victor Hugo konstruiert, um im besten romantischen Sinn die Rätselklüfte des Lebens aufzureißen, Extreme zu markieren, die sich nicht besänftigen, sondern nur schaudernd aushalten lassen. Felice Romani, der Librettist Donizettis, hat sie fokussiert auf nur wenige Personen und so die extremen Spannungen betont, die das Stück so schwer inszenierbar machen. Eine Herausforderung für jeden Regisseur, aber eine mit dem eigenen Reiz, zu der brillanten Musik Donizettis eine adäquate szenische Lösung zu finden.

Surreale Regie-Elemente

Immer wieder bricht Ben Baur die Szene ins Surreale auf, so wie hier mit einem Zug von Klerikern. Links: Davide Giangregorio als Don Alfonso, rechts Marta Torbidoni als Lucrezia. (Foto: Bettina Stöß)

In Essen hat sich Ben Baur an das Experiment gewagt und sich dabei stark an Victor Hugo orientiert. Er verzichtet auf die Schauwert-Schauplätze Venedig und Ferrara, baut auf der Bühne einen monumentalen, an florentinische Renaissance erinnernden Saal mit Ziegelwand, einem dominierenden Kamin und einem Vorhang, der das Element des Theaters unterstreicht und Raum und Szenen gliedert. Die kostbare goldgelbe Robe für Lucrezia ist eine der wenigen Reminiszenzen an die historische Papsttochter, die mit Donizettis Figur kaum etwas zu tun hat, aber durch das Gewand gleichzeitig überhöht wird.

Uta Meenens Kostüme bewegen sich ansonsten im Spektrum von konkreten Anspielungen – Mönchskutten, Klerikergewänder oder biedermeierliche Nachthemdchen für die Kinderstatisterie, die ein surreales Element in die Inszenierung einbringen sollen – und einer uneindeutigen Phantastik wie in den queeren, androgynen Entwürfen für die jungen Menschen in der Entourage Gennaros oder dem wie ein Bustier gestalteten Brustpanzer von Lucrezias Gatten Don Alfonso.

Baur ist ein Meister solcher fluider Zeichen und setzt sie ein, um den Raum als eine Seelensphäre zwischen Wachen und Träumen zu kennzeichnen. Mehrfach tötet Gennaro im Lauf des Stücks Erscheinungen Lucrezias, ein Motiv, das surreal rätselhaft bleibt, vielleicht zu lesen als vergeblicher Versuch des jungen Mannes, sich von der Zwangsvorstellung seines Mutterbilds zu befreien. Wie sehr ihn dieses dominierende Ideal am Leben hindert, zeigt sich in der Szene mit seinem Freund Maffio Orsini im zweiten Akt. „Mit dir immer, ob lebend oder tot“ beschwören die beiden im melodischen Schwung eines Liebesduetts eine Verbindung, die unübersehbar homoerotische Züge trägt. In Baurs Inszenierung tritt Orsini im Gewand der Lucrezia Borgia auf – ein Signal für das verzerrte Gefühlsleben Gennaros, der Liebe offenbar nur mit dem inneren Bild der „Mutter“ verbinden und so nicht zu einem authentischen Verhältnis zu Orsini finden kann.

Das Problem bei Baurs überlegtem Regie-Zugriff ist, dass die szenischen Signale zu naturalistisch wirken und nur peripher mit der verlaufsgetreu erzählten Handlung korrespondieren können. Gestorbene Kinder Lucrezias, blutüberströmte Gemeuchelte, ein Zug von Kardinälen mit dem Papst an der Spitze: Wo Baur die Handlung im Sinne einer Zeichen- oder Traumlogik aufbrechen will, wirkt das Surreale nicht; wo Transzendierung wirksam werden sollte, bleibt die Handlung zu fasslich. Dennoch: Die Intention Baurs, das Stück aus dem Korsett eines schwer nachvollziehbaren Narrativs zu befreien, führt in die richtige Richtung.

Glanzvolles Debüt

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

In Essen war jetzt erst die ursprünglich gedachte Besetzung zu erleben, mit der auch geprobt wurde: In der Premiere am 26. November mussten drei von vier Hauptrollen durch Gäste ersetzt werden. Auch jetzt grassiert die Krankheitswelle noch, wie sich vor allem im von Klaas-Jan de Groot einstudierten Chor bemerkbar macht. Endlich konnte aber Jessica Muirhead ihr Debüt als Lucrezia Borgia feiern – und sie hat die Anforderungen der Partie zwischen verträumter Lyrik („Com’e bello! Quale incanto …“), gefährlichem Auftrumpfen („Oh! A te bada … a te stesso pon mente“) und brennender Verzweiflung („Mille volte al giorno io moro“) glanzvoll ausgeschöpft. Muirheads leuchtender, bis auf ein paar Stützschwierigkeiten bei kurzen Noten in der Höhe sicher positionierter Sopran ist in der Lage, die emotionalen Spannungen in einer hinreißenden Gesangslinie auszudrücken. Das ist anders als die ziselierte Feinarbeit, mit der Gruberova die Schwächen ihrer Stimme in Expression verwandelte, anders auch als der dramatische Impetus, den Marta Torbidoni in der Premiere als Gast – sie hatte die Partie vorher in Bologna gesungen – mitgebracht hat.

Der giftige Wein der Borgia bringt den Tod. Marta Torbidoni (Lucrezia) und Francesco Castoro (Gennaro) im zweiten Akt der Oper. (Foto: Bettina Stöß)

Francesco Castoro als Gennaro kann in der jüngsten Vorstellung überzeugender punkten als in der Premiere. Er führt seinen Tenor bewusst leicht und mit einem unangestrengten Ton fern von dem oft als „italienisch“ missverstandenen Aplomb. Auch wenn man spürt, dass ihm manche Passage Mühe bereitet: Castoro vermittelt einen Eindruck davon, was Belcanto im Sinne Donizettis bedeutet. Alles andere als Schöngesang bot dagegen Davide Giangregorio bei seinem Deutschland-Debüt als Don Alfonso. Weit weg von der eleganten Linienführung und der unangestrengten Attacke eines Kavaliersbaritons dröhnte er mit undifferenzierter, auf bloße Außenwirkung getrimmter Kraft und unsteter Tonbildung. Ein Schönsänger ist die Hausbesetzung Almas Svilpa zwar auch nicht, aber in seiner bewussten Gestaltung kommt er den stilistischen Erfordernissen des Singens näher als der Premierengast aus Bologna. Vokal glänzend und als Darstellerin überzeugend: Liliana de Sousa als Maffio Orsini.

Farben der Melancholie

Dass auch die kleineren Rollen nicht ohne Anspruch sind, demonstrieren Mathias Frey (Rustighello), Tobias Greenhalgh und das Quartett der Kumpane Orsinis, Edward Leach (Liverotto), Lorenzo Barbieri (Gazella), Timothy Edlin (Petrucci) und Joshua Owen Mills (Vitelozzo). Andrea Sanguineti, designierter GMD von Essen, hat in der Januar-Vorstellung das Tempo merklich angezogen, lässt das Orchester akzentuierter spielen, gibt den Cabaletten drängende Energie und den lyrischen Momenten die Farbe der Melancholie, die – etwa in der Einleitung – an die zwei Jahre später entstandene „Lucia di Lammermoor“ erinnert.

Die vielen Krankheitsfälle im Ensemble gehen allerdings nicht spurlos vorüber: Die Präzision leidet, die Koordination mit der Bühne wankt öfter, die Geigen der Essener Philharmoniker klingen – im Gegensatz zu den warmen Celli – kreidig-scharf. So ganz ist der Versuch, Victor Hugos sperrige Thematik in unsere Gegenwart zu übertragen, in Essen nicht geglückt. Aber diese „Lucrezia Borgia“ zeigt, dass ein ambitionierter Regisseur aus anachronistisch wirkenden Stoffen überraschende Einsichten gewinnen kann. Das ist nicht neu, hat sich an so manchem Opernhaus aber noch nicht herumgesprochen. Und Donizettis Musik ist es allemal wert, von stilsicheren Sängern und Musikern (und *innen natürlich auch) verlebendigt zu werden.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit am 14. Januar, 4. und 15. Februar und 10. März. Karten (0201) 81 22 200 oder www.theater-essen.de

 




Cra Cra, Bum Bum, Din Din! Gioachino Rossinis „Italiana in Algeri“, historisch informiert aufgeführt in Berlin

Quicklebendiger Belcanto im nackten Mauerwerk der Kino-Bühne im Berliner Theater im Delphi. Auf dem Bild von links: Miloš Bulajić (Lindoro), David Oštrek (Mustafa Bey), Polly Ott (Elvira), Hannah Ludwig (Isabella), Manuel Walser (Taddeo). (Foto: Anna Tiessen)

Historisch informiert – das kannte man bis vor wenigen Jahrzehnten nur im Bezug auf alte Musik. Pioniere wie Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt erweiterten das Wissen um historische Spielweisen und Aufführungspraktiken enorm. Inzwischen ist auch die Zeit der Romantik bis hin zu Johannes Brahms und Richard Wagner ins Blickfeld gerückt.

Nur bei einem der bedeutendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts, Gioachino Rossini, und im romantischen Belcanto von Bellini bis Verdi hat diese Bewegung bisher kaum Resonanz erzielt. Eine Produktion in Berlin will das ändern: Im Theater im Delphi – sonst nicht gerade für Opernaufführungen bekannt – präsentierte ein ambitioniertes Ensemble Rossinis „L’Italiana in Algeri“, unterstützt von der Deutschen Rossini Gesellschaft, die in Berlin auch ein halbtägiges Seminar zur historischen Aufführungspraxis bei Rossini abhielt.

Bei den vom Ensemble Eroica Berlin unter dem mit Rossini wohlvertrauten Dirigenten Jakob Lehmann organisierten drei Vorstellungen ist es die spezielle Praxis des Musizierens, die einen spannenden Abend garantiert. Regisseur und Bühnenausstatter Dennis Krauß lässt in einer auf drei rote Kisten vor nacktem Mauerwerk reduzierten Szenerie spielen; die Kostüme von Pauline Heitmann enthalten sich jeglicher Anspielung an den früher üblichen klischeehaften Orientalismus. Rossinis ebenfalls auf exotische Effekte verzichtende Musik erweist sich als theaterwirksam genug, um die drei Stunden nicht zäh werden zu lassen.

Gespielt wird im Delphi, an der Grenze von Weißensee zum Prenzlauer Berg, einem 1929 erbauten Stummfilm-Kino, das 1959 geschlossen und u.a. als Lager genutzt wurde, bis es 2012 von dem Künstler-Duo Brina Stinehelfer und Nikolaus Schneider aus dem Dornröschenschlaf geweckt und zu einem neuen Kunst- und Kulturort entwickelt wurde. Im unrestaurierten Jugendstil-Tonnengewölbe des Kinosaals mit einer Bar auf der Rückseite sitzt das Publikum unter verblassten Farben und Wasserflecken an der Decke an alten Tischen und kann wie in einem Varieté der Vorstellung folgen.

Frische, detailreiche Musik

Die Musik spielt im Raum vor der Bühne und klingt präsent und transparent – ungetrübter Genuss der fein ziselierten Details von Rossinis Partitur ist garantiert. Deutlich hört man die Verzierungen und liebevoll ausgearbeiteten Phrasierungs- und Dynamik-Finessen, denen sich die jungen Musikerinnen und Musiker des Orchesters widmen. Das sorgt in der Tat für ein frisches, detailreiches, im Vergleich zu üblichen Darbietungen kühleres, brillantes, aber auch luftiges Klangbild.

Mit wenig Vibrato gespielte Darmsaiten, jeweils ein an den beiden Flanken und im Zentrum des Orchesters platzierter Kontrabass, etwas schwerer ansprechende, aber warmtönige Hörner und eine aus Hammerklavier, Cello und Kontrabass bestehende Continuogruppe versuchen, den Klang der Rossini-Zeit in unsere Gegenwart zu holen. Die beiden Schlagzeuger nutzen herrlich blechernes Metallzeug „alla turca“, darunter einen selbst gebauten Schellenbaum, und sorgen damit für zugespitzte Akzente – wie überhaupt die Tutti scharf und kurz gefasst sind und damit einen „lärmigen“ Eindruck von Rossinis Musik nicht aufkommen lassen.

Die Streicher sitzen einander gegenüber, wie es auf alten Stichen zu sehen ist,und haben so – zumindest in den ersten Violinen – unmittelbaren Kontakt zu Bühne. In der Ouvertüre macht die Oboistin Katharina Haritonov aus ihrem ersten Solo ein verziertes Bonmot, das gleich deutlich macht: Hier wird so musiziert, wie wir es aus Quellen des frühen 19. Jahrhunderts erfahren. Auch die Agogik und die genüsslichen Ritardandi, die Portamenti und die kurzen, trockenen Staccati zeigen, dass sich die Musiker eingehend mit früheren Praktiken beschäftigt haben. Das geht bis zum „battuto“, wenn die Geiger mit ihren Bögen auf die Saiten schlagen und einen geräuschhaften Effekt erzeugen.

Die Frage nach dem Belcanto

Ob das alles so war und so sein muss, sei dahingestellt – aber eine Diskussion darüber ist allemal spannend und fruchtbar. Und Rossinis Musik bekommt dieser Zugang so gut – man höre nur, wie vielgestaltig und harmonisch interessant auf einmal die einleitenden Pizzicati des Preludio wirken –, dass man sich fragt, warum so etwas nicht wenigstens bei spezialisierten Festivals wie Rossini in Wildbad oder in Pesaro zur Diskussion gestellt wird.

Ärger im Hause Mustafa (von links): Laura Murphy (Zulma), Polly Ott (Elvira), David Oštrek (Mustafa Bey). (Foto: Anna Tiessen)

Zur Debatte sollte auch der spezifische Belcanto stehen, denn in der Technik des Singens stehen Fragen an, die über bloßen Geschmack hinausgehen. Lockerheit und Modulationsfähigkeit der Stimme, ein entspannter Ton über alle Register, klare Artikulation, ein gut gestütztes, frei gebildetes Piano, ein unangestrengt in den Raum projizierter Klang und die Fähigkeit, die vielfältigen Formen musikalischer Verzierung einwandfrei auszuführen, gehören dazu. In Italien neigt man derzeit dazu, Stimmen auf harte Strahlkraft hin auszubilden, im östlichen Europa besetzt man italienische Oper, gleich ob von 1810 oder 1910, mit einander ähnlich klingenden, auf Kraft, üppigen Ton und nicht selten ausladendes Vibrato hin geformten Stimmen. Adäquater Rossini-Gesang, der einlöst, was stilistisch gefordert wird, ist also trotz vieler Fortschritte in den letzten Jahrzehnten immer noch rar.

Eine erfreuliche Ausnahme ist in Berlin mit Hannah Ludwig zu erleben. Sie bringt viele der Vorzüge mit, die eine virtuose Rossini-Stimme ausmachen, prunkt als Isabella mit leuchtendem, auch im tiefen Register nicht extrem eingebrustetem und gut verblendetem Ton, verfügt über Beweglichkeit, aber auch den nötigen dramatischen Impetus. Eine Sängerin, die Freude macht. Auch die feine Stimme von Laura Murphy als Zulma lässt viel Potenzial entdecken, während Polly Ott als unglückliche Ehefrau des Mustafa Bey den Ton eher kopfig und mit forcierter Brillanz bildet – was eigentlich nicht nötig wäre.

Verzierungen und dünne Stimmfäden

Miloš Bulajić zeigt in „Languir per una bella“ respektable Verzierungskünste, aber die Stimme ist angespannt und bisweilen druckvoll gebildet, der Einsatz der voix mixte tendiert zum Falsett – insgesamt aber verdient sich der Tenor, der viel an der Lindenoper gesungen hat, Hochachtung für seinen Einsatz in dieser anspruchsvollen Rolle. Bassbariton David Oštrek verfügt über eine ansprechend gebildete, zu Tönen mit genauer Kontur, doch nicht zu lockerer Fülle neigende Stimme. Seine Artikulation ist untadelig, das ornamentale Gestalten bringt ihn ebenfalls nicht aus dem Konzept. Ein viriler Patriarch, machtbewusst, von Empathie kaum angefochten, empfänglich für die „Pappataci“-Finte, doch zu eitel, einzugestehen, dass er nicht weiß, worum es geht – Oštrek macht aus seiner Rolle einen lebensvollen Charakter.

Das versucht auch Manuel Walser als Taddeo, den er weniger als Trottel, eher als Opportunist anlegt und damit auf dem richtigen Weg ist. Adam Kutny als Hajek ist ein Beispiel einer mächtig-klangvollen, aber ungeschliffenen Stimme. Während der Neue Männerchor Berlin eher dünne Stimmfäden spannt, vereinen sich die Solisten in den genialen Ensembles in crescendierendem Entsetzen, das ihnen Hirn und Verstand zu rauben droht, und unter den feurigen Steigerungen des Orchesters und dem Krachen des Schlagzeugs bleiben nur noch cra cra, bum bum und din din. Da zeigt sich Rossini als Meister eines Humors, der in seiner überdrehten Absurdität wie kaum ein zweiter einfängt, wie brüchig unsere armselige menschliche Erkenntnis daherkommt und wir vielleicht gut daran tun, wie der gütig von den Stahlstichen lächelnde Maestro das Dasein mit heiterer Ironie und wissender Menschlichkeit zu nehmen.




Totale Maskerade: Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“ am Aalto-Theater Essen wieder aufgenommen

Szene mit Chor und Solisten des Aalto-Theaters aus Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“. (Foto: Saad Hamza)

Gustav III. von Schweden, das historische Vorbild von Giuseppe Verdis Riccardo im „Maskenball“, war ein Opern- und Theaternarr. Dietrich Hilsdorf hat in seiner Inszenierung für das Essener Aalto-Theater daraus eine virtuose Konstruktion abgeleitet. Alles, bis aufs bittere Ende, ist Maskerade.

Jetzt erlebte die aus dem Jahr 1999 stammende Arbeit Hilsdorfs eine szenisch sorgfältig einstudierte Wiederaufnahme. Kompliment an Marijke Malitius: Die Intentionen des Regisseurs sind wiedererkennbar, der Abend hat szenische Spannung und wirkt unverbraucht packend wie eh und je.

Zum lebendigen Eindruck trägt das Dirigat von Elias Grandy, gastierender GMD aus Heidelberg, nicht unwesentlich bei. Er lässt das Orchester atmen und achtet auf die Sänger, lässt die Bögen blühen und Details leuchten. Und er sorgt dafür, dass die großen leidenschaftlichen Ausbrüche der Musik nicht vorher schon durch eine überdrehte Dynamik entwertet sind. Auch der Chor, einstudiert vom neuen Chordirektor Klaas-Jan de Groot, erweist sich nicht erst im finalen Maskenball als spielfreudig, sondern auch als sattelfest, ungeachtet einiger verwaschener Momente, wohl auch durch die fordernde Bewegungsregie verursacht.

Heute die anspruchsvollen Verdi-Gesangspartien zu besetzen, ist eine Herausforderung für sich. Das ist auch am Aalto zu spüren. Mit Valentina Boi hat man eine Sopranistin verpflichtet, die in Italien eine beachtliche Karriere macht und die Rolle der Amelia bereits am Teatro Regio in Parma gesungen hat. Doch dass Erfolge im Heimatland des Belcanto heute kein Maßstab mehr sind, wird in Essen nur allzu deutlich. Boi hat erhebliche Schwierigkeiten, den Ton über den Übergang in die Höhe bruchlos zu führen. Er verliert seinen Kern, wird angespannt und schrill. Wo sie sich auf die Mittellage verlassen kann, wie in ihrer Arie „Morrò, ma prima in grazia“ versteht sie, eindrucksvoll zu gestalten. Aber wenn es, wie in der Szene auf dem Galgenberg, auf weit gespannte, in sich gesteigerte Legati ankommt, fehlt der gleichmäßig geflutete Klang und das sichere Fundament des Atems.

Schwere Partie – selbst für Pavarotti

Für die Partie des Riccardo bringt Carlos Cardoso hörbar passende Anlagen mit. Die Rolle, in der selbst ein Luciano Pavarotti bisweilen seine Probleme hatte, verlangt die legere Leichtigkeit eines Filous, aber auch die Emotionalität eines Menschen, der vielleicht zum ersten Mal über das flüchtige Begehren hinaus von einem tiefen Gefühl von Liebe ergriffen wird. Cardoso hatte sich ansagen lassen und war spürbar beeinträchtigt, kann aber dennoch den spöttischen Ton in der Szene mit der Wahrsagerin Ulrica, die erwartungsvolle Freude in seiner Auftrittscavatina „La rivedrà nell’estasi“ und die leidenschaftliche vokale Geste im Duett mit Amelia treffen. Es dürfte spannend werden, den Tenor, der in anderen Werken nicht immer glückhaft agiert hat, gesundet in dieser Rolle wiederzuhören.

Der lettische Bariton Jānis Apeinis zeigt als Renato eine zu großen Ausbrüchen fähige Stimme. Auch bei ihm hört man den Willen zur Gestaltung; allerdings bringt er eine typisch modern-russische Stimmschulung mit – und das bedeutet kräftige, aber unflexible Tongebung, eine eher grobe Emission, wenig Schattierungsmöglichkeiten und kein geschmeidig gebildetes Mezzoforte und Piano. Die Arie „Eri tu“, seit jeher ein Prüfstein für einen Verdi-Bariton, gelingt in der bitteren Anklage, nicht aber in den „dolcezze perdute“ der wehmütigen Erinnerung, für die Apeinis keine Farbpalette einsetzen kann. So bleibt nur, die Imposanz einer mächtigen Stimme zu bewundern.

Für den von Hilsdorf als androgynes Geschöpf im erotischen Dunstkreis Riccardos gezeichneten Oscar bringt Cathrin Lange das jugendliche Auftreten und die entsprechende Stimme mit. Das kecke Geträller des Pagen singt sie sympathisch leuchtend, auch wenn sie in der einen oder anderen raschen Passage ein wenig tricksen muss. Oleh Lebedyev empfiehlt sich in einem verheißungsvollen Debüt als Silvano; auch die beiden Verschwörer von Andrei Nicoaro und Baurzhan Anderzhanov lassen keine Wünsche offen. Helena Zubanovich hat als Ulrica einen dem Konzept der Inszenierung entsprechend weniger dämonisch-geheimnisvollen als kühl-professionellen Auftritt: Auch sie steckt in einer „Rolle“, versinkt am Ende stumm im Bühnenboden. Alles „in maschera“ eben.

Info und Tickets: https://www.theater-essen.de/oper/spielplan/aaltomusiktheater/un-ballo-in-maschera/7319/