„Kultur im Revier gehört nicht an den Katzentisch“ – Thierse und Clement auf Zeche Zollern zum „Kulturforum der Sozialdemokratie im Ruhrgebiet“

Von Bernd Berke

Dortmund. Ein „Kulturforum der Sozialdemokratie im Ruhrgebiet“ ist am Samstag in Dortmund gegründet worden. In kulturellen Grundsatzreden skizzierten zwei hochrangige SPD-Politiker den thematischen Rahmen: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, zugleich Bundesvorsitzender der 1983 noch von Willy Brandt angeregten Kulturforen, und NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement.

Rund 300 Teilnehmer aus Kultur, Politik und Wirtschaft hatten sich im Westfälischen Industriemuseum (Zeche Zollern II/IV) in Dortmund-Bövinghausen versammelt. Thierse ermutigte die Dortmunder, mit dem Pfund dieser musealen Einrichtung zu wuchern, denn es sei wohl das deutsche Industrieareal, welches am frühesten unter Denkmalschutz gestellt wurde. Überhaupt sei historisches Bewusstsein eine Stärke des Reviers. Den „Mythos Ruhrgebiet“ habe er sogar zu DDR-Zeiten in Thüringen wahrgenommen. Also sei es an der Zeit, auch hier ein SPD-Kulturforum ins Leben zu rufen.

Ob das Forum zum Gesprächskreis zwischen Künstlern und Politikern gerät, ob es als kulturelle Lobby, als loses „Netzwerk“ antritt oder sich völlig anders entwickelt (2002 ist ein Bundestags-Wahljahr), das alles ist noch nicht ausgemacht.

Neuer Auftrieb nach dem Ende der Ära Kohl

Thierse wünscht sich jedenfalls, dass die Debatten der Kulturforen „ins Regierungshandeln einfließen“. Nur im offenen, beiderseitig kritischen Dialog mit Kulturschaffenden könne seine Partei „auf der Höhe der Zeit“ bleiben. Gerade im Strukturwandel, bei dem das Revier vorangegangen sei, eröffne Kultur neue Denkfelder, neue Handlungsorientierung. Sie werde immer wichtiger und gehöre „nicht an den Katzentisch, sondern ins Zentrum politischer Kommunikation.“ In der Kohl-Ära hätten sich Künstler und Intellektuelle vielfach auf unverbindliche Positionen zurückgezogen, doch „seit 1998″ – so Thierse – seien Kulturfragen auch bundespolitisch wieder nach vorn gerückt.

Ministerpräsident Clement schwelgte in einer Vision des Ruhrgebiets von morgen. Die Region bekomme einen „ganz neuen Rhythmus“, auch und vor allem kulturell. Gérard Mortier werde hier mit der „Ruhr-Triennale“ gewiss „das aufregendste Signal der Erneuerung setzen“. Die öffentliche Kulturfinanzierung begreife er, Clement, ohnehin nicht als „Subvention, sondern als Investition in die Zukunft“. Vom neuen SPD-Kulturforum erwarte er, dass es eine „Plattform der Kreativität“ werde.

Das Forum wird getragen von den SPD-Bezirken Westliches Westfalen und Niederrhein. Schon daran sieht man: Revier ist nicht gleich Revier. Clement sprach über die Provinzialstraße, jene in mancher Hinsieht kaum überwindliche Grenzen zwischen westlichem und östlichem Ruhrgebiet. Und auch Dortmunds Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer setzte sich von der Idee einer übergreifenden „Ruhrstadt“ ab.




Ein lachender Lenin galt schon als frech – Schau mit DDR-Plakaten in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Unverdrossene „Linksaußen“ dürften an dieser Ausstellung ihre Freude haben. So häufig wie jetzt im Essener Plakatmuseum sieht man die Konterfeis der Herren Marx, Engels, Lenin oder Thälmann in unseren Tagen selten.

Man fühlt sich fast in die rebellischen 60er Jahre versetzt, als solche Bilder auch hiesige Wände zierten. Doch eigentlich geht’s bei der neuen Ausstellung gar nicht um derlei Vergangenheits-Beschau der „Joschka Fischer-Generation“, sondern quasi ums Gegenteil, nämlich den Überdruss an plakativer Indoktrination, die den Alltag der DDR prägte.

Rund 140 Beispiele für „Agit-Prop“ aus dem verblichenen zweiten deutschen Staat sind zu besichtigen. Von „Kunst“ kann selten die Rede sein. Schon der Begriff „Kunstgewerbe“ würde mancher Hervorbringung schmeicheln. Meist hingen die Werke nicht etwa in privaten Haushalten (da träumte man wohl eher vom West-Konsum), sondern in öffentlichen Einrichtungen – pflichtschuldigst angepappt.

Erstaunlich, dass die überwiegende Anzahl der Exponate aus den 80er Jahren stammt. So selbstgewiss trumpfen sie auf, als wäre mit Staat und Partei noch alles in bester Ordnung. Nur mühsam hatte man sich von Stereotypen in Sprache („Vorwärts zu…“ / „Nieder mit..,,“) und Bildformeln gelöst: So erscheint etwa der Kommunistenführer ErnstThälmann mit gereckter Faust, immer und immer wieder. Nur zaghaft wird er auf späteren Plakaten mit farbigen Überblendungen verfremdet.

Friedenstauben und „glückliche“ Kinder

Ähnlich langsame Mutationen gab es in Sachen Marx. In den 80ern darf der Urahn des Kommunismus auch schon mal ein wenig „poppig“ dargestellt werden. Doch man hechelt der ästhetischen Entwicklung meist weit hinterher, und kaum einmal gelingen überzeugende grafische Lösungen. Welch ein Unterschied zur kritischen DDR-Malerei jener Jahre, die derzeit im Schloss Cappenberg gezeigt wird (die WR berichtete).

Der lachende Lenin, ein T-Shirt mit Marx-Motiv tragend (1983), galt schon als relativ „freches“ Motiv. Noch mutiger war man bisweilen in der Kulturszene: Ein Theaterplakat zeigt den nunmehr todernsten Lenin, ringsum garniert mit Einschuß-Löchern.

Sodann die Serien zum NATO-Doppelbeschluss. Wer zählt all die Friedenstauben, die zu Beginn der 80er Jahre der „ruhmreichen Sowjetunion“ zugeordnet wurden, und wer die Totenköpfe, die allemal auf die US-Aggression hinwiesen? Ganz so simpel lagen die Dinge ja wohl nicht…

Es muss nervtötend gewesen sein, ständig solche Plakate vor Augen zu haben: Junge Pioniere mit Fackeln, angeblich „glückliche“ vietnamesische Kinder mit roten Fahnen, muntere FDJ-Mädels mit dcm Spruchband „Die Partei – das werden wir“. Irrtum. Sie wurden’s nimmermehr.

Deutsches Plakatmuseum, Essen, Rathenaustraße 2. Bis 22. März. Di-So 12-20 Uhr




Der Geist des Freiherrn vom Stein – Endlich eine Dauerschau auf Schloss Cappenberg

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. Immerhin 15 Jahre lang, von 1816 bis zu seinem Tode 1831, hat der große preußische Reformer, der Freiherr vom (und zum) Stein, auf Schloss Cappenberg gelebt. Man darf sich wundern, dass ihm dort erst jetzt eine Dauerausstellung gewidmet wird.

Die Schau, die nun mit rund 200 historischen Exponaten das Obergeschoss im Westflügel füllt, wäre längst fällig gewesen. Der Geist des Ortes (wenn nicht gar der des Freiherrn) hat doch geradezu danach gerufen!

Der Freiherr vom Stein erwarb das Schloss als Altersruhesitz. Mit seiner Frau, zwei Töchtern und einigen Bediensteten genoss er hier die Beschaulichkeit nach einem wechselvollen Leben. Brieflich pries er „den weiten, freien Blick in eine große, schöne, von den Gebirgen des Sauerlands begrenzte Ebene.“ An solcher Stätte ließ sich’s wohlsein. Hier erreichte ihn auch Post vom Dichterfürsten Goethe, der dankbar eine gemeinsame Rhein-Reise erwähnte.

Der umsichtige Freiherr, der seine Laufbahn als Bergrat in Wetter/Ruhr begann, wurde nachmals berühmt durch Reformen zur Bauernbefreiung (Aufhebung der Leibeigenschaft). Auch hat er Vorläufer der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung entwickelt. 1808 ward ein antifranzösischer Brief aus seiner Feder ruchbar – unter der napoleonischen Besatzung ein Frevel. Napoleon ächtete ihn, der Freiherr musste flüchten, fand sich später gar als Berater des russischen Zaren wieder. Zur Abwehr gegen französische Häscher trug er einen Stock mit aufgesetztem Springmesser bei sich, der nun in einer Çappenberger Vitrine zu sehen ist. Das Ding wirkt gefährlich!

Die Ausstellung beginnt mit archäologischen Funden vom Areal, auf dem 1122 das erste Prämonstratenser-Kloster in deutschsprachigen Landen gestanden hatte. Graf Gottfried von Cappenberg hatte damals seine Stammburg dem Ordensstifter Norbert von Xanten vermacht. Der muss ein christlicher Fundamentalist gewesen sein. Eine Skulptur zeigt, wie er einem „Ketzer“ den Fuß ins Genick setzt.

Doch im Mittelpunkt steht natürlich (mit etlichen Porträts, Dokumenten und weiteren Relikten) der Freiherr vom Stein. Es wird etwa seine Lektüre ausgebreitet, und man bekommt gar seine (etwas abgewetzte) Aktentasche sowie einen bequemen Reisesessel zu Gesicht. Da rückt einem die Historie plötzlich recht nahe.

Freiherr vom Stein. Dauerausstellung auf Schloss Cappenberg, Di-So 10-17 Uhr

 




Beim Schwinden und Scheitern des Lebens – Claus Peymann inszeniert Franz Xaver Kroetz‘ „Das Ende der Paarung“ in Berlin

Von Bernd Berke

Berlin. Bert will Sibylle über ihre Depressionen hinwegtrösten: „Wir kaufen uns die schönsten Cashmere-Pullover, die man in Bonn kriegen kann. Aber vorher wird gegessen. Iss!“ Doch die Abgemagerte mag weder essen noch kaufen, denn ihre Moral lässt es nicht zu: „Die Welt macht Holocaust, und wir kaufen uns Cashmere-Pullover…“

Sie ist eben eine unbedingte, eine unerbittliche Kämpferin für das Gute, gegen Not und Elend auf Erden. Eine, wie Petra Kelly gewesen sein mag, jene Vordenkerin der Grünen, die im Oktober 1992 von ihrem Gefährten, dem zur Umweltpartei konvertierten Ex-General Gert Bastian, erschossen wurde, der sich daraufhin selbst richtete. Nie ist der bestürzende Vorfall ganz geklärt worden.

Die Legende von Kelly und Bastian

Von den Legenden, die sich um das ungleiche Polit-Gespann ranken, hat sich Franz Xaver Kroetz zu seinem Stück „Das Ende der Paarung“ inspirieren lassen, wenngleich er anfügt, der Text sei „Fleisch von meinem Fleisch“, handle also von ihm selbst. 1996 wies Dieter Dorn in München eine Inszenierung von sich, jetzt hat Claus Peymann zugegriffen und damit seine erste eigene Premiere am Berliner Ensemble bestritten; ein Merkpunkt der Theatergeschichte.

Die Zuschauer erleiden, als seien sie mit den beiden eingesperrt, den allerletzten Tag des Paares – vom Frühstück bïs zu den tödlichen Schüssen. Es ist (wie bei Kroetz gang und gäbe) mal wieder ein Gebräu aus Körpersäften, deren Fließen oder Stocken ausgiebig beredet und in bittere gegenseitige Vorwürfe gegossen wird.

„Bärli“ (Bert alias Bastian) ist alt, vertrocknet und impotent, bei „Rehlein“ (Sibylle, sprich Kelly) bleibt die Periode aus, das Klimakterium der Kinderlosen kündigt sich an. Und beide leiden an Inkontinenz, so dass der Geruch des Harns sich nun sozusagen mischen kann mit dem Vorgeschmack des Todes; wie auf einer Siechenstation.

Das düstere Ende ist immer schon Inbegriffen. Bezeichnend Berts Hörfehler: Sibylle, politisch tief enttäuscht vom Weltenlauf und am eigenen Unvermögen verzweifelnd, zudem offenbar in der Partei weitgehend kaltgestellt (das Telefon läutet zu ihrem Leidwesen nicht mehr), Sibylle also will, dass jemand sie von sich selbst erlöse – und Bert versteht „erschießen“…

Das Elend eines isolierten Paares

Im niederdrückend geschmacklos möblierten Bonner Reihenhaus, dessen Zimmer auf schräg stürzender Bühne klaustrophobisch spitz zulaufen, erleben wir das Elend eines isoliert eingeschlossenen Paares, wie es wohl manche geben dürfte. Wir sehen, wie sie einander belauern, umschleichen, argwöhnisch ausspionieren, jeder ein letzter Halt für den anderen, aber auch gnadenloser Zeuge beim Schwinden und Scheitern des Lebens.

Sibylles infantile Angst- und Ohnmachtsanfälle (Therese Affolter windet sich in Verkrampfungen oder embryonalen Haltungen) prallen ab an der stoischen Ruhe Berts (Traugott Buhre, oft schier unnahbar, von fast staatsmännischer Statur). Im einen Moment sucht sie Schutz bei ihm, im nächsten beschimpft sie ihn als Nazi und Militaristen. Doch politische Begriffe sind hier sowieso nur noch ein dünnes Substrat, aus dem Verletzungen und Beleidigungen rinnen. Rund drei Stunden dauert das ewiggleiche Auf und Ab, die ermüdende Abfolge aus Provokationen und Bitten um Verzeihung.

Schauen wir da etwa nur voyeuristisch in die Abgründe einer üblichen Mesalliance, oder ist die Liaison exemplarisch im weiteren Sinne?

Genrebild der Bonner Republik?

Die ganze Szenerie (Bühnenbild: Karl-Ernst Herrmann) ist eingefaßt in einen großen goldenen Bildrahmen, als sei’s denn doch ein Genrebild aus den Tagen der ach so beengten Bonner Republik, wie der Neu-Berliner Peymann findet. Doch nur wenige Szenen greifen ins Allgemeinere aus, so wenn Sibylle/Kelly an die Unerbittlichkeit einer Ulrike Meinhof anknüpft und sich deren militante Sätze zu Eigen macht: „Entweder Schwein oder Mensch…entweder Problem oder Lösung – dazwischen gibt es nichts“. Oh, du ewig rigide, erzdeutsche Sinnesart, Marke 70er Jahre!

Vielleicht eine Temperamentsfrage: Peymann beschwichtigt Kroetz‘ Furor. Der Text hebt gleich schäumend an und will sich immerzu steigern. Das lässt die Regie ihm nicht durchgehen. Zum bedrohlichen Ticken eines Metronoms werden die Szenen immer wieder für Sekunden als Standbilder eingefroren – eine Gratwanderung zwischen Spannungs-Stau und Spannungs-Verlust. Es ist, als wolle Peymann in solchen Momenten sanfte Zwischentöne erlauschen. Aber welche?

Termine: 22. und 23. Februar. Karten: 030/28 408-155.




Martin Luther King zwischen Utopie und Personenkult: „I Have A Dream“ – Stück über den Bürgerrechtler in Wuppertal uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. Am Anfang war das Wort, also beginnt der Abend mit einem Bibelzitat: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln…“ Viele Dutzend gerahmte Bilder aus dem Leben des legendären schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King (geboren 1929, ermordet am 4. April 1968) zieren die rückwärtige Bühnenwand. Wenn deren vier Segmente sich öffnen, so tut sich in der Mitte eine sinnreiche Kreuzesform auf. Der Freiheitskämpfer war zunächst einmal Baptistenprediger.

Als „Stück für die ganze Familie“ annonciert das Wuppertaler Schauspielhaus Gerold Theobalts „I Have A Dream“. Das Etikett lässt bereits ahnen, dass inhaltliche und ästhetische Wagnisse weitgehend ausbleiben. So ist es denn auch: Der zeitgeschichtliche Rückblick wird – auch in Holk Freytags recht achtbarer Inszenierung – den Ruch braver Belehrung nie ganz quitt. Es bleibt ein Zwitter zwischen maßvollem Problemstück und leichtlebigem Musical.

Arg fahrig wirken die ersten zehn Minuten. Die Musikband übertönt die Worte der Schauspieler. Man fürchtet, Intendant Freytag könne mal wieder auf offener Szene zum Premieren-Abbruch schreiten, doch bald pendeln sich die Dinge sachte ein; nicht nur, was den Lautstärkepegel angeht. Auch das vielköpfige Ensemble findet in besseres Fahrwasser.

Die Aufführung gewinnt mit wachsender Dauer, sie hat ihre stärksten Momente nach der Pause und erreicht einen Gipfel gegen Schluss – mit Martin Luther Kings bewegender „I have a dream“-Rede von 1963. Titeldarsteller Tim Grobe, mit drangvollem Ernst bei der Sache, trägt sie so flammend vor, als werde sie wahrhaftig erst in diesem Moment gehalten. Ihr utopisches Gleichheitsversprechen ist ja bis heute keineswegs eingelöst.

Lehrstoff mit Gospelgesang verabreicht

Nach kurzer Aufwärmphase kann man also dem Geschehen konzentrierter folgen und sich dazwischen im Takt von Gospelklassikern sowie artverwandten Mainstream-Songs wiegen (Hitliste: „When the Saints…“, „Glory Glory Halleluja“, „Oh, Happy Day“, „We Shall Overcome“), die von der farbigen Ronnell Bey hinreißend dargeboten werden. Dafür gibt es Szenenbeifall und am Ende heftige „Zugabe“-Rufe.

In solcher Verpackung werden Wissens-Happen verabreicht. Man erfährt etwas über den familiären und religiösen Hintergrund des Martin Luther King. Schlimme Fälle von Rassentrennung (separate Plätze im Bus usw.) aus den 50er- und 60er-Jahren werden knapp skizziert.

Breiteren Raum nimmt die Gewaltdiskussion ein. King will (nach Gandhis Vorbild und im Sinne der Bergpredigt) den Rassisten friedlich Widerstand leisten („Liebet eure Feinde“) und erliegt dabei vielleicht einer gefährlichen Illusion. Stokeley Carmichael (Torsten Hermentin) und Malcom X (Christian Doll) treten für radikale Lösungen ein. Der Senator und spätere US-Präsident John F. Kennedy (hier mit mafioser Sonnenbrille) spekulierte der Wuppertaler Lesart zufolge anno 1960/61 nur auf schwarze Wählerstimmen, als er King unterstützte.

Das Ganze mündet in eine politisch korrekte Apotheose und damit in eine andächtige „Stillstellung“ der Figur: Martin Luther King wird als weiterer Gründervater der Vereinigten Staaten neben George Washington und Abraham Lincoln inthronisiert, als sei es mit solchem Personenkult ein für allemal getan.

Es reicht auch nicht, die Rassisten vom Ku-Klux-Klan mit kakophonen Klängen als fragloses Schrecknis an die Wand zu malen. Man sollte schon ihre Motive bloßlegen. Etwas weniger wohlfeile Bestätigung und etwas mehr Reibungspunkte täten der Produktion gut. „Oh Happy Day“ ist schön und gut, aber nicht genug.

Termine: 4., 5., 6. Februar. Karten: 0202/569-4444




Fragen zu den Honoraren mag Lafontaine überhaupt nicht – Buchpremiere von „Das Herz schlägt links“ im Frankfurter Saal „Harmonie“

Von Bernd Berke

Frankfurt. Es klang wie Ironie: Ausgerechnet den Saal mit dem Namen „Harmonie“ hatte der Econ-Verlag auf der Frankfurter Buchmesse reserviert, damit Oskar Lafontaine endlich offiziell sein schon vor Erscheinen heftig diskutiertes Buch „Das Herz schlägt links“ vorstellen konnte.

Zu vielen Hunderten waren die Journalisten gekommen, und sie rissen den Verlagsleuten das Buch förmlich aus den Händen, just weil Lafontaine eben nicht in Harmonie mit der SPD lebt. Dutzende von Kamerateams suchten ein Bild des Tages einzufangen. Für Minuten schwebte während der Pressekonferenz ein herzförmiger roter Luftballon durch den Raum. Wer wollte, konnte darin ein Symbol sehen.

Ob Lafontaine auf dem bevorstehenden SPD-Parteitag in Berlin eine Rede halten und Gerhard Schröder die Leviten lesen wolle? „Warten wir erst mal ab, ob ich überhaupt dazu eingeladen werde“, meinte der Kanzler-Kritiker, lächelnd wie eine Sphinx. „Im vertretbaren Rahmen“ werde er auch künftig an Parteiveranstaltungen teilnehmen, lässt der Ex-Vorsitzende wissen. „Aber auf Jobsuche bin ich nicht. Keine Sorge. Ich habe genug zu tun“.

„Die wollten mir einen reinwürgen“

Natürlich erhebt sich auch die Frage, was er denn sage zum barschen Ausruf des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass („Halt’s Maul, Oskar, trink deinen Rotwein“). Lafontaine: „Den zweiten Teil des Rats werde ich gern befolgen, den ersten nicht.“ Es sei schon erstaunlich, wenn ein Schriftsteller anderen den Mund verbieten wolle. Doch dann, halbwegs versöhnlich: „Meine Freundschaft ist belastbar. Vielleicht denkt Grass ja noch einmal nach…“

Viel dünnhäutiger reagiert er, wenn nach seinen Vorabdruck- und Autorenhonoraren gefragt wird. „Wer hat Sie hierher bestellt?“, fertigt er einen ab, der dazu etwas wissen will. Lafontaine wittert eine gezielte Medien-Kampagne: „Die Meute wollte mir einen reinwürgen.“ Mit dem Buch selbst habe sich noch niemand sachlich auseinander gesetzt, die Debatte darüber müsse erst noch beginnen. Stattdessen reite man auf den Honoraren herum. Lafontaine: „Soziale Gerechtigkeit entsteht nicht dadurch, dass jemand auf seine Einkünfte verzichtet.“

Kein gutes Haar am Schröder-Blair-Papier

Zuvor hatte er einzelne Buchkapitel knapp erläutert. Er bekräftigte seine Kritik am „Schröder-Blair-Papier“, das sich an der Sprache des Marketings und der Werbung orientiere. Das „gedankenlose Geschwätz“ von der Flexibilität des Arbeitsmarkts, könne er nicht mehr ertragen. Menschen seien nicht so verfügbar wie Kapital. Und auch dieses soll möglichst gebändigt werden: Die Finanzströme bedürften der ordnenden Hand des Staates. Ex-Kanzler Helmut Schmidt denke ebenso.

Auf die Leitideen des Humanismus und der Aufklärung dürfe man aus wirtschaftlichen Gründen nicht verzichten. Überhaupt: Unter der von Schröders Regierung beschworenen „Modernisierung“ verstehe er, Lafontaine, jedenfalls nicht einen Wettlauf um Sozialabbau, sondern um ökologische Erneuerung, Gleichberechtigung der Frauen und dergleichen.

In der ganzen Finanzdebatte solle man die weiter bestehenden Lasten der deutschen Vereinigung nicht vergessen, findet Lafontaine. Nur dürfe man die entsprechenden Defizite nicht bei Rentnern und Arbeitslosen eintreiben. Und er ließ auch durchblicken, wie er dem Staat das fehlende Geld verschaffen würde: „Deutschland hat immer noch eine der niedrigsten Steuerquoten in Europa.“

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Der Beitrag stand am 14. Oktober 1999 im Politikteil der Westfälischen Rundschau.




Günter Grass: Streitbar ist der Geist – Der deutsche Schriftsteller erhält in diesem Jahr den Literaturnobelpreis

Von Bernd Berke

Seit so vielen Jahren stand Günter Grass immer wieder ganz oben auf den Favoritenlisten, wenn es an die Vergabe des Literaturnobelpreises ging. Nun endlich ist es so weit: Grass, der bereits 1959 mit der „Blechtrommel“ seinen wohl nachhaltigsten Bucherfolg hatte, wurde vom schwedischen Komitee auserkoren.

Noch vor wenigen Tagen, am 19. September, hatte Grass (auch auf Einladung der Westfälischen Rundschau) in Dortmund aus seinem neuen Buch „Mein Jahrhundert“ vorgelesen. Dabei wirkte er so vital und entspannt, als wüsste er schon Bescheid…

Selbst der „Kritikerpapst“ Marcel Reich-Ranicki bedauert längst, dass er Grass‘ „Blechtrommel“-Roman seinerzeit weit unterschätzt habe. Wenn man jetzt in Reich-Ranickis gerade erschienenen Lebenserinnerungen die Schilderung seiner allerersten Begegnung mit Grass liest, so spürt man die starke Ausstrahlung, ja das Charisma, das Grass schon damals besessen haben muss. Als junger Mann kam er seinerzeit auf Besuch nach Warschau. Furchterregend sollen seine Augen geblitzt haben, und der Mann wirkte offenbar ein wenig trunken. Wahrscheinlich lag es just daran, dass er sich seinerzeit an die Arbeit zur „Blechtrommel“ begeben hatte. Ein Wort-Besessener, trunken von Sprache.

Neben der geradezu barock ausufernden, lebensprallen und grotesken Schelmen-Geschichte des kleinwüchsigen Blechtrommlers Oskar Matzerath, die die furchtbare deutsche Vergangenheit aus der Zwergen- und Irrenhaus-Perspektive unerhört scharf insAuge fasste, sind die Novelle „Katz und Maus“ (1961) und der Roman „Hundejahre“(1963) jene Werke, die Grass schon früh in den Rang einer „Galionsfigur“ der deutschen Literatur erhoben.

Mit der Ausprägung der deutschen Einheit gehadert

Grass hat, in stärkerem Maße als etwa Heinrich Böll, stets die Fähigkeit besessen, Kontroversen um sein Werk und seine Person hervorzurufen. Gut in Erinnerung ist noch jeher heftige, weit in den politischen Raum ausgreifende Streit um seinen Roman „Ein weites Feld“ (1995).

Grass hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er von der vereinnahmenden Art, mit der der Westteil Deutschlands 1989/90 die Vereinigung der Nation betrieb, nichts hält. Noch kürzlich hat er mit Martin Walser darüber gestritten. Grass über die Ausprägung der Einheit: „Es liegt immer noch kein Segen drauf.“

Grass war übrigens alles andere als ein Freund der „realsozialistischen“ DDR. Den Arbeiteraufstand gegen das SED-Regime hatte er 1953 mit eigenen Augen verfolgt. 1966 wurde sein darauf fußendes Theaterstück „Die Plebejer proben den Aufstand“ uraufgeführt, in dem auch die zwiespältige Rolle Bertolt Brechts unter die Lupe kam. Das verzieh ihm die offizielle DDR erst 1987. Grass verließ zudem den Schriftstellerverband VS, weil er dessen Solidarität mit verfolgten DDR-Kollegen vermisste.

Häufig mischte er sich politisch ein

Immer wieder hat sich Grass, darin ein Erbe der Aufklärungs-Tradition, mehr oder weniger geschickt in die Politik eingemischt. Die Zahl der Aufrufe und Resolutionen, die seine Unterschrift tragen, dürfte Legion sein. Für Willy Brandt ging der entschiedene Pazifist auf SPD-Wahlkampftour. Das haben ihm viele konservative Geister auf ewig übel genommen. Als die SPD 1992 dem strittigen Asylkompromiss zustimmte, kehrte er der Partei allerdings den Rücken.

Politischer Unmut schlug sich vielfach auch in Beurteilungen seiner weiteren Werke nieder. Manche Kritiker behaupteten, Grass‘ politische Engagement mindere seine ästhetische Potenz. Diese Denkfigur hat sich zum Vorurteil verfestigt. Bücher wie „örtlich betäubt“ (1969), „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ (1972), „Der Butt“ (1977),„Kopfgeburten“ (1980), „Die Rättin“ (1986), „Zunge zeigen“ (1988) und „Unkenrufe“ (1992) litten jedoch nur bedingt darunter, denn die breite Leserschaft blieb Grass treu.

Der am 1. Oktober 1927 in Danzig geborene Günter Grass, der seiner Heimatstadt einen Platz auf der literarischen Weltkarte sicherte, wirkte anfangs als Bildhauer. Auch ist er ein begabter Zeichner und Grafiker. Famoser Zufall: Noch bis zum 7. Oktober ist im Dortmunder Harenberg City Center eine Auswahl seiner Aquarelle und Lithographien zu sehen. Eine Ausstellung, die nun gleichsam besonders geadelt erscheint.

Ein Gefühl der Entwurzelung

Literarisch hatte sich Grass zunächst mit Lyrik und Kurzprosa hervorgetan. „Die Vorzüge der Windhühner“ hieß 1956 seine erste Veröffentlichung. Bereits 1955 hatte er sein Debüt bei der legendären „Gruppe 47″.

Grass, dessen Werke früher bei Luchterhand herauskamen und heute im Göttinger Steidl Verlag erscheinen, hat einmal gesagt, er empfinde sich immer noch als Mensch ohne Heimat, als Flüchtling: „Ich habe nirgendwo Wurzeln geschlagen“. So zog und trieb es ihn von Düsseldorf nach Paris, Berlin, für einige Monate gar nach Indien und zuletzt nach Lübeck, in die Vaterstadt von Thomas Mann und Willy Brandt. An Repräsentations-Wirkung kommt er – spätestens seit dem gestrigen NobelpreisEntscheid – nun wohl einem Thomas Mann gleich. Als sein literarisches Vorbild aber hat er stets Alfred Döblin („Berlin Alexanderplatz“) genannt.

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Kommentar

Längst überfällig

 

So ist manchmal das Leben: Da hatte Günter Grass gestern die Nachricht erhalten, dass man ihm endlich den lange erwarteten Literaturnobelpreis zuerkannt hatte – und dann musste er mittags zum Zahnarzt. Doch er wird es verschmerzt haben.

Das Stockholmer Nobelpreiskomitee hat eine längst überfällige Wahl getroffen. Grass repräsentiert wie kein zweiter lebender Schriftsteller den Aufbrach der deutschen Nachkriegsliteratur. Sein 1959 erschienener Roman „Die Blechtrommel“ wirkte in jenen Jahren befreiend. Auf einmal wehte wieder ein Hauch von Weltliteratur durch das Land.

Wie schon oft, so hat das Komitee auch diesmal einen eminent politischen Schriftsteiler gekürt. Sicher: Wenn Grass sich in die Zeitläufte einmischt, muss man mit seinen Positionen nicht immer einverstanden sein.

Heraus aus dem Elfenbeinturm

Grundsätzlich aber ist es wünschenswert, dass Autoren, speziell jene vom Range eines Günter Grass, nicht im Elfenbeinturm verharren, sondern sich gelegentlich beteiligen am Streit der Welt. Sie sind nicht selten in der Lage, einen anderen Ton in die Debatte zu bringen. Und es schadet ihrer poetischen Produktion keineswegs, wenn sie sich auf politischem Felde auskennen. Die strikte Grenzziehung zwischen beiden Bereichen ist ein altes deutsches Leiden.

Nun gratulieren sie alle – auch wenn sie schon mal mit Grass gehadert haben. Es ist gar zu schön, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder Zeit gefunden hat, um „alles“ von Grass zu lesen. Welcher andere Autor kann das von sich behaupten?

Die kulturellen Wissenslücken

Die Auszeichnung für Grass schmücke die ganze deutsche Kultur, hieß es gestern mehrfach. Diese EinSchätzung ist mit Vorsicht zu genießen. Denn tags zuvor hatte ein Umfrage-Ergebnis ans Licht gebracht, dass es um das kulturelle Wissen – gelinde gesagt – nicht gut bestellt ist. Viele Deutsche kennen beispielsweise Goethes „Faust“ oder Leonardos Bild „Mona Lisa“ nicht.

Es ist ein wenig wie mit dem Spitzen- und dem Breitensport. Wenn alle nur zuschauen, wie einige wenige Höchstleistungen erbringen, so ist es doch etwas betrüblich. Nun muss ja nicht jeder gleich dichten. Aber etwas häufiger lesen dürfte schon sein. Beispielsweise die Bücher von Grass. Machen wir’s dem Kanzler nach.

                                                                                                                       Bernd Berke




Warnung vor dem Ungeist – Gerhard Schneiders Olper Sammlung mit Bildern verfemter Künstler der NS-Zeit

Von Bernd Berke

Olpe. Gerhard Schneider hat eine höchst ehrenwerte Passion: Seit rund 15 Jahren sammelt er Bilder, deren Urheber zur NS-Zeit als „entartet“ verfemt und seither vielfach vergessen wurden.

„Ich will diese Künstler nicht zu großen Heroen stilisieren, aber man muß ihnen ein würdiges Andenken bewahren“, sagt der ehemalige Lehrer, der heute in Olpe-Rhode lebt. Jetzt zeigt er abermals eine Auswahl seiner Kollektion beim Olper Kunstverein Südsauerland. Seit 1992, als man dort den ersten Querschnitt aus Schneiders Depot präsentierte, ist die Sammlung schon wieder um ein Mehrfaches angewachsen.

Leitlinie ist die „expressive Gegenständlichkeit“, doch die rund 80 Werke könnten verschiedener kaum sein. Das weite Themenspektrum reicht von lieblichen Landschaften und arglosen Porträts bis hin zu Mahnungen vor wachsendem Ungeist und zur erschütternden Darstellung von KZ-Greueln.

Gar manches, aber nicht alles lohnt unter rein künstlerischen Gesichtspunkten eine Wiederentdeckung. Wichtiger sind zuweilen die Schicksale der Bilder und der Künstler: Auf der Rückseite einer Arbeit prangt noch ein Erlaß Hitlers, der die Beschlagnahme anordnete…

Die meisten blieben „namenlos“

Die meisten Künstler sind „namenlos“, doch ein paar prominentere sind vertreten: George Grosz schuf 1933 das bittere Bild „Der Held“. Es zeigt einen Kriegsinvaliden mit Krücke. Otto Pankoks Porträt einer Zigeunerin („Hoto II“) wurde 1937 von den Nazis in der Schandausstellung „Entartete Kunst“ dem Hohn .preisgegeben.

Hans Grundig zeichnete 1938 eine Rotte jaulender Hunde, die gleichsam die ganze Weltklage gen Himmel senden. Der Dortmunder Hans Tombrock ließ einen Dämon über einer düsteren Menschenmasse erscheinen.

Gerhard Schneider befaßte sich anfangs mit alten Stichen à la Merian. Eines Tages sah er Valentin Nagels „Frau mit Schleife im Haar“. Sie faszinierte ihn so, daß er seine Sammeltätigkeit völlig anders ausrichtete – auf die Verfemten; ganz gleich, ob sie im Exil oder in der „inneren Emigration“ tätig waren.

Längst gilt Schneider bundesweit als Fachmann. So erscheint in Kürze im Wienand-Verlag ein fast 500 Seiten starker Bildband über seine Sammlung.

Kunstverein Südsauerland. Großer Saal im Kreishaus Olpe, Westfälische Str. / Vom 4. Juli bis 8. August, So bis Fr 15.30 bis 18.30 Uhr.




Wie die Politik das Privatleben verdunkelt – Monika Marons bewegendes Erinnerungsbuch „Pawels Briefe“

Von Bernd Berke

Ein Lebenslauf besteht „aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, das nicht hätte geschehen müssen. Das beginnt mit der Geburt“. So zitiert die Schriftstellerin Monika Maron den großen Vordenker Niklas Luhmann. Das Zitat dient ihr als Leitlinie zur Erforschung der eigenen Familiengeschichte. „Pawels Briefe“ heißt ihr bewegender Erinnerungs-„Roman“.

Pawel Iglarz war ihr Großvater; ein polnischer Jude, der sich von hergebrachten Glaubensbindungen löste und Baptist wurde. Es bewahrte ihn in der NS-Zeit nicht vor Verfolgung. 1939 wurden er und seine Frau Josefa aus Berlin nach Kurow vertrieben, später wurden sie getrennt. Er kam ins Ghetto Belchatow, das 1942 „liquidiert“ wurde. Vielleicht wurde er dort ermordet, vielleicht in Kulmhof. Man wird es nie genau erfahren. Etwas ist geschehen, was nicht hätte geschehen müssen, nicht hätte geschehen dürfen.

Die eigene Herkunft fixieren

Ausgehend von den besorgten, erschütternd selbstlosen Briefen, die Pawel aus der schrecklichen Verbannung an seine Angehörigen schrieb, versucht Monika Maron („Flugasche“, „Stille Zeile 6″, „Animal triste“) die Familienhistorie zeitgeschichtlich zu verankern und auch ihre eigene Herkunft zu fixieren. Doch schon bald geraten vermeintliche Gewißheiten ins Wanken, und sie muß sich fragen, was man aus solcher Distanz überhaupt noch herausfinden kann. Eine Reise nach Polen zeigt vor allem, wie viele Spuren inzwischen verwischt sind. An jüdische Bewohner können sich selbst die Älteren nicht mehr erinnern. Furchtbare Löschung aus dem kollektiven Gedächtnis…

Mit-Diskretion und Scheu nähert sich die Autorin der Vergangenheit. Man spürt (und darf es nach der Walser-Bubis-Debatte doppelt bedenken): Erinnerung ist notwendig, doch sie läßt sich nicht in bestimmter Weise erzwingen. Mehr als fürs vielfach beschriebene „große Ganze“ interessiert sich Monika Maron für Einzelschicksale, die eben niemals in politischer Betrachtung aufgehen. Und sie stellt auch prekäre Fragen: Wie schuldig war ein junges Mädchen, das einen SA-Mann liebte und deswegen in seiner Horde mitlief?

Die DDR-Zeitschicht wird gleichfalls behutsam freigelegt, als könne da etwas zerbrechen. Stärker in den Blickpunkt rückt nun auch Monika Marons Mutter Hella, klug und lebenslustig, jedoch verführbar. Sie war einst mit dem damaligen Innenminister Karl Maron verheiratet und blieb über die DDR-Ära hinaus überzeugte Kommunistin.

Die Autorin will sich über eine solche Biographie kein Urteil anmaßen, der Mutter selbst stehe die „Deutungshoheit“ zu. Doch sie verübelt Hella die Nibelungentreue zur SED. Die Tochter selbst konnte ab 1981 nur noch im Westen publizieren und übersiedelte 1988 nach Hamburg.

Monika Maron schreibt einen klaren Stil, verlangt dem Leser aber etwas ab: Er muß sich auch auf Einzelheiten des Lebens ihrer Vorfahren einlassen. Eingefügte Fotografien aus dem Familienalbum halten Moment-Ansichten der „Wendepunkte“ fest. Oft verknüpfen sich, zuweilen exemplarisch, die privaten Geschehnisse mit Grundlinien deutscher Geschichte. An den oft schmerzhaften Schnittstellen wird es spannend.

Pawels Briefe erweisen sich als Hort fortwirkender Menschlichkeit. Hätte ihr gütiger Großvater nach dem Kriege noch gelebt, so findet Monika Maron, dann hätte allein sein Dasein im Familienkreis einen entschiedenen Einspruch nicht nur gegen den Faschismus, sondern auch gegen die SED-Herrschaft bedeutet. Und so sind die vergilbten Papiere ein Vermächtnis für alle, ein Mahnmal ganz eigener Art.

Monika Maron: „Pawels Briefe“. S. Fischer. 205 S., 38 DM.

Monika Maron liest am Mittwoch, 10. März, um 19.30 Uhr in der Reihe „Kultur im Tortenstück“ (Mitveranstalter: die WR und Bücher Krüger) im Dortmunder Harenberg City-Center aus ihrem Buch. Morgen (ZDF, 22.15 Uhr) wird das Buch auch im „Literarischen Quartett“ besprochen.




Als die Rebellion noch ganz frisch war – Gespräch mit dem Autor F. C. Delius über seinen neuen Roman zur Studentenrevolte

Von Bernd Berke

Die Werkliste des Friedrich Christian Delius (54) ist lang. Das Spektrum reicht von herzhaften Attacken auf Konzerne („Unsere Siemens-Welt“, 1972) bis zum Romanzyklus über den „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977. In „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) schilderte Delius die Gefühle eines kleinen Jungen zur Zeit der Fußball-WM 1954. Sein neuer Roman „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ (Rowohlt-Verlag) spielt 1966, im Vorfeld der 68er Studenten-Rebellion. Ein Gespräch mit F. C. Delius auf der Frankfurter Buchmesse:

Warum die Revolte der 60er Jahre als Romanthema? Aus Nostalgie?

F. C. Delius: Ich bin im Grunde kein „68er“, sondern ein „66er“. 1966 fing die enorme geistige und kulturelle Bewegung an und erweiterte sich dann aufs Gebiet der Politik. Demonstrationen hatten noch einen ganz schlichten moralischen Impuls. Und eine dieser allerersten Demonstrationen – im Februar 1966 vor dem Amerikahaus in Berlin – versuche ich zu beschreiben. 1968 gab es bereits eine Verengung. Da waren viele schon überzeugt bis zur Selbstüberschätzung und sprachen von Revolution. Der Aufbruch ist eine Sache von 1966. Das war noch frei von Dogmatismus und Ideologie, es war die Erweiterung des Horizonts. Der erste Blick nach Vietnam…

Ihre Trilogie zum „Deutschen Herbst“ und das „Weltmeister“-Buch liegen vor. Jetzt also 1966. Haben Sie eine komplette Roman-Chronik der Republik im Sinn?

Delius: Den Ehrgeiz habe ich nicht. All diese Bücher haben sich aus ganz persönlichen Fragestellungen entwickelt. Mit den Romanen zum „Deutschen Herbst“ wollte ich meine Lähmung und meine Hilflosigkeit erkunden. Das „Weltmeister“-Buch hat mit meiner Kindheit zu tun.

Sie verknüpfen in Ihrem neuen Roman die politischen Vorgänge mit den sexuellen Problemen Ihrer Hauptfigur. Dieser Martin ist überaus schüchtern und kommt nicht recht an die Mädchen heran.

Delius: Es geht mir nicht nur in politischer Hinsicht um das Öffnen des Blicks, das Öffnender Person. Ich finde, daß immer ein Zusammenhang besteht zwischen dem Sexualleben und den politischen Gefühlen und Gedanken.

Im „Literarischen Quartett“ ist das Buch vor ein paar Tagen recht gut weggekommen. Aber die „Frankfurter Allgemeine“ hat Ihnen vorgehalten, Sie hätten „Ich war dabei“-Literatur geschrieben.

Delius: Das finde ich eher amüsant. Meine Figur ist ja gerade kein Held, sondern ein relativ schwacher Mensch mit einigen Macken. Er entspricht nicht dem Klischee, das sich von den 68ern gebildet hat. Damals waren viele arme Würstchen dabei, die trotzdem was bewegt haben und was Richtiges gedacht haben.

Für wen haben Sie das Buch in erster Linie geschrieben: Für die Apo-Generation, oder eher für jüngere Leute?

Delius: Ich denke beim Schreiben zunächst mal nicht ans Publikum. Ich muß erst gucken, daß das, was ich mir vorgenommen habe, auf die Reihe kommt. Erst dann kann es auf andere wirken. Aber gerade jüngere Leute finden das Buch glaubwürdig, weil ich nicht das Heldenepos eines fertigen Jung-Revoluzzers geschrieben habe, sondern von einem erzähle, der skeptisch beobachtet, der Angst hat und Scham kennt.

Was sagen Sie zu den landläufigen Vorwürfen, die deutsche Gegenwartsliteratur sei nicht welthaltig genug?

Delius: Das ewige Gejammer ist dumm. Die deutsche Literatur ist stärker, als man allgemein denkt.




Warnung vor der „gelben Gefahr“ – Roman zur Übernahme Hongkongs durch China: „Kowloon Tong“ von Paul Theroux

Von Bernd Berke

Ab heute gehört die brodelnde Finanzmetropole Hongkong zur kommunistischen Volksrepublik China. Das historische Ereignis zwischen Bangen und Hoffen erschöpft sich nicht nur in Tagesnachrichten. Auch der Roman zum „Chinese takeaway“ liegt auf deutsch vor: „Kowloon Tong“ von Paul Theroux.

Theroux ist nicht irgendwer. Sein Buch „Mosquito Coast“ wurde 1986 von Peter Weir erfolgreich verfilmt, die Hauptrolle spielte Harrison Ford. Der Amerikaner Theroux, immer für einen Bestseller gut, zählt zu den großen Fernreisenden unter den Schriftstellern – ähnlich wie Cees Nooteboom oder der so früh verstorbene Bruce Chatwin. Auch in Hongkong kennt der weitläufige Mann sich bestens aus. Und so läßt er denn auch immer wieder Detailwissen über örtliche Gepflogenheiten einfließen, vorzugsweise über den Umgang mit Sex, Essen und Alkohol.

Wo der Geist der Kolonialzeit weht

In Hongkongs Viertel Kowloon Tong (etwa: „Teich der neun Drachen“) lebt Neville Mullard, genannt Bunt. Der ; inzwischen 43jährige ist als Sohn britischer Eltern in Hongkong aufgewachsen und hat soeben die traditionsreiche Textilfirma geerbt, die sein Vater mit einem nach Hongkong geflohenen Chinesen aufgebaut hatte. „Imperial Stitching“ heißt die Fabrik, die vor allem Aufnäher für Clubjacken und Livreen herstellt –very british. Der kolonialistische Geist ist hier noch rege.

Doch die Vorzeichen der Übernahme sind deutlich: Etliche Leute fahren über die Grenze und kaufen Immobilien in China, von dort wiederum strömen Heerscharen von Huren nach Hongkong, und viele Menschen besorgen sich anderwärts den Zweitpaß, um die Stadt jederzeit verlassen zu können. „Und man konnte nichts tun. Es war wie ein Tiefdruckgebiet, das Hongkong demnächst überziehen sollte“, heißt es einmal.

Herr Hung ist nur am Anfang höflich

Bunt, der jede Veränderung im Leben haßt, wohnt noch bei seiner königstreuen Mutter Betty, fährt den alten Rover, lauscht noch dem uralten britischen Radiogerät. Wie ein Uhrwerk absolviert er die Aufsicht über die Fabrik – und frequentiert verstohlen diverse Bordelle. Eines Tages aber wird alles anders. Da wird er mit einem Chinesen namens Hung konfrontiert. Der bietet ihm an, die florierende Fabrik zu kaufen. Bunt lehnt empört ab.

Hung läßt bald die höfliche Maske fallen. Es stellt sich heraus, daß er ein hohes Tier beim rotchinesischen Militär ist und schon mal das Terrain in Hongkong arrondiert. Die Fabrikfläche wird für eine Kaserne gebraucht. Hung kreist Bunt ein, indem er dessen Priyatleben ausspioniert. Bald hat er auch herausgefunden, daß Bunt sich eine Stickerin seiner Fabrik als heimliche Geliebte hält. Der Druck wird immer stärker, gewaltsamer.

Eine Welt der Dominanz-Verhältnisse

Theroux schildert eine Welt der Dominanz-Verhältnisse: Die Mutter herrscht über den Sohn, der gebietet via Geldbeutel über die Huren, während China sich allmählich Hongkong untertan macht. Sexuelle Obsessionen und Politik verschmelzen bedrohlich.

Der Autor plustert allerdings jenen Hung mit allen Mitteln zum überlebensgroßen Haß-Popanz auf und gibt sich überhaupt der Angst vor der „gelben Gefahr“ bedenklich bruchlos hin: „Für die Chinesen war die Welt ein einziger Spucknapf. – „Ganz China war eine Geheimgesellschaft“. – „.. .alle waren sich einig, daß China ein einziger Alptraum war“. Solche Sätze häufen sich vor allem im Schlußteil. Woran man sieht, daß weite Reisen nicht unbedingt zur Völkerverständigung führen, sondern manchmal die Abneigungen erst recht verfestigen.

Paul Theroux: „Kowloon Tong“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Erica Ruetz. Hoffmann und Campe. 254 Seiten. 38 DM.




„Mit Normen lässt sich Sprache nicht lenken“ – Gespräch mit Martin Walser, nicht nur über die Rechtschreibreform

Von Bernd Berke

Dortmund. Mit seinem Roman „Finks Krieg“ hat Martin Walser (69) tiefen Einblick ins Innenleben eines Ministerialbeamten gegeben, der im Zuge eines Regierungswechsels auf einen minderen Posten abgeschoben wird. Dieser Fink, einer wirklichen Person nachgebildet, aber literarisch zur Kenntlichkeit gebracht, wird zum angstgepeinigten Kämpfer für sein Recht. Walser stellte das bei Suhrkamp erschienene Buch jetzt mit einer Lesung im Dortmunder Harenberg City-Center vor. Dort traf ihn die Westfälische Rundschau zum Gespräch.

Sie haben die vor wenigen Tagen publizierte „Frankfurter Erklärung“ mitunterzeichnet, einen entschiedenen Protest vieler Autoren gegen die Rechtschreibreform. Kommt das nicht zu spät?

Martin Walser: Ich hatte immer mein Leid mit dem Duden und mußte mich immer gegen Lektoren durchsetzen, die unter Duden-Diktat meine Manuskripte korrigiert haben. Mit nachlassender Energie habe ich immer auf meinen Schreibungen beharrt.

Nennen Sie uns ein Beispiel?

Walser: Mein Paradebeispiel ist „eine Zeitlang“. Ich hab‘ stets „eine Zeit lang“ in zwei Wörtern geschrieben. Der Duden verlangt es in einem Wort, was ja völlig unsinnig ist. Es stimmt weder historisch noch rational. Nach der neuen Rechtschreibung dürfte ich’s auseinander schreiben. Das ist für mich ein Fortschritt. Nur: Es ist eine autoritär ausgestattete Reform. Sie behebt einige Idiotien und installiert dafür andere. „Rau“ ohne „h“, da möcht‘ ich mal wissen, wer sich das ausgedacht hat…

Und wieso erheben Sie erst jetzt Einspruch?

Walser: Nun, weil Friedrich Denk (Deutschlehrer und Literatur-Veranstalter in Weilheim, d. Red.), der die Sache angeregt hat, mich jetzt befragt hat. Ich selbst hätte gedacht: Na, schön. Das ist gut, das ist blödsinnig – und hätte es dabei belassen. Weil ich sowieso nicht praktiziere, was im Duden steht. Schauen Sie: In meinem Roman „Brandung“ steht die Wortfolge „zusammenstürzender Kristallpalast“. Das müßte ich in Zukunft auseinander schreiben: „zusammen stürzender“.

Eine Sinnverfälschung?

Walser: So ist es. Hoffentlich sehen die Leute nun, daß solche Sprachnormen relativ sind. Vielleicht bildet sich gerade dann ein bißchen mehr Freiheit gegenüber den Regeln. Denn Sprache ist doch Natur – und sie ist Geschichte. Beides läßt sich nicht mit Normen lenken. Ich schreibe ja mit der Hand, folge einem rein akustischen Diktat in meinem Kopf. Wenn ich das nachher lese: Das ist so unorthographisch, so grotesk. Wenn ich Ihnen das zeigen würde, würden Sie sagen: „Das ist ein Analphabet.“ V und F geht da durcheinander wie „Fogel und Visch“. Schreibend ist man eben nicht auf Duden-Niveau.

Mal abgesehen von der Rechtschreib-Debatte: Ansonsten hat sich – Stichwort: Deutsche Einheit, die Sie früh und vehement befürwortet haben – die Aufregung um Sie ein wenig gelegt.

Walser: Zum Glück. Aber ich krieg‘ immer noch genug ab. Ein Rezensent hat geschrieben, er höre in „Finks Krieg“, in der politischen Tendenz „Marschmusik“. Seit der Diskussion um die Einheit haben die mich in diese Richtung geschickt, diese Arschlöcher! Der Peter Glotz empfindet in meinem Roman „dumpf-deutsche Fieberphantasien“. Ein anderer hat sinngemäß geschrieben: „Der Walser hat sich vom linken Kämpfer zum CSU-Festredner der deutschen Einheit entwickelt.“ Und das in einer Buchbesprechung.

Worte, die sich in Sie hineinfressen?

Walser: Ja, ja, ja. Ich wandere geistig aus d i e s e r Art von Gesellschaft aus. Ich will damit nichts zu tun haben, mit diesen Einteilungen – links, rechts. Mein Hausspruch lautet: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ In mir hat mehr als eine Meinung Platz. Ich hab‘ in den 70er Jahren erfahren, wie die Konservativen mit mir umgegangen sind. Damals hieß es: „Du bist ein Kommunist.“ Jetzt weiß ich, wie die Linken mit Andersdenkenden umgehen. Es ist noch verletzender. Und ich meine nach wie vor: Das größte politische Glück, das die Deutschen in diesem Jahrhundert hatten, ist diese Einheit. Die Misere steht auf einem anderen Blatt, aber sie hat Aussicht auf Behebung. Die Misere vorher war aussichtslos.

Und „Finks Krieg“, ist das der Roman über unsere politische Klasse?

Walser: Für mich ist es der Roman über einen leidenden Menschen. Übrigens war die Vorarbeit sehr quälend. Ich habe zwei volle Jahre Material studiert. Furchtbar. Immer nur notieren ist entsetzlich. Ein unguter Zwang. Ich bin auch nicht ganz gesund geblieben dabei. Ich habe manchmal gedacht: Vielleicht hört es überhaupt nicht mehr auf, vielleicht wirst du nie Herr des Verfahrens, vielleicht bist du nie imstande, frei zu schreiben. Mein neues Projekt hat deswegen gar nichts mehr mit Quellen und Recherchen zu tun. Es wird ein Buch über meine Kindheit – so, wie sie mir heute vorkommen möchte.




Wenn das Lächeln gefriert – 31 chinesische Gegenwartskünstler in Bonn

Von Bernd Berke

Bonn. Künstler aus dem „Land des Lächelns“ zeigen die Zähne. Und das darf man wörtlich nehmen. Bemerkenswert, daß einige der 31 chinesischen Gegenwartskünstler, deren Bilder jetzt in Bonn gezeigt werden, das gleiche Thema aufgreifen: die traditionelle Erziehung zur dauerhaft guten Miene, mit der man klaglos und ohne Gesichtsverlust private (oder auch politische) Schande hinnehmen soll.

Doch auf diesen Gemälden ist das Lächeln gefroren, verzerrt zum Haifisch-Grinsen oder bizarr gesteigert zum zynischen Gelächter über die Zustände. Und noch ein Thema kehrt in auffallend vielen Bildern wieder: schwebende Menschen. Sind s erträumte Flüge in eine Ungewisse Zukunft? Und falls ja: Wunsch- oder Alpträume?

Kreuz und quer durch die Provinzen

Neun Wochen waren der Chef des Bonner Kunstmuseums, Prof. Dieter Ronte, der TV-Kulturfilmer Walter Smerling und ihre chinesischen Begleiter im „Reich der Mitte“ unterwegs, kreuz und quer durch die Provinzen. Bei ihrer Kunst-Auswahl haben die Herren nicht mit offiziellen Stellen Chinas zusammengearbeitet, aber auch nicht gegen sie. Sie haben sich vor allem auf die Sachkenntnis von chinesischen Akademie-Professoren und Kunstkritikern gestützt. So kam man zu einer gediegenen, punktuell auch aufregenden Schau.

Die beteiligten Akademiker führen eine Doppelexistenz: Sie unterrichten – nach streng festgesetzten Regeln – herkömmliche Techniken wie Kalligraphie (Schönschrift), daneben aber produzieren oder fördern sie Kunst, die von Dissidenten stammen könnte.

Trotzdem bereitete die vorübergehende Ausfuhr nach Deutschland keine Probleme. Alles, was nicht älter als 150 Jahre ist, darf anstandslos die chinesischen Grenzen passieren. Die mit 150 Öl-Bildern heimgekehrten Museumsleute sprechen gar von einer „erstaunlichen Freizügigkeit“ in China. Haben sich denn alle geirrt, die die Menschenrechte in China verletzt sehen?

Bestimmt nicht. Zwar erlaubt das chinesische Regime listig die private Kunstschöpfung jedweder Richtung, doch werden kritische Bilder eben nie öffentlich gezeigt. Es gilt weiter die Doktrin des wirklichkeitsfernen Sozialistischen „Realismus“ asiatischer Spielart.

In bisher beispielloser Breite vereint die Schau aktuelle Künstler aus verschiedenen Regionen Chinas. Man hat Wert darauf gelegt, keine Exilkünstler einzuladen, sondern nur solche, die in der Volksrepublik leben. Daß es ausschließlich Männer sind, liegt wohl just daran, daß Frauen im chinesischen Kulturleben noch kaum eine Rolle spielen.

Mao ist nur noch ein Papiertiger

Diese Künstler also geben entschieden individuelle Antworten auf die Zeitläufte. Und doch scheinen sich einige Themen generell aufzudrängen, vor allem das Einsickern westlicher Produkte und Lebensstile ins wirtschaftlich sich öffnende Land. Sonnenklar wird dies bei Zhang Gong aus Peking, dessen ratloser Rotarmist umstellt ist von lauter kapitalistischen Marken-Emblemen sowie einer Armee aus Andy Warhols Marilyn-Monroe Reproduktionen.

In dieser gewandelten Welt ist der einstmals „große Vorsitzende“ Mao Tse-Tung, umrißhaft zu erahnen auf Bildern des Xue Song, nur noch eine anonyme Silhouette, ein bloßer „Papiertiger“. Und etliche Darstellungen, die auf die Chinesische Mauer anspielen, lassen an einen Gefängniswall denken.

Manche Künstler nehmen, als Nachfahren der amerikanischen Pop Art (deren Einfluß in China derzeit abklingt), auch schon die Schattenseiten der Konsum-Freiheiten wahr. Nicht nur Zeng Fanzhi führt (in einer „Masken-Serie“) Fratzen großstädtischer Entfremdung vor. Song Yonghong brandmarkt die Langeweile im Luxus, und Wei Guangoing enthüllt die sexuellen Oberflächenreize der Reklame im Kontrast zu alten erotischen Holzschnitten. Bilder einer neuen Unübersichtlichkeit.

„China!“ – Zeitgenössische Malerei. Kunstmuseum Bonn, Friedrich-Ebert-Allee 2 („Museumsmeile“). Di-So 10-18 Uhr, Katalog 39,50 DM.

 

 




Wie sehr uns Heinrich Böll fehlt – Zum zehnten Todestag des Literaturnobelpreisträgers

Von Bernd Berke

So lang ist es schon her: Am 16. Juli 1985 (Sonntag vor zehn Jahren) ist der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll gestoben. Wirkt der „gute Mensch von Köln“ noch nach?

Seine Erben lassen gelegentlich bisher unbekannte Schriften ans Licht kommen, demnächst soll etwa ein 1936 verfaßter Text erscheinen. Man ediert immer schön stückchenweise, damit das Geschäft nicht abreißt. Ebenso regelmäßig geraten die Bölls in Hader mit der Böll-Forschungsstelle an der Uni Wuppertal. Aber kann man das Nachwirkung nennen?

Es gibt heute keinen Autor von Rang, der an den Nahtstellen zwischen Literatur und Politik auch nur annähernd so viel Aufsehen erregt oder gar zum Repräsentanten taugt wie einst Böll. Günter Grass hat sich durch seine vorschnelle und gar zu harsche Ablehnung der deutschen Vereinigung ein wenig ins Abseits manövriert. Martin Walser hat den Gegenkurs eingeschlagen und zählt heute auch CSU-Finanzminister Theo Waigel zu seinen Freunden. Siegfried Lenz, sowieso nie sonderlich aufs Scheinwerferlicht versessen, hat sich noch mehr zurückgezogen. Hans Magnus Enzensberger gefällt sich in intellektuellen Volten, ist buchstäblich nicht zu fassen.

Von Botho Strauß zu schweigen, der sich weigert, den Vorwurf der Nähe zum Rechtsextremismus zu entkräften. Und die ostdeutschen Autoren hatten meistenteils damit zu tun, einander diverse Stasi-Tätigkeiten vorzuhalten.

Daß heute kein Schriftsteller, sondern ein Kritiker und Showstar wie Marcel Reich-Ranicki die Debatte via Fernsehen maßgeblich, ja beinahe monopolistisch bestimmt, ist ein Krisenzeichen. Kurz und traurig: Einer wie Böll, dessen Werke noch von vielen Menschen kontrovers diskutiert wurden, fehlt uns wohl.

Stimmen aus der Literatur werden heute ignoriert

Aber es sind eben ganz andere Zeiten. Eher unwahrscheinlich sind heute solche Vorgänge wie in den 70er Jahren, als etwa der erzkonservative Journalist Matthias Walden Heinrich Böll geistige Mit-Urheberschaft am RAF-Terrorismus vorhielt. Schwer nachzuvollziehen auch, daß prominente CDU-Politiker vom Rednerpult des Bundestages herab gegen Bölls Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ zu Felde zogen. Heute ist man in Bonn geschickter und ignoriert kritische Stimmen aus der Literatur einfach.

Gewisse schrille Stimmen, die uns im Brustton einer „politischen Korrektheit“ aufklären wollen, kann man ja auch nur schwer ertragen. Böll war engagierter Moralist, nach seinen Kräften stets zum Helfen und Eingreifen bereit. Solche ehrenwerten Positionen sind nun vielfach zum Betroffenheits-Kult erstarrt, der sich nur noch rhetorisch über alle möglichen Themen ereifert.

Zurück zum Eigentlichen: Soll man Bölls Bücher erneut lesen? Ja, das sollte man. Seine kirchenkritischen Romane („Und sagte kein einziges Wort“, „Ansichten eines Clowns“): treffen auch heute noch manche wunden Punkte des Klerus und der falschen Frömmelei. Wichtiger wohl noch: Rund 50 Jahre nach Kriegsende, auch angesiçhts der deprimierenden Ereignisse in Ex-Jugoslawien, sollten wir uns zumal Bölls Erzählwerke aus der „Trümmerzeit“ noch einmal vornehmen: „Wanderer, kommst du nach Spa…“, „Wo warst du, Adam?“ und all die anderen. Man kann daraus ermessen, was Gewissen ist. Man kann Gedanken an Schuld und Sühne daran knüpfen. Auf daß uns die Empfindlichkeit für ideelle Werte nicht ganz abhanden kommt.




Allein mit der Ewigkeit – zum 100. von Ernst Jünger

Von Bernd Berke

Als der Zweite Weltkrieg 1945 endete, war dieser Mann bereits 50. Und 1914, als der Erste Weltkrieg begann, war er auch kein Kind mehr, sondern 19 Jahre alt. Heute wird der Schriftsteller Ernst Jünger 100. Eine ungeheuere Lebensspanne. Aber muß man ihn deswegen in mythische Höhen entrücken?

Nein, das muß man nicht. Auch wenn Autoren wie z. B. Botho Strauß oder Rolf Hochhuth in letzter Zeit geradezu vor ihm niederknien: Der am 29. März 1895 in Heidelberg geborene Ernst Jünger hat den Zerfall der Weimarer Demokratie und das Heraufdämmern der NS-Diktatur mit bebendem Pathos gefeiert. Derlei Denk-Schuld wird durch kein biblisches Alter getilgt.

Den Jugendlichen zog’s fort zur Fremdenlegion. In den Ersten Weltkrieg stürzte er sich dann – wie so viele – mit wilder Begeisterung. Vierzehn Verwundungen trug er davon. 1920 erschien sein Erstling „In Stahlgewittern“. Weit entfernt von Ernüchterung nach den furchtbaren Schlachten, pries Jünger die „stählernen“ Soldatenkörper und ihre „Erlösung“ im Blutrausch, doch er selbst schritt – äußerlich kalt bis ans Herz – so gut wie unversehrt durch alle kommenden Katastrophen, warf sich nie mehr an vorderste Fronten. Der Geistes-Aristokrat legte sich eine Attitüde der Unnahbarkeit zu. Mit Haut und Haaren ließ er sich auf nichts mehr ein, er stand über allem.

Im Rhythmus der Maschinen

1932 erschien „Der Arbeiter“. Einer wie Jünger ließ sich damals zwar auch vom bolschewistischen Menschenbild anregen, doch in den Proletariern sah er beileibe keine ausgebeutete Klasse, sondern kraftstrotzende Titanen, die sich mit dem Rhythmus eiserner Maschinen verschwistern. Ein mitleidloser Männerbund, ganz wie das Militär. Für Frauen war in dieser grausigen Welt kein Platz, auch nicht für etwaige Opfer von Gewalt.

Die Nazis verachtete Jünger insgeheim als niedere Plebejer, nachdem er ihren Ungeist mit heraufbeschworen hatte. Im besetzten Paris residierte er als deutscher Statthalter, nachdem er das Inferno der Eroberung auch schon mal bei einem guten Glas Wein als ästhetisches Schauspiel genossen hatte. Ein preußischer Herrenreiter, der auf strenge Ordnung hielt, sich aber vom flammenden Chaos faszinieren ließ und auch schon mal im Selbstversuch Rauschmittel nahm.

Daß ihn heute gerade französischeIntellektuelle so verehren, hat wohl mit dem Hang zu erzdeutschen Gegenbildern gallischer Leichtigkeit zu tun: Wagner, Nietzsche, Heidegger, Jünger. Vier tiefe Abgründe.

Einzelne mag Jünger mit Anstand vor dem Tod gerettet haben, doch das schlimme Ganze hat er ohne Gegenwehr geschehen lassen. Stets neigte er dazu, Politik und Geschichte unter biologischen Vorzeichen zu sehen, wie unabwendbare Naturereignisse. An all dem ändert auch seine Schrift „Auf den Marmorklippen“ (1939) wenig, die als Schlüsselroman über Konflikte zwischen NS-Bonzen verstanden werden konnte.

Die Kälte des Beobachters

Oft hat man Jüngers Sprachstil über die Maßen bewundert. Doch neben wie aus Marmor perfekt gemeißelten Passagen gibt es auch etliches Blendwerk. Die gerühmte Klarheit ist im Kern oft Banalität. Nicht selten schreibt Jünger unerträglich gravitätisch, indem er noch die geringsten Dinge aus seinem Umkreis zu Ausgeburten des Weltgeistes erklärt. Seine seit 1980 erscheinenden Tagebücher „Siebzig verweht“, deren vierter Teil jetzt herausgekommen ist, zeigen ihn mit Ur-Mutter Erde und der Ewigkeit allein, erhaben über alle Gegenwart.

In der mit Witz sowieso nicht überreich gesegneten deutschen Literatur dürfte der studierte Zoologe zudem einer der humorlosesten Autoren sein. Ein kalter Beobachter, dem seine Käfersammlung mehr zu bedeuten scheint als die Geschicke mancher Menschen.

Seine Texte legen es nahe, daß man sie gegen den Strich liest. Seine Vergöttlichung des Soldatischen enthüllt sehr präzise die Triebkräfte fataler „Männerphantasien“. Ähnlich verhält es sich mit der Vision vom Maschinenmenschen. Als einer, der Materialien bereitstellt, ist Jünger mithin unschätzbar. Doch er selbst hat die Lehren aus seinem Jahrhundert-Leben nicht wirklich gezogen.




Ist Sprache nur mit Schuld beladen? – Kontroverse Debatte über Schreiben in gewaltsamer Zeit

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Kann man der rechten Gewalt mit Worten Einhalt gebieten? Darf man dabei hoffnungsvolle Gegen-Begriffe wie „Solidarität“ und „Utopie“ noch ganz unschuldig verwenden, als seien sie nicht vom zerfallenen Kommunismus in Mißkredit gebracht worden? Um solche gewichtigen Fragen drehte sich jetzt eine prominent besetzte Autorendiskussion beim Jahrestreffen des bundesdeutschen P.E.N.-Zentrums in Düsseldorf.

Motto des Abends und der gesamten Tagung der Autorenvereinigung: ein vieldeutiger Satz von Roland Barthes, der da lautet „Sprache ist niemals unschuldig“. Moderator Klaus Bednarz (ARD-„Monitor“) wählte als Einstieg in die Debatte über „Schreiben in gewalttätiger Welt“ eine Brecht-Geschichte vom „Herrn Keuner“. Der begegnet der Gewalt, indem er sie zwar nicht bejaht, aber zuwartet, bis sie endlich entkräftet von selbst verschwindet – und erst dann aufatmend „Nein!“ zu ihr sagt.

Haben die Begriffe „rechts“ und „links“ noch Sinn?

Daran entzündete sich die Kontroverse. Günter Grass befand, so sei es in Deutschland ja stets. Nachher, wenn es vorüber sei, seien immer alle dagegen – gegen die NS-Diktatur, gegen das SED-Regime usw. Die duldsame Brecht’sche List im Umgang mit der Gewalt sei gefährlich. Man müsse hier und heute widersprechen. Er, Grass, lasse sich auch von niemandem Worte wie „Utopie“ ausreden. Er werde wütend, wenn man sich – wie es gegenwärtig Mode sei – über eine so wichtige Sache wie „Betroffenheit“ lustig mache oder wenn man schlankweg behaupte, die Begriffe „rechts“ und „links“ hätten gar keinen Sinn mehr.

Herta Müller („Niederungen“, „Der Fuchs war damals schon der Jäger“), die die Ceausescu-Diktatur in Rumänien durchlitt, bezog vehement die Gegenposition: „Das Wort ,Utopie` kann ich nicht mehr hören. Wenn jemand ,Solidarität‘ sagt, muß ich kotzen.“ Unter Ceausescu seien derlei Worte mörderisch mißbraucht worden. Also sei die Sprache mit Schuld beladen.

Und was bleibt? Herta Müller: Nur die Verantwortlichkeit in jeder einzelnen Situation. Die großen übergreifenden Gedankengebäude hätten keinen Wert mehr. Für solche Sätze gab’s Beifall vom zahlreich erschienenen Publikum in der Düsseldorfer Kunsthalle.

Die Demagogen auf der Straße zur Rede stellen

Der zuletzt über die Maßen gelobte junge Lyriker Durs Grünbein (ehemals DDR) meinte, nicht Literatur sei derzeit Schauplatz des Meinungskampfes, sondern die Straße. Vielleicht müßten Autoren sich auf die Straße begeben, um dort die Demagogen zu stellen. Ähnlich wie Herta Müller, die als Beispiel die furchtbare Bedeutung des Wortes „Abholen“ zur NS-Zeit nannte, sah auch Grünbein viele Ausdrücke ideologisch „kontaminiert“ und verseucht. Selbst ein so harmlos klingendes Wort wie „Treuhand“ sei auch Nazi-Deutsch gewesen. Den Schriftstellern selbst dürfe man nie trauen, man müsse ihnen vielmehr „alles zutrauen“. Schöngeister seien oft zu Tätern geworden. Der Diktator und Massenmörder Pol Pot habe Lyrik geliebt…

Autor Dieter Wellershoff wehrte sich gegen den geballten Sprachzweifel. Sprache könne immer noch „Ort der persönlichen Wahrheit“ sein, sie sei nicht von vornherein mit Schuld behaftet.

Doch wie begegnet man nun als Schreibender der akuten rechten Gewalt? Sind radikale Skinheads überhaupt mit (literarischer) Sprache erreichbar? Da blieb man recht ratlos, denn die Aufklärungs-Versuche all der zurückliegenden Jahre scheinen ja bei etlichen Leuten wirkungslos verpufft zu sein. Überdies speist sich Gewaltsamkeit längst nicht nur aus Sprache, sondern aus Bildern und Verhältnissen. Durs Grünbein: Schon das heftige Zuschlagen einer Autotür enthalte verkapselte Gewalt, unsere übertechnisierte Umwelt mache uns aggressiv…

Nach solchen Gedankenflügen vernahmen Podium und Publikum am Schluß ziemlich verblüfft die Wortmeldung eines Exil-Afghanen, der die Frage nach Worten wie „Solidarität“ ganz praktisch entschied: „Wir Ausländer in Deutschland brauchen Solidarität!“ So einfach ist das.




Wie die Medien unser Bild von Israel bestimmen – Ausstellung in der Alten Synagoge von Essen

Von Bernd Berke

Essen. Wir alle haben von Israel und den Juden lauter Zerrbilder aus den Medien im Kopf. So lautet jedenfalls die These einer Ausstellung der Alten Synagoge in Essen.

Vor allem zwei Magazine hat man zur Beweisführung ausgewertet, nämlich „Spiegel“ und „Stern“, die beide etliches zur Aufklärung über die Untaten der NS-Zeit beigetragen haben. Doch für diese Ausstellung hat man (nicht in Texten, sondern in der Bebilderung) ganz bewußt nach Defiziten und Fehlleistungen gesucht, die sich durch ihre Häufung seit den 50er Jahren zu Klischees verfestigt hätten. Tafeln mit vergrößerten Reproduktionen dienen als Beweisstücke.

In Deutschland lebende Juden kommen überhaupt selten in der Presse vor. Und wenn, dann nicht als „sie selbst“, wie die Ausstellungsmacher sagen, sondern fast nur in ihrer Rolle als Überlebende und (potentielle) Opfer, sozusagen als bloße Stellvertreter-Figuren historischer Erinnerung.

Anonyme und hilflose Menge

Bilder vom Holocaust zeigten Juden meist nur als anonyme und hilflose Masse, oder es würden Fotos von menschenleeren KZ-Anlagen, Zyklon-B-Behältern und ähnlich „abstrakten“ Gegenstände veröffentlicht. Indem sie dies tadelt, geht die Ausstellung vielleicht übers Ziel hinaus, denn man fragt sich natürlich, welche Alternative es bei der Bebilderung des Unbegreiflichen eigentlich geben könnte. Schließlich geht es ja um eine Massenvernichtung, bei der Einzelschicksale völlig mißachtet wurden. Trotzdem: Die Frage, ob wir womöglich unbewußt diese anonymisierende Sichtweise der Täter weiter mit uns herumschleppen, ist allemal eine Untersuchung wert.

Schlüssiger wird es in dem Teil der Ausstellung, der sich mit dem heutigen Israel befaßt. Da finden sich bedenkliche Verzerrungen, etwa wenn israelische Soldaten am liebsten mit der Waffe im Anschlag und vorzugsweise aus Froschperspektiven gezeigt werden. So wirken sie riesengroß und übermächtig. Naheliegender Gedanke: Israel sei ein militarisierter Staat, David längst ein Goliath. In Überschriften wird dazu oft und gern das biblische Rache-Klischee („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) bemüht. Nur: Ein paar Körner Wahrheit enthalten solche (Sprach-)Bilder auch, sonst bekäme man die Fotomotive ja gar nicht.

Ferner soll die Ausstellung etwas zeigen, was wohl jedes Kind weiß: wie sehr nämlich eine Zeitung mit verschiedenen Bild-Unterschriften oder mit diversen Ausschnitten ein und dasselbe Foto ganz anders deuten kann. Zudem sind diese Möglichkeiten nicht spezifisch für das Thema Israel, man könnte sie anhand beliebiger anderer Probleme demonstrieren. Auch hier freilich der berechtigte Umwand: In Sachen Israel haben wir ganz besonderen Anlaß, auf menschenmöglich korrekte und angemessene Wiedergabe der Realitäten zu achten. Dafür schärft, ihren Schwächen zum Trotz, die Ausstellung den Sinn.

„Mit dem Gebetsmantel zum Gegenangriff – Juden im Bild der Bundesrepublik“. Alte Synagoge. Essen (Steeler Straße 29). Bis 11. Dezember 1994 (tägl. außer montags 10-18 Uhr). Katalog 19,80 DM.




Ein Nomade zwischen Gut und Böse – Bodo Kirchhoffs Somalia-Frontbericht „Herrenmenschlichkeit“

Von Bernd Berke

Es hat einen eigenartigen Beigeschmack, wenn deutsche Dichter wieder unseren Soldaten quer durch die Welt nachreisen. Bodo Kirchhoff („Infanta“) betätigt sich in seinem Buch „Herrenmenschlichkeit“ als Frontberichterstatter aus Somalia, wo die Bundeswehr ihre weltpolitische Jungfernschaft verloren hat.

Mit einem Pulk von Journalisten war Kirchhoff als literarischer Pionier im Sommer ’93 am Horn von Afrika: Mal sehen, was die Truppe so treibt. Und schon ist der deutschen Nachkriegsliteratur ein neues Genre geboren.

Natürlich schaltet Kirchhoff, der seinerzeit als linker Möchtegern-Unterwanderer zum „Bund“ gegangen war, in Somali all seine sensiblen Antennen auf Empfang. Doch eine unwirkliche und unübersichtliche Welt bleibt ihm der Krieg. Über das große Ganze könne man keine Wahrheiten sagen. Also widmet man sich lieber dem eigenen Ich samt seinen Leistenschmerzen.

Nur wenn beim Schießen einmal eine Pause eintritt, macht sich Langeweile breit, unerträglich und unheilschwanger: „…wünsche mir, fürchte ich, daß es kracht“, bricht es da aus Kirchhoff hervor. Der Autor führt eben nach eigenem Bekunden ein „Nomadendasein zwischen Gut und Böse“. Er pfeift auf laue politische Korrektheit, bleibt schmerzhaft ehrlich und hegt nicht nur friedliche Gedanken, sondern verspürt gelegentlich schaudernd eine seltsame „Ästhetik der Vernichtung“.

Doch Kirchhoff zeigt auch die Schrecklichkeit etwa der medizinischen Versorgung. Tausende Somalier warten vor dem Zaun des deutschen Camps, womöglich versehen mit auf dem Schwarzmarkt gekauften Behandlungs-Sçheinen. Sie werden von Soldaten in Schach gehalten, und nur die allerschlimmsten Fälle haben eine Chance auf sofortige Versorgung. Nicht von ungefähr kommen Kirchhoff Gedanken an fürchterliche Selektion. Überhaupt seien hier Menschen aus Europas satter Überlebens-Kultur gekommen, die sich wohl oder übel zu Herren über eine Leidens-Kultur aufschwingen – „Herrenmenschlichkeit“.

Über allen freilich schwebt Bodo Kirchhoff. Nicht mal so sehr über den Soldaten, die nach seinem Eindruck recht brav und wohlmeinend ihren prekären humanitären Auftrag wahrnehmen. Von Ausnahmen abgesehen, liege ihr enger Horizont allerdings zwischen „Saarbrücken, Schalke, Mallorca, Gottschalk“. Schlimmer aber findet Kirchhoff die Journalisten. Die pflanzen überall Satelliten-Antennen auf und warten auf Action. Und während die Zeitungsleute alle stolz ihre Blätter nennen können, schreibt Kirchhoff – noch eine Spur stolzer – angeblich „für niemanden“. Höchstens, daß es dann nachher im Suhrkamp-Verlag erscheint…

Besondere Pikanterie bekommt Kirchhoffs etwas eitle Unternehmung noch dadurch, daß er seine Somalia-Aufzeichnungen im Sterbezimmer einer Frankfurter Klinik zu Papier bringt – „zum üblichen Pflegesatz“, wie er versichert. Derweil droht er schon damit, daß dies alles nur Notizen für einen großen Roman seien. Gnade!

Bodo Kirchhoff: „Herrenmenschlichkeit“. Suhrkamp. 67 Seiten (Paperback). 24,80 DM.




Im Bett mit Karl Marx – „Die Verkündigung oder: Friedrich, du bist ein Engel“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Der olle Karl Marx räkelt sich im Ehebett. Neben ihm liegt seine liebe Frau. Sie erdrückt ihn mit ihrer Fürsorge, sie hält ihn dauernd vom Schreiben und – na, sowas! – vom Fremdgehen ab. Und wenn seine Feder doch mal kratzt, ruft sie gleich; .„Was schreibst du da?“ Bedauernswerter Marx? Im Gegenteil.

„Die Verkündigung oder: Friedrich, du bist ein Engel“, jetzt in Wuppertal als deutsche Erstaufführung zu sehen (Regie: Hans-Christian Seeger), zeigt uns Karl Marx zwei, Stunden lang im Nachtgewand, doch nicht im Büßerhemd: Dieser Mann ist, ganz ungebrochen, ein Patriarch, der mit Frau und Geliebter nach männlichem Belieben umspringt.

Autor Milan Uhde ist, politisch besehen, kein Geringer. Er ist tschechischer Parlamentspräsident. Die Handlung seines Stückes fußt auf einer durch die Forschung weitgehend verbürgten Episode: Marx (der im Stück – Scherz, laß nach! – „Karl-Max“ heißt) schwängerte anno 1850 im Londoner Exil seine Haushälterin Helene Demuth (im Stück: Leni), während sein Eheweib, die kränkelnde dreifache Mutter Jenny (hier: Beni), im Nebenzimmer schlief. Genosse und „Geldesel“ Friedrich Engels übernahm offiziell die Verantwortung für das Malheur – nicht aber für das Kind, das flugs weggegeben wurde, sprich: Außen hui mit Befreiung der Arbeiterklasse, drinnen pfui mit sexistischer Unterdrückung. Sozialisten als bürgerliche Unholde. Merke: Das konnte ja nichts werden mit der Utopie, wenn sie schon so begonnen hat.

Traumspiel mit schauriger Komik

Milan Uhde ist zu klug, um diese mißliche Geschichte einfach nachzuerzählen. Er hat ein Traum- und Schauerspiel mit komödiantischen Zwischentönen geschrieben, bei dem sich Leni verzweifelt in der Themse ertränkt und später als Wiedergängerin in Marx‘ verstaubter Armutsbude herumgeistert. Auch erwürgt Marx seine Frau, weil sie einige Manuskripte verbrannt hat. Diese Tat wird ebenfalls von Engels bemäntelt und bleibt folgenlos. Die herzlichste Umarmung des ganzen Abends ist denn auch keine zwischen Mann und Frau, sondern jene männerbündische zwischen Marx und Engels, als die frohe Botschaft vom Generalstreik in der Zeitung steht.

Marx, durch die jüngste Geschichte eh schon ausgezogen bis aufs Hemd, wird noch einmal ganz intim bloßgestellt, einmal schwenkt er gar wie ein Dorftrottel den Nachttopf. Hier und da ist das halbwegs komisch. Aber: War das denn wirklich noch nötig?

Immerhin gibt’s recht schmackhaftes Rollenfutter, angesiedelt irgendwo zwischen Hauptmannschem Ernst und Loriot-verwandter Komik. Viel mehr als die Wuppertaler wird man aus dem Stück wohl nicht herausholen können. Denn sie machen das allesamt recht gut: Gerd Mayen als väterlich sich gebender Märchenerzähler und Lügenbold Marx, mit gelegentlichen Vulgär-Ausbrüchen; Rena Liebenow als praktisch-lebenskluge Ehefrau, aber auch Nervensäge, die sein Theoriegebäude im Nu zerbröseln läßt; Franz Trager als nicht nur vom Rationalismus trunkener Engels und schließlich Andrea Witt als das Liebesgespenst Leni.




Das Prinzip Hoffnung prägt die Kulturpolitik – Dezernenten von 25 Kommunen tagten

Von Bernd Berke

Krefeld. Seitdem das Land Nordrhein-Westfalen an der Kultur spart, rücken die Städte enger zusammen. Immer öfter wird bei Veranstaltungen kooperiert, was die Finanzen schont. Schaltstelle ist das Wuppertaler Sekretariat für gemeinsame Kulturarbeit. Doch auch dort wird jetzt der Rotstift angesetzt.

Gestern versammelten sich die Kulturdezernenten aller 25 Mitgliedsstädte des Sekretariats in der idyllischen Krefelder Villa „Haus Greiffenhorst“. Was sie zu bereden hatten, war weniger behaglich. Der Vorsitzende dieses Kreises, Dortmunds Kulturdezernent Dr. Gerhard Langemeyer, sagte, den Kernbestand an gemeinsamen Veranstaltungen wolle man retten, doch man werde „fundamental nachdenken“ und Opfer bringen müssen. Sprich: Nicht alle Festivals und Austauschprogramme des Sekretariats sind gesichert.

Langemeyer erinnerte an die Alarm-Parole der letzten Städtetags-Konferenz: „Städte in Not“. Beispiel Dortmund: 10 Prozent weniger Landeszuschüsse für die Kultur schon in diesem Jahr, das bedeute ein Minus von 400 000 Mark. Man werde vor allem bei Gastspielen kürzer treten müssen. Im nächsten Jahr werde alles wohl noch schlimmer kommen.

Sekretariats-Leiter Dr. Dietmar N. Schmidt meinte, die Kulturdezernenten hätten zwar nicht durchweg „in Molltönen geredet“. Doch als er ein bereits gedrucktes Programm-Faltblatt gemeinsamer Aktivitäten der Städte vorstellte, tat er’s nicht ohne Vorbehalte: „Ich gehe davon aus, daß es stattfindet“, hieß die vorsichtige Standardformel bei nahezu allen Tanz-, Musik- und Theater-Festivals.

Ganz exakt konnte Schmidt den Geldschwund seines Sekretariats zwar nicht beziffern. Doch es dürfte sich um eine runde Million DM handeln – bei etwa 15 Millionen Gesamtvolumen, in denen allerdings auch schon private Sponsorenmittel enthalten sind. Schmidt findet die Kürzung der Landesmittel „schizophren“, da die Städte doch gerade durch jene Zusammenarbeit sparen könnten, die nun geringer gefördert werde. Man sei, so Schmidt etwas geknickt, „kalt erwischt worden“.

Krefelds Kulturdezernent Roland Schneider beschwor unterdessen die solidarische Schicksalsgemeinschaft der Kommunen. Konkurrenz zwischen den Städten dürfe in diesen schweren Zeiten nicht mehr im Vordergrund stehen.




Prag zwischen „Tutti Frutti“ und ambitioniertem Theater

Von Bernd Berke

Prag. Die Theater in Prag kämpfen, ähnlich wie jene in den neuen Bundesländern, mit Zuschauerschwund. Manche Vorstellungen werden gar mangels Masse kurz vor Beginn abgesagt – wiederum eine Anti-Werbung, die die letzten Getreuen vergrault. Seit die Tschechen unbeschränkt reisen und fast wie im Westen einkaufen können, aber auch härter arbeiten müssen, herrscht im Theaterparkett oft gähnende Leere.

Zudem bannt der TV-Kanal „OK 3″, der einen Verschnitt gratis überlassener westlicher Produkte (auch „Tutti Frutti“ von RTL) sendet, viele Leute in den heimischen Fernsehsessel. „OK 3″ ist Vorhut und Schnupperware für das demnächst startende Privatfernsehen.

Noch haben sogar die Theaterleute, die jetzt auf Einladung der Ruhrfestspiele in Prag deutschen Journalisten ihre Situation schilderten, eine Illusion: Das Privat-TV werde zwar anfangs seicht sein, nach einer gewissen Frist aber auch Kultur bringen. Wenn man sieht, was „OK 3″ schon jetzt an sexuellen Gewagtheiten anbietet, beschleichen einen da arge Zweifel.

Händeringend Sponsoren suchen

Früher hat der sozialistische Staat die Theaterschulden stillschweigend beglichen. Nun sucht man händeringend Sponsoren. Denn nun müssen die Bühnen (wie bei uns) mit Subventionen auskommen, die nicht mehr steigen. Ganz im Gegensatz zu den Preisen. In den Geschäften am Prachtboulevard Wenzelsplatz muß man inzwischen nahezu soviel Geld auf den Tisch legen wie in Deutschland – und das bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von rund 4200 Kronen (etwa 250 DM) in der Hauptstadt.

Nur Theater, die ganz besondere Qualität bieten oder sich gekonnt auf „Marktlücken“ spezialisieren, halten sich in diesem Umfeld gut. Die berühmte „Laterna Magika“ etwa hat keine Probleme, ihr Haus zu füllen. Freilich sind die Besucher zum großen Teil Touristen, vor allem aus Deutschland.

Wo man alles darf, wird es schnell beliebig

Bis zur sanften Revolution anno 1989 war es in der damaligen CSSR verboten, „dekadente“ Dramen von Beckett oder lonesco zu spielen, für den Erwerb der Aufführungsrechte an anderen West-Stücken fehlten Devisen. Jetzt kann man schier alles auf die Bühne bringen. Und da liegt das Problem. Denn wo man alles darf, wird vieles unverbindlich. Dafür hat das Publikum eine feine Antenne.

Da hilft es gar nichts, sich an die tschechische Tradition des psychologischen Theaters (Tschechow-Pflege bis zum Überdruß) zu klammern. Doch mit allzu wilden Experimenten darf man den Tschechen auch noch nicht kommen, sind sie doch durch die jahrzehntelange Isolation auf ästhetische Wagnisse kaum vorbereitet. Und eine kompetente Theaterkritik, die an Neuerungen heranführen könnte, entwickelt sich erst jetzt ganz allmählich.

Die Opern verzeichnen zwar einen etwas besseren Besuch als die Sprechtheater, doch man steckt auch hier noch tief in Konventionen. Außerdem können die Tschechen ihre besten Sänger nie im eigenen Lande erleben. Die Gagen, die diese Stars verlangen, werden nur in Westeuropa, Japan und Amerika bezahlt.

Und so spielt man tapfer nach dem Prinzip Hoffnung. Oder man trauert jener Hoch-Zeit des Theaters im Jahre 1989 nach. Damals gehörten die Bühnen zu den Zentren des Aufbegehrens. Es ist, als sei das schon Jahrzehnte her.

 




Vom heiligen Recht auf Asyl bis zur großen Fremdenangst – Hans Magnus Enzensbergers Buch „Die große Wanderung“

Von Bernd Berke

Hat man von Hans Magnus Enzensberger schon einmal eine langweilige Seite gelesen? Wohl kaum. Er läßt von jeher seine Gedanken auch stilistisch funkeln. Doch paßt diese Leichtfüßigkeit auch zu jedem Thema? Paßt sie beispielsweise zur Asylpolitik?

Enzensbergers neuer Text „Die große Wanderung“ durchmißt auf bloß 76 Seiten eine imposante Gedankenstrecke. Geschrieben nach Hoyerswerda, aber vor Rostock und den Folgen, handelt das Buch in 33 kurzen Kapiteln von der weltweiten, nach des Autors Ansicht bei uns erst in Rinnsalen spürbaren großen Völkerwanderung, die den anonymen, aber unentrinnbar mächtigen Kapitalströmen rund um den Erdball folge.

Die Deutschen dürften sich, so stellt Enzensberger gleich klar, keinen Illusionen hingeben: Sie seien, bedingt durch geographische Mittellage und geschichtliche Verwerfungen, eh schon immer ein äußerst bunt gemixtes Völkchen gewesen. Von „Deutschtum“ keine Spur.

Negativer Beigeschmack seit der viktorianischen Ära

Enzensberger stellt ganz sachliche Erwägungen zur Asylpolitik im Hinblick auf Staatsfinanzen, Arbeitsmarkt und Bevölkerungsentwicklung an. Er unternimmt einen knappen Streifzug durch die Geschichte des Asyls seit der griechischen Antike (als die Gewährung von Zuflucht ein sakraler Brauch war) und meint, daß eine Unterscheidung zwischen politisch Verfolgten und Elendsflüchtlingen dem uralten Grundgedanken des Asyls widerspreche. Außerdem sei drückendes wirtschaftliches Elend ein ebenso massiver Grund zur Flucht wie Verfolgung. Negativen Beigeschmack habe das Wort Asyl überhaupt erst in der bigotten viktorianischen Ära bekommen, als man sich über Trinker- und Obdachlosen-Asyle empört habe.

Doch dann folgt, was „Linken“ nicht schmecken dürfte: Enzensberger äußert ein gewisses Verständnis für jene, die sich vom Zustrom der Asylbewerber bedroht fühlen. Fremde zunächst einmal instinktiv abzulehnen, sei menschliches Allgemeingut, befindet der Autor – und schildert als Beispiel jene wohlbekannte Szene aus dem Eisenbahnabteil, wo jeder neu Zugestiegene erst einmal unwillkürlich mit Mißtrauen behandelt werde – bis dann der nächste Neuankömmling die unbewußte Abwehr der „Eingesessenen“ auf sich zieht… Nur: Praktisch jeder ist halt irgendwann einmal Neuankömmling (gewesen).

Kritik an einer „Diskriminierung der Mehrheit“

Enzensberger geißelt auch jenen hilflosen Anti-Rassismus, der nur das seitenverkehrte Abziehbild des Rassismus sei, den er zu bekämpfen vorgebe. Hier drohe die Gefahr einer Verniedlichung (die jeden Ausländer zum edlen Gast stilisiere) und einer „Diskriminierung der Mehrheit“. Und: Multikulturelle Projekte seien zu oft gescheitert, um noch als Utopie durchgehen zu können.

Man mag Enzensberger vorwerfen, daß er mit scheinbar unbeteiligter Geläufigkeit über ein (tod-)ernstes Thema parliere. Daß er es an leidenschaftlicher, entschiedener Parteinahme fehlen lasse. Am Schluß holt er das übrigens nach, mit einem nun doch flammenden Appell an die Politiker, die endlich das staatliche Gewaltmonopol gegen rechtsradikale Umtriebe ergreifen müßten.

Doch fertige Lösungen bietet Enzensberger nicht an. Es geht ihm wohl vor allem darum, überhaupt erst einmal Denkblockaden aufzubrechen, manches besinnungslose Geschwätz der Tagespolitik zu relativieren. Er tut es mit unverwechselbarer Stimme.

Hans Magnus Enzensberger: „Die große Wanderung – 33 Markierungen“. Suhrkamp. 76 Seiten. 19,80 DM.




Heiner Müller: Am Bösen kann der Autor wachsen

Von Bernd Berke

Listig-verschlagen blickt der Dramatiker Heiner Müller den Leser vom Umschlag seines neuen Buches „Krieg ohne Schlacht“ an. Dreht man den Band herum, bläst Müller einem von der Rückseite her einen Schwall Zigarrenrauch ins Gesicht. Sieht so aus, als wolle er uns sagen: „Rutscht mir doch den Buckel herunter!“

Vielleicht hat er Anlaß zum Zorn. Gar manche haben den wohl wirksamsten Theaterautor der verflossenen DDR seit der Wende ins Zwielicht gestellt. Ähnlich wie Christa Wolf, so hat man auch ihm im nachhinein zu große Nähe zur SED unterstellt. Jetzt erzählt der Mann, der nach eigenem Bekunden ursprünglich aus Neid Sozialist geworden ist, sein „Leben in zwei Diktaturen“ (Untertitel).

Der erste Teil erstreckt sich über 360 Seiten, im Anhang werden Original-Dokumente abgedruckt. Der Haupttext ist aus Gesprächen mit Müller entstanden. Dennoch sind es meist lange Monologe. Da kann Müller glänzen, seine enorme Belesenheit samt Kenntnissen der Theaterwelt und ihrer Akteure erstrahlen lassen. Klare Einsichten stehen neben stammtischverdächtigem Geschwätz.

Aus der NS-Zeit, die Müller als Kind in Sachsen und Mecklenburg erleben mußte, gibt er nur kurze Anekdoten zum besten — mit trockenem bis sarkastischem Witz. Rasch ist das Buch in der Gründungsphase der DDR angelangt. Eine Leitlinie sind Müllers Stücke von „Die Umsiedlerin“ bis zur „Hamletmaschine“. Doch die politischen Passagen interessieren derzeit brennender. Leider verfällt Müller auch hier vielfach in Geschichten-Erzählerei nach dem Muster: Wie ich einmal bei Erich Honecker war und er mir die Hochzeit mit einer Bulgarin genehmigt hat…

Müller berichtet, wie er sich anfangs gar zu große Illusionen über die DDR gemacht hat. Er gibt auch „taktische Fehler“ zu. Seine Beschreibung gerät zum Lehrstück, weil sie die Widersprüche eines Autorenlebens in der DDR grell hervortreten läßt. Mal wurde Müller aus dem Autorenverband ausgeschlossen, dann wieder gehätschelt, oft wurden Aufführungen seiner Stücke unterbunden, dann sah er sich wieder geehrt.

Was hat Literatur mit Moral zu tun?

Wer sich durch solch ein Leben zwischen Zuckerbrot und Peitsche anders als mit moralischen Zugeständnissen lavieren kann, der werfe den ersten Stein. Müller nimmt für sich in Anspruch, daß Literatur überhaupt nichts mit Moral zu tun habe. Immer wieder zeigt er sich fasziniert vom „Bösen“ (RAF-Terrorismus, Massenmörder Charles Manson), an dem man als Autor nur wachsen könne. Auch Brecht sei erst ein ganz Großer geworden, als Hitler zur Macht kam. So hätten auch ihn, Müller, noch die schlimmsten Vorgänge in erster Linie als Stoff interessiert, aber fast nie im Kern seines Wesens berührt.

Manches ist ärgerlich: Müller gesteht, schon 1944 über die sowjetischen Gulags Bescheid gewußt zu haben. Warum hat er daraus so spät Konsequenzen gezogen und anfangs noch Stalin-Hymnen verfaßt? Höchst anfechtbar auch Müllers Meinung, die Stasi, die eben die Stimmung der Bevölkerung am besten gekannt habe, habe letztlich die DDR aufgelöst oder dies zugelassen. Außerdem stellt er Honecker & Co. eher als Gefangene des Systems denn als deren Betreiber dar.

Inzwischen hat Müller Abschied genommen von jeglicher Utopie. Überrascht erfährt der Leser, welchen „Kollegen“ Müller offenbar am meisten schätzt: Ernst Jünger, den viele für einen Verherrlicher des Krieges halten. Doch gerade dieses Thema, so Müller, habe Deutschlands Linke total versäumt: den Krieg in seiner nackten Wahrheit darzustellen. Da spricht ein „Preuße“.

Heiner Müller: „Krieg ohne Schlacht — Leben in zwei Diktaturen“. Kiepenheuer & Witsch. 426 S., 49,80 DM.




John Heartfield – eine fragwürdige Umwertung zum Ästheten und „Romantiker“

Von Bernd Berke

Vor Wochenfrist eröffnete in Düsseldorf die Max Ernst-Werkschau, nun ist Bonn mit einer Retrospektive auf John Heartfield (18911968) an der Reihe. Beide Künstler entstammten demselben Jahrgang, Anlaß der Ausstellungen ist jeweils der 100. Geburtstag.

Heartfield (bürgerlich: Herzfelde) wurde besonders mit antifaschistischen Fotomontagen bekannt. Beispiel: jenes Hitler-Bild mit dem Spruch „Millionen stehen hinter mir“. Doch nicht Menschenmassen sind gemeint, sondern Millionen Reichsmark, die der „Führer“ von der Industrie bekam. So eindimensional, nur als Ausbund des Kapitalismus, kann man die Nazi-Zeit schon längst nicht mehr erklären. Doch falsch ist der Aspekt auch nicht. Zudem heiligte der Zweck plakative Mittel.

Die Bonner Ausstellung (zuvor Berlin) zielt auf eine teils fragwürdige Neubewertung des John Heartfield ab. Die 1988, also noch in der Vor-„Wende“-Zeit mit der (Ost)Berliner Akademie der Künste eingefädelte Schau soll belegen, daß Heartfield über alle politischen Bestrebungen hinaus ein Ästhet gewesen sei. Rettungsversuch für nach-sozialistische Zeiten?

Willkürlich ist die Wahl des Katalogtitelbildes: ein 1947 von Heartfield gefertigter Buchumschlag-Entwurf mit Nachthimmel, Mond und Vogelfeder – so ziemlich das einzige Bild dieser Art, das man aufbieten kann. Doch auch gewisse Katalogtexte deuten darauf hin, daß man ihn als eine Art „Romantiker“ verkaufen will. So will man denn plötzlich auch den Blick auf „malerische“ Farbtonwerte der Montagen lenken.

Doch es hilft nichts. Heartfield läßt sich nicht stiekum entpolitisieren. Auch diese Ausstellung kommt ja gar nicht ohne die ätzend-satirischen Inhalte aus – und natürlich nicht ohne den zeitlebens gläubigen Kommunisten Heartfield, der auch vor einfältiger Propaganda nicht zurückschreckte (gleichwohl aber – nach der Rückkehr aus dem Exil – in der früheren DDR zeitweilig dem Vorwurf des „kleinbürgerlichen Formalismus“‚ anheimfiel).

Nun präsentiert man zwar die Originalentwürfe der Collagen und Montagen samt schriftlicher Satz- und Schnittanweisungen des Künstlers, doch diese wirken nun gerade nicht wie hehre Ästheten-Kunst, sondern durchaus desillusionierend, werkstatthaft, auf Tageswirkung hin berechnet.

Wahr bleibt, daß Heartfield in der Wahl seiner Mittel seinerzeit zur Avantgarde zählte, auch indem er kein noch so triviales Fundstück verschmähte, wenn es denn Wirkung versprach. Wahr bleibt auch, daß er ein treffliches Bild-„Vokabular“ zur Demaskierung von Mächtigen entwickelt hat. Sobald Heartfield f ü r etwas Stellung bezog, etwa für den Sowjetkommunismus, war er auch ästhetisch deutlich schwächer.

Diskussions- und Anschauungsstoff liefert die Ausstellung mit ihren über 400 Exponaten also allemal – und auch ein paar Premieren in Gestalt vollständig rekonstruierter Ausstellungs-Situationen aus den 20er Jahren.

Rheinisches Landesmuseum, Bonn (Colmantstraße). Bis 3. November. di/do 9-17 Uhr, mi 9-20 Uhr, fr 9-16 Uhr, sa/so 10-17 Uhr. Katalog 49 DM.




Große Zerreißprobe blieb beim Autorenkongreß aus – Ansätze zur deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung

Aus Lübeck berichtet Bernd Berke

Lübeck. Die große Zerreißprobe blieb aus beim ersten gesamtdeutschen Kongreß des Schriftstelleryerbandës (VS). Der alte und neue Bundesvorsitzende Uwe Friesel (Hamburg) war „sehr überrascht“, daß er und seine Vorstandskollegen bei der Tagung im Kurhaushotel zu Lübeck-Travemünde so ungeschoren davonkamen. Mit 56 von 67 möglichen Delegiertenstimmen wurde der 52jährige Friesel gestern wiedergewählt. Er trat nur unter der Bedingung nochmals an, daß der Vorsitz künftig rotiert. Begründung: Akute Arbeitsüberlastung.

Vor allem vom Berliner Landesverband hatte man heftigeren Einspruch gegen Friesel erwartet – von jenem Verband also, der der aus Leipzig stammende Autor Erich Loest pünktlich zu Kongreßbeginn via „Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt“ nachgesagt hatte, er sei womöglich von Gregor Gysis PDS gesteuert. Schließlich hatte man es an der Spree noch nicht verwunden, daß Friesel jene 23 Briefe an mutmaßlich SED-linientreue Autoren gesandt hatte, mit der Bitte, ihre Anträge auf Aufnahme in den VS doch bitte noch zurückzustellen. Einige der betroffenen ostdeutschen Autoren wähnten sich durch Gesinnungsschnüffelei und „Berufsverbot“ verfolgt. Berlins Verband setzte sich vom Bundes-VS ab und nahm 18 der 23 Beschuldigten in seinen Reihen auf.

Briefe an angeblich „linientreue“ DDR-Autoren

Bis in abstruse Details hinein waren diese Vorgänge nochmals Diskussionsgegenstand. Doch so lang man auch redete, so matt blieb die Auseinandersetzung. War es vielleicht die Einsicht, daß hinter Friesels Brief ein bitter nötiger moralischer Anstoß zur Vergangenheitsbewältigung stand – und nicht etwa der Versuch, Schriftsteller an ihrer Berufsausübung zu hindern; oder blieb nur das reinigende Gewitter aus?

Zu einer wirklichen Klärung kam es nicht, die ganze Sache soll nun an eine (schon vor Monaten angekündigte) Kommission verwiesen werden. Die wird auch zu untersuchen haben, ob Friesel tatsächlich – wie in der Debatte geargwöhnt wurde – einige von den 23 Briefen an die Falschen (sprich: nicht als SED-Denunzianten vorbelastete Autoren) gerichtet hat. Dann wären Entschuldigungen fällig.

Erasmus Schöfer: „Ich schäme mich für meinen Verrat“

Weit mehr Eindruck als der Streit um die Brief-„Affäre“ hinterließ der Kölner Schriftsteiler Erasmus Schöfer mit seinem Bekenntnis: „Ich schäme mich für meinen Verrat an mir selbst und anderen“. Er meinte jenen Irrweg vom Mainzer VS-Kongreß 1983, als man – um der lieben Friedensbewegung willen – gemeinsame Sache mit Hermann Kants DDR-Autorenverband gemacht habe. DDR-Dissidenten, so Schöfer, seien ihm schlicht unsympathisch gewesen, „weil sie meine Hoffnungen auf Sozialismus störten“. Schöfer: ..Auch dafür schäme ich mich heute.“

Etwas mehr verklausuliert betrieb auch Uwe Friesel Selbstkritik: „Schriftsteller sind immer anfällig für Utopien. Wir haben uns täuschen lassen.“ Hart ging Friesel mit Hermann Kant ins Gericht, der bis heute jede Reue vermissen lasse. So einen könne man im VS nicht brauchen.

Nachdenkliche Töne von Wolfgang Schäuble

Doch insgesamt überwog jener leise, nachdenkliche Tonfall, den Bundesinninminister Wolfgang Schäuble zum Kongreßauftakt angeschlagen hatte, als er vor jeder Selbstgerechtigkeit in Sachen Vergangenheitsbewältigung warnte und Respekt zwischen ost- und westdeutschen Autoren dringlich anmahnte. Schäubles Rede imponierte sogar Stefan Heym, der sich sonst nicht auf Höhe der Zeit zeigte. Ein weiterer Versuch mit der DDR hätte ihm allemal besser gefallen als die Vereinigung.

Heym war der einzige anwesende Autor von großem Bekanntheitsgrad. Kein Lenz oder Walser war da – beide im Gegensatz zu Grass noch VS-Mitglieder. Und auch kein Bernt Engelmann, der bei früheren Kongressen die Fäden gezogen hatte. Ihm hätte ein Bekenntnis wie das von Schöfer gut zu Gesicht gestanden. Max von der Grüns Fernbleiben war entschuldbar: er wurde am Samstag 65.

Zum Ausgleich glänzte diesmal Politprominenz. Nach Schäuble kam Björn Engholm vom SPD-Landesparteitag im Nachbarhotel herüber zu den Autoren. Er gelobte, es werde einen SPD-Kongreß zu Literaturfragen geben.




Lübeck und die Hoffnung der Schriftsteller – vor dem ersten gesamtdeutschen VS-Kongreß

Von Bernd Berke

Wichtige Dinge stehen bevor, doch es droht Gefahr, daß sie mit Kleinmut erledigt werden: Heute beginnt in Lübeck-Travemünde der erste gesamtdeutsche Kongreß des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS). Die Zeichen stehen auf Streit, vielleicht gibt es im Tagungshotel an der Ostsee gar einen ost-westdeutschen Sturm.

Konflikte sind vor allem um jene ostdeutschen Autoren zu erwarten, deren Vergangenheit in der Ex-DDR, um es ganz gelinde zu sagen, nicht astrein war und die nun in den VS aufgenommen werden wollen. Schon im Vorfeld hatte es einigen Hickhack gegeben. Der VS-Bundesvorstand hatte 23 OstAutoren brieflich aufgefordert, ihre Anträge aufMitgliedschaft zurückzustellen. Darüber setzte sich wiederum der Berliner Landesverband hinweg.

Umstrittenste Figur ist der ehemalige Vorsitzende des aufgelösten DDR-Autorenverbands, Hermann Kant, der u. a. 1979 heftig am Ausschluß mißliebiger, der SED-Führung nicht genehmer Autoren mitwirkte. Er will an diesem Wochenende Lübeck meiden, denn er vermutet nicht ganz zu unrecht, daß er dann Gegenstand eines persönlichen Tribunals sein werde – auf Kosten von Sachthemen. Deren gibt es wahrlich auch genug. Nicht zuletzt wird sich der VS um die desolate Situation ehedem leidlich „versorgter“ DDR-Autoren kümmern müssen.

Schließlich darf man eines nicht vergessen: Auch die westdeutschen Autoren im VS, der zur IG Medien gehört, haben vielfach Anlaß, Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Wie oft haben sie zu unerträglichen Vorgängen in der ehemaligen DDR geschwiegen oder nur gewundene Erklärungen abgegeben?

Eines von Hermann Kants damaligen „Opfern“, Stefan Heym, soll in Lübeck den Eröffnungsvortrag halten. Heute trauert Heym der DDR nach. Wie wird seine Bestandsaufnahme aussehen? Sein Kommen und ein Referat zugesagt hat auch Bundesinnenmimster Wolfgang Schäuble. Schon vorab allen Respekt für seine Teilnahme. Wann hat sich zuletzt ein Politiker dieser Ranghöhe bei Schriftsteller-Tagungen blicken lassen?

Das Treffen steht übrigens unter einem Leitmotto, das man dem Gedicht „Der Gang aufs Land“ von Friedrich Hölderlin entnommen hat und das den Willen zu ehrlicher Aussprache signalisiert: „Komm ins Offene, Freund“. – Bei Hölderlin, der zunächst Düsternis malt („… fast will / es mir scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit“), lesen wir weiter: Wenn nur „erst unsere Zunge gelöst“ sei, keime Hoffnung. An dieser Stelle wird der Bezug zwiespältig: Zu fürchten steht ja, daß, wenn in Lübeck sich manche Zungen lösen, die Hoffnung eher zerschellen könnte.




Nationalgefühl kann im „Kühlschrank der Geschichte“ auftauen: „Extreme Mittellage“ – Peter Schneider zur deutschen Vereinigung

Von Bernd Berke

Die deutsche Vereinigung hat die politische „Linke“ hierzulande höchlich verwirrt, ja vielfach sprachlos gemacht. Einer der ersten, die versucht haben, die Sprache wiederzufinden, ist Peter Schneider, der schon anno 1973 mit seiner Erzählung „Lenz“ linke Selbstgewißheiten empfindlich ankratzte.

Jetzt, bei seiner „Reise durch das deutsche Nationalgefühl“, befindet sich Schneider, nimmt man den Buchtitel beim Wort, in „extremer Mittellage“, was man auch mit Ratlosigkeit übersetzen könnte. Den Tag der Maueröffnung, den 9. November 1989, erlebte der Berliner nur am TV-Bildschirm – aus 10 000 Kilometern Entfernung, in New Hampshire/USA. Auch dieses flaue Gefühl, eine historische Stunde verpaßt zu haben, hat ihn offenbar an den Schreibtisch getrieben.

Seine Hauptthesen: Die westdeutsche Linke habe sich sozusagen gehörig an die Brust zu klopfen und schuldbewußt die Häupter zu senken, denn sie habe das Thema „Deutschland“ ganz und gar verschlafen. Ein Ronald Reagan habe mit seinem simplen Appell an Gorbatschow, die Mauer abzureißen, mehr historischen Sinn bewiesen als alle vermeintlich kritischen Köpfe. Dann setzt Schneider noch eins drauf: Nicht nur die stalinistische SED-Variante sei nun erledigt, nein, sämtliche sozialistischen Utopien müsse man jetzt wohl beerdigen.

Schneiders gewagteste Überlegung geht dahin, daß es vielleicht doch richtig gewesen sein könne, die Bundesrepublik in der Adenauer-Ära mit NS-Vorbelasteten Fachleuten – ausgenommen Kapitalverbrecher – aufzubauen, weil es anders halt nicht gegangen wäre. Auch in der ehemaligen DDR komme man ja jetzt nicht umhin, vormalige SED-Experten einzusetzen…

Doch Schneider betätigt sich nicht nur als „Wendehals“, er sieht immerhin auch die andere Seite der Medaille, befürchtet er doch einen neu aufkeimenden Nationalismus, den er etwa am Beispiel der Behandlung von Vietnamesen durch Ex-DDR-Bürger dingfest macht. Auch könne ein staatliches Zusammenwachsen im Sinne eines überwunden geglaubten, uralt-deutschen Spießertums drohen. Der Autor erwägt die „Kühlschranktheorie“ (vorkriegsdeutsche Verhaltensweisen wurden in der DDR konserviert und tauen jetzt wieder auf), und prüft die Behauptung, die bisherige DDR-Identität werde sich nun ganz rapide verflüchtigen. Schneider versucht gar, die neueste Zwillingsforschung analog auf die Staatenteile anzuwenden, etwa so: Als Zwillinge geboren, dann lange voneinander getrennt, haben sie sich dennoch verblüffend parallel entwickelt.

Viele Hypothesen des Buchs sind mit „heißer Nadel“ und recht grob gestrickt. Schneiders oftmals gestanzt wirkende Sprache läßt, ebenso wie mancher Gedanke, Voreiligkeit vermuten. Als Anstoß zu weiteren Debatten darf das Buch aber alle Aufmerksamkeit beanspruchen.

Peter Schneider: „Extreme Mittellage. Eine Reise durch das deutsche Nationalgefühl“. Rowohlt-Verlag, 192 Seiten. 28 DM.




DDR-Verlage suchen neues Profil – und Günter Grass setzt Kritik an der Wiedervereinigung fort

Von Bernd Berke

Frankfurt. Günter Grass läßt nicht locker. Der prominente Schriftsteller und Gegner der deutschen Vereinigung zieht auch auf der Frankfurter Buchmesse gegen die von ihm befürchtete neudeutsche Großmächtigkeit zu Felde und attackiert dabei auch das Fernsehen, das nur durch geschickte Schaltungen und Schnittfolgen vermocht habe, den falschen Eindruck volksfestartigen Jubels am Vereinigungstag zu vermitteln.

Grass und sein Diskussionspartner Kenzaburo Oe, einer der wichtigsten japanischen Autoren, machten beim jeweils eigenen Volk expansive, aggressive und fremdenfeindliche Tendenzen aus.

In einer anderen Halle des Messegeländes hatte kurz zuvor der Wiener „Verlag für Gesellschaftskritik“ ein etwas weniger gut besuchtes Gespräch u. a. mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk veranstaltet. Dort warf man gar die Frage auf, ob das vergrößerte Deutschland geneigt sein könnte, eines Tages Österreich zu vereinnahmen.

Deutsche Debatten allerorten auf dem Messegelände. Bei einer dritten Diskussion schalt der 1977 aus der DDR ausgebürgerte Schriftsteller Jürgen Fuchs einige westdeutsche Autoren, die über Jahre hinweg die DDR-Opposition als friedensschädigendes Randphänomen behandelt hätten.

Die Stände der DDR-Verlage im ersten Stock von Halle 5 sind derweil umlagert wie nie zuvor. Symptomatisch das Angebot des Dietz-Verlages, der zwar weiterhin die berühmten blauen Bände der Marx-Engels-Gesamtausgabe offeriert, aber auch Bücher über stalinistische Inquisition ins Programm genommen hat. Der bislang führende ostelbische Verlag „Aufbau“, inzwischen finanziell arg in die Klemme geraten, zieht sich gleichfalls nicht nur in die Gefilde der Klassik zurück, sondern hat eine experimentelle Reihe eröffnet. Die West-Auslieferung für „Aufbau“ hat Bertelsmann übernommen.

Doch der wahrhaft frische Wind kommt von zahlreichen neuen Kleinverlagen wie etwa „Edition Babelturm“ (Potsdam), „Basisdruck“ (Berlin), „Forum-Verlag“ (Leipzig) oder Tacheles (Berlin). Die meisten von ihnen sind im Umkreis oppositioneller Gruppen und Zeitschriften entstanden. Sie könnten eine wichtige Funktion für das Selbstbewußtsein der neuen Bundesländer ausüben. Insgesamt gilt für die Verlage aus der ehemaligen DDR, daß sie eine wichtige Mittlerrolle für osteuropäische Literaturen einnehmen können – wenn sie wirtschaftlich durchhalten.

Thema „Vereinigung“ natürlich auch beim Verband deutscher Schriftsteller (VS), dessen Vorsitzender Uwe Friesel auf der Buchmesse klarstellte: „Eine Vereinigung der beiden deutschen Schriftstellerverbände wird es nicht geben.“ Vielmehr werde man, um Leute mit Stasi-Vergangenheit „auszufiltern“, auf Einzelbeitritte ostdeutscher Autoren und auf die Gründung von VS-Landesverbänden in der früheren DDR setzen. Im Mai 1991 werde dann ein gesamtdeutscher Wahlkongreß des VS tagen.

Joachim Walther, stellvertretender Vorsitzender des nur halbherzig reformierten, vor dem Exitus stehenden DDR-Verbandes SV, übte bei gleicher Gelegenheit scharfe Kritik am CDU-Vize Lothar de Maizière. Der habe es nie für nötig befunden, auf besorgte Brandbriefe ostdeutscher Künstler auch nur zu antworten. Zahlreiche Ex-DDR-Autoren, so hieß es, werden sich jedenfalls nach Jobs umsehen müssen. Bislang meist ausschließlich literarisch tätig, spüren sie nun den rauhen Wind der Marktwirtschaft.

Auch im gesamtdeutschen VS wird eine Kommission weiter arbeiten, die die dunklen Seiten der Geschichte des Ost-Verbandes beleuchten soll. Die Ergebnisse sollten sich auch eimge westliche VS-Mitglieder, die nicht immer kritische Standfestigkeit gegenüber stalistischen Organisationen bewiesen haben, aufinerksam durchlesen.




Allen Leuten gefallen – Ein Buch zur Unzeit: Christa Wolfs „Was bleibt“

Von Bernd Berke

Es geschieht selten, daß ein zehn Jahre zuvor verfaßter Text beim Erscheinen solches Aufsehen erregt. Die Debatte über Christa Wolfs „Was bleibt“ entzündet sich vor allem am Zeitpunkt der Veröffentlichung. Erst nach der DDR-„Wende“ konnte bzw. wollte sie ihre Aufzeichungen von 1979 vorlegen, in denen sie schildert, wie ihr Haus damals einige Wochen lang von der Stasi observiert wurde.

Auch Leute, die sonst abgewogen geurteilt hatten, fallen jetzt über die vermeintliche DDR-„Staatsdichterin“ her, die sie all die Jahre über letztlich doch gewesen sei und die jetzt nur noch späten „Gratismut“ beweise, um sich ein Alibi zu verschaffen. Walter Jens und Günter Grass nehmen Christa Wolf gegen derlei Vorwürfe in Schutz.

Der Anlaß der Debatten umfaßt nur 108 Seiten. Da ist die literarische Rede vom psychischen Druck auf „Objekte“ staatlicher Beobachtung. Viele Passagen dürften in ihrer Substanz auch auf schlimmere Fälle anwendbar sein. Es ist eine Qualität, daß das Buch am vergleichsweise harmlosen Beispiel das dennoch Zermürbende nachfühlen läßt. Die nach geheimem Plan wechselnden Spitzel-Autos mit geisterhaften „Männern ohne Eigenschaften“ als Insassen, die vor ihrer Wohnung postiert sind – sie schaffen hier keine direkte, konkrete Bedrohung, sondern eine kaum greifbare, kaum mit Worten zu fassende Unwirklichkeit, die in alle privaten Dinge einsickert.

Das Leben wird allmählich vergiftet, vergällt. Mißtrauen wuchert, auch gegen Freunde. Schließlich ist es egal, ob die Autos da sind oder nicht – dieses Gefühl ist immer da: es irrlichtert irgendwo zwischen Unruhe, Fühllosigkeit und allgemeiner Verwunderung. Und schließlich wächst die Bereitschaft zur Resignation: Was bleibt? Gibt es überhaupt Zukunft?

Die Autorin äußert öfters ein merkwürdiges, fürsorgliches Interesse für die Lebensumstände der Stasi-Spitzel, als seien es ihre Schutzbefohlenen. Meist sanftmütig, leise und tastend auch die Sprache. Es läßt sich an Textstellen belegen: Die volle Wahrheit zu offenbaren, spart Christa Wolf sich anno ’79 für später auf – oder überläßt es lieber gleich der nächsten Generation. „Mein beschämendes Bedürfnis, mich mit allen Arten von Leuten gut zu stellen“, schilt die Autorin sich einmal selbst. Dies Bedürfnis ist menschlich mehr als verzeihlich, politisch aber naiv. Vielleicht ist es das Hauptproblem der Christa Wolf.

Christa Wolf: „Was bleibt“. Luchterhand, Frankfurt/Main. 108 S., 24 DM.




Talent an den NS-Staat verschleudert – Bildhauer Arno Breker wird 90

Am Rande eines einschlägigen Gerichtsverfahrens fiel einmal der Satz, die Filmerin Leni Riefenstahl habe während der NS-Zeit stets oben schwimmen können – „wie ein Fettauge auf der Suppe“. Der Vergleich trifft wohl auch auf den Bildhauer Arno Breker zu, der heute in Düsseldorf 90 Jahre alt wird.

Brekers Hang zu aufgeblähtem Pathos, zur hohlen Monumentalität, zu einer Scheinwelt idealisierter Körper, paßte wie angegossen zum Geschmack der Nazi-Ideologen. Die NS-Führungsclique machte ihn zum engen Vertrauten. Er meißelte Büsten von Hitler und anderen Nazi-Größen, verschrieb sich der Produktion für die Partei. So verschleuderte er sein zuvor durchaus bewiesenes Talent. Nur ein mißbrauchter „Idealist“? Oder nicht doch ein bewußter Mithelfer, indem er Skulpturen wie „Vernichtung“, „Vergeltung“, „Rächer“ und „Kämpfer“ schuf? Breker soll, so heißt es, zwisehen 1938 und 1943 auch verfolgten Künstlern geholfen haben. Picasso zum Beispiel. In der Stalin-Ära bemühten sich angeblich auch die Herren des Kreml um die Dienste des Deutschen. Breker lehnte ab.

Breker, am 19. Juli 1900 inElberfeld (heute Wuppertal) geboren, spielte auch eine Rolle in jenem Lehrstück über den oft bruchlosen Übergang in die Adenauer-Ära. Im Jahr 1948 für ein Bußgeld von 100 DM als „Mitläufer“ entnazifiziert, war er schon bald nach dem Krieg wieder gefragter Porträtist der Begüterten. Der Bankier Hermann Josef Abs saß ihm ebenso Modell wie Versandhaus-König Helmut Schickedanz, Mitglieder der Quandt-Dynastie, Kaiser Halle Selassie, der politisch stets unzurechnungsfähige Salvador Dali, die nichts als schrille Gloria von Thurn und Taxis oder der allzu rundum aufgeschlossene Kunstmäzen Peter Ludwig. Auch Modellathleten wie der Zehnkämpfer Jürgen Hingsen oder die Hochspringerin Ulrike Meyfarth waren in Brokers Atelier in Düsseldorf-Lohausen willkommen.

Nicht wenige Surrealisten reklamierten Broker als einen der Ihren. Daran dürfte wahr sein, daß Breker Reflexion und Verantwortung in einem quasi-surrealistischen Sinne ausblendete, so daß seine Figuren sich zu einem (Alp)-Traumreich verlogener Schönheit zusammenfügen, das durch die Akademie-Tradition des 19. Jahrhunderts vermittelt wird. Die Texter eines Bildbandes jedenfalls, die Breker im Untertitel als „Michelangelo des 20. Jahrhunderts“ feierten, griffen nicht nur bei weitem zu hoch, sondern gänzlich fehl. Inwiefern, das hat u. a. der verstorbene Bochumer Kunsthistoriker Max Imdahl detailliert belegt.

Wiederholt bewies Breker seine notorische „Unfähigkeit zu trauern“. Eine kritische Anfrage war ihm vor einigen Jahren höchst lästig. Denkbar blauäugig antwortete er: „Wie kann denn Liebe blühen, wenn immer wieder Neid und Haß gesät werden?“ Noch kürzlich sagte er, daß er von „damals“ nichts mehr hören will: „Ich brauche meinen Frieden, um zu arbeiten“. – Ja, den Frieden. Den hätten andere auch gebraucht. Damals, als Breker zu den Aggressoren hielt.

                                                                                                                       Bernd Berke




Schrecken und Hoffnung Europas – „Notizen zum Stand der Dinge“ von Andrzej Szczypiorski

Nichts verstellt dem Schriftsteller Andrzej Szczypiorski den Blick für Gerechtigkeit. In seinem bis 1988 fortgeschriebenen Band „Notizen zum Stand der Dinge“, dessen Kernstück Aufzeichnungen zum Ende 1981 über Polen verhängten Kriegszustand bilden, findet sich auch der Versuch einer Ehrenrettung des Sozialismus.

Szczypiorski kritisiert jene Leute, die nach dem Scheitern des osteuropäischen Kommunismus gleich alles geistig „über Bord werfen“ wollen, was nur entfernt an diese Ideologie erinnert. Für einen, Menschen, der wegen seiner oppositionellen Ansichten unter Kriegsrecht interniert und drangsaliert worden ist (was er eindringlich beschreibt), eine ganz und gar bemerkenswerte Geste.

Ähnlich wie in seinem Bestseller-Roman .„Die schöne Frau Seidenman“, spricht der Nelly-Sachs-Preisträger wiederum die Deutschen, unter denen er in der NS-Zeit physisch noch weitaus mehr gelitten hat als später unter dem Kommunismus, von Kollektivschuld frei. Nicht alle Angehörigen dieses Volkes seien Unmenschen gewesen. Deutsehe und Polen hätten gar etwas „gemeinsam“, was z. B. Polen und Schweizer nicht hätten: „Denn wenn ich mit Deutschen rede, steckt darin eine gewisse Gemeinsamkeit. Wir haben aus derselben Schüssel der Verworfenheit gegessen. Ich auf der einen Seite der Schüssel – ihre Väter auf der anderen. Sie wie ich, wir sind eingebunden in unser schreckliches, gemeinsames Europa“.

Das Buch gibt aufschlußreiehe Innenansichten polnischen (Uber-)Lebens unter dem gewesenen Regime. Der Autor bricht Tabus, macht beispielsweise den lange verleugneten und verdrängten Antisemitismus vieler Polen namhaft. Nach Szczypiorskis Bericht über die ungeheure Wirkung des Papst-Besuches in Polen, der sich selbst der damalige „Betonkopf“ Jaruzelski nicht ganz entziehen konnte, ahnt man etwas von der Bedeutung des Katholizismus in Polen, die noch gesteigert wird durch die Tatsache, daß das Oberhaupt der Katholischen Kirche aus diesem Land stammt. Ein längeres Kapitel macht denn auch die Ermordung des Priesters Jerzy Popielusko als eigentlichen Umschlagpunkt der Stimmung im polnischen Volk aus, das sich seither überhaupt nicht mehr mit dem Regime hat abfinden können.

Ein weiterer Schwerpunkt der Notate ist hochaktuell und zukunftsweisend: der kulturelie Brückenschlag zwischen Ost- und Westeuropa – wahrlich eine Denk-Notwendigkeit, um den diversen Kapital-Bewegungen nicht gänzlich das kontinentale Feld zu überlassen. Szczypiorski sieht hier auch eine Schlüsselrolle seines Landes, weil es westeuropäisch-„lateinische“ Traditionen mit intensiven (wenngleich historisch oft schmerzlich-unfreiwilligen) Kontakten zum ganz anders geprägten Russland verbinde.

Das „Rohmaterial“ nüchterner Notizen wechselt mit ausgearbeiteten literarischen Passagen. Der Stil ist niemals „brillant“, nie eitler Selbstzweck, sondern dient immer der möglichst präzisen Mitteilung, steht im Dienste von Differenzierung, Nuance und Wahrhaftigkeit.

Andrzej Szczypiorski: ..Notizen zum Stand der Dinge“. Diogenes-Verlag, 262 Seiten.. 29,80 DM.




Als Zukunftshunger die Künstler erfaßte – Bilder in der deutschen Revolution 1918/19

Von Bernd Berke

Recklinghausen. „Was kann die Revolution der Kunst geben, was kann die Kunst der Revolution geben?“ Im Zeichen dieser Doppelfrage steht die große Ausstellung der Ruhrfestspiele. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ lautet der etwas irreführende Titel. Doch es geht hier nicht um die Französische Revolution.

Exponate, die sich auf die Umwälzung von 1789 beziehen, dürften derzeit fast restlos ausgeliehen sein. So konzentrierte sich Dr. Anneliese Schröder in der Kunsthalle Recklinghausen auf fünf Künstlergruppen im Umfeld der (gescheiterten) deutschen Revolution 1918/19.

Dies kann man aus der Ausstellung ableiten: Ganz anders als die Oktoberrevolution in der Sowjetunion, haben die Umsturzversuche in Deutschland die Kunst zwar mit Zukunftshunger aufgeladen, kaum aber auf den Stil der Künstler eingewirkt. Zwar gab es eine Flut von drangvollen Manifesten und beinahe siegestrunkenen Architektur-Entwürfen für kristalline „Kathedralen der Zukunft“ (Motto: „Glas macht dem Menschen Mut“), doch wich der Stilpluralismus nicht etwa einem revolutionären Einheitsstil. Gemeinsame Gesinnung ja, gemeinsame Ausdrucksformen nein – das wäre die Formel.

Die Vielfalt blieb – auch innerhalb der Künstlergruppen. Eine gewisse Ausnahme bildeten die „Rheinischen Progressiven“ (Gert Arntz, Heinrich Hoerle, F. W. Seiwert u. a.), bei denen Tendenzen zu kollektivem Stil und Thematik erkennbar sind. Sie richteten ein Hauptaugenmerk auf Automatismen, die die Industriewelt den menschlichen Körpern aufprägt. Doch findet sich in dieser Abteilung auch eins der ganz seltenen Beispiele für die direkte Darstellung eines Revolutions-Themas, und das auch erst am Punkt des Niedergangs: Margarete Kubickas Bilder zu den Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Der „Arbeitsrat für Kunst“ (Berlin, ab 1919 – Hermann Finsterlin, Hans Scharoun, Bruno Taut u. a.), schon in der Namensgebung an Arbeiter- und Soldatenräte angelehnt und mit der „Novembergruppe“ verwoben (Max Pechstein, Walter Dexel, Rudolf Belling), setzte sich die Kunst-Utopie des „Glücks der Masse“ zum Ziel. Eher das reale Unglück der Massen in Gestalt bedrückenden Arbeiter-Elends spricht aus Bildern der „Dresdner Sezession Gruppe 1919″ um Conrad Felixmüller.

Interessant an der mit berûhmtesten Namen glänzenden Abteilung „Bauhaus Weimar“ (kleinere Arbeiten von Klee, Feininger, Kandinsky, Schlemmer) ist besonders, daß man sie hier im Kontext zeitgleicher Strömungen sieht. Das Bauhaus hatte zwar zunächst manche Berührungspunkte mit der Revolution, wurde aber später zu einer Art Design-Werkstatt im Sinne formal fortschrittlich denkender Industrieller.

Aus dem Rahmen fällt der Raum, der „Dada Berlin“ (Heartfield, Grosz, Hannah Höch) gewidmet ist. Hier wird ein Elan spürbar, der respektlos mit allem umspringt und dabei in ästhetische Regionen vordringt, die anderen nicht mehr zugänglich sind. In diesem Kreis wurde denn auch die einzige genuine Kunst-Erfindung jener Jahre geboren: die Foto-Collage.

Zwar sind nicht durchweg Spitzenstücke zu sehen, doch wäre das auch bei einem Ausstellungsetat von nur 200 000 DM – angesichts heutiger Versicherungssummen – beiweitem zu viel verlangt. Die Schau vermittelt jedenfalls intensives Zeitklima.

Und schon kursieren Ideen, den Ruhrfestspiel-Ausstellungen einen Zweijahres-Turnus zu verordnen. Dann könnte man „klotzen“ und noch mehr Aufwand in die Vorbereitung stecken. Doch gehört nicht eine alljährliche Ausstellung zu den Festspielen wie ein Fisch ins Wasser?

Kunsthalle Recklinghausen: Ab heute bis 18. Juni. Tägl. 10-18 Uhr; Katalog 20 DM.




Warum Norbert Blüm die Schriftsteller beneidet – Diskussion über Sprache in Literatur und Politik

Von Bernd Berke

Düsseldorf. „Im Zentrum steht vielmehr der Dialog als Prozeß, in den sich jeder einbringen kann.“ Bekenntnis einer Selbsterfahrungs-Gruppe? Nein, das Zitat stammt aus einer Einladung der CDU. Die Christdemokraten baten zu einer prominent besetzten Kulturdiskussion in die Düsseldorfer „Rheinterrassen“, als Moderator fungierte Geert Müller-Gerbes (Talkmaster von RTL plus). Motto, ganz ohne Fragezeichen ausgedruckt:„Sprachlos: Politik und Literatur“.

„Kritikerpapst“ Marcel Reich-Ranicki argwöhnte gleich zu Beginn, „daß wir hier in den Wahlkampf eingespannt werden“. So sei es doch bisher immer gewesen: Nach dem Urnengang hätten die Parteien die Kultur sehr bald wieder ignoriert. Reich-Ranicki: „Aber heute wird uns sicher wieder gesagt, wie sehr diese Partei die Literatur liebt.“

Ihm gegenüber saß der, der sich angesprochen fühlen mußte: Norbert Blüm, Arbeits-und Gesundheitsminister sowie Vorsitzender der CDU in NRW. Blüm wich der Attacke aus, und zwar mit dem Knabber-Sprachbild, das er so gern benutzt: „Ich liebe die Literatur nicht. Manchmal geht sie mir sogar auf den Keks“. Warum? Nun, Geist und Macht ließen sich nicht vorschnell versöhnen. Die schreibenden Intellektuellen seien immer stärker im Kritisieren gewesen als im Bejahen. Das sei zwar ihre Rolle, die man akzeptieren könne, aber: „Manchmal werde ich da ein bißchen neidisch“. Denn ein Politiker müsse viel genauer auf Konsequenzen seines Redens und Tuns achten als ein Literat. Reich-Ranicki hatte das passende Böll-Zitat zur Hand: Der Schriftsteller müsse mitunter „zu weit gehen, um zu sehen, wie weit er gehen kann“.

Die Frage des Abends brachte Düsseldorfs Schauspiel-Intendant Völker Canaris auf den Punkt: Öffentliche Politiker-Sprache richte sich oft gar nicht mehr an den Zuhörer, sie sei vielfach zur puren Selbstdarstellung verkommen und geeignet, Realität zu verschleiern. Blüm räumte ein, daß die Politik Schaden nehme, wenn sie sich zu sehr von Alltags- und Literatursprache abkapsele. Aber: In den bestenfalls 90 Sekunden langen Fernseh-Statements könne ein Politiker auch nur schematisch reden. Komplizierte Entscheidungswege seien da kaum darstellbar, man müsse sich auf Resultate beschränken. Canaris: „Aber ihr Politiker erweckt doch den Eindruck, als könntet ihr in 90 Sekunden alles erklären“. Statt zur Schau getragener Selbstgewißheit wünsche er, Canaris, daß Politiker öfter mal Hilflosigkeit oder Angst eingestünden. Außerdem fehle die Dimension der Utopie, fehlten Visionen in der politischen Rede. Hier habe die Literatur eine wichtige Funktion.

Doch auch die Literatur, wortkarg vertreten durch Gabriele Wohmann („Ich weiß zu wenig über das Thema“), blieb nicht ungeschoren. Kritiker Reich-Ranicki: „Es ist schon viel politischer Unsinn aus Autoren-Federn geflossen“. Amt der Literatur sei es ja auch eher, „besser zu formulieren“. Blüm pflichtete bei: Er könne keine „höhere Autorität“ der Schriftsteller auf politischem Felde anerkennen.

Zu einem kleinen Eklat kam es, als Reich-Ranicki die „Unverantwortlichkeit“ von Literatar ausgerechnet am Beispiel Kurt Tucholskys verdeutlichen wollte: Tucholsky habe zu jenen gehört, die das Ende der Weimarer Republik herbeigeschrieben hätten. Volker Canaris: „Die Republik ist doch wohl von ganz anderen zerstört worden“. In einem war man sich dann wieder einig: Politiker müssen keine Literatur-Experten sein. Reich-Ranicki: „Bei meinem Arzt ist es mir ja auch lieber, wenn er Fachzeitschriften liest, als Rilke“.




„DGB muß der Kultur mehr Stellenwert geben“ – WR-Gespräch mit dem scheidenden Geschäftsführer der Ruhrfestspiele

Von Bernd Berke

Recklinghausen. „Der Deutsehe Gewerkschaftsbund muß der Kultur endlich mehr Stellenwert einräumen als bisher.“ Das forderte gestern, in einem Gespräch mit der Westfälischen Rundschau, der scheidende DGB-Geschäftsführer der Ruhrfestspiele, Dr. Fred Eckhardt.

Mit seiner Forderung benennt Eckhard, der nach zwölf Jahren in Recklinghausen um Lösung seines Vertrags bat (WR berichtete), zugleich einen Hauptpunkt, der ihn zu diesem Schritt bewogen hat. Seine Entscheidung, so Eckhard, habe subjektive und objektive Gründe. Subjektiv: Als künftiger Leiter einer Berufsfachschule für Theatertanz und Theaterpädagogik könne er in seine alte Heimatstadt Hamburg zurückkehren und endlich wieder vorwiegend künstlerisch tätig sein.

Doch nicht nur persönliche Interessen sind der Grund für den Wechsei. Eckhard: „Die Sparzwänge bei den Ruhrfestspielen sind in den letzten Jahren immer mehr gewachsen. Dieser Druck schlägt auf die künstlerischen Ergebnisse durch.“ Seit Jahren müsse man mit einem gleichbleibenden Etat stetig steigende Kosten bewältigen. Sogar längst zugesagte Gastspielreisen – z. B. in die UdSSR – müßten mangels Finanzmasse auf die lange Bank geschoben werden.

Die beiden Träger der Ruhrfestspiele (Stadt Recklinghausen und DGB) hätten gewiß ernsthafte Geldsorgen. Doch sei die finanzielle Ausstattung der Festspiele zunächst auch eine Frage des Bewußtseins. Eckhard: „Im Grundsatzprogramrn des DGB steht, daß sich die Gewerkschaften auch für kulturelle Belange der abhängig Beschäftigten einsetzen sollen“. Dies sei, obgleich es Zeichen eines Umdenkens gebe, noch nicht ausreichend der Fall. Die Basis in den Einzelgewerkschaften, aber auch der DGB-Bundesvorstand müßten dringend darüber reden, ob sie hauptsächlich eine „Tarif-Maschine“ sein oder ob sie auch kulturelle Zeichen setzen wollten.

Der große Apparat des DGB erweise sich in Kulturfragen oft als schwerfällig, man müsse viel schneller auf die Herausforderungen der „Freizeitgesellschaft“ reagieren. Die mißliche Situation der Ruhrfestspiele, die „endlich wieder eine Perspektive brauchen“, vergleicht Eckhard mit der eines leckgeschlagenen Ozeanriesen: „Da kann man doch auch nicht sagen: ,In vier Wochen laufen wir Singapur an, dann wird alles repariert‘.“

Eckhard nennt Zahlen: Zehn Mio. DM wären für eine halbwegs vernünftige Renovierung des Festspielhauses (vorsintflutliche Bühnentechnik, 23 Jahre alte Bestuhlung) und anderer Festspieleinrichtungen vonnöten. Und: „In der Jubiläumssaison 1986 hatten wir ausnahmsweise eine Million Mark Zusätzlichen Jahresetat“. Stoßseufzer: „Damit konnten wir tolle Sachen veranstalten. Wenn wir nur diese Zusatz-Million in jedem Jahr hätten…“

Einen Hoffungsschimmer sieht Eckhard im Gutachten des Berliner „Deutschen Instituts für Urbanistik“ (DIFU). Die Expertise entsteht unter Leitung von Prof. Dieter Sauberzweig und soll im Frühjahr vorliegen. Die Studie, so Eckhard, könnte den Ruhrfestspielen gangbare Wege in die Zukunft weisen. Dann dämpft er freilich die eigenen Erwartungen. Bis das Gutachten alle Gremien passiert habe und „greifen“ könne, würden auch die Festspiele 1990 ins Land gehen – eine kaum noch erträgliche Durststrecke.

Eckhards Appell: „Wir sind es den Gründern, die in der Hungerzeit nach dem Krieg kulturellen Weitblick bewiesen haben, schuldig, die Festspiele zu stärken“.




Kultur soll Zentralpunkt städtischer Politik werden – Forderung der Dezernenten nach NRW-Projekt „Kultur 90″

Von Bernd Berke

Im Westen. Wenn 31 Städte drei Jahre lang den „kulturellen Ernstfall“ geprobt haben, ist allemal viel Text fällig: Das jetzt erschienene „Handbuch Kultur 90″, hervorgegangen aus der Praxis der Projektreihe „Kultur 90″, umfaßt 390 Seiten im Großformat. Am heutigen Samstag wird der voluminöse Band als Arbeitsgrundlage dienen, wenn die Kulturdezernenten der beteiligten NRW-Städte im mit 1200 Mensehen vollbesetzten Essener Aalto-Bau Bilanz ziehen. Prominentester Gast: NRW-Ministerpräsident Rau.

Jede Stadt hat bei „Kultur 90″ seit 1985 mit vielen Einzelveranstaltungen ihr Spezialgebiet „beackert“. So widmeten sich die Dortmunder dem „Spannungsfeld Kultur und Alltag“, Schwerte zog Linien zwischen „Kultur und Frieden“, Hagen zwischen „Kultur und Sport“, Siegen legte den Schwerpunkt auf „Kultur und freies Theater“, Bergkamen lotete Beziehungen zwischen „Kultur und Alter“ aus, Unna wählte das Thema „Kultur und Kleinstadt“.

Die Kulturdezernenten hoffen, daß ihr unter Anleitung des Wuppertaler Sekretariats für gemeinsame Kulturarbeit entstandenes Bilanzbuch eine Pflichtlektüre in den Rathäusein wird. Ihr Ziel: Kultur soll zur Leitschnur aller kommunalpolitischen Entscheidungen werden. Dr. Karl Richter vom Wuppertaler Sekretariat: „Zur Zeit stehen eindeutig wirtschaftliche Belange im Vordergrund“. Angesichts der – im Gefolge neuer Technologien – drohenden „Freizeit-Katastrophe“ (Wie kann wachsende Freizeit sinnvoll gefüllt werden?) dürfe dem Kommerz nicht das Feld überlassen werden. Ein um politisehe, ökologische und soziale Aspekte erweiterter, ganzheitlicher Kulturbegriff (Richter: „Kultur bedeutet: Wie wir leben!“) müsse daher ethisch-moralischer, aber auch finanzieller Fixpunkt kommunaler Politik werden.

Damit dieser Ruf nicht verhallt, haben die Kulturdezernenten – parallel zu ihrem Abschlußbericht – eine Resolution verfaßt, inklusive Präambel eine Art „Grundgesetz der Kulturarbeit“ in den Städten. Kernpunkte der zehn Forderungen: Kultur als Pflichtaufgabe der Gemeinden („Bürgerrecht Kultur“), Aufstockung der Kulturetats auf 10 Prozent der städtischen Haushalte (das liefe bei den meisten Kommunen etwa auf eine Verdoppelung hinaus; als leuchtendes Vorbild wurde Frankfurt genannt); höher honorierte, bessere und qualifiziertere Besetzung der Kulturausschüsse und Kulturverwaltungen.

Bei einem Treffen der Kulturdezementen gestern im Essener Rathaus, stellte Essens Oberbürgermeister Reuschenbach gleich klar, daß er diese Forderungen derzeit für „utopisch“ halte. Das wollten die Dezernenten, die sich „im Vorfeld der Möglichkeiten“ wähnen und jede Menge „Handlungsbedarf“ sehen, natürlich so nicht gelten lassen.

Essens Kulturdezernent Godde: Viele der Resolutions-Forderungen seien „Selbstverständlichkeiten“. Auch schwebe man nicht im luftleeren Raum, sondern beziehe sich auf die Praxis von „Kultur 90″. In der Projektphase, so räumten die Kulturdezernenten ein, seien neben Zukunfts-Perspektiven auch Defizite deutlich geworden: Mitunter blockierten starre Verwaltungsstrukturen die Kulturarheit, manche Einzelprojekte bei „Kultur 90″ seien daher auch so gut wie gescheitert.




„Strukturwandel auch für die Kultur nutzen“ – Dortmunds Schauspielchef Guido Huonder im Rundschauhaus

Dortmunds Schauspielchef Guido Huonder (4. von links) im Kreise von Rundschau-Redakteuren. (WR-Bild: Franz Luthe)

Eigener Bericht

Dortmund. (bke) Der Strukturwandel im Revier habe auch ein Bewußtsein für die Wichtigkeit von Kultur geweckt: „Dieses neuerwachte Bewußtsein müssen wir nutzen, um den Politikern klarzumachen, daß Kultur kein freiwilliger Geschenkartikel, sondern eine Pflichtaufgabe ist.“ Das sagte Dortmunds Schauspielchef Guido Huonder bei einem Redaktionsbesuch im Dortmunder Rundschauhaus.

Huonder, dessen Ensemble bundesweit gefragt ist und bei mehreren renommierten Festivals die Stadt repräsentiert (heute, Samstag, 20 Uhr, gibt’s im Dritten TV-Programm die Dortmunder Fassung von Taboris „Mein Kampf“ beim NRW-Theatertreffen), erklärte sich im Kampf gegen Etatkürzungen „total solidarisch mit den anderen Revier-Theatern“, denn „im Ruhrgebiet gibt es kein einziges Theater zuviel“. Der gebürtige Schweizer ist da fürs: „Kantönlidenken“: „In der Schweiz ist jede Stadt stolz, daß sie alles hat.“

Früher 45 Ensemblemitglieder, heute nur noch 25

In Dortmund, so Huonder, habe man zuerst die bittere Erfahrung gemacht, die nun z. B. auf Essen zukomme. Die in Dortmund vor Jahren veranlaßten Einschnitte „werden jetzt erst eigentlich spürbar“. 1975 habe das DO-Ensemble noch aus rund 45 Schauspielern bestanden, heute seien es 25. Folge: So gerne man auf Festivals für die Stadt werbe, so schmerzlich sei es, daß man an den betreffenden Tagen daheim nicht mehr spielen könne. Die Personaldecke sei einfach zu kurz. Huonder: „Ich kann meine Leute nicht auswringen.“ Ohnehin müsse man „am Rande der Ausbeutung“ arbeiten: „Unsere Erfolge sind ein Ding von Arbeit und Maloche“.

Die oft als Spar-Chance erwogenen Kooperationen mit anderen Bühnen brächten erfahrungsgemäß gar keine Einsparungen, sondern sogar Mehraufwand. Eine zentralisierte Werkstatt für mehrere Revier-Theater könne hingegen sinnvoll sein. Weitere Konsequenz der Festival-Verpflichtungen sei ein höherer Erwartungsdruck. Es sei aber eine Qualitätsgrenze erreicht, die mit den jetzigen Mitteln nicht überschritten werden könnc.

Gerne mal einen Widerhall aus Politikermund hören

Der gute überregionale Ruf ist hochwillkommen, aber: „Ich bleibe gern auf dem Teppich“. Allerdings, so Huonder, würde er gerne öfter mal einen Widerhall der Erfolge aus Politikermund hören. „Das würde etwas in der Öffentlichkeit bewirken“. Viele Politiker hätten aber immer noch nicht gemerkt, daß „Kultur eine feste Größe ist, die man eigentlich gar nicht anrühren darf.“

Man müsse eben endlich weg von der Diskussion, ob Kultur nötig sei, und lieber darüber reden, welche Kultur man wolle. Denn: „Kultur ist der Humus einer Stadt“. In einer der reichsten Nationen der Welt müsse doch einfach das Geld dafür vorhanden sein. Vorsicht sei jedenfalls beim Anzapfen mäzenatischer Geldquellen geboten. Im Erfolgsfall könnten Politiker versucht sein, die Kulturschaffenden vollends auf private Geldgeber zu verweisen.

Theatermann vermißt ein übergreifendes Konzept

Huonders rhetorische, bislang noch zu verneinende Frage: „Gab’s einmal ein kulturpolitisches Konzept in Dortmund?“ Der Theatermann träumt jedenfalls von einem solchen Konzept, das – gleichsam eine große Inszenierung auf der „Bühne Stadt“ – die gesamte örtliche Kultur einbezieht und bündelt, aber dennoch das Einzelne, Individuelle „zum Blühen bringt“.

Auch zum Bochumer Musical-Unternehmen „Starlight Express“ äußerte sich Huonder. Er glaubt – „wenn wir gutes Theater machen“ – nicht an Besucherschwund in Dortmund, fürchtet aber eine „Amerikanisierung“, die als Vorbild in Politiker-Köpfen spuken könnte. „Starlight“ das sei bloße Importware ohne rechte Ecken und Kanten – „und ohne Revier-Power“.




Künstler werben für Europa – auf Einladung der Straßburger SPD-Abgeordneten

Von Bernd Berke

Bonn/Dortmund. Mit der bundesweiten Aktion „Künstler malen ihr Bild von Europa“, will die SPD im Herbst für den europäischen Gedanken werben. In zwölf Großstädten, darunter Dortmund, werden Künstler Plakatwände mit europäischen Themen gestalten.

Start des Kunstspektakels, zu dem die SPD-Europa-Abgeordneten aufgerufen haben, ist am 18. September in Kassel (zwei Tage vor Schluß der „documenta“). In Dortmund werden am 21. September die Künstler Hanno Otten (Köln) und Henning Eichinger (Dortmund) auf dem „Alten Markt“ zwei eigens aufgestellte Wände zu Euro-Plakaten umfunktionieren.

Organisator der Malaktion, die in Städten aller Bundesländer und in Berlin stattfinden wird, ist Paul Pauly, ehedem Bonner Fraktionsmitarbeiter der „Grünen“ (speziell Joschka Fischers) und 1983 für deren vielbeachtete Kultur- und Wahlkampfaktion „Grüne Raupe“ sowie für Anti-Atom-Konzerte in Wackersdorf verantwortlich. Pauly, der 1984 aus den Diensten der Umweltpartei ausschied: „Bei den ,Grünen‘ gibt es immer noch Defizite in Sachen Kultur, deshalb mache ich das jetzt für die SPD.“

Pauly will den Künstlern, die u. a. durch Vermittlung des Deutschen Künstlerbundes zusammenkamen und je 2000 DM Honorar erhalten, größtmögliche Freiheiten lassen. So müsse es durchaus nicht beim bloßen Plakatmalen bleiben; auch andere Aktionen und die Einbeziehung der Bevölkerung seien möglich. Pauly setzt hierbei auf Künstler wie Ben Wargin (in München) oder Timm Ulrichs (in Hannover), die schon des öfteren für öffentlichkeitswirksame Auftritte gut waren.

Finanziert wird das Ganze aus jenem 50-Millionen-Etat, den das Europaparlament sich für „Reklame in eigener Sache“ genehmigte und der auf alle dort vertretenen Fraktionen verteilt wird. Die SPD, so Pauly („Die Bevölkerung weiß noch viel zu wenig über Europa“), werde ihren Anteil vornehmlich in Kultur investieren. Die Malaktion soll dabei nur eine von vielen Veranstaltungen sein.

Unter anderem ist auch ein großes Nordsee-Musikfestival für August 1988 im Gespräch, an dem alle Anrainerstaaten beteiligt sein sollen. „Ganz nebenbei“ will man so auf die drohende Umweltkatastrophe (Wasserverschmutzung) aufmerksam machen. Als möglichen Veranstaltungsort peilt Pauly das „Motodrom Halbemond“ bei Norden/Ostfriesland an, in dem rund 70 000 Zuschauer Platz finden und in dem sonst Speedway-Fahrer ihre Runden drehen. Auch eine europaweite Theatertournée schwebt Pauly vor. Die Bilder der herbstlichen Kunstaktion sollen übrigens der Nachwelt erhalten bleiben. Paul Pauly hat sich dazu ein Rahmensystem ausgedacht, mit dem die fertigen Bilder von den Plakatwänden genommen werden und zu Ausstellungen geschickt werden können.

Ganz ohne Politik geht’s bei der Kunstaktion nicht ab: Sie soll Auftakt zu einer größeren Informationskampagne sein, bei der man bereits jetzt die Europawahlen (Juni 1989) im Visier hat.




Vor 50 Jahren: Nazis stellten die Moderne an den Pranger / Zur Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937

Von Bernd Berke

Wieder einer jener schandbaren Gedenktage, von denen wir Deutschen aus eigener Schuld so viele haben: Am 19. Juli 937, vor genau 50 Jahren, wurde in den Münchner Hofgartenarkaden die Hetz-Ausstellung gegen die damals so genannte „Entartete Kunst“ eroffnet. Mit dieser Veranstaltung, die 730 Werke von 112 Kunstlern umfaßte, denunzierten die Nazis die gesamte Moderne der Kunst. Die Namen der damals an den Pranger gestellten Künstler lesen sich heute als ,,Ehrenliste“: Barlach, Beckmann, Chagall, Corinth, Dix, Ernst, Feininger, Grosz, Kandinsky, Kirchner, Kokoschka, Lehmbruck, Macke, Marc, Nolde, Picasso seien nur stellvertretend genannt.

Die Auswahl (sprich: entschädigungslose Beschlagnahme in Museen und bei Privatsammlern) besorge – im Auftrag des früh gescheiterten Möchtegern-Malers Hitler – der damalige Präsident der .„Reichskammer der Bildenden Künste“, Adolf (,,Meister des Schamhaars“) Ziegler, der sich vor allem mit erbarmungslos kitschigen Aktbildern hervorgetan hatte. Von solcher Art waren denn auch die Bilder, die – zeitlich parallel – im Münchner ,,Haus der deutschen Kunst“ den mißliebigen ,,Modernen“ als Beispiel vorgehalten wurden.

Rund zwei Millionen sahen die Wanderausstellung in München, Berlin, Leipzig, Düsseldorf und Frankfurt. Die NS-Machthaber karrten selbstverstandlich ganze Schulklassen oder BDM-Gruppen an die Ausstellungsorte. Allerdings: Nicht alle Besucher verspürten jenen propagandistisch geschickt aufgestachelten Haß auf jegliches Unbekannte und Verstörende, der sich manchmal auch darin entlud, daß Bilder in der Ausstellung bespuckt wurden. Gar mancher kam jedoch aus (heimlicher) Liebe zu diesen Kunstwerken und nutzte damit die fiür lange Zeitletzte Gelegenheit, sie in Deutschland öffentlich zu sehen.

Zunachst hatte es noch Tendenzen gegeben, den Expressionismus als ,,nordische Kunst“ für NS-Zwecke zu vereinnahmen. Propagandaminister Joseph Goebbels besaß privat einige Bilder yon Emil Nolde, den auch seine Parteimitgliedschaft hernach nicht vor Aussonderung bewahrte. Es setzte sich die breitere Strömung durch: die Kampfansage an alle Kunstrichtungen, die nicht einem verlogenen Klassizismus huldigten, mithin an die gesamte Moderne, besonders nachdrücklich aber an offen sozialkritische Kunst wie die eines Otto Dix und eines George Grosz.

Seele des Kleinbürgers zum Kochen gebracht

Nach der infamen Wanderschau, die die Kunstwerke bewußt lieblos und möglichst nachteilhaft prasentierte, sie aber sicherheitshalber noch mit höhnischen Kommentaren versah, wurden zahllose Werke verfemter Kunstler am 30. Juni 1939 bei einer Auktion im schweizerischen Luzern zu Spottpreisen verschleudert; ein Großteil davon ist deshalb heute in Großbritannien oder den USA zu finden. Bereits im Marz 1939 hatte man auf dem Hof der Berliner Hauptfeuerwache noch kürzeren ProzeB gemacht: Tausende von nicht genehmen Kunstwerken wurden dort verbrannt.

Verfolgung und Vernichtung aller ernstzunehmenden Kunst, mit Ausstellungs- oder gar Malverbot einsetzende Drangsalierung von Künstlern bis hin zur Ermordung, kamen natürlich nicht aus heiterem Himmel. Das Regime nutzte die Entfremdung breiter Schichten von der modernen Kunst, es nutzte tiefsitzende Vorurteile, die schon in der wilhelminischen Kaiserzeit gepflanzt warden waren. Die Seele manches zu kurz gekommenen Kleinbürgers mußte nur noch zum Kochen gebracht werden – und darauf verstand man sich im .„Dritten Reich“. NS-Maßnahmen gegen Künstler begannen auch nicht etwa erst 1937, sondern schon 1933 – in Reden Hitlers, die bereits sehr deutliche Drohungen enthielten, aber auch ganz konkret, z. B. mit der Schließung des ,,Bauhauses“ schon im Jahr der „Machtergreifung“.

Wozu diese Erinnerungen? Wir sind doch weit weg von jenen Zeiten, haben zahllose neue Museen gebaut, die damals verfemten Bilder erzielen Höchstpreise und die großen Ausstellungen sind überlaufen… Jedoch: Hat es in unserer Republik etwa keine Ausfälle und Ausschreitungen gegen Kunst gegeben (Beuys, Serra, Vostell usw.)? Und: Wer versichert uns, daß die jüngst erhobene Forderung, .„endlich wieder“ Nazi-Kunst in unseren Museen zu zeigen, nicht eines Tages aggressiver, mit gefährlicheren Argumenten und emflußreicheren Fürsprechern vorgebracht wird?




Duisburg als Vorreiter beim Kulturaustausch mit der DDR – Bilanz nach dem „Akzente“-Festival

Von Bernd Berke

Duisburg. Einen gewaltigen „Bammel“ hatten alle Beleiligten vor dem Duisburger Kulturfeslival „Akzente“. Bei einer bisher beispiellos vielfältigen West-Präsentation von DDR-Kultur hätte ja so vieles „schiefgehen“ können. Doch gestern, nach vollbrachten Taten, konnten Duisburgs Kulturdezernent Konrad Schilling und seine Mitstreiter hörbar aufatmen.

„Kein einziger Flop“ (Schilling) sei ihnen unterlaufen, die Besucherzahl von 73 000 könne sich hören lassen, und praktisch alle Veranstaltungen seien von hoher Qualität, ja meist richtig „aufregend“ gewesen. Schilling zitierte bei seiner Bilanz den DDR-Kulturminister Hoffmann, der gesagt habe, dies sei „ein Festival des Lernens“ gewesen – für beide Seiten.

Die insgesamt rund 110 Veranstaltungen, die – vom Deutschen Theater Ost-Berlin bis hin zu Autoren wie Christa Wolf – zahlreiche „Einblicke“ (FestivaI-Untertitel) in die Kultur des zweiten deutschen Staates ermöglichten, brachten auch zahlreiche „informelle Kontakte“ mit sich. Wie Duisburgs Oberstadtdirektor Richard Klein gestern befriedigt feststellte, haben solche Begegnungen bleibende NachWirkungen. Klein zeigte sich vom Verlauf des gesamten Festivais „überwältigt“.

Kulturdezernent Schilling ließ anklingen, daß Duisburg den Ruhm nicht ganz allein ausschöpfen wolle. Man habe dermaßen viele und wichtige Kontakte in die DDR geknüpft, daß auch andere (Revier-)Städte davon profitieren könnten. Freilich müsse festgehalten werden, daß Duisburg im Kulturaustausch mit der DDR eine Vorreiterrolle gespielt habe. Das Akzente-Festival sei dabei lediglich ein Höhepunkt. Im Grunde vollziehe sich hier ein langer, tiefgreifender Prozeß, gleichsam das langsame Wachstum eines „zarten Pflänzchens“, dessen erstes Aufkeimen man in Duisburg gesehen habe. Ein erfreulichesÄnzeichen sei zum Beispiel,daß man eine Duisburger Ausstellung mit DDR-Leihgaben durch ein schlichtes Telefonat mit dem DDR-Kulturministerium habe verlängern können. So etwas sei vor einem halben Jahr noch ganz undenkbar gewesen,

Auch für das nächste Akzente-Festival im Jahr 1988 erwarten die Duisburger eine starke Beteiligung von DDR-Künstlern. Im nächsten Jahr soll das Schwerpunktthema „Die Kulturleistungen des deutschsprachigen Judentums“ lauten. Der Rat der Stadt muß die Planung noch bestätigen.

Duisburg als „Eisbrecher“ im west-östlichen Kulturbetrieb – so könnte auch die Schlagzeile für die zweite Großunternehmung lauten, die gestern im Rathaus der Revierstadt bilanziert wurde. Die Rede ist vom Gastspiel der „Deutschen Oper am Rhein“ (Duisburg/Düsseldorf) und der Duisburger Sinfoniker in Moskau. Die Sowjets hätten den Klangkörper aus Duisburg geradezu enthusiastisch gefeiert, hieß es dazu. Das Orchester aus dem Ruhrgebiet habe sich vor einem verwöhnten und daher kritischen Publikum selbst übertroffen.




Plötzlicher Sinneswandel: Wuppertals Intendant Fabritius gibt auf

Von Bernd Berke

Wuppertal. Kehrtwende um 180 Grad: Während noch bei der Spielplan-Pressekonferenz am Mittwoch beim Wuppertaler Theater alles in schönster und stabilster Ordnung zu sein schien (WR berichtete), brach gestern unverhofftes Chaos aus. Generalintendant Jürgen Fabrilius, der am Mittwoch noch in „voller Gewißheit“ (Fabritius) seine Bereitschaft zur Vertragsverlängerung um fünf Jahre angekündigt hatte, warf wenige Stunden später das Handtuch.

In einem gestern bekannt gewordenen Brief an den Kulturdezernenten Heinz Theo Jüchter schrieb Fabritius: „Ich möchte Ihnen mitteilen, daß ich für eine weitere Abstimmung über meine Vertragsverlängerung nicht mehr zur Verfügung stehe.“ Er sehe keine Basis für eine weitere Zusammenarbeit, weil der Kulturausschuß eine bereits empfohlene Vertragsverlängerung abgelehnt habe.

Anlaß für den urplötzlichen Sinneswandel war eine offenbar turbulente Sitzung des Wuppertaler Kulturausschusses am Mittwoch abend, bei der harte Kritik an Fabritius laut wurde. Die Schelte bezog sich auf die Qualität einzelner Schauspiel-Inszenierungen (vor allem: „Dreigroschenoper“), auf die Stagnation der Besucherzahlen im Schauspiel und auch schon auf den frisch veröffentlichten Spielplan ’87/’88. Der Ausschuß mochte dem Rat nicht empfehlen, Fabritius‘ Vertrag über 1988 hinaus zu verlängern.

Als er von dieser Stimmungslage erfuhr, schrieb der konsternierte (seit 1983 in Wuppertal tätige) Generalintendant des Dreispartentheaters  seine zitierte Absage. Kulturdezernent Jüchter, dem das Schreiben gestern-zuging, trocken: „Ich nehme den Brief zur Kenntnis“. Man werde nicht versuchen, Fabritius zu halten.

Meinungsumschwung im Kulturausschuß „auf kaltem Wege“?

Während Jüchter betont, die Kritik an Fabritius sei quer durch alle Fraktionen (SPD, CDU, FDP, „Grüne“) gegangen, wittert man am Theater das Schlimmste. Fabritius zur WR: Der „erdrutschartige Meinungsumbruch“ im Kulturausschuß müsse „auf kaltem Wege“ zustande gekommen sein. Das Ensemble sei „maßlos überrascht und brüskiert“.

Bühnen-Pressesprecher Hanns-Peter Keßler vermutet gar einen „politischen Deal“, der erst in den letzten Tagen hinter den Kulissen stattgefunden haben könne und die bisherige Mehrheit im Kulturausschuß gekippt habe. Danach hätten nur noch die „Grünen“ hinter Fabritius gestanden.

In der Tat hatte es bis Mittwoch den Anschein gehabt, als sei alles „in trockenen Tüchern“. Die Bühnenkommission hatte dem Intendanten noch im Juli 1986 die Vertragsverlängerung nachdrücklich angetragen. Der hatte sich, um Verhandlungen über den Bühnenetat abzuwarten, Bedenkzeit erbeten. Als sich nun eine Etat-Steigerung abzeichnete, war Fabritius zur Annahme bereit und ging mit dieser Mitteilung am Mittwochmorgen auch an die Öffentlichkeit.

Allerdings: Schien er auch relativ sicher im Sattel zu sitzen, sowar Fabritius doch – wie auch Pressesprecher Keßler einräumen muß – ein durchaus umstrittener Intendant.

Fest steht, daß sich die Wuppertaler eilig auf Intendantesuche begeben. Kulturdezernent Jüchter: „Im Sommer ’87 wollen wir den ,Neuen‘ verpflichten.“ Fabritius schwant Böses: Hoffentlich, so der Noch-Intendant, werde man seinem Nachfolger keine Etat-Verschlankung oder eine Sparteneinschränkung aufnötigen.