Bundestreffen in Dortmund: Was Tierärzte regulieren wollen

Florianturm, Zeche, Dortmunder U und Reinoldikirche als Dortmunder Wahrzeichen – auf Unterlagen der Bundestierärztekammer.

Quizfrage: Wie wird das Deutsche Tierärzteblatt in Fachkreisen liebevoll genannt? Nun, die Lösung lautet: „Grüner Heinrich“. Wenn Gottfried Keller das geahnt hätte… Derlei – für die Allgemeinheit – unnützes Wissen nennt man heute wohl Fun Fact.

Scherz beiseite. Warum mich eine Einladung zur Pressekonferenz (PK) der Bundestierärztekammer ereilt hat, weiß ich wirklich nicht. Noch nie habe ich über dieses Fachgebiet geschrieben. Immerhin findet jetzt der 30. Deutsche Tierärztetag hier in Dortmund statt. Also habe ich mich mal (online) zur PK bemüht und wage es, ziemlich fachfremd zu berichten.

Ich habe ja so gut wie keine Ahnung vom tierärztlichen Metier (außer ein paar bleibenden Eindrücken, wenn wir mit unserem Kater die Tierarztpraxis aufsuchen mussten), dafür haben viele Tierärzte aber auch kaum Ahnung von Dortmund, schmücken sie doch ihre Tagungsunterlagen u. a. mit einer Zechen-Silhouette. Der letzte Schacht in dieser Stadt wurde 1987 geschlossen. Ich übertreibe mal leicht: Wir glauben ja auch nicht, dass Tierärzte sich immer noch vorrangig mit Mammuts und Sauriern befassen.

Nun aber wirklich zur Sache. „Tierschutz im tierärztlichen Alltag“ lautet das zentrale Thema des Bundestreffens im Kongresszentrum der Westfalenhallen. Vier Fachleute berichteten in der Pressekonferenz aus den Arbeitsgruppen. Da ging es um Tierschutz im Pferdesport, in der Kleintierpraxis, bei Behörden und in der Nutztierhaltung – unter besonderer Berücksichtigung der „kleinen Wiederkäuer“ (Schafe und Ziegen).

Da wurden vor allem (weit überwiegend berechtigte) Forderungen gestellt, die jedoch insgesamt einen Wust von Regelungen und wuchernde Bürokratie nach sich ziehen könnten, abgesehen vom wachsenden Personalbedarf und Kostensteigerungen. Nur mal einige Beispiele, der Einfachheit halber ungegendert:

  • Es sollten möglichst alle Heimtierhalter auf Eignung geprüft werden.
  • Pferdehalterinnen und Pferdehalter sollen ihre Sachkunde zertifizieren lassen.
  • Bei allen Reitveranstaltungen sollte mindestens ein Tierarzt dauerhaft anwesend und mit weit reichenden Befugnissen ausgestattet sein.
  • Alle Ausrüstungs-Gegenstände in Pferdesport und sonstiger Pferdehaltung sollen auf Tauglichkeit überprüft werden – ungefähr wie Autos beim TÜV.
  • Hundetrainer sollen u. a. durch Tierärzte ausgebildet werden.
  • Angehende Juristen sollen in ihrem Studium mehr zum Tierschutzrecht lernen.
  • Bestimmte Tiere („Defektzuchten“, Qualzuchten) sollen z. B. auch in Werbung und Mode strikt  verboten werden.
  • Ein europaweites Register für Hunde und Katzen muss eingerichtet werden.
  • Tierärzte sollen in Ausübung ihrer Tätigkeit bei etwaigen Konflikten geschützt werden, darin attackierten Rettungskräften vergleichbar.
  • Es fehlt eine „Heimtierverordnung“.
  • Es fehlt eine zentrale Tiergesundheits-Datenbank.
  • Es fehlt eine Datenbank zu Tierhalte-Verboten.
  • Tierärztliche Ämter brauchen mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen.
  • Es gibt zu viele Einschränkungen bei medikamentösen Behandlungen von Tieren.
  • Viele Regelungen müssen bundesweit vereinheitlicht werden.

Und so weiter. Richtig „viel Holz“. Dazu hieß es auf dem Podium: „Wer nicht fordert, bekommt auch nichts.“ Schon richtig. Wie soll es sonst gehen? Aber in der Summe wirkte es denn doch ein wenig begehrlich – wie halt bei allen Interessenverbänden.

Was außerdem auffiel: Es war eine Pressekonferenz, doch mit Fragen und Statements meldeten sich praktisch ausschließlich Kongressteilnehmer, also tierärztliche Fachleute zu Wort. Am Ende war ich vielleicht der einzige Medienvertreter, der eine Frage gestellt hat. Das wäre mir unangenehm. Soll man daraus etwa schließen, dass die Standesorganisation der Veterinäre im eigenen Saft schmort? Oder zeugt es eben von besonderem, manchmal geradezu hitzigem Engagement? Oder mangelt es den Medien schlichtweg an Interesse?




Sinnlich, saftig, manchmal faulig: Ahlen zeigt „Früchte in der Kunst“

Pierre-Auguste Renoir: „Nature morte aux pommes et grenades“ (Stillleben mit Granatäpfeln), um 1910, Öl auf Leinwand (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg © VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Es dürfte sozusagen die saftigste Ausstellung des Jahres sein, auf jeden Fall ist es die fruchtigste: Mit „Ein Genuss! Früchte in der Kunst“ präsentiert das Kunstmuseum Ahlen – erstmals in NRW – Ausschnitte der einzigartigen Sammlung des Heidelberger Unternehmers und Wissenschaftlers Prof. Rainer Wild, der sich just auf künstlerische Darstellungen von Früchten spezialisiert hat. Eigentlich kein Wunder, importiert und verarbeitet seine Firma doch Früchte aus aller Welt.

Über 100 Arbeiten von 77 Kunstschaffenden des 20. und 21. Jahrhunderts sind in Ahlen zu sehen. Da finden sich reihenweise große Namen aus der neueren Kunstgeschichte, beispielsweise (alphabetisch sortiert): Giorgio de Chirico, Lovis Corinth, André Derain, Rainer Fetting, Jörg Immendorff, Alexej von Jawlensky, Anselm Kiefer, Paul Klee, Markus Lüpertz, Pablo Picasso, Pierre-Auguste Renoir, Andy Warhol. Für ein solches Kunst-Aufkommen hat man wohlweislich die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Keine sonderliche prophetische Gabe ist nötig, um einen regen Publikumsandrang vorherzusagen. In solcher Erwartung öffnet das Haus samstags früher als sonst.

Rainer Fetting: „Äpfel aus Karwe I“, 1993, Öl auf Leinwand (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg © Rainer Fetting)

Gemalte Früchte haben eine lange Tradition. So wird denn auch in der Gegenwartskunst häufig aus dem historischen Fundus zitiert: Mal scheint ein berühmtes Bild von Caravaggio, bewusst unscharf gehalten, hindurch (bei Slawomir Elser), mal wird rückblickend auf die berühmten Frucht-Gesichter von Arcimboldo (goldene Skulptur von Miguel Berrocal) verwiesen – oder auf die Machart famoser Trompe-l’œil-Schöpfungen niederländischer Barockmeister. In all diesen Kontexten sind Früchte symbolisch „aufgeladen“. Oft stehen sie für schiere Lebenslust und Luxus, nicht selten aber auch für Vergänglichkeit und Verfall. Reife, sinnlich pralle und sodann allmählich verfaulende Früchte (prototypisch in Cony Theis‘ „Bananenzyklus“, 1992) deuten auf Phasen des Daseins hin, mit denen sich natürlich auch der Mensch gemeint fühlen sollte. So lässt sich denn in dieser Schau zwar vielfach schwelgen, doch hält sie ebenso viele nachdenklich oder melancholisch stimmende Momente bereit.

Karin Kneffel: „Ohne Titel (Goldene Trauben)“, 1998, Öl auf Leinwand (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg © VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Ahlens Museumsleiterin Martina Padberg macht beim Rundgang zudem darauf aufmerksam, dass Stillleben ein besonderes Genre der Kunst seien – schon weil hierfür kein Modell stillsitzen musste, sondern das Arrangement (Obstkorb und dergleichen) für lange Zeit unverändert vor Augen stehen konnte. So kommt es, dass manche Künstler gerade im Spätwerk zum Motiv der Früchte zurückkehrten, sich damit gleichsam „die Ruhe antaten“ und innere Einkehr hielten. Wunderbare Beispiele hierfür sind etwa Bilder von Giorgio de Chirico oder Auguste Renoir.

Vielfältig sind die Zugriffe aufs Thema. Als sinnvoll erweist sich in Ahlen die Abfolge von Räumen, die je einer Frucht gewidmet sind (Äpfel, Bananen, Trauben, Zitronen etc.), so dass der vergleichende Blick sich auf künstlerische Details richten kann. Gerade die hie und da angewandte „Petersburger Hängung“ (Bilder dicht an dicht beisammen) bewirkt solche Konzentration. Abgesehen von individuellen Eigenheiten, ist es schon ein wesentlicher Unterschied, ob es sich z. B. um Arbeiten aus dem Geiste des Impressionismus, der Neuen Sachlichkeit oder aus dem Umkreis der Pop-Art handelt.

Ganz nebenbei geben einzelne Werke auch sachliche Rätsel auf: Auf welcher Grundlage konnte Christian Rohlfs schon 1903 ein „Stillleben mit Ananas“ anfertigen? War ihm die damals noch sehr exotische Fruchtsorte bereits zur Hand? Zumindest erhob sich diese Frage während der Pressevorbesichtigung (Lösungsansatz siehe am Ende des Beitrags).

Hans Op de Beeck: „Vanitas (variation) 1″, 2015, Holz, Gips, bemalt (Courtesy Kunststiftung Rainer Wild, Heidelberg @ Hans Op de Beeck and Courtesy Galerie Krinzinger, Wien)

Nun noch ein paar willkürliche Schlaglichter auf weitere Einzelheiten: Max Kaminskis Triptychon „Garten der Lüste“ (2004) zeigt gleich eingangs die katastrophal bedrohte Umwelt, in der auch einstmals paradiesische Früchte zu vergehen drohen – wie denn überhaupt die biblische Apfelszene mit Adam und Eva zu den dauerhaftesten Überlieferungen zählt. Stephan Balkenhols schrundige Skulptur eines nackten Mannes mit Weinkrug und Trauben („Bacchus“, 2011) macht derweil aus dem Gott der rauschhaften Fruchtbarkeit ein reichlich normales, bodenständiges, ja etwas unberaten wirkendes Wesen. Karin Kneffels Bild „Ohne Titel (Goldene Trauben“, 1998) changiert unterdessen zwischen fotorealistischer Anmutung und genuin malerischer Behandlung.

Hans Op de Beeck stellt, nahezu raumfüllend, das riesige, Grau in Grau überzogene Blow-up-Abbild dreier Brombeeren dreidimensional vor Augen – ein Kunstwerk, um das man buchstäblich kaum herumkommt. Die Anregung sollen Geschmacks- und Geruchs-Erinnerungen aus der Kindheit gegeben haben – fast wie einst jene berühmten Madeleine-Kekse, mit denen sich Marcel Proust auf die folgenreiche „Suche nach der verlorenen Zeit“ begeben hat.

Damit an dieser Stelle genug! In einer Ausstellung, in der Ernst Barlachs Skulptur „Melonenesser“ (1906) im Jahrhundert-Abstand auf Ai Weiweis Wassermelone trifft (Auflagenstück aus Porzellan, 2006), herrscht an vielfältigen Anstößen zu eigenen Entdeckungen wahrlich kein Mangel.

„Ein Genuss! Früchte in der Kunst von Renoir bis Ai Weiwei“. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz 1, 59227 Ahlen. Vom 6. Juli bis 26. Oktober 2025. Öffnungszeiten: Mi-Fr 15-18 Uhr, Sa, So und feiertags 11-18 Uhr. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 5 Euro, Kinder/Jugendliche bis 18 Jahre frei. Kleinformatiges Katalogbuch (144 Seiten) 12 Euro.

Weitere Infos: www.kunstmuseum-ahlen.de

P. S.: Vielversprechend auch das Begleitprogramm. Da geht es etwa um die Verhältnisse im globalen Früchtehandel oder um die erbärmlichen Bedingungen für Erntehelfer im Süden Europas. Früchte können eben auch „politisch“ sein.

P. P. S.: Zur Ananas-Frage: Der rasch aufgerufene KI-Auszug der Suchmaschine ergibt, dass die Ananas bereits seit dem 17. Jahrhundert in deutschen Gegenden bekannt gewesen sei, zunächst „als exotische Delikatesse in herrschaftlichen Gärten und später als Importware“. Bereits ums Jahr 1700 gelang demnach ein Ananas-Anbau in Potsdam. Anno 1779 sollen dort 400 Früchte geerntet worden sein. Bis ins 20. Jahrhundert seien diese Früchte sehr teuer und nur begrenzt verfügbar gewesen.




Wunderbare Welt der Waldameisen – Fotografien im Dortmunder Naturmuseum

In Hessen aufgenommene Fotografie einer roten Waldameise (Arbeiterin), die wissenschaftlich Formica polyctena heißt und in Lebensgröße etwa 7 Millimeter misst. (Foto: © Ingo Arndt)

Es sind phänomenale Bilder, die der international renommierte Tierfotograf Ingo Arndt von seinen Expeditionen in die Welt der Waldameisen mitgebracht hat. Da sieht man etwa eine größere Gruppe dieser Tiere, die Ameisensäure versprüht, als sei’s ein prächtiges Silvesterfeuerwerk. Oder man beobachtet – weit, weit überlebensgroß – wie eine Ameisenkönigin Eier legt. Einen solchen Moment muss man erst einmal erhaschen und sodann adäquat ins Bild setzen.

Derlei fotografische Kunststücke sind jetzt im Dortmunder Naturmuseum zu sehen. „Waldameisen – Superheldinnen auf sechs Beinen“ heißt die neue, in sieben Kapitel unterteilte Sonderausstellung.  Rund 41 großformatige Fotografien geben erstaunliche Einblicke in die wunderbare Welt der Ameisen. Manche Bilder sind sorgsam aus Hunderten von Einzelstücken zusammengesetzt: Nur auf diese Weise sind Größe und Schärfe vereinbar. Andernfalls wären sie so „verpixelt“, dass nichts mehr zu erkennen wäre.

Matriarchat mit alsbald „nutzlosen“ Männchen

Noch wunderbarer als die fotografischen Künste stellen sich Leben und Alltag der Ameisen dar. Auf Ingo Arndts Fotos erscheinen die Ameisen z. B. als Architektinnen, Jägerinnen, Gärtnerinnen und Viehhalterinnen. Museums-Mitarbeiter Dr. Oliver Adrian erläutert, dass die Gesellschaft der Waldameisen ein striktes Matriarchat sei, daher auch die feminine Titel-Bezeichnung „Superheldinnen“. Die Königin und Millionen dienstbarer Arbeiterinnen (gleichsam aufgeteilt in „Innen- und Außendienst“ für Materialbeschaffung, Brutpflege etc.) haben eindeutig Vorrang und leben ungleich länger als die nach Begattung und Befruchtung quasi „nutzlosen“ Männchen, die nur wenige Wochen überstehen, während die weiblichen Exemplare der Gattung 6 bis 20 Jahre alt werden können.

Heizen der Hügelbauten mit Körperwärme

Bevor Ingo Arndt seine Ameisen-Fotografien überhaupt anfertigen konnte, musste er sich erst einmal solides Wissen über diese Tiere aneignen. Dazu arbeitet er – auch bei sonstigen Projekten – eng mit Fachwissenschaftlern zusammen. Was sich dabei im Falle der Ameisen zeigt, ist wahrlich spektakulär: Wenn Waldameisen in ihren ausgeklügelten, bis zu 2 Meter hohen Hügelbauten aus der Winterstarre erwachen, drängen sie millionenfach zum Sonnenlicht. Die dabei entstehende Körperwärme nutzen sie, um anschließend das Innere des Baus zu „heizen“ – hinein und hinaus, immer und immer wieder, bis die Innentemperatur der Behausung stimmt. Sie kommunizieren übrigens vorwiegend über Duftdrüsen und durch Berührung mit ihren Fühlern.

Nein, die Waldameise reitet nicht auf dem glänzend blauen Laufkäfer, sondern sie zerlegt das tote Geschöpf  zwecks Nestbau. (Foto: © Ingo Arndt)

„Umzüge“ im Gefolge des Klimawandels

Nicht genug mit der Heizperiode im Frühjahr: In die Hügel haben die Ameisen zuvor ein System von Lüftungsschächten eingebaut, die für ausgeglichene Klimatisierung sorgen sollen – wie die Ameisen denn generell ein sehr empfindliches Gespür für klimatische Feinheiten und Temperaturschwankungen haben. Im Falle zu starker Veränderungen wechseln sie zunächst die „Etagen“ im Hügel oder ziehen mit Sack und Pack gänzlich um. So sind im Gefolge des Klimawandels schon massenhafte Ameisen-Wanderungen beobachtet worden. Zu kleinteilig darf man sich das nicht vorstellen: In Argentinien soll gar eine über rund 6000 Kilometer sich erstreckende, vielfach vernetzte Superkolonie von Ameisen existieren.

Vorbildlicher Straßenbau und Verkehrsführung

Der Mensch kann von den perfekt organisierten Ameisen-„Staaten“ offenbar eine Menge lernen. So gibt es inzwischen Verkehrsprojekte, die in manchen Punkten den vorbildlich effektiven „Straßenbau“ der Ameisen nachzuahmen suchen. Geradezu irrwitzig mutet es allein schon an, dass und wie das immens dichte Gewimmel der Ameisen dennoch „unfallfrei funktioniert“. Sollten sich da etwa auch wertvolle Hinweise auf Stau- und Karambolagen-Vermeidung in unseren Städten finden?

Ein Naturmittel gegen Bakterien

Bei einem kundig angeleiteten Rundgang (den die Bildtexte in der Schau nur ansatzweise ersetzen können) kommt man aus dem Staunen kaum heraus. So nutzen Waldameisen Baumharz als antibakterielle Barriere, sprich: Sie postieren die Substanz so, dass alle Artgenossen auf ihren Wegen in den Ameisenbau hinüber müssen und somit besser gegen Bakterien gefeit sind. Zu vermuten steht, dass sich auch die Pharma-Industrie einen solchen Effekt zunutze gemacht hat. Auch haben die ungemein feingliedrigen Greifwerkzeuge der Ameisen bionische Entwicklungen angeregt, die zunehmend in der (Roboter)-Chirurgie Verwendung finden dürften.

Freundliche Symbiose mit Blattläusen

Die Arbeiterinnen tun alles Erdenkliche, um ihre Königin vor Unbill zu schützen. Gelegentlich kommt es vor, dass ganze Ameisenvölker einander bekriegen, dass es veritable Invasionen in „feindliche“ Ameisenhügel gibt. Hauptfeinde sind jedoch einige Vogelarten, bestimmte Käfer, Spinnen und manchmal Wildschweine. Nicht ganz ohne Eigennutz „befreundet“ sind die Ameisen hingegen mit den Blattläusen, an deren Sekret (Honigtau) sie sich laben. Daher verteidigen die Ameisen sie auch gegen Marienkäfer. Mehr noch: Sind die Pflanzen, auf denen sich Blattläuse tummeln, nicht mehr so ergiebig, tragen die Ameisen sie bereitwillig zu vitaleren Gewächsen.

Die Biologie und das Soziale

Nicht zuletzt Beobachtungen des Ameisendaseins haben die Soziobiologie hervorgebracht, welche das soziale Leben dieser und anderer Wesen erforscht. Auch in Deutschland gibt es einige Lehrstühle der sicherlich spannenden Fachrichtung. Apropos Forschung: Es gibt Experten, die Ameisenhügel Schicht für Schicht fachgerecht abtragen, sie zeitweilig ins Labor bringen und die (schon seit rund 200 Jahren unter Naturschutz stehenden) Tiere mitsamt Hügel nach vollbrachten Experimenten wieder genau so in den Wald setzen, wie sie sie abgeholt haben. Bei Robert Lembkes heiterem Beruferaten („Was bin ich?“) wäre damals wohl niemand auf diesen Spezialisten-Job gekommen.

Der vielfach preisgekrönte Fotograf Ingo Arndt, ständig weltweit (u. a. für Zeitschriften wie Geo oder National Geographic und zahlreiche Buchprojekte) unterwegs, ist derzeit in Chile tätig und konnte daher nicht zur Eröffnung seiner Ausstellung nach Dortmund kommen. Am 2. Juli (19 Uhr) aber wird er das Museum besuchen, einen Vortrag und eine Führung absolvieren. Naturinteressierte sollten sich das nicht entgehen lassen.

„Waldameisen – Superheldinnen auf sechs Beinen“. Naturmuseum Dortmund (Münsterstraße 271). Bis 28. September 2025, Eintritt Sonderausstellung 4 Euro (ermäßigt 2 Euro), ständige Sammlung kostenlos. Öffnungszeiten Di bis So 10-18 Uhr, Mo geschlossen.
dortmund.de/naturmuseum
Mail: naturmuseum@stadtdo.de / Tel.: 0231/50-24 856.

P. S.: Zur Ausstellung gehört auch ein Kinderbereich, in dem Ameisen aus Pfeifenputzern und Bleistiften gebastelt oder gemalt werden können.




Fragile Schönheit der Erde, aus dem Weltraum betrachtet – Samantha Harveys Roman „Umlaufbahnen“

Zwei Frauen und vier Männer, zusammengepfercht auf einer Raumstation. Jeder Tag, an dem sechzehnmal die Sonne auf- und wieder untergehen wird und sie mit einer Geschwindigkeit von achtundzwanzigtausend Kilometern sechzehnmal die Erde umkreisen, folgt einem eigenen Zeit-Rhythmus, exakten Plänen, routinierten Abläufen.

Sie führen Experimente mit Mäusen, Pilzen und Viren durch, trudeln zeitlupenartig durch die Schwerelosigkeit, brechen zu Spaziergängen ins All auf, um Reparaturarbeiten an ihrer von Weltraum-Müll zerdepperten Behausung auszuführen. Sie hocken monatelang so eng aufeinander, dass sie mitunter „dieselben Träume“ träumen. Und während sie noch kopfüber in ihren Schafsäcken hängen und langsam erwachen, rollt draußen die Erde „in einem üppigen Schwall Mondlicht vor sich hin“ und „wälzt sich nach hinten weg.“

Weil die Fensterblenden verdeckt sind, sehen die vor sich hin dösenden Raumfahrer noch nicht, was Samantha Harvey, die allwissende Erzählerin, die ihren Blick durch ihr literarisches Universum schweifen lässt, bereits sieht: wie über den warmen Gewässern des Westpazifiks sich Passatwinde zu einem Sturm zusammenballen, „einem Motor aus Hitze. Die Winde saugen die Wärme aus dem Ozean auf, sammeln die Wolken, die stocken, sich immer mehr verdichten und schließlich vertikal auftürmen, in einen Taifun drehen.“ Während das Raumschiff gen Osten zieht, wird der Taifun westwärts Richtung Südasien wandern, das Meer zum Wüten bringen und eine gigantische Spur der Verwüstung auf den Philippinen hinterlassen.

Die britische Autorin Samantha Harvey muss unendlich viel Material gesichtet und Gespräche geführt haben, um so genial zwischen Fakten und Fiktionen jonglieren, die Wirklichkeit literarisch transzendieren und beschreiben zu können, was sich auf einer Raumstation abspielt; wie sich das am seidenen Faden von störungsanfälligen Geräten hängende Leben in einer den Gesetzen der Schwerkraft enthobenen Umgebung gestaltet, wo Angst vor dem Tod und Demut vor der Schöpfung ineinander greift.

In ihrem Roman „Umlaufbahnen“, für den sie den Booker-Prize erhielt, verbindet Harvey auf poetisch elegante Weise Fragen nach Sein und Werden mit dem Nachdenken über die fragile Schönheit der zerbrechlichen, von Klimakatastrophen, Krisen und Kriegen bedrohten Erde. Von dort oben aus, wo alle alles miteinander teilen und, obwohl sie aus verschiedenen Ländern und Kulturen kommen (Russland, Italien, Japan, England, USA), dieselben Wünsche haben und wissen, dass sie nur gemeinsam überleben können, wirken alle irdischen Konflikte belanglos.

Samantha Harvey schaut in die Seelen der Raumfahrer, die sich schmerzlich nach ihren zuhause gebliebenen Liebsten sehnen und sich zugleich von allem lösen und gern in die Unendlichkeit des Alls driften würden. Sie schaut auf die Erde und sieht „diesiges blassgrün schimmernde Meer, diesiges orangerotes Land. Afrika, von Licht durchdrungen. Im Inneren dieses Raumschiffes kann man es fast hören, dieses Licht.“ Gleichgültig, ob alles Leben nur eine Laune der Natur ist oder dem Willen eines Gottes entspringt: Warum nur richten wir all unser Streben darauf, diesen majestätisch schönen Planeten mit unserem Fortschrittswahn zu zerstören anstatt ihm mit Demut zu begegnen und zu erhalten? Etwas Besseres gibt es nicht und finden wir nirgendwo.

Samantha Harvey: „Umlaufbahnen“. Roman. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv, München. 224 Seiten, 22 Euro.




Spinnenwelt, Kunstbetrieb, Getuschel – Buchtipps vor dem Fest

Es ist mal wieder an der Zeit, in vorweihnachtlichen Tagen ein paar gesammelte Hinweise auf neue Bücher zu geben.

Das große Krabbeln

Zunächst ein Sachbuch-Thema, das viele Leute weniger erquicklich finden dürften. Jan Mohnhaupt, übrigens gebürtiger „Ruhri“ vom Jahrgang 1983, legt sein Buch „Von Spinnen und Menschen. Eine verwobene Beziehung“ (Hanser, 255 Seiten, 24 Euro) vor. Schon beim bloßen Titel könnte manche(n) das Gruseln anfassen. Doch nach der Lektüre mögen sich vielleicht etliche Arachnophobiker ein wenig kuriert fühlen. Mohnhaupt hat nicht weniger als eine Kulturgeschichte der Spinnenwesen verfasst, wie sie sich auf vielfältige Weise in die Geschichte der Menschheit einbeschrieben hat, so u. a. auch ins Christentum und in verschiedene Epochen, beispielsweise die napoleonische Zeit. Unsere Spezies hatte und hat demnach – auch im positiven Sinne – viel mehr mit den Spinnen zu tun, als wir es uns haben träumen lassen. Der Autor, der zuvor u. a. mit „Tiere im Nationalsozialismus“ aufhorchen ließ, leuchtet so ziemlich alle Aspekte seines Themas gründlich aus – oder soll man sachgerecht und wohlmeinend sagen: er spinnt sie weiter und weiter fort? Schon die reichhaltigen Anmerkungen lassen ahnen, wie intensiv Mohnhaupt recherchiert hat.

Künstler unter Einfluss

 

 

 

 

 

 

 

Dies ist ein zeitgenössischer Roman von einigem Kaliber. Als die Handlung einsetzt, ist es November im Jahr 2022. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bestimmt fast alle Debatten. Christoph Peters bricht in seinem Buch „Innerstädtischer Tod“ (Luchterhand, 302 Seiten, 24 Euro) diese weltpolitische Lage höchst plausibel auf die Befindlichkeiten seiner Figuren herunter, besonders auf den Künstler Fabian Kalb, der just seine erste Einzelausstellung in Berlin bekommt und dessen Verwandtschaft dazu aus Krefeld anreist. Kurz vor der Vernissage wird der Onkel des Künstlers, ein Protagonist der „Neuen Rechten“, unangenehm aktiv. Der Vater sucht unterdessen nach Winkelzügen, um weiterhin seine Krawatten nach Russland exportieren zu können. Und der Galerist? Hat offenbar Frauen belästigt. All das überschattet die Karriere-Hoffnungen Fabian Kalbs. Alsbald geht es längst nicht mehr nur um die hehre Kunst, sondern um Untiefen (nicht nur) des Kunstbetriebs. Ein dicht und spannend, dringlich und durchdringend erzählter Roman. Übrigens: Christoph Peters bewegt sich ein- und ausdrücklich auf den literarischen Spuren von Wolfgang Koeppen (siehe weiter unten).

Bauen für die Zukunft

 

 

 

 

 

 

 

Für Architektur sollten wir uns mehr interessieren, um laufende Planungen kritisch bewerten zu können – erst recht im regionalen und lokalen Umfeld. Dabei könnte jetzt ein neuer Band aus dem Dortmunder Kettler Verlag helfen: Der Titel „Atlas Ruhrgebiet“ (Kettler Verlag, 264 Seiten, Katalogformat, 48 Euro) führt womöglich etwas in die Irre, handelt der Band doch nicht so sehr von der allgemeinen städtischen Topographie, sondern eben von beispielhaften Bauten. Der Untertitel klärt bereits ein wenig den Ansatz: „Von der Arbeitersiedlung bis zum experimentellen Wohnungsbau“. Es geht nicht um anheimelnde Nostalgie, sondern vorwiegend um (einstmals) zukunftsweisende Bauformen. Verantwortlich zeichnen Moritz Henk, Anna Jessen und Ingmar Vollenweider vom Lehrstuhl Städtebau an der TU Dortmund. Tatsächlich ist dies ein fachwissenschaftlich ausgearbeiteter Band, der sehr ins Detail geht – auch mit exakten Planzeichnungen, Grundrissen und Schnitten. Einige Projekte würde man spontan dem Beton-„Brutalismus“ zuordnen wollen, doch wird hier wohl eine Ehrenrettung oder zumindest sachlich-nüchterne Beurteilung solchen Bauens angestrebt, übrigens auch mit Beispielen aus kleineren Revierstädten wie Dorsten und Marl.

Den „anderen“ Koeppen entdecken


Legendär sind die Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen (1906-1996 – „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“, „Der Tod in Rom“) und dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. Immer und immer wieder musste Koeppen den Verleger vertrösten und in andauernder Schreibkrise um Vorschüsse bitten. Doch den großen Roman, den sich die literarische Republik gerade von ihm erwartete, hat er nach den drei oben erwähnten Titeln gleichwohl nicht mehr hervorgebracht. Das heißt aber keineswegs, dass er gar nichts mehr geschrieben hätte.

Zwei weitere Bände der sehr verdienstvollen (von Hans-Ulrich Treichel herausgegebenen) 16bändigen Koeppen-Ausgabe bei Suhrkamp versammeln nun Romanfragmente und Feuilletons. Der Feuilleton-Band enthält Arbeiten von 1923 bis 1948, also nicht die späteren Zeitungsbeiträge, die Koeppen als bereits arrivierter Schriftsteller verfasst hat. Diese finden sich in anderen Bänden der Werkausgabe. Wie sich Koeppen zumal die 30er Jahre erschrieben hat, ist allerdings aufregend genug.

Bei den Romanfragmenten aus einer Zeitspanne von rund 60 Jahren (u. a. „Die Jawang-Gesellschaft“, „Ein Maskenball“, „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs“) handelt es sich um Projekte, die eine beabsichtigte Vollendung zumindest erahnen lassen, aber bislang weitgehend ungedruckt geblieben sind. Auch zahlreiche Notizen und Vorüberlegungen gehören hinzu. Mithin haben wir hier auch sorgsam rekonstruierte Werkstatt-Einblicke, wie es sich bei einem Autor von Koeppens Format gehört.

Die Texte beider Bände werden durch umfangreiche Anmerkungs-Apparate erschlossen. Es sind editorische Glücksfälle für eine fortgeschrittene Leserschaft.
Wolfgang Koeppen: Romanfragmente (Werke, Band 11, 695 Seiten, 58 Euro)
Wolfgang Koeppen: Feuilletons (Werke, Band 13, 721 Seiten, 58 Euro), beide im Suhrkamp Verlag.

Botho Strauß, Tag für Tag

 

 

 

 

 

 

 

„Wenn er es schon nicht mehr versteht, so sucht er es durch lückenlose Beschreibung zu bannen.“ Das ebenso hermetisch wie kostbar anmutende Zitat, eines unter vielen von ähnlicher Art, stammt von Botho Strauß, der vor wenigen Tagen (2. Dezember) 80 Jahre alt geworden ist. Im Vorfeld dieses Datums ist sein neues Buch „Das Schattengetuschel“ (Hanser, 230 Seiten, 26 Euro) erschienen. Die Texte des Bandes mäandern durch vielerlei Vorfälle und Zustände, Strauß beginnt mit einer Episode aus dem Leben August Strindbergs (Vater wartet schmerzlich vergebens auf seinen Sohn), blickt zurück aufs alte West-Berlin der 70er Jahre, kündet von Altern, Vergeblichkeit, Entkräftung.

Diese hochreflektierte, zuallermeist ungemein präzise Prosa, durchwirkt mit Partikeln des Theaters und der Mythologie, wird man vielleicht gar nicht in einem Zug durchlesen wollen, obwohl sie einen nicht so leicht loslässt. Denkbar wäre es, dass man das Buch nutzt wie ein Brevier, welches man regelmäßig Tag für Tag aufschlägt und in dosierter Form zu sich nimmt, um etwa die eine oder andere Losung (nicht: Lösung) zu finden. Es sind überwiegend kurze Passagen, ja Miniaturen, die sich zum Schluss aphoristisch verdichten, bis zur Grenze des Verstummens. In diesem Sinne noch ein bezeichnendes Zitat, das offenbar auf ungeahnte „Erleuchtung“ aus ist: „Es muß etwas geben jenseits von Irrationalismus und Intelligenz – ein drittes Geschlcht des Geistes, die Luziden. Aufklärung brachte nicht genug Licht“. Derlei Sätze werden wahrscheinlich wieder Ärger mit „woken“ Zeitgenossen hervorrufen; wenn die den konservativ gebliebenen, freilich hie und da geläutert erscheinenden Botho Strauß überhaupt noch zur Kenntnis nehmen wollen.

 

 




Stolz und Zuversicht: Gewichtiger Bildband „Ruhrgold“ feiert die Schätze des Reviers

Großer Auftritt im besprochenen Buch: Aral-Tankstelle an der Hauptverwaltung der Aral AG in Bochum, um 1958. (Foto: Aral AG)

Welch ein Trumm von einem Buch! Der wahrhaft aufwendig gestaltete Band „Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets“ feiert auf 700 farbig bebilderten Seiten im Kunstkatalog-Format nahezu alles, was das Revier zu bieten hat.

Dieser Wälzer liegt sehr gewichtig in den Händen – mit etwa 2708 Gram, also über 2,7 Kilo, wenn ich richtig gewogen habe. Entschieden zu schwer für ein schmuckes „Coffee Table Book“, das Tischlein könnte schier einknicken… Außerdem reicht die Ambition deutlich übers Dekorative hinaus. Dafür bürgt schon der Herausgeber, Prof. Ferdinand Ullrich, vormals langjähriger Direktor der Kunsthalle Recklinghausen, der auch als Fotograf einiges zu diesem Band beigesteuert hat.

Ein Standardwerk über die Region

„Ruhrgold“ ist jedenfalls ein repräsentatives, umfängliches Standardwerk geworden, das von nun an in jede vernünftige Revier-Bibliothek gehören sollte. Ferdinand Ullrich und der Wienand Verlag haben kundige Autoren für die Kapitel-Einleitungen gewonnen, darunter Johan Simons (Intendant des Bochumer Schauspielhauses), Norbert Lammert (kultursinniger CDU-Politiker), Neven Subotic (Ex-BVB-Abwehrspieler und Stiftungsgründer), Manuel Neukirchner (Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund), Prof. Theodor Grütter (Leiter des Ruhrmuseums, Essen) oder Hilmar Klute (Schriftsteller, Redakteur der Süddeutschen Zeitung). Zusätzlich hätte man sich wünschen können, dass auch noch der eine oder andere kritische Literat aus hiesigen Gefilden (Frauen inbegriffen) sich geäußert hätte. Aber das hätte vielleicht die feierliche Liturgie gestört. Schattenseiten des Reviers fristen hier lediglich ein – Schattendasein.

Landmarken und Entdeckungen

Wo soll man nur anfangen, wo aufhören? Das Motto könnte lauten: „Genug ist nie genug“. 350 Kunstwerke, Objekte und sonstige Phänomene aus nahezu allen Lebensbereichen des Reviers werden in 20 Kapiteln aufgeboten, mit rund 500 Illustrationen großzügig bebildert und in einem Anhang ausführlicher erläutert. Der (via RAG-Stiftung subventionierte) Preis von 60 Euro darf als vergleichsweise moderat gelten.

Natürlich werden markante Gebäude und Bauensembles wie etwa die Welterbe-Zeche Zollverein, die Villa Hügel (beide Essen), der Gasometer (Oberhausen) oder das Dortmunder U vorgezeigt. Die Museen, Theater, Konzertstätten und Unis der Gegend sind ebenso selbstverständlich vertreten, aber auch Verkehrsadern wie die B1 (streckenweise aka A 40 oder Ruhrschnellweg), Kanäle oder just die Flussläufe von Ruhr und Emscher. Auch als langjähriger Revierbewohner kann man hier noch Entdeckungen machen. Mir war beispielsweise die anheimelnde Siedlung Teutoburgia in Herne bislang kein Begriff. Asche auf mein Haupt. Auch der Hindu-Tempel in Hamm harrt noch einer näheren Erkundung. Und so weiter.

Objekte bis hin zur Aldi-Tüte

Dem Buchtitel entsprechend, gibt es hier auch veritable Goldschätze, namentlich die Goldene Madonna aus dem Essener Domschatz oder auch den „Cappenberger Kopf“. Nicht zuletzt werden prägende Persönlichkeiten der Region (z. B. Ostwall-Gründungsdirektorin Leonie Reygers, Jürgen von Manger, Tanja Schanzara, Uta Ranke-Heinemann, Hape Kerkeling, Christoph Schlingensief) gewürdigt. Und natürlich darf auch ein Exkurs zur ruhrdeutschen Mundart nicht fehlen. „Sprechende“ Objekte – vom Schrank im Stile des „Gelsenkirchener Barock“ über die prachtvolle Aral-Tankstelle von 1958 bis hin zur Aldi-Tüte – gehören gleichfalls zum Lieferumfang; ebenso einige wiederkehrende Ereignisse in der Spannweite zwischen Ruhrtriennale und Cranger Kirmes. Und natürlich hat auch die weltbekannte Dortmunder Südtribüne („gelbe Wand“) ihren gebührenden Auftritt – mit jener ebenfalls schon legendären Fotografie von Andreas Gursky.

Auch Großereignisse wie das „Stillleben“ (Vollsperrung des Ruhrschnellwegs über rund 60 Kilometer und Volksfest daselbst am 18. Juli 2010 – im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr) zieren den neuen Ruhrgold-Band. (Foto: picture alliance/ augenklick / firo Sportphoto)

Allenfalls zaghafte Kritik

Und wie fügt sich all das alles zueinander, welches Konzept steht dahinter? Nun, das allermeiste wirkt ziemlich „revierfromm“, es entspricht spürbar der fraglos positiven Sichtweise der RAG-Stiftung, die hinter dem monumentalen Buchprojekt steht. Und so ist immer wieder die Rede von Tradition, auf die man stolz sein könne und von zukunftsträchtiger Transformation zur „grünsten Industrieregion der Welt“, die bereits eingeleitet sei. Kritik ist nur sehr zaghaft vorhanden, eigentlich nur am kläglichen Zustand des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Diese Einsprüche dürften mehrheitsfähig sein.

Ansonsten ist es wie immer: Sobald man sich mit einer Materie (hier: Stadt) etwas besser auskennt, findet man auch Haare in der Suppe. Wohlan denn: Warum kommt eines der wohl wichtigsten Bauwerke der ganzen Region, die Dortmunder Westfalenhalle, überhaupt nicht vor? Und dann die etwas peinliche Sache mit dem Dortmunder Phoenixsee (Seite 357): Das Gewässer ist n i c h t, wie in der Bildzeile behauptet, auf dem Gelände eines früheren Bergwerks entstanden. Es war, wie wohl jedes Kind an den Gestaden der renaturierten Emscher weiß, ein Stahlwerk.

„Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets.“ (Das Ruhrgebiet in 500 Bildern aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). 700 Seiten mit lexikalischem Anhang sowie ausführlichem Orts- und Personenregister. Wienand Verlag, Köln. Gebundene Ausgabe 60 Euro, Luxus-Edition im Designschuber 180 Euro.

www.ruhrgold-das-buch.de

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P. S.: Schau’n wir spaßeshalber, wo die regionalpatriotische Publikation gefertigt worden ist: Verlag in Köln. Warum auch nicht? Dann aber: Gestaltung in Berlin. Graphik & Buchgestaltung in Freiburg. Druck in Italien (Vicenza). Waren diese Gewerke im Revier oder wenigstens in NRW nicht greifbar oder zu teuer?




Bücher, kurz vorgestellt: Hotel, Proletariat, Apokalypse

Ich leiste Abbitte. Hier sind noch drei Bücher, die wohl eine ausführlichere Besprechung verdient hätten. Doch fehlte mir wegen besonders misslicher Umstände schlicht und einfach die Zeit, die jetzt schon wieder in Richtung Herbst galoppiert. Drum seien die Bände hier immerhin kurz vorgestellt:

Eine veritable Wiederentdeckung ist der Roman von Maria Leitner: „Hotel Amerika“ (Reclam, 256 Seiten, 25 Euro). Das erstmals 1930 erschienene Buch zählt zur Spezies der urbanen Hotelromane, die in den bewegten 1920er Jahren aufblühte. Kein Geringerer als Siegfried Kracauer rezensierte das Buch damals für die legendäre Frankfurter Zeitung und arbeitete die Unterschiede zu thematisch ähnlich gelagerten Schöpfungen von Vicki Baum und Joseph Roth heraus.

Maria Leitner, die selbst in prekärer Stellung in einem New Yorker Hotel gearbeitet hatte, schildert die Verhältnisse von „ganz unten“, aus Sicht des irischen Wäschemädchens Shirley, konzentriert auf Ereignisse eines einzigen Tages. Machart und Stil muten noch heute prickelnd modern an.

Man staunt immer wieder, welche Schätze literarische Scouts aus fast vergessener Vergangenheit heben. In diesem Falle war es die Chemnitzerin Helga W. Schwarz, die sich beharrlich für eine Neuentdeckung eingesetzt hat, nachdem sie in der DDR wiederaufgelegte Bücher gelesen hatte. Eigentlich fast überflüssig zu sagen, dass die NS-Machthaber Maria Leitner ins Exil getrieben haben. Was hätte sie in einer besseren Welt noch bewirken können!

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Seitdem das proletarische Milieu weitgehend geschwunden ist, erscheinen – im Zeichen der biographischen Selbstvergewisserung – umso mehr Erzähltexte, die Bruchstücke jener Vergangenheit bewahren wollen. Hierher gehört, mit eigenen Akzenten, letztlich auch der von Martin Becker verfasste Roman mit dem schlichten Titel „Die Arbeiter“ (Luchterhand, 302 Seiten 22,70 Euro).

Der 1982 geborene, im sauerländischen Plettenberg aufgewachsene Autor erzählt die Geschichte einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet. Auch er weiß genau, wovon er schreibt: Sein Vater war Bergmann, seine Mutter Schneiderin. Er kennt also die einfachen Verhältnisse, in denen man sich für ein kleines bisschen Wohlstand abrackert. Die Rückschau hat denn auch so gar nichts von nostalgischem Beigeschmack.

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T. C. Boyle muss wirklich nicht mehr großartig gewürdigt werden, er zählt zu den Weltbestsellern von gehöriger Substanz. Mit seinen Short Stories in „I Walk Between the Raindrops“ (Hanser Verlag, 272 Seiten, 25 Euro – Übrigens eine seltsame Marotte im Verlagswesen: englische Titel für ins Deutsche übersetzte Bücher) entwirft er wieder einmal Szenarien des allmählichen, jedoch zunehmend rasanten, offenbar unaufhaltsamen Weltuntergangs. Wie er das fertigbringt, macht ihm das so leicht niemand nach. Wenn ein Schriftsteller auch technisch auf Höhe dieser Zeit ist, dann sicherlich er (na, gut: und ein paar wenige andere). Fragt sich nur, wie man nach solchen Büchern guten Gewissens und frohen Herzens weiterleben soll. Und doch: es geht. Höchstwahrscheinlich.

Ganz nebenbei: Auf dem Cover stört eigentlich nur der obligatorische Spruch des nahezu unvermeidlichen Denis Scheck: „Starke Geschichten für heftige Zeiten.“ Aha. Muss man solche Testimonials wirklich unbedingt auf die Titelseite heben?

 




Der Wetterpilz – ein deutsches Phänomen?

Dieser Tage fotografiertes Prachtexemplar der Gattung: der in den 1950er Jahren errichtete Wetterpilz auf dem Dortmunder Hauptfriedhof – Geo-Koordinaten laut Homepage www. wetterpilze.de: 51.515964, 7.546124. (Foto: Bernd Berke)

Wie nennen wir sie eigentlich, diese schützenden „Pilze“, die meist in Wäldern oder Parks aufragen und bei Wind und Wetter als Unterstand dienen? Nun, je nach Region wohl ganz unterschiedlich. Am häufigsten heißen sie Wetterpilze oder eben Schutzpilze, andernorts auch Rastpilz, Schirmdach, Parasol oder (im Süden der Republik) Schwammerl.

Als ich neulich mal wieder ein Gewächs aus der naturnahen Gattung sah, dachte ich, dass man darüber auch mal ein paar Zeilen schreiben sollte, denn es schien mir, als seien Wetterpilze ein typisch deutsches Phänomen. Wie es sich vergleichsweise mit der Schweiz und Österreich et cetera verhält, das müsste noch näher beleuchtet werden. Zusatzfrage: Darf man sich bei Blitz und Donner unter einen solchen Pilz begeben? Reichlich Stoff für Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten! Aber in welcher Fakultät? Vielleicht doch Architektur, schon wegen der vielfältigen Pilz-Dachformen.

Als Laie habe ich zunächst eine Suchmaschine angeworfen – zum Thema, das ich nahezu für mich allein zu haben glaubte. Doch weit gefehlt! Sehr schnell bin ich auf den Namen Klaus-Heinz Herda gestoßen. Der Kölner ist offenbar geradezu besessen von Wetterpilzen. Er betreibt dazu eine einschlägige Homepage, sammelt allüberall Fotografien und mehr oder weniger detaillierte Beschreibungen dieser Zufluchten. Mit Hilfe einer überschaubaren Community und mit Online-Diensten versucht er, im Waldesgrün verborgene Pilz-Plätze zu orten. Überdies ist er dankbar für jeden konkreten Hinweis. Ob demnächst auch KI zum Einsatz kommen wird? Man weiß es nicht.

Rund 1000 Exemplare in der ganzen Republik?

Aus all diesen Nachforschungen sind mit der Zeit veritable „Wetterpilz-Karten“ entstanden, die die Schutzschirme geographisch exakt zuordnen. Rund 300 Stück hatte Herda – einem Bericht der „Leipziger Zeitung“ zufolge – bereits im Jahre 2013 beisammen. Damals schätzte er den mutmaßlichen Gesamtbestand auf rund 1000 Exemplare in ganz Deutschland. 2013 war es auch, als die Wochenzeitung „Die Zeit“ über Herda und seine erstaunliche Wetterpilz-Expertise schrieb (Ausgabe No. 30 vom 18. Juli 2013 – auch im eingangs verknüpften Wikipedia-Artikel verlinkt). Am 31. Juli 2020 kam dann die Tageszeitung (TAZ) ausführlich auf Herda und seine Leidenschaft zurück.

Je mehr Wetterpilze gelistet wurden, desto deutlicher haben sich auch Ansätze zu einer Typologie ergeben: In und um Köln, so hat Herda festgestellt, bestehen die Pilze größtenteils aus Beton, im Ruhrgebiet (wen wundert’s?) haben sie häufig ein stählernes Gerüst, in anderen Landstrichen herrscht Holz vor. Lauter unscheinbare Sonderfälle der Architekturgeschichte. Apropos Historie: Die ersten Wetterpilze wurden in unseren Breiten gegen Ende des 18. Jahrhunderts errichtet, anfangs noch als Bestandteil der Gartenkunst und zum Vergnügen des Adels. Ferne Vorbilder waren Standschirme in der Südsee, wie sie z. B. Captain James Cook bei seinen Expeditionen gesehen hatte. Im 19. Jahrhundert wurden die Pilze in Preußen „Tahitisches Schirmdach“ genannt. Damit wäre Jauchs Millionenfrage beantwortet.

Stählerne „Gewächse“ im Ruhrgebiet

Längst hat Klaus Herda, mit Unterstützung weiterer Pilzfreunde, auch in anderen Ländern (meist eher vereinzelte) Standorte gefunden. Doch tatsächlich sind sie wohl in Deutschland in besonderer Dichte aufzuspüren, nicht zuletzt im Ruhrgebiet und hier wiederum speziell in Dortmund, beispielsweise im Westpark, im Fredenbaumpark, auf dem Hauptfriedhof, im Hoeschpark und im Rombergpark. Wenn ich es richtig gesehen habe, hat Klaus Herda in seinen Verzeichnissen bis heute (mindestens) eine Dortmunder Stelle noch nicht erfasst, nämlich jene im Niederhofener Wald. Was die Fülle anbelangt: Okay, in Berlin gibt es noch ein paar mehr. Kunststück – bei der Fläche. Auch der angeblich weltgrößte Wetterpilz soll in der Hauptstadt stehen, genauer: in Berlin-Frohnau. Wie denn überhaupt laut TAZ Berlin ein Hotspot der „Pilzkultur“ ist.

Ein Platz für hart gekochte Eier

Wetterpilze haben etwas anheimelnd Gestriges, ja Konservatives an sich. Oder sollte ihnen auch etwas Muffiges anhaften? Man denkt vielleicht an die 1950er oder frühen 1960er Jahre, an Wanderausflüge und Jugendherbergen traditionell bescheidenen Zuschnitts, an Picknick-Rast mit selbst geschmierten Butterbroten, Schnitzeln und gekochten Eiern, womöglich auch an heimatliche Zusammenschlüsse wie den SGV (Sauerländischer Gebirgsverein). Sonderlich „Cool“ klingt das alles nicht. Freilich dürften heute im Schatten der Pilze auch schon mal ganz andere Dinge als harte Eier konsumiert werden.

Schließlich noch ein Vorschlag zur Güte: Statt dass „woke“ Leute abschätzig über „Biodeutsche“ oder gar „Kartoffeln“ spotten, könnten sie meinethalben „Ihr Wetterpilze!“ sagen. Hört sich doch irgendwie netter an, oder?

Klaus Herdas Homepage: www.wetterpilze.de




Vom Dosenaufreißer bis zum Propeller – Schau zur Archäologie der Moderne in Herne

In Herne wie ein Kleinod präsentiert: Dosenring vom Woodstock-Festival, 15. bis 18. August 1969. (Leihgeber: The Museum at Bethel Woods, Bethel (USA) / Foto: Bernd Berke)

Was glitzert denn da in der Vitrine? Ein ziemlich kleines Objekt. Wahrscheinlich kostbar. Mal näher rangehen. Nanu? Das ist ja ein ringförmiger Dosenaufzieher der gewöhnlichsten Sorte (mutmaßlich für Coca oder Pepsi); noch dazu angerostet, aber präsentiert wie ein Kleinod oder gar Kronjuwel. Dazu muss man allerdings wissen, dass das alltägliche Stück zu den materiellen Hinterlassenschaften des legendären Woodstock-Festivals (1969) gehört und vielleicht Rückschlüsse auf das Ereignis zulässt, das eine ganze Generation mitgeprägt hat. Und wer zeigt so etwas?

Nun, wir befinden uns im LWL-Museum für Archäologie und Kultur in Herne. Das Haus zählt zu den Vorreitern einer neueren Entwicklung im Ausgrabungs-Wesen. Seit immerhin rund 15 Jahren befasst man sich hier mit Archäologie der Moderne, also nicht mehr ausschließlich mit ur- und frühgeschichtlichen oder antiken Funden, sondern auch mit Dingresten der letzten 200 Jahre.

Ergänzung zu schriftlichen Quellen

Aber ist denn nicht die herkömmliche Geschichtswissenschaft für die letzten Jahrhunderte zuständig? Doch, gewiss. Das wird auch so bleiben. Doch die Archäologen glauben, dass ihre Fundstücke noch einmal andere Befunde erschließen können, die den Umgang der Menschen mit der Dingwelt in den Blick nehmen und das sonstige, schriftlich und visuell reichlich angesammelte Wissen womöglich ergänzen. Georg Lunemann, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), bringt es auf eine Formel: „Auch Schrott, Schutt und Müll können eine Geschichte erzählen.“ Wenn man sie denn mit archäologischem Rüstzeug zu bergen und zu deuten versteht. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders spricht von einem buchstäblich „handfesten Beitrag“ zur Geschichte. Ob alle Historiker diese Hilfestellung zu schätzen wissen oder sie als Einmischung in ihre Belange begreifen? Abwarten.

Viele Exponate aus westfälischen Grabungen

Wie breit das Spektrum ist, das sich da zu eröffnen verspricht, zeigt nun jedenfalls die große, in Deutschland bislang beispiellose Überblicks-Ausstellung mit dem bezeichnenden Titel „Modern Times“. Rund 100 Funde und Fundkomplexe aus der Zeit zwischen 1800 und 1989 sind zu sehen, darunter etwa die Hälfte aus westfälischen Grabungskampagnen. Eine eigens erstellte App und Leih-Tablets im Museum sollen die Geschichte(n) hinter den Objekten so ausführlich darstellen, wie es mit musealen Texten und Schautafeln nun mal nicht geht. Die Ausstellung gliedert sich in sechs Stränge, deren Titel eher willkürlich und assoziativ klingen: Innovation, Gefühl, Zerstörung, Besonderes, Zweck und Erinnerung. Wahrscheinlich könnten die meisten Objekte in mehrere Kategorien eingeordnet werden. Sei’s drum.

Diese Champagnerflasche aus den 1840er Jahren hat es wirklich in sich. (Foto: Bernd Berke)

Champagner vom 1840er Jahrgang

Eines der erstaunlichsten Exponate ist jene noch gefüllte Champagnerflasche von etwa 1840. Gleich 168 solcher Flaschen wurden 2010 in der Ostsee aus einem alten Schiffswrack geborgen. 50 Meter unter dem Meeresspiegel herrschten Temperatur- und Druckverhältnisse, die das edle Getränk konserviert haben. Es soll sogar noch trinkbar sein, versichern Fachleute. Freilich: Der Zuckergehalt, so ergab eine Analyse, sei damals ungefähr zehnmal so hoch gewesen wie bei heutigem „Schampus“. Also doch eher nicht trinkbar, zumindest nicht genussreich für jetzige Geschmäcker. Dennoch ist der Fund wertvoll. Er gibt eben Auskunft über die damalige Wein- und Champagner-Herstellung, über den Stand des Luxus und der Moden sowie über mutmaßliche Verschiffungswege. War die Fracht gar für den russischen Zarenhof bestimmt? Lieferscheine lagen nicht mehr bei…

Was und wie sie wohl im Protestcamp zu Gorleben gegessen haben? Das lassen weitere Vitrinenstücke in der Herner Schau zur Archäologie der Moderne ahnen. (Foto: Bernd Berke)

Was vom Protestcamp übrig blieb

Ganz anderer Themenkreis: Da gibt es beispielsweise – Jahrzehnte später ausgegrabene – Funde vom einstigen Protestcamp „Republik Freies Wendland“ aus Gorleben. Auch hierzu sieht man einige Relikte als Vitrinenstücke. Fast schon zum Schmunzeln, wie sich die Überbleibsel den verschiedenen Seiten zuordnen lassen. Die jeweils kurzfristig dorthin beorderten Polizeikräfte nahmen in Gorleben offenkundig eilige Mahlzeiten von Papptellern ein, während die campierenden Demonstranten sich auf längere Dauer mitsamt Kochstellen eingerichtet hatten und beispielsweise Livio-Speiseöl in Blechdosen mit sich führten. Keine grundlegend neue Erkenntnis zur historischen Sachlage, aber sozusagen doch eine Art zusätzlicher, lebensnaher Farbtupfer.

Erschütternde Relikte aus der NS-Zeit

Bis hierher ging es um Exponate, die relativ harmlos anmuten. Doch man wird in Herne auch durch Fundstücke erschüttert, die von Stätten des NS-Terrors stammen, so etwa von Erschießungsplätzen zwischen Warstein und Meschede oder vom Kriegsgefangenenlager Stalag 326 bei Stukenbrock (Ostwestfalen), wo russische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg gepeinigt wurden. Diese schrecklichen Fundstätten werden zu verschiedenen Zeitpunkten Thema flankierender Studio-Ausstellungen sein. Besonders nahe geht einem der Anblick persönlicher Hinterlassenschaften, wie etwa Frauenschuhe oder bunte Perlen. Das Leben hätte schön sein können…

Britischer Kampfflugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg. (Foto: Bernd Berke)

Probleme mit tonnenschweren Fundstücken

Während übliche archäologische Funde aus weit zurück liegender Zeit meist sehr kleinteilig sind (Gefäß-Fragmente, Schmuckstücke, Knochenreste), hat es die Archäologie der Moderne öfter mit deutlich größeren und manchmal tonnenschweren Kalibern zu tun. So gehören zur Herner Schau beispielsweise eine gußeiserne Säule aus zwischenzeitlich verschütteten Beständen der Firma Krupp, ein kapitaler Heizungs-Ventilator aus dem zerstörten kaiserlichen Berliner Schloss (als Zeugnis zur Technikgeschichte) oder ein in Essen aufgefundener britischer Flugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg, der ein Einschussloch aufweist. Dieser Umstand lässt wiederum vermuten, dass das Objekt in Deutschland als vermeintlicher Abschuss-Triumph der Wehrmacht öffentlich vorgezeigt worden ist. LWL-Chefarchäologe Prof. Michael Rind betont, dass derlei Dinge ungeahnte Herausforderungen im Hinblick auf Konservierung, Restaurierung und Lagerung bedeuten. Zu fragen wäre wohl auch, ob wirklich alles aufgehoben werden muss oder ob hie und da eine präzise Dokumentation der Funde genügt.

Urzeit des Videospiels

Jetzt noch eine Spezialität für Videospiel-Fans: Aus der Urzeit des Genres, den frühen 1980er Jahren, stammt die Spielkassette für Konsolen, die tatsächlich später ausgegraben wurde. Die vom Kommerz-Flop tief ettäuschte Firma hatte das gesamte Material in der Wüste von New Mexico verscharren lassen, um möglichst nie wieder daran denken zu müssen. Es ist einigermaßen kurios, dass diese einst so unliebsame Erinnerung jetzt in Herne wiederbelebt wird.

Unterwegs zur „klimaneutralen“ Ausstellung

Die Ausstellung hat schließlich noch einen anderen Aspekt. Es soll erkundet werden, wie „nachhaltig und klimaneutral“ eine solche Schau zu bewerkstelligen ist – angefangen bei wiederverwertbaren Stellwänden, Katalog auf Recycling-Papier und so fort. Das zukunftsweisende Projekt wird gefördert – im Rahmen des Programms „Zero – klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte des Bundes“. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders möchte sämtliche Möglichkeiten zur ressourcenschonenden Gestaltung ausloten, stellt aber vorsichtshalber klar, dass das schonendste aller Verfahren nicht in Frage kommt: „Keine Ausstellungen mehr zu machen, das ist keine Option“.

„Modern Times“. Ausstellung zur Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts. LWL-Museum für Archäologie und Kultur, Herne, Europaplatz 1.

Ab 8. September 2023 bis zum 18. August 2024. Di / Mi / Fr 9-17, Do 9-19, Sa / So / Feiertage 11-18 Uhr. Tel.: 02323 / 94628-0. Katalog (632 Seiten) für 34,95 Euro im Museumsshop.

www.lwl-landesmuseum-herne.de
und
https://www.sonderausstellung-herne.lwl.org/de/

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Ähnlich gelagerte Schau im Essener Ruhr Museum

Archäologie der Moderne scheint wirklich im Schwange zu sein. Just in diesen Tagen wirbt das Essener Ruhr Museum auf Zollverein (Gelsenkirchener Straße 181) für seine offenbar ähnlich gelagerte Schau „Jüngste Zeiten. Archäologie der Moderne an Rhein und Ruhr“, die vom 25. September 2023 bis zum 7. April 2024 in der Kohlenwäsche zu sehen sein soll. Öffnungszeiten: Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog (304 Seiten) 29 Euro. www.ruhrmuseum.de

Herne und Essen geben Eintritts-Rabatte bei Vorlage eines Tickets der jeweils anderen Ausstellung.




Der Wolf ist da – und nun?

Auf dem roten Teppich: So taucht ein präparierter Wolf (rechts) im Naturmuseum auf – mit seinen „Nachfahren“, wie dem Deutschen Schäferhund (Mitte) und dem Bernhardiner. (Foto: Bernd Berke)

Anno 2000 tauchten erste Exemplare in der Lausitz (Grenze zu Polen) auf, 2018 wurde das erste Rudel in Nordrhein-Westfalen gesichtet – und im März 2022 hat der erste und bislang wohl einzige Wolf Dortmunder Stadtgebiet erreicht. Damit ist klar: „Der Wolf ist da, und wir müssen mit ihm leben.“ Das sagt Jan-Michael Ilger, Kurator am Dortmunder Naturmuseum, wo heute die Ausstellung „Wolfswelt – Die Rückkehr des Wolfes“ begonnen hat.

Die kleine Schau mit etwa 100 Exponaten besteht vor allem aus Infotafeln mit interaktiven Einsprengseln sowie aus Dioramen mit zahlreichen präpariertem Tieren, beileibe nicht nur Wölfen. Auch akustische Beispiele (Wolfsgeheul) oder Fühlproben (Wolfsfell) gehören dazu, Ausscheidungen hingegen aus guten Gründen nicht: „Die stinken wirklich bestialisch“, weiß Ilger. Statt dessen gibt’s zwei lauschige Boxen, in denen man sich Fabeln und dergleichen über Wölfe anhören kann – und schließlich einen Schaukasten mit mehr oder weniger herzigen  „Devotionalien“, in denen Wölfe vorkommen; vom Stofftier über Werbemittel (Wölfe auf T-Shirts oder Schnapsflaschen) bis zur Film-DVD „Der mit dem Wolf tanzt“. Auf Zetteln, die nach und nach in die Ausstellung integriert werden, können Besucherinnen und Besucher ihre Meinung zum Wolf kundtun.

Nun aber Fakten. Die Ausstellung bringt ja einige Erkenntnisse mit sich, die Jan-Michael Ilger beim Rundgang erläutert. Punkt für Punkt:

  • Anfangs (siehe oben) kamen die Wölfe vorwiegend aus dem Osten, später auch aus dem Alpenraum. Inzwischen gibt es regionale Schwerpunkte in NRW, wo besonders viele Wölfe leben: Teile der Eifel, des oberbergischen Landes, der Senne-Region und Schermbeck.
  • Das gängige Gerede von „einsamen Wolf“ als Alpha-Tier ist eine Mär. Wölfe leben in aller Regel in Familien-Verbänden, also in Rudeln. Dem Menschen gegenüber sind sie meistens ausgesprochen scheu.
  • Der im 19. Jahrhundert jagdlich nahezu ausgerottete Wolf hat – nicht erst seit dem „Rotkäppchen“-Märchen – ein „schlechtes Image“ als blutrünstige Bestie. Es entspricht ebenso wenig der Wirklichkeit wie jedwede Verklärung als herrlich wildes Naturwesen.
  • Ein einziger Abschuss kann die gesamte ausbalancierte Sozialstruktur eines Wolfsrudels zerstören. Zurück bleiben dann vielfach „Problemwölfe“. Hierzulande ist die Jagd auf Wölfe untersagt, in Schweden hingegen nicht.
  • Die Spuren einzelner Wölfe konnten nachverfolgt werden.Einer hat beispielsweise 1300 Kilometer zurückgelegt, um zu einem Rudel zu gelangen. Sprich: Er wollte eben, seiner Art gemäß, nicht allein leben. Ein wandernder Wolf kann auch schon mal 100 Kilometer am Tag zurücklegen.
  • Der Wolf ist und bleibt nun mal ein Raubtier. Bevorzugte Beute sind vor allem Rehe. Eine Wolfsmahlzeit wiegt rund 10 Kilogramm, ein ausgewachsenes Tier frisst durchschnittlich ein bis zwei Rehe in der Woche. Vor Wildschwein und Hirsch haben Wölfe deutlich größeren Respekt, sie trauen sich allenfalls im Rudel heran, nicht aber einzeln. Zur Not nimmt ein Wolf auch mit Kaninchen oder Mäusen vorlieb. Sozusagen „für den kleinen Hunger zwischendurch“.
  • Die leichteste Beute für Wölfe sind allemal Schafe, die nicht einmal flüchten, sondern gleichsam vor Angst erstarren. Selbst teure Einzäunungen mit Stromführung helfen nicht immer gegen den Eindringling Wolf. Der überspringt mitunter auch hohe Zäune oder buddelt sich unten drunter durch, um Schafe zu reißen.
  • Bei entsprechende Nachweisen (DNA-Probe) können betroffene Schafzüchter Entschädigung bei staatlichen Stellen geltend machen. Bei etwa 1,5 Millionen in Deutschland lebenden Schafen kommt es im Jahr zu rund 3000 „Übergriffen“ durch Wölfe. Fast immer verlaufen sie tödlich.
  • Treffen Wölfe auf ihre nächsten hiesigen Verwandten unter den wild lebenden Tieren, nämlich die deutlich kleineren Füchse, so halten beide Arten voneinander Abstand. Nennen wir es mit einem menschlichen Begriff „friedliche Koexistenz“.

Gewisse Unterschiede: Zwei Wolfsschädel (Mitte) mit Pendants vom Deutschen Schäferhund (links) und vom Deutsch Drahthaar (rechts). (Foto: Bernd Berke)

  • All unsere Hunde stammen letztlich vom Wolf ab, auch wenn man es vielen (teils fürchterlich überzüchteten) Rassen gar nicht mehr ansieht. Vor allem Schädelskelette machen dies in der Ausstellung deutlich. Da gibt es im Extremfall bedauernswerte Hundesorten, die manchmal kaum noch atmen können, weswegen sie eigens tierärztlich eingesetzte Atemröhrchen brauchen, um zu überleben…
  • Kommt es zur Begegnung zwischen Wolf und Hund, können sich Kämpfe daraus ergeben, manchmal regt sich aber auch beiderseits „sexuelles Interesse“. Daraus hervorgehende „Hybrid-Welpen“ haben, nirgendwo so recht zugehörig, von Anfang an kein leichtes Leben. Sie sind übrigens nicht mehr so scheu und zurückhaltend wie reine Wölfe. Eine Grundregel: Besteht die Möglichkeit, dass Wölfe in der Gegend unterwegs sind, sollten Hunde stets angeleint bleiben.
  • Und woran sterben Wölfe? Nur zum geringen Teil an Krankheit und Altersschwäche, jedoch zu rund drei Vierteln, weil sie auf unseren Straßen überfahren werden.

„Wolfswelt – Die Rückkehr des Wolfes“. 25. März 2023 bis 4. Februar 2024. Naturmuseum Dortmund, Münsterstraße 271. Geöffnet Di bis So 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 4 Euro, ermäßigt 2 €, unter 18 Jahren frei. Tel.: 0231 / 50-24 856.

www.dortmund.de/naturmuseum

P. S.: Die Ausstellung wurde (wie schon die Vorläufer-Schau „Tot wie ein Dodo“) am Naturhistorischen Museum in Mainz konzipiert und in Dortmund ergänzt.




Brücken dringend benötigt – „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban

Einst studierten Theresa und Stefan Germanistik in Münster, redeten ununterbrochen und tranken nächtelang, wollten die Welt retten oder doch wenigstens die deutsche Literatur. Sie waren wie unzertrennliche Geschwister und haben alles geteilt, nur nicht das Bett. Dann, von einem Tag auf den anderen, trennten sich ihre Wege.

Theresa brach Hals über Kopf ihr Studium ab, flüchtete wie von Furien gehetzt zurück nach Brandenburg, um nach dem Tod ihres Vaters den Bio-Milchhof zu retten und in eine ökologische Zukunft zu führen. Längst ist sie verheiratet und hat zwei Kinder, plagt sich mit einer Bürokratie, die keine Rücksicht nimmt auf den alltäglichen Überlebenskampf von Bauern in Zeiten des Klimawandels, wo die mickrige Ernte auf ausgelaugten Böden verdorrt oder von sintflutartigen Regenfällen weggeschwemmt wird.

Er wurde Starjournalist, sie Bäuerin

Solche schnöden analogen Probleme kennt Stefan nicht. Er hat in Hamburg als Journalist Karriere gemacht, lebt im coolen Schanzenviertel in einer schicken Altbauwohnung, ist stellvertretender Chefredakteur des „Boten“, der meinungsführenden Wochenzeitung der Republik. Während er im globalen Netz recherchiert, über MeToo, Black Lives Matter und Social-Justice-Bewegungen in einer gendergerechten Sprache schreibt, blickt er von seinem Schreibtisch aus über die Elbe hinüber zur Elbphilharmonie. Es scheint, als lebten Stefan und Theresa auf zwei verschiedenen Planeten, doch wohnen sie nur zwei Autostunden voneinander entfernt.

Abgründe tun sich auf zwischen dem Hashtag-Guru und Follower-Junkie Stefan, der den Tag gern mit einem guten Glas Rotwein ausklingen lässt, und der Bäuerin Theresa, die morgens um fünf mit Gummistiefeln im Stall steht und ihre Kühe versorgt, bevor sie ins Büro wankt und nachsieht, ob sie wieder auf Anordnung der Behörden ihre Weiden einzäunen und Äcker stilllegen muss, weil ein totes Wildschwein gefunden wurde, das mit einer Krankheit infiziert ist.

Lässt sich der Riss überhaupt noch kitten?

Lässt sich der Riss noch kitten, der zwischen den Welten dieser beiden Mittvierziger existiert und symbolisch steht für den Gegensatz sozialer Gruppen, deren Lebensweisen nicht kompatibel sind, die keine gemeinsame Sprache mehr haben?

Folgt man Juli Zeh und Simon Urban in ihrem Roman „Zwischen Welten“, sind die Brücken zwischen den sozialen Gruppen nur noch begehbar, wenn man sich aus besseren Tagen kennt und auf einen Fundus von alten Sympathien und (wackligen) Übereinkünften zurückgreifen kann. So wie Stefan und Theresa. Sie treffen sich zufällig nach 20 Jahren wieder und kommen sofort ins Gespräch, führen einen von alter Liebe und neuen Hoffnungen getragenen Streit. Per E-Mail und WhatsApp verhaken sie sich in einen Dauer-Diskurs, der nur unterbrochen wird, wenn Theresa ihren eifersüchtigen Ehemann beruhigen muss oder sich über agrarpolitischen Unsinn erregt, in Aktionen und Prostete versteigt und dabei in die Nähe von Wutbürgern und Rechtspopulisten gerät.

„Das interessiert nur die Akademiker-Blase“

Wenn Stefan seiner Freundin im Oberlehrer-Ton Fortschritt und Gerechtigkeit der digitalen Welt predigt, antwortet sie pampig: „Die Welt wird nicht gerechter, wenn man an der Sprache rumschraubt und alles auf der Meta-Ebene behandelt. Das interessiert nur die Akademikerblase. Außerhalb deiner Welt sind Menschen entsetzt, dass ihre Probleme ignoriert werden, während man Kunstwerke mit Sternchen benennt. Ich würde die Kunst in Ruhe lassen und lieber gucken, was farbige Menschen wirklich für Probleme haben.“ Seine Antwort: „,Farbig‘ sagt man nicht mehr, die Leute sind ja nicht blau oder grün.“

Juli Zeh, die in einem Brandenburger Dorf lebt, hat schon in ihrem Bestseller „Über Menschen“ eine Berlinerin auf der Flucht vor Corona aufs Land geschickt und dort mit den dumpfen Phrasen völkischer Menschenfischer konfrontiert. Weil sie das Gefühl hat, dass große Teile der Gesellschaft sich nicht mehr zu Wort melden, will Zeh ihnen eine Stimme geben. Sie hat sich während der Pandemie gegen die Einschränkung von Grundrechten und gegen eine Impfpflicht ausgesprochen, seit der Beginn der russischen Invasion auch gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und für Verhandlungen mit Putin.

Als soziale Bestandsaufnahme von Belang – nicht als Literatur

Auch in „Zwischen Welten“ lässt Juli Zeh kein Debatten-Thema aus, schreibt sich mit Simon Urban den Frust über Radikalisierung und Orientierungslosigkeit sozialer Gruppen von der Seele. Dass ein Hamburger Star-Journalist und eine brandenburgische Bäuerin monatelang digital über Populismus und Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg und Energiewende, Digital-Wahn und Gender-Fetischismus kommunizieren, ist eine abwegige, aber charmante Idee.

Irgendwann kommt auch die Erotik ins Spiel und der Wunsch, Versäumtes miteinander nachzuholen. Weil wir aber in einer Welt leben, in der das Wünschen nicht mehr hilft, werden die Träume von der Realität heimgesucht. Stefans E-Mails werden gehackt, seine intimen Bekenntnisse öffentlich und von der digitalen Gemeinde mit Hasstiraden verfolgt. Bei der Neuausrichtung seiner Zeitung zu einer diversen und gendergerechten „Bot*in“ wird er zur Marionette degradiert.

Auf der Titelseite des von Onliner*innen gekaperten Blattes prangt das Foto einer Frau, es zeigt, wie eine wütende Theresa dem Landwirtschaftsminister, der Agrar-Demonstranten mit den üblichen Floskeln abspeisen will, eine schallende Ohrfeige verpasst. Ein Bild für die Ewigkeit, denn das Internet vergisst nicht. Der Riss: nicht mehr zu kitten. Der gesellschaftliche Zusammenhalt: im freien Fall. Adieu, Demokratie!

Literarisch ist der Roman nicht von Belang, aber als sozialpsychologische und demokratie-theoretische Bestandsaufnahme von erschreckender Aktualität und bedrückender Relevanz.

Juli Zeh / Simon Urban: „Zwischen Welten“. Roman. Luchterhand, München 2023, 446 Seiten, 24 Euro.

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Infos:

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, lebt seit Jahren in einem Dorf in Brandenburg. Ihre Romane sind in 35 Sprachen übersetzt. „Über Menschen“ war das meistverkaufte belletristische Hardcover-Buch des Jahres 2021. Im Jahr 2018 erhielt die promovierte Juristin das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Am Literaturinstitut Leipzig war sie als Gast-Dozentin tätig. Einer ihrer Studenten: Simon Urban, geboren 1975 in Hagen/Westfalen, der mit dem Werbefilm „#heimkommen“ für Aufsehen sorgte und für seinen Roman „Wie alles begann und wer dabei umkam“ den Hamburger Literaturpreis erhielt. (FD)




Louis Klamroth und das hitzige Klima beim WDR

Louis Klamroth, seit 9. Januar 2023 Moderator bei „hart aber fair“. (Foto: © WDR/Thomas Kierok)

Dies vorangeschickt: Ich bin froh, dass es im Westen den WDR gibt und wir nicht nur von privaten Dudelsendern beschallt oder beflimmert werden. Jedoch war ich mit dieser Präferenz früher deutlich mehr im Reinen als jetzt, hat sich der Westdeutsche Rundfunk doch vielfach mit seinem Niveau abwärts anbequemt.

So bangt man denn auch zusehends (nicht nur) mit diesem öffentlich-rechtlichen Sender, dass er sich mit seinem Gebaren bitte nicht noch angreifbarer mache und damit allerlei Populisten auf den Plan rufe, die ihm am liebsten gleich den Geldhahn zudrehen wollen.

Der neueste Vorfall in dieser unguten Richtung dreht sich um die montägliche TV-Sendung „hart aber fair“, genauer: um Louis Klamroth (33), der die Talkrunde kürzlich als Nachfolger des langjährigen Moderators Frank Plasberg übernommen hat und (nebenbei bemerkt) bei seiner Premiere recht handzahm zu Werke gegangen ist.

Liiert mit der „Aktivistin“ Luisa Neubauer

Na und? Ist nicht dennoch alles in bester Ordnung? Nicht ganz. Klamroth hat offenbar in der Einstellungsphase verschwiegen, was wohl nur Insidern bekannt gewesen sein dürfte: Er ist mit der Klima-„Aktivistin“ Luisa Neubauer liiert. Da mag der Verdacht keimen, dass er – zumindest bei bestimmten Themen – in Interessenkonflikte gerät. Gut möglich, dass ihm das auch selbst bewusst gewesen ist, sonst hätte er ja rechtzeitig aktiv darauf hinweisen können. So aber hat er die öffentliche Bekanntgabe seiner beruflichen Veränderung erst einmal abgewartet und erst danach verraten, was eventuell gegen die Regeln des Senders verstößt.

Gewiss: Louis ist nicht Luisa, er hat seinen eigenen Kopf und sein eigenes journalistisches Ethos. Dennoch bleibt ein mulmiges Gefühl: Warum hat er nicht zeitig für Transparenz gesorgt? Er hätte damit etwaigen Widersachern den Wind aus den Segeln nehmen können. Oder er hätte den lukrativen Job vielleicht gar nicht erst bekommen…

Das Ganze schlägt jetzt hohe Wellen, wenn man einem Bericht der springerschen „Welt“ glauben darf. Der Rundfunkrat des Senders scheint demnach bereit zu sein, in seiner nächsten Sitzung am Dienstag (31. Januar) die WDR-Chefetage (Intendant Tom Buhrow, Programmdirektor Jörg Schönenborn) frontal zu attackieren. Ein Teil, wenn nicht eine Mehrheit des Aufsichtsgremiums moniert nicht nur die verspätete Bekanntgabe der Beziehung Klamroth/Neubauer, sondern auch und vor allem die Tatsache, dass Buhrow und Schönenborn trotz allem unverdrossen (oder auch stur) an Klamroth festhalten.

Wann die Regeln gelten – und wann nicht

Die Einlassung der WDR-Spitze mutet grotesk und rabulistisch an. Laut „Welt“ machen die Bosse geltend: „Klamroth sei schließlich erst nach seiner Vertragsunterzeichnung Mitarbeiter des WDR geworden – vorher hätten die Regeln für ihn nicht gegolten.“ Aber vielleicht just m i t der Vertragsunterzeichnung? Welch schönes Thema für juristische Debatten!

Ungeschickt auch der Umgang des WDR mit einer weiteren Entgleisung, die der Rundfunkrat ebenfalls als Thema aufrufen will. Dabei geht es laut „Welt“ um den Fall eines anderen WDR-Moderators, der in seinem Instagram-Kanal ein Video mit der Titelzeile „Die CDU ist unser Feind“ eingestellt hat. Dazu der WDR an die Adresse der „Welt“: Der Sender übernehme „keinerlei Verantwortung für die privaten Äußerungen von wem auch immer.“ Da lässt sich nur noch mit Loriot antworten: „Ach was“.

Bliebe noch zu klären, welches Thema Louis Klamroth jetzt in „hart aber fair“ aufgreifen möchte. Doch nicht etwa…? Oh doch! Für den morgigen Montag (21 Uhr) angekündigt: „Letzte Abfahrt: Wie verändert die Klimakrise Alltag und Leben?“ *

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  • Auf der Gästeliste des Klima-Talks am Montag, 30. Januar 2023 (ARD, 21 Uhr):
  • Gitta Connemann, CDU-Bundestagsabgeordnete; Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT)
  • Sven Plöger, Meteorologe und ARD-Wetterexperte
  • Konstantin Kuhle, FDP, stellv. Fraktionsvorsitzender
  • Aimée van Baalen, „Aktivistin“ und Sprecherin der „Letzten Generation“

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Kurzer Nachtrag am Ende der Sendung:

Der Wahrheit die Ehre: Louis Klamroth hat sich keine Blöße gegeben und beim Klima-Thema die Neutralität – so gut es ging – gewahrt. Die „Aktivistin“ Aimée van Baalen musste es sich unter seiner Leitung gefallen lassen, dass sich die Mehrheit der Diskussionsrunde entschieden gegen sie und ihre kruden Ideen von einem „Gesellschaftsrat“ stellte. Ein solcher Rat aus Experten und „normalen Bürger*innen“ soll nach ihrer Auffassung in Klimafragen entscheidend sein – an allen gewählten parlamentarischen Gremien vorbei. Wer soll denn eigentlich die Zusammensetzung eines derartigen „Gesellschaftsrates“ bestimmen?

Noch’n Nachtrag

Nun wird eine etwas andere Version aus dem Hut gezaubert. Klamroth habe den WDR Ende August 2022 „über seine Beziehung informiert, deutlich vor Abschluss des Vertrages.“ (Zitat aus dem „Focus“)  Der WDR hatte freilich schon Mitte August seine Entscheidung für Klamroth veröffentlicht, jedoch seien die Vertragsgespräche erst zum Ende des Jahres abgeschlossen worden, heißt es vom Sender. So ähnlich muss es sich wohl anhören, wenn jemand rumeiert.

 




Pläne im Museum Folkwang: Digitale Abenteuer, Ideen für Krisenzeiten

In der digitalen Welt: Rafaël Rozendaal „much better than this, 2006″, Multimedia-Installation, Times Square, New York City, 2015. (© Rafaël Rozendaal / Upstream Gallery, Amsterdam)

Das Jubiläumsjahr neigt sich dem Ende zu: Essens Museum Folkwang besteht seit 100 Jahren und hat den Anlass vielfältig begangen, u. a. mit der opulenten Kunstschau „Renoir, Monet, Gauguin“, aber auch mit etlichen Festivitäten und Aktionen im Stadtgebiet, worauf Folkwang-Direktor Peter Gorschlüter besonderen Wert legt – ebenso wie auf Nachhaltigkeit, die sich neuerdings in Photovoltaik auf den Flachdächern des Museums manifestiert.

Derart viel „Wumms“ (sagt man heute manchmal so) wird es 2023 wohl nicht geben können. Derweil erfordert es einige Phantasie, um sich Details zum einen oder anderen Projekt überhaupt vorzustellen.

Da wäre etwa eine Ausstellung des Niederländers Rafaël Rozendaal (21. April bis 20. August 2023), der in New York lebt und als Digital-Künstler von sich reden macht. Als eines der ersten Institute wagt sich das Museum Folkwang dabei aufs Terrain der „NFT“-Kunst, die sich aus der ihrerseits nicht leicht zu begreifenden Blockchain-Technologie herleitet und sich noch im Pionierstadium befindet.

Die Abkürzung NFT steht für „Non Fungible Token“ (ungefähr: „nicht austauschbare Wertmarke“) und bezeichnet digitale Dateien, denen vertragsähnliche Merkmale implementiert werden, so dass die entsprechenden Kunstwerke nicht frei im Netz schweben, sondern als Besitz existieren, der eindeutig zugeordnet werden kann. Einstweilen klingen die Pläne etwas kryptisch, so werden im Museum „Transit-Räume“ eingerichtet. Lassen wir uns überraschen, was sich hinter all dem verbirgt und wie es zu vermitteln ist. Thomas Seelig vom Folkwang-Leitungsteam (Spezialgebiet: fotografische Sammlung) findet jedenfalls, dass sich die Museen zur aufkommenden NFT-Kunst positionieren sollten, es betreffe ja auch die Zukunft ihrer Sammlungs-Tätigkeit. Wir werden sehen.

Henri Matisse: „Icare“ (Ikarus), Blatt 1 aus dem Portfolio „Jazz“ (1947), Druckgrafik, 42 x 65,5 cm (© Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Beinahe konventionell mutet demgegenüber eine Ausstellung an, die wiederum mit drei berühmten Künstlernamen umschrieben wird: „Chagall, Matisse, Miró – Made in Paris“. (1. September 2023 bis 7. Januar 2024). Aber was heißt in diesem Kontext schon konventionell? Diese und andere Künstler erprobten seit Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls neuartige Strategien, die ihrer Zeit voraus waren. Es geht um Mappenwerke, Editionen und Künstlerbücher, deren Urheber auf weite Verbreitung (Fernziel: „Kunst für alle“) abzielten. Im Vordergrund steht Druckgraphik, die u. a. durch Zeitschriften in hohen Auflagen verbreitet wurde. Herausragende Beispiele sind Henri Matisse mit seiner Scherenschnitt-Mappe „Jazz“ oder Marc Chagall mit einem Zyklus um die antiken Gestalten „Daphnis und Chloé“. In jenen Jahren wurden, zumal in Paris, immer mehr auf künstlerische Druckgraphik spezialisierte Werkstätten gegründet, die unternehmerisch arbeiteten und Gewinn anstrebten. Vereinzelt existieren sie bis heute. Auch dieser Aspekt soll ausführlich dargestellt werden.

Die vielleicht aufwendigste Ausstellung des nächsten Jahres erfordert wiederum Vorstellungsvermögen, sie heißt „Neue Gemeinschaften“ (ab 24. November 2023) und blickt zurück auf utopische Lebensentwürfe in den Künsten und sozialen Bewegungen der letzten 120 Jahre. Vielleicht sind ja Energien zu entdecken, die auch in der heutigen Krisenzeit Impulse geben können. Es erhebt sich also die gewaltige Frage, wie wir künftig leben wollen, ohne den Planeten weiter zu zerstören.

Der Reigen beginnt mit frühen Lebensreform-Ideen (Stichwort Kolonie Monte Verità) im erhofften Einklang mit der Natur. Ferner geht es um die kristalline Bauweise der Architektur-Gruppierung „Gläserne Kette“ in den 1920er Jahren, um die Hippie-Kultur der späten 1960er Jahre, um „Afro-Futurismus“ und um Überwindung des Menschen-Zeitalters („Anthropozän“). Ganz recht: Was all das zu bedeuten habe, wird sich – so oder so – wohl erst vollends in der Ausstellung zeigen können. Die Pläne klingen nach geistigem Abenteuer und nach tastender Suche.

Übrigens wird auch noch in diesem Jahr eine bemerkenswerte Ausstellung eröffnet: Am 2. Dezember beginnt im Museum Folkwang eine Retrospektive zu Helen Frankenthaler (1928-2011), die als eine Leitfigur der Farbfeldmalerei und des Abstrakten Expressionismus gilt.

Weitere Infos, auch zu Plänen der fotografischen Abteilung:
www.museum-folkwang.de

P. S.: Und wie wappnet sich das Museum gegen Attacken mit Kartoffelbrei und sonstigen Substanzen? Mit Taschenkontrollen – und mit weiteren Maßnahmen, die man nicht öffentlich ausposaunt. Außerdem, so heißt es, stehe man im vertrauensvollen Dialog mit Klima-„AktivistInnen“.




Surreale Ästhetik des Untergangs: Perttu Saksas Fotografien vom Raubbau in Afrika

Perttu Saksa ist ein vielfach mit Preisen ausgezeichneter finnischer Foto- und Video-Künstler. In seiner Kunst interessiert er sich vor allem für das schwierige Verhältnis von Mensch und Natur, für die Belastungen der Umwelt durch menschliches Handeln. Seine nicht immer leicht zu entschlüsselnden Arbeiten werden weltweit in Galerien und Museen gezeigt. Jetzt präsentiert er ein Buch mit dem geheimnisvollen Titel „Dark Atlas“. Es enthält eine Auswahl von Fotografien, die bei seinen Reisen durch Afrika entstanden sind.

Im Fokus: Westafrika, vor allem in Nigeria und Togo, Regionen, die wir allzu schnell und mit kolonialem Unterton mit dem Klischee-Begriff „Schwarz-Afrika“ belegen. Der Titel „Dark Atlas“ spielt mit diesen Klischee-Vorstellungen, gibt aber auch einen Hinweis auf Thema und Ästhetik der Foto-Serie, die nichts mit touristischer Neugier zu tun hat, kein fotografisches Tagebuch einer Reise ins „Herz der Finsternis“ ist, die Joseph Conrad einst beschrieb.

Fern von allen Klischees

Auf den Fotos gibt es keine afrikanische Folklore, keine Stammes-Rituale, keinen üppigen Urwald, keine Mega-Citys, kein hektisches Menschen-Gewusel. Nichts, was unser Bild von „Schwarz-Afrika“ ausmacht, wird auf den Fotos irgendwie umkreist, ironisch eingefangen oder sarkastisch entlarvt. Das geheimnisvolle Dunkle ist das „Schwarze Gold“, das Rohöl, das unter katastrophalen Bedingungen gefördert wird. Die Umwelt und alle traditionellen gesellschaftlichen Zusammenhänge werden zerstört.

Gepanschtes Benzin an jeder Straßenecke

Es geht um das Benzin, das von den Bohrfeldern der multinationalen Konzerne von den ausgebeuteten und zu bitterer Armut verdammten Menschen gestohlen wird, die nichts vom Reichtum an Bodenschätzen haben und zu Dieben werden, um überleben zu können. Sie panschen das Benzin zu einer Billig-Ware, verkaufen es an jeder Straßenecke. Das Billig-Benzin, das dort „Kpayo“ heißt und in Kanister, Glas-Behälter und Plastik-Flaschen abgefüllt wird, steht im Zentrum des fotografischen Interesses. „Kpayo“ eröffnet für der Fotografen Gedanken-Räume, um auszuloten, welche Konsequenzen der Raubbau und Hunger nach Energie hat: für Mensch und Natur.

An den Grenzen der Wahrnehmung

Um das Phänomen des geklauten Billig-Benzins und die Auswirkungen des Energie-Raubbaus zu bebildern, wird nicht die unmenschliche Arbeit auf den Bohrfeldern gezeigt, auch nicht die ölverseuchten Flüsse oder die im schwarzen Schlamm verendenden Tiere. Der reale Wahnsinn der Energie-Gewinnung und die spätkapitalistische Zerstörungswut ist genauso fern wie die gesellschaftlichen, politischen, religiösen Verwerfungen in Afrika. Stattdessen erschafft Perttu Saksa surreal anmutende Stillleben, groteske, symbolisch aufgeladene Impressionen, die oft wie abstrakte Malerei aussehen oder wie das Bühnenbild einer rätselhaften Theater-Inszenierung. Er sucht mit der Kamera Licht in der Dunkelheit, konzentriert sich auf Konturen, spielt mit den Grenzen der Wahrnehmung, mit trügerischen Erwartungen.

Keine Analyse, kein Ausweg

Aus dem Halbdunkel schälen sich Umrisse von öligen Kanistern, verkratzten Glas-Behältern und verbeulten Plastik-Flaschen heraus, halb gefüllt mit goldgelb schimmerndem Billig-Benzin. Manchmal geht die Kamera ganz nah heran, tastet kleine Details dieser bizarren Gegenstände ab, nimmt das Auge des Betrachters mit ins Innere der Benzin-Behälter, fast meint man, den Geruch von Benzin in der Nase zu haben und die ätzende Wirkung auf der eigenen Haut zu spüren. Der Fotograf arrangiert und sortiert die Behälter nach Größe, Form und Farbe, erfindet eine ambivalente Scheinwelt aus schön-scheußlichen Sinnes-Täuschungen: hier wird nichts analysiert, keine Problem benannt, kein Ausweg aus dem Kreislauf von Energie-Hunger und Natur-Zerstörung aufgezeigt, sondern es werden ästhetische Pforten der Wahrnehmung geöffnet, Assoziations-Felder, die jeder für sich selbst erkunden, erfahren, erleben, deuten, weiterdenken muss.

Ekel, Tod und Verwesung

Manchmal steht Saksa mit seiner Kamera in einer menschenleeren Landschaft, über einem grauen Fluss ballen sich bedrohliche Wolken zusammen, eine einsame, vom Wind zerzauste Palme behauptet sich gegen das Unwetter. Oder er blickt auf das tiefdunkle Wasser und die an einen einsamen Strand brandenden grünen Wellen des Meeres. Im verwilderten Gestrüpp im Hinterland entdeckt er verlassene Häuser, Fenster und Türen sind entfernt, Hinterlassenschaften einstigen Wohlstandes, jetzt sind überall nur noch modrige Wände, kaputte Fußböden. Einmal sucht sich eine Python-Schlange ihren Weg durch die Ruine, einmal liegt ein toter Vogel auf den Holzdielen, einmal der Schädel eines Tieres. Eine gefangene Eule hockt verängstigt in einem vergitterten Korb, auf einem Foto sieht man die leere Hülle einer verendeten Schildkröte, auf einem anderen abgeschlagene Köpfe von einem Hund und einem Leoparden, zu einem bizarren Kunstwerk übereinander gestapelt. Gewalt und Tod, Ekel und Verwesung liegen in der Luft, man spürt es, aber man sieht nicht, warum das geschieht, wer dafür verantwortlich ist, muss sich selbst einen Reim darauf machen, was das alles bedeuten und wie man das verändern könnte.

Die Apokalypse hat bereits stattgefunden

Kein Mensch, nirgends. Nur auf dem allerletzten Bild sieht man, wie jemand seine Finger unter den Strahl einer goldgelben Flüssigkeit hält, sich mit Billig-Benzin die Hände wäscht und versucht, die schwarzen Öl-Reste von wahrscheinlich irgendeiner illegalen Tätigkeit, dem Stehlen oder Panschen von Benzin zu tilgen. Ansonsten hat man das Gefühl, der Mensch habe es geschafft, sich selbst und die Umwelt komplett zu zerstören. Alles ist menschenleer, die Natur sich selbst überlassen, die Apokalypse hat bereits stattgefunden, jetzt geht es nur noch darum, in der Asche der Energie fressenden kaputten Welt herumzustochern und aus den Ruinen einer Umwelt und Mensch vernichtenden Industriegesellschaft etwas Neues und Besseres aufzubauen.

Der „Dark Atlas“ zeigt uns, in symbolischer Abstraktion und sinnlicher Ästhetik, was die Lust am eigenen Untergang für katastrophale Folgen hat und dass es höchste Zeit und ein drängendes Ziel ist, etwas dagegen zu unternehmen. In Afrika, in Europa. Überall.

Perttu Saksa: „Dark Atlas“. Kehrer Verlag, Heidelberg/Berlin 2022, 96 Seiten, 40 Farbabbildungen, 38 Euro.




Zwischen Seelentrost und Menschheitsdämmerung – sechs Bücher über beinahe alles

Hier ein Schwung neuerer Bücher, in aller Kürze vorgestellt. Es muss ja nicht immer ein „Riemen“ (sprich: eine ausufernde Rezension) sein. Auf geht’s:

Lebensgeschichten am Sorgentelefon

Mit dieser Idee lassen sich allerlei Themen und Charaktere recht elegant unter ein Roman-Dach bringen: Judith Kuckarts Roman „Café der Unsichtbaren“ (Dumont, 206 Seiten, 23 Euro) spielt in der Ausbildungsgruppe für ein Sorgentelefon. Da lernen wir beispielsweise eine Theologie-Studentin und eine Sammlerin von Gegenständen aus der DDR kennen, aber auch einen Mann vom Bau, eine Buchhalterin, einen Radioredakteur im Ruhestand – und eine 80-jährige, die als Ich-Erzählerin fungiert. Nicht ganz zu vergessen die Anruferinnen und Anrufer, die sich ans Sorgentelefon wenden. Mit anderen Worten: Der Roman versammelt etliche Biografien, Wirklichkeiten und Perspektiven, sorgsam arrangiert und entfaltet von der Autorin, die hierzulande schlichtweg zu den Besten gehört. Die Lektüre dürfte auch auf ungeahnte Zusammenhänge der eigenen Lebengeschichte verweisen, sofern Lesende es zu nutzen wissen. Nebenbei gesagt: Speziell in Dortmund erinnert man sich gern an die Zeit, in der Judith Kuckart hier die erste „Stadtbeschreiberin“ gewesen ist. Die Lektüre ihres Romans ist in dieser Hinsicht eine angenehme und bereichernde „Pflicht“.

Die Tiere schlagen zurück

Etwas dürr und eindimensional mutet hingegen die Idee an, die diesem Buch zugrunde liegt: Nadja Niemeyer „Gegenangriff. Ein Pamphlet“ (Diogenes, 172 Seiten, 18 Euro) verdient sich den gattungsbezeichnenden Untertitel redlich. Die Handlung ist in der Zukunft angesiedelt, sie setzt im Jahr 2034 ein. Die Dystopie (wie man derart finster wuchernde Phantasien zu nennen beliebt) geht davon aus, dass die Tierwelt der menschlichen Gattung endgültig überdrüssig geworden ist und den zerstörerischen Homo sapiens vom Erdball tilgen will. Der „Gegenangriff“ gelingt total, und die Tiere können danach endlich im naturgerechten Frieden leben. So einfach ist das also. Von Seite 47 bis 54 werden, Zeile für Zeile, lauter Spezies aufgezählt, die der Mensch ausgerottet hat. Auch sonst ähnelt der arg gedehnt wirkende Text zuweilen eher einem aktivistischen Manifest bzw. einer Chronik der Schrecklichkeiten. Geradezu genüsslich werden die finalen Leiden der Menschheit registriert, es rattert die Mechanik der Vernichtung. Ein zorniges Buch, in dem alles Elend der Welt aus einem Punkt kuriert wird. Die Autorin heißt in Wirklichkeit übrigens anders, sie hat ein Pseudonym gewählt, „um nicht an Debatten teilnehmen zu müssen“. Sagen Sie jetzt nichts.

Musiktheorie auf Gipfel-Niveau

Schwere, kaum auszuschöpfende Kost für musikalische „Normalverbraucher“, wahrscheinlich wertvolle Anregung für Spezialisten: Ludwig Wittgenstein behandelt in den „Betrachtungen zur Musik“ (Bibliothek Suhrkamp, 254 Seiten, 25 Euro) musiktheoretische und kompositorische Fragen auf Gipfel-Niveau. Wohl denen, die da in allen Punkten folgen können! Jedenfalls sollte man sich in den Gefilden der E-Musik bestens auskennen, auch sollte das Partituren-Lesen leicht von der Hand gehen. Die aus dem Nachlass zusammengestellten und nach Themen-Alphabet geordneten Texte (Stichworte z. B.: Gesang, Grammophon, Harmonik, Instrumente, Komponisten, Melodie, Stille, Takt, Thema) sind in Satz und Typographie aufwendig aufbereitet, damit man Wittgensteins Arbeitsweise möglichst gut nachvollziehen kann. Ein Buch, das erstmals in solcher Fülle und Breite einen besonderen Werkaspekt des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) erschließt. Die Fachwelt wird’s gewiss zu schätzen wissen.

Ein „Ossi“ in Gelsenkirchen

Der mittlerweile bei manchen nicht mehr so wohlgelittene Richard David Precht (in Sachen Corona und Ukraine nicht so recht im Bilde) erzählte einst seine Kindheit bei linken Eltern unter dem Titel „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“. Beim 1968 in Schwerin geborenen Gregor Sander taucht der russische Revolutionär abermals imaginär in Nordrhein-Westfalen auf, noch dazu mitten im Revier: „Lenin auf Schalke“ (Penguin Verlag, 188 Seiten, 20 Euro) heißt Sanders Roman. Auch so ein „Gegenangriff“, nein, bedeutend einlässlicher: eine Gegen-Beobachtung. Sonst erkühnt sich meist der Westen, den Osten zu schildern und zu deuten. Hier versucht also ein „Ossi“, sich in Gelsenkirchen, also weit im deutschen Westen, zurechtzufinden, was natürlich nicht ohne Komik abgehen kann. Sogar die legendäre „Zonen-Gabi“ feiert Urständ. Gelsenkirchen liegt in allen Wohlstands-Statistiken weit hinten, auch Schalke 04 ist (zum Zeitpunkt der Romanhandlung) zweitklassig. Der Westen im Zustand des Scheiterns. Alles fast so wie im Osten. Aber auch nur fast. Und doch: Gibt es da nicht gewisse Verbindungslinien? Ein Ruhrgebietsroman aus einer etwas anderen Perspektive. Das war doch mal fällig.

So nah am gelebten Moment

Zeit für die „Wiederentdeckung“ einer modernen Klassikerin: Clarice Lispector (1920-1977) wird mit 30 gesammelten Erzählungen unter dem Titel „Ich und Jimmy“ (Manesse, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby, 416 Seiten, 24 Euro) nachdrücklich in Erinnerung gerufen. Die gebürtige Ukrainerin, Tochter russisch-jüdischer Eltern, flüchtete mit ihrer Familie vor sowjetischen Pogromen über mehrere Stationen nach Brasilien. Ihre Geschichten bewegen sich ungemein nah am gelebten oder auch versäumten Augenblick. Aspekte des Frauenlebens in allen Altersphasen bilden den Themenkreis. Phänomenal etwa, wie Clarice Lispector quälend Unausgesprochenes im Raum stehen und wirken lässt. Eine der allerstärksten Storys heißt „Kostbarkeit“ und folgt auf Schritt und Tritt den täglichen Wegen einer 15-Jährigen, die sich in jeder Sekunde mühsam behaupten muss. Es ist, als werde man beim Lesen tief ins Innere ihrer Angst geführt. Eine Art Gegenstück ist die peinliche familiäre Versammlung zum 89. Geburtstag einer Altvorderen, die all die Nachgeborenen abgründig verachtet. Andere Texte künden von unbändigem Lebensdurst. Ob er jemals gestillt werden kann?

Atemberaubende Balance

Wenn ein Buch von Yasmina Reza erscheint, ist dies eigentlich schon ein „Selbstläufer“. Auch ihr Roman „Serge“ (Hanser, aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, 208 Seiten, 22 Euro) hat es schnell zur Spitze der Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Es gibt nur ganz wenige Autorinnen, die die Erinnerungs-Reise einer jüdischen Familie nach Auschwitz in solch einer atemberaubenden, nie und nimmer abstürzenden Balance zwischen Tragik und Komik halten können. Besonders Yasmina Rezas Dialogführung ist immer wieder bewundernswert. Auch im Hinblick auf neueste Ungeheuerlichkeiten bei gewissen Weltkunstschauen erweist sich dieser Roman als höchst wirksames Antidot. Dabei übt die Autorin sogar deutliche Kritik an Gedenkritualen zum Holocaust. Aber auf das „Wie“ kommt es an. Denn wir reden über Literatur, nicht über Polit-Gehampel.




Abbilder der Verhältnisse – im „Atlas des Unsichtbaren“

Sinnreiche Visualisierung komplexer Sachverhalte ist eine Kunst, auf die sich nicht viele verstehen. Im Netz geht neuerdings der Auftritt „Katapult“ steil, der auch verwickelte Dinge auf möglichst simple optische Umsetzungen „herunterbricht“ – mit wechselndem Geschick: Manches, aber längst nicht alles gelingt. In den „Atlas des Unsichtbaren“ sollte man sich hingegen einigermaßen vertiefen. „Auf einen Blick“ erlangt man hier nicht viel.

Die Autoren James Cheshire und Oliver Uberti versprechen laut deutschem Untertitel recht vollmundig „Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern“. Die Kapitelüberschriften („Woher wir kommen“, „Wer wir sind“, „Wie es uns geht“, „Was uns erwartet“) erweisen sich als wenig trennscharf und taugen nicht zur Sortierung. Also heran an die vielen Einzelheiten, die eben nicht in solche Schubladen passen.

Nach und nach zeigt sich, dass Kartographie und graphische Darstellungen weitaus mehr vermögen, als sich der Diercke-Schulatlas träumen ließ. Manches lässt sich veranschaulichen, was vorher undurchdringlich schien, verblüffende Ein- und Durchblicke werden möglich. Auch Statistiken und Tabellen sind kein leerer Wahn, wenn sie mit Verstand eingesetzt werden.

Da zeigt eine Schautafel ganz schlüssig, ob und wie sich die Gene über 14 Generationen hinweg (etwa seit 1560) noch vererben. Neue Klarheit verschaffen Karten zu den Strömen des Sklavenhandels oder über Walfänge seit 1761. Der Aufschlüsse sind viele: Migrations- und Pendlerrouten, Mobilfunkdaten oder eine Karte zur Lichtstärke in Städten und Regionen verdeutlichen soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge. Sie können als Ergänzung zu wortreich differenzierten Betrachtungen sehr brauchbar sein.

Häufig wird der globale Maßstab angelegt, bevorzugt aus angloamerikanischer Perspektive: In welchen US-Staaten kommt Lynchjustiz besonders häufig vor? Inwiefern lassen Gebäudedaten auf künftige Gentrifizierung schließen, so dass Prognosen dazu einen höheren Wahrscheinlichkeitsgrad haben? Wo leisten Frauen im Verhältnis zu Männern die meiste unbezahlte Arbeit (Indien) und wo die wenigste, aber immer noch deutlich über 50 Prozent (Schweden)? In welchen Ländern erleiden Frauen die meiste physische Gewalt?

Durch graphische Umsetzung werden auch die Muster der US-Bombardierungen im Vietnamkrieg gleichsam „transparenter“. Übrigens hat Ex-Präsident Bill Clinton die zugrunde liegenden Daten freigegeben. Freilich wirken solche fürchterlichen Sachverhalte in atlasgerechter Aufbereitung leicht zu harmlos. Auf diese Weise können eben nur bestimmte Dimensionen des Geschehens vermittelt werden. Dessen eingedenk, blättern wir weiter.

Das letzte Konvolut („Was uns erwartet“) handelt – man durfte gewiss damit rechnen – überwiegend vom bedrohlichen Klimawandel, so gibt es etwa Karten über weltweite Hitzewellen und Stürme oder zur Eis- und Gletscherschmelze. Auch erfährt man zum Beispiel, auf welchen Flugrouten künftig erheblich mehr Turbulenzen bevorstehen dürften. Hilfreich jene Sonnenlicht-Karte, die quasi jeden Quadratmeter eines bestimmten Gebiets im Hinblick auf Sonneneinstrahlung (Intensität, Dauer, zeitlicher Verlauf) definiert, so dass im Winter das Streusalz praktisch punktgenau verteilt werden kann und nichts verschwendet wird. Viele Flächen tauen eben auch rechtzeitig ohne Salz auf.

Ein Buch zum gründlichen Durchsehen, lehrreich, hie und da von echtem Nutzwert, dies aber von begrenzter Dauer. Denn solche Datenbestände und folglich die Karten altern leider ziemlich schnell.

James Cheshire / Oliver Uberti: „Atlas des Unsichtbaren. Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern.“ Aus dem Englischen von Marlene Fleißig. Hanser Verlag, 216 Seiten (Format 20 x 25,5 cm), 26 Euro.




Von Natur aus glücklich – „Katzen und der Sinn des Lebens“

Meiner Treu! Noch nie habe ich ein Buch gelesen, das dermaßen angefüllt ist mit Katzenlobpreisungen aller Art und Güte. Der britische Philosoph John Gray, Jahrgang 1948 und in olympischen Gefilden der Wissenschaften tätig (Oxford, Yale, London School of Economics), hat Dichtung und Geistesgeschichte auf katzenaffine Inhalte durchsucht und ist vielfach fündig geworden. Wir Menschen kommen in seinem Buch „Katzen und der Sinn des Lebens“ (Originaltitel: „Feline Philosophy“) weniger gut davon.

Einige Befunde, aus denen sich alles Weitere herleitet: Katzen sind offenbar prinzipiell zufrieden mit ihrem Leben, das Glück ist ihnen gleichsam angeboren, weil sie niemals an den Tod denken und nichts anderes sein wollen, als sie sind; weil sie schlicht und einfach ihrer Natur folgen und im Einklang mit den Instinkten leben, die ihnen nun mal gegeben sind. Nicht einmal Meister des Buddhismus oder Daoismus kommen ihnen an Gelassenheit auch nur annähernd gleich. Wer je eine Katze in ihren allfälligen Mußestunden länger beobachtet hat, wird dies kaum bezweifeln. Insofern führt das Buchcover in die Irre, auf dem eine grübelnde Katze dargestellt ist.

Gray zitiert Denker wie Pyrrhon von Elis und Michel de Montaigne (Seelenruhe als für den Menschen kaum dauerhaft erreichbares Lebensziel), er befragt Epikur und die Stoiker nach ihren Glücksvorstellungen, stellt uns die grundsätzliche Unruhe des Menschseins vor Augen, die Blaise Pascal im berühmten Diktum zusammenfasste, das Unglück der Gattung rühre daher, dass sie nicht ruhig in den Zimmern bleiben könne. Schlimmer noch: Der Mensch kann – nicht nur im Krieg – seine Menschlichkeit verlieren, die Katze bleibt jedoch immer eine Katze, mit allen Attributen.

Einbildung und Zerstreuung seien die flüchtigen Elemente, in denen die allermeisten Menschen sich bewegen. Auch die Philosophie, so Gray, weise letztlich keine Auswege aus unserer existenziellen Lage. Denken könne das Unglück nicht lindern, befand beispielsweise auch Samuel Johnson. Und weiter: Immerzu versuchten die Menschen, ihr Leben zur Geschichte zu machen, sich auf ein Ziel hin zu entwerfen. Daraus, aus der Angst vor dem Tod und aus der fortwährenden Sinnsuche entstehe ihr Leiden. Auch könne daraus Lebensfeindlichkeit nach Art eines Seneca erwachsen, der völlig ungebrochen den Selbstmord empfahl: „Es macht überhaupt nichts aus, an welcher Stelle Du aufhörst.“

Ganz anders die Katzen! Niemals käme es ihnen in den Sinn, für Ideen zu sterben. Wenn wir es nur vernehmen wollten, könnten sie uns Einblicke in ein anderes Sein geben, in ein Leben vor dem Sündenfall. Nun gut, das mag auf Tiere generell zutreffen, doch leben die wenigsten von uns mit einem Specht, Luchs oder Ameisenbär zusammen, viele hingegen mit Katzen, jenen Wesen also, die sich – im Gegensatz zu Hunden – niemandem unterordnen. Ihre Ethik (wenn man es denn so nennen will) sei – so paradox es klingen mag – eine des „selbstlosen Egoismus“. Sie haben kein „ungelebtes Leben“, nach dem sie sich in Sehnsucht verzehren könnten, auch werde ihre Seele nicht „vom Tod berührt“, den sie bejahend erwarteten, wenn sie sein Kommen fühlen. Woher John Gray das nur alles so genau wissen will? Sind es nicht auch wieder Zuschreibungen aus menschlicher Perspektive?

Auch grausame Details erspart uns der Autor nicht, so etwa die fürchterlichen Rituale von Katzenhassern früherer Jahrhunderte, die in Ausläufern beispielsweise bis zu René Descartes (Zitier-Hit: „Ich denke, also bin ich“) reichen, der fiese Experimente mit Katzen anstellte, um zu beweisen, dass sie keine richtigen Individuen seien. Weit gefehlt, ruft Gray aus, sie seien wahrscheinlich individueller als wir.

Der weit überwiegende Teil des Buches ist denn auch der Katzenverehrung und Katzenbewunderung gewidmet. Den alten Ägyptern galten diese Tiere als gottähnlich, ihnen wurden ganze Tempel gewidmet. Von Geschichte und Philosophie geht Gray sodann zur Literatur über und führt Texte vor allem von Autorinnen (Colette, Patricia Highsmith, Mary Gaitskill und Doris Lessing) auf, in denen Katzen den Menschen eindeutig überlegen sind. Den Katzen sei – bei allem Talent zur Ruhe – höchste Wachheit eigen, wenn es darauf ankommt, ihre Erfahrung sei intensiver als unsere, just weil sie ganz und gar sie selbst sind. Dagegen wir: so fragmentiert…

Wenn man das Buch nach der Lektüre sanft zuklappt, wird man versucht sein, sich vor der schnurrenden Spezies zu verneigen. Katzen machen uns vor, wie zu leben wäre. Doch wir können es nicht begreifen. Aber eins können wir auf jeden Fall tun: Unser Kater Freddy kriegt jetzt erst einmal eine Extraportion Futter!

John Gray: „Katzen und der Sinn des Lebens. Philosophische Betrachtungen“. Aus dem Englischen von Jens Hagestedt. Aufbau Verlag, 160 Seiten, 20 Euro.




Was uns im Museum blüht: Dortmund zeigt „Flowers!“

Ernst Ludwig Kirchner: „Stillleben mit Früchtekorb“, 1918/19, Öl auf Leinwand, 64 x 80,5 cm (Courtesy Galerie Henze & Ketterer & Triebold, Riehen/Basel – Foto: Courtesy Galerie Henze & Ketterer & Triebold, Riehen/Basel)

Wenn eine Ausstellung „Flowers!“ (nur echt mit dem Ausrufezeichen) heißt und stadtweit blumig plakatiert wird, dann könnten optischer Seelenbalsam, Harmonie und farbenprächtige Idyllen zu erwarten sein. Doch so bruchlos darf man das Thema natürlich (!) längst nicht mehr angehen. Also muss man sich jetzt beim Besuch im Dortmunder Museum Ostwall auch auf irritierende oder gar verstörende Momente gefasst machen.

Feministischer „Feldzug“: Frau zerschlägt mit Blumen-Nachbildung (Fackellilie) als „männlich“ gedachte Autoscheiben. – Momentaufnahme aus: Pipilotti Rist „Ever Is Over All“, 1997, 2-Kanal-Videoinstallation, 4:09 min (Zyklus Smash) bzw. 8:25 min (Zyklus Flower); Farbe. Sound © Anders Guggisberg & Pipilotti Rist, Maße variabel, Edition 1/3 + e. a. (Privatsammlung | © VG Bild Kunst, Bonn 2022, Foto: Ron Amstutz)

Die Schau mit rund 180 Arbeiten von 50 Künstlerinnen und Künstlern spürt der immensen Vielfalt des Blumenmotivs in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts nach – kreuz und quer durch die Stilrichtungen seit dem Expressionismus, zudem garniert mit etlichen prominenten Namen von Gabriele Münter, Max Beckmann und Max Ernst über Andy Warhol und David Hockney bis hin zu Gerhard Richter und Pipilotti Rist. Ja, die inspirierte und somit inspirierende Auswahl reicht bis in die unmittelbare Gegenwart, in der auch schon mal „Künstliche Intelligenz“ (KI) zur Genese ungeahnter floraler Erscheinungen eingesetzt wird. Wo soll das alles enden?

Einsatz „Künstlicher Intelligenz“: Hito Steyerl „Power Plants“, 2019, Mehrkanal-HD-Video, Farbe, Loop. Environment: Stahlgerüste, LED-Module, LED-Text-Module, zementbeschichtete MDF-Kästen, Kies (Courtesy die Künstlerin; Neuer Berliner Kunstverein; Andrew Kreps Gallery, New York; Esther Schipper, Berlin – © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 – Foto: Neuer Berliner Kunstverein / Jens Ziehe)

Gewiss: Die Ästhetik blüht hier stellenweise prächtig auf, doch stellen sich im Laufe des Rundgangs auch mancherlei ernsthafte und schwerwiegende Fragen, etwa nach dem Spannungsfeld zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit. Kurzum: eine Ausstellung zwischen Augen- und Gedankenlust.

Eine ausführliche Besprechung folgt demnächst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (www.westfalenspiegel.de) und später dann auch an dieser Stelle.

„Flowers!“ Blumen in der Kunst des 20. & 21. Jahrhunderts. Museum Ostwall im Dortmunder U, 6. Ebene, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. 30. April bis 25. September 2022. Öffnungszeiten Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So und feiertags 11-18 Uhr. Katalog 29,90 Euro.

Weitere Informationen:

www.dortmund.de/museumostwall
www.dortmunder-u.de




„Tot wie ein Dodo“ – Dortmunds Naturmuseum nimmt Ausrottung der Tierarten in den Blick

Schockierend konstruierte Szenerie mit einem Ranger, der nicht mehr verhindern konnte, dass dem Breitmaulnashorn die Hörner abgehackt worden sind… (Foto: Bernd Berke)

„Tot wie ein Dodo“ heißt, denkbar lakonisch, die neue Sonderausstellung im Dortmunder Naturmuseum. Die Benennung geht zurück auf die englische Redewendung „as dead as a dodo“, die mit Betonung auf Endgültigkeit ungefähr als „mausetot“ zu übersetzen wäre, was jedoch das grundfalsche Tier aufruft – ebenso wie der Internet-Sprachdienst Linguee, der sie mit „ausgestorben wie ein Dino“ übersetzt. Nix da Dino. Dodo!

Womit wir beim richtigen Dodo angelangt wären. Den hat es nämlich wirklich gegeben, nur ist er leider um das Jahr 1700 auf der Insel Mauritius ausgestorben – durch gewaltsame menschliche Einwirkung. Die flugunfähigen, mutmaßlich etwas tollpatschigen Vögel hatten keine Fressfeinde und waren daher so zutraulich, sich ohne Arg den Seefahrern zu nähern, die damals auf dem Weg nach Indien gern Zwischenhalt auf Mauritius machten. Hier nahmen sie Proviant auf und entdeckten auch das (wohl etwas zähe) Fleisch der Dodos für sich, um die es alsbald geschehen war. Den Rest gaben ihnen eingeschleppte Tiere wie Ratten, Schweine und Affen, die die Eier der Dodos fraßen. Nur noch wenige Skelette und karge Notizen künden von ihrem exemplarischen Erdendasein. Und jetzt gibt es den Dodo im Dortmunder Museumsshop als flauschiges Stofftier…

Weiteres Diorama in der Dortmunder Dodo-Ausstellung: Ein nicht allzu sympathischer Seemann (übrigens klischeegrecht mit Holzbein) hält feixend einen gerupften Vogel hoch, dessen noch lebender Artgenosse schaut zu. (Foto: Bernd Berke)

Ein Dodo-Diorama mit brutalem Seemann, der eines der getöteten Tiere gerupft hat, markiert den Eingangsbereich zur Dortmunder Ausstellung. Doch es geht längst nicht nur um diese Vögel, sondern um Tausende ausgestorbener und aussterbender Arten, deren Schicksal mit weiteren Dioramen, Vitrinen-Exponaten und Schautafeln vergegenwärtigt wird. Dabei geht es recht schaurig zu.

Mitleid mit der geschundenen Kreatur weckt etwa das akut bedrohte südliche Breitmaulnashorn, für dessen Hörner immense Beträge gezahlt werden und das daher zahllose Wilderer auf den Plan ruft. Hier sehen wir eine Szenerie mit blutig abgehackten Hörnern. Neben dem verendenden Tier hockt ein Ranger, der es eigentlich vor Wilderern hätte beschützen sollen. Doch seine Ausrüstung ist kläglich und der Schwarzmarkt-Preis eines einzigen Horns (pro Kilo 45.000 Dollar!) beträgt das eineinhalbfache seines Jahresgehalts, wie Julian Stromann (im Museum zuständig für Bildung und Vermittlung) ergänzend zu berichten weiß. So sind denn auch schon viele Ranger im Dienst erschossen worden.

Auf einer Bildtafel sind sogenannte „Endlinge“ versammelt, buchstäblich die Letzten ihrer jeweiligen Arten, darunter beispielsweise „Lonesome George“, mit dem die Geschichte einer Riesenschildkröten-Spezies aufgehört hat. Es folgt ein lebensgroßes, dramatisch zugespitztes Szenenbild mit dem gigantischen Laufvogel Riesenmoa, der einst auf Neuseeland gelebt hat und hier von einem Maori-Ureinwohner angegriffen wird.

Weitaus schlimmer aber wüteten die Angehörigen der kolonisierenden Völker und deren Pioniere: Seefahrer waren bereits die Hauptschuldigen am Aussterben der Dodos, sie hatten auch den pinguinartig aussehenden Riesenalk (ausgestorben durch brachiales Erwürgen der letzten Exemplare am 3. Juni 1844) und die Stellersche Seekuh auf dem Gewissen. Letztere Meerestiere waren so sozial, dass sie erlegten Artgenossen zur Hilfe eilten, so dass sie nicht mehr einzeln gejagt werden mussten, sondern gleich massenhaft getötet werden konnten.

Noch eine dramatisierende Ausstellungs-Inszenierung: Ein Seemann nähert sich in unguter Absicht den letzten Riesenalk-Exemplaren. (Foto: Bernd Berke)

Gruselig sodann eine Zusammenstellung von geschmuggelten touristischen Mitbringseln wie etwa Kroko-Täschchen oder gar Spielwürfeln aus Krokodilknochen. Höchst bedenklich zudem die in Asien verbreitete medizinische Praxis, die z. B. Haifischflossen, Seepferdchen-Pulver oder (angeblich potenzfördernde) Schlangenschnäpse verabreicht. Vor allem Tiger werden für heilkundliche Zwecke nahezu rundum ausgeweidet.

Ein Schaubild mit „Zeitschnecke“ veranschaulicht, dass menschliche Wesen den rund 4,6 Milliarden alten Planeten gleichsam erst in den letzten Sekunden bevölkert haben, wenn man das Erdalter auf ein einziges Jahr umrechnet. Der Mensch als in mancherlei Hinsicht verspätetetes Wesen: Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand in der Wissenschaft überhaupt ein Bewusstsein davon, dass es etliche ausgestorbene Tierarten gibt. Haben wir seither grundlegend dazugelernt? Eher im Gegenteil, was das Handeln und den schier schrankenlosen Konsum betrifft. Das Tempo der vom Menschen betriebenen Naturvernichtung hat sich ungemein beschleunigt und bedroht längst auch sein eigenes Dasein. Hier setzt die Ausstellung an, indem sie größere Zusammenhänge von Klimawandel, Vegetation und Nahrungsketten aufgreift. Und ja: Natürlich hat auch der Eisbär auf schmelzender Scholle dabei seinen traurigen Auftritt.

„Tot wie ein Dodo. Arten. Sterben. Gestern. Heute.“ Naturmuseum Dortmund, Münsterstraße 271. Vom 8. April bis 20. November 2022. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 4 Euro, ermäßigt 2 Euro, unter 18 Jahren frei. Zutritt derzeit nach 2G-Regelung, Änderungen während der langen Laufzeit möglich.

Gesponsert von der örtlichen Sparkasse, werden 160 kostenlose Schulklassen-Führungen angeboten.

Tel. für Buchungen und Infos: 0231 / 50-248 56.

Tickets online: www.naturmuseum-dortmund.de

 




Das Ende der Unendlichkeit: Erinnerungen an ein Buch, das die Welt verändert hat

Im Frühsommer vor 50 Jahren lag es in den Buchhandlungen: Ein blauer Umschlag, darauf lugt der Planet Erde zwischen den beiden Hälften eines aufgebrochenen Eis hervor. „Die Grenzen des Wachstums“ lautete der Titel; die Unterzeile verhieß epochale Erkenntnisse: Ein Bericht „zur Lage der Menschheit“! Kaum einer kannte den „Club of Rome“, noch unbekannter war der als Autor genannte, damals 30jährige Dennis Meadows.

Und doch hat dieses Buch Geschichte gemacht. Zwischen März und Juni 1972 erschien es in zwölf Sprachen mit rund 12 Millionen Exemplaren. Eine „Bombe im Taschenformat“ nannte die „Zeit“ die knapp 200 Seiten, vollgepackt mit hochkomplexen Berechnungen und Tabellen.

Seine Aussage: Wenn wir so weitermachen wie bisher, ist unser Lebensmodell bis zum Jahr 2100 am Ende. Die Modellrechnung, die der Amerikaner Meadows und sein Team vorlegten, ging von fünf Tendenzen mit globaler Wirkung aus, setzte sie in Bezug zueinander und untersuchte die gegenseitigen Rückkoppelungen:

„Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit führt dies zu einem ziemlich raschen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität.“

Das Fazit der Studie, die das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit Hilfe eines neuen Großcomputers im Auftrag des „Club of Rome“ erstellte, stieß auf kontroverse Reaktionen. „Unverantwortlicher Unfug“ hieß es im amerikanischen Magazin „Newsweek“. Der „Spiegel“ ordnete sie in die damals schon verbreiteten apokalyptischen Ängste ein und kritisierte eine „Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“. Mit entsprechender Häme wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder festgestellt, wie falsch die berechneten Zahlen für die Erschöpfung bestimmter Rohstoffe gewesen seien. Der „Club of Rome“ habe – so monierten Kritiker – auch die Rolle neuer Technologien unterschätzt, die den negativen Folgen des Wachstums entgegenwirken könnten. Es gab aber auch berechtigte Kritik, vor allem an der Vernachlässigung der sozialen und gesellschaftlichen Folgen eines eingeschränkten oder „Nullwachstums“.

Das Modell der Lilie im Gartenteich

Auch wenn sich kritische Einwände in einzelnen Fragen als zutreffend herausstellten: Das Grundproblem der „Grenzen des Wachstums“ bleibt bestehen. Die Gefahr exponentiellen Wachstums ist in Meadows Modell des Lilienteichs zutreffend beschrieben: Eine Lilie in einem Gartenteich wächst jeden Tag auf die doppelte Größe. Ihr Wachstum erscheint nicht besorgniserregend, denn auch wenn sie erst die Hälfte des Teichs bedeckt, scheint es noch genug Platz zu geben. Niemand denkt daran, sie zurückzuschneiden. Aber schon am nächsten Tag wächst die Lilie wieder um das Doppelte ihrer Größe, bedeckt den ganzen Teich und erstickt jedes Leben darin.

Die grundsätzliche Feststellung der Endlichkeit aller Ressourcen wird zum Teil bis heute nicht verstanden oder verdrängt. Die Unausweichlichkeit dieser Grenzen folgt aus physikalischen Gesetzen. Der Sozialethiker Wilhelm Dreier und der Physiker Reiner Kümmel haben damals in ihrem Forschungsschwerpunkt an der Universität Würzburg „Zur Zukunft der Menschheit“ die Thesen des „Club of Rome“ mit als erste in Deutschland aufgenommen und in ihrer Studie „Zukunft durch kontrolliertes Wachstum“ 1977 durch den Blick auf soziale und Bildungsprozesse ergänzt. Auch diese Ergebnisse wurden nicht verstanden oder – vor allem in konservativen und traditionell christlichen Kreisen – abgelehnt. Der vor 100 Jahren geborene CDU-Politiker Herbert Gruhl („Ein Planet wird geplündert“, 1975) ist ein Beispiel dafür, wie wenig Resonanz das neue ökologische Bewusstsein in seiner Partei fand, die er 1978 verließ.

Aktuelle Mahnung zu globalen Problemen

„Die Grenzen des Wachstums“ waren nicht, wie ihnen unterstellt wurde, eine Vorhersage apokalyptischen Schreckens. Sie waren ein Zustandsbericht zu einer Situation, die als veränderbar und beherrschbar eingeschätzt wurde – allerdings nur unter klar definierten Voraussetzungen: Dazu zählen eine radikale Energiewende weg von fossilen Brennstoffen, ein nachhaltige Landwirtschaft, der Abbau von Ungleichheit durch faire globale Steuersysteme, um zu vermeiden, dass die Reichsten der Erde mehr als 40 Prozent des Weltvermögens besitzen. Als nötig erachtet werden ferner enorme Investitionen in Bildung, Geschlechtergleichheit, Gesundheit und Familienplanung und neue Wachstumsmodelle für ärmere Länder.

Damals beflügelte das Buch die junge ökologische Bewegung in der Bundesrepublik; heute ist es nach wie vor eine aktuelle Mahnung, denn die globalen Probleme sind akuter, als wir es uns 1972 vorstellen konnten. Für mich persönlich waren „Die Grenzen des Wachstums“ ein wirklicher Augenöffner. Mein ökologisches Interesse war bereits durch die Lektüre von Rachel Carsons „Der stumme Frühling“ geweckt worden, hatte sich aber eher auf den klassischen Natur- und Tierschutz bezogen. Jetzt erweiterte es sich zu einem umfassenden ökologisch geprägten Nachdenken über die Entwicklung unserer Welt, die theologische, philosophische und politische Dimensionen mit einschloss und zum gesellschaftlichen Engagement für einen grundlegenden Wandel führte.

 

 




Der BVB verteilt alljährlich über 155.000 Plastikkarten – muss das denn sein?

Hiermit oute ich mich als Mitglied des BVB – und möchte mich gleich in eine schwarzgelbe Angelegenheit einmischen. Nein, es geht nicht um die sportliche Situation. Auch nicht um irgendwas mit Corona. Sondern? Um die Öko-Chose.

Ich weiß nicht, wie das bei anderen Clubs läuft. Beim BVB bekommt man jedenfalls alljährlich eine neue Mitgliedskarte – aus Plastik. Moment mal! Das hört sich jetzt nicht allzu nachhaltig an, oder? Und was man da an Geld sparen könnte, wenn man die Dinger nur alle paar Jahre austauschen würde! Material- und Personalkosten. Postgebühren. Hallo, Herr Watzke?! Geld sparen…

Jedes Jahr eine neue schwarzgelbe Mitgliedskarte… (Foto: BB)

Liegt die Wechselfreudigkeit etwa daran, dass es jetzt ein anderes Trikot-Design mit geändertem Sponsor gibt, so dass das Foto auf der Karte nicht mehr damit übereinstimmt und der neue Sponsor sich beklagen könnte? Keineswegs. Auf meinem nagelneuen Mitgliedsausweis für 2022 ist ein Pokalsieger-Jubelfoto von 2012 zu sehen, also aus glorreichen Kloppo-Zeiten – mit Spielern wie Lewandowski, Kagawa, Gündogan, Kehl und Weidenfeller, die damals die Bayern im furiosen Finale mit 5:2 abgefertigt haben. Sie trugen Trikots, die inzwischen längst nostalgisch wirken.

Mal ehrlich: Ich muss nicht immerzu durch die Mitgliedskarte daran erinnert werden, dass wir jetzt 2022 haben. Und es geht ja um richtige Mengen. Der BVB hat über 155.000 Mitglieder, also werden dieser Tage mal wieder entsprechend viele Plastikkarten ausgegeben. Den bedrohlichen Berg muss man sich einmal bildlich vorstellen. Die abgelaufenen Exemplare werden ja mutmaßlich weit überwiegend weggeworfen. Devotionaliensammler vielleicht ausgenommen.

Zwei Unterschiede weist die neue Karte im Vergleich zur alten auf, von einer geringfügig geänderten Schriftart mal abgesehen: Zum einen fehlt diesmal die Nummer der Ticket-Hotline (warum?), zum anderen ist eine Art Prüfziffer hinzugekommen. Apropos: Die Frage nach der Gültigkeit – z. B. wegen des Vorrangs beim Ticketkauf – muss sich doch anders lösen lassen, als durch eine immer und immer wieder ersetzte Karte; zum Beispiel durch einen informativen Magnetstreifen (selbstredend unter strengster Beachtung des Datenschutzes). Giro- oder Kreditkarten werden doch auch nicht jährlich ausgewechselt.

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P. S.: Das Beratungshonorar nach üblichen BVB-Sätzen bitte auf mein Konto.

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Nachtrag am 11. März 2023:

Nanu! Soeben (pünktlich zum Tag des Revierderbys) ist der Mitgliedsausweis für 2023 ff eingetroffen – mitsamt einer Mitteilung, die tatsächlich auf Nachhaltigkeit hinausläuft. Zitat:

„Als Beitrag zum Klima- und Umweltschutz hat dieser Mitgliedsausweis eine Gültigkeit von 09 Jahren, also in diesem Falle für die Jahre 2023 bis 2031. Damit können wir über die Jahre hinweg gerechnet mehr als eine Million Plastikkarten einsparen.“

Bravo! Geht doch! Und, wie gesagt: Das Honorar zu den üblichen Sätzen… 😉




Eine frühere Kirche als Backstube und Sauna? – Das gibt es nur bei „Urbane Künste Ruhr“

Hier soll tatsächlich einmal gebacken und sauniert werden: Innenraum der ehemaligen Kirche St. Bonifatius in Gelsenkirchen-Erle. (Foto: Heinrich Holtgreve)

Was unter dem Label „Urbane Künste Ruhr“ in manchen Ecken des Reviers passiert, darüber lässt sich ohne Anschauung offenbar nur vage reden. Das hat sich abermals bei der heutigen Jahrespressekonferenz zum vielfältigen Projektbündel gezeigt. Fünf Statements waren angesagt – übrigens ausnahmslos von Frauen. Da hieß es erst einmal: den Überblick gewinnen, den zur Gänze vielleicht gerade mal die Insiderinnen haben.

Es war die einleitende Rede von künstlerischen Positionen, bei denen es letztlich um die zentrale Frage gehe: „Wie wollen wir leben?“ Ach so. – Anschließend rauschte die künstlerische Leiterin Britta Peters rasant durch Bisheriges und Künftiges. Fotografische Impressionen sollten gehabte künstlerische „Interventionen“ unter dem Generaltitel „Ruhr Ding“ vergegenwärtigen – zu den Globalthemen „Territorien“ (2019) und „Klima“ (2021). Im Vorgriff wurde verraten, dass das Leitthema für 2023 „Schlaf“ laute. Darunter kann man sich einstweilen alles oder nichts vorstellen. Wird schon werden.

Denn beim wolkig Globalen darf es ja nicht bleiben, im Gegenteil. Alle künstlerischen Äußerungen sollen regional und lokal verankert sein, sollen sich an konkreten Orten des Ruhrgebiets beweisen – ob nun als Installationen, Performance-Darbietungen oder artverwandte Aktionen.

Im Laufe der letzten Jahre haben die Projekte eine Wanderung vollzogen, es begann in der nördlichen Emscherzone und hat sich über die Mitte des Reviers gen Süden bewegt. Im Prinzip bleibt keine Stadt ausgespart. Und was es da nicht alles gibt: den zusehends anwachsenden „Emscherkunstweg“; den „Wandersalon“ als – Zitat – „mobiles Diskursformat“ (Gespräche, Lesungen, Konzerte etc.); Residenzprogramme, mit denen Künstler*innen (bei „Urbane Künste Ruhr“ ist der gender-gerechte Glottisschlag die Regel) ins Revier geholt werden. Und so fort. Insgesamt stehen jährlich 3,7 Millionen Euro bereit, um das Revier künstlerisch zu durchdringen. Auch mit der Ruhrtriennale besteht eine Kooperation.

Monumental und doch anheimelnd alltagsnah

Gut und schön. Und was gibt es in diesem Jahr? Nun, im Mittelpunkt steht ein ziemlich monumentales und doch anheimelnd alltagsnah anmutendes Vorhaben der in Belgrad geborenen und in New York lebenden Künstlerin Irena Haiduk, die 2017 mit der Aktion „Spinal Discipline“ auf der Kasseler documenta für Aufsehen sorgte. Für „Urbane Künste Ruhr“ hat sie die Anfangsgründe eines Projekts skizziert, das womöglich eines Tages in Dauerhaftigkeit überführt werden kann. In der (1964 erbauten und nun eigens angemieteten) ehemaligen Kirche St. Bonifatius zu Gelsenkirchen-Erle will Irena Haiduk eine raumgreifende Situation schaffen, die die Tätigkeiten des Backens und des Saunierens verbindet; auf welche Weise, das soll sich erst noch zeigen. Denn mit der geplanten Eröffnung Anfang Juni 2022 beginnt die Sache erst so richtig. In etlichen Workshops und Begegnungen soll sich das Konzept konkretisieren und eventuell in eine feste Einrichtung münden. Der Titel „Healing Complex“ dürfte auf leibseelische Heilsamkeit durch Genuss hindeuten, auch eine soziale Komponente und die allüberall beschworene Nachhaltigkeit werden mitgedacht, so dass vielleicht gar die Abwärme des Backens für Sauna-Hitze sorgen könnte. Der Phantasie sind zunächst kaum Grenzen gesetzt, die Realisierung steht auf einem anderen Blatt. Idealerweise würden Kunst und Leben ineinander übergehen. Bevor wir es vergessen, sei nüchtern festgestellt: In der ehemaligen Kirche arbeitet bereits ein gewerblicher Bäckereibetrieb.

Und so ufert Kunst, teilweise an verschwiegenen Orten der postindustriellen Landschaft, zuweilen aber auch in den Zentren, nach und nach geradezu aus. Vieles bleibt, etwa in Form von Skulpturenparks, erhalten. Manches muss im Lauf der Zeit einer Revision unterzogen und restauriert oder verändert werden. Anderes existiert nur temporär und flüchtig. Das Revier, so lässt sich inzwischen sagen, wird allmählich mit einem Netz von Kunst überzogen, wird mit Kunst durchsetzt. Es gibt Schlimmeres.

Freilich hilft alles Gerede nichts: Statt sich verbal im Irgendwie und Irgendwann zu verlieren, müssen sich die Leute halt an die entsprechenden Orte begeben, vielleicht auch selbst zum imaginären Teil mancher Kunst-Werke werden. Ideen zur Tourenplanung und weitere Hinweise finden sich auf der Homepage der „Urbanen Künste Ruhr“.




Chinas Raubbau an der Natur – Fotografien von Lu Guang im Bergbau-Museum Bochum

Gespenstischer Anblick: Als Ersatz für Rinder und Schafe, die es dort immer weniger gibt, stellte die Bezirksregierung auf dem Weideland Horqin Tierplastiken auf. (Aufgenommen in Holingol, Innere Mongolei, April 2012 – Photograph © Gu Luang – Contact Press Images)

Das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum will sich jetzt und mittelfristig (vorerst „in der nächsten Dekade“) vermehrt ökologischen Themen widmen. Das kündigte Museumsleiter Prof. Stefan Brüggerhoff heute geradezu pflichtschuldigst an. Nah am waltenden Zeitgeist, griff er dabei auf Worte wie „Anthropozän“ (gegenwärtiges Zeitalter, in dem der Mensch die Erde gar zu gründlich verändert) und Nachhaltigkeit zurück. Da dürfte er richtig liegen.

Mit techniklastigen Darstellungen zur Geschichte des Kohleabbaus im Ruhrgebiet ist es also längst nicht mehr getan. Das Bochumer Ausstellungs-Institut, so Prof. Brüggerhoff weiter, sei schließlich nicht von ungefähr eines von bundesweit acht Leibniz-Forschungsmuseen (zuständig für Geo-Ressourcen), ziele mithin aufs Allgemeinere, wenn nicht aufs Globale. Da kommt die Ausstellung „Black Gold and China“ mit Fotografien des Chinesen Lu Guang gerade recht, der seit Jahrzehnten geradezu investigativ mit der Fotokamera verfolgt, wie Landschaften in seiner Heimat vor allem für den Kohleabbau zutiefst verwundet und verpestet werden. Das betrifft letztlich den ganzen Erdkreis, denn rund 50 Prozent der weltweiten Kohlegewinnung fallen in China an. Die Schadstoffe verbreiten sich grenzenlos.

Der Fotograf Lu Guang, im Mai 2006 in Peking. (© Fundang Sheng – Contact Press Images)

Rund 100 Farb- und Schwarzweißfotografien von Lu Guang (Jahrgang 1961) sind in Bochum ausgestellt, erstmals außerhalb von China. Kuratorin Sandra Badelt sagte, eine Ausstellung dieses Fotokünstlers habe ihr schon 2018 vorgeschwebt, als sie sich um die Stelle am Bergbau-Museum beworben hat. Folglich hat sie Kontakt zum späteren Ko-Kurator aufgenommen, dem US-Amerikaner Robert Pledge (Editorial Director bei Contact Press Images, New York/Paris), der just dabei war, ein Buch über Lu Guang herauszubringen. Sie konnten aus Zigtausend Bildern auswählen, die der Fotograf in den letzten 22 Jahren aufgenommen hat.

Manche Fotografien massenhaft rauchender Schlote kommen einem aus früheren Revier-Zeiten „irgendwie“ bekannt vor, doch hat das Desaster offenbar noch einmal ganz andere, ungleich gigantischere Dimensionen. Tatsächlich kann einen beim Anblick vieler Fotografien kaltes Grausen erfassen. Dass vor industrieller Kulisse keine echten, sondern nur noch künstliche Schafe stehen, bringt die rabiate Naturzerstörung auf einen bildlichen Begriff. Auch hierbei kann man sich ans Ruhrgebiet von (vor)gestern erinnert fühlen: Lu Guang zeigt hin und wieder von Schwerstarbeit ausgemergelte Bergarbeiter, die direkt mit ihrer Gesundheit bezahlen, während andere Menschen mittelbar von den Folgen des Raubbaus ereilt werden.

Ohne unken zu wollen, fragt man sich beklommen, ob Lu Guangs schonungsloser Blick auf die ökologischen Verhältnisse von offiziellen Stellen in China goutiert wird. Seine Fotografien zeugen nicht nur von technischer Könnerschaft und ästhetischem Vermögen, sondern wohl auch von Courage.

„Black Gold and China. Fotografien von Lu Guang“. Deutsches Bergbau-Museum, Bochum, Erweiterungsbau, Am Bergbaumuseum 28. Vom 10. Dezember 2021 bis zum 17. April 2022 (verlängert bis zum 24. April 2022). Geöffnet Di-So 9.30 bis 17.30 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 3 Euro. Katalog 40 Euro. Weitere Hinweise (auch zu den gültigen Corona-Regeln) auf der Homepage: 

bergbaumuseum.de

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P. S.: Wir würden in den Revierpassagen gern weitere Foto-Beispiele zeigen, sind aber in diesem Falle als Online-Medium rechtlich gehalten, nur ein einziges Bild plus Porträt des Fotografen zu veröffentlichen.

 




„Stonehenge“ in Herne: Der Mythos lebt – sogar in Styropor

Bis zu 7 Meter hoch und denkbar wuchtig: Nachbau des inneren Steinkreises von Stonehenge in Herne (Teilansicht). (Foto: Bernd Berke)

Betritt man den zentralen, hallenhohen Raum des LWL-Museums für Archäologie in Herne, so kommt man sich ziemlich klein vor. Ringsum ragen gigantische „Steine“ auf – just wie im berühmten südenglischen Stonehenge. Tatsächlich hat man den inneren Kreis des über 4000 Jahre alten Megalith-Monuments mit modernster Laserscan-Technologie vermessen und in Originalgröße nachgebaut.

Nun gut, die bis zu sieben Meter hohe Rekonstruktion mit 17 Repliken des inneren Steinkreises besteht aus Styropor, doch die Außenhaut (sanftes Berühren erlaubt!) soll sich ähnlich anfühlen wie jener Sandstein, aus dem das Vorbild besteht. Mehr noch: Während das englische Original an etlichen Stellen von Moos und Flechten bewachsen und überhaupt verwittert ist, sieht man Stonehenge in Herne gleichsam im frischen Zustand der Entstehungszeit, wie die Ausstellungs-Kuratorin Kerstin Schierhold erläutert. Mit etwas Phantasie ist es also vorstellbar, dass die Steinzeitmenschen soeben erst ihre Werkzeuge beiseite gelegt haben.

Doch natürlich verhält es sich anders. Der weltbekannte Steinkreis, etwa um 2500 v. Chr. (also bereits gegen Ende der Steinzeit) errichtet und bis um 1600 v.Chr. vor allem als Kultstätte und Versammlungsort genutzt, ist in Wahrheit das wandelbare Werk von Generationen und Jahrzehnten gewesen. Klar ist auch: Jeder noch so liebevoll gefertigte und raffiniert illuminierte Nachbau vermag zwar zu beeindrucken, besitzt aber bei weitem nicht die Aura des Originals.

Steinkolosse über viele Kilometer transportiert – aber wie?

„Stonehenge – Von Menschen und Landschaften“ heißt die in ihrem Zentrum gleichwohl imposante, an den Rändern ins Kleinteilige sich verästelnde Zeitreisen-Schau, die ziemlich genau ein Jahr lang in Herne zu sehen sein wird. Der Titel lässt es schon ahnen: Eine grundsätzliche Fragestellung lautet, wann und wie Menschen begonnen haben, die sie umgebende Landschaft willentlich und nachhaltig umzugestalten. Im Falle Stonehenge haben sie dabei jedenfalls keine Mühen gescheut und die ungeheuer schweren Sandsteine nach Kräften herbeigeschafft – selbst noch die gewichtigsten (bis zu 40 Tonnen wiegend) über rund 25 Kilometer hinweg, wie Gesteinsvergleiche belegen. Die kleineren, auch noch um die 4 Tonnen schweren Blausteine kamen sogar aus dem späteren Wales – rund 240 Kilometer weit entfernt.

Wie die Menschen die Transporte und noch dazu die Aufrichtung der Kolosse vollbracht haben, wird wohl nie restlos aufgeklärt werden. Man kann es heute höchstens durch Experimente und Mutmaßungen nachvollziehen. Womöglich wurden die Steine von ganzen „Hundertschaften“ mit Hilfe von Seilen und schlittenartigen Vorrichtungen sowie Gleitschienen bewegt und/oder auf runden Holzstämmen gerollt. Einmalig sind übrigens die passgenauen Zapfen- und Nutverbindungen, mit denen die Steine unverbrüchlich zusammengehalten wurden.

„Minimalinvasive“ Archäologie

Wie auch immer: Es war eine phänomenale Willens- und Kraftanstrengung der damaligen Menschen, die bereits einige Findigkeit, Intelligenz und handwerkliches Geschick besessen haben müssen. Kein Wunder, dass sich allerlei Mythen darum ranken. Und obwohl Wissenschaftler die eine oder andere Legende entzaubern, wird das große Ganze hoffentlich immer von Geheimnis umwoben bleiben.

Die Wissenschaft geht allerdings neue, verheißungsvolle Wege: Seit einigen Jahren ist es möglich, archäologische Forschungen auch ohne Grabungen zu bewerkstelligen, bei denen die Fundstücke zwangsläufig beschädigt werden. Mit geomagnetischen Radarmessungen, sozusagen „minimalinvasiv“, lassen sich Fundstellen sehr präzise und zerstörungsfrei aufspüren und virtuell „ausleuchten“. Europaweit führend ist auf diesem Gebiet das – Achtung, Bandwurmname! – Ludwig Boltzmann Institut für archäologische Prospektion und virtuelle Archäologie (LBI ArchPro) in Wien.

Stonehenge-Original, fotografiert vom LWL-Chefarchäologen Prof. Michael Rind. (LWL / Rind)

Nur zu gern kooperiert das Herner Museum mit dem LBI. Die Wiener Experten unter Leitung von Prof. Wolfgang Neubauer haben ein Gelände von rund 16 Quadratkilometern ausgelotet und konnten nachweisen, dass Stonehenge keine isolierte Kultstätte ist, sondern Bestandteil einer „rituellen Landschaft von gewaltigen Ausmaßen“. So wurden in Durrington Walls, knapp drei Kilometer vom Stonehenge-Steinkreis entfernt, die Relikte bislang unbekannter Bauwerke geortet. Dermaßen viele Terabytes an Daten hat man dazu gesammelt, dass die Auswertung noch Jahre dauern dürfte. Vielleicht kommt ja auch noch während der einjährigen Herner Ausstellungsdauer etwas Neues ans Licht.

Weit ausgreifende Ringe und Ovale von Gräben und Wällen dienten zumal als Begräbnisstätten, zunächst als Kollektivgräber, später (ab etwa 2200 v. Chr.) entstanden auch herausgehobene Einzelgräber, offenbar ein Zeichen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. Das ganze Stonehenge-Areal ist in der Jungsteinzeit vor allem eine Zone ritueller Praktiken, doch auch Versammlungsort für Handel und Tauschwirtschaft (man weiß von „Importen“ über Hunderte von Kilometern) sowie Verteidigungsanlage gewesen. Auch müssen die Menschen dort gemeinschaftlich gegessen, wenn nicht gar gefeiert haben. Reichlich vorgefundene Knochen verzehrter Tiere deuten darauf hin.

Vielfach digital ausgerichtete Präsentation

Das Museum gibt sich betont digital und breitet die Befunde mit ausgeklügelten Projektionen sowie an 25 Medienstationen virtuell aus, zudem werden (u. a. in Zusammenarbeit mit dem British Museum) Online-Führungen angeboten. Doch gibt es auf den 1000 qm Ausstellungsfläche auch einige Exponate in Vitrinen, beispielsweise Grabbeigaben, Werkzeuge, Tierknochen oder auch Gefäße der Glockenbecherkultur. Hier wird man nicht so sehr zum Staunen überwältigt, sondern darf sich auf Details konzentrieren. Doch auch dabei finden sich grandiose Einzelstücke, so etwa jener mit 140.000 winzigen Goldstiften verzierte Dolch aus der frühen Bronzezeit. Abermals ein Rätsel: Wie ist die Herstellung mit den damaligen Mitteln möglich gewesen?

Der Rundgang führt zurück in ein Zeitalter, in dem nomadisch lebende Menschen Zuwanderern vom kontinentalen Festland begegnet sind, die sich um 4000 v. Chr. ganz allmählich zur sesshaften bäuerlichen Gesellschaft zusammengefunden haben – die sogenannte neolithische Revolution. Das Stonehenge-Gebiet dürfte bereits seit etwa 8500 v. Chr. ein Anziehungspunkt für Jäger und Sammler gewesen sein, weil hier Quellen sprudelten, die auch im Winter nicht zufroren und daher nahrhaftes Getier anlockten. Dort haben sich auch rare Rotalgen gebildet, die aufgrund von biochemischen Reaktionen pink schimmerten und eine geradezu magische Wirkung ausgeübt haben dürften.

Vergleiche mit Westfalen und dem Ruhrgebiet

Recht kühn und eher aus regionaler Pflichtschuldigkeit zu erklären sind die Bögen, die das Museum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zu westfälischen Steingräbern schlägt. Vergleiche mit bretonischen Formationen lägen vermutlich näher. Mal waren die Vor-Vorläufer der Westfalen mit speziellen Errungenschaften früher an der Reihe als die Ur-Ur-Engländer, mal später. Nirgendwo in unseren Breiten hat es freilich ein Monument gegeben, das Stonehenge auch nur annähernd vergleichbar wäre. Ein Weltwunder und Weltkulturerbe sondergleichen. Etwa eineinhalb Millionen Touristen strömen jährlich dorthin, auch seltsam anmutende Druiden-Feiern finden dort gelegentlich statt, vor allem zu den Sonnenwend-Daten. Schon an normalen Tagen lassen Autostaus im weiten südenglischen Vorfeld ahnen, dass es hier etwas Besonderes geben muss… Apropos: Die Ausstellung schließt mit ein paar Kuriosa, darunter einer putzigen Stonehenge-Parodie aus „versteinerten Colaflaschen“ oder dem Hinweis auf eine aufblasbare Stonehenge-Hüpfburg. Was es nicht alles gibt.

Geradezu tollkühn muten schließlich die Vergleiche mit dem Ruhrgebiet und Landmarken wie der Halde Hoheward an, wo „der Mensch“ – aus ganz anderen Motiven – ja auch folgenreich in die Landschaft eingegriffen hat. Auch dies hatten die Ausstellungsmacherinnen im Sinn. Sollte demnach die Errichtung von Stonehenge ein frühzeitlicher Sündenfall gewesen sein, der Jahrtausende später ins industriell Monströse mündete? Oder anders herum: Wird man Teile des Reviers dereinst als rätselhaft magische Stätten bewundern?

„Stonehenge – Von Menschen und Landschaften“. 23. September 2021 bis 25. September 2022. LWL-Museum für Archäologie (Westfälisches Landesmuseum), Herne, Europaplatz 1. Tel.: 02323 / 94628-0 

Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr. Eintritt 7 € (ermäßigt 3,50 €), Katalog 34,95 €.

www.lwl-landesmuseum-herne.de

www.stonehenge-ausstellung.lwl.org

 

 




Zwischen Pfandflaschen, Wildpinklern und Chronotopos: „Die Raststätte. Eine Liebeserklärung“

Rund 450 Autobahn-Raststätten gibt es in Deutschland. Rund eine halbe Milliarde Mal pro Jahr machen Menschen dort Halt, meistens kurz und flüchtig: zwecks Tanken, Toilette und Imbiss. Ein solch allgegenwärtiges Alltags-Phänomen verdient es zweifellos, in Buchform dargestellt zu werden. Erst recht, wenn es mit Sinn und Verstand geschieht.

Florian Werner war gut beraten, nicht landauf landab möglichst viele Raststätten abzuklappern, sondern sich fast gänzlich auf eine einzige zu konzentrieren: Garbsen Nord bei Hannover. Dennoch hat er einen weiten Themenkreis ausgeschritten, um nicht zu sagen: ein Panorama entworfen. So skizziert er zunächst die faschistisch geprägte (Vor)-Geschichte der Raststätten zur Mitte der 1930er Jahre (allererste Einrichtung: Nähe Chiemsee, nach Bauernhof-Vorbild) bis hin zum Niedergang in den 1970ern – Stichwort „Ölkrise“ – und zur späteren Privatisierung im wiedervereinigten Land, was einen rückblickenden Exkurs zum DDR-Pendant Mitropa mit einschließt. Architektur und Stilfragen kommen wie von selbst hinzu. Die sozusagen wunderbar trostlosen Fotografien von Christian Werner dokumentieren es ebenso beiläufig wie eindringlich.

Produktives Herumlungern

Vor diesem Hintergrund schickt sich Florian Werner an, sich in Garbsen Nord einzumieten und dort für einige Zeit gepflegt „herumzulungern“, wie er es selbst nennt. Eine solch lässige Haltung fördert jedenfalls aufschlussreiche Beobachtungen am Rande zutage. Nach und nach, ganz ohne Hast, zieht der Autor dabei kompetente Auskunftgeber zu Rate: Der Raststätten-Pächter (schon in dritter Generation) kann jede Menge aus dem Metier erzählen, auch das Gästebuch spricht Bände – u. a. mit Einträgen von Herbert Wehner, Udo Jürgens, Uwe Seeler und Alfred Biolek, wobei Letzterer in offenbar beschwingter Laune die Kulinarik dieses Rasthofs zu würdigen weiß – und das als TV-berühmter Kochlöffelschwinger vor dem Herrn. In aller Regel, wir wissen’s, kann man Rasthöfen auf diesem Gebiet jedoch keine höheren Ambitionen bescheinigen.

Dass man mit dem Chef des Ganzen spricht, ist selbstverständlich. Doch Florian Werner befragt ebenso intensiv den verarmten Flaschensammler, der dort die Müllcontainer nach Pfandgut durchsucht. Er trifft sich mit dem Politiker Victor Perli (Die Linke), der seit vielen Jahren unermüdlich das fragwürdige Monopol der Tank & Rast AG samt Bewirtschaftung der Sanifair-Toiletten kritisiert und vehement zur Verstaatlichung rät. Der Leiter der nächstgelegenen Autobahn-Polizweiwache, mit 18 Leuten für 2 mal 180 Autobahn-Kilometer (beide Fahrtrichtungen) zuständig, berichtet sodann aus seiner Perspektive und stellt beispielsweise fest, dass es in diesem Umfeld zwar etliche üble Verkehrsrowdys, aber – anders, als das Klischee es will – kaum Sexualdelikte gebe.

Besonderes Biotop mit 260 Pflanzenarten

Den wohl erstaunlichsten Auftritt aber hat ein „Extrem-Botaniker“, der in dieser vermeintlich so öden und ökologisch toten Zone etwa 260 (!) gedeihende Pflanzenarten identifiziert hat, die allesamt beim Namen genannt werden. Übrigens düngen notorische Wildpinkler das eine oder andere Gewächs. Allerdings sagt der von seinem Fachgebiet besessene Experte auch voraus, dass sich der Klimawandel just hier noch rascher und radikaler zeigen werde als andernorts. In Garbsen Nord könne man schon vorab sehen, worauf es mit weiten Teilen der gesamten deutschen Landschaft hinausläuft.

Doch halt! Da fehlt doch noch wer? Richtig: Als Florian Werner fast schon aufgeben will, einen auskunftsbereiten Fernfahrer aufzutreiben, findet er doch noch einen. Die ehedem als „Kapitäne der Straße“ idealisierte Berufsgruppe besteht, so sagt auch David, der für eine Dortmunder Spedition fährt, heute zu 90 Prozent aus „armen Schweinen“ osteuropäischer Herkunft, die unter skandalösen Bedingungen für Dumpinglöhne schuften. David selbst aber bekennt, seinen Beruf zu lieben. Ja, er sagt lieben.

Autobahn als intellektuelles Gelände

Es ist wie bei so vielen, ja eigentlich bei allen Themen: Sobald jemand näher hinsieht und sich eingehend befasst, erschließt sich ein vordem ungeahntes weites Feld – und (frei nach Goethe): wo man’s packt, da ist es interessant. Schließlich münden all die kleinen und größeren Befunde in Überlegungen „zu einer Philosophie der Raststätte“, womit denn Begriffe wie Telos, Chronotopos, linearer Zeitstrahl und sonstiges Vokabular ins Spiel kommen. In der Bibliographie des Bandes stehen die Namen von (einst) prägenden Schwerdenkern wie Michail M. Bachtin, Michel Foucault und Paul Virilio. Womit die Raststätte endgültig auch zum intellektuellen Gelände geworden wäre.

Doch keine Schwellenangst! Die Bildungsattitüde kommt selbstironisch daher. Florian Werner weiß seinen Stoff nicht nur gedanklich zu durchdringen, sondern durchweg unterhaltsam aufzubereiten. Und er selbst war wiederum dermaßen durchdrungen von seinem Thema, dass er sich später daheim in Berlin den lang vermissten Kick geben musste – in der nostalgischen Avus-Raststätte.

Florian Werner: „Die Raststätte. Eine Liebeserklärung“. Hanser Berlin. 160 Seiten. 22 Euro.

 




„Das Monster von Minden“ und andere Schwergewichte: Kurzfilme auf den Spuren der westfälischen Dinos

Frisch lackiert: Modell des Wiehenvenators (Screenshot aus dem besprochenen Film / © LWL)

Wenn man den Zahnfund aufs ganze Tier hochrechnet, kommt man auf eine ungefähre Körperlänge von 9 Metern. Wachstumsringe in seinen Knochen deuten darauf hin, dass dieses imposante Wesen noch nicht einmal seine volle Größe erreicht hatte. Donnerwetter!

Wir sprechen vom „Wiehenvenator“, der im Erdzeitalter Jura (liegt etwa 200 bis 145 Millionen Jahre zurück) im heutigen Westfalen lebte. Wieso dieser Name? „Wiehen“, weil die Fundstelle im Wiehengebirge bei Minden lag; „Venator“, weil das mächtige Tier ein Räuber, genauer ein Raubsaurier gewesen ist. Der kapitale Bursche hat sich also im heutigen Westfalen herumgetrieben. Ab 1998 wurde die Fundstelle freigelegt: Zum Vorschein kamen Teile des Schädels, des Kiefers, der Beine, der Rippen und eben der Zähne. Daraus ließen sich mancherlei Rückschlüsse über die Gesamterscheinung des Dinos ziehen, wie der Wissenschaftler Dr. Achim Schwermann erläutert.

In einer Serie von drei kurzen Filmen will der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) unterhaltsame Einblicke in die akribische Arbeit der Paläontologen geben. Dazu hat man den Schauspieler und YouTuber (ohne diese Bezeichnung geht heute kaum noch etwas) Fabian Nolte engagiert, der auf möglichst muntere Weise mit Wissenschaftlern spricht und besonders durchs Münsteraner LWL-Museum für Naturkunde streift. Der Ansatz ist regional: „Saurierland Westfalen“ lautet die Serien-Überschrift. Ganz ehrlich: Ich habe im ersten Moment „Sauerland“ gelesen. Aber das nur ganz nebenher. Wir sind ja schließlich im Edutainment-Bereich, da darf man schon mal abschweifen.

Imposantes Museumsstück aus dem 3D-Drucker

Jetzt ist jedenfalls der erste von drei Filmen online. Wir erfahren unter anderem, dass der Wiehenvenator zwar an Land gelebt hat, aber nach seinem Tod ins (damals noch ganz anders ausgedehnte) Meer gespült worden ist. Dort wurden seine sterblichen Überreste von Sedimenten bedeckt und sind daher gut erhalten geblieben. Anhand der Fundstücke aus der Region Minden und anderen Weltgegenden haben die Wissenschaftler im Computer eine 3D-Animation erstellt, die sodann mit einem 3D-Drucker materialisiert wurde. Passend lackiert (hierbei spielte auch die Phantasie eine gewisse Rolle), steht der nach bestem Wissen rekonstruierte Wiehenvenator nun im Museum. Schau mir in die Augen, Großer…

Natürlich stellt Fabian Nolte auch die Pflichtfrage nach dem „Jurassic Park“, sprich: Könnte man Saurier durch aufgefundene DNA wieder zum Leben erwecken? Experte Achim Schwermann muss ihn enttäuschen: Höchst unwahrscheinlich sei das. In den verflossenen Jahrmillionen hätten sich allenfalls DNA-Schnipsel erhalten. Nolte findet es schade. Möchte er denn wirklich gern solchen Dinos an der nächsten Straßenecke begegnen? Schließlich trägt der Wiehenvenator auch in diesem Film den Beinamen „Das Monster von Minden“.

Der Film ist offenbar vor den Corona-Beschränkungen entstanden, soll aber im Lockdown den Appetit auf künftige Museumserlebnisse wachhalten. Zwei weitere Streifen – jeweils rund eine Viertelstunde lang – werden am 11. und am 18. Februar freigeschaltet: „Westphaliasaurus – Eine Paddelechse aus Westfalen“ und „Ichthyosaurus – Ein ,Fischsaurier‘ wird filetiert“. Küchentipps sind da wohl nicht zu erwarten.

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Alle drei Filme finden sich unter diesem Link.




Polar! Wirbel! Split!

O Mensch! O Wetter! (Foto: BB)

Es gab einmal Zeiten – nein, ich meine nicht „ohne Handy und Computer“, sondern: mit einfachem Wetter. Oder auch: einfach mit Wetter.

Es waren Zeiten, in denen nicht wegen jeder mittelprächtigen Schneeflocken-Ansammlung medial panisch aufgeschrien und „General Winter“ an die Eiger-Nordwand gemalt wurde. Zeiten, in denen es schlichtweg hieß, es werde in den kommenden Tagen kälter werden; vielleicht noch garniert mit ein paar Temperatur-Angaben. Es hat vollauf genügt. Daraus konnte man schon die entsprechenden Schlüsse ziehen. Pullover an, Mantel an, Mütze auf. Und so weiter. (Sicherlich gibt’s heute -zig YouTube-Videos, die das im Zuge deppenhafter Alltags- und Lebenshilfe erläutern: „Jetzt vorsichtig den Arm durch den Ärmel schieben… bis du die Hand wieder sehen kannst.“).

Wie im Polit-Betrieb, so herrscht jetzt auch rund um die Wetterkarte nur noch endlose Aufregung. Ständig werden wir angeschrien: Hochwasser! Hitzewelle! Schneechaos! Blitzeis! Und wenn das Virus mal eine kurze Verschnaufpause einlegt, werden die Wetterausbrüller erst recht umso lauter. Jetzt erzählen sie gerade uns etwas vom erschröcklichen „Polarwirbel-Split“, der uns spätestens am kommenden Wochenende bittere Kälte bescheren werde.

Polar! Wirbel! Split! Das klingt doch nach akuter Gefahr sondergleichen. Werden wir alle in Iglus hausen müssen? Wird uns der Russe die Gasheizung abdrehen, damit wir seinen vermaledeiten „Sputnik V“-Impfstoff kaufen? Hiiilfäääää!

So oder ähnlich geht’s auf allen Feldern der vernetzten Gesellschaft her. Wie soll man diese permanenten „Experten-schlagen-Alarm“-Zustände eigentlich mental verkraften? Der Blutdruck müsste ständig über die Normalmarke hinausschießen, wenn man das alles ernst nähme. Und der übelste Witz bei all dem? Der tatsächlich übermächtige Klimawandel geht im tagtäglichen Geschrei beinahe unter. Der Daueralarm trübt die Wahrnehmung der wirklichen Katastrophe.




Befremdende Bilder aus dem Märchenwald – „Mühl“ von Bernhard Fuchs im Bottroper „Quadrat“

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© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Was hat er gesucht? Und was hat er gefunden? Es ist nicht eben so, daß diese Bilder des österreichischen Fotografen Bernhard Fuchs dem Betrachter ihre Botschaften aufdrängen wollten. Eher verschlossen wirkt diese Fotografie, und die formale Präsentation – quadratische Abzüge in einem insgesamt sehr quadratisch wirkenden Museum namens Quadrat – trägt das ihre dazu bei, das Publikum auf Abstand zu halten.

Fast nur Natur

Jenseits des Formalen wohnt den Arbeiten indes nur wenig Serielles inne. Zu sehen gibt es Bilder aus dem Wald im wilden oberösterreichischen Mühlviertel. Bäume, Zweige und Äste – blattlos, winterlich – kommen häufig vor, Steine, Wasser, Moos und Gräser sind mit dabei, Himmel und Erde schließlich auch. Die Kompositionen sind stets sparsam, mal zeigen sie zerklüftete, bemooste Felsen, mal Flächenkompositionen aus nackten Zweigen vor fahlem Himmel. Skurrile Ast- und Stammformen laden zu Assoziationen ein, einmal gar steht nur ein mäßig strahlender Mond über der schemenhaft erkennbaren nächtlichen Landschaft. Zivilisation fehlt weitgehend, wird in einigen Bildern lediglich angedeutet durch das Resultat menschlichen Handelns, durch auf dem Boden ausgebreitete, abgeschnittene Zweige beispielsweise.

© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Zurückhaltung

Ob man die Auseinandersetzung des Fotografen mit alledem als komponierendes Handeln wertet oder als das Resultat feinnervigen Erspürens besonderer Orte, ist letztlich fast egal. In beiden Fällen sind die Dinge sehr gut gesehen. Einige Male, bei den Steinbildern zumal, ist die Zentralperspektive zu erkennen, doch kompositorische Zurückhaltung herrscht vor. Die meisten Arbeiten übrigens könnte man glatt für Schwarzweißbilder halten, so farblos schwarz-weiß-grau sind sie in der unsommerlichen Zeit ihres Entstehens geraten. Und bei alledem erkennt man in Bernhard Fuchs den Becher-Schüler, der seine fotografischen Objekte gut behandelt und darauf vertraut, daß sie so bei Betrachterin und Betrachter wirksam werden.

© Bernhard Fuchs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Bernhard Fuchs, ohne Titel, aus der Serie MÜHL, 2014-2019

Eine ewige Dunkelheit

„Oft schenkt während meiner Wanderungen das Betrachten und Erklettern eines Steinblocks dem Denken einen heilsamen Widerstand, weil in seiner Stärke und seiner Ruhe eine Art ,ewige’ Dunkelheit verborgen bleibt.“ So zitiert das Bottroper Museum den oberösterreichischen Künstler. Nicht alle Waldbesucher werden so intensive Empfindungen haben, da müssen Stichworte wie Heimat, Kindheit, Geborgenheit sicherlich hinzugedacht werden. Unzweifelhaft jedoch erschaffen Fuchs’ Bilder in ihrer Gesamtheit eine große, fast schon archaische Intensität, laden ein zu einer intuitiven Auseinandersetzung mit vertrauter Nähe und unerwarteter Fremdheit. Konsequenterweise gilt „Mühl“, ein winziges Schildchen auf der Wand erklärt es, als ein einziges „o.T.“, mithin als ein einziges, vielteiliges Werk „ohne Titel“, was etwas widersprüchlich ist. Aber gemeint ist wohl, daß kein einzelnes Bild sinnvollerweise einen Titel tragen kann, die Bilder in ihrer Gesamtheit indes schon.

Bei aller Radikalität, die der Fotografie Bernhard Fuchs’ im besten Sinne eigen ist, ist sie doch keineswegs unzugänglich – eine Position weit jenseits schneller Dramatisierungen mithin, die kennenzulernen allemal lohnt.

  • Bernhard Fuchs: „Mühl“
  • Josef Albers Museum, Quadrat, Bottrop
  • Bis 8. November 2020. Geöffnet Di bis Sa 11-17 Uhr, So 10-17 Uhr, Eintritt 6 EUR.
  • Das Buch zur Ausstellung erschien im Verlag Koenig Books, London, hat 96 Seiten und kostet 45,00 EUR.



Hitlers Hunde, Görings Löwen und die Kartoffelkäfer – aufschlussreiches Buch „Tiere im Nationalsozialimus“

Mal von der Selbstverständlichkeit abgesehen, dass man immer wieder auf jene Zeit zurückkommen muss: Ist über die Abgründe der NS-Herrschaft nicht schon alles Wesentliche gesagt, ist nicht jede dunkle Schattierung ausgeleuchtet worden? Nun ja. Selbst der damalige, gleichgeschaltete Alltag hatte etliche Aspekte; einer, der bislang eher episodisch abgehandelt worden ist: der oft recht widersprüchliche Umgang der Nazis mit der Tierwelt.

Sage niemand, diese Sichtweise führe geradewegs in die Verharmlosung und Relativierung. Nein, die Ansichten und Aussagen über Tiere sind zutiefst in der NS-Ideologie verwurzelt und eröffnen auch ungeahnte Zugänge. Just im vermeintlich Nebensächlichen scheinen neue Zusammenhänge auf. Und so ist es von Anfang an ein durchaus aussichtsreiches, schließlich auch verdienstvolles Unterfangen, wenn der Journalist und Autor Jan Mohnhaupt das Thema „Tiere im Nationalsozialismus“ umfänglich aufgreift.

Ideologie der Rassereinheit und der Zuchtwahl

Gewiss, es fallen auch ein paar „Anekdoten“ ab, die einer ernsthaften Betrachtung anscheinend eher entgegenstehen: dass etwa Adolf Hitlers Geliebte Eva Braun dermaßen eifersüchtig auf des „Führers“ Schäferhund „Blondi“ (wir lernen: Er hatte drei Tiere dieses Namens) gewesen sei, dass sie ihm – dem Hund – gelegentlich unterm Tisch Tritte versetzt habe, auf dass der durch sein Jaulen den überaus hundevernarrten GröFaZ verärgere und vielleicht weggeschickt werde…

Doch das Buch reicht weit über derlei wohlfeile Erzähl-Stöffchen hinaus. Vor allem die Konzepte der Rassen- und Zuchtwahl sowie wild wuchernde Phantasien über „Schädlinge“ verweisen direkt auf den Umgang mit menschlichen Minderheiten, ja, sie haben das mörderische Regime recht eigentlich mitgeprägt. Tierzucht und Menschenzucht im Sinne einer angestrebten „Rassereinheit“ betreffen den Kern der kruden NS-Vorstellungswelt. Noch höher als Rassenpurismus rangierte in der parteilich erwünschten Hundeschulung freilich der absolute Gehorsam des Tieres, das für alles abgerichtet werden sollte – nicht zuletzt für die grausame Hatz auf KZ-Häftlinge.

Zigtausend Pferde bestialisch in den Tod getrieben

Wie Mohnhaupt zeigen kann, hielten sich die Nazis selbst ein „anständiges“ Verhältnis zum Tier zugute und schrieben tatsächlich ein paar dauerhafte Regeln des Tierschutzes in die Gesetzbücher hinein. Allerdings handelten sie oft völlig konträr zu den Schutzbestimmungen, indem sie zum Beispiel zigtausend bis aufs Blut geschundene Pferde im Russland-Feldzug zu Tode brachten. Entgegen allem hohltönenden Geschwafel („Kamerad Pferd“) wurden allein auf der Krim rund 30.000 Pferde von der Wehrmacht binnen weniger Tage exekutiert, damit sie nicht den Sowjets in die Hände fielen.

Ansonsten war Tier nicht gleich Tier. So priesen die auf agrarische Autarkie versessenen Nazis das Schwein, das für „arische Sesshaftigkeit“ stehe – im konstruierten Gegensatz zum verachteten Nomadentum anderer Völker. Geschlachtet wurden die Schweine natürlich trotzdem. Erst kommt das Fressen, dann die angebliche „Moral“…

Katzen als „Juden unter den Tieren“

Grotesk wurde die Zuschreibung im Falle der Katzen, die als unzuverlässige, „orientalische“ Wesen galten. Der unsägliche NS-Autor Will Vesper verunglimpfte sie als „Die Juden unter den Tieren“. Die tieftraurige Geschichte des nachmals zum Ruhm gelangten Sprachwissenschaftlers Victor Klemperer, der – aus Selbstschutz für sich und seine Frau – seinen innig geliebten Kater Mujel einschläfern lassen musste, weil er als Jude kein Tier halten durfte, kann einem Mitleids- und Zornestränen in die Augen treiben.

Ungleich mehr als von Katzen hielten die Nazis von gefährlichen Raubtieren wie Wölfen, Tigern und Löwen, mit deren „gnadenloser Wildheit“ (so die Legende) sie sich selbst identifizierten. Auch hier geriet manches zur Farce. Vor allem der prunksüchtige „Reichsjägermeister“ Hermann Göring tat sich dabei hervor, er ließ für sich höchstpersönlich Löwen und Bären halten. Die Zoodirektoren von Berlin und München (übrigens Brüder) hatten bei der Auswahl zu Diensten zu sein. Eine auf Görings Wunsch angefertigte, heroisierende Hirsch-Statue findet sich noch heute im (Ost)-Berliner Tierpark – ohne jeden historisch einordnenden Hinweis, wie Mohnhaupt kritisch anmerkt. Der Vegetarier Hitler soll derweil von erzdeutschen Wald- und Jagdmythen nichts gehalten haben. Eine Randnotiz.

Raupen züchten für die Fallschirmseide

Ein auf den ersten Blick kurioses, aber wohl weit verbreitetes Phänomen mit Tierweltbezug war damals die von oben verordnete Raupenzucht, der sich im ganzen Reich zahllose Schulklassen widmen mussten, um die heimische Seidenproduktion (deren Zentrale in Celle angesiedelt war) anzukurbeln. Vor allem wurde der edle Stoff für militärische Fallschirme benötigt. Zugleich entbrannte ein internationaler (Propaganda)-Krieg um die Kartoffelkäfer, von denen Deutschland behauptete, die Franzosen setzten sie – quasi als „Biowaffe“ – gezielt gegen die deutsche Ernte ein. Paris erhob derweil die umgekehrte Anschuldigung.

Wie auf anderen Feldern auch, so wirkte gar vieles ungut in die Nachkriegszeit hinein, so etwa die Jagdregeln, die vollends erst im „Dritten Reich“ neu begründet und ausformuliert wurden. Auch darf von personellen Kontinuitäten der erschreckenden Art nicht geschwiegen werden. Was heute wohl nur wenige wissen: Der prominente Verhaltensforscher Konrad Lorenz (ja, der mit den Graugänsen) war in jenen finsteren Jahren ganz offenkundig ein NS-Parteigänger reinsten Wassers und ein ideologischer Protagonist mit Einfluss. Nach dem Krieg war auch sein schäbiges Verhalten allzu schnell vergessen. In der wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik galt er erneut als Autorität.

Jan Mohnhaupt: „Tiere im Nationalsozialismus“. Hanser Verlag. 256 Seiten. 22 Euro.




Die Rettung des Planeten kann auch aus Poesie erwachsen: Andri Snær Magnasons aufrüttelndes Buch „Wasser und Zeit“

Wenn ein Thema dieser Zeit global und entsetzlich entgrenzt genannt werden kann, dann das wohl dringlichste überhaupt: der Klimawandel. Es ist denn auch viel mehr als ein „Thema“ unter anderen, es geht ja um die ganze Existenz des Planeten und unseres Daseins.

So darf es auch nicht verwundern, dass der isländische Autor Andri Snær Magnason für sein streckenweise aufrüttelndes Buch eine geradezu verwegene Mixtur anrührt, indem er beispielsweise vorzeitlichen und immer noch nachwirkenden Bezügen zwischen seiner karstigen Heimat und dem Himalaya nachspürt. Dermaßen auffällig erscheinen ihm landschaftliche, spirituelle und mystische Querverweise, dass es kein Zufall mehr sein könne, sondern höherer und tieferer Sinn darin liegen müsse, der jede dürre Schulweisheit übersteigt oder jedenfalls überhöht. Nicht nur mit Daten, sondern auch und vor allem mit Dichtung lasse sich vor Augen führen, wie schön das Verlorene war und wie ernst die jetzige Situation ist.

„Mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite“

Der ungemein vielseitige Schriftsteller Magnason (Kinderbücher, Theaterstücke, Lyrik, Romane, Sachbücher), der auch schon mal bei der Präsidentschaftswahl seines Landes kandidiert hat, findet, dass wir noch gar keine adäquate Sprache gefunden haben für die drohenden Katastrophen, die ihn wiederum an die altisländischen Vorstellungen vom Ragnarök (Weltuntergang) gemahnen. Elemente der geistesgeschichtlich überlieferten „Romantik“, Naturanbetung und beseeltes Erzählen scheinen nach seiner Ansicht hierbei entschieden weiter zu führen als nur rationale Betrachtungen oder prognostische Berechnungen. In poetischer Diktion wird ein Gletscher-Erlebnis vollends überwältigend, so heißt es etwa in einem Text des Romantikers Helgi Valtysson: „Und dein Selbst verschmilzt wie eine bebend erklingende Saite mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite…“ Für Magnason ist es keine Frage mehr, dass dieses Gefühl und seine natürliche Grundlage bewahrenswert sind. Freilich ließe sich das alles auch als Esoterik denunzieren, aber es gibt ungleich Wichtigeres zu tun.

Nach einer passenden Sprache suchen

Traditionelle isländische Sprechgesänge, noch von den Großeltern des Autors überliefert, korrespondieren mit einer damals noch recht intakten Natur, vor allem mit den mächtigen Gletschern, die nun längst dahinschmelzen; ein höchst beunruhigendes Phänomen, das abermals auf die Himalaya-Region bezogen wird, wo das Leben vieler Millionen Menschen vom alljährlichen Zyklus des Gletscherwassers abhängt. Wasser und Zeit…

An einem etwas anders gelagerten Beispiel sucht Magnason zu erläutern, wie Menschen ihre Lage gar nicht begreifen können, wenn sie keine passenden Worte für akute Zustände haben. So habe schon um 1809 der dänische Abenteurer Jørgen Jørgensen den Isländern erzdemokratische Freiheitswerte und Unabhängigkeit gepredigt, doch das Volk habe überhaupt nicht gewusst, wovon er da redete – und sei der dänischen Fremdherrschaft hörig geblieben.

„Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe“

Das Buch führt in die Frühzeit der isländischen Gletscherforschung in den 1930er Jahren, die wiederum verwoben wird mit der Familiengeschichte des Autors, welche auch in andere Bereiche ausgreift. Wer kann schon von sich sagen, dass ein Großvater in die USA ausgewandert ist und dort als Arzt sowohl den Schah von Persien als auch Andy Warhol operiert hat? Wer kann mit Fug behaupten, ein Onkel sei weltweit ein Pionier bei der Rettung nahezu ausgerotteter Krokodile gewesen? Wie heißt es doch auf Seite 139 so allgemeingültig: „Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe…“

Was einem zwischendurch wie bloße Abschweifung erscheinen mag, markiert in Wahrheit wohl die Spannweite der möglichen und (prinzipiell jedem zugänglichen) Lebenserfahrung, die eben potentiell auch rückwärts bis zu den Vorfahren und vorwärts bis zu Kindern und Enkeln reicht. Auch schon vor ergänzender Lektüre begründet dies eine Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt. Die fassbare Dimension der Zeit umgreift mehr als das eigene Leben. Diese Einsicht bewirkt, dass man über sich und seine Generation hinausdenkt; dass man gewahr wird, wie sehr die Erde sich seit den Ahnen geändert hat, welche Verluste bereits eingetreten sind. Das Schicksal der Erde dreht sich derweil nicht mehr um zigtausend Jahre, es steht – so der glaubhaft erschreckende Befund – Jahr um Jahr mehr auf dem Spiel, ist vielleicht schon bald unwiderruflich besiegelt.

Welch eine Bürde für die Nachgeborenen!

Von immer neuen Seiten beleuchtet der Autor die gigantische Bedrohung. Gelegentlich scheint das Buch thematisch etwas auszufransen, doch nimmt es auch immer wieder die Hauptspur auf. Der Zufall (oder die Fügung?) wollte es, dass Magnason mehrfach Gespräche mit dem Dalai Lama führen durfte, dessen Weisheit in allen Dingen mit staunenswerter Zuversicht einhergeht, wie denn überhaupt gegen Schluss des Bandes einige Entwicklungen und Forschungen anklingen, in denen Lösungsansätze stecken könnten. Doch es geht eben nicht nur um Forschung, sondern zuallererst um Haltung und Entschlusskraft. Und Magnason ist überzeugt: Die jetzt heranwachsende ist die letzte Generation, die die Erde retten kann. Welch eine Bürde!

Andri Snær Magnason: „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Insel Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.

 




Soziale Miniaturen (22): „Allet menschlich, wa?“

(Foto: BB)

Da hinten saust ein Mann, wohl um die 50, etwas beleibt, aber noch halbwegs drahtig, mit dem Fahrrad durch die Wiese, als sei da ein Weg. Doch er fährt mitten durchs Gras. Kurz vorm Seeufer wirft er das Fahrrad hin und entledigt sich schon mal seines Shirts.

Auch wir halten – oben am Weg – mit unseren Fahrrädern an. Sofort ruft er mit „Balina“ Zungenschlag lauthals von unten her, ob mit den Rädern alles in Ordnung sei. Jaja, schon gut, alles bestens. Auch wir nähern uns nun zu Fuß dem Ufer, weil wir dort eine Reitergruppe erwarten und fotografieren möchten. Er hat sich inzwischen vor ein Gebüsch postiert und pinkelt dort ohne Umstände drauflos, immerhin noch den Rücken zu uns gekehrt. Derweil redet er weiter, sich allmählich nahezu ins dialogbereite Profil drehend. Er hat entdeckt, dass die Reitgruppe (mit Kindern) einen anderen Weg genommen hat und macht ausgiebig Mitteilung. Ohne ihn, so strunzt er, hätten wir “dit nich jemerkt“. Und weiter verkündet er: Das mit dem Wetter könne ja nur besser werden. Er sonne sich hier immer gern. Mit dem Ausruf „Allet menschlich, wa?!“ lässt er auf einmal die Hose runter und schickt hinterdrein: „Der Arsch ist noch nicht braun!“ Aha.

Ist das nun die alte FKK-Seligkeit Marke DDR, aus Zeiten, als dies eine der wenigen Freiheiten war? Ist es nordostdeutsche Landsmannschaftlichkeit, schroff aber herzlich? Ist es persönliche Disposition? Vielleicht von allem etwas. Leute wie er machen nicht viel Federlesens. Und man fragt sich, ob und auf welchen Feldern sie reibungslos durchs Leben kommen. Antwort offen. Hose auch.

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Bisher in der losen Textreihe „Soziale Miniaturen” erschienen und durch die Volltext-Suchfunktion auffindbar:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14), Zuckfuß (15), Peinlicher Moment (16), Ich Vater. Hier. Jacke an! (17), Herrscher im Supermarkt (18), Schimpf und Schande in der Republik (19), Der Junge mit der Goldfolie (20), Vor dem Sprung (21)

 

 




Gartenvernichtung mit Oberhalunkenmaschine

gartenfrevel - die riesige Oberhalunkenmaschine

Thomas Scherl: »Die riesige Oberhalunkenmaschine«, Tusche auf Zeichenpapier, 25x30cm, 2020

Der Nachbar hat ja das Haus verkauft – da, wo mein Atelier war, Ende April war Übergabe (an einen Arzt aus dem Krankenhaus übrigens, die hams ja) und seither sind dort alle möglichen Halunken zugange, die renovieren und was weiß ich.

Wer diese Burschen kennt, weiß, daß 98,7% der aufgewandten Energie in Schall umgesetzt werden, 92,3% in Dreck, 91,7% in Gestank und der Rest in das gewünschte Ergebnis.

Jetzt wütet in dem schönen alten Garten mit den schönen alten Bäumen und den schönen alten Büschen seit dem frühen Morgengrauen ein ruchloser Oberhalunke mit einer riesigen Oberhalunkenmaschine, die gleichzeitig schon tragende Bäume fällt und mundgerecht zerlegt, die Hecke und die blühende Büsche, in denen Vögel brüten, bis unter die Grasnarbe schneidet, den üppigen Rasen bis unter dieselbe mäht, die gute Mutter Erde bis dicht über den Erdkern aufwühlt und die Steine, ja, die Steine, alles gleich shreddert, pulverisiert, atomisiert und die Atome dann unter lautem Schreien der geschundenen Materie in ihre Elementarteile zerreißt, zerfetzt, zerbeißt, verletzt und meine armen Trommelfelle gleich mit und der Fallout der vernichteten Existenz legt sich wie ein Leichentuch über meine Skizzenbücher und mich.

Die Meisen, die Schmetterlinge, die Hummeln und die Bienen, die Katze, der Hund und ich verachten ihn und seine Maschine, deren Erfinder und den neuen Besitzer, der das nicht selber von Hand machen kann wie alle anderen auch, und den Geist, der meint, daß er nur genug Krach machen muß, damit was »Arbeit« ist, mit jeder Faser unserer Körper, Seelen und… tja, was noch?

Ich kann so nicht arbeiten.

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(Text und anderes auch auf scherl.blogspot.com)




Jetzt aber: Mit Frühlingsbildern der Krise trotzen!

Impression aus der Dortmunder Stadtkrone Ost (da, wo die ganzen IT-Firmen sitzen). (Foto: Bernd Berke)

Machen andere Medien ja auch mit wachsender Begeisterung: frühlingshaft- hoffnungsvolle Natur-Aufnahmen gegen die Corona-Krise stellen. Warum auch nicht? Und bitte verzeiht die Bindestrich-Inflation…

Blüte in der nördlichen Gartenstadt. (Foto: Bernd Berke)

Abendlicher Blick nach Westen. (Foto: Bernd Berke)




Virus der Ratlosigkeit: Diese und jene Frage über Corona hinweg

Natürlich kein Virus, sondern ein Nahrungsbild, das während einer Speisenzubereitung in der Küche entstanden ist. Und nein: Es ist auch wirklich kein Spiegelei. (Foto: Bernd Berke)

Für virologische Expertisen sind wir hier absolut nicht zuständig. (Ich höre schon Euer Loriotsches „Ach was…“). Auch steht uns selbstverständlich keine politische Entscheidung zu, es sei denn: als indirekte Teilhabe im Rahmen unserer demokratischen Rechte (manche unken auch schon: unserer verbliebenen Rechte). Es interessiert einen im Überlebensfalle freilich schon sehr, wie diese, unsere Gesellschaft „nach Corona“ aussehen könnte. Daher diese oder jene ratlose Frage.

1) Wird eine gewachsene Mehrheit künftig in verstärktem Maße immer gleich nach dem Staat rufen, der gefälligst alles regeln und möglichst auch bezahlen soll? Wie verträgt sich das mit dem Anspruch so vieler Gruppierungen, selbst möglichst immer weniger Steuern zu bezahlen? Der Staats soll’s haben und richten – aber woher und womit?

2) Wird sich dieser etwaige Impuls der Staatsfrömmigkeit von Land zu Land unterscheiden? Werden etwa die Bürger Frankreichs widerspenstiger sein als „wir“?

3) Sollten wir nicht heilfroh sein, dass es hier bei allem nötigen Reglement demokratisch zugeht und die Menschen nicht – wie in furchtbar vielen autokratischen Ländern der Welt – brutal in die Quarantäne geprügelt oder ins Jenseits geschossen werden?

4) Gibt es neben den vielen, vielen, die wirklich bedürftig sind und auf Unterstützung hoffen, auch solche, die vorher schon halb in der Krise waren und sich nun mit dem Anker von Staatshilfe retten wollen? Wird die Bedürftigkeit überprüft oder wird im Überschwang alles durchgewunken?

5) Und wie verhält es sich mit den Profiteuren, deren Geschäftsmodell haargenau zur gegenwärtigen Lage passt? Sollten sie nicht etwas abgeben?

6) Nebenfrage: Wie halten es eigentlich die sogenannten „Reichsbürger“ mit den diversen Rettungsschirmen und Hilfspaketen? Die Idioten nehmen doch sicherlich gern Knete vom Staat, den sie ansonsten nicht anerkennen, oder?

7) Wer glaubt wirklich, dass die Reichen, Begüterten, Betuchten und Wohlhabenden ihr Geld überwiegend in lebenswichtiges Produktivvermögen gesteckt haben, in Fabriken, Maschinen, Personal – und es nur in ganz bescheidenem Maße zur persönlichen Verwendung antasten?

8) Ist es nicht erstaunlich, dass nun etliche Leute bereit sind, vorübergehende Staatseingriffe in die Wirtschaft, wenn nicht gar Verstaatlichungen bestimmter Bereiche hinzunehmen, die solcherlei Ansinnen vor kurzer Zeit noch als Teufelswerk bezeichnet hätten?

9) Ist außer den lukrativ Beteiligten jemand dagegen, das in den letzten Jahren teilweise kaputtgesparte und neoliberal privatisierte Gesundheitswesen wieder weitgehend in öffentliche Regie zu übernehmen?

10) Werden dann die Angehörigen der Pflegeberufe (und einige andere Berufsgruppen) endlich angemessen bezahlt? Hat man denn nicht gesehen, dass das Virus auch die Klassenfrage neu aufgeworfen hat?

11) Wird dem Staat künftig generell mehr überantwortet oder aufgebürdet? Soll er uns im Gegenzug allweil gängeln dürfen?

12) Werden viele Menschen nach staatlicher Autorität geradezu lechzen, nach der harten Hand des Staates?

13) Wird zugleich der Asozialtypus des „Blockwarts“ (und des Denunzianten) wieder hervortreten und dumpf auftrumpfen, der es den Hedonisten mal so richtig zeigt?

14) Haben nun auch die Apokalyptiker Hochkonjunktur?

15) Löst der um sich selbst besorgte „Prepper“ den Hedonisten als Rollenmodell ab? Haben beide etwa insgeheim Gemeinsamkeiten? Was unterscheidet den Prepper vom gewöhnlichen Hamsterer?

16) Mag man die schicksalsergebene Wendung „In den Zeiten von Corona“ noch hören?

17) Wird, sofern Corona vorüber oder zumindest behandelbar ist, hierzulande alles rasend schnell nachdigitalisiert? Werden wir in dieser Hinsicht gar zu Litauen und Albanien aufschließen?

18) Wird die wild ins Kraut geschossene Globalisierung zum Teil zurückgedreht? Werden lebenswichtige Güter künftig wieder häufiger in Deutschland und Europa hergestellt – zu deutlich höheren Kosten als Preis der Versorgungssicherheit?

19) Wird es eine Wiederkehr der Nationalstaaten als Leitbild geben? Kann das zu ungeahnten Animositäten führen, die man längst überwunden glaubte?

20) Wird der angebliche Trend zu seriösen Medien von Dauer sein? Widerstehen die meisten Menschen nun der Versuchung zu unsinnigen Verschwörungstheorien? Lauern Populisten schon seit Wochen auf ihre Chance?

21) Soll man jetzt wirklich Masken tragen? Wie muss man sich beispielsweise Schulklassenfotos vorstellen, auf denen alle mit Masken versehen sind?

22) Um nach den hauptsächlichen Teilen einer Zeitung zu fragen: Werden wir hernach eine andere Politik, eine andere Wirtschaft, eine andere Kultur, einen anderen Sport und andere Gemeinden haben?

23) Wird sich das Verhältnis zu Migranten und Geflüchteten ändern? Werden die Religionen und Konfessionen anders miteinander umgehen?

24) Wird man den Klimawandel und die Folgen in einem anderen Licht sehen?

25) Wann wird es Impfstoffe und Medikamente geben?

26) Wann dürfen wir wieder dieses und jenes tun?

27) Ist es nicht jammerschade, dass wortmächtige Intellektuelle wie der heute (von der Neuen Zürcher Zeitung) vorübergehend irrtümlich totgesagte Hans Magnus Enzensberger sich nicht zum Themenkreis äußern?

P. S.: Immerhin hat sich im Monopol-Magazin und im Cicero Alexander Kluge zu Wort gemeldet.

 




Jetzt geht es um den ganzen Lebensstil

Wenig originelles Bild zu den „dunklen Wolken, die da heraufziehen“, aber ich hab‘ in eigenen Beständen auf die Schnelle nichts Besseres gefunden. (Foto: BB)

So. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr um einzelne bzw. kollektive Absagen geht – sei’s auf kulturellem oder sportlichem Felde. Was soll’s denn, ob die Bundesliga-Saison nun unterbrochen oder ganz abgebrochen wird?

Es geht inzwischen um unseren ganzen Lebensstil, ja überhaupt ums Ganze. Wenn Bundeskanzlerin Merkel rät, die sozialen Kontakte auf nötigste Mindestmaß zu begrenzen, ist denn doch – bei aller scheinbaren äußeren Gelassenheit – eine ziemliche Anspannung spürbar.

Wir dachten schon, ein neues (Bionade)-Biedermeier habe sich in gewissen urbanen Vierteln längst etabliert, dabei steht erst jetzt der allgemeine Rückzug in die Stuben an. Gartenlaube revisited?

Endlich, endlich schließt auch NRW die Schulen und Kitas

Du meine Güte! Wie relativ lang hat Deutschland, hat speziell Nordrhein-Westfalen gebraucht, um sich zu Schul- und Kita-Schließungen ab kommenden Montag durchzuringen – und das im Fall von NRW als Bundesland mit den weitaus meisten Corona-Infektionen. Hätte man in diesem Sinne nicht spätestens heute gehandelt, hätte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet wohl seine Ambitionen auf CDU-Vorsitz und nachfolgende Kanzlerkandidatur gleich aufgeben können. Vielen Beobachtern galt und gilt er als „Zauderer“. Gerade hierbei hätte sich das nicht bestätigen dürfen.

Eine solche Lage hat es seit Kriegsende nicht gegeben. Frankreichs Präsident Macron zieht den historischen Bogen noch weiter und spricht von der größten medizinischen Krise seit 100 Jahren. Gemeint ist die jetzt wieder oft herbeizitierte „Spanische Grippe“, die um 1918/19 weltweit unfassbare 50 Millionen Todesopfer gefordert hat und damit, was die bloßen Zahlen anbelangt, noch verheerender gewirkt hat als die Weltkriege.

Schwindet die frohe Weltzugewandtheit?

Gerade um die italienische Lebensart (Italianità) machen sich italophile Journalisten und andere, dem Süden herzlich zugeneigte Menschen neuerdings erhebliche Sorgen. „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Nein, man erkennt es nicht mehr wieder. Stirbt hier auch schrittweise die Lebensfreude, schwindet nach und nach die frohe Weltzugewandtheit? Geht nun ausgerechnet Italien den Weg in die innere Einkehr? Oder wird all die Freude wiederkehren?

Und überhaupt: der Westen. Was wird aus der üblichen Event-Kultur, was ist mit der landläufigen Erlebnisgier, mit dem gewöhnlichen Hedonismus? Gab’s da nicht mal jenes Buch mit dem Titel „Wir amüsieren uns zu Tode?“ Lang ist’s her. Treibt es uns nun noch mehr in die vereinzelnde Digitalisierung? Oder wirkt sich die Krise gar als gesellschaftlicher Kitt aus, als Anstoß zum Zusammenhalt? Man möchte es hoffen, doch da bleiben auch große Zweifel. Wo so viele Leute ohne Sinn und Verstand Toilettenpapier horten oder sogar aus Kliniken Desinfektionsmittel klauen (in der Phantasie male ich mir passende Strafen dafür aus), ist Solidarität offenbar kein weithin praktiziertes Allgemeingut.

Drastische Maßnahmen und Galgenhumor

Trotz der (verspäteten?) Schulschließungen geht’s bei uns noch vergleichsweise moderat zu. Die Schweiz verbietet Veranstaltungen mit über 100 (nicht: über 1000) Teilnehmern, in Belgien werden auch die Restaurants geschlossen, in Österreich bleiben Geschäfte jenseits des Lebensbedarfs dicht, die Restaurants schließen um 15 Uhr; Polen und Dänemark riegeln ihre Grenzen ab. Als deutscher Staatsbürger darf man ohnehin längst nicht mehr in alle Länder des Erdballs reisen. Viele weitere drastische Beispiele ließen sich nennen. Und wer weiß, wer am Ende wirksamer gehandelt hat.

Auch Galgenhumor macht sich breit, wie eigentlich immer, wenn’s ungemütlich (oder schlimmer) wird: Just heute twittern Tausende zum Hashtag-Thema #CoronaSchlager, will heißen: Man dichtet bekannte Schlagertexte der letzten Jahrzehnte aufs Virus und seine Folgen um. Wenn’s denn der Entspannung dient und nicht ganz und gar zynisch wird…

Die Professoren Drosten und Wieler haben das Sagen

Die beinahe täglich live übertragenen Presskonferenzen von der Corona-Front lassen allmählich den Eindruck aufkommen, die Professoren Christian Drosten (Charité) und Lothar Wieler (Robert-Koch-Institut) seien inzwischen die eigentlich Regierenden im Lande. Sie haben buchstäblich das Sagen. Jedenfalls können die politisch Verantwortlichen in dieser Situation schwerlich ohne solche Fachleute auskommen. Prof. Alexander Kekulé (Uniklinik Halle) wäre demnach mit seinen deutlich abweichenden Meinungen so etwas wie die Opposition. Schon recht früh hat er gefordert, was jetzt geschehen ist: „Coronaferien“ in den Schulen und Absage größerer Zusammenkünfte.

Um nur nicht missverstanden zu werden: So weit man es als Laie und Medienkonsument beurteilen kann, machen Drosten und Wieler (mit ihren Teams) einen großartigen Job, sie bleiben angenehm nüchtern und sachlich, wobei man dennoch die Dringlichkeit ihrer Anliegen nicht verkennen kann. Das gilt übrigens auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der selbst nicht die medizinische Expertise haben kann, es aber offensichtlich versteht, fähige Leute als Berater heranzuziehen.

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P. S. zum Fußball: Ohne Zuschauer im Stadion macht die Kickerei eh keinen Spaß mehr, Sky & Co. haben mit den „Geisterspielen“ sozusagen leblose Materie übertragen. Meinetwegen soll die Liga jetzt mit der Saison aufhören, die Bayern halt zum Meister erklären (das sage ich als Dortmunder) oder – besser noch – diese Spielzeit ganz ohne Titel beenden, die jetzigen Tabellenplätze nur für einen künftigen europäischen Wettbewerb zählen lassen etc. Auf- und Abstieg ließen sich auch regeln, indem z. B. die 1. Liga aufgestockt würde, also niemand ohne Spielentscheidung absteigen müsste. Das alles wird sich finden und ist ganz und gar nicht lebenswichtig.

Ganz abgesehen davon ist es vielleicht ein soziales Experiment: Wirkt sich das Fehlen des Vereinsfußballs gesellschaftlich aggressionshemmend oder aggressionssteigernd aus? Anders gewendet: Befördert oder kanalisiert der Fußball die Gewaltsamkeit?




Was macht Corona mit der Kultur?

Sorglos hat man eigentlich noch nie auf den inzwischen so globalisierten Globus blicken können. Jetzt sind mal wieder ein paar neue Sorgen hinzugekommen. (Foto: BB)

Und hier bekommt Ihr wieder ein Bonus-Paket der Revierpassagen, nämlich: Heute gibt’s k e i n e n laienhaften Aufsatz über Corona. Jedenfalls nicht über virologische Fragen oder Quarantäne. Wie denn auch?

Obwohl man da unendlich viel erwägen und bekakeln könnte, aus nichtfachlicher Sicht wohl überwiegend Nutzloses. Aber das geschieht schon andernorts zur Genüge und weit über Gebühr. Man schaue sich nur die Kommentare an, wenn etwa „Zeit“ oder „Süddeutsche“ mit Live-Schaltungen zu allfälligen Pressekonferenzen des Bundesgesundheitsministers und des Robert-Koch-Instituts aufwarten. All die vielen selbsternannten Fachleute im Publikum, die Besserwisser, Hassverspritzer und Paniker aus den Untiefen des Netzes. Und das bei Angeboten dieser seriösen Medien… Das seriöseste aller hiesigen Medien, „Der Postillon“, hat diesen Trend natürlich auch erkannt: „Zahl der Corona-Experten in Deutschland sprunghaft angestiegen“. Wohl irgendwie wahr.

So. Und jetzt, da Ihr Euch vielleicht in Sicherheit wiegt, kommen hier halt doch noch ein paar CoV-19-Absätze. Wir sind schon mittendrin. Aber halb so schlimm. Wir hamstern keine Zeilen. Wir desinfizieren auch nicht eigens die Tastatur. Tippen mit sorgsam gewaschenen Händen (20 Sekunden plus!) ist freilich die leichteste Übung.

Konzerthusten mit neuer Virulenz

Vielleicht erwischt es ja nach dem Sport mit seinen zuschauerlosen „Geisterspielen“ (so auch das Revierderby BVB – Schalke am kommenden Samstag) sehr bald auch Teile des Kulturbetriebs. Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmenden, deren Absage nicht nur von Gesundheitsminister Spahn dringlich angeraten wird und in Frankreich bereits verfügt worden ist, haben wir schließlich auch in Philharmonien, Konzerthäusern und Opernhäusern, erst recht bei manchen Rock-Auftritten etc. Da sitzt oder steht man beim kulturellen Geschehen ziemlich dicht an dicht. Der Konzerthusten ist ja eh ein sprichwörtliches, heftiges und häufiges Phänomen im Bereich der E-Musik. Auch er hat allerdings schon einen bedrohlichen Bedeutungswandel hinter sich. Mit Hustinetten als Gegenmittel ist es nicht mehr getan.

…oder gar daheim zum Buch greifen

Von Veranstaltungen wie dem Literaturfestival Lit.Cologne, der Pariser oder der Leipziger Buchmesse (alle abgesagt) – letztere mit sonst Abertausenden von lesewilligen Hallenflaneuren – mal ganz abgesehen. Und noch mehr zu schweigen von den italienischen Zuständen, wo im ganzen Land Museen, Kinos und Theater geschlossen bleiben. Schon warnen besorgte Publizisten vor nachhaltigen Schäden an der „italienischen Lebensart“.

Just, als ich das schreibe, erreicht mich die Nachricht von der Absage der Museumsnacht im LWL-Museum für Archäologie in Herne am 27. März. Dort wird übrigens – ausgerechnet – noch bis zum 10. Mai die derzeit besonders aufschlussreiche natur- und kulturhistorische Ausstellung über die Pest gezeigt. Apropos: Wie man liest, erlebt zur Zeit auch Albert Camus‘ moderner Klassiker „Die Pest“ einen Auflagenschub sondergleichen.

Schon wird uns auf Feuilleton-Seiten wärmstens anempfohlen, öfter mal daheim zu bleiben und zwecks Kulturgenuss diverse Streamingdienste für Kino und Musik anzuwerfen. Oder gar: zum Buch zu greifen! Man denke nur…

„Inflation öffentlicher Zusammenrottungen“

Es sind keine günstigen Zeiten für kulturgeneigte Adabeis. Wenn ich nicht irre, war es die Neue Zürcher Zeitung, die vor ein paar Tagen geradezu erbittert gegen das ewig amüsierwütige Ausgehen zu Felde zog, und zwar mit einer solchen Formulierung: „Die hedonistische Eventkultur mit ihrer Inflation öffentlicher Zusammenrottungen zu unwesentlichen Zwecken“, hieß es da, solle endlich wieder durch „Vergnügungen in bescheidenerem, privaten Rahmen“ ersetzt oder wenigstens ergänzt werden. Sie raten freilich nicht direkt zum Brettspieleabend, sondern erst einmal zu Netflix-Filmen und Gruppen-Chats. Man will die Leute da abholen, wo sie sind. Mit möglichen Folgen einer zunehmend digitalisierten Kultur hat sich unterdessen auch die Süddeutsche Zeitung befasst. Wir sehen betroffen: Da ist einiges im Schwange.

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P. S.: Hat eigentlich schon mal wieder jemand nachgeschaut, was in den einst so umkämpften Notstandsgesetzen steht, die vor über 50 Jahren schon manchen „Achtundsechziger“ auf die Barrikaden getrieben haben? Kann uns da jetzt was blühen?

Nachtrag: Erstaunlich, dass laut Homepage heute (10. März) im Dortmunder Konzerthaus die Veranstaltung „Sinatra & Friends“ (Trio aus England) stattfinden soll. Sind da wirklich weniger als 1000 Plätze besetzt? Man wird ja mal fragen dürfen. Laut Landesgesundheitsminister Laumann gilt die 1000er-Grenze ohne Wenn und Aber. Bei Überschreitung müsste seit heute abgesagt werden.

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Absagen und Sonstiges

Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) stellt den gesamten Spielbetrieb „bis auf weiteres“ ein.

Das Frauenfilmfest Dortmund/Köln (Programmschwerpunkt diesmal in Köln) soll nach jetzigem Stand vom 24. bis 29. März stattfinden. Pro Filmvorstellung soll die Zahl der Zuschauerinnen auf 100 begrenzt werden. Es werden Anwesenheitslisten geführt und auch sonst diverse Sicherheitsmaßnahmen ergriffen.

 




Der Neandertaler hat schon Platz genommen – Dortmunds Naturmuseum soll am 7. Juni eröffnen

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann und Museumspädagoge Julian Stromann rücken den sorgsam nachgebildeten Neandertaler zurecht. (Foto: Roland Gorecki/Dortmund Agentur)

In genau 99 Tagen, am 7. Juni 2020, wird das gründlichst umgebaute und geringfügig umbenannte Dortmunder Naturmuseum eröffnet. Wohlweislich hat man den Termin in der BVB-Stadt aufs erste fußballfreie Sommer-Wochenende gelegt.

Dortmunds vor der langjährigen Schließung (seit September 2014!) meistbesuchtes Museum ist sich seiner Bedeutung wohl bewusst. Anzeichen dafür: Kürzlich wurde eigens eine Pressekonferenz anberaumt, um den neuen Namen (just Naturmuseum statt Naturkundemuseum) zu verkünden. Jetzt gab’s ein weiteres Medien-Meeting zur Bekanntgabe des Eröffnungstermins und für ein paar fotografische Impressionen.

Am 7. Juni soll jedenfalls von 11.30 bis 18 Uhr groß (aber nicht dem Slang gemäß „hart“) gefeiert werden. Der in Dortmund und drumherum allgegenwärtige Comedian Fritz Eckenga wird das unterhaltsame Begleitprogramm moderieren. Beim Rundgang kann man dann unversehens dem frühen Homo Sapiens oder dem Neandertaler begegnen und sich vor allem auf die prähistorischen Spuren der regionalen Flora und Fauna begeben.

Naturmuseum, Eröffnung am 7. Juni 2020 (ab 11.30 Uhr). Dortmund, Münsterstraße 271. Eintritt generell frei.

 




Corona: Aufregung oder Apokalypse?

Wie soll man das Thema sonst bebildern, als mit dräuenden Wolken? (Foto: Bernd Berke)

Kann sich jemand erinnern, dass jemals derart rigorose Maßnahmen wegen einer Epidemie ergriffen worden sind?

Hat es das in den letzten 50 oder 60 Jahren schon einmal gegeben, dass ganze Städte und Regionen (in China, in Italien und wer weiß wo demnächst noch) so strikt vom Rest der Welt abgeriegelt wurden wie jetzt, dass beispielsweise alle grenzüberschreitenden Züge (vorerst zwischen Österreich und Italien) gestoppt oder Flüge (aus und nach China) verboten werden? Dass Schiffe über Wochen hinweg nicht verlassen werden dürfen? Dass Zigtausende, ja insgesamt Millionen in Quarantäne leben?

Mit der offenbar rapiden Ausbreitung der Corona-Viren haben die – vielleicht schon verspäteten? – Vorsichtsmaßnahmen (und die darob entstehende Panik) offenbar eine neue Eskalationsstufe erreicht. Sind Rinderwahn oder SARS dagegen nur „Vorübungen“ zur Apokalypse gewesen? Welchen Anteil hat die Realität, welchen haben die aufgeregten Medien? Man liest allerdings auch, dass nicht nur die Zahl der Todesopfer, sondern auch schon die Zahl der „Geheilten“ ansteige. Ein Lichtstreif.

Igelt sich bald jedes Land ein?

Oder kann all das noch viel drastischer werden? Doch wohl nicht so wie in jenen schrecklichen Zeiten der Pest, denen eine archäologische und kulturgeschichtliche Ausstellung in Herne (noch bis zum 10. Mai 2020) nachgeht? Als diese Schau eröffnet wurde, hat noch niemand gewusst, was da womöglich auf uns zukommt.

Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie das noch weitergehen mag. Igelt sich bald jedes Land, jede Gegend ein? Woher sollen dann die Nachschublieferungen kommen, seien es medizinische Güter oder Lebensmittel? Die Weltmärkte würden zusammenbrechen, es gäbe eine ökonomische Krise sondergleichen. Schon jetzt knicken die Börsenkurse ein.

Globalisierung und Rassismus

Daraus könnte ein großer, ja schließlich ein weltweiter Versuch werden, ob und wie weit die Globalisierung vorübergehend gebremst werden muss. Und wie selbstverständlich spielt Rassismus auch hier hinein: Schon soll es tätliche Angriffe auf Chinesen in Europa gegeben haben. Es müssen mal wieder Menschen herausgegriffen und als Schuldige „dingfest gemacht“ werden.

Apropos irrationale Umtrieb: In letzter Zeit haben sich – vor allem im ökopolitischen Umfeld – auch sektenartige oder zumindest quasi-religiöse Formationen gebildet. Ist es nur eine wahnwitzige, literarisch induzierte Phantasie, wenn man sich vorstellt, wie wegen der Seuche Menschen durch die Straßen ziehen, sich selbst als sündhaft geißelnd? Wie damals, zu Zeiten der Pest…

Autoritäre vs. demokratische Staaten

Auch treten jetzt autoritär regierte Länder (China, Iran) in einen unfreiwilligen Wettbewerb mit einstweilen demokratisch verfassten Staaten (Italien etc.): Wer wird eine solche Krise besser bewältigen? Wie demokratisch kann es überhaupt zugehen, wenn der Notstand herrscht? Und übrigens: Wie kommt es bloß, dass bisher praktisch in ganz Afrika und Südamerika noch kein Ausbruch der Seuche verzeichnet wird? Liegt es daran, dass man dort nicht so streng registriert und dass man dort überhaupt auch noch einige andere Sorgen hat?

Vom medizinischen (Un)wissen, von der fieberhaften Suche nach Ursachen und Wirkungen ganz zu schweigen. Wo liegen überhaupt die Ursprünge der Seuche, die nunmehr eine Pandemie genannt wird? Wo war der allererste Ansteckungsherd, wie sehen die möglichen tierischen Zwischenwirte aus? Wie lange dauert die Inkubation, wie ist der wahrscheinliche Verlauf, wann klingt die Krankheit wieder ab, wann darf ein Patient als kuriert und „erholt“ gelten? Hängt alles mit China zusammen – oder wird sich erweisen, dass es weitere Ausbruchszentren gibt?

Heldentum der Mediziner

Und weiter: Wie hoch liegt die mutmaßliche Todesrate? Betrifft es wirklich vor allem über 80 Jahre alte oder sonstwie vorher geschwächte Menschen? Zynische Frage: Wären sie vielleicht auch an einer „normalen“ Grippe gestorben, wie denn überhaupt die Grippewellen einer durchschnittlichen Saison rund 25.000 Menschenleben kosten können?

Fragen über Fragen. Und keine ist bisher abschließend geklärt.

Ein zeitgemäßes Heldentum zeigt sich freilich, wenn man den Begriff schon verwenden will: beim ärztlichen Personal, das gleichsam an vorderster Front und unter hohem persönlichen Risiko die mysteriöse Krankheit bekämpft. Darüber hinaus gebührt großer Respekt all jenen, die die Gegenmaßnahmen vernünftig organisieren; den Forschungsteams, die in aller Welt an möglichst wirksamen Gegenmitteln arbeiten. Und so manchen anderen, die wir vergessen haben.

Und nun lasset uns hoffen. Und handeln, so gut es eben geht.




Sturm „Sabine“ – War denn wirklich was?

Seit Tagen werden wir vor dem gefährlichen Sturm bzw. Orkan „Sabine“ gewarnt und haben – wie viele andere Leute ebenfalls – auch diese oder jene Vorkehrung getroffen. Erst sollte es um 16 Uhr heftiger werden, dann um 17 Uhr. Ach, Sabine, wo bleibst du denn? Naja, ein paar Windstöße hat es schon gegeben.

Vorsichtshalber Mülltonnen hingelegt und Deckel mit Paketband zugeklebt, denn: Bei früheren Stürmen fielen die Dinger schon mal um und verstreuten Abfall. (aufregendes Sensations-Foto: BB)

Doch was ist weiterhin passiert? Sonntags um 20 Uhr und um 21.30 Uhr herrscht allenfalls ein mittelstarker Wind mit gelegentlichen Böen, nachdem es nachmittags ein bisschen ungemütlicher zu werden schien. Aber auch das bewegte sich eher auf der Skala des einigermaßen Gewöhnlichen. Jedenfalls kein Vergleich mit all der Unbill, die uns verheißen worden ist. Und kein Vergleich mit der elementaren Wucht früherer Stürme.

Nun schaut aber auf all die Liveticker, die schon den ganzen Sonntag über angeworfen werden und schließlich irgendwie „gefüttert“ werden müssen, damit sich die Sonntagsdienste auch lohnen. Da wird beinahe jeder halbwegs dicke Ast vermeldet, der vom Baume gefallen ist, und jeder mittelgroße Feuerwehr-Einsatz bekommt ein paar Zeilen extra. Wobei ein Zahlenvergleich interessant wäre: Wie viele Einsätze hat es an den letzten Sonntagen gegeben? Waren es heute wirklich exorbitant mehr Alarm-Situationen? Und welcher Anteil verdankt sich der Hysterie, die im Vorfeld eifrig geschürt worden ist?

Unterdessen hat die Deutsche Bahn, gleichsam vorsorglich, ihren kompletten Betrieb eingestellt. Schon zuvor hatte sie prophylaktisch vor Bahnfahrten zwischen Sonntag und Dienstag gewarnt. Mal ehrlich: Wir haben es auch nicht anders erwartet. Kaum fallen im Herbst die ersten Blätter, herrscht bereits gelinde Panik beim einstigen Staatsbetrieb.

Aber die Bahn ist nicht allein mit ihrer Schnappatmung. Veranstaltungen aller Art (Sport, Kultur etc.) sind abgesagt worden, etliche (nicht alle) Ruhrgebiets-Städte schließen am Montag sämtliche Schulen, andere Kommunen stellen die Entscheidung den Eltern frei, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken wollen. Da die Bahn höchstwahrscheinlich nicht fahren wird und somit ein Autoverkehrs-Chaos nach sich ziehen dürfte, steht man tatsächlich vor einem Dilemma.

Und all diese Absagen fließen wiederum in die Liveticker ein, obwohl sie ja erst einmal vorsorglich angeordnet worden sind; wohl nicht zuletzt, damit man juristisch und haftungsrechtlich auf der sicheren Seite ist. Aber es plustert die ansonsten ziemlich nichtigen Nachrichten auf. Die Medien, die hier mäßigend und relativierend zur Sache gehen, muss man mit der Lupe suchen. Falls man sie überhaupt findet.

Es scheint so, als stünde die allzeit befeuerte Aufregung (auch in diesem Falle) in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu wirklichen Vorgängen. In früheren Zeiten hätte man um derlei Wetter-Kapriolen nicht halb so viel Aufhebens gemacht.

Irgendwann stand dann doch fest, dass es insgesamt nicht so schlimm gewesen ist – der nächtliche Stand der Dinge, frühmorgens geliefert. (Screenshot: Liveticker der Ruhrnachrichten)

Und ja: Man darf nicht selten durchaus ähnliche Missverhältnisse zwischen Aufregung und Geschehen vermuten, wenn es um sonstige Nachrichten-Fährnisse geht. Klar ausgedrückt: Jede Menge Peanuts und Petitessen werden aufgebauscht, bis man irgendwann gar nicht mehr hinhören mag.

Einer der Höhe- oder Tiefpunkte (je nach Betrachtungsweise) war heute im Liveticker der Ruhrnachrichten zu lesen. Nach Einstellung des Bahnverkehrs, so hieß es, machten Dortmunds Taxifahrer am Hauptbahnhof das Geschäfts des – Achtung! – Jahrhunderts… Was hat derlei lachhafte Großmäuligkeit noch mit Journalismus zu tun?

Aber egal. Nach zwei bis drei Tagen redet eh kaum noch jemand drüber. Dann stürzen sich die dauererregten Betreiber der Liveticker wieder auf den nächsten Skandal, Hype, Shitstorm oder dergleichen Zeugs.

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P. S.: Ich kann im Falle „Sabine“ nur aus Dortmunder Nahsicht reden. Mag sein, dass anderorts deutlich mehr vorgefallen ist. Mag auch sein, dass es sich nachts noch steigert. Dann werde ich Abbitte leisten.

 




Jonathan Franzen: Der Kampf ums Klima ist bereits verloren

Beim Weltwirtschaftsforums in Davos hatte jeder seine eigene Wahrheit. Während Klima-Aktivistin Greta Thunberg davon sprach, dass die Welt in Flammen stehe und sie eine sofortige, radikale Reduktion aller Emissionen anmahnte, verbreite US-Präsident Donald Trump heiteren Optimismus, lobte seine eigene Politik und wies die Propheten des Untergangs aufs Schärfste zurück. Schade, dass der Schriftsteller und Vogelkundler Jonathan Franzen nicht nach Davos eingeladen war.

Der Autor, der seit dem Erfolg von „Die Korrekturen“ in der ersten Liga der Weltliteratur spielt, hat sich immer wieder in die Umwelt-, Klima- und Artenschutz-Debatte eingemischt: Sein Essay „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ hat erhebliche Sprengkraft.

Franzen möchte, dass wir der schmerzlichen Wahrheit ins Auge sehen: Das Spiel ist aus, wir haben den „Point of No Return“ erreicht, wir werden den Klimawandel nicht mehr verhindern. Auch wenn sich die Politiker noch heute aufraffen, die Emissionen mit sofortiger Wirkung radikal zu reduzieren und die Weltwirtschaft umzubauen: Es ist zu spät. Bis nachhaltige Effekte eintreten, würde es Jahre dauern, die wir nicht mehr haben.

Die Katastrophe wird kommen und wird fürchterlich sein: Dürre, Brände, Hunger, gigantische Flüchtlingsströme, gegen die alles bisherige nur ein harmloses Vorspiel war. Trump und alle Klimaleugner oder „Umweltsünder“ tun Franzen nur noch leid. Genauso alle Klima-Aktivisten, die ihre Kraft verschleudern und ihre Hoffnungen auf unrealistische Ziele richten, um dann in zehn Jahren, wenn immer noch nichts Grundlegendes passiert ist, zu resignieren.

Möglichst lange hinauszögern und halbwegs erträglich machen

Franzen aber will – trotz allem – Hoffnung verbreiten, er möchte, und das ist seine eigentliche Botschaft, dass Klimaaktivisten und Umweltschützer ihr Handeln darauf richten, das Inferno möglichst lange hinauszuzögern, es erträglich zu machen, sich auch wieder anderen, erreichbaren Themen zuwenden: dem Artenschutz, der Aufforstung, dem Umweltprojekt vor der Haustür, das man überschauen und begleiten kann, das die Gemeinschaft und letztlich die Demokratie stärkt.

Im Sommer 2019 war Franzen, der als junger Autor eine Zeitlang in Berlin gelebt hat, wieder in der Gegend, um in Ruhe zu schreiben, Vögel zu beobachten, in den Wäldern nach seltenen Wildtieren Ausschau zu halten. Es war heiß und trocken, und bei einer Radtour von Berlin nach Jüterbog ist er mitten ins Feuer-Inferno geraten, das plötzlich vor ihm ausbrach und dann tagelang in den Wäldern wütete. Franzen hat direkt vor Ort miterlebt, wie schnell sich die Feuerwalze ausbreitete, wie wehrlos die Feuerwehr den Naturkräften gegenüberstand und das Feuer nicht löschen, sondern nur begleiten, abwarten und auf Regen hoffen konnte.

Brände um Jüterbog stehen für die globale Katastrophe

Die Brände um Jüterbog sind für Franzen eine Metapher für die unaufhaltbare Katastrophe auf dem ganzen Planeten. Sie waren auch der Anlass, um für den „New Yorker“ den jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Essay zu schreiben, der dem Autor einen gigantischen Shit-Storm eingebracht hat: vor allem von Klimaaktivisten. Denn es regt sie auf, dass Franzen behauptet, die Klimakatastrophe sei nicht mehr aufzuhalten, es nütze nichts, jeden Tag in einer liberal-demokratischen Zeitung zu betonen, man müsse jetzt die Ärmel aufzukrempeln und anpacken, damit wir in zehn Jahre Zeit die Klimaziele erreichen.

Nein, wir haben keine Zeit mehr, sagt Franzen, die Uhr ist abgelaufen, alle Warnungen und Prognosen, die der Club Of Rome im Buch über die „Grenzen des Wachstums“ schon vor über 45 Jahren formuliert hat, sind eingetroffen.

Die große Wut der Aktivisten 

Es nervt die Klimaaktivisten, wenn Franzen darauf hinweist, dass selbst bei Erreichen einiger Klimaziele, z. B. der Begrenzung auf zwei Grad Erwärmung, die Katastrophe laut Klimaforschern allenfalls „theoretisch“ noch abzuwenden ist, aber „praktisch“ eher nicht. Wenn Franzen einzelnen Klima- und Umwelt-Projekten attestiert, kompletter Blödsinn zu sein, Geld und Ressourcen zu verschwenden (wie bei der Bio-Dieselverordnung der EU, die zur Entwaldung von Indonesien zugunsten von öden Palmöl-Plantagen geführt hat), rasten sie aus. Es ist wunderbar, New York in ein grünes Utopia zu verwandeln, aber was nützt es, wenn die Texaner weiterhin Öl fördern und Pick-ups fahren?

Franzens Fazit: Wir sollten uns nicht länger belügen, sondern die bittere Wahrheit akzeptieren. Jeder muss für sich eine Entscheidung treffen: Was kann ich tun, um durch Konsumverhalten, Energieverbrauch usw. die Katastrophe ein wenig hinauszuzögern, das Überleben ein bisschen erträglicher zu machen.

Stärkung der Demokratie dringend nötig

Weil Katastrophen einher gehen mit brutaler Waffengewalt und Auflösung aller staatlichen und rechtlichen Verbindlichkeiten, ist für Franzen die Stärkung der Demokratie das oberste Ziel: Überall faire Wahlen garantieren, Vermögensunterschiede abschaffen, Hassmaschinen abschalten, Gleichberechtigung aller Rassen und Geschlechter herstellen, Pressefreiheit, humane Einwanderungspolitik, Respekt vor den Gesetzen: all das ist gesellschaftliche Klimapolitik, nur so können wir die Katastrophe meistern und abfedern – und nur dann hätte Franzen die „Hoffnung, dass die Zukunft, selbst wenn sie zweifellos schlechter sein wird als die Gegenwart, in mancher Hinsicht auch besser sein könnte.“

Jonathan Franzen: „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? –Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können.“ Ein Essay. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Mit einem Interview von Wieland Freund. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2020. 64 Seiten, 8 Euro.