Martin Schulz, der BVB und die „Geißböcke“ – ein Fan-Fake oder nur ein Ausrutscher?

So, da hätten wir den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz also ertappt. Wobei? Ihr werdet es gleich sehen.

SPD-Spitzenmann Martin Schulz, hier beim Bundesparteitag am 19. März 2017 in Berlin. (Foto: Olaf Kosinsky / konsinsky.eu / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

SPD-Spitzenmann Martin Schulz, hier beim Bundesparteitag am 19. März 2017 in Berlin. (Foto: Olaf Kosinsky / konsinsky.eu / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Ein widerspenstiger Freund, seines Zeichens Fan des 1. FC Köln, wollte mich gestern ein bisschen ärgern und hat deshalb bei Facebook hämisch auf ein Foto von Schulz hingewiesen, das den Politiker mit einem BVB-Schal um den Hals zeigt. Nicht nur subkutane, sondern laut verkündete Botschaft: Bei BVB-Anhängern klappt’s auch nicht mit Wahlerfolgen. Und wenn man dann noch die schwarzgelben Borussen-Farben mit einer möglichen schwarzgelben Koalition in NRW zusammendenkt…

Halt! Erstens ist das natürlich reiner Unsinn und bloßes Wunschdenken eines notorischen Geißbocks. Zweitens muss man nicht einmal näher hinsehen, um zu erkennen, dass Martin Schulz mit dem BVB-Schal alles andere als froh ist. Er schaut dermaßen miesepetrig drein, als stünde der Abstieg (wessen Abstieg auch immer) unmittelbar bevor. Aus urheberrechtlichen Gründen kann ich das Bild hier nicht einfach hinsetzen, aber schaut doch bitte mal auf diesen Link.

Damit nicht genug. Drittens kommt Schulz, der in jungen Jahren eine Karriere als Fußballprofi angestrebt hat, bekanntlich aus Würselen bei Aachen. Drum stünde zu vermuten, dass sein Herz eher an dortigen Vereinen hängt. An Alemannia Aachen beispielsweise. Oder halt am 1. FC Köln. Es wabert also der vage Verdacht eines Fan-Fakes im Raum, wenn Schulz sich auf BVB-Farben einlässt.

Und siehe da! Die Suchmaschine spuckt tatsächlich sofort aus, dass Martin Schulz immer schon den Kölnern die Daumen drückt. Dabei wird er in dem entsprechenden Beitrag des Deutschlandfunks mehrmals als Vereins-„authentisch“ bezeichnet, wohingegen Altkanzler Gerhard Schröder, der in derlei Clubfragen treulose Gesell‘, nach leutseliger Lust und Laune mal den oder jenen Schal umgelegt hat.

Warum also hat Schulz sich (offenbar widerwillig) mit BVB-Schal ablichten lassen, warum hat er sich den offensichtlichen Tort angetan? Um hier noch ein paar ruhrige, westfälische und sonstige Stimmen abzufischen? Sollten bei hartnäckiger Suche etwa auch noch Schulz-Bilder mit Fanklamotten von Werder Bremen, Hertha BSC, dem VfB Stuttgart oder gar von Schalke auftauchen? Der Wahrheit die Ehre: Dergleichen habe ich einstweilen nicht gefunden. War also der BVB nur ein „Ausrutscher“?

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Hier noch ein paar hübsche Fundstücke:

Martin Schulz mit Schal von Holstein Kiel
Martin Schulz mit Trikot des 1. FC Köln
Martin Schulz mit Trikot von Rhenania Würselen

Wer findet mehr?




Die NRW-Wahl: krachend, krachend, krachend

Krachend, lachend: Wahlsieger Armin Laschet (CDU), heute vom ARD-Bildschirm abgeknipst.

Krachend, lachend: Wahlsieger Armin Laschet (CDU), heute vom ARD-Bildschirm abgeknipst.

Armin Laschet (CDU) dürfte nach allem Ermessen neuer Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen werden, womöglich als Chef einer schwarzgelben Koalition. Das ist schon eine gewichtige Nachricht mit bundespolitischen Auswirkungen. Doch ich werde den Teufel tun und das heutige NRW-Wahlergebnis politisch kommentieren. Ich möchte lieber mein Wahlgeheimnis wahren. Was aber auffällt, sind ein paar Details der medialen Vermittlung. Nur mal so, als fixe Skizze:

Schon im Lauf des frühen Abends hat man sich offenbar allseits darauf geeinigt, von einer „krachenden“ Niederlage für die rot-grüne Koalition zu sprechen. Kaum jemand verwendete die ausgelutschte Vokabel vom „Erdrutsch“, freilich war einmal von einem „Erdbeben“ die Rede. Aber man hätte auch schlichtweg von einer schlimmen oder bestürzenden Niederlage reden oder etliche weitere Bezeichnungen anbringen können.

Warum also immer wieder „krachend“? Wie trägt sich so etwas zu? Hat man sich das schon vorher für den Fall der Fälle zurechtgelegt? Oder gibt einer spontan das Stichwort vor – und schon ist es als Parole in der flimmernden Welt?

Gewisse Worte werden dann die ganze Zeit über verwendet, als seien sie fest eingerastet. Manche Sprachregelungen schleifen sich an einem solchen Abend wie von selbst ein. Das ist zum nicht geringen Teil parteitaktischen Erwägungen geschuldet. Das daraus entspringende, nur allzu vertraute Ritual der Journalistenfragen und Politikerantworten ist arg redundant und auf längere Distanz nicht leicht zu ertragen. Ich habe irgendwann nicht mehr mitgezählt, wie oft Armin Laschet gesagt hat, man habe „Kurs gehalten“ und sei dafür belohnt worden.

Anfänglich und zwischenzeitlich herrschte schon mal hektisches, wildes Geschalte. Kaum hatte ein Politiker zwei bis drei Sätze geäußert, so wurde das Wort schon wieder anderweitig vergeben – je nach Hierarchie. Da muss mancher Politiker ganz handfest erfahren, dass er (oder sie) denn doch nicht so wichtig ist wie der Kollege XYZ, jedenfalls nicht in diesem Moment. Und das vor einem Millionenpublikum. Da musst du ganz stark sein.

Die Wichtigsten von allen aber sind zweifellos Fernsehleute wie die ARD-Männer Frank Plasberg und Jörg Schönenborn. Geradezu rührend war übrigens Plasbergs Sorge um das Befinden von Christian Lindner (FDP), der auf den Wahlplakaten nicht so gesund ausgesehen habe wie nun im TV-Studio. Gewiss hat Lindner die Stimmengewinne wegen seines hippen Dreitagebarts verzeichnet, oder? Lassen wir das. Es ist albern.

Man kann schon ahnen, welche Schlagworte und Momente morgen in den Zeitungen hervorgehoben werden. Beispielsweise das Diktum des sichtlich schockierten Martin Schulz, er sei „kein Zauberer“. Hannelore Krafts ausgesprochen rascher Rücktritt von ihren Parteiämtern in Bund und Land, mit dem sie Schulz auch – so gut es eben ging – ein wenig aus der „Schusslinie“ zu nehmen suchte. Die Frage, wie sehr landespolitische Themen (Bildungspolitik usw.) wahlentscheidend gewesen sein mögen. Der Druck, der nunmehr auf Schulz lastet, Leerformeln wie „Gerechtigkeit“ mit konkreten Inhalten zu füllen. Was aber bleibet, stiftet der Prantl (mutmaßlich morgen in der „Süddeutschen“).

Aber Schluss jetzt. Sonst kommentiere ich doch noch. Statt dessen schnell die Zauber(!)formel der Ausflüchte in derlei Fällen benutzt, die Parteimenschen jeder Couleur seit jeher im Repertoire haben: „Wir werden das alles ab morgen in Ruhe analysieren.“

 

 

 




171 Schriftsteller kommen jetzt nach Dortmund – zur Jahrestagung des deutschen PEN-Zentrums

Das deutsche PEN-Zentrum ist mit seinen insgesamt rund 800 Mitgliedern hierzulande wohl die bedeutendste Schriftstellervereinigung. Jetzt halten die PEN-Autoren ihre Jahrestagung in Dortmund ab. Das klingt immer noch nicht selbstverständlich, denn Dortmund gehört kaum zu den Städten, bei deren Nennung man gleich an belletristische Literatur denkt. Nun ja. Darauf kommen wir noch zurück.

Im Dortmunder Rathaus: Der scheidende PEN-Präsident Josef Haslinger (links), Dortmunds OB Ullrich Sierau (rechts) und der Autor Heinrich Peuckmann (Mi.), der die Tagung nach Dortmund geholt hat. (Foto: Bernd Berke)

Im Dortmunder Rathaus: Der scheidende PEN-Präsident Josef Haslinger (links), Dortmunds OB Ullrich Sierau (rechts) und der Autor Heinrich Peuckmann (Mi.), der die Tagung nach Dortmund geholt hat. (Foto: Bernd Berke)

Nun haben sich jedenfalls gleich 171 Autorinnen und Autoren zum Verbandstreffen im Dortmunder „U“ angemeldet. Wollte man das auf die Dortmunder Einwohnerzahl (rund 600.000) umrechnen, so käme zwischen dem 27. und 30. April auf 3508 Einwohner je ein Schriftsteller. Immerhin.

Das ist doch mal ein temporär kultursinniges Zahlenverhältnis, wie es gewohnheitsmäßig vielleicht gerade mal in Dublin anliegt. Berlin? Noch nie gehört.

Weltweiter Einsatz für verfolgte Autoren

Jetzt aber im Ernst, ja im bitteren Ernst: Der PEN (Abkürzung für „Poets – Essayists – Novelists“ / etwa: Poeten, Essayisten, Prosaautoren) kümmert sich weltweit mit Nachdruck um das freie Wort; vor allem, indem er verfolgten Autoren zu helfen sucht – oft unter schwierigsten politischen Bedingungen. Beispielhaft ist die deutsche Umsetzung des Programms „Writers in Exile“. Finanziell unterstützt von der Bundesregierung, finden bis zu acht Autoren mittel- und langfristig Zuflucht in Deutschland – vor Drangsalierung und oft tödlichen Bedrohungen durch Diktaturen oder radikale Gruppierungen.

Im Vorfeld des Treffens zeigte sich Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau heute von der Gastgeberrolle angetan: „Wir betrachten das als Auszeichnung!“ Ein solches Schriftstellertreffen könne wichtige Impulse setzen und Debatten anstoßen.

Überraschung: OB setzt sich für ein Stadtschreiber-Amt ein

Sierau hat sich nicht nur recht eigenwillige Gedanken über die Bedeutung der Abkürzung „PEN“ gemacht (ihm zufolge: „pluralistisch – empathisch – nachhaltig“), sondern überraschte vor allem mit einer Ankündigung: Er lese immer wieder von „Stadtschreibern“ in anderen Kommunen. Sierau redete sich (mit Bedacht) geradezu in Spendierlaune: Nach einer solchen Tagung könne doch auch Dortmund ein Stadtschreiber-Amt einrichten, sprich: eine Autorin oder einen Autor für ein Jahr hierher bitten und mit einem Stipendium ausstatten. Er meine das ernst, wenngleich die Angelegenheit „unter Gremien-Vorbehalt“ (Kulturausschuss) stehe, betonte Sierau.

Der scheidende PEN-Präsident Josef Haslinger (bekannter Roman: „Opernball“) vernahm es mit Freuden. „Das haben Sie nicht einfach so dahingesagt“, nahm er Sierau charmant, aber bestimmt beim Wort. Der bekräftigte das Vorhaben noch einmal. Hört, hört!

Verbandspräsident Josef Haslinger nimmt Abschied

Haslinger wird Sieraus Ankündigung also gewiss noch dem Kollegenkreis schmackhaft machen, doch ansonsten gibt er sein seit rund vier Jahren ausgeübtes Präsidentenamt beim PEN auf. Zuletzt hat er mit dafür gesorgt, dass etliche jüngere Autoren sich dem deutschen PEN-Zentrum angeschlossen haben. Schließlich will man kein Seniorenverein werden.

Hauptsächlicher Grund für Haslingers Amtsverzicht: Der Österreicher möchte sich wieder mehr aufs Bücherschreiben konzentrieren, als Autor habe er sich zuletzt sozusagen wie „im Winterschlaf“ gefühlt. In Dortmund wird also ein(e) Nachfolger(in) an die Spitze gewählt, auch andere Ämter werden neu besetzt, was der Zusammenkunft zusätzliche Bedeutung verleiht.

Sorgen um Meinungsfreiheit in der Türkei

Akut sind derzeit die Sorgen, die man sich im PEN um die Meinungsfreiheit in der Türkei macht. Vielleicht ist von der Tagung eine entsprechende Resolution zu erwarten. Außerdem bildet sich derzeit ein einschlägiges Netzwerk, zu dem auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ gehören. Gerade in Dortmund und im Ruhrgebiet, so Haslinger, hätten sehr viele türkische Bürger für Erdogans autokratisches Referendum gestimmt. „Wir müssen uns fragen: Was ist da falsch gelaufen?“

Überhaupt sieht Haslinger Meinungsfreiheit und Demokratie in einigen Ländern als gefährdet an. Auch in weiten Teilen Europas gebe es Kräfte, „die uns die Empathie austreiben“ und Opponenten „zum Schweigen bringen“ wollten, befand Haslinger. Sogar einzelne PEN-Verbände, wie etwa in Ungarn, seien von solcher unguten Denkweise angekränkelt.

Gemeinsamer Gang durch die Nordstadt

Zurück zum Tagungsort Dortmund. Es war der Autor Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), Präsidiumsmitglied des deutschen PEN (und übrigens gelegentlich auch Gastautor der „Revierpassagen“), der es unermüdlich einfädelte, dass die Tagung in „seine“ Region kam. Womöglich wäre gerade hier eine Debatte über soziale Verantwortung der Literatur angebracht, für die sich Peuckmann stets einsetzt.

Peuckmann hat sich auch dafür stark gemacht, dass viele Autoren einen gemeinsamen Gang durch die zuweilen verrufene Dortmunder Nordstadt unternehmen werden (vom zentralen Tagungsort, dem Dortmunder „U“, zum Kulturzentrum „Depot“). Gut möglich, dass in diesem Umfeld manche Themen-Anregungen zu finden sind.

Was ebenfalls nicht im offiziellen Programm steht: Direkt nach Ende der Tagung will Peuckmann am nächsten Sonntag eine möglichst zahlreiche Kollegenschar noch zum Besuch des Deutschen Fußballmuseums animieren. Thema der dort gerade laufenden Sonderausstellung ist übrigens – wie passend – die Bibliothek des legendären Bundestrainers Sepp Herberger. Schon am Samstag führt eine Bustour die Schriftsteller zum Phoenixsee, zum imposanten Industriemuseum Zeche Zollern und zum Fritz-Hüser-Institut. So viel Sightseeing muss sein.

Die Autoren freuen sich zudem auf einen „Clubabend“ in geschlossener Gesellschaft, wollen jedoch natürlich nicht durchweg unter sich bleiben. Mit Lesungen und Diskussionen geht die Tagung auch an die Öffentlichkeit. Nähere Infos dazu gibt es hier.

Dortmund als literarischer Ort?

Und wie war das jetzt mit Dortmund als literarischem Ort? Tja. Einzelne Schriftsteller von gewissem Gewicht (z. B. Max von der Grün, Josef Reding, Wolfgang Körner, Ralf Thenior, zeitweise Jörg Albrecht) haben hier gelebt und gewirkt oder tun dies noch.

Dass weitere Krise gezogen wurden, ist indes schon länger her: Bundesweite Bedeutung auf literarischem Felde erlangte die Revierstadt im Gefolge des 31. März 1961. Damals wurde hier die „Gruppe 61“ um den Lokalmatador Max von der Grün gegründet, der sich u. a. auch Günter Wallraff anschloss. Man setzte sich vor allem mit der am Ort und in der Region übermächtigen industriellen Arbeitswelt auseinander. Später ging der nicht minder einflussreiche „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ daraus hervor. Es war halt keine Gegend für Liebesromane oder für hypersensible Ich-Beschau.

Das zwischen Politik und Poesie allzeit tragfähige Motto der Tagung stammt vom in Dortmund geborenen Dichter Peter Rühmkorf (1929-2008), der allerdings lieber in Hamburg leben wollte. Die Zeile lautet: „Bleib erschütterbar und widersteh.“

Apropos Rühmkorf. Immerhin hat er hier seinen ersten Schrei getan. Wie wär’s denn, wenn Dortmund nicht nur ein Stadtschreiber-Amt auslobte, sondern auch noch eine möglichst zentral gelegene Rühmkorf-Straße bekäme?

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P. S.: Zu den 800 PEN-Mitgliedern zählen u. a. auch bekannte Größen wie der 90jährige Martin Walser sowie – in alphabetischer Folge – F. C. Delius, Tankred Dorst, Peter Härtling, Rolf Hochhuth, Gerhard Köpf, Franz Xaver Kroetz, Martin Mosebach, Botho Strauß, Uwe Timm und Feridun Zaimoglu, um nur einige wenige zu nennen.

Die bisher Erwähnten kommen nicht nach Dortmund, wohl aber z. B. Arnfrid Astel, Jenny Erpenbeck, Tanja Kinkel, Judith Kuckart oder Ilja Trojanow – sie alle ebenfalls stellvertretend genannt. Eins dürfte feststehen: Dermaßen viel literarische Potenz ist bislang wohl noch nie zu einem Zeitpunkt in Dortmund versammelt gewesen.




Dreifacher Besuch mit roten Rosen

Es klingelt.
Ich mach auf. (Nein, das ist nicht selbstverständlich.)

Besuch mit roten Rosen

Besuch mit roten Rosen (Zeichnung: Thomas Scherl)

Vor der Tür drei Typen, zwei davon im schwarzen Anzug, der dritte, n Dicker, mit schwarzer Hose, dunkelblauer Windjacke und getönter Sonnenbrille, jeder mit nem Strauß roter Rosen.

Sie haben sich versetzt – nach hinten in den Gang gestaffelt – aufgestellt, als letztes der Dicke, in zwei Meter Abstand, links und rechts neben ihm noch 30 Zentimeter Platz, er hat die Arme vor der Brust verschränkt, aus seiner Faust ragen die Rosen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich »WTF?« gedacht oder gesagt hab und spiele im Bruchteil einer Sekunde die Möglichkeiten durch: Polizei? Mafia? Die apokalyptischen Reiter (einer bindet unten grad noch seinen Gaul fest)? Jehovas? Ist der Tod doch nicht nur einer, sondern holt mich in Dreigestalt – einer für Körperseelegeist und zweie für die Kunst in mir? Finanzamt? GEZ? KSK? Rumänen-Inkasso? Fahrkartenkontrolle?
(Kurz denke ich noch »Deutscher Galeristenverband« und »Lottogewinn«, was ich aber beides sofort wieder verwerfe.)

Der eine, der ganz vorne steht, dicht an der Wand, so daß er halb vom Türrahmen verdeckt ist, beugt sich ein bißchen vor, grinst und ich denk: Na? Was kommt jetzt?

»Guten Tag, wir sind von der SPD…«
Und er will auch gleich zum wohl memorierten Vortrag ausholen.
Ich bin so perplex, daß ich sag »Nee, danke, ich wähl die Kommunisten.« Und Klapp, Tür zu.

Vielleicht sollt ich mich bei der Entenhausener SPD als Berater fürs Direktmarketing bewerben.




PEN-Vorsitzender Josef Haslinger in Dortmund: Lesung und mahnende Worte zu den Menschenrechten

Josef Haslinger (re.) und sein Schriftsteller-Kollege Heinrich Peuckmann. (Bild: TK)

Josef Haslinger (rechts) und sein Schriftsteller-Kollege Heinrich Peuckmann. (Bild: TK)

Josef Haslinger, prominenter Vorsitzender des PEN-Zentrums Deutschland, las jetzt in der Dortmunder Zeche Zollern (LWL-Industriemuseum) u. a. aus seinem Buch „Jáchymov“ (Fischer Taschenbuch Verlag), in dem er von der Tragödie der tschechoslowakischen Eishockeymannschaft zu Beginn der kommunistischen Herrschaft in dem osteuropäischen Land gegen Ende der 40er und in den 50er Jahren erzählt.

Das Buch ist jedoch keine Dokumentation, sondern es handelt sich um einen Roman, der auf Dokumenten, Fakten und Chroniken beruht. In den Auszügen, die Haslinger vortrug, kam die gesamte Dramatik der damaligen Ereignisse zum Ausdruck.

Protest kann die Lage verschärfen

Im anschließenden Gespräch mit dem Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen) ging der Österreicher Haslinger auf das Engagement des PEN-Zentrums für verfolgte und bedrohte Schriftsteller ein. Mit Beispielen aus Mexiko, Kolumbien und Kamerun verdeutliche Haslinger die gesellschaftspolitische Verantwortung der Schriftstellerorganisation. Zudem sprach er auch über die Situation von Deniz Yücel, Türkei-Korrespondenten der Zeitung „Die Welt“, der sich im Gewahrsam der türkischen Polizei befindet. Die momentane Lage sei sehr komplex, erläuterte der Schriftsteller. Man stehe vor der Frage, ob es gut und richtig ist, weiter zu protestieren oder ob sich dadurch die Situation für den in Deutschland geborenen Journalisten noch weiter verschärfe.

Orbán-Berater führt Ungarns PEN

Das PEN-Zentrum sei nicht parteipolitisch gebunden, unterstrich Haslinger, gleichwohl ergreife die Organisation beispielsweise Partei, wenn es um Menschenrechte geht. Unter anderem kritisierte Haslinger, dass Menschen, die Zuflucht in Deutschland suchen, wieder in ihr Heimatland zurückgeführt werden, das als „sicher“ erklärt wird, es aber in Wirklichkeit nicht ist.

Dass in einzelnen Ländern PEN-Organisationen durchaus vom Staat unterwandert werden können, zeigte Haslinger am Beispiel von Ungarn auf. Inzwischen sei ein Berater des Ministerpräsidenten Viktor Orbán dort der Vorsitzende.

Neuer Erzählband „Schichtwechsel“

Zum Abschluss las Josef Haslinger einen Auszug aus seinem Beitrag zum neuen Erzählband „Schichtwechsel“, den Heinrich Peuckmann und Gerd Puls herausgegeben haben. Insgesamt haben an dem Band, der Geschichten aus und über das Arbeitsleben beinhaltet, elf Autoren mitgewirkt. Erschienen ist das Buch im Oberhausener assoverlag.

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Vom 27. bis 30. April hat das PEN-Zentrum Deutschland seine Jahrestagung in Dortmund. Dazu werden rund 200 Schriftsteller erwartet. Das Motto der Tagung stammt vom gebürtigen Dortmunder Autor Peter Rühmkorf und lautet: „Bleib erschütterbar und widersteh“.




Silvester-Predigt handelte vor 70 Jahren auch vom Kohlenklau: Wie im Winter 1946/47 das Wort „fringsen“ entstand

Joseph Kardinal Frings. Foto: Historisches Archiv des Erzbistums Köln AEK, Bildsammlung

Joseph Kardinal Frings. Foto: Historisches Archiv des Erzbistums Köln AEK, Bildsammlung

Winter 1946/47: Die deutschen Städte sind zerstört, die Menschen hausen in Baracken und Ruinen. Ein stabiles russisches Hoch sorgt für eisige Kälte, Tiefdruckgebiete bringen meterhohen Schnee. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Brennmaterial ist schlecht, bricht vor allem in den großen Städten des Ruhrgebiets und des Rheinlands zeitweise zusammen. In dieser Situation spricht der Kölner Kardinal Joseph Frings ein wegweisendes Wort. Es sollte in die Geschichte eingehen. Das „Fringsen“ wurde in der Nachkriegs-Not zum geflügelten Begriff.

Auch Köln lag in Schutt: Vier Fünftel der Gewerbebauten, so eine zeitgenössische Statistik, waren total verwüstet oder stark zerstört. So predigte der Kölner Erzbischof an Silvester 1946 in der modernen, 1930 von dem bekannten Architekten Dominikus Böhm entworfenen Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl. Sein Thema: die zehn Gebote. Da ging es auch um „Du sollst nicht stehlen“. Frings, ein sozialpolitisch fortschrittlicher Kopf, kannte die Not der Zeit, die katholische Moraltheologie und die Soziallehre der Kirche. Sein Predigtmanuskript, erhalten im Archiv des Erzbistums Köln, zeigt, wie er um die richtige Formulierung rang. Was er dann sagte, machte ihn populär:

„Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder Bitten, nicht erlangen kann“.

"Klüttenklau" in der Nachkriegszeit in der Britischen Zone. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R70463 / CC-BY-SA 3.0

„Klüttenklau“ in der Nachkriegszeit in der Britischen Zone. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R70463 / Link zur Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Für die Menschen, die damals um ihr Überleben kämpften, war dieser Satz eine moralische Entlastung. Vor allem in den schwer zerstörten Städten hatten sie oft keine andere Wahl, als sich die Kohle zum Heizen zu stehlen.

Der „Klüttenklau“ war verbreitet: Um Klütten (Briketts) zu besorgen, sprangen Jugendliche oder Männer auf haltende Kohlenzüge, füllten Säcke mit Brennstoff und warfen sie an vorher vereinbarten Punkten ab. Andere bestiegen Lastwagen und warfen Kohlen ab. Ein gefährliches Treiben; Verletzungen oder sogar Todesfälle konnten die Folge sein. Berichtet wird von Kindern, die nicht mehr aus den Güterwagen klettern konnten und während der eisigen nächtlichen Fahrt erfroren.

Keine Rechtfertigung für Diebstahl

Sehr schnell bürgerte sich im Volksmund für diese Art von Mundraub der Begriff „fringsen“ ein. Das Wort schaffte es bis hinein ins „Lexikon der Umgangssprache“. Dem Erzbischof ging es freilich nicht darum, Diebstahl zu rechtfertigen, im Gegenteil. Die mahnenden Worte nach dem berühmten Satz wurden überhört oder verdrängt. Denn Frings legte seinen Zuhörern auch ans Herz:

„Aber ich glaube, dass in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist. Und da gibt es nur einen Weg: unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott.“

Kardinal Frings hat damit eine präzise Auslegung der katholischen Lehre gegeben: Er war sich bewusst, dass Eigentum sozialpflichtig sei. Was der Mensch braucht, um sein Leben und seine Gesundheit zu erhalten, darf er sich unter Umständen größter Not auch nehmen. Aber der Erzbischof wandte sich zugleich scharf dagegen, die Notlage auszunutzen. Zu plündern, um sich zu bereichern, war schon in den zerbombten Städten während des Krieges, aber auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit, nicht selten. Dazu zählte auch der Kohlenklau über den eigenen Bedarf hinaus. Ein Verhalten, das Frings in seiner Predigt verurteilte.

Der „Weiße Tod“ forderte hunderttausende Opfer

Eine Seite des Manuskripts der Predigt. Foto: Archiv des Erzbistums Köln.

Eine Seite des Manuskripts der Predigt. Foto: Archiv des Erzbistums Köln.

Dass der Erzbischof die Lage richtig eingeschätzt hatte, erweist der Rückblick auf diesen Winter 46/47. Er ist als der kälteste Winter des 20. Jahrhunderts im Nordseeraum in die Wetterkunde eingegangen. Die Temperatur-Mittelwerte lagen im Januar 1947 bei minus 4,7 Grad, im Februar bei minus 6,6 Grad. Heute schätzt man, dass allein in Deutschland Hunderttausende an den Folgen von Hunger und Kälte und an Krankheiten wie Lungenentzündung und Typhus gestorben sind.

Der „weiße Tod“ grassierte unter Menschen, denen im britischen Teil von „Trizonesien“ – so die geflügelte Bezeichnung für die drei Besatzungszonen der Westmächte – gerade einmal 900 Kilokalorien pro Tag zustanden. Zum Vergleich: Ein Erwachsener mit durchschnittlichem Gewicht braucht am Tag – je nach Tätigkeit – zwischen 2.000 und 3.500 Kilokalorien.

Frings machte sich damals zum Fürsprecher der Notleidenden und entlastete ihr Gewissen. Bei der britischen Besatzungsmacht kam das nicht gut an: Der Kardinal wurde vorgeladen, aber weil der alliierte Gouverneur, William Ashbury, unpünktlich war, fuhr Frings wieder ab. In seinen Memoiren erinnert sich Frings: „Es gab eine höchstnotpeinliche Untersuchung.“ Er habe den Text seiner Silvesterpredigt sogar bei den Briten einreichen müssen. „Alles war aufs höchste gespannt, und es schwebte wirklich Unheil über mir“.

Frings veröffentlichte am 14. Januar 1947 – nach Zeitungsberichten über seine Predigt – eine Erklärung über die „Grenzen der Selbsthilfe“. Die Alliierten erwogen sogar eine polizeiliche Vorführung, ließen Frings aber dann in Ruhe, wohl weil sie den Unmut der Bevölkerung fürchteten. Es ist also, wie der Kölner sagt, „noch immer jot jejange“.




„Wir müssen uns wehren“: Autoren weltweit vor Verfolgung schützen – eine Rede über die Schriftstellervereinigung PEN

Vom 27. bis zum 30. April 2017 wird die deutsche Sektion der internationalen Autorenvereinigung PEN ihre Jahrestagung in Dortmund abhalten. Gleichsam zur Vorbereitung und Einstimmung auf das Ereignis hat unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Bergkamen), an verschiedenen Orten die folgende Rede gehalten, in der er darlegt, was der PEN eigentlich ist und will. Peuckmann ist selbst Mitglied des PEN. Wir drucken seine Rede mit geringfügigen Kürzungen ab:

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Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Um die Frage zu beantworten, wer oder was der PEN ist, fange ich nicht mit allgemeinen Erklärungen an, sondern wähle einen anderen, anschaulichen Einstieg. Wie wird eigentlich umgegangen mit dem freien Wort in unserer Welt, frage ich mich und damit auch Sie.

Derzeit sind etwa 800 Dichter, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt mit Verfolgung, Gefängnisstrafe oder Tod bedroht. Und wer jetzt gleich an China denkt und dort den Haupttäter vermutet, denkt zwar an einen Großtäter, das stimmt, aber die Liste wird nicht von China angeführt, sondern von der Türkei.

Selbst in absoluten Zahlen liegt das Land des Herrn Erdogan an der Spitze der Schreckensliste und es gibt doch deutlich weniger Türken als beispielsweise Chinesen auf der Welt. Womit ich für China, ein Land, das ich durch mehrere Lehraufträge an dortigen Unis gut kenne, keine Unschuldserklärung abgeben möchte. Natürlich nicht. Auch Krisenländer in Afrika, Mittelamerika und Asien sind auf dieser Schreckensliste vertreten.

2013 wurden 15 Schriftsteller ihrer Texte wegen getötet, 19 weitere wurden umgebracht, vermutlich ebenfalls, weil sie unbequeme Meinungen vertraten, aber in ihren Fällen lässt sich das Tötungsmotiv nicht eindeutig nachweisen.

Beispiele aus Syrien, Katar, Mexiko und Bangladesch

Wie sieht denn nun Verfolgung von Autoren konkret aus?

Da ist zum Beispiel der syrische Romanautor Fouad Yazij, ein Gegner des Assad-Regimes und ein Christ, der auf diese Weise zwischen alle Fronten geriet. Hier Assads Soldaten, dort der fanatisch islamistische IS. 2014 musste dieses literarische Aushängeschild seines Landes überstürzt aus Syrien fliehen und gelangte nach Kairo, wo er zuerst einmal in einer Garage Unterschlupf fand.

Durch Vermittlung des Goethe-Instituts bekam Fouad Yazij schließlich eine bescheidene Wohnung. Aber er war noch immer völlig mittellos, noch dazu hatte er seine alte Mutter völlig verarmt in Homs zurücklassen müssen. Wenn er Spenden bekam, vom PEN vermittelt oder von der Gießener Gruppe „Gefangenes Wort“, schickte er einen Teil davon an seine Mutter. Über Monate hinweg wurde Fouad mehr schlecht als recht durch Hilfe von außen über Wasser gehalten, zwischendurch war er derart verzweifelt, dass seine Helfer Angst hatten, er könne sich das Leben nehmen.

Schließlich gelang es dem PEN, Fouad in sein „Writers-in-Exile-Programm“ aufzunehmen. Acht Wohnungen hat der PEN in Deutschland in verschiedenen Städten für dieses Programm, dank der Hilfe des Kulturministeriums, zur Verfügung, um dort für ein oder zwei Jahre verfolgte Schriftsteller unterzubringen. Wenigstens für einen kurzen Zeitraum sollen diese Autoren wieder Ruhe haben, um angstfrei zu leben und vor allem um zu arbeiten, also schreiben zu können. Acht von achthundert. Im November 2015 wurde Fouad in dieses Programm aufgenommen, inzwischen ist er sicher in Deutschland angekommen.

Da ist Mohammed al-Adschami aus Katar, dem Land, das im Jahr 2022 eine Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten soll. Er hat ein Gedicht geschrieben, das der Emir als Aufruf zum Umsturz wertete. Zu lebenslanger Haft wurde er dafür verurteilt, seit 2012 saß Adschami für vier Jahre im Gefängnis, bis er nach vielen internationalen Protesten, hauptsächlich vom PEN, in diesem Jahr vom Emir begnadigt wurde. Mit den Zeilen „Sie importiert all ihre Sachen aus dem Westen/warum importiert sie nicht Gesetze und Freiheit“ endet sein Gedicht, das ihm diese Strafe einbrachte, denn jeder in Katar wusste, wer mit dem „Sie“ gemeint war. Die Zweitfrau des Emirs nämlich, die sich auf Auslandsfahrten mit ihrem Mann stets luxuriös einzukleiden weiß, die also die Waren des Westens schätzt, aber nicht seine moralischen Werte.

Gefängnis für eineinhalb Gedichtzeilen

Ein Aufruf zum Umsturz soll es also gewesen sein, den Emir auf diesen Widerspruch hinzuweisen und auf diese Anklage steht in Katar eigentlich die Todesstrafe. Lange drohte sie vermutlich, dann wurde Mohammed zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Und lebenslänglich ist in Katar wortwörtlich zu verstehen. Sein ganzes Leben lang sollte Mohammed für dieses eine Gedicht im Gefängnis schmoren, dann wurde er „begnadigt“, zu fünfzehn Jahren Haft. Das bedeutete bei einem Gedicht von 23 Versen ein Jahr Haft für eineinhalb Zeilen. Bis dann die endgültige Begnadigung kam. Gnade wofür? Dafür, dass jemand in einem Gedicht seine Meinung gesagt hat, die noch dazu schwer zu widerlegen ist?

Die mexikanische Journalistin Ana Lilia Pérez hat sich mit der Verstrickung von Mafia und Politik in ihrem Land beschäftigt und ein Buch darüber geschrieben: „Das schwarze Kartell“ heißt es. Unerschrocken hat sie darin aufgezeigt, wie die Korruption vor allem im staatlichen Ölkonzern funktioniert. Danach wurde sie von allen Seiten bedroht, von der Politik und von der Mafia, was in Mexiko mindestens teilweise ein und dasselbe ist.

„Plata o Plomo“ heißt es für die Journalisten in Mexiko, Silber oder Blei. Zu Deutsch: Entweder du lässt dich bestechen oder es fliegen die Kugeln. Ana Lilia ging zum Schluss nur noch mit schusssicherer Weste auf die Straße, mit dem Rücken stets zur Wand, um rechtzeitig sehen zu können, ob sie jemand in sein Blickfeld nahm, bis sie es nicht mehr aushielt und abhaute. Ein Jahr hat sie in Hamburg im „Writers-in-Exile“-Programm des PEN Unterkunft gefunden, eine Frau, deren Mut allen imponierte, die ihr begegneten. Dann entschied sie sich, zurückzukehren nach Mexiko. Was solle sie in Deutschland, sagte sie, sie werde in Mexiko gebraucht, dort sei ihr Engagement wichtig. Es war ein berührender Abschied bei der letzten Begegnung zwischen ihr und den deutschen Schriftstellern, denn niemand sprach aus, was doch alle dachten: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen.

„Sie sind gekommen, um dich zu holen“

Der Blogger Ahmed Nadir aus Bangladesch, den ich eine Zeitlang im Auftrage des PEN betreut habe, war dagegen froh, dass er in Deutschland bleiben durfte. Nadir ist Computerspezialist, er hatte eine kleine Firma in Bangladesch und war gerade auf der Cebit in Hannover, als ihn sein Vater anrief und dringend vor einer Rückkehr warnte. „Bleib, wo du bist, Junge, sie sind gekommen, um dich zu holen. Die einen wollen dich einsperren, die anderen umbringen.“

Bei der Suchaktion nach Nadir, um diesen Störenfried endlich zur Strecke zu bringen, haben die Fanatiker dem Vater ein Auge ausgeschlagen. Nadirs Schuld bestand darin, zu Demonstrationen für demokratische Rechte aufgerufen zu haben. Seit ich Nadir betreut habe, kenne ich das deutsche Asylverfahren aus eigener Anschauung. Ich kenne auch seitdem Asylbewerberheime und verschweige den Namen der abgelegenen Stadt, in der Nadir untergekommen ist und sich monatelang gelangweilt hat, denn sie hat sich bemüht, diese Stadt, sie konnte wohl nicht anders. Es war ein uraltes Bürogebäude mit nackten Betonwänden, Eisenbetten darin, immerhin auch mit einem Fernseher.

Die Idee, Nadir mit einem zweiten Asylbewerber aus Bangladesch auf ein Zimmer zu legen, liegt nahe, sie war aber völlig falsch. Nadir ist nämlich Atheist, der andere aber war ein frommer Moslem, der jeden Tag fünfmal in Richtung Mekka betete, und Nadir wusste, wenn der andere von seiner Einstellung erfährt, ist sein Leben in Gefahr, vor allem nachts, wenn er schläft und damit wehrlos ist. Der andere hat es natürlich doch gemerkt, er hat aber nicht Nadir angefallen, sondern das Mobiliar im Zimmer in seiner Panik und Hilflosigkeit kurz und klein geschlagen. Nach monatelangem Warten, nach mehrfachem Drängen des PEN und zweier Bundestagsabgeordneter kam es schließlich zur Verhandlung und Nadir wurde Asyl gewährt. Er hat seither im Rheinland Kontakte gefunden, aber all das ist nichts im Vergleich zum Verlust von Familie, Freunden und Heimat eben.

Inzwischen sind zwei andere Blogger, Freunde oder Bekannte von Nadir, in Bangladesh brutal mit Macheten ermordet worden, weil sie atheistisch dachten.

In diese Reihe passt das Schicksal des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, inzwischen Ehrenmitglied des deutschen PEN, der für seinen liberalen, antifundamentalistischen Blog zu tausend Stockschlägen verurteilt wurde, die in 20 Wochen, jeweils an einem Freitag, verabreicht werden sollen. Jeden Freitag fünfzig Schläge, eine Strafe, die mittelalterlich zu nennen ich mich scheue. Das Mittelalter hatte freiere Phasen. Der Aufschrei der Empörung in der Welt war groß, beeindruckte die dortige Regierung aber nicht. Nach Saudi-Arabien geht übrigens ein Großteil deutscher Rüstungsexporte, aber das ist dann wohl eine andere Sache, oder?

Diktatoren fürchten das freie Wort

Das freie Wort, wie wird es doch misshandelt in der Welt! Von allen Künstlern, so unsere Erfahrung, sind es zuerst die Schriftsteller, die verfolgt werden, weil ihr Arbeitsmaterial, das Wort nämlich, untrennbar mit Inhalten verbunden ist. Und Inhalte können, wenn sie die Realität schildern, störend sein, für manche Machthaber auch gefährlich.

Dazu fällt mir ein Bezug zur Bibel ein. Gott spricht im Schöpfungsbericht ein Wort nach dem anderen aus und eine ganze Welt entsteht. Auch durch Schriftsteller können, wenn wir Worte schreiben, Welten entstehen, Gedankenwelten nämlich, die aber nicht Gedanken bleiben müssen, sondern zu neuen Realitäten führen können. In Diktaturen sind das oft genug Gegenwelten, die die Unterdrücker um ihre Macht fürchten lassen und zur Verfolgung jener anstacheln, die doch nur von dem Gebrauch machen, was ihnen zusteht: von dem Menschenrecht auf freie Meinung. In Deutschland, das sei hinzufügt, wird das freie Wort nicht unterdrückt. Hier wird es abgehört.

Und frei macht das Wort auch nach der Bibel, zweiter Bezug zu unserem Glauben, denn die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel ist doch, wenn man es genau liest, keine Bestrafung, sondern sie befreit. Befreit von Hybris, von dem Wahnsinn, einen Turm hoch bis zum Himmel zu bauen. Durch Sprache wird der Mensch davon befreit und vielfältig soll sie auch sein, sagt die Bibel.

Wenn nun Schriftsteller so zahlreich verfolgt werden, ist es gut, dass sie eine Organisation haben, die ein Anwalt an ihrer Seite ist. Die ihnen direkt helfen kann, mindestens so, dass die Verfolgung öffentlich wird. Das ist schon einiges, denn wie alle Verbrecher scheuen auch Diktatoren das Licht der Öffentlichkeit. Hier liegt nun eine der wichtigen Aufgaben des PEN, ein Großteil unserer Arbeit beschäftigt sich damit.

Was bedeutet nun das Wort „PEN“? Es ist, wie leicht zu vermuten, eine Abkürzung aus dem Englischen und steht für Poet, Essayist und Novelist. Der Poet ist der Lyriker, der Essayist der Journalist oder Sachbuchautor, heute zunehmend auch der Blogger, der Novelist der Romanautor. Zusammen ergibt es das Wort PEN, das für Feder steht, obwohl wir alle nicht mehr mit der Gänsefeder schreiben wie unsere berühmten Vorgänger, sondern mit dem Computer.

140 PEN-Zentren in 101 Ländern

140 PEN-Zentren gibt es in 101 Ländern. Der deutsche PEN-Club, wie man das früher nannte, hat etwa 800 Mitglieder. Man kann in den PEN nicht eintreten, sondern man wird hineingewählt, was immer auch für den jeweiligen Autor eine Auszeichnung ist. Zwei Bürgen müssen bei der Jahrestagung einen schriftlichen Antrag einreichen, warum sie diesen oder jenen Autor (oder Autorin) als Mitglied vorschlagen, sie müssen diese Begründung vor den Tagungsteilnehmern vorlesen und dann kommt alles darauf an, ob dies Mehrheit der Teilnehmer überzeugt oder nicht.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Das ist ein wichtiger Unterschied zum Verband deutscher Schriftsteller (VS), der sich mehr um Tariffragen kümmert, um Musterverträge zwischen Verlag und Autor zum Beispiel. Beim Schriftstellerverband kann man selber beantragen, aufgenommen zu werden. In der Regel reicht es, wenn man ein Buch veröffentlicht hat. Die meisten PEN-Autoren sind, genau wie ich, auch Mitglied im Schriftstellerverband, beide Verbände arbeiten gut zusammen.

Es ist kein Zufall, dass der Name aus einer englischen Abkürzung besteht, denn gegründet wurde der PEN 1921 in England, und zwar auf typisch englische Weise, nämlich bei einem Dinner. Am 5. Oktober 1921 lud die Schriftstellerin Catherine Amy Dawson-Scott ihre Schriftstellerfreunde zu sich ein (darunter die späteren Literatur-Nobelpreisträger George Bernhard Shaw und John Galsworthy) und wollte den „To-Morrow-Club“ gründen, den Vorläufer des PEN.

Hintergrund war das schreckliche Erlebnis des Ersten Weltkriegs, Dawson-Scott wollte, dass sich solch ein Verein auch in anderen Ländern gründete, um auf diese Weise beizutragen zur Völkerverständigung, damit es nie wieder Krieg gibt. Warum sollten bei diesem großen Unternehmen nicht die Schriftsteller vorangehen, hat sie gedacht. Tatsächlich gab es beim ersten internationalen PEN-Kongress 1923 schon 11 PEN-Zentren in verschiedenen Ländern.

John Galsworthy als erster Präsident

Erster Präsident des nun internationalen PEN wurde John Galsworthy, auch ein Nobelpreisträger, der berühmt geworden ist für seine Romanreihe „Die Forsyte Saga“. Ich selbst habe in meiner Schulzeit die längere Erzählung „The man, who kept his form“ gelesen, frei übersetzt: Der Mann, der sich selbst treu blieb. Es ist die Geschichte eines Unangepassten, der seinen – freilich etwas konservativen – moralischen Grundsätzen folgt, selbst wenn er dafür Nachteile in Kauf nehmen muss. Sie hat mir gefallen, diese Geschichte und ist mir als ein Hinweis für das eigene Leben im Gedächtnis geblieben: Versuche auch du, deinen Grundsätzen treu zu bleiben! Insofern, denke ich, ist Galsworthy ein guter erster PEN-Präsident gewesen.

Trotz der schnellen Gründungen von Zentren in aller Welt ist der PEN am Anfang doch ein wenig dem Charakter eines Dinnertreffens oder einer Teestunde treu geblieben, denn nach dem Willen von Dawson-Scott sollte es keine politische Autorenvereinigung sein. Völkerverständigung, Freundschaften über die Grenzen hinaus, das ja, aber politisch sollte der PEN sich nicht äußern. Dies ist eine Einstellung zur Literatur, die einem immer wieder begegnet, bis heute. Wie kann man so etwas Schönes wie die Poesie mit der schnöden, hässlichen Politik vermengen? Ich höre das immer wieder, wenn ich einen zeitkritischen Roman veröffentlicht habe, denn ich bin in diesem Punkt ganz anderer Meinung.

Der PEN war in seiner Anfangszeit in diesem Punkt ja auch widersprüchlich. Was ist denn Völkerverständigung anderes als gelungene, geradezu wünschenswerte Politik? Auch ein Satz in der Charta, dem Grundgesetz des PEN, ist hochpolitisch: „Sie (die PEN-Mitglieder) verpflichten sich, für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals einer in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken.“

Das soll unpolitisch sein? Hochpolitisch ist das, geradezu brisant angesichts der Zustände in unserer Welt.

Als Ernst Toller 1933 das Wort ergriff

Spätestens ab 1933 ließ sich die feine, etwas vornehme Zurückhaltung in Sachen Politik für den PEN nicht mehr durchhalten. Da hatten in Deutschland die Nazis die Macht übernommen und hatten alle ihre Kritiker – Sozialdemokraten, Kommunisten, kritische Christen und nicht zuletzt unbequeme Schriftsteller – ins KZ geworfen, gefoltert, manche auch getötet oder ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen und sie so ins Exil gezwungen, u.a. den damaligen deutschen PEN-Präsidenten Alfred Kerr, der bekannteste Literaturkritiker seiner Zeit, der jüdischer Abstammung war.

1933 veranstalteten die Nazis einen Tiefpunkt an Kulturlosigkeit, die Bücherverbrennung. Auf dem Berliner Opernplatz ließen sie all jene Bücher verbrennen, die sie für undeutsch hielten. Es waren die Werke fast aller bekannten deutschen Autoren, so dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass das deutsche Geistesleben verbrannt werden sollte. Heute findet man an der Stelle, wo der Scheiterhaufen stand, ein ebenso einfaches wie überzeugendes Denkmal. Eine Glasplatte ist dort in den Boden eingelassen worden und wenn man hindurchschaut, sieht man unten einen völlig sterilen Raum mit weißen, leeren Bücherregalen.

Was bleibt also übrig, wenn die Kultur vernichtet ist? Leere bleibt übrig, Sterilität und geistige Ödnis. Es erfüllte sich in der Folgezeit, was der großartige Dichter Heinrich Heine knapp hundert Jahre vorher prognostiziert hatte: Wer Bücher verbrennt, der verbrennt auch Menschen. Weiß Gott, das haben sie getan, die Nazis. Millionenfach.

Die Bücher des sozialistischen Schriftstellers Oskar Maria Graf wurden nicht verbrannt, einige wurden von den Nazis sogar empfohlen. Graf floh aus diesem Nazi-Kerker und schrieb einen bewegenden Aufruf, in dem er sich über diese Behandlung durch die Nazis beklagte:

„Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbande gelangen.“ Was für eine großartige Haltung eines Schriftstellers!

Und der PEN? Den hatten sich Nazi-Schriftsteller unter den Nagel gerissen. Ja, das gab es leider auch, Schriftsteller, die ihr Wirken in den Dienst einer Verbrecherideologie gestellt haben. Klar, wenn die Großen vertrieben werden, können sich die Mickerlinge aus dem vierten oder fünften Glied ins Licht drängen. Ich habe die Namen mal nachgeschlagen, die nach Hitlers Machtergreifung das Präsidium des PEN bildeten, sie sind, bis auf Hanns Johst, der Romane und Theaterstücke schrieb, völlig unbekannt. Unbedeutend sowieso.

Bei der Tagung des internationalen PEN in Dubrovnik im Mai 1933 tauchte diese Delegation dann auf und wollte nicht, dass über Politik geredet wurde, natürlich nicht, weil sie ja Angst haben musste, dann wegen der Verfolgung und Folterung von Schriftstellern am Pranger zu stehen. Das aber verhinderte der damalige PEN-Präsident H.G Wells („Krieg der Welten“), der Ernst Toller das Wort erteilte, einem bekannten deutschen Schriftsteller, dem die Nazis die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt hatten und der nun im Exil lebte.

Toller klagte in einer flammenden Rede nicht das deutsche Volk an, sondern diejenigen, die es in eine Diktatur gezwungen hatten und die nun alle Andersdenkenden verfolgten, folterten und töteten. Und dann nannte er all die Namen der Schriftsteller und Maler, die die Nazis eingesperrt oder getötet hatten. Er bekam viel Applaus für diese mutige Rede, der Nazivorstand des PEN verließ empört die Tagung und isolierte sich damit selbst.

Nach 1945 spaltete sich der deutsche PEN

Fortan gab es kein PEN-Zentrum mehr in Deutschland, aber einen Exil-PEN mit Sitz in London, in dem die meisten Schriftsteller von Rang und Namen Mitglied waren, denn sie alle mussten ja aus Nazideutschland fliehen. Einer gehörte aber nicht dazu, der bekannte Autor Erich Kästner („Emil und die Detektive“, „Das doppelte Lottchen“), der das Kunststück fertig brachte, die Nazizeit in Deutschland zu verbringen, in innerer Emigration, ohne sich den Nazis anzudienen. Er hatte sogar der Bücherverbrennung in Berlin als Zuschauer beigewohnt und erleben müssen, wie auch seine Bücher verbrannt wurden. Eine Frau hat ihn dabei sogar entdeckt und erschreckt gerufen: „Aber da ist ja der Kästner!“ Zum Glück hat es keiner von den Nazis gehört. Kästner wurde nach dem Krieg einer der prägenden PEN-Präsidenten.

Den Exil-PEN, dies nebenbei, gibt es bis heute, obwohl eigentlich keine Veranlassung mehr dafür besteht. Wir arbeiten gut mit ihm zusammen, aber warum er nicht zu uns übertritt, weiß ich nicht.

Nach dem Krieg machte der PEN die deutsche Spaltung mit. Trotz anfänglicher Bemühungen, sich nicht zu trennen, entstand ein DDR-PEN, genannt PEN Ost, und ein West-PEN. Intensive Kontakte zwischen beiden Verbänden gab es nicht. Also war Deutschland auch im Literaturbetrieb gespalten. Und wer nun glaubt, dass sich nach der Wende die beiden Verbände schnell und vor allem erfreut zusammengefunden haben, der täuscht sich gewaltig.

Die Vereinigung der beiden Länder verlief durch den „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik, denn das war es ja, vergleichsweise schnell: Die Schriftsteller aber wollten erst mal, wie das ihre Eigenschaft ist, diskutieren. Wie habt ihr euch in der Zeit der Trennung verhalten, welches Erbe bringt ihr ein in unseren Verband und vor allem: Ich will nicht neben einem Stasispitzel bei den Jahrestagungen unseres PEN sitzen! Und Stasispitzel, meinten viele Westler, waren die anderen doch meistens.

Doch Vorsicht! Fritz Rudolf Fries zum Beispiel, ein guter DDR-Autor, war IM bei der Stasi, aber warum? Hauptsächlich, weil ihn die Stasi in der Hand hatte. Seine Tochter war nämlich krank. Medizin, die ihr half, gab es nur im Westen. Die Stasi besorgte ihm die Medizin und half damit seiner Tochter, aber dafür wollte sie eben Informationen haben… Fritz Rudolf Fries hat übrigens hauptsächlich Allgemeinplätze ausgeplaudert, nichts, das anderen hätte Schaden zufügen können. Trotzdem, er hat unter dieser Last, als alles rauskam, schwer gelitten und ist aus allen Autorenverbänden, auch aus dem PEN, in dessen Präsidium Ost er mal gewählt worden war, ausgetreten.

„Wessi“ oder „Ossi“ – heute ist es egal

Es gab Kämpfe, die den PEN fast zerrissen hätten und es dauerte Jahre, bis der PEN unter der behutsamen Führung des damaligen PEN-Präsidenten Christoph Hein, ein „DDR-Autor“, der heute Ehrenpräsident ist, doch zusammengeführt wurde.

Heute spielen die alten Kämpfe keine Rolle mehr und nach der letzten Wahl ins Präsidium, die in Magdeburg, also einer Stadt im Osten stattfand, haben wir im Nachhinein erschreckt festgestellt, dass gar kein „Ossi“ mehr im Präsidium ist, bis sich der Kassierer, mein Freund Matthias Biskupek meldete und sagte: Ich bin doch ein Ossi. Und der Ehrenpräsident Christoph Hein ist es auch.

Eigentlich ist es nicht schlecht, dass der Gedanke Ost – West bei der Wahl überhaupt keine Rolle gespielt hatte, denn das ist ein Zeichen von Normalisierung. Und wenn bei der nächsten Wahl fünf „Ossis“ gewählt werden und uns das auch erst lange nach der Wahl auffällt, ist das ein ebenso gutes Zeichen.

Die Vereinigung war also ein schwieriger Prozess und es ist gut, dass sie geklappt hat, denn nun folgt der PEN wieder mit Macht seinen Zielen aus der Charta und er ist dabei im kulturellen und gesellschaftlichen Leben, wie ich das liebe und wie sich das für Schriftsteller meiner Meinung nach gehört, ein Störfaktor. Denn jene, die gegen die wichtigsten Ziele des PEN, nämlich den Kampf gegen Völker- und Rassenhass, verstoßen, die also Hass verbreiten und damit Kriege rechtfertigen, und die das freie Wort unterdrücken wollen, sollen uns als ihre Gegner verstehen. Als ihre erbitterten Gegner!

Was macht nun der deutsche PEN?

Viermal im Jahr kommt das Präsidium in verschiedenen Städten zusammen und plant die Aktionen. Einmal im Jahr treffen wir uns zu einer großen Jahrestagung, dann können alle kommen, die PEN-Mitglieder sind. In der Regel sind das 150 Schriftsteller, was bei diesen ausgeprägten Einzelgängern schon eine stattliche Anzahl ist.

Zuflucht in acht deutschen Wohnungen

Acht Wohnungen, in Berlin, Darmstadt, München und Hamburg hat der deutsche PEN zur Verfügung, um dort verfolgte Schriftsteller unterzubringen, das ist einmalig innerhalb des internationalen PEN. Wir entscheiden darüber, wen wir für ein oder zwei Jahre aufnehmen und wer hier bei uns wieder unbedroht wohnen und schreiben darf. Natürlich bekommen diese Autoren auch monatlich Geld zum Überleben.

Das Geld für Stipendien und Wohnung bekommt der PEN vor allem vom Ministerium für Kultur, also von der Bundesregierung, dazu gibt es die Städte, die Wohnungen zur Verfügung stellen. Es löst nicht das Problem der Verfolgung von Schriftstellern, aber es lindert sie wenigstens für ein paar von ihnen. Trotzdem, einfach ist das Leben auch für diese acht Autoren nicht bei uns. Sie kommen doch nach jahrelanger Verfolgung oder Haft traumatisiert zu uns, einige sind krank. Sie alle müssen erst mal Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden, noch dazu in einem fremden Land. Wie mache ich das mit dem Arztbesuch, wo muss ich Anträge für dieses oder jenes stellen? Einige müssen fast wortwörtlich an die Hand genommen und ins Leben geführt werden.

Dauernd veröffentlichen wir, in welchen Ländern wieder welche Schriftsteller eingesperrt werden oder mit dem Tode bedroht sind. Manchmal hilft es etwas, manchmal erst einmal nicht, dann aber plötzlich doch nach ein paar Jahren. Nach quälenden Jahren in schrecklichen Gefängnissen.

Wir sind aber auch hier im Lande aktiv. Die schrecklichen Todesfälle im Mittelmeer haben den deutschen PEN zu einem Aufruf veranlasst, der eine menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen verlangt. „Schutz in Europa“ heißt der Aufruf, den über tausend Schriftsteller unterzeichnet haben, und den wir in Berlin dem Staatssekretär im Innenministerium übergeben haben, der sich dadurch angegriffen fühlte und nicht besonders freundlich benahm. Wir haben ihn auch in Brüssel an den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz überreicht, der sehr froh über diese Initiative war und den PEN-Präsidenten, im Moment ist das Josef Haslinger, erfreut empfing. Schulz ist ein Freund der Bücher und damit der Schriftsteller. Er war früher Buchhändler.

Wo immer es Ansätze von Zensur, aber auch Einschnitte in Kulturprogramme gibt, erhebt der PEN seine Stimme. Das Wort muss frei bleiben und es darf auch nicht durch finanzielle Einschränkungen beschnitten werden.

Gegen die Gratismentalität

Im Moment haben wir viel mit Abwehrkämpfen zu tun und kämpfen zum Beispiel gegen die Gratismentalität im Internet, die vor allem durch eine Partei propagiert wird, die für dieses Programm den richtigen Namen trägt und die nun, dazu muss man kein Wahrsager sein, wieder verschwinden wird. Piraten heißt sie und was Piraten tun, wissen wir ja alle. Vielleicht haben sie auch hier ein paar Sympathisanten, denen ich eines zu bedenken geben möchte. Das Internet ist nichts anderes als eine technische Möglichkeit, die erst einmal leer ist. Gefüllt wird sie durch die Geistesleistung von Menschen, durch Musiker, Schriftsteller, Journalisten, die von ihrer Arbeit leben müssen. Deren Produkte kostenlos anzubieten, heißt, sie zu enteignen.

Das sollte man mal mit materiellen Werten tun wollen. Zehn Jahre nach Tod des Firmenchefs geht seine Firma in Gemeineigentum über, das wäre eine vergleichbare Forderung. Den Aufschrei möchte ich mal hören. Aber mit Geistesarbeitern glaubt man, es machen zu können. Nein, alles was in Online-Zeitungen, in kopierten Internetbüchern, an Musik erscheint, muss bezahlt werden, sonst können viele Journalisten, Schriftsteller oder Musiker nicht mehr arbeiten und wir würden geistig ausdünnen.

Kürzlich wollte jemand E-Books, nachdem er sie gelesen hatte, in einem Internet-Antiquariat verkaufen. E-Books veralten aber nicht in ihrem Material, sie bleiben, was sie schon beim Kauf sind. Ein Gericht hat diesen Versuch untersagt. Andernfalls könnten meine Verlage gar keine Bücher mehr produzieren. Es reicht ja, wenn sie ein E-Book herstellen, das dann, was ja auch geschieht, zig mal kopiert wird und dann auch noch im Antiquariat verkauft wird. Wie soll ein Verlag davon leben? Das geht nicht, also würde es ihn nicht mehr geben, also würde er meine Bücher nicht mehr drucken und auch nicht die meiner Autorenkollegen. Also könnten wir nichts mehr veröffentlichen. Eine geistig-literarische Verarmung wäre die Folge.

Wir kämpfen gegen TTIP, das große Handelsabkommen zwischen Europa und Nordamerika, dessen Vertragstext so geheim ist, das ihn nicht mal Politiker lesen dürfen. Wer hat in dieser Welt eigentlich das Sagen? Die gewählten Politiker oder die Großkapitalisten?

Buchpreisbindung beibehalten

Schriftsteller sind vor allem dagegen, weil dann die Buchpreisbindung aufgehoben würde. Anbieter wie Amazon würden Bücher zu Billigpreisen verkaufen, kaum jemand ginge noch in die Buchhandlungen, von denen wir in Deutschland noch etwa 5000 haben, eine gut geordnete Szene also, die dann zu wenig zum Überleben verdienen und folglich verschwinden würde. Und mit ihnen unsere Bücher, vor allem jene, die nicht in den Bestsellerlisten stehen, die aber informierte Buchhändler trotzdem auf Vorrat halten und empfehlen.

Über 500 Schriftsteller haben einen Protestaufruf unterschrieben und sich darin verbeten, dass die NSA in Deutschland alles und jeden abhört. Der PEN war maßgeblich daran beteiligt. 500 Schriftsteller, darunter alle bekannten, Juli Zeh hat diesen Aufruf im Bundeskanzleramt übergeben. Geschehen ist daraufhin…nichts. Die Bundeskanzlerin hat den Schriftstellern nicht einmal geantwortet.

Natürlich organisiert der PEN auch literarische Veranstaltungen, denn wir sind ja dem Wort ganz allgemein verpflichtet, nicht nur dem verfolgten, sondern auch der Schönheit der Sprache. Sich mit Literatur zu beschäftigen, mit wichtigen, auch unbequemen Inhalten, mit schön gebauten Sätzen, mit anregenden Sprachbildern und Metaphern, das ist doch etwas gerade in einer Zeit des Überschwalls von Wörtern und Sätzen, oft ohne oder mit wenig Inhalt. Auch darauf möchte der PEN hinweisen.

Lesungen und Diskussionen

Lesungen mit unseren Stipendiaten finden in Literaturhäusern statt, große Diskussionsveranstaltungen zu wichtigen literarischen Themen werden durchgeführt, bei der letzten Jahrestagung zum Beispiel zu der Frage, ob der Blasphemieparagraph aus dem Gesetzbuch gestrichen werden soll. Jener Paragraph also, der angebliche oder wirkliche Gotteslästerung unter Strafe stellt. Es ist eine Diskussion in der Folge des schrecklichen Attentats auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Bei der nächsten Jahrestagung in Dortmund wird eine Lesung „Der Klang der Sprache“ heißen. Drei Autoren sollen lesen, es soll einfach um die Schönheit von Sprache gehen.

Einmal im Jahr verleiht der PEN den Hermann-Kesten-Preis an eine Person oder Organisation, die sich gegen Menschenrechtsverletzungen engagiert. Zur Hälfte gibt der PEN das Preisgeld, zur anderen Hälfte das Land Hessen. In diesem Jahr werden diesen Preis Can Dündar und Erdem Gül bekommen, zwei mutige türkische Journalisten, die aufgedeckt haben, dass die türkische Armee Waffen an den IS liefert, an den IS, der damit die kurdische PKK bekämpfen kann. Die Kurden sind für Erdogan wohl der schlimmere Feind als der IS. Natürlich wurden die beiden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt, Dündar konnte aber, bevor eine Revisionsverhandlung vor Gericht stattfand, ausreisen und befindet sich in Deutschland. Dafür hat die Türkei seiner Frau den Pass entzogen und die Ausreise verweigert. Sippenhaft, um ein Faustpfand gegen Dündar in der Hand zu haben!

Es sind also viele Initiativen, die der PEN rund um das geschriebene, das literarische Wort ergreift, denn ja, wir müssen uns wehren. Dauernd gilt es, Gefahren abzuwehren, denn was macht die Welt für die Herrschenden bequemer als das freie Wort mundtot zu machen?

Nachts um 1 Uhr im Ratskeller

Aber all dies macht immer noch nicht den PEN aus, denn es gibt noch ein kleines, schönes Nebenergebnis. Wir sind doch alle, ich sagte es schon, Einzelgänger, die ihre Zeit allein für sich im Zimmer vor dem Computer verbringen, um den neuen Roman, den nächsten Gedichtband fertig zu stellen. Aber wir haben auch gerne Kontakt zu Menschen, weil wir gerne lachen, gerne Anekdoten erzählen. Wir suchen den Meinungsaustausch, der auch ein paar Tipps und Ideen für Projekte mit sich bringt. Und dazu taugen unsere Jahrestreffs.

Die Sitzungen, die heftigen Diskussionen im Plenum, die Veranstaltungen an den Abenden, das alles ist nur der eine Teil. Der andere besteht darin, dass wir uns zu kleinen, oft zufälligen Gruppen zusammenfinden, dass wir ein Bier miteinander trinken, über Gott und die Welt reden, uns dabei kennenlernen und – das nächste Nebenprodukt – so manches Projekt aushecken. Ja, das haben wir auch nötig.

Bei der letzten Jahrestagung in Magdeburg, als wir uns in einer großen Runde im Ratskeller zusammengefunden hatten, fragte ich den Wirt: Warum machen Sie denn plötzlich überall das Licht aus? Er antwortete: Wir schließen immer um ein Uhr nachts.

Da haben wir alle auf die Uhr geschaut und tatsächlich, es war Viertel nach eins. Wir hatten uns wunderbar festgequatscht und jeder von uns hatte einen oder zwei Kollegen neu kennengelernt. Irgendwo, bei einer Gelegenheit, an die wir jetzt noch nicht denken, wird das eine Rolle spielen.

Auch deshalb bin ich gerne im PEN. Wir sind Störenfriede, wir sind unbequem, wir sind politisch, wir lieben schöne Literatur. Das ist gut so. Aber daneben lerne ich immer auch ein paar Schriftsteller kennen, deren Bücher ich mag und mit denen ich nach einer langen Nacht plötzlich befreundet bin. Das ist nicht nur einfach gut so, das ist bestens.




Wenn Bin Laden noch leben würde – Leon de Winters Roman „Geronimo“

Dieser Roman könnte Stoff für Verschwörungstheorien liefern: Demnach ist Osama bin Laden nicht am 2. Mai 2011 von Eliteeinheiten der CIA in seinem Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad umgebracht worden, sondern bei dieser Geheimdienstoperation ist ein Doppelgänger gestorben.

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In Leon de Winters Roman „Geronimo“ (Codename für die Ergreifung von Bin Laden) lebt der Chef der Terrororganisation Al Kaida weiter, allerdings an einem von Militärs streng abgeschirmten Ort. Die USA und ihre Verbündeten möchten doch noch mehr über den Mann selbst, islamistische Gruppierungen sowie ihre Hintermänner in Erfahrung bringen. Es geht auch um einen geheimnisvollen USB-Stick. Der wiederum soll Informationen enthalten, dass der (scheidende) Präsident Obama in Wirklichkeit Muslim ist und nicht dem Christentum angehört.

Mal abgesehen von der Frage, wie geschickt es sich anlässt, gerade die religiöse Identität Obamas, die Rechtspopulisten immer wieder gern als Zielscheibe nutzen, in den Handlungsverlauf einzubeziehen, wirkt diese Episode auch sehr aufgesetzt und fügt den ohnehin schon zahlreichen und teils auch verwirrenden Handlungssträngen noch einen weiteren hinzu. Zudem lässt Leon de Winter auch vollkommen offen (wenn er denn schon bin Laden überleben lässt), wie es denn dann mit dem einst meistgesuchten Mann der Welt weitergegangen ist.

Der Autor bevorzugt es stattdessen, eine Geschichte zu erzählen, die den Terroristenchef als Menschenfreund erscheinen lässt. Durch Zufall trifft Osama eines Nachts, als er sein Versteckt verlässt und im Schutz der Dunkelheit Eis für seine Geliebten besorgen will, ein Mädchen namens Adana. Ihr haben Taliban (!) Ohren und Hände abgehackt, weil sie westliche Musik gehört hat, genauer gesagt Glenn Goulds Goldberg-Variationen. Die Kompositionen hat die aus Afghanistan stammende Jugendliche kennen und lieben gelernt, nachdem sie der US-Soldat Tom Johnson bei sich aufgenommen hatte. Ihre Eltern waren bei einem Angriff der islamistischen Milizen getötet worden. In die Hände der Terroristen gerät sie, weil die Taliban den US-Stützpunkt von Tom überfallen und sie mitnehmen. Adana schafft es aber, sich zu befreien und gelangt – wie es der Zufall will – nach Abbottabad. Die erste Begegnung mit Osama ist sehr spannungsgeladen, fragt er sich doch, ob er das Mädchen, das ihn trotz Verkleidung zweifellos erkannt hat, töten soll um seiner Sicherheit willen. Aber sie kann seine Sympathie gewinnen und er versteckt sie schließlich in einer Garage, versorgt sie mit Lebensmitteln.

Nachdem nun Bin Laden den Amerikanern ins Netz gegangen ist, beginnt für die junge Afghanin ein neuer und nicht weniger komplizierter Lebensabschnitt, mit dem der Autor die komplexen politischen und religiösen Gegebenheiten im mittleren Asien in den Blickpunkt rückt und zugleich auch auf internationale Verflechtungen eingeht.

Eine christliche Familie würde zwar gern Adana aufnehmen, fürchtet sich aber vor den Reaktionen einer überwiegend muslimischen Gesellschaft. Toms Bemühen, Adana außer Landes zu bringen, ist mit unüberwindbar scheinenden bürokratischen Hürden verbunden. Als er schließlich erfährt, dass sie nochmal Opfer eines Attentates geworden sein könnte, geraten alle Versuche, sein eigenes Lebensschicksal aufzuarbeiten, ins Wanken. Tom hat in Folge des Attentats von Madrid 2004 seine Tochter verloren. Und ihn plagen gegenüber Adana große Schuldgefühle, da er sie nicht ausreichend vor den Taliban hat schützen können.

Leon de Winters Buch lebt von Dynamik und Dramatik. Manchmal scheinen auch die Grenzen von Realität und Fiktion zu verschwimmen. Der Leser steht vor der Herausforderung, die Orientierung nicht zu verlieren.

Leon de Winter: „Geronimo“. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich. 442 Seiten, 24 Euro.




Wie uns das Grusel-Etikett mit der Aufschrift „Donald T.“ auf die Buchseiten locken soll

Die blau unterlegte Ankündigung auf der Titelseite der heutigen „Zeit“ umfasst nur wenige Zeilen, doch hat sie mich irritiert, um nicht zu sagen: verärgert.

Ich zitiere wörtlich, was unter der spätherbstlichen Wer-jetzt-kein-Haus-hat-Überschrift „Bücher für stürmische Zeiten“ steht:

Ausriss aus der heutigen Titelseite der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit".

Ausriss aus der heutigen Titelseite der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“.

„Donald Trump sagt, schon der Geruch von Büchern mache ihn müde. Uns macht er Lust aufs Lesen…“

Was mich an diesen unschuldigen Sätzchen stört? Zum einen die gar wohlfeile Distanzierung von Donald T. Ach, wie sehr wir uns doch von ihm unterscheiden! Er ist dumpf, wir sind kultiviert. Ebenso gut könnte man sich öffentlich rühmen, kein gottverdammter „pussygrabber“ zu sein.

Außerdem behagt es mir nicht, dass die „Zeit“-Feuilletonisten (oder die Titelseiten-Gestalter?) offenbar meinen, selbst den Buchbesprechungen als Lockmittel noch dieses allgegenwärtige politische Label aus dem Gruselkabinett aufpappen zu müssen, womöglich noch mit dem Holzhammer-Hintergedanken „Wer das liest, setzt ein Zeichen gegen Trump…“

Man weiß ja, dass das mit der autonomen Literatur nicht so ohne Weiteres geht. Und doch wünscht man sich hin und wieder eine von derlei Tageskram entschlackte, (nur vermeintlich) zeitenthobene Kultur, die sich um Einzelheiten solch schrecklich konkreter Gestalten nicht immerzu schert und statt dessen die Tiefenschichten und allzeit gültigen Archetypen aufsucht. Auch und gerade im Literaturteil der „Zeit“ finden sich Bücher besprochen, die sich auf diesen steinigeren Weg begeben. Sie haben den trumpelnden Anreißer auf Seite 1 nun wirklich nicht nötig.

In diesem Sinne hat uns beispielsweise Shakespeare mal wieder ungleich mehr übers Machtgebaren von Trump, Putin, Erdogan und Konsorten zu sagen, als jedes mit Zeitgeist getränkte Analyse-Unterfangen.




Couragierter Einsatz für die Pressefreiheit: Kesten-Preis an türkische Journalisten

Gastautor Heinrich Peuckmann über die Verleihung des Hermann-Kesten-Preises in politisch brisanten Zeiten:

Als das Präsidium des deutschen PEN im Frühjahr dieses Jahres beschloss, den Hermann-Kesten-Preis an die türkischen Journalisten Can Dündar und Erdem Gül zu verleihen, war die Situation für die beiden schon kritisch. Als es nun zur Verleihung kam, hatte sie nach dem niedergeschlagenen Putsch dramatische Züge angenommen.

Can Dündar, ehemals Chefredakteur der unabhängigen Zeitung „Cumhuriyet“, hatte nach Gefängnisaufenthalt und ersten Verurteilungen wegen Beleidigung von Erdogan das Land verlassen müssen und lebt seitdem im Exil in Deutschland. Erdem Gül dagegen lebt noch in der Türkei, er darf aber nicht ausreisen. Bei einem der Prozesse im Sommer gegen Dündar gab es einen Attentatsversuch auf ihn, seine Frau fiel dem Pistolenschützen jedoch im letzten Moment in den Arm und rettete ihrem Mann das Leben.

Der türkische Journalist Can Dündar bei seiner Darmstädter Dankrede zum Hermann-Kesten-Preis. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Der türkische Journalist Can Dündar bei seiner Darmstädter Dankrede zum Hermann-Kesten-Preis. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Mit dem Kesten-Preis belohnt der PEN, der seine nächste Jahrestagung im Mai 2017 in Dortmund abhalten wird, den Einsatz für Meinungs- und Pressefreiheit in der Welt. Hermann Kesten, Schriftsteller und Namensgeber, hat während der Nazidiktatur vielen verfolgen Autoren zur Flucht ins rettende Ausland geholfen, in das er selbst als Deutscher jüdischen Glaubens fliehen musste.

Was hatten die beiden Journalisten getan, außer dass ihre Zeitung, was für die gegenwärtige Regierung schon schlimm genug ist, immer schon kritisch über Politik und Gesellschaft in der Türkei berichtet hat? Sie hatten Belege dafür vorgelegt, dass die türkische Armee den terroristischen IS mit Waffen beliefert hat, in der Hoffnung offensichtlich, dass der IS damit die kurdische PKK bekämpft.

Das Kammertheater in Darmstadt war bis auf den letzten Platz gefüllt, was PEN-Präsident Josef Haslinger, der den Preis überreichte, sichtlich freute. Die Aufmerksamkeit bei der Preisverleihung war enorm, die deutsche Presse war breit vertreten, auch in den Tagesthemen wurde berichtet.

Can Dündar erwies sich in seiner Rede als freundlicher, vor allem engagierter Vertreter der Pressefreiheit. Er erzählte, dass er sogar im Gefängnis weiter Artikel geschrieben hätte, die dann irgendwie an seine Freunde nach draußen gelangten. Auch in Deutschland ist Dündar unentwegt aktiv, um journalistisch auf die prekäre Situation in seinem Land aufmerksam zu machen. 144 Journalisten und Schriftsteller sitzen dort gegenwärtig im Gefängnis, erklärte der Writers-in-Prison-Beauftragte des PEN, Sascha Feuchert, später in einer Diskussionsrunde. Das sind mehr als in Russland, China und Iran zusammen. Länder, die sonst immer im Fokus stehen.

Dündar sieht die Türkei gespalten. Etwa 50% der Bevölkerung, meint er, vertreten den islamischen Weg von Erdogan, die andere Hälfte sei laizistisch im Sinne der alten Atatürk-Verfassung. Es komme nun darauf an, diesen zweiten Teil von außen zu unterstützen, Kontakte – etwa Städtepartnerschaften – zu erhalten, sie auszubauen und neue zu knüpfen. Bestehende Kontakte abzubrechen sei ganz in Erdogans Sinne. Im politischen Handeln sprach er davon, den Waffenhandel mit der Türkei einzuschränken oder zu beenden und auch sonst bestimmt und mit klarem Ton gegen Erdogan aufzutreten. Der wiederum hätte durch das Flüchtlingsabkommen die EU so sehr in der Hand, dass sie bis jetzt äußerst zahm auftrete. Bestimmtheit sei aber gefordert.

Ex-Tagesthemensprecher Thomas Roth stellte in seiner beeindruckenden Laudatio dar, dass mit der Verteidigung der Pressefreiheit in der Türkei unser aller Freiheit verteidigt werde. Dies zu tun seien wir uns schuldig.




Gebrauche Deine Zeit: Zum 80. Geburtstag von Wolf Biermann

Es ist ein seltsames Phänomen um Wolf Biermann, der ein glühender Liebhaber des Kommunismus war und doch mit ungehorsamen Liedern die DDR in Aufruhr versetzte.

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival "Lauter Lyrik" (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de - Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival „Lauter Lyrik“ (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de – Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wenn man von ihm spricht, diesem schnauzbärtigen Helden deutsch-deutscher Kultur, da erhebt sich schnell ein Missmut: „Den mag ich nicht. Der ist so selbstgerecht, so eitel!“ Ja, Leute, der Biermann ist nicht berühmt für seine Bescheidenheit. Er weiß um seine Bedeutung. Aber, mit Verlaub, das darf er auch. Denn er hat mit Poesie und Pathos am Rad der deutschen Geschichte gedreht.

Von seinem Leben, das am 15. November 1936 in einer Hamburger Arbeiterfamilie begann, erzählt er uns zum 80. Geburtstag selbst. 544 Seiten lang ist Biermanns Autobiografie mit dem Titel eines Liedes: „Warte nicht auf bessre Zeiten“. 200 Tagebücher und Stapel von Stasi-Akten wurden da verarbeitet – von einem, der nur in Liebesdingen locker lässt. Viel Zorn steckt darin. Aber auch viel Zärtlichkeit, nicht nur für seine Frauen und insgesamt zehn Kinder. Am Ende wird keine fiese Abrechnung aus dem Buch, sondern ein Stück süffiger Literatur mit geschichtlich-politischem Mehrwert. Der Meister der lyrisch-prägnanten Kurzform – „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit …“ – bleibt seiner Sprache auch auf der Langstrecke treu.

„Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war …“ Dagobert Biermann, Werftarbeiter jüdischer Herkunft, Kommunist und aktives Mitglied einer Widerstandsgruppe, wird 1937, kurz nach der Geburt seines Sohnes, zum zweiten Mal von den Nazis verhaftet. Er stirbt, nach qualvollen Jahren, im Februar 1943 in Auschwitz. Sein letzter Brief – „Warte nur, Wölflein, wenn ich wieder komme, dann bauen wir uns ein großes Schiff …“ prägt Biermanns Kinderseele bis ins hohe Alter. Im Juli 1943 überlebt der Kleine an der Hand seiner Mutter Emma die Zerstörung Hamburgs durch Fliegerbomben – den „Feuersturm“. Er sieht verbrannte und erstickte Menschen, registriert entsetzliche Details. Doch er weint nicht: „Der Schrecken war zu übermächtig.“

Vielleicht hat das große Trauma den erwachsenen Biermann unempfindlich gemacht gegen die kleinlichen Schikanen des SED-Regimes. Er ist in den Ostapparat hinein geraten, weil seine Mutter Emma Biermann, mutig-naive Witwe des Widerstandshelden Dagobert und überzeugt vom Segen des Kommunismus, ihr Bübchen zu den Jungen Pionieren und schließlich in die junge DDR schickt, den Hoffnungsstaat der westdeutschen Genossen.

Ab 1953 geht Wolf Biermann auf ein Mecklenburger Internat und fühlt sich am rechten linken Platz. Als Student und Regieassistent des Berliner Ensembles ist er Ende der 1950er-Jahre intellektuell ganz vorn dabei. 1961 begrüßt er sogar den Mauerbau als Reaktion auf die massenhafte Westflucht der Eliten. Und er bekennt heute: „Ich habe an diesem 13. August die verfluchte Mauer mitgebaut“.

Hinter der schützenden Grenze entwickelt sich der junge Biermann, gefördert vom Brecht-Komponisten Hanns Eisler, zum Liedermacher mit Gitarre. Er tritt auf als „Troubadour de Berlin“, beachtet auch von der Linken im Westen. Für den Osten ist sein Ton nicht unverfänglich genug. Er verärgert die „Alten Genossen“ mit Versen über seine Unzufriedenheit. Schon bald gibt es Auftrittsverbote wegen „Klassenverrat“ und Obszönität“.

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael - Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael – Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Mitte der 1960er-Jahre gehört Biermann zu den Geistern des Widerstands, ununterbrochen bespitzelt. „Die Stasi ist mein Eckermann“, so kommentiert Biermann bissig die eifrigen Mitschriften der Lauscher. Die westliche Studentenbewegung liebt ihn und seinen eingängigen Song von der „Ermutigung“ (1966): „Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit …“. Sie liebt auch sein wehmütiges Barlach-Lied: „Vom Himmel auf die Erden falln sich die Engel tot …“. Die Langspielplatte „Chausseestraße 131“, zu Hause aufgenommen mit einem von Mutter Biermann geschmuggelten Mikrofon, wird 1969 hüben verkauft und mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Sie bringt dem Regime und dem Barden erstaunliche Devisen.

Biermann hat sich recht kuschelig eingerichtet im Gesinnungsgefängnis DDR, wo er Beachtung findet an der Seite des Chemikers und Dissidenten Robert Havemann, dessen Tochter Brigitt zu seinen zahlreichen Amouren gehört. Er inszeniert sich poetisch als preußischen Ikarus, „mit grauen Flügeln aus Eisenguss“. Wegen seines westlichen Ruhms wagen die Behörden nicht, Biermann einzusperren, sie lassen ihn 1976 sogar auf Westtournee gehen (siehe Video am Schluss des Beitrags), und er wäre wohl artig zurückkommen, wenn man ihn nicht nach seinem triumphalen Konzert in Köln ausgebürgert hätte. Aus Protest verlassen etliche Kunstgenossen, darunter auch die Filmstars Manfred Krug und Eva-Maria Hagen, die DDR. Das System erzittert nachhaltig. 13 Jahre später wird die Mauer fallen.

Der Vertriebene selbst verliert in der Freiheit seinen Status. Die Fans reagieren gelangweilt auf klassenkämpferische Parolen und belehrende Konzerte. Sie sind genervt von den Streitigkeiten, die er vom Zaun bricht. Biermann zieht sich zurück nach Frankreich, in den „Bernstein der Balladen“ und in den Kreis seiner wachsenden Familie.

Der schönen Pamela, Mutter der letzten drei Kinder, ist er immerhin seit 1983 verbunden. Er ist weich geworden. Geehrt mit Preisen im Namen deutscher Dichter von Hölderlin bis Heine, kommt der alte Wolf Biermann zu ziemlich liberalen Einsichten. Er lobt die bürgerliche Demokratie als „das am wenigsten Unmenschliche, was wir Menschen als Gesellschaftsmodell bisher erfunden und ausprobiert haben“. Ist doch wahr. Drum: „Lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit!“

Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ Die Autobiografie. Propyläen Verlag. 544 Seiten. 28 Euro.

Wolf Biermann: „Im Bernstein der Balladen – Lieder und Gedichte“. Propyläen. 240 Seiten. 24 Euro.

„Warte nicht auf bessre Zeiten“ – Wolf Biermann 1976 beim legendären Auftritt in der Kölner Sporthalle:
https://www.youtube.com/watch?v=GSw5H4tY29A




Nix zu Trump

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Kaputte Theater, alte Säcke – eine betrübliche Wanderung durch die NRW-Theaterlandschaft

Um die nordrhein-westfälische Theaterlandschaft steht es nicht gut. In Köln und Dortmund werden die Gebäude saniert, und in beiden Städten dauert das länger als geplant. Doch wenigstens stellt hier noch keiner die Häuser als solche in Frage. In Düsseldorf hingegen, der Landeshauptstadt, ist nichts mehr sicher. Ebenfalls wird hier das Haus saniert, die Kosten der Sanierung laufen davon, und ein „kunstsinniger“ Oberbürgermeister stellt sich und seinen Genossen laut die Frage, ob das denn wirklich alles sein müsse.

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Auch nicht mehr die Allerjüngsten, doch ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler. (Foto: Bernd Berke)

Man könne das Filetgrundstück, auf dem das Theater derzeit noch die Stirn zu stehen hat, doch viel besser vermarkten. Und wenn man die alte Bude aus der Nachkriegszeit wegen Denkmalschutz schon stehenlassen müsse, könne man dort doch wenigstens etwas Interessanteres machen als ausgerechnet Theater. Kongresse abhalten zum Beispiel. „Eventbude“ wäre der passende Kampfbegriff, auf den, wie bekannt, Claus Peymann das Copyright hat.

Düsseldorfer Misere

Immerhin würden Abriß oder Umwidmung des Theaters in der Stadt, in der einst Gustaf Gründgens wirkte, keinen Intendanten arbeitslos machen, denn Wilfried Schulz, der aus Dresden an den Rhein kam, ist Jahrgang 1952 und könnte wahrscheinlich mit geringen Abzügen vorzeitig in Rente gehen (bitterer Scherz!). Allerdings hatte er wohl andere Vorstellungen von Theaterarbeit, als er aus Dresden in den tiefen Westen wechselte, hatte Ideen, wie er in Düsseldorf die Karre aus dem Dreck ziehen würde, die dort seit dem Abgang Amélie Niermeyers 2011 und dem „Burnout“ ihres Nachfolgers Staffan Valdemar Holm steckt.

Ein tapferer Senior hatte zwischenzeitlich die Stellung gehalten: Günther Beelitz (75), der das Haus schon einmal von 1974 bis 1986 geleitet hatte. Doch nun? Nun befindet OB Thomas Geisel (und mit ihm fraglos etliche weitere kunstsinnige Lokalpolitiker), daß das Schauspiel im „Central“, der Ausweichspielstätte in Bahnhofsnähe, sehr gut aufgehoben sei.

Das Land schweigt

Irgendwie fragt man sich da schon, welche Vorstellung die Düsseldorfer Lokalpatrioten von Urbanität haben, von städtischem Leben und städtischer Kultur. In der Antwort, fürchte ich, wäre viel weißes Rauschen. Und eine zweite Frage drängt sich auf: Würden kulturlose Lokalpolitiker wie die in Düsseldorf auch so dreist auftreten, wenn sie es mit selbstbewußten, erfolgreichen Theaterleuten zu tun hätten statt mit personellen Notnägeln? Wilfried Schulz ist damit ausdrücklich nicht gemeint. Zwischen Niermeyers Abgang und Schulz‘ Dienstantritt sind fünf Jahre verstrichen, in denen das Düsseldorfer Schauspielhaus langsam aber sicher in den Bedeutungsverlust trieb.

Hat in diesem Zusammenhang übrigens jemand etwas von der Landesregierung gehört? Das Theater der Landeshauptstadt wird nämlich von Land NRW mitfinanziert, ist somit auch ein Staatstheater, und eigentlich müßte das Land ein vehementes Interesse an diesem kulturellen Aushängeschild haben. Hat es aber wohl nicht. Kulturelle Präferenzen dieser Landesregierung sind ja eh kaum auszumachen, und wenn doch, dann liegen sie eher im pädagogischen Bereich, dann hat man es in der Kunst lieber breit als hoch. Mit etwas Wehmut denkt man da an alte Zeiten, in denen ein Ministerpräsident Jürgen Rüttgers die Verdoppelung der Kulturausgaben verkündete und ein Kulturstaatssekretär mit Namen Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff in den Spielstätten des Landes fast allgegenwärtig war.

Den Namen der amtierenden Kultusministerin mußte ich googeln: Christina Kampmann heißt sie, Jahrgang 1980, seit 2015 im Amt und außer für Kultur auch für Familie, Kinder, Jugend und Sport zuständig. Ihre Vorgängerin (wieder gegoogelt) war Ute Schäfer, Jahrgang 1954, die jetzt ihren (Vor-) Ruhestand genießt. Beide keine politischen Schwergewichte. Ob von Frau Kampmann noch was kommt? (Detaillierte Bemerkungen über eine glanzlose Landesregierung, ihre skandalösen Kunst-Verkäufe und ihre Neigung zum Wegducken bei ungeliebten Themen spare ich mir an dieser Stelle.)

Intendantin und „Chef-Regisseur“

Falsche Personalentscheidungen standen am Anfang der Düsseldorfer Schauspielkrise, und nachher ist man immer klüger. Blicken wir nun auf die Ruhrtriennale, die ebenfalls zu einem wesentlichen Teil vom Land finanziert wird und alle drei Jahre einen neuen Intendanten bekommt. Offensichtlich wollte und will man hier in Fragen der Intendanz kein Risiko eingehen. Hier sollen es die alten Männer richten. Dem Niederländer Johan Simons (70) folgt 2018 Christoph Marthaler (Jahrgang 1951) nach, der dann also, wir rechnen mal kurz, 67 Jahre alt sein wird.

Doch halt, in Wirklichkeit ist es ja ganz anders! Intendant wird eine Intendantin, eine Frau im Amt war überfällig! Stefanie Carp, fünf Jahre jünger als Marthaler und, nebenbei bemerkt, Schwester des Oberhausener Theaterleiters Peter Carp. Schaut man sich ihren beruflichen Werdegang an, könnte man sie, und das ist nicht despektierlich gemeint, eine „ewige Dramaturgin“ nennen, war sie doch in Sonderheit für Christoph Marthaler viele Jahre lang das, was beispielsweise Hermann Beil für Claus Peymann ist. Auch hat sie wiederholt die Wiener Festwochen geleitet.

Nun ist sie also Intendantin der Ruhrtriennale; Marthaler ist ihr „Chef-Regisseur“, fraglos eine interessante Position, die man am Theaterbetrieb bisher kaum kannte. Da sich die beiden von der Berliner Volksbühne her gut kennen, mag das das Werk wohl gelingen. Besonders gespannt muß man auf das Musikprogramm dieses traditionell musikorientierten Festivals sein, bei so viel Sprechtheater-Kompetenz. Aber in Marthalers Inszenierungen wird ja meistens sehr schön gesungen.

Wo sind die Jungen?

Simons ist Holländer, Marthaler Schweizer, Frank Hoffmann, der Intendant der Ruhrfestspiele, ist Luxemburger, der designierte neue Chef im Dortmunder Kulturzentrum „U“, Edwin Jacobs, wiederum Holländer. Zum gelassenen Ruhrgebiets-Internationalismus paßt das durchaus. Doch stimmt es auch nachdenklich, daß große Teile des kulturellen Spitzenpersonals a.) im Land nicht zu finden waren und b.) selten unter 60 Jahre alt sind, oft deutlich älter.

Bitte nicht mißverstehen: Nichts spricht dagegen, Leitungspositionen in Theatern und Museen mit Ausländern zu besetzen, das ist weltweit gang und gäbe. Hartwig Fischer beispielsweise, der so gut mit Berthold Beitz konnte und durchaus seinen Anteil an der Verwirklichung des neuen Folkwang-Museums in Essen hat, leitet jetzt (als erster Ausländer) das British Museum in London. Zum British Museum gehört die Tate Gallery of Modern Art, deren Chef Chris Dercon wiederum Nachfolger Frank Castorfs als Intendant der Berliner Volksbühne wird, was indes von vielen als Skandalon empfunden wird… (Vielleicht kein so gutes Beispiel.).

Besorgniserregend aber ist, wenn wir auf NRW blicken, daß nirgendwo im ganzen großen Kulturbetrieb jemand zu entdecken ist, Mann oder Frau und idealerweise noch nicht kurz vor der Rente, den oder die man als kulturellen Hoffnungsträger bezeichnen könnte. Sicherlich kann niemand einen Künstler vom Range des verstorbenen Christoph Schlingensief aus dem Zylinder ziehen, auch kleinere Talente schon stimmten ermutigend. Doch wenn Anselm Weber, noch Intendant in Bochum, in der nächsten Spielzeit nach Frankfurt wechselt, räumt er seinen Platz für den, wie schon erwähnt, 70jährigen Johan Simons. Aufbruch sieht anders aus.

Vielleicht ist es ja so, daß kleinmütige Findungskommissionen es Mal um Mal vermieden haben, mit Jüngeren ein experimentelles Tänzchen zu wagen. Man hat ja nicht dabeigesessen. Das Resultät bleibt das gleiche, und die Parole lautet „Alte Säcke an die Macht“.

Dortmunder Spezialisten

Hat da jemand „Aber Dortmund!“ gerufen? Nun gut: Auch die Dortmunder haben Streß mit ihrer Theatersanierung. Wie bekannt spielt man im „Megastore“, einem Lagerhallenkomplex im Gewerbegebiet, die Sanierung des Schauspielhauses verzögert sich, wird überdies teurer als geplant. Aber wer hätte auch anderes erwartet? Die Tatkraft und die Kreativität, mit denen sich das Dortmunder Theater diese (Anti-) Spielstätte erobert hat, sind auf jeden Fall beeindruckend.

Hier können zukünftige Ruhrtriennale-Intendanten noch etwas lernen, wenn sie wieder eine alte Industriehalle bespielen sollen, die anscheinend für alles besser geeignet ist als für Theater. Doch muß man Zweifel haben, ob dieses sehr sportliche, sehr dem theatralischen Jugendbereich zugewandte und in diesem Sinne hochspezialisierte Dortmunder Theater wegweisend für die Entwicklung in der Region ist. Trotzdem bin ich jetzt schon sehr gespannt auf das, was Kay Voges und die Seinen demnächst im renovierten Schauspielhaus zustande bringen werden.




Das Geld ist knapp, die Chefin kündigt: Wie sehr kriselt es im Hammer Museum?

Keine sonderlich guten Nachrichten kommen derzeit aus dem Gustav-Lübcke-Museum: Von Verlusten und mangelndem Besucheraufkommen ist in Hamm die Rede. Inzwischen hat Museumsleiterin Dr. Friederike Daugelat (40) gekündigt. Doch was verbirgt sich dahinter? Und hat beides miteinander zu tun?

Einen solch krisenhaften Zusammenhang bestreitet die bis Jahresende amtierende Museumschefin entschieden. Den Revierpassagen sagte sie heute: „Meine Kündigung hat ausschließlich persönliche Gründe.“ Tatsächlich wechselt sie in einen neuen Job, in dem ihre Verantwortung eher noch wächst: Friederike Daugelat, die Anfang 2013 nach Hamm gekommen war, wird ab Januar 2017 Referatsleiterin beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und ist dort für mehrere LWL-Museen zuständig, vor allem auf dem Feld der Beratung und strategischen Planung.

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Hamms Oberbürgermeister Thomas Hunsteger-Petermann forderte unterdessen im WDR-Hörfunk (Landesstudio Dortmund), was der OB einer finanziell klammen Kommune von der lokalen Kultur halt so verlangt: „Wir müssen die Besucherakzeptanz, die Bevölkerungsakzeptanz noch einmal deutlich verstärken.“ Er und andere Kommunalpolitiker wollen bewirken, dass das Museum kein Eigenbetrieb mehr ist, sondern wieder in städtische Regie überführt wird.

Gespräche über eine solche Neuorganisation laufen laut Friederike Daugelat schon seit längerer Zeit. Die Führung als Eigenbetrieb habe bislang abrechnungstechnische Gründe gehabt, die wegen geänderter Bestimmungen künftig entfallen. Somit sei es wohl vernünftig, das Museum wieder an die Stadt anzugliedern. Auf diese Weise ließen sich einige Kostenblöcke (z. B. für Wirtschaftsprüfer) einsparen.

Unterdessen war in einem Bericht des „Westfälischen Anzeigers“ (Presse-Platzhirsch in Hamm) von 156.000 Euro Verlusten die Rede, die das Museum 2015 angehäuft habe. Auch dies erklärt Daugelat mit Besonderheiten der Buchhaltung. 2014, gegen Ende der zweijährigen Umbauzeit des Museums, seien Kosten angefallen, die erst 2015 belastend zu Buche gestanden hätten. Dem stünden positive Abschlüsse aus anderen Jahren gegenüber, so dass die Bilanz auch politisch abgesegnet worden sei.

Und wie verhält es sich mit dem Zuspruch des Publikums? Eine Ausstellung mit finnischer Malerei zog 12.000 Besucher ins abseits der großen Kulturströme gelegene Hamm. Eine speziell für Kinder konzipierte Mitmach-Schau über die technischen Fähigkeiten der Alten Römer hat vor wenigen Tagen die Besuchermarke von 10.000 überschritten und dauert noch – über die Herbstferien hinweg – bis Ende Oktober. Für ein Museum in der kulturellen und touristischen Diaspora sind das keine schlechten Zahlen.

Zudem war das (tendenziell unterfinanzierte) Haus erst ab März 2015 nach langer Umbaupause wieder eröffnet worden, und zwar sukzessive, eine Abteilung nach der anderen, mit deutlichen Zeitabständen. Also haben sich auch die Besucherzahlen nur zögerlich entwickeln können.

Nach städtischen Vorgaben, so Friederike Daugelat, soll das Museum jährlich mindestens 36.000 Besucher anziehen. Diese Zahl werde 2016 auf jeden Fall erreicht und überschritten. Es sei realistisch, die Marke von 40.000 Besuchern anzupeilen.

Ach so, ja, Kunst wird es im Gustav-Lübcke-Museum auch noch geben: Die nächste, noch von Daugelat kuratierte Sonderausstellung beginnt am 18. Dezember und heißt „Lieblingsorte – Künstlerkolonien. Von Worpswede bis Hiddensee“.




In den Iran und nach Syrien: Sonderbarer Journalisten-Verband lädt zu Pressereisen ein

Nein, danke. Auf diese Einladung möchte ich wirklich nicht zurückkommen. (Repro/Ausriss: BB)

Nein, danke. Auf diese Einladung möchte ich wirklich nicht zurückkommen. (Repro/Ausriss: BB)

Da erreicht mich doch dieser Tage eine Einladungs-Mail zur Journalistenreise in den Iran. Aber wer steckt dahinter? Mal schauen…

Nun, mit der Nachfrage beginnen schon die Seltsamkeiten. Die etablierten Journalistenverbände DJV und dju (bei Ver.di) sind mir seit vielen Jahren aus beruflichen Zusammenhängen wohlvertraut, im DJV bin ich selbst Mitglied. Doch von einem vollmundig so benannten „Journalistenzentrum Deutschland e. V.“ hatte ich bis dato noch nichts gehört, auch nicht vom zugehörigen Träger „DPV“ („Deutscher Presse Verband e. V.“) und dessen Schwestergewächs bdfj (Bundesvereinigung der Fachjournalisten).

Für ihr sonderbares „Imperium“ haben sich die Betreiber auch noch die hochtrabend klingende Internet-Adresse www.journalistenverbaende.de gesichert; ganz so, als stünden sie – gleichsam als Dachorganisation – für Deutschlands journalistische Zusammenschlüsse überhaupt. Was natürlich kompletter Unsinn ist. Nebenbei gefragt: Woher haben die eigentlich meine private Mailadresse?

Etliche Ungereimtheiten

Ein wenig Nachforschung im Netz fördert schnell einen lesenswerten Beitrag des Journalisten Ulf Froitzheim zutage, der bereits 2009 für den „BJV Report“ (Zeitschrift des bayerischen Landesverbandes im renommierten Deutschen Journalisten-Verband DJV) auf gründliche Spurensuche gegangen war und derart viele Absurditäten, Ungereimtheiten und zweifelhaftes Gebaren beim „DPV“ vorgefunden hat, dass es kaum zu glauben ist.

Man sollte das nachlesen: Hier ist der Link zu Froitzheims Bericht, der einen Kaufmann namens Christian Zarm als (nahezu einzige) treibende Kraft des „DPV“ ausmacht, welcher offenbar aus einer Art Vespa-Motorroller-Fanclub hervorgegangen ist. Journalismus im eigentlichen und seriösen Sinne scheint demnach nicht gerade das Kerngeschäft des „DPV“ (gewesen) zu sein. Um es mal ganz vorsichtig zu sagen. Auch die auf eine einzige Person zugeschnittene Satzung des Verbandes sorgt, wenn man Frotzheim folgt, für ungläubiges Kopfschütteln. Übrigens hat sich Zarm laut Focus und Froitzheim in den 1990er Jahren auch schon mal als dubioser Doktortitel-Händler verdingt.

Zurück zum „DPV“. Von einem solch undurchsichtigen Vereins-Konstrukt mag ich mich jedenfalls nicht einladen lassen – erst recht nicht in den Iran oder gar nach Syrien. Diese letztere Reise, so heißt es auf der „DPV“-Homepage, sei freilich schon ausgebucht. Behaupten lässt sich ja so manches.

„Terminverschiebung möglich“

Unterdessen ist die Iran-Reise (Teilnehmerzahl von „ca. 8 Personen“ offenbar noch nicht erreicht) bereits einmal verschoben worden und wird nunmehr für 4. Bis 11. November angekündigt, plus/minus 1-2 Tage, wie es heißt. Zusätzliche Anmerkung: „Terminverschiebung möglich“. Da muss sich der interessierte Journalist (welche Zielgruppe wird hier eigentlich angepeilt?) halt mal eine Zeit lang mit gepackten Koffern bereithalten und demütig abwarten, was da kommen mag…

Überhaupt bleibt rätselhaft, was sich wohl hinter diesen beiden, jeweils einwöchigen Reisen verbirgt, deren angeblich (von wem?) subventionierter Pauschalpreis je 1980 Euro beträgt. Laut „DPV“ alias Journalistenzentrum Deutschland werden Details zum Ablauf – „auch aus Sicherheitsgründen“ – erst kurz vor dem Abflug bekannt gegeben. Man habe allerdings so gute Kontakte, dass Treffen mit Vertretern hochrangiger Institutionen „fest eingeplant“ seien. Aha.

Extremistenführer treffen

Damit bei weitem nicht genug: Als „Referenzen“ aus früheren Reisen werden ferner (neben vielen, vielen weiteren Grandiositäten) u. a. Begegnungen mit „lokalen Stammesfürsten, Interviews mit Extremistenführern (Al Qaida, Taliban)…“ genannt. Da schau her. Die trauen sich was. Zumindest verbal.

„Delegationsleiter“ (der „DPV“ und seine Ableger zahlen niemals in kleiner Wortmünze) soll offenbar Shams ul-Haq sein, der aus Pakistan stammende „Fachgruppenleiter für Internationale Beziehungen“, der anderwärts als Journalist und Terrorismusexperte firmiert – beides keine gesetzlich geschützten Berufsbezeichnungen, die sich also notfalls jeder anheften kann.

Apropos bisherige Trips: Es gibt bei YouTube ein reichlich bizarres, rund 20 zähe Minuten langes Video von der „Ersten europäischen Journalistenreise“ (wie gesagt: Sie lieben die prahlerischen Formulierungen) in den Iran – selbstverständlich unter Führung des genannten Shams ul-Haq. Zu orientalischer Musik werden da x-beliebige Filmaufnahmen einer irgendwie gearteten Pressereise gezeigt. Gegen Ende macht Shams ul-Haq dann auch mal ein albernes Späßchen. Was haben wir gelacht.

Schon im Filmvorspann werden als Teilnehmer Christoph Hein von der „Frankfurter Allgemein“ (sic!), Jörg Lau von der „Zeit“ und Daniel Steinworth von der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) genannt. In Sachen medialer Markennamen geht’s im hiesigen Sprachraum schwerlich edler, es fehlt eigentlich nur noch die „Süddeutsche Zeitung“. Und was ist wirklich dran? Das könnten wohl nur die Genannten bezeugen.

Undercover im Flüchtlingsheim

Zum Namen Shams ul-Haq finden sich im Internet einige Verknüpfungen, die zu denken geben. Sie gipfeln vorerst in der Rechtsaußen-Postille „Junge Freiheit“ als angeblichem Auftraggeber einer 2015 entstandenen Undercover-Reportage aus einem Flüchtlingsheim, mit der Shams ul-Haq seinerzeit mächtig hausieren ging. Auch die Netzadresse der außerordentlich „flüchtlingskritischen“ „Epoch Times“, die bei Shams ul-Haq ebenfalls anliegt, ist nicht gerade als fein verschrien.

Und weiter geht’s: Für den 3. Oktober wird in einem Verlag namens SWB Media Publishing ein Haq-Buch über Zustände in Flüchtlingsunterkünften angekündigt, es heißt bezeichnenderweise „Die Brutstätte des Terrors“. Aparte Zuspitzung im Zusammenhang mit Asylbewerbern, nicht wahr? Dabei ist Shams ul-Haq einst selbst als Flüchtling nach Deutschland gekommen.

Schon vorab werden zu dem Buch einige begeisterte Testimonials verbreitet, unter anderem ausgerechnet von Prof. Dr. Frank Überall, seines Zeichens vor allem umtriebiger WDR-Journalist und – Obacht! – Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes DJV, der angeblich geäußert haben soll: „Ein spannendes Werk, das sicherlich viele Debatten auslösen wird.“ Ob mit diesem Zeugnis wohl alles so seine Richtigkeit hat?

Strittiger Wikipedia-Artikel

Besagter SWB (SüdWestBuchVerlag) scheint übrigens längst nicht nur als klassischer Verlag tätig zu sein, sondern vorwiegend mit Books on Demand (BoD) zu handeln und zudem vielfach als „Dienstleister“ aufzutreten, sprich: auf dem Felde des umstrittenen Druckkostenzuschuss-Wesens. In einschlägigen Internet-Foren gehen die Meinungen dazu freilich auseinander.

Unterdessen ist für Shams ul-Haqs (von ihm selbst verfassten?) Wikipedia-Eintrag Löschung beantragt worden. Begründung auf der Diskussions-Ebene des Internet-Lexikons: „Es bestehen erhebliche Relevanzzweifel“. Nanu! Sollte der Mann etwa gar nicht so furchtbar wichtig sein, wie er sich offenbar nimmt? Mal abwarten, wie sich der Vorgang entwickelt.

So weit also die ersten Ergebnisse einer bloßen Internet-Recherche, die noch erheblich ausgedehnt werden könnte. Aber ganz ehrlich: Ich mag mich nicht weiter auf solche Untiefen einlassen. Man wagt sich ja gar nicht auszumalen, was sich mit investigativen Mitteln aus solcherlei Ansätzen noch herausholen ließe.




Routine der Empörung oder: Die seltsame Sucht nach Krawall in den Schlagzeilen

Wie kommt ein Polit-Promi der A-, B- oder C-Kategorie knackig in die Medien? Indem er etwas Vernünftiges sagt, was dann allseits ernsthaft diskutiert wird. Haha. Guter Gag. Nein, leider oft in erster Linie mit verbalem Krawall, Provokation und „Tabubrüchen“.

Beispiele hatten wir jüngst zuhauf. Donald Trump ist in dieser Disziplin der Champion aller Klassen, beispielsweise mit seinem Smash-Hit „Wenn wir schon Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?“ Er kam auch noch mit einigen anderen Krachern in die Charts. Eine milliardenteure Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen und die blöden Mexen dafür zahlen lassen wollen, das war sein Latin-Sound mit dem besonderen Salsa-Feeling.

Wenn du kein honorarfreies Bild hast, so nimm einfach ein selbst fotografiertes Einhorn (alte Journalisten-Weisheit). (Foto: Bernd Berke)

Wenn du sonst kein honorarfreies Bild hast, so nimm einfach ein selbst fotografiertes Einhorn (alte Journalisten-Weisheit). (Foto: Bernd Berke)

Ähnlich penetrant, wenn auch auf weitaus kleinerer Macht- und Bedrohungsflamme, gerieren sich deutsche Polit-Barden, vorwiegend auf dem Gebiet der tümelnden Volksmusik. Oder gleich „völkisch“. Mit diesem historisch immens vorbelasteten und nimmermehr zu rettenden Wort jonglierte dieser Tage bekanntlich die AfD-Chefin Frauke Petry. Sie möchte es aufgewertet wissen.

Viel Luft nach rechts unten bleibt da nicht mehr. Wird sie bald das Wort „Führer“ enthistorisieren und sodann positiv aufladen wollen, wird sie den Holocaust relativieren oder das abgründige „Arbeit macht frei“ als aufmunternde Parole lesen wollen? Man weiß es nicht. Jedenfalls ist in derlei Provo-Sprech ein Zwang zur ständigen Überbietung und Steigerung eingebaut. Und nachher will man’s wieder nicht gewesen sein.

Da hat’s der CSU-Bierzeltmann Horst Seehofer vergleichsweise ein paar Nummern harmloser und doch lachhaft genug getrieben. Sein Holzhammer-Vorschlag, ARD und ZDF zusammenzulegen (damit dann irgendwann nur noch private Prekariats-Sender übrig bleiben?) ist allzu durchsichtig. Weil gerade die öffentlich-rechtlichen Medien ihn kritisch betrachten, will er sie gleich dezimieren. In Kindertagesstätten geht es manchmal rationaler zu.

Viele Medien spielen als Verstärker die üblen Spielchen des haltlosen Ausposaunens mit, nicht immer ganz unfreiwillig. Und machen wir uns nichts vor: Weite Teile des linken und liberalen Spektrums gieren insgeheim nach solch idiotischen Aussagen, um sich gehörig aufzuregen und aber so was von deutlich sichtbar auf der richtigen Seite zu stehen. Das geschieht inzwischen so ungefähr im Dreitages-Abstand; ganz so, als müsse auch hierbei die Dosis ständig erhöht werden. Es ist eine Sucht nach permanentem Alarm.

Erst wenn die dummen Sprüche (gegen die man ja auch angehen muss) via Talkshow, Interview oder dergleichen in der Welt sind, können Besserwissende mit selbstgerechter Empörungs-Routine loslegen, indem sie kübelweise Belehrungsbrei bzw. mehr oder weniger treffliche Häme ausgießen. Dürftiger noch, wenn sie nur noch abgedroschene, längst nicht mehr per se „vielsagende“ Formeln à la „Der Schoß ist fruchtbar noch“, „Wehret den Anfängen“ bzw. „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte“ vom Stapel lassen. Nicht, dass diese klassischen Satzfetzen neuerdings unwahr wären. Doch häufig werden sie ohne weitere Mühen der Argumentation benutzt.

Im allfälligen Shitstorm werden eventuell problematische, aber eben partout nicht „faschistische“ Figuren wie de Maizière oder erst recht Seehofer und Söder flugs zu Quasi-Nazis ernannt. Danach bleiben dann für wirkliche Rechtsradikale kaum noch passende Worte übrig. Da sehnt man sich doch nach abwägender Nüchternheit.




Sonderbare Vorfälle: Wie ich einmal Zeuge und beinahe Parteimitglied wurde

Also, das muss ich euch jetzt erzählen:

Da macht man ganz arglos Urlaub auf Rügen, bucht und bezahlt eine Schiffsfahrt entlang der berühmten Kreidefelsen. Was man da oben halt so treibt. Alles ganz normal und hundsgewöhnlich.

Doch was passiert? Der Käpt’n des Bootes, das wir ausgesucht haben, wird hochnotpeinlich von zwei (bewaffneten) Beamten der Wasserschutzpolizei verhört. Nach einiger Zeit stellt sich heraus, dass er die Fahrt nicht antreten darf. Also doch wieder runter von Bord. Wie sagt der Jurist so schön: entgangene Urlaubsfreude. Naja, wir haben dann halt ein anderes Schiff genommen.

Der Leuchtturm von Sassnitz kann doch auch nichts dafür... (Foto: Bernd Berke)

Der Leuchtturm von Sassnitz kann doch auch nichts dafür… (Foto: Bernd Berke)

Weiß der Geier, aber es ging wohl darum, ob der Schiffsführer eine handelsübliche Ausflugsfahrt oder einen Trip mit Angelmöglichkeit angeboten hat. Probleme mit der Lizenz offenbar. Jetzt stehe ich jedenfalls auf der Zeugenliste und muss eine schriftliche Aussage liefern. Ha, ich bin ja so wichtig. Zeuge der Anklage. Großes Drama. „Einspruch, Euer Ehren!“ Hihi.

Vor Gericht und auf hoher See

Wer hätte gedacht, wie schnell man in Konflikte der christlichen Seefahrt verwickelt werden kann? Aber psssst! Mehr kann ich nicht verraten, es ist ein schwebendes Verfahren. Und man weiß ja: Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand.

Nur noch dies: Den Fahrpreis haben wir anstandslos zurück erhalten. Die Schiffsbetreiber schimpften dabei wie die Kesselflicker. Sie wähnten sich als Opfer einer Denunziation durch die Konkurrenz. „Ausgerechnet die! Die nehmen doch oft viel zu viele Passagiere an Bord. Mehr als sie dürfen.“ Na, und so weiter.

Sind wir da etwa zwischen die Fronten mafioser Strukturen geraten? Oder ist es nur eine Ausprägung des ganz gewöhnlichen, kleinlichen Futterneids?

Nur ein paar abendliche Klicks

Damit nicht genug. Ein paar Tage später wäre mir beinahe eine ziemliche Dummheit unterlaufen. Um ein Haar wäre ich Mitglied einer Partei geworden. Welche das war? Das wollt ihr gar nicht wissen. Ich habe ja auch gerade noch die Kurve in Richtung immerwährender Neutralität genommen. Noch nie bin ich in einer Partei gewesen. Und das soll auch so bleiben.

Aber ihr kennt das. Man sitzt abends am PC, schlürft vielleicht ein oder zwei Rotweinchen, surft umher, liest dies und das. Auf einmal bildet man sich ein, man müsse sich in diesen Zeitläuften denn doch (parteipolitisch) engagieren und schlägt im Netz einen entsprechenden Pfad ein. Dann braucht es nur noch ein schwaches Viertelstündchen und ein paar weitere Klicks, um eine Mitgliedschaft zu beantragen. So einfach, als würde man online ein Buch oder eine CD bestellen. Ich sag’s euch.

Ihr kriegt mich nicht

Alsbald kamen bereits Antwort-Mails, in denen ich herzlichst als neues Mitglied begrüßt wurde. Das Aufnahme-Prozedere werde freilich noch ein paar Wochen dauern. Gut so.

Denn anderntags rieb ich mir die Augen. Was hatte ich getan? Flugs schrieb ich dem Ortsvorsitzenden, der mir als Kontakperson benannt worden war, eine Absage. Ich sei doch nicht genügend überzeugt, um mich aktiv z. B. in Wahlkämpfe einzubringen. Ergo: Rückzug des Aufnahme-Antrags. Sorry. Bin mal gespannt, ob da noch eine beschwichtigende Antwort mit leutseligem Umarmungsversuch folgt. Aber ihr kriegt mich nicht.

Wo zum Teufel der Zusammenhang zwischen beiden Vorfällen zu suchen sei, fragt ihr? Weiß ich doch nicht. Aber es wird schon einen geben. Es hängt doch alles mit allem zusammen.

Nachtrag am 20. September 2016

Es kam, wie es kommen musste. Mit dem Ausdruck des Bedauerns nahm ein regionaler Repräsentant jener Partei zur Kenntnis, dass ich den Antrag auf Mitgliedschaft doch noch zurückgezogen hatte. Ich solle halt einfach mal so vorbeikommen. Ganz unverbindlich. Damit hielt ich die Angelegenheit für erledigt.

Ein paar Wochen später folgte gestern die Überraschung. Derselbe Mann gratulierte mir herzlich zur Aufnahme in seine Partei. Eine eigens für Neumitglieder zuständige Dame werde Kontakt zu mir aufnehmen. Diese meldete sich auch schon fast im gleichen Atemzug, wobei sie – gleichsam als Willkommensgruß – gleich mal meinen Namen falsch schrieb.

Missverständnis. Bedauerliches Versehen. Mitarbeiter erkrankt. Die Ausflüchte waren die üblichen.

Soll ich jetzt Rückschlüsse auf die Parteiarbeit ziehen?

 




Ein paar atemlose Bemerkungen zum „Brexit“

An diesem Thema kann man einfach nicht achtlos vorüber gehen, nicht einmal als Kulturblog aus dem Revier: Großbritannien verlässt also die Europäische Union. Dazu hier ein paar atemlose Notizen des Augenblicks, der gegenwärtigen, durchaus diffusen Stimmung entsprechend. Man muss der beengten Brust ja auch Luft verschaffen.

In den bisweilen über Gebühr zitierten sozialen Netzwerken ist (neben mancherlei Scherz und Ironie) eine Art Schockzustand zu verzeichnen. Auch mancher wüste Vorschlag („Jetzt den Eurotunnel fluten“) lässt indirekt auf Beklemmung schließen.

Briten-Nostalgie aus dem Nippesregal: traditionelles Londoner Taxi und dito Telefonzelle vor Shakespeare-Büchern. (Foto: Bernd Berke)

Briten-Nostalgie aus dem Nippesregal: traditionelles Londoner Taxi und dito Telefonzelle vor Shakespeare-Büchern. (Foto: Bernd Berke)

Etliche Leute rechnen sich schon preiswerte England-Reisen aus oder bangen um den bisher noch halbwegs günstigen englischen Tee. In Frankfurt spekuliert man, ob man jetzt vollends zum neuen Finanzzentrum des Kontinents wird. Viele hegen halt ihre eigennützigen Erwartungen.

Bei Facebook und Twitter setzen unterdessen die üblichen Mechanismen ein. Es werden alle, aber auch wirklich alle Songs gepostet, die sich irgendwie auf den #Brexit beziehen lassen – von „Should I Stay or Should I Go?“ (The Clash) über „Anarchy in the U.K.“ (Sex Pistols) bis hin zu „Hello Goodbye“ von den Beatles.

Es jagen sich die Eilmeldungen. Pfund und DAX stürzen ab, David Cameron kündigt seinen Rücktritt an. Wer weiß, welche Nachrichten dieser denk- und merkwürdige Tag noch bringen wird. Nur eins interessiert uns nicht: ob Erdogan darob in schadenfrohen Taumel gerät. Soll er doch.

Mal ganz nebenbei. Zufällig habe ich gestern ein wenig nach der Ausstattung von Navigationsgeräten geforscht. Und siehe da: Viele Modelle bieten just 22 vorinstallierte Karten („Mitteleuropa“) – ohne die britischen Inseln. Ein Zeichen, ein Zeichen… Demnach müssten freilich auch die bislang verbliebenen skandinavischen Länder bald austreten.

Von der Fußball-EM ganz zu schweigen. Dort sind noch drei Mannschaften dabei, deren Landstriche vom Brexit unmittelbar betroffen sind: England, Wales und Nordirland. Von Rechts wegen müssten sie doch jetzt freiwillig abreisen, oder? Ehrlich gesagt, hat mich das Privileg schon immer gestört, dass sie derart viele Mannschaften entsenden können (Schottland käme im Qualifikationsfalle noch hinzu). Aber in Wahrheit möchte man sie ja allesamt nicht missen, insbesondere nicht die sangesfreudigen Fans.

Apropos Privilegien. Ich kann mir vorstellen, dass die Briten trotz des Austritts gewisse Vergünstigungen im Warenverkehr mit der EU für sich aushandeln werden. Man wird sehen. Lächerlich erscheinen jedenfalls die Insel-Phantasien, die auf „Rule, Britannia“ hinauslaufen, als könnte nun die alte Herrlichkeit des Weltreiches wieder beginnen. Man möchte (im Londoner Wettbüro?) beinahe auf das Gegenteil setzen.

Für den Brexit haben angeblich vor allem die Älteren und die Bewohner ländlicher Bezirke gestimmt. Es hat schon einen bitteren bis absurden Beigeschmack, dass vor allem sie über die Zukunft enscheiden. Schotten und Nordiren waren hingegen mehrheitlich für den Verbleib in der EU. Gut möglich, dass die Schotten nun noch einmal über die Loslösung von Großbritannien abstimmen werden.

Wenn man aber dann die triumphalen Schlagzeilen in den Extrablättern der britischen Boulevardzeitungen sieht (in Riesenlettern „See EU later“ usw.), zweifelt man am letzten Rest des pragmatischen Verstandes, der doch angeblich die Inselbewohner auszeichnet. Die britische Brüllpresse ist allerdings eh eine Welt für sich.

Ganz schlimm wäre es, wenn dies ein Anfang vom Ende wäre. Fliegt uns jetzt das ganze europäische Projekt um die Ohren? Muss es nicht völlig neu ausgerichtet werden, etwa als Union gegen Sozialdumping?

Oder lassen sich die Völker jetzt wieder gegeneinander in Stellung bringen, wie ehedem in finsteren Zeiten?

Macht euch auf lange Leitartikel gefasst. Und hoffentlich auf beherzte Entscheidungen. Auf Weisheit wagt man ja gar nicht zu hoffen.

Übrigens: Man wüsste doch nur zu gern, wie die Queen über all das denkt. Obwohl es nichts ändert.




Als es im Ruhrgebiet noch Arbeiterschriftsteller gab – vier Skizzen aus persönlicher Sicht

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann mit einer persönlichen Betrachtung über Begegnungen mit Arbeiterschriftstellern des Reviers:

1. Richard Limpert

Warum Richard Limpert aus Gelsenkirchen bei seinen Straßenlesungen ein Megaphon benutzt hat, habe ich nie verstanden. Mit donnernder Stimme trug Limpert seine Agitpropgedichte vor, in denen es immer um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken und unter Tage ging. Er war auch ohne technische Unterstützung in der gesamten Fußgängerzone zu hören.

In Unna, während einer Landesversammlung des Schriftstellerverbandes, hielt er mal eine solche Lesung, stand oben am Markplatz und war sicher noch die Bahnhofstraße hinunter bis zum Rathaus zu hören. Wir anderen, die an verschiedenen Stellen der Straße lesen sollten, konnten unsere Texte getrost in der Tasche behalten und ihm das Terrain überlassen.

Heute, wenn auf immer neue Rekordmarken bei der Arbeitslosigkeit mit immer neuem Sozialabbau geantwortet wird, sollte wieder einer wie Limpert das Wort ergreifen, denke ich. Aber diesen Typus an Arbeiterschriftstellern gibt es nicht mehr.

"Schichtenzettel" mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Schichtenzettel“ mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Rili“, wie wir ihn nannten, hatte kein Auto. Er kam immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Veranstaltungen und hat dabei einmal eine unglaubliche Leistung vollbracht. Er ist nämlich zu einer Thekenlesung nach Bergkamen mit dem Zug gekommen. Nicht, dass es Bergkamen keinen Bahnhof gäbe, so ist es nun auch wieder nicht. Er befindet sich weit abgelegen neben einem Naturschutzgebiet. Güterzüge fahren vorbei, aber kaum jemals ein Personenzug. Ich glaube, die Strecke war schon damals für den Personenverkehr vollständig still gelegt.

Irgendwie hatte es Limpert trotzdem geschafft, mit dem Zug anzureisen. Vielleicht war er in einem Postwagen mitgefahren und der Zug hatte nur ausnahmsweise und ausschließlich für ihn in Bergkamen gehalten, ich weiß es nicht mehr. Da stand er nun mutterseelenallein auf dem dunklen Bahnhof und konnte weit und breit keinen Menschen entdecken. Rili muss sich gefühlt haben wie in einem Gruselfilm und hinter jeder dunklen Ecke den Mörder vermutet haben.

In einem Wohnhaus in der Nähe hat er schließlich geklingelt, eine Frau hat ihm geöffnet und sich mindestens so sehr über seine Ankunft mit dem Zug gewundert wie Rili über den Bergkamener Bahnhof. Sie rief ihm ein Taxi, mit dem Rili pünktlich zur Lesung kam und mich verwundert fragte, was das denn für ein Bahnhof sei. Ich glaube, so richtig erklären, dass dort niemand mehr aussteigt, konnte ich es ihm nicht.

Die Lesung (Rili hinter der Theke und die Arbeiter von „Monopol“ davor) war dann aber wirklich gut. Die Arbeiter verstanden, dass da einer von ihnen zu ihnen sprach, einer, der aus eigenem Erleben kannte, was er aufgeschrieben hatte.

Rili war ein verträglicher Mann, aber einmal hat er mich doch ausgeschimpft. Horst Hensel hatte den Schulroman „Aufstiegsversagen“ veröffentlicht, in dem ein Arbeiterdichter vor einer Schulklasse auftritt, Fragen der Schüler beantwortet und etwas zu seinem Literaturverständnis erzählt. Der Autor hieß „Milpert“, dreht man die drei ersten Buchstaben um, weiß man, an wen Hensel beim Schreiben gedacht hat.

In Horst Hensels Buch "Aufstiegsversagen" kam Richard Limpert als Figur "Milpert" vor.

In Horst Hensels Buch „Aufstiegsversagen“ (Weltkreis-Verlag, Dortmund) kam Richard Limpert als Figur „Milpert“ vor.

Wir trafen uns einige Zeit nach der Romanveröffentlichung bei einer Buchvorstellung in der Gelsenkircher Bücherei. „Sieben Häute hat die Zwiebel“ hieß die Anthologie, in der wir alle mit Texten vertreten waren. Es gab ein Buffet, wir standen mit dem Teller in der Hand in einer Schlange, Rili vor, Hensel hinter mir.

Plötzlich drehte sich Limpert um, entdeckte mich und fing sofort an zu schimpfen. So blöde sei er nicht, wie ich das behaupten würde, rief er, er könne schon vernünftig auf Schülerfragen antworten. Außerdem würde er über Literatur ganz anders denken, als ich das geschrieben hätte, das hätte er oft erklärt usw. Ich war anfangs sprachlos, bis ich endlich kapierte. „Mensch Richard!“, rief ich, „bist du wahnsinnig! Das war ich doch gar nicht. Das Buch hat doch der Hensel geschrieben.“ Aber Rili ließ sich nicht beirren, schimpfte weiter, bis sein Ärger verraucht war, erkannte dann hinter mir Hensel, lächelte plötzlich freundlich und gab ihm die Hand. „Mensch Horst“, sagte er, „wie geht`s dir.“

Nach seiner Attacke war Limpert übrigens auch wieder zu mir freundlich. Langen Streit konnte er nicht vertragen.

Bei der Landesversammlung des Schriftstellerverbands in Unna hat Rili mal eine unvergessliche Rede gehalten. Es ging hoch her beim Streit um die richtige Verbandsarbeit, als Rili plötzlich erregt das Wort ergriff, aber leider vergaß, dass er sein Gebiss in die Jackentasche gesteckt hatte. Seitdem weiß ich, wie viel Zischlaute es in der deutsche Sprache gibt. Wir waren einen Moment erstaunt, lachten dann, und die Situation war nach Rilis Rede wieder entspannt. Es war übrigens sachlich alles richtig, was Rili erregt und ohne Zischlaute eingeworfen hatte.

Später, ein paar Jahre nach seinem Tod, gab es eine kleine anrührende Szene. Mein kleiner Sohn, damals in der Grundschule, kam zu mir und sagte ein Gedicht auf, das er auswendig lernen musste. Es war ein Gedicht über das Meer, einfach über Nordsee, ganz ohne Agitprop, und es gefiel mir gut. „Rate mal, wer es geschrieben hat?“, fragte er mich. Ich wusste es nicht. Es war von Rili. Da fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr an ihn gedacht hatte. Und dass seine Literatur auch Facetten hatte, die ich noch nicht kannte.

2. Rudolf Trinks

Der Bergkamener Rudolf Trinks gehört nicht zu den bekannten Arbeiterdichtern. Er hat auch wenig veröffentlicht, trotzdem war er eine Zeitlang wichtig für die Dortmunder Werkstatt im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Trinks war Bergmann und füllte angesichts der vielen Studenten, zu denen auch ich gehörte, die Arbeiterlücke in der Gruppe wenigstens halbwegs auf.

Trinks war ein bescheidener Mann, immer kooperativ, hatte einen ganz stillen Humor und hielt sich gerne im Hintergrund. Einmal war er aber ganz gefordert, und diese Situation hat er glänzend gemeistert.

Wir hatten in Bergkamen mit einer Reihe von Thekenlesungen begonnen. Wenn die Arbeiter nicht zur Literatur kommen, kommt die Literatur eben zu den Arbeitern, war unsere Überlegung. Dieter Treeck, damals Kulturdezernent in Bergkamen, hatte die Idee dazu gehabt. Bei der ersten Lesung in dieser Reihe sollte auch Trinks zwei Erzählungen lesen. Geschichten aus dem Bergbau mit dem Titel „Montags morgens, sechs Uhr, Seilfahrt“, wie sie zu Bergkamen passten.

Was wir nicht beachtet hatten, war die Einstellung der Arbeiter, die am Freitagabend in Ruhe ihr Bier trinken und sich daran nicht von irgendwelchen Schreibern hindern lassen wollten. Eine Mikrophonanlage war hinter der Theke aufgebaut worden, Dieter Treeck wollte die Kneipengäste begrüßen, aber es blieb laut in der Kneipe, niemand machte Anstalten, zuzuhören. Unser schöner Versuch schien schon im Ansatz zu scheitern.

Da trat Rudolf Trinks ans Mikrophon, den die meisten Gäste als ihren Arbeitskumpel kannten. „Nun seid mal alle stille!“, sagte er ins Mikrophon. Und tatsächlich verstummten die Leute nach und nach und Trinks begann zu lesen. Er war es, der den Versuch gerettet hat, der sich später zu einer erfolgreichen Lesereihe entwickeln sollte. Meist war ja noch eine Songgruppe engagiert worden, die zwischen den Textlesungen auftrat und manche Veranstaltung später endete mit dem lauten Absingen von Arbeiterliedern.

Eine Zeitlang hatten wir sogar eine kleine Fangruppe, die zu allen Thekenlesungen kam, egal, ob sie in ihrer Stammkneipe stattfand oder anderswo. Und mit der Zeit wurde manche von diesen Zuhörern selbst richtig „literarisch“. Der Göttinger Schriftsteller Manfred Laurin las mal in Bergkamen. „Ich trage jetzt ein paar Gedichte aus meinem neuen Gedichtband vor“, sagte er und fügte stolz hinzu: „Das Buch habe ich selbst verlegt.“ „Hoffentlich hast du es auch wiedergefunden“, antwortete einer der Zuhörer. Laurin, sonst ein begnadeter Spötter über alles Mögliche, konnte darüber gar nicht lachen. Bei seiner eigenen Person hörte der Spott auf.

Trinks wohnte im Begkamener Stadtteil Weddinghofen, in direkter Nachbarschaft zu Hans Henning (genannt „Moppel“) Claer. Der war nun wirklich bekannt, und wenn sich auch mancher nicht mehr an seinen Namen erinnert, so sind doch die Titel seiner Bücher, die alle verfilmt wurden, unvergessen: „Lass jucken, Kumpel“, „Das Bullenkloster“, „Bei Oma brennt noch Licht“. Trinks hat Claers schlüpfrige Darstellung der Arbeitswelt immer abgelehnt. Ich glaube, die beiden haben kaum je ein Wort miteinander gewechselt, obwohl sie fast Haus an Haus wohnten.

Im November bzw. Dezember 2002 sind Trinks und Claer nahezu gleichzeitig gestorben, Trinks hat noch bis kurz vor seinem Tod geschrieben, aber nichts mehr veröffentlichen können. Claer war fast 15 Jahre lang durch einen Schlaganfall bettlägerig und zum Schluss ein Pflegefall.

Thekenlesungen gibt es schon lange nicht mehr. Vielleicht sind die „Poetry Slams“ der zeitgemäße Ersatz, bei dem es aber nicht mehr um politische Aufklärung, sondern weitgehend um „fun“ geht.

3. Emanuel Schaffarczyk

Der Dortmunder Emanuel Schaffarczyk ist längst vergessen. Er war für die Dortmunder Werkstatt in der Anfangsphase sehr wichtig. Viel wurde damals ideologisch diskutiert. Wir vollzogen die Brecht-Lukacs-Debatte nach, wobei ich, dies nebenbei, immer für den gut erzählten, realistischen Roman im Sinne von Lukacs war, ohne freilich dessen „Formalismuseinschränkung“ zu teilen.

Emanuel Schaffarczyks Buch "Als Fußlapp in der Klemme saß" (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Emanuel Schaffarczyks Buch „Als Fußlapp in der Klemme saß“ (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Schaffarczyk war von diesen Diskussionen unberührt, er wollte schreiben und er schrieb. Fast zu jeder Sitzung brachte er eine neue Geschichte mit, in der er die Charaktere stimmig aus der Handlung und dem geschilderten Umfeld heraus entwickelte. Seine Texte hatten Atmosphäre, ich weiß, dass ich jedesmal sehr aufmerksam lauschte, wenn er sie vorlas, weil ich das Gefühl hatte, von Schaffarczyk lernen zu können. Geschickt baute er die Beschreibung der Natur in die Handlung ein, hatte einen Blick für Details und erinnerte mich jedesmal daran, warum ich eigentlich in die Werkstatt gekommen war. Es sollte doch um Literatur gehen, freilich um realistische. Dass die Werkstatt Dortmund später zu den führenden „literarischen“ Werkstätten im Werkkreis gehörte, ist Schaffarczyks beharrlichem Verlangen zu danken, dass bei jeder Sitzung Texte besprochen werden sollten.

Allerdings neigte er zur Idylle (wie so manche Arbeiterdichter), die nach seiner Textvorstellung immer wieder zu Diskussionen in der Gruppe Anlass gab.

Irgendwann saßen wir im jugoslawischen Restaurant direkt gegenüber vom Dortmunder Hauptbahnhof. Wir sprachen lange miteinander. „Du willst doch auch schreiben“, sagte er, „lass uns nicht immer diese langweiligen ideologischen Diskussionen führen. Immer diese Politik.“ Irgendwann blieb er weg. Ein Verlust, sicher, vor allem für den literarischen Anteil unserer damaligen Arbeit.

Schaffarczyk hatte ein Ziel. Als ehemaliger Schlosser wollte er seinem Enkelkind ein richtiges, von ihm geschriebenes Buch hinterlassen. Das war sein Traum. Er hat ihn verwirklicht. Drei Bücher sind von ihm erschienen, das dritte, glaube ich, war aber ein verkappter Eigendruck. „Als Fußlapp in der Klemme saß“, ein Jugendbuch, ist aber im damals bekannten Dortmunder Schaffstein-Verlag erschienen und fand in einigen Rezensionen weit über die Stadt hinaus Beachtung. Ich glaube, Paul Polte hatte ihm den Kontakt vermittelt.

4. Kurt Piehl

Kurt Piehl habe ich erst nach meiner Werkkreiszeit kennen gelernt. Ich war damals Sprecher der VS-Bezirksgruppe Dortmund/Südwestfalen, als er dazu stieß. Er wohnte in Bergkamen, kam zu unseren Treffen in Dortmund mit dem Zug angereist, bei der Rückfahrt habe ich ihn oft mitgenommen und an der Oberadener Jahnstraße, wo er an einer Kreuzung wohnte, abgesetzt.

Wer etwas über die Edelweißpiraten erfahren will, jene Widerstandsgruppe, die im Dortmunder Norden und in anderen Städten eine freie Jugendkultur gegen die Naziideologie setzte, muss Piehls Bücher lesen. „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, sein erstes, ist auch sein wichtigstes. Lieber wollten Jugendliche wie Kurt Piehl „rumlatschen“ als für die Nazis marschieren, sie schwänzten die HJ-Veranstaltungen und gerieten mehr und mehr, nicht durch heimlich operierende Organisationen, sondern vielmehr aus eigenem, spontanen Antrieb heraus, in Opposition zu Hitler. Im Grunde sind die „Latscher“ so etwas wie die proletarische Antwort auf die bürgerlichen „Flaneure“, wie sie in den Zwanziger Jahren in der Literatur so modern waren.

Kurt Piehls Buch "Latscher, Pimpfe und Gestapo", erschienen bei Brandes & Apsel.

Kurt Piehls Buch „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, erschienen bei Brandes & Apsel.

Einige der Edelweißpiraten haben, erst sechzehn- oder siebzehnjährig, ihre Einstellung mit dem Leben bezahlt. Sie wurden hingerichtet. Piehl wurde auch gefasst und in die berüchtigte Dortmunder Steinwache gesteckt, in der vor ihm, in den Dreißiger Jahren, auch Paul Polte gesessen hatte. Piehl wurde schwer misshandelt, wovon die tiefen Narben in seinem Gesicht zeugten. Er hat über diese Misshandlungen nicht reden können, weder mit seiner Frau noch mit seiner Tochter Gabriele, die eine Schulfreundin von mir war. Er hat sich hingesetzt und aufgeschrieben, was ihm angetan worden war. Irgendwann hat ihn seine Tochter darauf angesprochen. „Ist das eine Biographie, die du da schreibst?“ Kurt Piehl hat nur genickt.

Über den Dortmunder Geschichtsprofessor Hans Müller kam das Manuskript zu Horst Hensel, der für Piehl einen Verlag besorgte, Brandes & Aspel. Dort sind noch zwei weitere Bücher erschienen, die das Schicksal der Edelweißpiraten nach dem Krieg schilderten. Jener brutale Quäler, der Piehl misshandelt hatte, ist später nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen worden, ein Vorgang, der Piehl verbittert hat. Piehl war Arbeiter in einem Baugeschäft und aktiv in der IG Bau, Steine, Erden, die seine Publikationen gefördert hat.

Wie Rudolf Trinks war er ein stiller Kollege, der selten das Wort ergriff, der die VS-Bezirksgruppe aber einmal zu einer Führung durch die Steinwache einlud und uns dort anschaulich erzählte, wie die Gefangenen unter den Nazis misshandelt wurden.

1994 folgte er seiner Tochter nach Schleswig-Holstein, zog in die Nähe von Lübeck, wo er im Jahre 2000 gestorben ist.

Eine meiner Kolleginnen am Städtischen Gymnasium Bergkamen hat im Rahmen einer Projektwoche sein Leben und seine Literatur aufarbeiten lassen. So gab es noch mal einiges an Aufsehen, Zeitungsartikel erschienen und Piehls Bücher wurden wenigstens von einigen wieder gekauft.

Jahre später hat auch die Stadt auf ihn und seine Literatur reagiert und eine kleine Straße nach ihm benannt. Zur Eröffnung der „Kurt-Piehl-Straße“ durch den Bürgermeister bin ich eingeladen worden und habe bei dieser Gelegenheit Kurt Piehls Tochter, meine frühere Schulfreundin Gabriele, nach mehr als vierzig Jahren wiedergesehen.

Die Straße liegt in unmittelbarer Nähe zum KZ in Bergkamen. Dort, im Oberlinhaus, das heute von der freikirchlichen Gemeinde genutzt wird, sind 1933 für ein Jahr über tausend politische Häftlinge von den Nazis eingesperrt und misshandelt worden. Auch ein Peuckmann war darunter, wie ich mal in einer Liste entdeckt habe. An die Nazis erinnert nur eine Gedenktafel, die den Abscheu der Bergkamener vor den verbrecherischen Taten ausdrückt. An Kurt Piehl, ihren jugendlichen Gegner, aber erinnert eine ganze Straße.




Er war (und bleibt) wirklich der Größte – zum Tod des legendären Boxers Muhammad Ali

Cassius Marcellus Clay jun. – Nachgeborenen besser als Muhammad Ali bekannt -, dessen lautsprecheriges „I am the greatest!“ noch heute wie der Schrei einer Graugans gegen ein kleingeistiges und doch so übermächtiges Establishment in meinen Ohren klingt, ist tot.

„I am the greatest“ ließ er jeden vor seinen Kämpfen wissen, und hernach wiederholte er sein Credo auf die eigene Kraft, so als wollte er beweisen, dass er doch wieder einmal recht hatte.

Höchst selbstbewusst: Muhammad Ali im Jahre 1967. (World Journal Tribune Collection - Library of Congress, Foto Ira Rosenberg - Wikimedia Commons)

Höchst selbstbewusst: Muhammad Ali im Jahre 1967. (World Journal Tribune Collection – Library of Congress, Foto Ira Rosenberg – Wikimedia Commons)

Der Mann, der die bis dahin geltende Regel des „They never come back“ (Ausnahme Floyd Patterson) im Profi-Boxsport gleich dreimal außer Kraft setzte, der 1960 in Rom die Olympische Goldmedaille im Schwergewicht holte, der 56 seiner Profi-Kämpfe gewann und davon 37 durch Knockout (manche so schnell, dass der Kampf schon beendet war, ehe man schlaftrunken den Fernseher einschaltete), dieser Cassius Clay ist am 3. Juni 2016 in einem Krankenhaus in Scottsdale (Arizona) gestorben. 1984 war bei dem „Sportler des Jahrhunderts“ (Wahl des IOC) die Erkrankung am Parkinson-Syndrom diagnostiziert worden. Akut litt er an Atemnot, die im Hospital behandelt wurde.

Kriegsdienst in Vietnam verweigert

Muhammad Ali und seine Bedeutung für die amerikanische Gesellschaft allein aufs Sportliche zu reduzieren, empfände ich als unangemessen. Mitten in der Zeit emanzipatorischer Auseinandersetzungen zwischen Bürgerrechtlern und Rassisten wurde der schlaksige Jüngling Olympiasieger. Mitten in die übelste Phase des Vietnamkrieges fiel sein schier unaufhaltsamer Aufstieg im Profigeschäft. Mitten in diesen Aufstieg des Cassius Marcellus Clay, den seine Eltern nach einem mutigen Politiker und Gegner der Sklaverei nannten, verweigerte er die Ableistung des Kriegsdienstes, was ihm das abrupte Ende seines Aufstiegs einbrachte. „Nein, ich werde nicht 10.000 Meilen von zu Hause entfernt helfen, eine andere arme Nation zu ermorden und niederzubrennen, nur um die Vorherrschaft weißer Sklavenherren über die dunkleren Völker der Welt sichern zu helfen.“ Klare Worte des als großmäulig berüchtigten Ali.

1967 wurde ihm der Weltmeistertitel aberkannt. Schon 1964, nach dem legendären Sieg gegen Sonny Liston, war er zum Islam konvertiert, war Muhammad Ali geworden.

Aber er kam wieder. Blieb seiner eigenen Unverwüstlichkeit treu. Ließ sich und seine Überzeugungen nicht durch staatsgewaltige Eingriffe in den Sport und dessen emanzipatorische Einflüsse auf die Stimmungen einer Gesellschaft bremsen. Cassius Marcellus Clay, dieser Name gefiel mir immer besser und er blieb kennzeichnend für sein Leben und seine Nachwirkungen, er holte sich seine Titel zurück. Wollte 1980 sogar das vierte Comeback erreichen. Sein früherer Sparringspartner Larry Holmes war der Gegner. Doch der war für den von der Krankheit schon Gezeichneten nicht mehr zu bezwingen. Ein Jahr später schlug der letzte Gong gegen Trevor Berbick, ein „Drama auf den Bahamas“ sollte es werden, aber es wurde das nur selten vom begnadeten boxerischen Können unterbrochene Ende einer glanzvolle Karriere – Niederlage nach Punkten.

An zweierlei Szenen mag ich mich erinnern, wenn ich an ihn denke. Das Bild, das ihn nach dem „Rumble in the Jungle“ in Kinshasa zeigt, atlethisch und kraftvoll über den völlig erschöpften George Froreman gebeugt. Und das bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1996, als der hinfällige Gigant in Atlanta die Flamme entzündet, die Hände sichtbar vom Tremor gezeichnet, aber ein Bild, das die Unbeugsamkeit spiegelt, die Muhammad Ali auszeichnete.

Er war und bleibt „der Größte“.




„Ich träume davon, dass die Sache gut ausgeht“ – zum 25. Todestag des Publizisten Walter Dirks

Walter Dirks, geboren 1901 in Hörde (seit 1928 Stadtteil von Dortmund), ist vor 25 Jahren, am 30. Mai 1991, in Wittnau bei Freiburg gestorben. Er war ein Querdenker, ein wichtiger Publizist der zweiten Hälfte des vergangen Jahrhunderts. Er verzagte nicht, obwohl seine Utopien als „christlicher Sozialist“, der nach 1945 die hessische CDU mitgründete, nie eine Chance hatten, verwirklicht zu werden.
Unserem Gastautor Horst Delkus gab Walter Dirks, der spätere Ehrenbürger der Stadt Dortmund, am 13. Marz 1988 eines seiner letzten Interviews. Wir veröffentlichen es hier in Auszügen:

Die gesammelten Schriften von Walter Dirks sind im Zürcher Ammann Verlag erschienen. (Bild: Ammann Verlag/ZVAB)

Die gesammelten Schriften von Walter Dirks sind im Zürcher Ammann Verlag erschienen. (Bild: Ammann Verlag/ZVAB)

Herr Dirks, Sie sind jetzt 87 Jahre alt. Was ist Ihre vorherrschende Gemütsbewegung?

Ich muss leider gestehen, dass meine Grundempfindlichkeit Dank ist. Das ist sehr schwer zu verantworten vor den vielen Opfern der Geschichte, vor den vielen Leidenden in aller Welt und vor den ungelösten Problemen. Ich müsste also eigentlich entweder resigniert oder verzweifelt sein. Aber ich habe so viel Gutes erfahren in meinem Leben, von Menschen und vom lieben Gott, dass ich bekennen muss, dass das Grundgefühl Dankbarkeit ist.

Woher rührt dieses Grundgefühl?

Aus den guten Erfahrungen, die ich mit dem Leben gemacht habe. Trotz der großen Schwierigkeiten, die es manchmal gab. Ich habe einen großartigen Start gehabt durch meine Eltern und meinen Großvater. Ich habe einen etwas komplizierten Jugendweg gemacht, aber das ging dann durch die Jugendbewegung gut aus, diese kritische Jugendzeit. Und ich habe beruflich Erfolg gehabt und niemals ernsthafte Schwierigkeiten.
Ein Sonderkapitel ist das Dritte Reich. Das war natürlich eine sehr schwierige Zeit, aber sie ist ja überwunden worden. Ich kann da nicht gegen an, gegen diese Dankbarkeit. Sie überfällt mich stufenweise. Dazwischen habe ich auch Perioden, in denen ich auch deprimiert bin.

Wie sah ihr Lebensweg aus?

Zunächst die Kindheit in Hörde selbst. Mein Großvater war ein „Bauerndemokrat“, ein Bäcker-Bauernsohn, der uns beibringen wollte, dass der 1868 Krieg zwischen Österreich und Preußen falsch verlaufen sei, weil leider nicht die Österreicher gewonnen hätten sondern die militaristischen Preußen in Berlin. Meine Mutter war eine Sozialarbeiterin, eine der ersten Fürsorgerinnen der Stadt Dortmund. Sie hat mich sehr in die sozialen und sozialpolitischen Aspekte des Lebens eingeführt und mich auch in Verbindung gebracht mit der Arbeiterschaft in Hörde. Das hat mich mein ganzes Leben lang geprägt.

Bildung gegen die Schule

Es war eine schöne Jugendzeit, obgleich die Penne eine Last für mich gewesen ist. Ich war dort auf dem Königlichen Gymnasium an der Lindemannstraße. Mein Schulfreund und ich haben uns eigentlich gegen die Schule gebildet. Das war auch eine großartige Erfahrung, dass wir in der Musik, in der Literatur unsere eigenen Wege gegangen sind. Die Schule war gleichsam so die Wand, gegen die wir unsere Bälle warfen. Wir fingen sie wieder auf und so kamen wir weiter.
Schwierig war es mit der Sexualmoral der römisch-katholischen Kirche. Die hat mich sehr geplagt. Und ich nehme an, dass die Tatsache, dass ich gestottert habe, mit diesem Problem zu tun hatte. Ich war ein sehr frommer Junge und wurde mit den Sexualproblemen nicht fertig. Das hat mich sehr irritiert.
Dann war die Jugendbewegung selbst für mich entscheidend. Die hat auch bewirkt, dass das Stottern aufhörte, dass ich ein anderes Lebensgefühl bekam. Die hat mich also aufgewühlt bis dort hinaus. Das war ja ein Umbruch, vor allem die antibürgerliche Komponente. Nach dem Krieg gab es auch eine katholische Jugendbewegung. Das war ein Reifungsprozess und ein großer Wandlungsprozess. Der hat mich auch in meinen Beruf geführt: Während ich vorher ein Stotterer war, wurde ich ein Journalist, das heisst, einer der sich einmischt, der mit seiner Rede und mit seinem Wort die Welt verändern will.
Mein erster Beitrag in dieser jugendlichen Presse hieß „Vom Westen“, um den Bayern und Hessen und den Schlesiern klar zu machen, dass wir im Ruhrgebiet ein anderes Lebensgefühl hatten als die Süddeutschen und die Ostdeutschen, durch die Industrielandschaft und das, was sie uns zumutete.

„Grüne vor den Grünen“

Gab es damals eine Aufbruchstimmung?

Unbedingt! Schon dass sich die Jugendbewegung entschieden als Bewegung verstand und nicht als Organisation. In gewisser Hinsicht sind wir sozusagen Grüne vor den Grünen gewesen. Das fing ganz bescheiden an, dass wir eben auf Wanderungen sorgfältig unser Butterbrotpapier versteckten im Waldboden, um den Wald nicht zu entweihen. Dann eben die Naturnähe zu den Pflanzen und zu den Tieren. Sodann eine Verhalten, das auf Änderungen zielt, auf Reformen. Eine Orientierung weniger auf die Vergangenheit als auf die Zukunft.
Wir waren geneigt, den Kapitalismus sehr gründlich zu kritisieren. Und wir dachten schon damals in Richtung auf einen freien Sozialismus, einen demokratischen Sozialismus, auf eine Überwindung des Klassenkampfes durch eine radikale Reform der Gesellschaft. Und der Gedanke des Friedens hat uns sehr beschäftigt. Es ging ja auch damals darum, den Ersten Weltkrieg zu „verdauen“.

Die Endlichkeit der Nazizeit

Wie haben Sie als Journalist in der Nazizeit mit Anstand überwintern können?

Ich war überzeugt, dass das Regime zwar einige Zeit dauern würde, aber dass es sich nicht auf Dauer halten könne. Das hatte drei Ursachen. Einmal das Stück Naturrecht: Der liebe Gott hat die Menschen nicht zu Katastrophen bestimmt. Die menschliche Natur ist nicht so, dass sie so eine verrückte Diktatur so auf die Dauer aushält. Das war zweitens mein christlicher Glaube an den Heiligen Geist, der die Menschheit auch nicht endgültig verlassen werde und drittens das, was ich vom Marxismus gelernt habe, dessen Geschichtstheorien, dessen politische Theorie. Diese Dinge haben sich sehr verbündet miteinander und deswegen war ich immer sicher, dass es zu Ende gehen würde.
Gerade diese Haltung hat mir auch eine gewisse Bewegungsfreiheit gegeben, denn es würde ja zu Ende gehen. Deswegen war meine Formel, wir müssen versuchen mit Anstand zu überleben. Das ist mir in weitgehendem Maße, aber doch nicht völlig gelungen. Ich meine, dass es meine Aufgabe wäre, auch meine Fehler und meine Schwächen von damals aufzudecken. Es gehört sich, dass man die Karten auf den Tisch legt.
Da ist auf der einen Seite die Periode bei der „Frankfurter Zeitung“. Die glaube ich rechtfertigen zu können. Die Nazis verlangten nicht von uns, dass wir Nazis waren. Aber riskiert haben wir im Feuilleton auch nicht allzu viel. Als die Zeitung geschlossen wurde, gehörte ich zu den elf Leuten, die Berufsverbot bekamen, während die anderen an andere Zeitungen vermittelt wurden.

Journalismus ist im Kern Kritik

Zurückblicken können Sie auf eine jahrzehntelange journalistische Tätigkeit. Wie würden Sie Ihr journalistisches Selbstverständnis beschreiben?

Ich hab dafür einmal eine Formel gefunden: Das Geld der Macht, der Reiz der Macht, der Erfolg der Macht, die Macht der Macht u n d `ne gute Presse – das ist zu viel verlangt. Der Kern des Journalismus ist für meinen Begriff „Kritik“. Kritik an der ersten, zweiten und dritten Gewalt. Vielleicht noch mit einem anderen zusammen: „Vermittlung“. Das dämpft ein wenig die Einseitigkeit der Kritik. Diese zweite Funktion erscheint mir, darin zu bestehen, dass sie dem Publikum, dem einzelnen Menschen, dem Staatsbürger helfen soll, unabhängig machen soll von dem Fachmann, sie schützen soll vor der Übermacht der Experten.
Journalisten sind Vermittler zwischen der Wissenschaft, zwischen dem, was auf anderen Gebieten Experten sagen und dem kleinen Mann. Das ist so eine produktive Funktion neben der kritischen, wobei es natürlich eine Arbeitsteilung geben kann: Der eine Journalist hat mehr die eine Funktion auf sich genommen, der andere die andere.

Sie haben viele Niederlagen erlebt. Warum hat sie das nicht völlig entmutigt?

Wir sind mehrere Male gescheitert: 1933, 1945, mit der Währungsreform, wir haben Adenauer nicht verhindern können. Die Versuchung ist, dann zu sagen: Es war alles für die Katz! Das bringe ich aber nicht fertig, dieser Versuchung Raum zu geben. Ich habe immer mit dem Bösen und den negativen Möglichkeiten gerechnet. Das hab ich aber in der Schule schon gelernt, dass man kämpfen muss für das Gute gegen das Böse. Ein elementare Grundmoral. Und die möchte ich durchhalten bis zum Schluss. Optimismus hat eine Menge von Gefahren in sich: Gleichgültigkeit, Tatenlosigkeit, falsche Zufriedenheit und so weiter. Aber ich bin einer, der auf die gute Karte setzt. Und dabei möchte ich bleiben. Ich träume davon, dass die Sache gut ausgeht!




Was aus dem Arabischen Frühling wurde – „Zawaya“ aus Kairo bei den Ruhrfestspielen

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Der Stuhl des Sprechers ist noch leer. (Foto: Tamer Eissa/Ruhrfestspiele)

Richtig, die Ruhrfestspiele haben ja ein Motto! „Mare nostrum“ lautet es, lateinisch für „unser Meer“, und den Aktualitäten Tribut zollend noch mit einem Fragezeichen versehen. Die meisten Produktionen allerdings, die während des Festivals zur Vorführung gelangen, haben keinen Bezug zu den Ereignissen an eben jenem Meer, die man vor wenigen Jahren euphorisch als Arabischen Frühling bezeichnete und die vielerorts zu Krieg und Chaos führten. Natürlich handeln sie von Konflikten, auch von blutigen, doch sind sie auf die eine oder andere Weise mediterran, was dem Unterhaltungswert der Ruhrfestspiele sicherlich guttut.

Berichte „von der Straße“

Ein Stück wie „Zawaya. Zeugnisse der Revolution“ nun, das am Wochenende im Kleinen Haus gezeigt wurde, ist illusionslos aktuell und wirkt hier deshalb fast ein wenig fremd. Die knapp anderthalbstündige Produktion der Compagnie El Warsha Kairo läßt Zeugen und Teilnehmer der Arabellion zu Wort kommen, die von ihren schlimmen Erlebnissen berichten, von Gewalt, Tod und Leichen. Gesucht wird nichts Geringeres als die Wahrheit. Das Arbeitsprinzip der Gruppe, so ist zu lesen, besteht darin, sich authentische Originaltöne „auf der Straße“ zu holen und sie zu Texten zu formen, die von Schauspielerinnen und Schauspielern gesprochen werden.

Gewaltbereiter Fußballfan

Mit dieser Vorgabe formte sich auf der Bühne ein originelles Personal. Neben der Mutter eines getöteten Sohnes, deren Teilnahme nicht verwundert, treten berichtend auch ein gewaltbereiter Fußball-Ultra und ein Spitzel des Regimes auf. Alle fünf (ein Offizier und eine Krankenschwester sind noch zu nennen) berichten sie von ihren traumatisierenden Erlebnissen, die damals auf dem Tahrir-Platz ihren Ausgang nahmen. Nacheinander treten sie auf, zwischen ihren Monologen singt der Musiker Yasser El Magrabi Lieder, die das Vaterland preisen und die Umstände beklagen. Wir entnehmen dies der Videoübertextung, denn alles an diesem Abend läuft in arabischer Sprache. Und wahrscheinlich wäre ein Vortrag in Deutsch besser gewesen.

Nichts geht ohne Übertitelung

Der Verständnis-Umweg über das Textelesen nämlich schafft eine erhebliche Distanz zum Bühnengeschehen, zumal dort außer Reden reinweg gar nichts geschieht, was man ohne Sprachkenntnis verstehen könnte. Alle sitzen brav auf ihren Stühlen, bis sie an die Reihe kommen. Und dann sitzen sie auf dem Erzählerstuhl vorn an der Rampe. So registrieren wir natürlich Aufgewühltheit, Erschütterung und Trauer der Darsteller, doch erreicht das alles kaum die Intensität alltäglicher Tagesthemen-Features aus den betroffenen Ländern. Des öfteren schaut man auf die Uhr.

Oral History

Wir sind, kleiner Gedanke am Rande, im Strom der niemals endenden Horrornachrichten abgestumpft, uns bringt so schnell nichts aus der Fassung. Deshalb mag der Ansatz des Regisseurs Hassan El Geretly als Oral-History-Projekt funktionieren, für ein Theaterstück ist er jedoch arg mager. Doch möge sich das Publikum auf weitere „migrantische“ Stoffe freuen, die in diesem Jahr vorwiegend im Kleinen Haus behandelt werden. Nächste Premiere ist hier als Koproduktion von Ruhrfestspielen und Schauspiel Frankfurt eine „Odyssee“ (Regie: Therese Willstedt), in der selbstverständlich auch wieder Flüchtlingsströme strömen werden.

Übrigens:

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Die Kunstausstellung ist traditionsreicher Bestandteil der Ruhrfestspiele. In der Kunsthalle Recklinghausen zeigt jetzt Fabrizio Plessi Arbeiten unter dem Titel „Feuer und Wasser“. Plessi stellte 1970 erstmals bei der Biennale von Venedig und 1987 auf der Documenta 8 aus. Mitte der 70er Jahre entstanden erste raumgreifende Video-Installationen, in denen er Monitore in skulpturale Bildträger verwandelte. – Kunsthalle Recklinghausen, Große Perdekamp-Str. 25-27. Di bis So 11-18 Uhr Eintritt: 5,00 € / 2,50 € (ermäßigt). (Foto: Ruhrfestspiele)




Weltweit für verfolgte Autoren eintreten – zur Jahrestagung der deutschen PEN-Schriftsteller

Als Gastautor berichtet der Dortmunder Schriftsteller Heinrich Peuckmann von der PEN-Jahrestagung in Bamberg – und gibt einen Ausblick auf die nächste Zusammenkunft der Schriftstellervereinigung, die 2017 in Dortmund stattfinden wird. Heinrich Peuckmann ist selbst Mitglied des PEN.

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Die Ressourcen werden knapper, die Verteilungskämpfe härter, die sozialen Konflikte spitzen sich zu. Regierungen, besonders Diktaturen, denen dazu keine oder nur unzureichende Lösungen einfallen, haben immerhin noch die Möglichkeit, ihre Kritiker zu verfolgen. Und das tun sie.

Über 800 Autoren, Journalisten und zunehmend auch Blogger stehen im Moment auf der Case-List des internationalen PEN, weil sie in ihren Heimatländern im Gefängnis sitzen, gefoltert werden oder sogar mit dem Tode bedroht sind.

Bedrohliche Lage in der Türkei

Im Schatten dieser beängstigenden Zahl fand die Jahrestagung des PEN in der Weltkulturerbe-Stadt Bamberg statt. Das Motto der Tagung, von Jean Paul entliehen, bekräftigte den Kampfeswillen der gut 150 Autoren, die nach ihrer Charta der Freiheit des Wortes verpflichtet sind und den bedrückenden Zustand nicht hinnehmen wollen: „Eine Demokratie ohne ein paar hundert Widersprechkünstler ist undenkbar.“

Hauptschauplatz der nächsten PEN-Tagung im April 2017: das "Dortmunder U" - hier im Hintergrund. (Foto: Bernd Berke)

Hauptschauplatz der nächsten PEN-Tagung im April 2017: das „Dortmunder U“ – hier im Hintergrund. (Foto: Bernd Berke)

Begleitet werden die Sitzungstage des PEN stets von einem literarischen und politischen Begleitprogeramm. Die Eingangsveranstaltung beschäftigte sich diesmal mit der Verfolgung der türkischen Journalisten Can Dündar und Erdem Gül, die veröffentlicht hatten, dass der türkische Geheimdienst Waffen nach Syrien, und dabei womöglich an den IS, geschmuggelt haben soll. Der deutsche PEN hatte die beiden schon vor dem Treffen zu seinen Ehrenmitgliedern ernannt, so dass Strafen gegen sie nun auch Strafen gegen Mitglieder des PEN sind.

Unter der Moderation des Rundfunkredakteurs und Autors Harro Zimmermann diskutierten der „Writers-in-Prison-Beauftragte“ und Vizepräsident Sascha Feuchert und der inzwischen aus der Türkei ausgewiesenen Spiegel-Redakteur Hasnain Kazim ausführlich die bedrückende Situation für kritische Journalisten und Schriftsteller in der Türkei.

Gegen den Blasphemie-Paragraphen

In einer anderen Veranstaltung mit dem Titel „Befreit Gott von den Gläubigen“ diskutierten u.a. der Bundesrichter und Spiegel-Kolumnist Thomas Fischer und der Philosoph Christoph Türcke über den §166 zur Blasphemie, dessen Abschaffung am Ende der Veranstaltung von allen Beteiligten gefordert wurde. Fischer führte stringent aus, dass §130 (Volksverhetzung) ausreiche, um die Störung der öffentlichen Ordnung durch Beleidigung und Herabsetzung auch der Religion zu bestrafen.

Der deutsche PEN ist der einzige von insgesamt 130 PEN-Clubs in aller Welt, der ein eigenes „Writers-in-Exile“-Programm hat. Acht verfolgte Autoren leben als Stipendiaten derzeit in seinen Wohnungen in verschiedenen deutschen Städten. Nach Gefängnis, Verfolgung, Todesdrohung können sie hier zwei Jahre Ruhe finden und wieder schreiben. Diese Stipendiaten sind natürlich auch Gäste bei den Jahrestagungen und werden stets dem Plenum vorgestellt.

Natürlich spielt auch die Literatur eine Rolle, und hier gibt es seit drei Jahren den schönen Programmpunkt, dass die neuen Mitglieder, die bei der vorangegangen Jahrestagung neu in den PEN gewählt wurden, sich mit einer Kurzlesung vorstellen. Diesmal waren bekannte Autoren und Kritiker wie Antje Ràvic Strubel, Sigrid Löffler oder Anne Mehlhorn darunter.

88 vorwiegend jüngere Autoren kommen hinzu

Die Neuwahlen waren in diesem Jahr ein Knackpunkt, denn das Präsidium hatte im Vorfeld festgestellt, dass von den jungen Autoren, die sich im Literaturbetrieb längst einen Namen gemacht haben, viel zu wenige Mitglieder im PEN sind. So hat denn das Präsidium selbst, was absolut ungewöhnlich ist und nur einmal vor vielen Jahren, als Heinrich Böll noch PEN-Präsident war, vorgekommen war, eine umfangreiche Liste mit achtundachtzig Autoren vorgelegt, die dann tatsächlich alle gewählt wurden. Man wollte eine Lücke schließen und einer Überalterung vorbeugen, unter der viele Verbände (nicht nur im Kulturbereich) leiden. Autorinnen und Autoren wie Albert Ostermaier, Jenny Erpenbeck, Gabriele Krone-Schmalz, aber auch der Dortmunder Jörg Albrecht sind darunter.

Vorfreude auf Dortmund

Daraus ergibt sich sich nun für die Jahrestagung 2017 die Notwenigkeit einer langen Literaturnacht mit Parallellesungen an verschiedenen Plätzen, um diese schöne Einrichtung beibehalten zu können. Diese nächste PEN-Jahrestagung wird von 27. bis 30. April 2017 in Dortmund stattfinden, weshalb Kulturdezernent Jörg Stüdemann nach Bamberg gekommen war, um die Stadt in einem ebenso launigen wie informativen Vortrag vorzustellen. Nach diesem Vortrag gab es viel Zustimmung, die PEN-Autoren freuen sich auf Dortmund. Haupttagungsort wird das Dortmunder „U“ sein, aber es werden auch Veranstaltungen im Depot im Dortmunder Norden und im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte stattfinden.

Dabei soll die literarische Tradition dieser Stadt aufgegriffen werden. Die „Dortmunder Gruppe 61“ mit Autoren wie Max von der Grün, Günter Wallraff oder Josef Reding wurde hier gegründet und beschäftigte sich mit dem Thema Arbeitswelt zu einer Zeit, als es in der übrigen Literatur so gut wie gar nicht auftauchte. Später wurde dieser Schwerpunkt vom „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“, der viele Jahre im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus tagte, fortgesetzt.

Neuer Blick auf soziale Konflikte

Dass es längst wieder Zeit ist, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen, zeigen die vielen sozialen Konflikte im Land. Zu diesem Punkt gab es ein großes Einvernehmen unter den PEN-Autoren, denn viele finden, dass es längst Zeit ist, sich wieder neu diesem Thema zuzuwenden.

Das Motto der Dortmunder Tagung, zu der auch NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ihr Kommen zugesagt hat, geht natürlich auf einen Dortmunder Autor zurück. Peter Rühmkorf wurde in dieser Stadt geboren und er äußerte zum politischen Engagement eines Autors „Bleib erschütterbar und widersteh.“ Fast so etwas wie ein Dauerauftrag an den PEN.

Die Dortmunder Jahrestagung soll durch verschiedene Veranstaltungen vorbereitet werden, damit das Anliegen schon vor dem Kommen der vielen Autoren den Kulturinteressierten der Stadt bekannt ist. Beispiel: Der kolumbianische Stipendiat Erik Allena Bautista, ein Filmemacher und Lyriker, soll im Herbst seine Arbeiten im Literaturhaus vorstellen. Seine Mutter wurde in Kolumbien getötet, er selber wurde nach kritischen Filmen über die Mafia gesucht. Nun lebt er als Writer-in-Exile in Hamburg. Dazu soll es eine Lesung mit einem prominenten PEN-Autor geben.




Werden wirklich viele alte Menschen arm sein?

Im Herbst 2017 wird es wieder Wahlen zum Deutschen Bundestag geben, und schon hört man im Hintergrund das Säbelrasseln. Die CSU möchte die zukünftigen Rentner beglücken und weiß die Sozialdemokraten an ihrer Seite. Mit der Behauptung, im Alter sei fast die Hälfte der Mitbürger von Armut bedroht, wird der Ruf nach einer Rentenreform auf Kosten der jetzt noch berufstätigen Generationen laut.

Aber stimmt das wirklich? Werden tatsächlich so viele Menschen im Alter arm sein? Dietrich Creutzburg ist jetzt dieser Frage in der Samstagausgabe der FAZ nachgegangen, und er nennt sein Ergebnis „Das Märchen von der Altersarmut“. Zumindest nachdenken kann man über seine Berechnungen.

Zwei Rentner im Park. (Foto Fischer-Pöpsel)

Zwei Rentner im Park.
(Foto Fischer-Pöpsel)

An dieser Stelle sollen einmal nur die von Creutzburg genannten Zahlen zur Diskussion stehen: Nach dem aktuellen Rentenbericht und der Prognose der Ministerin Andrea Nahles werden die Renten bis 2029 bei angenommener jährlicher Steigerung von 2 Prozent um insgesamt rund 41 Prozent steigen.

Im vergleichbaren Prognose-Zeitraum, nämlich in den vergangenen 15 Jahren, haben sich die Verbraucherpreise um insgesamt etwa 25 Prozent erhöht. Wenn diese Entwicklung so fortgeschrieben wird, „werden die Renten 2029 auch real, also preisbereinigt, 15 Prozent mehr wert sein als heute“, schreibt Creutzburg. Eine Durchschnittsrente von 1000 Euro steigt also nach Nahles‘ Prognose bis 2029 auf 1400 Euro, in heutigen Preisen gerechnet also auf einen Wert von 1150 Euro. „Verschärfte Altersarmut folgt daraus nicht“, schreibt der Autor.

Aber es gibt doch jetzt schon so viele Mini-Renten, rufen die Sozialverbände. Horst Seehofer hat sogar vermutet, dass bald „die Hälfte der Bürger“ auf Grundsicherung angewiesen sein könnte.

Auch dazu nennt Creutzburg Zahlen: Zur Zeit seien nur etwa 3 Prozent der Bürger über 65 Jahre auf Grundsicherung angewiesen. Natürlich sei der Anteil der Rentner, die nur eine kleine gesetzliche Rente erhalten, deutlich höher als 3 Prozent. Das habe aber meist andere Gründe – Beamte zum Beispiel, die neben ihrer Versorgung aus früheren Tätigkeiten eine gesetzliche Minirente beziehen, oder Ärzte, Anwälte und andere Berufsgruppen, die Versorgungswerken angehören. Auch werde in manchen Berechnungen bei Ehepaaren mit ungleichem Einkommen der Partner mit dem geringeren Einkommen automatisch als arm gewertet, „auch wenn der Haushalt finanziell gut ausgestattet ist“.

Es lohnt sich also meines Erachtens, auch in so schwierigen Fragen wie der Altersversorgung auf die Fakten zu achten, ohne das Schicksal der wirklich armen Mitbürger aus den Augen zu verlieren.




Nüchterner Blick auf die Ursachen und Folgen der „Flüchtlingskrise“

Kaum ein Problemfeld ist so stark von Emotionen geprägt oder genauer mit ihnen belastet wie die sogenannte Flüchtlingskrise.

Oft naive Hilfsbereitschaft auf der einen Seite, starke Ablehnung oder nur leichte Überfremdungsängste auf der anderen Seite bestimmen die Diskussion in Europa, seitdem Millionen Menschen aus Krisen- und Armutsgebieten in die reiche Europäische Union migrieren. In dieser Situation tut eine Versachlichung, wie sie der Politikwissenschaftler Stefan Luft jetzt vorgelegt hat, sehr gut.

Fluecht

In der Taschenbuchreihe Beck Wissen fasst der bereits einschlägig mit ähnlichen Veröffentlichungen hervorgetretene Bremer Privatdozent „Ursachen, Konflikte und Folgen“ der massenhaften Wanderung von Menschen in aller Welt zusammen, natürlich mit dem Schwerpunkt der Flüchtlingsströme nach Mitteleuropa seit dem Spätsommer 2015.

Stefan Luft liefert klare Definitionen der einzelnen Migrationsgruppen und bedient sich auch zahlreicher Statistiken. Er relativiert damit so manche in der Größenordnung überschätzte Zuwanderer-Zahl. Weltweit, zum Beispiel, beträgt der Anteil der grenzüberschreitenden Migration nur 0,6 Prozent der Bevölkerung. Das soll aber auch bei Luft nicht heißen, dass die derzeitige Situation in Deutschland zum Beispiel problemlos wäre.

Der Privatdozent geht auch auf die emotionale Belastung der Bevölkerung in den Aufnahmeländern ein. Er kritisiert, dass die Politik in der EU im vergangenen Jahr trotz deutlicher Hinweise der UNO nicht rechtzeitig reagiert hat, und er sagt auch, dass ein Gelingen von Integration ganz deutlich von der Größe der zugewanderten Gruppe abhängt. Das kann man auch als Argument für eine sogenannte „Obergrenze“ lesen.

Auch auf die Rolle der Religion geht der Wissenschaftler ein, und in seinem Ausblick referiert er die Forderungen des UNHCR: Genau wie zum Beispiel in der Verteidigungspolitik müsse es dringend einen europäischen Konsens über die Aufnahme und Integration derjenigen Migranten geben, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren können oder die nicht in andere Länder umgesiedelt werden, zum Beispiel nach Kanada oder in ähnliche Zielgebiete. „Die Unterstützung durch ökonomisch starke Staaten ist in jedem Fall unumgänglich“ schreibt er, und das heißt: Es wird sehr viel Geld benötigt.

Stefan Luft: „Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen“. Reihe Beck Wissen, München 2016. 128 Seiten, 8,95 €




Lebenspralle Literatur: Anton Kalt und der „Hasenkuckuck“ aus Dortmund-Aplerbeck

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen lesenswerten, heute aber nahezu unbekannten Schriftsteller aus dem 1929 nach Dortmund eingemeindeten Aplerbeck:

Mitte der 1970er gab es in Unna eine denkwürdige Lesung aus dem wohl besten Buch, das der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ in seiner damals stark beachteten Fischer-Taschenbuchreihe jemals herausgegeben hat. „Der rote Großvater erzählt“ hieß dieses Buch und vereinigte Geschichten von Siegen und Niederlagen der Arbeiterbewegung, dargestellt an Einzelschicksalen.

Gleich drei Autoren dieses Bandes lasen ihre Geschichte in Unna vor. Da war zuerst Bruno Gluchowski, wichtiger Autor der „Dortmunder Gruppe 61“ und dem Werkkreis freundschaftlich verbunden, dessen Romane „Blutiger Stahl“ und „Der Honigkotten“ nicht eigens empfohlen werden müssten, wenn im Literaturbetrieb Bücher über die Arbeitswelt nur ein wenig Beachtung fänden.

GroßvatGluchowski las seine Geschichte „Der Fliederbusch bleibt rot“, in der sich 1932 eine Arbeitersiedlung in Dortmund erfolgreich gegen eine Demonstration der Nazis zur Wehr setzte. Möglich war der Erfolg durch die Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten. Weil sie aber lokal begrenzt blieb und vor allem nicht für die Vorstände beider Parteien in Berlin galt, siegten die Nazis 1933 dann doch. Brutal haben sie sich im Dortmunder Fliederbusch an den Wortführern des Widerstands für ihre Niederlage ein Jahr vorher gerächt.

Der zweite war Paul Polte, der seinen Text über die Zusammenarbeit mit dem Brecht-Freund Hans Tombrock und seinem Widerstand gegen die Nazis vorlas.

Der dritte war Anton Kalt.

Bei diesem Namen wird auch ein Kenner der westfälischen Literatur stutzen. Anton Kalt, wer ist das denn? Er war ein Autor, der zwei Bücher geschrieben hat, von denen leider nur eines veröffentlicht wurde. Zusätzlich hat er Agitprop-Stücke für sein eigenes Kaspertheater und für Arbeiter-Varietés geschrieben, vor allem aber war Anton Kalt ein unglaublich beeindruckender Mensch, den niemand, der ihn je gekannt hat, vergessen wird.

Als Meldereiter bei der Roten Ruhrarmee

Anton Kalt las seinen Text vor, in dem er seine Beteiligung als Meldereiter bei der „Roten Ruhrarmee“ schilderte. 1920 hatten reaktionäre Kräfte gegen die junge Weimarer Republik geputscht. Kapp-Lüttwitz-Putsch heißt er nach seinen beiden treibenden Kräften, dem Bankdirektor Kapp und dem Befehlshaber von Ost- und Mitteldeutschland, General von Lüttwitz. Und weil den Arbeitern sofort klar war, dass das Ziel dieses Putsches die Abschaffung der sozialen Errungenschaften der jungen Republik war, kam es zum Generalstreik, der den Kapp-Lüttwitz-Putsch nach wenigen Tagen zu Fall brachte.

hasenkuIm Ruhrgebiet genügte den Arbeitern der Generalstreik nicht, sie bewaffneten sich und gingen mit Gewalt gegen die Putschtruppen vor. Hans Kalt, Antons Bruder, befehligte eine Abteilung der Roten Ruhrarmee, die bei Schwerte und Wetter gegen die Putschtruppen Lichtschlag kämpften. Durch Aplerbeck wollten die Lichtschlag-Truppen nach Wetter ziehen, um dort andere in Bedrängnis geratene Putschtruppen zu Hilfe zu eilen. Hans Kalts Abteilung schnitt ihnen den Weg ab, die Lichtschlag-Truppe musste zurückweichen, biwakierte in der Nähe der Heilanstalt und wurde dort endgültig besiegt. Über 200 Gefangene machte die Rote Ruhrarmee in Aplerbeck.

Die Kalt-Brüder waren Mitglieder in der KPD, sie waren darin ihrem Vater gefolgt, der 1919, enttäuscht von der Kaisertreue der SPD im 1. Weltkrieg, die Aplerbecker Ortsgruppe der KPD gegründet hatte. Kein Wunder, dass sie sich sofort der „Roten Ruhrarmee“ anschlossen.

Anton sorgte als Meldereiter für die Verbindung zwischen den Truppenteilen. Sein Pferd stammte übrigens aus den beschlagnahmten Beständen der Lichtschlag-Truppen, was in einer Episode noch mal eine Rolle spielen sollte. Als der Putsch gescheitert war, kam es zum Bielefelder Abkommen, nach dem die Arbeiter ihre Waffen abgeben sollten. Die besiegten Putschtruppen selbst aber hielten sich nicht an den Frieden, sondern begannen, ihre jetzt unbewaffneten Gegner gnadenlos zu verfolgen. Den Kalt-Brüdern blieb nichts anderes übrig, als unterzutauchen. Anton konnte relativ schnell zurückkommen, Hans Kalt musste sich zwei Jahre lang in Hessen verstecken.

Danach begann die Zeit, in der die Kalt-Brüder sich in der kommunistischen Kulturbewegung engagierten. Hans gründete eine Kabarett-Gruppe, die in ihren Programmen genau die Parteilinie vertrat, während sein Freund Paul Polte zeitgleich in seiner Gruppe „Henkelmann“ eine offenere Linie verfolgte. Anton spielte bei KPD-Festen Geige oder Gitarre und trat mit eigenen Kasperletheater-Programmen auf. Ernst Thälmann, KPD-Vorsitzender und Freund der beiden, hatte sie darin bestärkt, auf diese Weise die Parteiarbeit zu unterstützen.

Gestapo-Haft in der Steinwache

Nach der Machtwergreifung der Nazis sind sie in die berüchtigte Dortmunder Steinwache der Gestapo gebracht worden, die – am Nordausgang des Bahnhofs gelegen – heute eine Gedenkstätte ist und wo sie (auch dies unausweichlich) auf den einsitzenden Paul Polte trafen.

Aber während Polte nach einer Amnestie früh frei kam, wurden die Kalt-Brüder ins KZ Esterwege verschleppt. Sie überlebten es, kamen am Ende des Krieges nach Hause und jetzt war es Anton Kalt, der sein Heimatstädtchen Aplerbeck vor der Zerstörung rettete. Er kletterte auf das Kirchdach und hängte dort oben eine weiße Fahne auf, dann radelte er zur amerikanischen Kommandantur nach Sölde und brachte es fertig, dass nicht mehr auf Aplerbeck geschossen wurde. Sechs Wochen lang war er danach Bürgermeister von Aplerbeck, dann kamen die Engländer und setzten den Kommunisten ab.

Es war eine runde Geschichte, die Anton Kalt da vorlas und in der er, trotz Verfolgung und Lebensgefahr, immer auch die komischen Aspekte seiner Erlebnisse sah und betonte. Zum Schrecken über die Erlebnisse kam bei seinen Zuhörern deshalb immer gleich die Erleichterung durch Lachen. Typisch für ihn.

Schrecken und Komik nah beieinander

Nach dem Krieg wurde der frühere Bergmann Anton Kalt als Retter von Aplerbeck in die Dortmunder Stadtverwaltung aufgenommen. 20 Jahre lang war er Leiter des Fuhrparks, und als ihn nach dem KPD-Verbot 1956 sein Chef, Dortmunds Oberstadtdirektor Hansmann, ansprach, ob er nicht in die SPD eintreten wolle, er sei doch schließlich genauso wie sein Bruder ein politischer Mensch, da lehnte Anton Kalt höflich ab. Nein, er wollte seiner Gesinnung treu bleiben, sagte er, worauf Hansmann antwortete: „Jüngsken, hättest du was anderes gesagt, wärst du bei mir unten durch gewesen. Oder soll sich dein ehrlicher Vater im Grab rumdrehn?“

1962 erschien sein einziges Buch, „Hasenkuckuck“, in der Krügerschen Verlagsbuchhandlung. Inzwischen gibt es beide Krügerabteilungen nicht mehr, den kleinen Dortmunder Verlag und die große Buchhandlung, so dass Kalts Buch nicht mehr zu haben ist und – noch schlimmer – auch wenig Aussichten hat, noch einmal irgendwo aufgelegt zu werden. Verdient hätte es das Buch auf jeden Fall, denn es schildert, mit deutlich autobiographischen Zügen, das Leben eines Aplerbecker Bergmanns, der als Kleinkind zwei Tiere nicht unterscheiden kann und deshalb immer vom „Hasenkuckuck“ redet, worauf er denn auch sein Spitznamen hat.

Der Reiz des Buches, das mit einem Vorwort von Paul Polte erschien, liegt aber weniger im Thema als vielmehr in der derb-komischen Art, in der es erzählt wird. Es enthält bei der Gestaltung von Hasenkuckucks Lebenslauf herrlich komische, deftige Anekdoten und das alles, ohne die Realität des Lebens zu verschweigen.

„Ick sall grüßen…und hei wör daut“

Bei Hasenkuckucks Geburt zum Beispiel ist sein Vater schon sechs Wochen tot, verunglückt auf der Zeche. Die Betroffenheit beim Leser wird aber gleich durch die hilflos-komische Art ergänzt, wie Arbeitskollege Ernst Sauerbein der hochschwangeren Witwe diese Nachricht, nach quälenden Überlegungen während des Weges, mitteilt: „Guden Morgen, ick sall ink grüßen van inke Mann und hei wör daut.“ Man kann gar nicht anders als trotz der traurigen Situation zu lachen.

Das nächste Kapitel, Hasenkuckucks Taufe, ist ein wahres Kabinettstückchen komischer Literatur. Pfarrer Rübbert redet mit dem nörgeligen Nachbarn Bilstein zu, dass die Taufe würdig in dessen großem Wohnzimmer stattfindet muss, nicht in der dunklen Kate von Hasenkuckucks Mutter. Da Bilstein sowieso als Pate vorgesehen ist, stimmt er zu. Alles könnte gut gehen, wenn Pfarrer Rübbert nicht einen verwöhnten Hund namens Blemy hätte, vom Pfarrer stets „Blemchen“ gerufen, einen Verwandten von Bilsteins Hofhund Hektor, der nun wirklich den Namen Hund verdient. Was an Blemchen Fett und faules Fleisch ist, sind an Hektor Muskeln und Sehnen.

Klar, dass nicht nur Bilstein den Hund des Pfarrers ablehnt, auch für Hektor ist er der Todfeind. Nun bringt Rübbert ausgerechnet sein Blemchen mit zur Taufe und während draußen Hektor tobt, weil er seinen Todfeind natürlich gerochen hat, sieht auch Bilstein mit immer größer werdendem Ärger, wie der Pfarrer seinem Blemchen ein Tortenstückchen nach dem anderen reicht. Während alle um die drei herum fröhlich und ausgelassen sind, während Opa Heinken in gewohnter Routine dem Schnaps zuspricht und seine Anekdoten erzählt, steigert sich Bilstein Ärger zur Wut.

Als Blemchen schließlich, völlig übersättigt, das letzte Tortenstückchen auch noch liegen lässt, weil nun wirklich nichts mehr in ihn hineingeht, ist es Bilstein endgültig zu viel und das Unglück passiert. Gerade in dem Moment, als der Pfarrer zur Taufhandlung ansetzt, jagt Hektor ins Zimmer, beißt seinem Todfeind ein halbes Ohr ab, Blemchen jagt entsetzt davon, in voller Hektik geht die Jagd durch die Zimmer, während die Gäste kreischend auf die Stühle springen. Opa Heinken möchte mit dem Kartoffelstampfer die beiden Hunde trennen, aber da sein Schlag daneben geht, trifft er nur die alte Kaffeetasse, die daraufhin in tausend Stücke zerspringt.

Das große Durcheinander

Alles ist am Ende durcheinander, Opa Heinken zweiter Schlag geht nämlich wieder daneben und richtet noch mehr Schaden an, Blemchen sieht inzwischen wie gerupft aus, da weiß sich der ängstliche Pfarrer, besorgt um das Leben seines geliebten Blemchen, nicht anders zu helfen als das Ofenrohr aus der Wand zu ziehen und damit zuzuschlagen. Natürlich ergießt sich eine Wolke Ruß ins Wohnzimmer, natürlich verbrennt sich der Pfarrer bei seiner Rettungsaktion die Finger, aber endlich lässt Hektor von Blemchen ab. Nur zwei behalten in all der Hektik die Ruhe, Nachbar Bilstein und Hasenkuckuck. Der eine stellt befriedigt fest, dass der Pfarrer bestimmt nie wieder mit seinem Hund zu einer Taufe kommen wird und der andere schläft tief und fest in seinem Bettchen.

Erst drei Tage später findet in der Kirche die Taufe statt und der Erzähler stellt mit lakonischem Tonfall fest, dass sich an Hasenkuckucks Taufwasser der Pfarrer seine verbrannten Finger gekühlt hat.

Ein anderes Kapitel erzählt die Schlittenfahrt am „Freischütz“, jener Gastwirtschaft, die es bis heute in der Nähe der Katholischen Akademie Schwerte gibt. Während Hasenkuckuck zusammen mit seinen Freunden die Straße Richtung Schwerte runtersaust, ist der alte Heinrich Bräker gerade mit seinem Pferde Baldur unterwegs. Baldur ist auch alt und wunderlich geworden, genauso wie sein Herrchen. Jedenfalls erschreckt Baldur sich vor jeder Maus, umso mehr natürlich vor dem merkwürdigen Gefährt, das da plötzlich, mit Hasenkuckuck an der Spitze, um die Ecke gesaust kommt. Entsetzt springt Baldur auf die Mitte der Straße und bleibt dort, dem Schlitten die Seite zuwendend, stehen.

Ein störrischer Gaul

Bräker versucht zu retten, was zu retten ist, aber sein störrischer Gaul hört auf niemanden mehr. Hasenkuckuck hat inzwischen gemerkt, dass es nur einen Weg gibt, die Katastrophe zu vermeiden, nämlich unter der Pferdebrücke hindurch zu steuern. Das tut er dann auch, reißt dabei Heinrich Bräker mit auf den Schlitten, während Baldur weiter stocksteif verharrt und kommt schließlich heile unten an, direkt vor Heinrich Bräkers Kneipe. Erst da stellen sie allerdings fest, dass es doch eine Verletzung gegeben hat, denn genau in jenem Moment, als Hasenkuckuck rief: „Achtung, Köppe einziehen!“, hat Christine Happe, hinten auf dem Schlitten sitzend und neugierig geworden, aufgeschaut. Und weil Baldur zwar alt, aber doch immer noch ein Hengst ist, hat sie nun einen blauen Streifen an der Stirn. Wenn doch die Neugier der Frauen nicht wäre, soll der Leser denken, andererseits, was wüssten sie sonst von der Männlichkeit?

Der Leser ahnt, nichts in „Hasenkuckuck“ ist völlig frei erfunden. Solche und ähnliche Geschichten haben Anton Kalts Leben immer begleitet. Sogar bei seiner Tätigkeit als Meldereiter war das so. Als er zu einem liegen gebliebenen Lastwagen mit Waffen reiten sollte, musste er ausgerechnet eine Kutsche überholen, die von einer rossigen Stute gezogen wurde. Es ging um die lebenswichtige Sicherung des Lastwagens, die darüber entschied, ob die Schlacht gegen die Lichtschlag-Truppen gewonnen wurde oder nicht, da bedrängte Anton Kalts Hengst die Stute. Immer wieder sprang er auf die Deichsel der Kutsche, Kalt konnte sich nur mit Mühe auf dem Hengst halten und erst als irgendwo in der Ferne ein Schuss ertönte, erinnerte sich der Gaul an seine militärischen Erziehung. Augenblicklich ließ er von Kutsche und Stute ab und der Lastwagen mitsamt Waffen konnte gesichert werden. Leben und Literatur, bei Anton gingen sie stets eine komische Verbindung ein.

Das zweite Buch ging verloren

Dazu passt, was Polte in seinem Vorwort über Antons Kalts Schreibprozess berichtet: „Das Gelächter, das mich oft beim Schreiben übermannt hat, war ein fröhliches Gelächter, aus dem Sinn und der Fülle dieser Landschaft geboren, es entsprang der vollen Lust am Komischen, das in der menschlichen Natur ganz nah beim Tragischen wohnt.“ Anton Kalt hat es Polte erzählt, und Polte hat es in seinem Vorwort aufgeschrieben und lakonisch hinzugefügt:
„Er muss es wissen. Ich weiß es auch.
Und wünsche auch euch davon einen Hauch.“

Der Bericht über Anton Kalts literarisches Schaffen muss trotzdem mit einem traurigen Faktum enden. Kalt hatte eine Fortsetzung von Hasenkuckuck geschrieben, aber weil die Krügersche Verlagsbuchhandlung schon damals aufgelöst war, hatte er keinen Verlag dafür gefunden. So blieb das Manuskript in der Schublade liegen und als Anton Kalt um 1980 herum starb, stellte seine Familie betroffen fest, dass es niemanden gab, der seine Handschrift entziffern konnte. Für einen Graphologen hatten sie kein Geld, so ist dieser Band leider verloren gegangen. Anton Kalt würde das einerseits traurig, aber irgendwie auch komisch finden.




Vom mühsamen Neubeginn nach dem Krieg

Wer die Fernsehbilder aus Syrien oder Libyen sieht, der kann sich kaum vorstellen, wie einmal aus diesen Trümmern eine neue Gesellschaft und ein Neuaufbau auch in ganz handfestem Sinne entstehen könnte. Dazu sei ein Rückblick auf das Jahr 1945 in Deutschland erlaubt. Vor gut sieben Jahrzehnten sahen unsere Städte auch so aus, vielleicht noch stärker zerstört, und auch hier gab es Hunger und Tod und vor allem viele traumatisierte Kinder und Erwachsene.

Gefangene deutsche Soldaten im April 1945 auf einer Wiese in Ennepetal.

Gefangene deutsche Soldaten im April 1945 auf einer Wiese in Ennepetal. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Natürlich war die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnungen zunächst das größte Problem. Die Besatzungstruppen organisierten die Grundversorgung, wenn auch nicht überall erfolgreich, und außerdem funktionierte der Schwarzmarkt sehr schnell – nach dem Motto: Schattenwirtschaft ist auch eine Wirtschaft.

Unbelastete Männer

Politisch sorgten sich die Alliierten sofort um die Verdrängung der faschistischen Strukturen und Ideologie. Beim Vormarsch setzten sie in allen befreiten Gemeinden unbelastete Deutsche als Bürgermeister oder Gemeindevorsteher ein. Teilweise brachten sie diese Kandidaten sogar schon mit. Außerdem entstanden in vielen Städten unmittelbar nach der Befreiung die sogenannten „antifaschistischen Ausschüsse“, die sich um die Installation einer demokratischen Selbstverwaltung kümmerten.

Am Beispiel des Amtes Milspe-Voerde, der späteren Stadt Ennepetal, kann man das weitere Vorgehen aufzeigen: Der von den Amerikanern bestimmte Amtsbürgermeister, ein von den Nazis 1933 entlassener Sozialdemokrat, setzte drei Monate nach dem Ende der Diktatur einen „Amtsausschuss“ ein, dem ausschließlich unbelastete Männer angehörten. Dieser Ausschuss organisierte den Neuaufbau der Verwaltung und war bis Herbst 1946 im Amt, denn die alliierte Militärverwaltung hatte in der Zwischenzeit die Neu- oder Wiedergründung demokratischer Parteien zugelassen.

Wahlbeteiligung bei 80 Prozent

Am 15. September 1946 gab es dann in der Britischen Zone auf kommunaler Ebene die ersten freien Wahlen seit dem Ende des NS-Regimes. Im Amt Milspe-Voerde, unserem Beispiel, erhielt die SPD 18 Sitze, die CDU bekam drei Sitze, die FDP 2 und die KPD einen Sitz. Die 24 Sitze entfielen ausschließlich auf Männer. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 80 Prozent.

Zwei Jahre später, am 17. Oktober 1948, gab es die zweite Wahl, und in der erhielt im Amt Milspe-Voerde die FDP mit sieben Sitzen die selbe Anzahl an Mandaten wie die CDU, und die Liberalen stellten sogar danach den Bürgermeister, der wegen des Patts in der Amtsvertretung per Los ins Amt kam.

Von „unbelasteten“ Personen konnte man da aber nicht mehr sprechen, denn dieser FDP-Bürgermeister Dr. Fritz Textor war seit 1933 in der SA und seit 1937 in der NSDAP und ein aktiver Unterstützer der NS-Ideologie gewesen. Trotzdem widmete ihm der Rat der Stadt Ennepetal später eine Straße. Ein „Neuaufbau“, wie er in vielen Städten unseres Landes abgelaufen ist.




Bochumer Ausstellung über Polens „Wilden Westen“: Als in Wroclaw die Kultur aufblühte

Wroclaw (früher Breslau) hat einen historischen Wandel sondergleichen hinter sich. Die einst deutsche Stadt mit bis zu 1 Million Einwohnern wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs polnisch. Die Deutschen wurden vertrieben, Polen aus anderen Teilen des Landes sollten statt dessen in der zerstörten Stadt „heimisch“ werden. Doch wie sollte das ohne weiteres möglich sein? Mit einer bloßen Umsiedlung und einem Austausch der Bevölkerung war es ja nicht getan.

Um Identifizierung – gleichsam aus dem Nichts – zu stiften, sorgte Polens kommunistische Regierung ganz gezielt dafür, dass sich in Wroclaw nicht zuletzt Künstler aller Sparten ansiedelten. Tatsächlich blühten die Künste gerade an diesem Ort seit Mitte der 1960er Jahre so auf wie an keiner anderen Stelle des Landes.

Natalia LL: "Consumer Art" (1972), Schwarzweiß-Fotografien. (© Collection of the Lower Silesian Society for the Encouragement  of the Fine Arts - Foto: Matgorzata Kujda)

Nach Art von Andy Warhol: Natalia LL „Consumer Art“ (1972), Schwarzweiß-Fotografien. (© Collection of the Lower Silesian Society for the Encouragement of the Fine Arts – Foto: Matgorzata Kujda)

In Wroclaw durfte und konnte sich – trotz eines diktatorischen Regimes – das kulturelle Leben ungleich freier entfalten als etwa in Warschau oder Krakau. Und siehe da: Es wurden nicht nur ein paar kleine Freiräume in der Diktatur ausgelotet, das Zwangssystem wurde vielmehr beherzt überschritten. Alsbald konnte man die kreativen Hervorbringungen in Wroclaw kaum noch von den wesentlichen Strömungen der westlichen Welt unterscheiden.

Eine Ausstellung im Museum Bochum, das in den letzten Jahrzehnten immer mal wieder polnische Kunst präsentiert hat, dokumentiert und illustriert nun einige Aspekte dieser erstaunlichen Vorgänge. Der Titel der Schau lautet „Wilder Westen“, er spielt an auf die herrlich „wildwüchsige“ Entwicklung der Kultur in einer Stadt, die eben im polnischen Westen liegt. Es geht hierbei nicht so sehr um einzelne Künstler, sondern vorwiegend um die Zeitstimmung.

Krzysztof Zarebski: "Autohemo", Farbfoto. (© Sammlung Galeria Bielska BWA - Foto mit freundlicher Genehmigung von Leszek Fudusiewicz und der Galerie Monopol)

Krzysztof Zarebski: „Autohemo“, Farbfoto. (© Sammlung Galeria Bielska BWA – Foto mit freundlicher Genehmigung von Leszek Fudusiewicz und der Galerie Monopol)

Wie gut, dass in Wroclaw das Bewusstsein für die eigene Avantgarde der 60er bis 80er Jahre wachgehalten wird. Beredt und geradezu entflammt weiß Dorota Monkiewicz, Gründungsdirektorin des seit 2011 bestehenden Zeitgenössischen Museums Wroclaw, aus jenen Blütezeiten zu berichten. Aus ihrem Hause stammt die überwiegende Zahl der rund 500 Exponate, die nun in Bochum gezeigt werden. Sie selbst fungiert als leitende „Kommissarin“ der Ausstellung, gleich sieben Kuratoren haben zudem ihre Spezialkenntnisse eingebracht. Der ausführliche Katalog dürfte auch bei einem etwaigen Besuch in Wroclaw gute Dienste als Kulturführer leisten.

Vor allem anhand zahlreicher Fotografien und Videos spürt man nun in Bochum den Geist des Aufbruchs, der damals geherrscht haben muss. Wenn nicht hie und da polnische Schriftzüge auftauchten, fiele es schwer, eine Ortsbestimmung vorzunehmen. Gar manches könnte sich ebenso gut in Düsseldorf, Köln oder London abgespielt haben.

Man befand sich in Wroclaw durchaus auf der Höhe des internationalen Zeitgeistes. Nicht alle künstlerischen Arbeiten in Bochum lösen diesen Anspruch ein, doch gibt es etliche Belege für das lebendige, inspirierende Klima, das nicht nur Künstler, sondern auch Theaterleute, Filmemacher und Musiker in die Stadt lockte. Und auch die Auseinandersetzung mit Architektur war eine gehörige Triebkraft.

Da entfalteten sich – beispielsweise – Konkrete Poesie, feministische Kunstansätze, Konzeptkunst, Videokunst, Happening und Performance, ja, eigentlich alle avantgardistischen Richtungen. Von Vorgaben oder Gängelung ist nichts zu bemerken. Freilich: Anders als im Westen, gab es keine (bürgerlichen) Kunstsammler, also richteten sich Künstler aller Sparten oftmals direkt an die breitere Öffentlichkeit. Was ja gewiss kein Fehler ist.

Vitales öffentliches Interesse: "Les Comediants". Aufnahme vom 6. Internationalen Treffen der Theater und der Offenen Kunst, Wroclaw, 1978. (Foto: Bronislaw Szubzda/Staatsarchiv Wroclaw)

Vitales öffentliches Interesse: „Les Comediants“. Aufnahme vom 6. Internationalen Treffen der Theater und der Offenen Kunst, Wroclaw, 1978. (Foto: Bronislaw Szubzda/Staatsarchiv Wroclaw)

Die Gattungsgrenzen, zumal zwischen Kunst und Theater (auch der große Theatermacher Jerzy Grotowski wirkte in Wroclaw), wurden offenbar mit Verve überwunden. So ansteckend kann Kultur sein, wenn die Zeit gekommen ist: Faszinierende Fotografien zeugen von leuchtenden Momenten, zeugen von einer grundsätzlichen Offenheit, die anscheinend alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen erfasst hat. Es muss – wider allen grauen Alltag – eine Lust gewesen sein…

Es waltete wohl ein Genius loci. Die Künste waren seinerzeit Vorboten und Statthalter einer Freiheit, die sich in ganz Polen und anderen Ländern des europäischen Ostens erst mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ auch politisch manifestieren konnte.

Schon damals, so möchte man meinen, hätte es Wroclaw verdient gehabt, Europäische Kulturhaupstadt zu sein, doch da gab es diese Ehrung noch nicht – erst recht nicht für osteuropäische Städte. 2016 aber trägt Wroclaw (gemeinsam mit dem spanischen San Sebastian) den Titel. Mithin vermittelt Bochum auch in dieser Hinsicht erhellende Rückblicke.

Viele Impulse wurden erstickt, als Ministerpräsident Jaruzeski 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängte. Von den harschen Restriktionen waren auch die Künstler in Wroclaw betroffen.

Bekanntlich gibt es in Polen neuerdings wieder ein gesellschaftliches Rollback, das die Künste einzuschränken droht. Auch gegen solche fatalen Tendenzen bezieht diese Ausstellung unversehens Position. Als sie geplant wurde, wusste man noch nicht, wie dringlich das sein würde. Ausstellungs-Kommissarin Dorota Monkiewicz möchte auf diesen Zusammenhang nicht explizit eingehen. Sie findet allerdings, dass Wroclaw im Vergleich zu früher wohlhabend geworden sei – und damit auch etwas langweiliger.

„The Wild West – Wilder Westen. Die Geschichte der Avantgarde in Wroclaw“. 5. März (Eröffnung um 17 Uhr) bis 8. Mai 2016. Museum Bochum, Kortumstraße 147. Öffnungszeiten: Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Katalog 25 €. Eintritt 5 € (jeden ersten Mittwoch im Monat frei). Weitere Infos: www.kunstmuseumbochum.de

Die Ausstellung wurde zuvor schon in Warschau und Kosice (Slowakei) gezeigt. Nach Bochum folgen noch die Stationen Zagreb und Budapest.




Islam im Blut – Theater Dortmund zeigt „Geächtet“ von Ayad Akhtar im Megastore

Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Auf den ersten Blick eint sie die Eigenschaftslosigkeit. Amir, Emily, Isaac und Jory sind in der Dortmunder Inszenierung von Kay Voges farblos-weiße Gestalten mit roten Albino-Augen (Kontaktlinsen), frei von störenden Eigenschaften (des Blutes?) oder Hypotheken einer ungemäßen Herkunft. Wechselseitige Wertschätzung speist sich aus der Höhe sechsstelliger Jahresgehälter, rhetorische Nähe zum Islamismus hier und larmoyantes Judentum dort werden bestenfalls als folkloristische Apercus empfunden, die die lockeren Gespräche eines entspannten Abends zu viert ein wenig zu würzen versprechen. Kleine Provokationen unter guten Freunden, harmlose, gut gemeinte Späße: Was soll da schon passieren?

Bettina Lieder Merlin Sandmeyer

Emily (Bettina Lieder), Abe (Merlin Sandmeyer) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nun gut; wenn jemand wie der 1970 geborene amerikanische Autor Ayad Akhtar in bester Yasmina-Reza-Tradition vier so grundverschiedene Protagonisten auf die Broadway-Bühnen schickt, dann wird es böse enden, das ist von vornherein klar. Und blickt man auf das Personaltableau, kommt einem die Konstellation fast ein wenig hölzern vor, sind in diesem Stück zur politischen Lage doch alle üblichen Verdächtigen traulich vereint.

Da ist der erfolgreiche indische Anwalt Amir (Carlos Lobo), der eigentlich pakistanisch-islamische Wurzeln hat, was er bestreitet, weil es ihm berufliche und gesellschaftliche Nachteile brächte und weil, überhaupt, sein Vater das heutige Pakistan schon lange vor der Abtrennung von Indien verließ.

WASPs haben die besten Karten

Seine Frau Emily (Bettina Lieder) zählt zu den WASPs, den „White Anglo-Saxon Protestants“, die in der keineswegs klassenlosen amerikanischen Gesellschaft ein gewisses Herkunftsoptimum darstellen. Emily malt Bilder, bewundert islamische Kultur und versucht, etwas davon in ihrer Kunst einzufangen. Isaac (Frank Genser) ist ein jüdischer Kunstkurator, den Emily nachgerade hündisch um Aufmerksamkeit für ihre Bilder anhechelt und der mit ihr schläft. Vierte ist – na, wer fehlt noch? – genau, eine Afroamerikanerin, die Juristin Jory (Merle Wasmuth), die in der selben jüdischen Anwaltfirma arbeitet wie Amir, aber noch erfolgreicher als dieser ist. Nummer 5 im Stück ist Amirs Neffe Abe, ein Sidekick eher, der zum Ende hin Salafistentracht tragen wird.

Von links: Isaac (Frank Genser), Emily (Bettina Lieder), Amir (Carlos Lobo), Jory (Merle Wasmuth) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Geschichte zieht sich über einige Wochen hin, und ihren desaströsen Ausgang nimmt sie bei der Verteidigung eines radikalen Imams, an der sich Amir in einem Anwaltskollektiv auf Drängen Abes nur höchst widerwillig einläßt. Er ahnt, was kommen wird. Man stellt ihn in die Islamistenecke, und in seiner Firma, deren Chef Steven Fundraiser für Netanjahu ist, kann er einpacken. Aber hatte man ihn nicht lange vorher schon diskriminiert, Jory goldene Brücken gebaut und ihn auf die Ochsentour geschickt?

Etliche Whiskeys

Es kommt halt alles zusammen, und das dauernde Sich-Verstellen zehrt. In angespannter Partyheiterkeit, befeuert von etlichen Whiskeys und von Isaac provoziert, kann Amir nicht länger mehr an sich halten, gesteht seine klammheimliche Sympathie für islamistische Anschläge, erinnert sich – der Gipfel! – an seine Glücksgefühle beim Fall der „Türme“ in New York. Schluß mit lustig, Amir verliert Freundeskreis, Ehefrau, Job und Wohnung in beliebig wählbarer Reihenfolge.

Carlos Lobo  Bettina Lieder  Frank Genser

Von links: Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder), Isaac (Frank Genser) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wenn das Stück beginnt, hat jeder der nach und nach auftretenden vier Partygäste seinen festen Bereich auf der eher breiten als tiefen Bühne (Michael Sieberock-Serafimowitsch). Die Sätze werden ins Publikum hinein gesprochen, selbst das Begrüßungs-Bussibussi landet im Zuschauerraum.

Intensive Videoarbeit (Mario Simon) macht inhaltliche Positionen deutlich, zeigt, wenn es grundsätzlich wird, Davidstern, grüngrundigen Halbmond, Sternenbanner oder auch Karten des „alten“ Indiens flächendeckend in leuchtenden Farben. Diese Dekonstruktion des Dialogischen hat durchaus Schlüssigkeit und Reiz, und vielleicht verlangt dieser abgründige Stoff, das Monströse andeutend, gar danach.

Allerdings ist die Dekonstruktion der Spielhandlung nicht durchzuhalten. Heftige Diskussionen und finale Gewaltszenen verlangen einfach nach körperlicher Nähe.

Carlos Lobo

Amir (Carlos Lobo) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Verfremdungseffekt

„Geächtet“ erlebte vor einigen Wochen seine deutsche Uraufführung in Hamburg in der Regie von Karin Beier, etliche weitere Theater gaben sich an Inszenierungen.

Kay Voges’ Albino-Interpretation dürfte im nationalen Vergleich ein Alleinstellungsmerkmal sein, ein gewiß zulässiger Verfremdungseffekt in einem aus dem Ruder laufenden Boulevardstück. Gleichwohl hat man nicht das Gefühl, durch „Geächtet“ wirklich an Erkenntnis zu gewinnen, was weder dem Stück noch der Inszenierung anzulasten ist. Eher scheint es, als stünde auch der Autor hilflos vor seinem Personal, vor Amir vor allem, den er eigentlich doch so gut versteht.

Regisseur Kay Voges hat seine Darsteller nicht geschont. Vor allem Bettina Lieder ist als Emily (zunächst jedenfalls) pausenlos in sportlicher Bewegung, hypermotorisch, AHDS-verdächtig, offenbar die Verkörperung eines allgegenwärtigen unterschwelligen Stresses. Auch Carlos Lobo, wiewohl mit Neigung zum Übergürtelbauch, zeigt als hin- und hergerissener Amir viel mobilen körpersprachlichen Ausdruck. Merlin Sandmeyer, Frank Genser und Merle Wasmuth dürfen es als Abe, Isaac und Jory etwas ruhiger angehen lassen, doch sportlich sind auch sie.

Reicher Applaus für einen furiosen Theaterabend.

  • Termine: 21.2., 9., 26.3.
  • Informationen und Karten: Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de

Infos zur neuen Spielstätte Megastore: https://www.theaterdo.de/service/anfahrt/megastore/




Eingezäunte Kindheit und Jugend: Durs Grünbeins Erinnerungen „Die Jahre im Zoo“

Der Fischladen. Die immergleichen Spaziergänge mit dem schweigsamen Großvater. Der Bahnhof als Trutzburg und Durchgangsstation in wechselnden Zeiten. Die Elbe. Der Schlachthof. Die Straßenbahn. Der Zoo.

Wenn einer wie der Lyriker Durs Grünbein seine Kindheit und Jugend in Dresden beschreibt, geht es nicht um die üblichen Sehenswürdigkeiten wie Frauenkirche, Zwinger oder Semperoper, sondern um lang nachwirkende Sinn-Bilder, Sehnsüchte und Träume. Im allgegenwärtigen Gefühl der Beengung und des Umzäunt-Seins schwillt die Elbe dann auch schon mal zum Möchtegern-Mississippi an, denn Grünbein schildert in „Die Jahre im Zoo“ Dresden als entlegene und gründlich geschundene Provinzstadt der DDR.

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Der im Titel erwähnte Zoo kommt – eher unauffällig – gelegentlich zwischendurch und wirklich explizit erst gegen Schluss vor, und zwar als Ort der Ambivalenz: Auch die dort lebenden exotischen Tiere wecken, ebenso wie die nordwärts fahrenden Schiffe auf der Elbe, die Sehnsucht nach anderen Gegenden. Die Tiere sind jedoch eingesperrt und verkörpern somit just ebenso die Unfreiheit im damaligen realen Sozialismus.

Germanisten werden künftig manche Vergleiche anstellen: Während der viel beachtete Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp (Jahrgang 1968) aus dem Geist des Dresdner Ortsteils „Weißer Hirsch“ hervorgegangen ist, bewegte sich Durs Grünbein (Jahrgang 1962) in seinen jungen Jahren durch die Dresdner Gartenstadt Hellerau, die im beginnenden 20. Jahrhundert für hoffnungsvolle Lebensreform-Bewegungen gestanden hatte, welche sich auch baulich fortschrittlichen Ausdruck verschafften.

Welch eine zukunftsgerichtete Zeit, die zahlreiche Künstler und Schriftsteller in die Stadt zog, allen voran Rilke, Gottfried Benn und Franz Kafka, der freilich auch schon die Ängste und Traumata der kommenden Epoche vorausahnte. Zu DDR-Zeiten war Kafka gleichsam nur noch ein Phantom, dessen Schriften äußerst schwer zu bekommen waren, wie denn überhaupt die große kulturelle Vergangenheit längst erstickt war – im Kern bekanntlich schon vor Entstehung der DDR. Grünbein blickt mit Schrecken zurück auf die Zeit, als die NS-Ideologie so lange einsickerte, bis es zu spät war.

Und noch weiter zurück: Schon mit dem Zerfall Europas im Ersten Weltkrieg „waren auch für Hellerau, das kleine Hellas am Hellerand, die leuchtenden Tage gezählt“. Die Stimmung des schmerzlichen Verlustes kulminiert bei Durs Grünbein in der Wiederentdeckung eines offenbar höchst lesenswerten Autors, der zwischen Italien und Hellerau gelebt hat: Paul Adler habe die Reform-Jahre wie kein anderer auf den Begriff gebracht. Besonders seinen 1915 im Hellerauer Verlag Roman mit dem lakonischen Titel „Nämlich“ muss man sich wohl unbedingt vormerken. So zeugt eine Lektüre die nächste. Und so soll es ja auch sein.

Vom heutigen Dresdner Pegida-Unwesen ist in diesem Buch übrigens mit keiner Silbe die Rede, es reicht ja auch nicht bis heute, sondern im Wesentlichen „nur“ bis zum NVA-Militärdienst des Erzählers; eine Zeit, die mit seiner Bewusstwerdung und erwachendem Oppositionsgeist einherging.

Doch auch ohne Pegida-Schelte (die dem erinnernden Duktus des Buches geschadet hätte) fragt man sich bei der Lektüre unwillkürlich, ob sich die Aussichten Dresdens durch fortwährende Unfreiheit nicht für sehr lange Zeit verdustert und vergiftet haben – letztlich auch weit über die „Wende“ von 1989/90 hinaus. Wie überaus betrüblich ist das, gerade angesichts der kosmopolitischen und avantgardistischen Vergangenheit Helleraus.

Von all dem wussten Grünbein und seine Schulfreunde seinerzeit nichts, auch hatten sie als Kinder keinen Blick für ihre geschichtsträchtige architektonische Umgebung, sondern suchten jeden Nachmittag ihre kleinen, altersgemäß anarchistischen Abenteuer.

Sehr fein destilliert Grünbein das Aroma dieser Kindheit, die spürbar auch ein Gutteil jeglicher Lebens-Frühzeit enthalten hat. Wer könnte beispielsweise derlei Sätze, unabhängig vom jeweils herrschenden Politbetrieb, nicht unterschreiben: „Dieses Schulgebäude werde ich nie vergessen. Ich trage es mit mir herum wie den Grundriß zum Eingang in mein persönliches Labyrinth. Wir begruben unsere Vormittage dort und auch manche der Nachmittage in jener kostbaren Zeit, da man sechs Jahre alt war, dann sieben, dann acht und so weiter.“

Und doch konnte es genau diese Kindheit nur in der DDR und im Dresden der 1960er Jahre geben. Auch diese besondere Beimischung wird im Buch deutlich. Ein Exkurs gilt der Sachsen-spezifischen Neigung zu Wildwest- und Indianer-Romantik im Gefolge des berühmten Landsmannes Karl May. Und selbstverständlich findet, wo es doch um (vielfach verschüttetes) kulturelles Erbe der Region geht, auch der Dresdner Erich Kästner gebührend Erwähnung.

Auf den alles überragenden Kafka kommt Grünbein verschiedentlich zurück, die vielleicht spannendste Episode verknüpft Kafkas Dresden-Aufenthalte mit dem „denkenden Pferd von Elberfeld“, der generellen Dezimierung europäischer Pferdebestände und Nietzsches legendärer Pferde-Umarmung in Turin. Solch aus- und abschweifende Passagen gehören zum Allerbesten dieses durchweg lesenswerten Buches.

Durs Grünbein nennt seine Erinnerungen denn auch im Untertitel „Ein Kaleidoskop“. Tatsächlich wechseln nicht nur Phänomene und Betrachtungsweisen – mal nüchtern, mal wehmutsvoll -, sondern auch die Stilformen. Mitunter klingt es nahezu anekdotisch, dann wieder finden sich historisch reflektierende Betrachtungen oder auch lyrische Einschübe, in denen Befunde über die Stadt Dresden nochmals verdichtet und kunstvoll rhythmisiert werden.

Nur hätte man sich die Wiedergabe der Fotografien aus der Sammlung des Autors ein wenig großzügiger gewünscht. Wären es nicht solche „Briefmarken“, hätten sie eigene Wirkung entfalten können.

Durs Grünbein: „Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop“. Suhrkamp Verlag, 400 Seiten. 24,95 Euro.




„Der totale Rausch“: Erhellendes Buch über Drogenkonsum in der NS-Zeit

Es ist ganz offensichtlich ein blinder Flecken in der wissenschaftlichen Forschung über das NS-Regime, dem sich der Schriftsteller Norman Ohler in seinem Buch „Der totale Rausch“ zuwendet. Der Absolvent der Hamburger Journalistenschule ist bei Recherchen in diversen Archiven (u.a. Militärarchiv Freiburg, Bundesarchiv in Koblenz) auf bislang unbeachtete oder unbekannte Dokumente aus der Nazi-Zeit gestoßen, die Rückschlüsse auf enormen Drogenkonsum zulassen.

Rauschgifte waren nicht nur unter NS-Größen verbreitet, sondern auch beim Volk und den Soldaten. Sie alle kamen ganz legal an Mittel, die heute unter Bezeichnungen wie Crystal Meth existieren. Damals hieß der Stoff Pervitin. Die methamphetaminhaltigen Substanzen wirkten leistungssteigernd, hellten die Stimmung auf, verringerten das Schlafbedürfnis drastisch und förderten schließlich auch die Libido.

ohlerJanusköpfige Haltung

Wer nicht so sehr auf Pillen stand, der konnte auch Pralinen kaufen, in denen Süßes mit sinnestäuschenden Mitteln vermengt war. Die damaligen Temmler-Werke in Berlin brachten das Mittel auf den Markt und das neue Produkt fand reißenden Absatz.

Dass das Regime den Konsum nicht nur duldete, sondern sogar noch forcierte, steht jedoch, wie der Autor hervorhebt, im vollkommenen Gegensatz zum NS-System. Drogen waren (eigentlich) verboten, 1936 führten die Nazis eine reichsweite Drogenpolizei ein und Süchtige selbst wurden inhaftiert, viele von ihnen ermordet.

Zu den Erklärungsversuchen des Verfassers für diese janusköpfigen Umgang mit Rauschmitteln gehört der Hinweis auf die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, bei denen zahlreiche Sportler durch die Einnahme von Amphetamin Erfolge feierten. Bewusstseinserweiternde Medikamente passen ferner zu einer Zeit und einer Ideologie, die Aufbruchstimmung erzeugen will und sowohl Leistung als auch Stärke propagiert.

Pervitin für Volk und Soldaten

Doch nicht nur das Volk sollte sich mit Pervitin betäuben können, noch wichtiger war den Nazis offenbar, dass schon gleich zu Beginn des Krieges für die Soldaten die Pillen in ausreichenden Mengen vorhanden waren. Das lässt sich aus zahlreichen Belegen und Quellen erschließen. Millionen von Packungen wurden für die Truppen bestellt, wobei das Regime wenige Wochen vor dem Überfall auf die Sowjetunion den Hersteller in die Pflicht nahm. In einem Dokument der Reichsstelle Chemie heißt es, dass die Temmler-Werke für die Sicherung der Fertigung verantwortlich sind – verbunden mit der Notiz, dass das Mittel Pervitin „kriegsentscheidend“ ist.

Norman Ohler führt zahlreiche Situationen an, in denen die Soldaten durch die Einnahme des Mittels ihre Müdigkeit überwanden, auf Schlaf verzichten konnten oder ihre Niedergeschlagenheit überwanden. Es gab beim Heer sogar Erhebungen über die Wirkung des „Schlafbeseitigungsmittels Pervitin“. Dass sich die einfachen Soldaten, aber auch die Führungseliten auf diese Weise aufputschen konnten, stellt Norman Ohler in Beziehung zu den militärischen Erfolgen des Blitzkriegs im Westen. Dass der Feldzug gegen die Sowjetunion zur Niederlage von Stalingrad führen sollte, ließ sich allerdings auch durch noch so sehr gedopte Soldaten nicht verhindern. Vielmehr führten die Allmachtsvorstellungen Hitlers und die daraus resultierenden falschen strategischen Entscheidungen zum Untergang, stellt Ohler heraus.

Auch Hitler war nicht abstinent

Hitler selbst war keineswegs „abstinent“, sein Leibarzt Theodor Morell hatte schon Ende der 30er Jahre damit begonnen, den Patienten A, wie er den Diktator in seinen Aufzeichnungen nennt, mit Pervitin zu versorgen. Doch es blieb nicht nur bei diesem einen Mittel. Vitaminschocker waren da noch eher harmlosere Varianten, denn je länger der Krieg dauerte und je deutlicher klar wurde, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, um so stärker wurden auch die Dosierungen weiterer Substanzen wie Kokain oder das Schmerzmittel Eukodal.

Sehr anschaulich beschreibt der Autor, wie sich Hitler immer mehr abkapselt und entsprechend mehr Stimmungsaufheller benötigt. Hitlers Leibarzt charakterisiert der Autor als einen nach Ansehen lechzenden Menschen, dem es gelungen ist, Hitlers Vertrauen zu gewinnen. So stolz er auch darauf ist, so tief erschüttert ist Morell, als ihn der „Führer“ (wenige Tage vor seinem Selbstmord) entlässt. Morell geriet übrigens nach dem Krieg in amerikanische Gefangenschaft und starb 1948.

Neben Hitler kommt auch Reichsfeldmarschall Göring nicht ohne Drogen aus. Als die Alliierten ihn festnehmen, hat er 24000 Tabletten bei sich.

Dass alle diese Substanzen Körper und Geist der Konsumenten schädigen war den Nazis sehr wohl bekannt und es gab in den Reihen von damaligen Wissenschaftlern durchaus kritische Stimmen, die vor ständigem Gebrauch warnten. Norman Ohler ist auf einen Anweisungszettel für die Soldaten gestoßen, wie sie umsichtig mit Pervitin umgehen sollen. Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll dürfte von solchen Ratschlägen kaum etwas gewusst haben, denn er ist, wie Ohler schreibt, als Soldat abhängig geworden.

Um herauszubekommen, welche Wirkung Drogen bei mehrmaliger Einnahme direkt nacheinander haben, gab es in mehreren KZs Menschenversuche. Zum Teil haben die Gefangenen vier Tage lang kein Auge zugetan, sie wurden künstlich wach gehalten.

Norman Ohler stellt klar, dass die gewonnen Erkenntnisse über den Drogenkonsum in der NS-Zeit keineswegs Sensationszwecken dienen, noch die Verbrechen erklären oder gar entschuldigen sollen. Der Autor sieht in den Rauschgiften ein „künstliches Mobilisierungspotenzial“, um das Volk und seine Soldaten bei Laune zu halten. Für den (im November 2015 verstorbenen) Historiker Hans Mommsen, der als Professor vor allem in Bochum lehrte und fürs vorliegende Buch ein Nachwort schrieb, besteht der Erkenntnisgewinn Ohlers unter anderem darin, dass die von den Nazis propagierte idealistische Motivation stark relativiert werde.

Norman Ohler: „Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich“. Mit einem Nachwort von Hans Mommsen. Kiepenheuer & Witsch. 364 Seiten, 19,99 Euro.




Rückkauf für Dortmund – ein lange verschollenes Gemälde und viele Geschichten

„Wir sind jetzt heiß geworden“, sagt Klaus Fehlemann mit leicht ironischem Beiklang. Wenn ein distinguierter Mensch wie Dortmunds ehemaliger Stadtdirektor sich so kräftig ausdrückt, dann muss wohl etwas besonders Erfreuliches, ja Herzwärmendes geschehen sein; etwas, das möglichst eine Fortsetzung finden sollte…

Heinrich Nauens Bild "Sonnenblumen mit welker Kresse" (1924) enthüllt: Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann mit der Provenienzforscherin Dr. Ulrike Gärtner und Klaus Fehlemann (re.), Vorsitzender der Freunde des Museums Ostwall. (Foto: Bernd Berke)

Heinrich Nauens Bild „Sonnenblumen mit welker Kresse“ (um 1924), enthüllt: Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann mit der Provenienzforscherin Dr. Ulrike Gärtner und Klaus Fehlemann (re.), dem Vorsitzenden der Freunde des Museums Ostwall. (Foto: Bernd Berke)

Fehlemann ist heute Vorsitzender des Vereins Freunde des Museums Ostwall, welches sich bekanntlich im Dortmunder „U“ befindet. Dem Freundeskreis ist es jetzt gelungen, ein lange verschollenes, doch staunenswert gut erhaltenes Bild für Dortmund zurückzukaufen: Bis 1937 hatte Heinrich Nauens Gemälde „Sonnenblumen mit welker Kresse“ (entstanden um 1924) zur Sammlung des damaligen Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte am Ostwall gehört.

Unverhofft wieder auf dem Markt

Doch im August 1937 wurde das Stillleben des rheinischen Expressionisten Nauen (1880-1940) – wie so viele andere Kunstwerke in ganz Deutschland – von den Nazis im Rahmen einer schändlichen Maßnahme als „Entartete Kunst“ beschlagnahmt und aus dem Museum entfernt. Nach einem erfolglosen Verkaufsversuch im Auftrag des NS-Propagandaministeriums verlor sich die Spur des Bildes für viele Jahrzehnte. Irgendwann muss es in niederrheinischen Privatbesitz gelangt sein.

Just im November 2015, also etwas über 78 Jahre nach der Beschlagnahme, tauchte das Werk unverhofft wieder auf dem Kunstmarkt auf. Der wertvolle Hinweis aufs Angebot einer Düsseldorfer Kunsthandlung kam von einem aufmerksamen Nutzer der Internet-Seite www.alfredflechtheim.com.

Zweifelsfrei echt

Dann ging alles sehr rasch: Sehr zügig konnte die erfahrene Dortmunder Provenienzforscherin Dr. Ulrike Gärtner das Bild zweifelsfrei identifizieren und zuordnen. Eine Schwarzweißfoto von 1926 wies die Richtung, auf der Gemälde-Rückseite war die passende, allzeit unveränderte Inventarnummer zu finden, auch die Signatur und weitere Merkmale stimmten.

Flugs handelten daraufhin auch die Freunde des Museums, die das – auch von anderen Interessenten ins Auge gefasste – Bild binnen 98 Stunden für eine Summe erwarben, über die Stillschweigen vereinbart wurde. Sie liegt „im unteren fünfstelligen Bereich“.

Heinrich Nauen: "Sonnenblumen mit welker Kresse", um 1924 (Museum Ostwall/Foto: Sascha Fuis Photographie, Köln)

Heinrich Nauen: „Sonnenblumen mit welker Kresse“, um 1924 (Museum Ostwall/Foto: Sascha Fuis Photographie, Köln)

Man mag unter ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten darüber sinnieren, warum für die Stadt ein Werk zurückgekauft werden muss, das ihr doch eigentlich gehört hat. In der Praxis geht es wohl nicht anders. Apropos Legalität: Die NS-Machthaber hatten die Beschlagnahmung der als „entartet“ verfemten Kunstwerke rein formaljuristisch durch ein Gesetz vorbereitet. Kaum zu glauben, was im Namen des (gebeugten) Rechts möglich war…

Alfred Flechtheims Verbindung zur Stadt

An das Bild knüpfen sich noch weitere Geschichten, beispielsweise diese: Es kam durch den damals wohl wichtigsten deutschen Kunsthändler nach Dortmund. Alfred Flechtheim betrieb avancierte Galerien in Düsseldorf und Berlin. Er war mit dem damaligen Dortmunder Museumsdirektor Prof. Braun befreundet, dem er auch manche Schenkung zukommen ließ.

Was wahrlich nicht allgemein bekannt ist: Sowohl Flechtheims Mutter als auch seine Frau stammten aus Dortmund. Da kann man geradezu in lokalen Zusammenhängen schwelgen: Ursprünglich Getreidehändler, hatte Flechtheim häufig an der Dortmunder Getreidebörse zu tun, der größten des Ruhrgebiets. Hier lernte er das Regionalgericht Pfefferpotthast schätzen. Auch zählte der Förderer des zeitweise weltmeisterlichen Boxers Max Schmeling Sportereignisse in der Dortmunder Westfalenhalle zu seinen liebsten Freizeitvergnügen.

Weitere Werke auf der Verlustliste

Zurück zu Heinrich Nauens farbkräftigem Bild, das sich bestens zum expressionistischen Schwerpunkt des Museums Ostwall und speziell zu vier bereits vorhandenen Nauen-Zeichnungen fügt. Dortmunds Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann sowie Regina Selter (kommissarische Leiterin) und Dr. Nicole Grothe (Sammlungsleiterin) vom Ostwall-Museum zeigten sich denn auch hoch erfreut übers vorweihnachtliche Bildergeschenk, das heute mit gemessener Feierlichkeit in der Restaurierungswerkstatt des Dortmunder „U“ enthüllt wurde. Medienleute mögen solche Momente. Irgendwie.

Thema erschöpft? Nein, immer noch nicht ganz: Schon lange zuvor sind drei Gemälde von Christian Rohlfs in die Stadt zurückgekehrt. Doch auf der Liste der 1937 beschlagnahmten und seither verschollenen Kunstwerke aus Dortmunder Besitz stehen noch weitere 7 Gemälde, 81 Grafiken, 25 Grafikmappen und eine Skulptur. Besagte Provenienzforscherin Dr. Ulrike Gärtner spürt übrigens nicht nur detektivisch den verschlungenen Wegen dieser Bilder nach, sondern versucht auch zu ermitteln, welche „Raubkunst“ die Stadt ihrerseits eventuell an rechtmäßige Besitzer bzw. deren Erben zurückgeben muss. Ein weites Feld.

So. Nun aber genug der vielfältigen Verzweigungen. Jetzt wollen Sie das Werk von Heinrich Nauen wahrscheinlich bald in Dortmund besichtigen, nicht wahr? Schade, aber das wird nicht gehen. Zuerst muss es restauriert und neu gerahmt werden. Es soll, so die bisherigen Pläne, erst nach der nächsten Umsortierung der Schausammlung zu sehen sein, so ungefähr im Frühjahr 2017. Vielleicht geht’s ja doch ein bisschen früher?

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Ein Hinweis zur genaueren (vergrößerten) Betrachtung des Gemälde-Fotos findet sich hier.




Erste Premiere im „Megastore“: Jelineks NSU-Drama „Das schweigende Mädchen“

Frank Genser Bettina Lieder Marlena Keil Friederike Tiefenbacher Uwe Schmieder

Theater für ein stehendes Publikum im „Megastore“ mit (von links) Frank Genser, Bettina Lieder, Marlena Keil, Friederike Tiefenbacher und Uwe Schmieder (Foto: Birgit Hupeld/Theater Dortmund)

Die Ankündigung der Angeklagten Beate Zschäpe, auszusagen, verhalf dem Stück zu ungeahnter Aktualität. Doch eingeplant worden war „Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek schon vor Monaten, als erste Premiere im „Megastore“, der neuen temporären Spielstätte des Dortmunder Schauspiels. So richtig aktuell geriet die Produktion daher letztlich auch nicht.

Trotz einiger kleiner textlicher Anpassungen an jüngste Entwicklungen im sogenannten NSU-Prozeß blieb der nachrichtliche Stand September 2014 (oder noch ein bißchen früher), als das Stück seine Uraufführung in München erlebte. Es ist, wie man hier wieder sieht, das Los aktueller Themen, daß sie sehr schnell verblassen.

Indes: Erledigt ist das Thema ja nicht. Noch immer fragen viele Experten gerade so wie das Stück – wenn auch nicht in dessen auffahrendem, hochmoralisch anklagendem Ton -, wie es zu einem derart desaströsen Versagen der ermittelnden Behörden, in Sonderheit des Verfassungsschutzes, kommen konnte. Und nicht nur die üblichen Verschwörungstheoretiker halten weitere Täter und eine Vernetzung des NSU innerhalb der rechtsradikalen Szene allemal für vorstellbar.

Das Problem eines Prozesses gegen die einzige Überlebende des Terror-Trios ist nur, daß er eben nicht solche Fragen in den Mittelpunkt stellen darf, sondern die Schuld der Angeklagten ermitteln muß, um sie angemessen verurteilen zu können. Und da gibt es nichts Neues. Offenbar auch nicht, nachdem die Angeklagte ihr Schweigen brach.

Wut und Fassungslosigkeit

Elfriede Jelineks Stück wußte vor gut einem Jahr ebenfalls nichts Neues zu erzählen, und auch Michael Simon (Inszenierung/Bühne) kann in seiner Dortmunder Megastore-Einrichtung nichts Neues erzählen, kann das Bekannte nur mit Wut und Fassungslosigkeit deklamieren lassen und die von Jelinek behaupteten Bezüglichkeiten zwischen deutscher Identität und rechtem Terrorismus in Szenen und Bilder einpassen.

Aus einstmals 224 Seiten Jelinek-Text wurden in Dortmund etwa 70 Minuten Theater, die vom Publikum in der ersten Hälfte stehend, in der zweiten sitzend wahrgenommen werden. Es geht da, fast wörtlich zu verstehen, zunächst ziemlich durcheinander, wenn skandalöse Details diverser Tathergänge zornig nachvollführt und nacherzählt werden, wenn beispielsweise von jenem Verfassungsschutzagenten berichtet wird, der einen Mord nicht bemerkt haben will, obwohl er praktisch daneben saß.

Teil zwei, das Publikum sitzt nun auf den neuen, hinlänglich bequemen „Megastore“-Rängen (die sicherlich flexibel eingesetzt werden können), beginnt mit der Gerichtsverhandlung, in der der Schauspieler Uwe Schmieder zunächst den Richter gibt, unwillig, vorurteilsbeladen, und sodann, nachdem er den Prozeßtag schnell beendet hat, in eine Art Alptraum stürzt, in dem Monsterwesen ihm arg zusetzen und in dem er schließlich gar Fäkalien essen muß, die ihm eine Putzfrau verabreicht, die ihren Durst aus der Reinigungsmittelflasche löscht.

Flecken, die nie wieder rausgehen, waren schon in Teil 1, raunend beschworen vom Dortmunder Sprechchor, von zentraler Bedeutung, hier tauchen sie sehr real wieder auf, zumal der arme Alpträumende auch noch bedeutungsschwer mit geschredderten Aktenseiten bestreut und von einem Monsterzwerg bepinkelt wird.

Assoziative Elemente

Das Altarbild einer Kreuzigung im Hintergrund wird von den Figuren (Rollen gibt es auf dem Programmzettel nicht) pantomimisch nachgestellt und scheint Terroristen-Phantasien von bibelgleicher Dreieinigkeit im nationalistischen Martyrium bedeuten zu sollen; es gibt der assoziativen Elemente etliche mehr, doch bleiben sie im wilden Gang des Geschehens häufig zu unscharf, um tiefen Eindruck zu hinterlassen. Schließlich schreien die Darstellerinnen dem Publikum Einzelheiten der Mordtaten voll Wut und Vorwurf in die Gesichter, stellen sich sodann eine nach der anderen unter die Namen der Opfer, die auf die Wand geschrieben sind, und schließlich geht, Lampe für Lampe, langsam das Licht aus.

Dortmunder Sprechchor

Dortmunder Sprechchor (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nun ja.

Die große Halle ist eine Chance

Wenn ein Theater bespielt werden muß, das eigentlich ein Baukörper aus zwei modernen Industriehallen und einigen Nebenräumen ist, so verlangt dies nach neuen Ideen. Simon und seine Regie-Mitarbeiterin Ariane Andereggen haben, zumal im ersten Teil, mit beweglichen Podestelementen und rollenden Requisiten wie beispielsweise einem geschrotteten Polizeiwagen da durchaus einiges entwickelt, und schön wäre es, wenn auch in weiteren Produktionen diese Räume vor allem als Chance und Herausforderung begriffen würden. Teile des Raumes durch „Abhängen“ mit Stoffbahnen verkleinern, das kann man immer noch machen, als ultima Ratio. Daß aber auch ganz andere Sachen in solchen Hallen möglich sind, beweist ja seit vielen Jahren schon die Ruhrtriennale.

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Mitwirkende: Marlena Keil, Bettina Lieder, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth, Frank Genser.

  • Die nächsten Termine: 17. Dezember, 27. Dezember 2015, 16. Januar 2016.
  • Informationen und Karten Tel. 0231 / 50 27 222
  • http://www.theaterdo.de/detail/event/16586/



„Platz des europäischen Versprechens“ – Jochen Gerz‘ Konzeptkunstwerk wird in Bochum eröffnet

Die Idee von Europa steht mehr denn je auf dem Prüfstand. Gastautorin Isabelle Reiff über Jochen Gerz‘ Konzeptkunstwerk „Platz des europäischen Versprechens“, das nach rund zehn Jahren Vorbereitung am kommenden Freitag in Bochum eröffnet werden soll – offenbar genau zur rechten Zeit.

Erst der drohende Grexit, jetzt Flüchtlingskrise und Terroralarm. Eine harte Bewährungsprobe für Europas Selbstverständnis: Machen wir die Grenzen dicht, aber TTIP & Co. klar? Oder beziehen wir Stellung gegenüber den USA und tragen Verantwortung als Mitverursacher der Konflikte im Nahen Osten?

„Die Teilung der Welt in Künstler und Betrachter gefährdet die Demokratie“, sagt der Konzeptkünstler Jochen Gerz; ebenso wie die Teilung in Regierung und Regierte.

Jochen Gerz: Platz des europäischen Versprechens (2004-2015), Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015. Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu. Foto: Ayla Wessel, Bochum)

Jochen Gerz: „Platz des europäischen Versprechens (2004-2015), Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015. Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu. Foto: Ayla Wessel, Bochum)

Könnte es einen passenderen Zeitpunkt geben, um einen Ort einzuweihen, der „Platz des Europäischen Versprechens“ heißt? Die Rede ist vom Platz vor einem geschichtsträchtigen Sakralbau: Der Glockenturm der Christuskirche war das einzige Bauwerk in Bochums Innenstadt, das 1945 nicht in Schutt und Asche lag. Dennoch blieb das Innere 60 Jahre lang jeder Einsicht entzogen. Zwei Weltkriege hatte der Turm überstanden und diente dann nur noch als Abstellkammer. Grund ist die in den Jahren 1929-1931 erfolgte Umwidmung in eine Heldengedenkhalle: An den Wänden sind noch immer die Namen von 1358 Gefallenen und die Namen der „Feindstaaten“ der Deutschen im Ersten Weltkrieg zu lesen.

Als es in Bochum 2005 im Rahmen eines Landeswettbewerbs darum ging, den Kirchplatz – bis dahin halb Baustelle, halb Parkplatz – endlich zu verschönern, schlug der Gemeindepfarrer Thomas Wessel den Künstler Jochen Gerz als Gestalter vor. Gerz ist vor allem bekannt für seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

14726 Unterschriften für eine neue Vision

Gerz sah das Innere dieses Glockenturms und entschied: In diesem Raum fängt der Platz an. Sein Konzept für ein Kunstwerk, das dem Turm eine dritte Namensliste einschreibt und aus ihm heraus führt, erhielt den Zuschlag – mit Tausenden Unterschriften heute Lebender, die der alten Geschichtsauffassung von Feinden und Krieg eine neue Vision gegenüberstellen.

Jochen Gerz: "Platz des europäischen Versprechens" (Detail einer Steinplatte mit Namensinschriften). 2004-2015, Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015, Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu, Foto: Sabitha Saul, Dortmund).

Jochen Gerz: „Platz des europäischen Versprechens“ (Detail einer Steinplatte mit Namensinschriften). 2004-2015, Bochum. (© Jochen Gerz, VG Bild-Kunst, Bonn 2015, Courtesy: Gerz studio, www.jochengerz.eu, Foto: Sabitha Saul, Dortmund).

Welche Zusage sie Europa gemacht haben, blieb unausgesprochen. Dennoch haben 14726 Menschen teilgenommen. „Diese Verschwiegenheit ist ja nicht identisch mit Unverbindlichkeit“, findet Kurt Wettengl, langjähriger Leiter des Ostwall-Museums in Dortmund. „Sollte ich mein Versprechen nicht einhalten oder brechen, muss ich es mit mir ausmachen und ich mich wieder daran erinnern. Unser aller und damit auch meine Mitverantwortlichkeit für die Gestaltung der Zukunft – Europas – macht das Bochumer Denkmal deutlich.“

600 Namen sind in der ersten Bodenplatte im Turm eingraviert. Ihre Abmessung bildet die Matrix für alle Steinplatten, die nachfolgten und jetzt (insgesamt sind es 20) den Vorplatz mit Namen füllen. „Dieser Platz ist für mich eine Gelegenheit, meine Anteilnahme kund zu tun“, begründet Rotraud Burchhardt-Kamplade, eine der ersten Versprechensgeberinnen. „Europa ist der kleinste Kontinent, und doch haben hier die meisten Kriege stattgefunden. Dass von Europa heute Frieden ausgeht, das liegt mir am Herzen.“

Ein Bündnis für den Frieden

Der „Platz des europäischen Versprechens“ ist gedacht als großes, demokratisches Manifest für ein Europa, das aus seiner blutigen Vergangenheit gelernt hat und auch andernorts keine Kriege führt. Deutschland ist das passende Land für so einen Platz, erst recht NRW. Keine Woche vergeht, in der nicht wieder Bomben aus einer Zeit auftauchen, als die einstige Industriehochburg unter Beschuss lag. Und während wir hier alte Blindgänger entschärfen, gelangt neue Munition auf andere Kontinente: Es sind ja sogar nicht zum geringen Teil deutsche Waffen, die jetzt auf uns zurückzielen.

Wo kann das Umdenken anfangen? Bei den Politikern? So denken die meisten. Ich auch, und das drückt auch meine Frustration aus. Ich konnte erst wenig mit dem Konzeptkunstwerk „Platz des Europäischen Versprechens“ anfangen – zu intellektuell, zu erklärungsbedürftig kam mir das Ganze vor. Jetzt tut es mir leid, dass meine Unterschrift fehlt, allein um dieses Zeichen zu setzen: „Krieg kann keine Lösung sein!“

Tatsächlich hat mich die Beschäftigung mit diesem Platz dazu gebracht, meine Anti-Haltung gegenüber Europa (hervorgerufen durch die Regulierungswut und den Sparzwang, der auf Kosten so vieler geht) hinter mir zu lassen und mich rückzubesinnen auf das, wozu Europa im allerersten Schritt gedacht war: als ein Bündnis für den Frieden.

(Der Platz wird am kommenden Freitag, 11. Dezember, um 17 Uhr offiziell eröffnet).




Darf man über Untaten schweigen? Javier Marías‘ Roman „So fängt das Schlimme an“

Warum sprechen wir ständig über Dinge, die wir eigentlich gar nicht wissen können? Warum wühlen wir in Gerüchten und Lügen und präsentieren sie als vermeintliche Wahrheiten? Könnte es nicht manchmal sinnvoll sein, über mögliche Verbrechen zu schweigen und Untaten mit dem Mantel des Vergessens zuzudecken, mithin das Schlimme zu vermeiden, damit das hinter der Szenerie lauernde noch noch Schlimmere gebannt bleibt?

Mit solchen Fragen zur Psychologie des politischen und philosophischen Erkenntnisinteresses beschäftigt sich Javier Marías in seinem neuen Roman „So fängt das Schlimme an“. Schon der Titel des Buches spielt auf Shakespeare an, der einmal sagte: „Thus bad begins ans worse remains behind“.

Marias

Das Spiel mit Shakespeare ist beim spanischen Autor, der sich mit Romanen wie „Mein Herz so weiß“ oder „Morgen in der Schlacht denk an mich“ in die Weltliteratur schrieb und eine zeitlang in Oxford lebte und lehrte, nichts Neues. Immer wieder kommt er in seinen vielschichtigen Erzähl-Variationen über die Schwierigkeit, die Wahrheit von der Lüge, die Fiktion von der Realität und das Wunschdenken von den Fakten zu unterscheiden, auf den englischen Literatur-Giganten zurück.

Diesmal gibt Marias seinem Ich-Erzähler sogar einen anspielungsreichen Namen: Denn Juan, der von heute aus auf eine Zeit zurückschaut, als er noch ein 23jähriger Film-Freak war und sich naiv in ein Gespinst aus Lug und Trug, Liebe und Hass, Leidenschaft und Tod verwickeln ließ, trägt den Nachnamen de Vere – ist also ein literarischer Nachfahre von Edward de Vere, Earl of Oxford, Abenteurer, Duellant und Dichter, den manche für den wahren Shakespeare halten. Dessen Vorname – Edward – aber trägt im Roman die Person, die für den Erzähler Juan zum Vater-Ersatz wird: Eduardo Muriel, Film-Regisseur und Ikone des spanischen Kinos, bei dem Juan als Assistent anheuert.

Wir schreiben das Jahr 1980, vor wenigen Jahren ist General Franco gestorben und die klerikal-faschistische Diktatur sang- und klanglos verschwunden. Um ohne Blutvergießen den Aufbruch in die Demokratie zu ermöglichen, wird allen Tätern und Mitläufern eine Amnestie gewährt.

In diesem Milieu des Schweigens und Verdrängens gedeihen Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt niemand überprüfen kann. Hat Doktor Jorge van Vechten seine Karriere und seinen Reichtum wirklich nur der Tatsache zu verdanken, dass er williger Helfer der Faschisten war? Benutzt er sein Wissen über die Geheimnisse der Menschen tatsächlich, um sie zu erpressen und Frauen sexuell zu nötigen?

Juan soll das im Auftrag seines Chefs herausbekommen. Denn van Vechten ist ein Freund des Film-Regisseurs und vielleicht sogar ein Liebhaber von Muriels Gattin Beatriz. Juan wird zum Spion wider Willen: Ihm ist das Geschnüffel widerlich, und peinlich ist ihm auch, dass er sich auf eine kurze Affäre mit Hausherrin Beatriz einlässt.

Doch als Juan endlich der ganzen Wahrheit über den dubiosen Arzt und über die Ehehölle der Muriels nahekommt, gebietet ihm der Regisseur zu schweigen. Er will das Schlimme doch lieber nicht wissen, um das noch Schlimmere zu bannen.

Dass die verwickelte, von literarischen Anspielungen, filmhistorischen Hinweisen, politischen Abgründen und erotischen Vergnügungen durchwirkte Geschichte nicht gut ausgehen kann, ist klar. Doch wie Javier Marías auf ein furioses Finale zusteuert und das gefährliche Intrigen-Spiel zu einem (halbwegs) versöhnlichen Ende bringt, ist ganz großes Erzähl-Kino.

Javier Marías: „So fängt das Schlimme an“. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt, 638 Seiten, 24,99 Euro.




Ratlos in Hannover – und überhaupt

Ich möchte kein Politiker sein. Ich möchte kein Polizist sein. Ich möchte kein…

Ist Deutschland ein feiges Land? Das überaus gefährdete Fußballspiel England – Frankreich im Wembley-Stadion wird ausgetragen. Die Begegnung Deutschland – Niederlande in Hannover wird hingegen rund 90 Minuten vor Beginn abgesagt. Aber wer möchte verantwortlich sein, wenn Hinweise auf einen Anschlag vorliegen? Und diese Hinweise müssen schon sehr konkret gewesen sein. Wer weiß.

Screenshot vom Spiel England - Frankreich im Wembley-Stadion.

Screenshot vom Spiel England – Frankreich im Wembley-Stadion.

Bemerkenswerte Einlassung des Bundesinnenministers Thomas de Maizière in seiner Hannoveraner Pressekonferenz: Wollte er alle Journalistenfragen wahrheitsgemäß beantworten, so könnten manche Antworten die Bevölkerung verunsichern…

Was sollen wir nun denken?

Während ich im NDR die Pressekonferenz mit de Maizière, dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) und dem Dortmunder Bundesliga-Chef Reinhard Rauball verfolge, schaue ich im Netz aus den Augenwinkeln auf Szenen der Begegnung in London. Wie nebensächlich der Fußball geworden ist, fast schon ein sinnfreies Gehampel!

Und schon fragt man sich, ob nicht die gesamte Bundesliga gefährdet sein könnte. Und die Premier League. Und die Primera Division. Das alles darf doch nicht wahr sein. Damit wären diverse Geschäftsmodelle bedroht. Und damit ginge es ans Eingemachte des Westens.

Gänsehaut-Bekundungen aller Arten mag ich eigentlich nicht. Aber als Franzosen und Engländer in London gemeinsam die Marseillaise („Aux armes, citoyens, formez vos bataillons“) gesungen haben, war das schon wahrlich „something to be“… Ach, Europa!

Wie ich gerade sehe, läuft im NDR schon wieder ein alter „Tatort“. Na, dann. Kann man ja wohl beruhigt schlafen, oder?




Schriftsteller des PEN zur Asylpolitik: Gegen ein engherziges Europa

Gastautor Heinrich Peuckmann, selbst Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland, über die Haltung der internationalen Schriftstellervereinigung zur Asyl- und Flüchtlingspolitik:

Neben der Pflege von Sprache und Dichtung gehört die Verteidigung des freien Wortes zu den wichtigsten Aufgaben des PEN. In der Praxis bedeutet dies vor allem die Verteidigung der von Verfolgung, Gefängnis oder Todesstrafe bedrohten Schriftsteller, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt.

Eine riesige Aufgabe, immerhin sind es über 800 Autoren, die weltweit verfolgt werden, trotzdem meldet sich der deutsche PEN auch zu anderen drängenden Problemen der Gegenwart zu Wort. Große Beachtung fand seine Initiative „Schutz in Europa“, die von über tausend Schriftstellern in ganz Europa unterschrieben wurde, und in der ein gemeinsames, menschenwürdiges Asylrecht in Europa verlangt wird.

Logo des PEN-Zentrums Deutschland

Logo des PEN-Zentrums Deutschland

Auch den deutschen PEN haben die Bilder von den Ertrinkenden im Mittelmeer erschüttert und vor allem die Tatenlosigkeit, mit der dies von europäischen Regierungen weitgehend kommentarlos hingenommen wurde. „Krieg, Verfolgung, Hunger und widrige Lebensumstände zwingen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen“, schreibt der PEN und fährt fort:

„Wir fordern die europäischen Staaten auf, ein gemeinsames, menschenwürdiges Asylrecht zu schaffen, das nicht durch staatlichen Egoismus geprägt ist, sondern vom Geist der Solidarität und Verantwortung … Wir Schriftsteller Europas erwarten von den Mitgliedsstaaten und den Institutionen der Europäischen Union, dass sie ihren humanitären Verpflichtungen nachkommen und es als vordringliche gemeinsame Aufgabe verstehen, Menschen zu schützen und ihnen Zukunftsperspektiven zu ermöglichen.“

Die Übergabe dieser Erklärung durch eine Delegation des PEN-Präsidiums beim Innenministerium war ein eher bemühter, distanzierter Vorgang, weil Staatssekretär Schröder der Meinung war, dass von deutscher Seite aus alles Denkbare getan werde.

Einen Tag später aber bei der Übergabe in Brüssel an den Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz, wurden die Vertreter des PEN mit offenen Armen empfangen. Diesmal wurden sie vom internationalen und englischen PEN unterstützt. John Ralston Saul, Präsident des internationalen PEN, beantwortete die Frage, warum sich ausgerechnet eine Literaturorganisation um das Thema Asyl und Flüchtlinge kümmere mit dem Hinweis auf die PEN-Charta. Dort steht, dass Literatur keine Grenzen kenne und was für die Literatur gelte, müsse auch für Menschen in Not gelten.

Dies alles geschah Monate vor dem großen Ansturm der Flüchtlinge über die Balkanroute, vor allem aus Syrien. Die Folgen dieses neuen Ansturms, den manche, nicht nur der PEN, wenn auch nicht in dieser Dramatik vorausgesehen haben, sind bekannt. Die nationalen Egoismen wurden noch offensichtlicher, teilweise machte man sich nicht einmal die Mühe, sie verschämt zu kaschieren.

In dieser Situation gab der deutsche PEN-Präsident Josef Haslinger dem Deutschlandradio ein Interview, in dem er im Geiste der Erklärung die mangelnde Solidarität der europäischen Länder scharf kritisierte. „Wir sind Augenzeugen des Zerfalls von Europa“, erklärte Haslinger und fügte hinzu, dass das Europa ohne Grenzen ein Traum gewesen sei, freilich einer aus einer „Schönwetterperiode“. Im Augenblick der Krise würden all die großen Erklärungen und Verträge plötzlich nicht mehr zählen, sie würden schlicht und einfach außer Kraft gesetzt.

Positive Worte fand Haslinger durchaus für die (bisherige) deutsche Politik. Bundeskanzlerin Merkel habe dazu aufgefordert, die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten, dann aber von Staaten aus Südosteuropa im Stich gelassen wurde. Das gleiche gelte für potente Staaten wie Frankreich und Großbritannien. Wenn Deutschland derartig im Stich gelassen werde wie im Moment, wenn es zu keiner einvernehmlichen Lösung in dere Flüchtlingsfrage komme, würde Deutschland in eine enorme Krise hineingetrieben, befürchtete Haslinger.

Ein engeres, besser gesagt engherziges Europa droht. Und wo für Menschen Grenzen und Zäune errichtet werden, wird das bald auch, so ist zu befürchten, für den Austausch des freien Wortes gelten. Deshalb ist der Kampf für ein humanes Asylrecht und Menschlichkeit im Umgang mit Flüchtlingen für den PEN nichts anderes als die Kehrseite seines Kampfes um das freie Wort.




Leidenschaftlicher Lehrer, Autor und Ratsherr in Unna – zum Tod von Rudolf Schlabach

Der Geest-Verlag, „sein“ Verlag, schreibt spürbar betroffen auf seiner Website: “In großer Trauer nehmen wir Abschied von unserem Autor Rudolf Schlabach, der am Montag, den 26. Oktober 2015 nach langer, schwerer Krankheit verstarb. Das Erscheinen seines letzten Bandes, ,Die Freiheit zu schreiben’, durfte er noch miterleben. Wir werden sein Ansehen und seine unendliche Schaffenskraft in würdiger Erinnerung behalten.”

Wenn man das Motto des Geest-Verlages liest, weiß man, warum Rudi Schlabach ihn wählte, um seine Bücher zu verlegen: “Unpolitisch sein heißt politisch sein, ohne es zu merken.” (Rosa Luxemburg)

Rudolf Schlabach (Foto: © Geest Verlag)

Rudolf Schlabach (Foto: © Geest Verlag)

Rudolf Schlabach (Jahrgang 1924) war aber nicht nur ein Autor, wenn auch das seine Leidenschaft war und bis zu seinem Tode blieb. Er war ebenso leidenschaftlicher Pädagoge, als solcher Gründungsdirektor des Geschwister-Scholl-Gymnasiums in Unna, er war lebenslang Lernender, auch als Lehrender.

Tief geprägt von Erlebnissen aus der Zeit des dumpfen Nazi-Terrors und den Kriegszeiten bei der Marine war er Sozialdemokrat bis zur Knochenhaut, obwohl ihm manche befreundeten Zeitgenossen gern seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund vorhielten, wie das auch gern mal sein Altbürgermeister Erich Göpfert auf lästerliche Weise tat. Rudi blieb seinem Freund aber da nichts schuldig, denn er wusste wie er dem “Genossen Erich” zu antworten hatte. Und eines wussten nur wenige Vertraute: Rudi Schlabach kannte jedes einschlägige Arbeiterlied textsicher auswendig.

Rudi Schlabach verfasste viele Beiträge für die legendäre Hörspielreihe “Papa, Charly hat gesagt…”, er liebte das Hörspiel als solches und schrieb viele Texte für dieses Genre, außerdem lesenswerte Novellen (zuletzt noch “Undine lebt”). Für ihn war sein vorpensionärer Hauptberuf von besonderer Bedeutung. Jungen Menschen Bildung zu geben, sie derart zu prägen, dass sie Literatur gern lasen, sie als Grundnahrungsmittel erlebten. Er wollte sie durch solche Prägungen resistent machen gegen das, was er selbst zur Nazi-Zeit erfuhr – dass die menschenunwürdige Herrschaft einer blindideologischen Partei mehrheitsfähig werden konnte.

Rudolf Schlabachs letzte Novelle

Rudolf Schlabachs letzte Novelle

So war es beinahe folgerichtig, dass sich Rudi Schlabach darum bemühte, neben seinen pädagogischen Aufgaben und seiner Leidenschaft als Autor auch noch Ratsmitglied in seiner Stadt zu werden. Es gelang ihm 1975, und er gehörte dem Rat Unnas bis 1984 an. Bisweilen erschien er manchen seiner Fraktionskollegen zu feingeistig, er wurde aber stets geachtet und respektiert, weil er auch da pädagogisch vorging. Und er zeigte ohne erkennbare Hybris, dass er sehr wohl wusste, wovon er im politischen Raum berichtete.

Als er dann Pensionär wurde, zog es ihn nach Hude nahe Oldenburg. Er lebte und schrieb, ließ nur handverlesen alte Bekannte teilhaben und war fern der Heimat im Märkischen Sauerland ein glücklicher Mensch. Es bleibt viel von ihm, was Nachgeborene lesen sollten, es bleibt viel von ihm, was er Lernende lehrte, und es bleibt viel von Rudi Schlabach, an das sich Weggefährten in Rat und Rathaus in Unna erinnern. Mach’s gut, alter Freund!




Für die Benachteiligten schreiben: Die Werkstatt Dortmund im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ – eine Erinnerung

Der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ war in den 1970er und 1980er Jahren ein wichtiges Projekt der Gegenwartsliteratur. Unser Gastautor Heinrich Peuckmann, damals selbst langjähriges Mitglied des Kreises, erinnert an die rege Dortmunder Werkstatt:

Es war Horst Hensel aus Kamen, der die Dortmunder Werkstatt im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ Ende Oktober 1970 gegründet hat. Im Jahr zuvor, noch als Student in München, hatte er von dem Schreibaufruf „Dein Arbeitsplatz – wie er ist und wie er sein sollte“ gehört und sein Betriebstagebuch von Hoesch eingeschickt, das er während seiner Zeit als Werkstudent geschrieben hatte.

Initiiert hatten den Wettbewerb oppositionelle Autoren in der „Dortmunder Gruppe 61“, denen Kurs und Programm zu wenig politisch waren und die kurz darauf, weil ihre Kritik abgelehnt wurde, den Werkkreis gründeten. Hensels Text gefiel ihnen, der Autor erhielt eine Einladung zur jährlichen Sitzung der „Gruppe 61“ und lernte Erasmus Schöfer, Peter Schütt und andere kennen, die ihn anregten, eine Werkstatt Dortmund im Werkkreis zu gründen.

Gründung 1970 im Fritz-Henßler-Haus

Ende Oktober 1970 fand die Gründungsversammlung im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus statt, einem Ort, dem die Werkstatt über die folgenden 17 Jahre bis zu ihrem Ende treu blieb. Schon zur ersten Sitzung kam Paul Polte, den Hensel nicht kannte und der ihm in seinem schicken Anzug, mit seiner karierten Schlägermütze und dem Dackel an der Leine wie ein englischer Lord vorkam. Jedenfalls wirkte Polte nicht wie jemand, der an Arbeiterliteratur interessiert sein könnte, geschweige denn wie jemand, der solche schreiben konnte. Ein Fehlurteil, dem auch ich unterlag, als ich ab der dritten oder vierten Sitzung teilnahm und Polte zum ersten Mal sah.

Impressionen aus einer Werkstatt-Sitzung. u. a.  mit Paul Polte (oben), Horst Hensel (Mitte darunter) und Heinrich Peuckmann. (© Ilse Straeter, Federzeichnung von 1979)

Impressionen aus einer Werkstatt-Sitzung. u. a. mit Paul Polte (oben), Horst Hensel (Mitte darunter) und Heinrich Peuckmann. (© Ilse Straeter, Federzeichnung von 1979)

Mich hatte mein Freund Ferdinand Hanke, der wie Horst Hensel aus Kamen-Methler stammte und Germanistikstudent war wie ich, angesprochen. „Du schreibst doch auch“, sagte er, „komm doch mal vorbei.“

Ich ging zur Probe im Frühjahr 1971 zum ersten Mal hin und blieb für fast zehn Jahre in der Gruppe.

Schmerzliche Verrisse

Von Anfang an war die Dortmunder Werkstatt eine sehr literarische Gruppe. Zu jeder Sitzung, die alle vierzehn Tage im Henßler-Haus stattfand, kamen die Mitglieder mit neuen Texten, lasen vor und stellten sich der Kritik. Keinem von uns ist dabei ein Verriss erspart geblieben, was uns hart gemacht hat, auch für später, wenn unsere Bücher in den Rezensionen der Presse kritisiert wurden.

Wurde es doch mal zu haarig, griff Polte ein. Er wusste, dass Kritik dosiert bleiben musste, um Talente nicht zu verunsichern oder gar zu zerstören. Er ergriff das Wort, wiederholte in milden Worten, welche Kritikpunkte ihm richtig erschienen und fand am Ende immer auch etwas Lobendes, selbst wenn der Text noch so schwach gewesen war. „Man kann doch keinen jungen Hund versäufen“, erklärte er manchmal, „wer weiß, was noch draus wird.“

Paul Poltes Autorität

Polte hatte die Autorität dazu, eine Diskussion auf diese Weise zu beenden. Er war schon in der Weimarer Republik Mitglied im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ gewesen, hatte mit seinem Kabarett „Henkelmann“ die Nazis angegriffen und einige Wochen in der berüchtigte Steinwache am Nordausgang des Bahnhofs verbracht, wo er und seine Gesinnungsgenossen gequält und gefoltert worden waren. Einige seiner berührendsten Gedichte hat Polte über diese Erfahrungen geschrieben, eines davon hängt noch in einer der Zellen, die heute Teil einer Gedenkstätte sind. Später wurde er dann Mitglied der „Gruppe 61“. Polte hatte also alle Bewegungen der deutschen Arbeiterliteratur durchlaufen, die es im 20. Jahrhundert gegeben hat.

Die anderen Mitglieder der Gruppe waren der Arbeiter Rudi Winkler aus Hagen, der vor allem Gedichte schrieb, der Bergarbeiter Rudolf Trinks, der neben Gedichten auch Erzählungen schrieb, die alle das Bergarbeitermilieu beschrieben, das sein Leben geprägt hatte. Rainer W. Campmann aus Bochum versuchte sich schon damals als freier Schriftsteller, die ersten Herausgaben in der berühmt gewordenen „Fischer-Taschenbuch-Reihe“ hat er mitgemacht, später erschienen noch zwei, drei Gedichtbände. Horst Hensel (Lehramtsstudent wie Ferdinand Hanke, Udo Bruns und ich) war wichtig für die Gruppe. Er kannte sich aus in allen Genres der Literatur, schrieb Lyrik, Reportagen, Essays, Erzählungen und Romane. Oskar Schammidatus aus Bochum, der Sozialarbeiter wurde, schrieb Gedichte.

Abende in der „Alten Liebe“

Der starke Anteil an Studenten, die man in einer Gruppe der Arbeiterliteratur nicht unbedingt erwarten würde, störte nicht. Wir haben kooperativ zusammengearbeitet, jeder hat von den Erfahrungen des anderen profitiert. Und wenn es doch mal Komplikationen gab, war immer noch Polte da, der Konflikte glättete und vor allem einen Brauch einführte, den wir alle lieben lernten. Nach der Sitzung gingen wir schräg gegenüber vom Henßler-Haus in die Kneipe, in die „Alte Liebe“, wo wir ein Bier tranken, neue Projekte ausheckten und unsere Freundschaft vertieften. Vor allem Polte lief dann zu Hochform auf, erzählte von seiner Begegnung mit Brecht, seiner Zusammenarbeit mit dem Maler Hans Tombrock, der Brecht ins Exil gefolgt war, von seinen Erfahrungen mit den Nazis in der Steinwache. Es waren herrliche Abende, die wir dort verbracht haben und deren Erinnerungen mein Leben begleiten werden.

Irgendwann kamen Hugo Ernst Käufer, der Lyriker und Aphoristiker, Lilo Rauner, die Lyrikerin, beide aus Bochum und der Agitpropschriftsteller Richard Limpert aus Gelsenkirchen hinzu, die zwar nicht immer, aber eine Zeitlang regelmäßig an den Treffen teilnahmen.

Beachtliche Qualität

Ich weiß noch genau, dass ich mir bei einer Gruppensitzung still vornahm, mir das Bild mit den Teilnehmern genau einzuprägen. Es war mir schon damals klar, dass sich an diesem Tage eine beachtenswerte literarische Potenz in der Dortmunder Werkstatt versammelt hatte, die weit über das normale Werkkreisniveau hinausragte. Tatsächlich sind später vier von den damaligen Teilnehmern in den ehrenwerten „PEN“ gewählt worden: Hugo Ernst Käufer, Lilo Rauner, Horst Hensel und ich. Käufer und Rauner haben zudem den Ruhrgebietsliteraturpreis erhalten.

Die Werkstatt Dortmund konnte sich literarisch also sehen lassen, in fast allen Büchern des Werkkreises war sie mit Texten vertreten, in den meisten mit mehreren. Einige Bücher haben wir auch selbst herausgegeben, u.a. „Sportgeschichten“ und „Im Morgengrauen“, ein Buch über das Altwerden in der kapitalistischen Gesellschaft.

Kneipenlesungen als Markenzeichen

An Lilo Rauner, die im Jahre 2005 verstarb, denke ich mit bewegten Gefühlen zurück. Sie war eine streitbare Frau, immer auf der Seite der kleinen Leute und sie hat, neben all der anderen Lyrik, ein paar wunderbare Sonette geschrieben. Viel zu wenig ist Lilo Rauner heute noch bekannt, auch wenn in Wattenscheid inzwischen eine Schule nach ihr benannt wurde. Die große, auf Petrarca zurückgehende Form des Sonetts hat sie beherrscht und durch Alltagsthemen nachhaltig mit Leben gefüllt. Aber das, denke ich, ist es gerade. Ihre Parteinahme für die Menschen, die am Rand stehen, wird ihr vom Literaturbetrieb verübelt. Hätte sich Rauner auf modische Befindlichkeiten beschränkt, sie wäre viel bekannter geworden. So sind wir es, die von Zeit zu Zeit an sie erinnern. Viel zu wenig, Lilo hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.

Die Werkstatt war aber nicht nur literarisch stark, sie hat auch eine Unmenge an Initiativen zur Verbreitung von Literatur entwickelt. Ich staune selbst, wo wir gelesen haben, vor welchem Publikum. Immer ging es uns darum, mit unserer Literatur jene zu erreichen, die gemeinhin nicht zu literarischen Veranstaltungen kommen. In allen Formen von Schulen sind wir angetreten, in Fußgängerzonen mit Flüstertüte (wobei Richard Limpert mit seiner durchdringenden Stimme eigentlich keine gebraucht hätte), vor Fabriktoren, in Gewerkschaftshäusern, Gefängnissen und Kneipen.

Die Kneipenlesungen waren eine Zeitlang sogar unser Markenzeichen. Dieter Treeck, Kulturdezernent in Bergkamen und später selbst Mitglied im Werkkreis, hat sie mit uns zusammen entwickelt. Freitags, wenn die Arbeiter ihr Bierchen in der Stammkneipe tranken, fanden sie statt, drei oder vier Autoren lasen im Wechsel meist kurze Texte und eine Musikband spielte zwischendurch. Manchmal war es Jazz, manchmal wurden Arbeiterlieder gesungen.

Als die Bergleute zuhörten

Ich weiß noch, dass unser erster Versuch in einer Bergkamener Kneipe beinahe missglückt wäre. Die Arbeiter, Bergleute zumeist, wollten gar keine Literatur hören. Sie waren gekommen, um über Fußball zu reden, über ihre Tauben und was sonst so alles auf der Zeche passiert war. Den Einführungsworten von Dieter Treeck wollten sie partout nicht lauschen, der Lärmpegel blieb hoch, da trat Rudolf Trinks, selbst Bergmann, ans Mikrophon und sagte: „Seid mal stille.“ Und tatsächlich, auf Trinks, der ja einer von ihnen war, hörten sie. Die Lesung wurde ein großer Erfolg.
Manchmal erreichten wir, dass durch die witzig-ironischen Texte die Zuhörer selbst zu witzigen Reaktionen animiert wurden. „Ich lese jetzt ein Gedicht vor aus einem Buch, das ich selbst verlegt habe“, sagte mal ein Gastautor, der die Gepflogenheiten noch nicht kannte. „Hoffentlich hast du es auch wieder gefunden“, tönte es aus der Zuhörerschar zurück.

Schon sehr früh gliederten sich zwei weitere Gruppen an die Werkstatt an, die die künstlerische Arbeit sehr gut ergänzten. Da war einmal das Lehrlingstheater, von Kurt Eichler geleitet, der heute kommissarischer Chef des Dortmunder „U“ ist. Die Gruppe schrieb im Kollektiv Theaterstücke zur Situation der Lehrlinge, die an allen möglichen Orten aufgeführt wurden, manchmal in Kombination mit einer Lesung von uns. Zusätzlich gab es bald eine Graphikgruppe, die unsere Texte illustrierte, die Zeichnungen für Bücher und Lesungsplakate herstellte und daneben eigene künstlerische Ziele im Sinne des Werkkreises verfolgte.

Organisation nahm überhand

Das alles musste koordiniert werden, mit der Zeit wurde die Organisationsarbeit deshalb so umfangreich, dass die künstlerische Arbeit darunter litt. Es fanden Sitzungen statt, in denen nur noch Organisatorisches besprochen und keine Texte mehr gelesen wurden. Wir gründeten ein Leitungskollektiv, das sich zwischen den Sitzungen in Poltes Wohnung an der Bornstraße traf. Noch heute kann ich nicht an dem Haus vorbeifahren, ohne zu den Wohnungsfenstern hinüber zu schauen, denn ich gehörte diesem Kollektiv lange an. Viel Kleinkram wurde schon dort erledigt, die Werkstatt nur noch kurz darüber informiert. Bei schwierigen Problemen wurde vorsortiert und ein Lösungsvorschlag unterbreitet. Die Werkstatt konnte sich wieder auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren, das Schreiben von Literatur.

Polte war für die Finanzen zuständig und noch heute staune ich, wie er das in einem nur für ihn überschaubaren System an Kassen gemacht hat. Geld bekamen wir für unsere Sitzungen im Henßler-Haus von der Dortmunder VHS, die uns in ihr Programm aufgenommen hatte. Deshalb fanden, was auch in unserem Interesse lag, die Werkstatt-Sitzungen stets öffentlich statt. Immer kamen Gäste vorbei. Schüler, die über uns Referate halten sollten, Studenten, die Seminar- oder Examensarbeiten über den Werkkreis schreiben wollten, Hobbyautoren, die Texte lasen, die danach Mitglied wurden oder nie wieder kamen. Geld von Lesungen kam hinzu (für jede von der Werkstatt vermittelte Lesung zahlte der Autor einen Prozentsatz in die Kasse). So hatten wir immer Geld für Plakate, Broschüren oder Buchprojekte.

Werkkreis vor dem finanziellen Ruin

1977 wurde Horst Hensel erster Sprecher des Werkkreises und ein Kassensturz ergab, dass der vorige Vorstand den Werkkreis an den Rand des finanziellen Ruins geführt hatte. Alle wurden zu Spenden aufgerufen. Wir, beunruhigt von Hensels Bericht, wollten sofort all unser Erspartes spenden, aber da sprach Polte dagegen. Einen Teil wollte er abgeben, wie hoch, müssten wir entscheiden, sagte er. Aber die Werkstatt selbst sollte auf jeden Fall finanziell schlagkräftig bleiben. „Und wenn der Werkkreis untergeht?“, fragten wir. „Dann gibt es wenigstens noch die Werkstatt Dortmund“, knurrte Polte.

Am Ende haben wir ein paar tausend DM gespendet, so viel wie alle anderen Werkstätten zusammen, der Werkkreis wurde gerettet und die Dortmunder Werkstatt blieb, dank Polte, liquide.

Der Untergang kam schleichend. Es gehörte zu unserem Programm, dass immer neue Autoren zu uns stoßen sollten. Die waren zumeist blutige Anfänger, wie wir es zur Zeit der Werkstattgründung auch gewesen waren. Aber wir Älteren hatten uns inzwischen entwickelt, die Neuen hielten uns auf, wir mussten immer wieder dieselben Anfängerprobleme lösen und verloren Zeit. Irgendwann wurde die Kluft so groß, dass wir das eigene Schreiben vernachlässigten.

Arbeiter wanderten zu RTL ab

Es war Zeit, dass wir uns trennten. 1980 feierten wir alle zusammen noch mal in Haus Ebberg bei Schwerte, hockten eine lange Nacht bei Bier und Schnaps zusammen, dann wechselten Hensel und ich in die neu gegründete Werkstatt Bergkamen. Wir mussten nun nicht mehr nach Dortmund fahren, die Arbeit blieb überschaubar und es war Zeit zum Schreiben gewonnen. Die anderen blieben noch zusammen, auch noch nach Poltes Tod 1985. Aber nicht mehr lange, dann war die Zeit des Werkkreises vorbei. Es gab kein Interesse mehr in der Arbeiterschaft an aufklärerischer Literatur, viele saßen längst vor RTL oder Prosieben. Schade, denke ich immer noch.

Aus den Gruppenmitgliedern wurden normale Autoren, die nun für sich allein schreiben, jede Menge Bücher entstehen. Bei den meisten erkenne ich immer noch Reste unseres damaligen Anspruchs. Ihre Literatur ist politisch geblieben, was ihr die Anerkennung in der Literaturszene erschwert, wo sich für viele Jahre eine Art literarisches Biedermeier mit Befindlichkeitsliteratur breit gemacht hat.

Wiederkehr des Politischen

Aber die Zeiten beginnen sich zu ändern. PEN-Präsident Haslinger fragte mich mal während einer Präsidiumssitzung, ob es den Werkkreis noch gebe und als ich verneinte, bedauerte es das. Schade, so etwas wie der Werkkreis würde heute noch eher gebraucht als früher, meinte er. Die Situation der arbeitenden Bevölkerung ist doch nicht besser geworden, im Gegenteil, vieles habe sich verschlimmert. An vielen anderen Bemerkungen und verstärkt auch an neuen Projekten merke ich, dass das Thema wieder in der Literatur virulent wird. Der PEN selbst wird das Thema Literatur und Arbeit zum zentralen Motto bei einer der nächsten Jahrestagungen machen, das freilich auch neue Formen erfordert. Ich selbst bin an einem Projekt mit Lyrikclips beteiligt, Filme, die Gedichte mit sozialer Thematik aufgreifen, entstehen. Ein Projekt, das bei jungen, nicht unbedingt literarisch vorgebildeten Menschen auf Interesse stoßen kann. Der DGB-Chef hat sein Interesse daran bekundet.

In anderen Ländern steht das Thema längst auf der Agenda. Bei einer Zusammenarbeit mit französischen Autoren, an der ich teilnahm und aus der mehrere Bücher entstanden, ging es einzig um die Darstellung der Arbeit in der Literatur. Die Franzosen, merkte ich, gingen dabei viel unbefangener an das Thema heran als wir, die wir bei jedem Schritt in diese Richtung die Kritiker gegen uns haben. In Frankreich haben sie das nicht.

Man merkt, ein guter Ansatz kann letztlich nicht endgültig verschwinden. Er kann nur zweitweise zugedeckt werden, aber irgendwann bricht sich das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit den immer drängenderen sozialen Problemen Bahn. Wir erleben gerade den Startschuss dazu.




„Wir optimieren uns zu Tode“ – eine großartige Rede zur Eröffnung der RuhrTriennale

Hyung-Chul Han

Byung-Chul Han (© S. Fischer Verlag)

Neben mir sitzt ein älteres Ehepaar, das sich pausenlos scharf in Streit befindet. Vorn umarmt die Kunst die Ministerriege. Es wirkt befremdlich in dieser Umgebung eines Stadtteils, dem in letzter Zeit der Ruf zuteilwurde, ein Salafisten-Nest zu sein.

Der Koreaner Byung-Chul Han ist Autor und Essayist sowie Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Er hält die großartige Rede zur Eröffnung der diesjährigen RuhrTriennale in Dinslakens ehemaliger Zeche Lohberg, gefolgt von einer Live-Talk-Show unter der Leitung von Bettina Böttinger. Festivalchef Johan Simons weist zur Begrüßung darauf hin, dass die RuhrTriennale auch ein Festival der Debatten sein werde. Man mutmaßt also eine große Lust des Publikums auf Thesen und Diskussionen.

Die Fähigkeit zum Fest verloren

Byung-Chul Han setzt einen starken Beginn, indem er das „Fest“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. „Ohne Fest haben keinen Bezug mehr zum Glück“, sagt er und stellt fest, dass die RuhrTriennale kein Fest ist, sondern ein Event. „Ein Fest betritt man wie einen Raum. Man verweilt. Die Zeit des Festes ist die Zeit, die nicht vergeht.“  Die Fähigkeit, Feste zu begehen, quasi erfunden von den Griechen, sei verloren gegangen. Es folgt die Beschreibung der Gesellschaft aus seiner Sicht. Er bedauert die Entpolitisierung der Kunst und der Politiker und selbst der Studenten. Es entstehe die Infantilisierung durch Smart-Phones. Die totale Infantilisierung führe zur totalen Macht des Kapitals und die Politik werde von der Ökonomie beherrscht. Großer Applaus. Ein seltsames Gefühl, seiner eigenen Unzulänglichkeit zu applaudieren.

Der Mann neben mir kommentiert: „Es ist Quatsch, was der sagt. Wir leben im 21. Jahrhundert.“ – „Halt endlich mal die Klappe“, erwidert seine Frau.

Der wohltuende Rundumschlag des Philosophen hat etwas Reinigendes, wirkt wie ein gewürzter Wind, der durch die Wirklichkeit fegt.

„Wir optimieren uns zu Tode“, sagt Han. „In diesem Zustand ist keine Revolution mehr möglich. Es herrscht die Hysterie der Gesundheit. Das Gesunde ist wie ein Zombie.“ Ich höre mich laut „Ja!“ denken.

Es folgt auf dem Podium eine Talkshow, bestehend aus Statements und Meinungen, wie wir sie aus den Fernsehtalkshows kennen. Zu Gast war auch der Vizebürgermeister Eyüp Yildiz, der im Vorfeld die Platzierung der RuhrTriennale in Lohberg kritisch kommentierte. Ob man denn die Bevölkerung mitnähme und was die Lohberger von der Kunst hätten. Mittlerweile sind alle im Gespräch.

Existenzberechtigung der Kunst

Der gesellschaftliche Hintergrund spielt naturgemäß immer mit, ob man will oder nicht. Man ist da, wo man ist, umgeben von Menschen und Problemen und wieder muss die Kunst ihre Existenzberechtigung erarbeiten, muss klarstellen, wozu sie nutze sei. Kunst kann etwas verändern. Das mutmaßen alle. Rainer Einenkel, ehemaliger Betriebsratsvorsitzender von Opel-Bochum, bestätigte dies. Die Aktionen, die zusammen mit dem Schauspielhaus in Bochum organisiert wurden, haben zu Zusammenhalt und Wertschätzung geführt.

Intervention auf Zeche Loberg

Intervention auf Zeche Lohberg

Vielleicht wäre es provokanter, an solchen Orten, wo das „Sub-Proletariat“ (ein Begriff, der immer wieder verwendet wird) seinen Ort hat, einen Sektempfang für die Kulturmenschen einzurichten, in angemessener Kleidung und Schnittchen, einem lyrischen Tenor lauschend, selbstverständlich zu hohen Eintrittspreisen. Das würde Diskussionen und Proteste hervorrufen, vielleicht mehr als eine Inszenierung, die sich im weitesten Sinne dem Thema Arbeit widmet. Die Kunst soll heute alles regeln, ob in Schulen oder im öffentlichen Raum.

Am kommenden Mittwoch (19.8. um 19.00 Uhr) zeigt die Triennale im „Reflektorium“ an der Jahrhunderthalle in Bochum einen Dokumentarfilm zu Byung-Chul Han: Der essayistische Film umkreist das Phänomen der Müdigkeit im Zeitalter des Neoliberalismus und die damit verbundenen Symptome wie Selbstausbeutung und Burnout.

Aus einem Interview in der ZEIT: „Politiker sind nur noch gefällige Handlanger des Systems. Sie reparieren da, wo das System ausfällt, und zwar im schönen Schein der Alternativlosigkeit. Die Politik muss aber eine Alternative anbieten. Sonst unterscheidet sie sich nicht von der Diktatur. Heute leben wir in einer Diktatur des Neoliberalismus.“

Mögen sich viele Gedanken während des Kunstfestes RuhrTriennale durch Debatten und künstlerische Genüsse entwickeln und in Erkenntnisse umsetzen.