Frauen an die Macht – zumindest im EN-Kreis

Wenn am Abend des 13. September in Nordrhein-Westfalen die Stimmen der Wahlen der Bürgermeister und Landräte ausgezählt sind, dann ist dieser Abend auch ein Gewinn für den Vormarsch der Frauen in der Politik – zumindest im Ennepe-Ruhr-Kreis. Darauf deuten jedenfalls die Kandidaturen hin.

Gut 320.000 Einwohner hat der Kreis im Süden von Dortmund und Bochum, und diese Einwohner verteilen sich auf neun Städte. In Ennepetal kandidieren für den Bürgermeister-Posten die beiden Frauen Anita Schöneberg (SPD) und Imke Heymann (CDU / Grüne / FDP / Freie Wähler) gegeneinander – das Amt wird also auf jeden Fall weiblich besetzt werden.

In Breckerfeld bewirbt sich unter anderem die ehemalige WR-Redakteurin Dr. Petra Kappe (SPD) um die Nachfolge des Amtsinhabers Klaus Baumann, allerdings wird sie es in der bisher CDU-geführten Kleinstadt nicht leicht haben.

In den Städten Gevelsberg, Wetter und Sprockhövel wurden die Bürgermeister bereits zusammen mit den Gemeinderäten gewählt, dort errangen allerdings jeweils Männer die begehrten Positionen.

In Herdecke bewirbt sich die parteilose Amtsinhaberin Katja Strauss-Köster erneut und mit guten Chancen als Bürgermeisterin, in Hattingen hat der Journalist Dirk Glaser ebenfalls die Unterstützung mehrerer Parteien, und in der größten Stadt des Kreises, in Witten, will Bürgermeisterin Sonja Leidemann wiedergewählt werden – allerdings gegen den Willen ihrer SPD, die einen eigenen Kandidaten aufgestellt hat und die nun der Bürgermeisterin mit einem Partei-Ordnungsverfahren droht.

Auch um den Posten des Landrates beziehungsweise der Landräten des Ennepe-Ruhr-Kreises bewirbt sich mit Dr. Babett Bolle (CDU) eine Frau. Der bisherige Landrat und Sozialdemokrat Dr. Armin Brux tritt nicht mehr an, für ihn möchte sein Parteifreund Olaf Schade aus Hattingen, bisher Referent der Landtagspräsidentin in Düsseldorf, gewählt werden. Dazu müsste Schade aber Frau Dr. Bolle in den Wahlkabinen übertrumpfen.




Ohne Wachstum und gewaltfrei leben: „Das konvivialistische Manifest“

Eine neue Zeit der Manifeste scheint gekommen. Nach Stéphane Hessels manifestartigem Pamphlet „Empört Euch!“ und dem „Akzelerationistischen Manifest“ erschien im September 2014 in deutscher Übersetzung „Das konvivialistische Manifest“, das inzwischen mehr als 2.500 Unterzeichner gefunden hat.

Seit Ivan Illichs Veröffentlichung von „Tools of Conviviality“ (dt.: „Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik“, 1975) ist Konvivialität im politisch/soziologischen Diskurs – mehr noch im anglo- und frankophonen Bereich als in Deutschland – ein fester Begriff. Ein Jahr vor Illichs Erstpublikation des Buchs in den USA (1973) war der Bericht für den Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“, erschienen, der seitdem in mehreren Neuauflagen aktualisiert worden ist, dessen Einschätzungen und implizite Warnungen bis heute jedoch nichts an Dringlichkeit eingebüßt haben.

Cover Konvivialistisches Manifest

Ausgehend von einem Kolloquium in Tokio im Jahr 2010 veröffentlichten 64 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster politischer und religiöser Überzeugungen unter dem kollektiven Autorennamen „Les Convivialistes“ das konvivialistische Manifest, das die wesentlichen globalen Herausforderungen benennt und Chancen aufzeigt, wie ein gewaltfreies Zusammenleben unter gleichzeitiger Schonung der Ressourcen unseres Planeten möglich sein könnte.

Der Markt dringt in jeden Winkel vor

Konstatiert wird, was nicht zu übersehen ist, ein Vordringen ökonomischen Denkens in Bereiche, die noch bis in die 1970er-Jahre weitgehend frei von marktwirtschaftlichen Ansprüchen waren. „Benchmarking und ständiges reporting werden nun zu den Grundwerkzeugen des lean management und der Verwaltung durch Stress.“ (S. 55) Veränderungen im Gesundheitswesen, Hochschulranking, Stadtmarketing, effizienteres Kulturmanagement – jedem Leser und jeder Leserin wird zu diesen Stichworten eine Vielzahl von Beispielen einfallen. Das Manifest begnügt sich zusammenfassend mit dem Hinweis auf ein „Neomanagement“, das nicht nur in den Wirtschaftsunternehmen ausartet, sondern auch den öffentlichen Sektor erfasst, bis der Markt auch den letzten noch unterkapitalisierten Winkel unserer Freizeit besetzt hat.

„Es gibt keine erwiesene Korrelation zwischen monetärem oder materiellem Reichtum einerseits und Glück oder Wohlergehen andererseits“, schreiben die Autor(inn)en (S. 68). Statt einer Verkürzung der Arbeitszeit durch technischen Fortschritt, wie sie John Maynard Keynes um 1930 voraussagte, erhöht die Automatisierung den Arbeitsdruck. Psychische Defekte wie Depression und Burnout gehen mit diesen Entwicklungen einher.

Die Standard-Wirtschaftswissenschaft gelte es in ihre Schranken zu verweisen. Von den Autoren des Manifests ist es vor allem der Ökonom Serge Latouche, der in den letzten Jahren mit Überlegungen zu einer möglichen Wachstumsrücknahme an die Öffentlichkeit getreten ist. „Degrowth“ im Englischen, bzw. „décroissance“ als das französische Äquivalent und, da der Glaube an Wachstum als eine Quasi-Religion angesehen werden kann, spricht Latouche analog zum Atheismus, auch von „acroissance“.

Selbstverständlich müssen für die weit und die weniger weit entwickelten Länder unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden, will man die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage stets beteuerten Politikerfloskeln, die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern zu müssen, beim Wort nehmen und einen wirtschaftlichen Ausgleich anstreben.

Die Maßlosigkeit bekämpfen

„Das Niveau des weltweit universalierbaren materiellen Wohlstands entspricht annähernd demjenigen der reichsten Länder um das Jahr 1970, vorausgesetzt, man erreicht es mit den heutigen Produktionstechniken.“ (S. 67) Das würde nicht nur Selbstbegrenzung in den Industrienationen erfordern, sondern eine Neudefinition der Ziele. Vom wirtschaftlichen Wachstum ist nicht nur keine Rettung zu erwarten; es führt geradewegs in den Untergang. Einfacher Wohlstand, der mit einem Konzept vom „guten Leben“ einhergeht, wird von den Konvivialisten anvisiert. Dazu müssen die der Zocker-Mentalität der Spekulanten eigene, zerstörerische Maßlosigkeit und die Auswüchse der Finanzwirtschaft bekämpft werden. Die Autor(inn)en setzen sich nicht nur für ein Mindesteinkommen, sondern auch für ein Höchsteinkommen ein.

Alternative Formen von Ökonomie sieht Alain Caillé, einer der maßgeblichen Initiatoren des konvivialistischen Manifests, in der „Schenkökonomie“, wie der französische Soziologe/Ethnologe Marcel Mauss sie in seiner Schrift „Die Gabe“ unter anderem am Beispiel des indianischen Potlatsch und des melanesischen Kula beschreibt.

Sicherlich ließen sich einem modernen Mitteleuropäer oder Nordamerikaner archaische Vorstellungen von der Beseeltheit und dem Eigenwillen von Dingen, etwa Geschenken, oder die unter Drohung von Ehr- und Gesichtsverlust unbedingte Verpflichtung des Beschenkten zur Gegengabe schlecht vermitteln und taugen kaum als Modelle zur Rettung der Welt. Doch lesen sich manche Gedanken aus dem 1925 veröffentlichten Werk erstaunlich aktuell. „Und wir müssen ein Mittel finden, um die Einkünfte aus Spekulationen und Wucher einzuschränken. Nichtsdestoweniger muss das Individuum arbeiten. Es muss veranlasst werden, mehr auf sich selbst zu bauen als auf andere. Andererseits muss es sowohl seine Gruppeninteressen wie seine persönlichen Interessen verteidigen. Allzuviel Großzügigkeit und Kommunismus wäre ihm und der Gesellschaft ebenso abträglich wie Selbstsucht unserer Zeitgenossen und der Individualismus unserer Gesetze“, schreibt Marcel Mauss.

Aufwertung des Unentgeltlichen

Die Verfasser(innen) des Manifests weisen in diesem Zusammenhang auf zahlreiche bereits praktizierte unentgeltliche Aktivitäten hin – Fair Trade, Open-source-Projekte, Ehrenämter, Non-Profit-Organisationen, digitale Netze als Gemeineigentum oder das Konzept einer „Weltzivilgesellschaft“. Das sind keine neuen Erfindungen, doch scheint in einer durchökonomisierten Welt das Bedürfnis gestiegen, auf den unentgeltlichen Dienst am Mitmenschen besonders hinzuweisen.

Der homo oeconomicus, wie die Wirtschaft ihn sich vorstellt, kenne nur „äußerliche Motivationen“ – Streben nach Gewinn und hierarchischem Aufstieg. In diesem System, folgern die Autorinnen und Autoren, wird sich jegliche intrinsische Motivation – Arbeit, die ihren Wert in sich selbst hat, Freude an gutem Handwerk, Drang nach sinnvoller Betätigung, Handlungen aus Solidarität oder aus Pflichtgefühl – zurückentwickeln.

Was kann man machen? Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der taz und Autorin des Buchs „Der Sieg des Kapitals“ (2013), sagte in einem im Gespräch in der Reihe „Essay und Diskurs“ im Deutschlandfunk am 19.04.2015: „Wenn man sehr massiv in dieses System [des Kapitalismus‘] eingreift, wäre der einzige Effekt, dass es wirklich einbricht. Und das wäre ein chaotischer Prozess, den man sich auch nicht friedlich vorstellen darf. Da wären Verluste zu verkraften, und an Sicherheit, dass die Leute alle panisch würden.“

Was der Ritus vermag

Die Gefahr sehen auch die Autor(inn)en des konvivialistischen Manifests. „Die schwierigste Aufgabe, die dazu erfüllt werden muss, besteht darin, ein Bündel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen vorzuschlagen, die es der größtmöglichen Zahl von Menschen ermöglichen, zu ermessen, was sie bei einer neuen konvivialistischen Ausgangssituation (einem New Deal) nicht nur mittel- oder langfristig, sondern sofort zu gewinnen haben. Schon morgen.“ (S. 74)

In seinem 1962 erschienenen Werk „Das wilde Denken“ erläutert Claude Lévi-Strauss, dessen ethnologische Arbeiten Marcel Mauss viel verdanken, den Unterschied zwischen Spiel (mit Wettkampfcharakter) und Ritus. Das Spiel gehe von einer prästabilen Ordnung aus und schaffe in seinem Verlauf Ungleichheit. Der Ritus dagegen habe eine Ausgangslage der Asymmetrie – profan und sakral, Gläubige und Priester, Tote und Lebendige, Initiierte und Nicht-Initiierte – und möchte alle Beteiligten auf die Gewinnerseite bringen, so Lévi-Strauss. Er nennt das Beispiel einer Ethnie in Papua-Neuguinea, die das Fußballspielen gelernt hat, „die aber mehrere Tage hintereinander so viele Partien spielen, wie nötig sind, damit sich die von jedem Lager verlorenen und gewonnenen genau ausgleichen.“ Den Wettkampf funktionieren sie zu einem Ritus um. Die großen Wirtschaftskonzerne werden sich diese ehrenwerte Haltung sicher nicht zum Vorbild nehmen. Die Hoffnung lastet auf den Zivilgesellschaften.

Les Convivialistes: „Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens“. Herausgegeben von Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research Duisburg, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer; [transcript] Verlag, Bielefeld, 2014; 09/2014, 78 Seiten, kart.; 7,99 Euro; kostenloser Download über http://www.transcript-verlag.de

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Diese Besprechung wurde in ähnlicher Form ebenfalls im Hotlistblog veröffentlicht: https://derhotlistblog.wordpress.com/2015/06/26/affirmatives-vom-firwitz-2/




Chancen am Borsigplatz: Der soziale Ertrag des Bierbrauens und andere Aktionen

Bei „Public Residence: Die Chance“, einem künstlerischen Experiment in der Dortmunder Nordstadt, ging es um kulturelle Teilhabe und soziale Kreativität. Das Projekt endete im Mai, soll aber nachwirken. Gastautorin Isabelle Reiff, selbst Mitglied im eingetragenen Verein „Borsig11“, zieht eine Bilanz aus Veranstaltersicht:

„Das ist zynisch, dass Sie das hier machen!“ So begann ein längeres Streitgespräch, das der Künstler Frank Bölter mit einem Politiker der Linken auf dem Kleinen Borsigplatz führte. Anlass dazu bot eine eigenwillige Kunstaktion im Rahmen von „Public Residence: Die Chance“. Das Projekt basiert auf einer Kunstwährung, die an die Quartiersbewohner ausgegeben wird und echte Euros wert ist. Der Geldwert kann sich aber nur in einem gemeinschaftlichen Projekt entfalten.

Diese Bedingung hatten vorher die geldgebende Montag Stiftung und der austragende Verein „Borsig11“ gesetzt. Frank Bölter war also darauf angewiesen, bei den Nachbarn ganz verschiedener Façon und Herkunft den gemeinsamen Nenner zu finden. Und welcher war es dann? Die Liebe zum Bier!

Resultat einer speziellen Kunstaktion unter Anleitung von Frank Bölter: Selbstgebrautes vom Borsigplatz. (Foto: Frank Bölter)

Resultat einer speziellen Kunstaktion unter Anleitung von Frank Bölter: Selbstgebrautes vom Borsigplatz. (Foto: Frank Bölter)

Selber Bier zu brauen ist im Fahrwasser der US-amerikanischen Craft-Beer-Bewegung regelrecht zu uns herübergeschwappt: Immer mehr Menschen fangen hierzulande an, in ihrer Freizeit Bier zu brauen – in der Garage, im Kabuff oder Gartenhaus. Frank Bölter veranstaltete diese Arbeit open air im öffentlichen Raum und zwar an einem Lieblings-Treffpunkt höchst passionierter Biertrinker.

„Hinter jedem einzelnen, der hier den ganzen Tag rumsitzt und säuft, stecken Suchtkrankenakten, kaputte Familiengeschichten, gescheiterte Laufbahnen und Offenbarungseide. Und jetzt kommen Sie und wollen denen zeigen, wie man selber Bier braut!“, beschwerte sich der Lokalpolitiker, während Bölter damit zu tun hatte, Kastanien-Blätter aus dem Sud zu fischen, weil es an diesem Tag wieder so stürmte.

Während der Politiker sich echauffierte, als sei sonst niemand zugegen, mischten an dem Stunden währenden Brauvorgang nicht nur Leute mit, die den Kleinen Borsigplatz zu ihrer zweiten Heimat erkoren haben. Auch Nachbarn, eine angehende Diplom-Braumeisterin und Neugierige rebelten, schroteten und rührten.

Später tauchte noch Kurti auf: Im Knast habe er siebeneinhalb Jahre lang selbst immer Bier gebraut. Das Rezept könne er beim nächsten Mal mitbringen. Gerhard hatte in weiser Voraussicht Malzmyrrhe dabei. Er rühmte sich einer Zusatzausbildung zum Biersommelier. Peter packte nach Ablass des Suds wortlos den übriggebliebenen Brauteig ein und kehrte später unverhofft mit daraus gebackenen Brötchen zurück.

Für Bölter war es ein Etappenziel, „Menschen miteinander in Kontakt zu bringen, die sich sonst eher aus dem Weg gehen“. Mehr noch „gewinnt man beim Selberbrauen ein Stück weit die an die Sucht abgegebene Verantwortung für die eigene Person durch die gewonnene Portion Selbstermächtigung zurück“. Den Satz sollte man zwei Mal lesen. Ob der Politiker Orhan dann anders darüber denkt, den „Alkis“ vom Kleinen Borsigplatz das Bierbrauen beizubringen?

Alle Künstler während des Public-Residence-Jahres waren (wie vorher schon das Projekt „2-3 Straßen“) vor die schwierige Aufgabe gestellt, Menschen zu mobilisieren, die, was ihre erwerbsmäßigen Beteiligungschancen in dieser Gesellschaft angeht, die Hoffnung mehr oder weniger aufgegeben haben. Dass ihre Väter großteils nur wegen der Arbeit hierher zogen, steht auf einem anderen Blatt. Das Quartier um den Borsigplatz ist heute das mit der höchsten (Langzeit-)Arbeitslosigkeit in Dortmund.

Führung durchs Stadtquartier: Matthias Hecht alias Dr. h. c. Wilfurt Loose (vorn), dahinter (mit roter Kappe) Rolf Dennemann. (Foto: Isabelle Reiff)

Führung durchs Stadtquartier: Matthias Hecht alias Dr. h. c. Wilfurt Loose (vorn), dahinter (mit roter Kappe) Rolf Dennemann. (Foto: Isabelle Reiff)

Geblieben ist das gelernte Malocher-Verständnis von Arbeit: Arbeit kann nicht Spaß machen, ist Frondienst, bei dem ein anderer das Meiste verdient. Bildungslücken, fehlende Sprachkenntnisse, Schicksalsschläge (wozu auch das Wegziehen ganzer Industrien zählt) erschweren die persönliche Neuorientierung. Übrig bleibt das Gefühl, Opfer der Umstände zu sein, eben nicht seines Glückes Schmied.

Tradierte Sozialprogramme verstärken oft noch diese Selbstwahrnehmung. Können künstlerische Ansätze hier neue Perspektiven eröffnen? Auf dieser Überzeugung fußt das Programm der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft aus Bonn. Insgesamt 200.000 Euro hat sie für den Borsigplatz bereitgestellt: Der Betrag bildet die Basis der „Chancen“-Währung, außerdem wurde aus diesem Topf die Arbeit von sieben Künstlern bezahlt.

Sie kamen auf die Idee, Straßen umzubenennen, Gärten anzulegen, ein Repair-Café zu gründen. Es wurde öffentlich gekocht, getanzt, Theater gespielt. Ein bis vor Kurzem noch leer stehendes Ladenlokal ist jetzt ein beliebter Nachbarschafts-Treff (Oesterholz 103). Fortbestehen soll auch das Geschmacksarchiv, bei dem vergessene Rezepte nachgekocht werden, genau so die Jugend-Theatergruppe Kielhornschule. Einige im Quartier bieten jetzt sogar selbst Workshops an – vom Möbelbau aus Paletten bis zum Meditationskurs.

Aber viele machen auch nicht mit; umso mehr Chancen sind übrig geblieben – also Noten mit echtem Geldwert. Jeder Anwohner hat ein Anrecht auf 100 davon. Ungefähr die Hälfte hat ihre Chancen noch gar nicht ergriffen. Das bedeutet, dass viele, die rund um den Borsigplatz leben, immer noch Gelegenheit haben, sich auf etwas zu einigen, was sie in ihrem Stadtteil verwirklichen und dann gemeinsam mit denen ihnen zustehenden Chancen finanzieren wollen.

Ohne sehr viel Kommunikation und Überzeugungsarbeit kann das nicht gelingen. Jetzt müssen andere in die Lücke springen, die die Künstler hinterlassen haben. Einer ist immerhin hier geblieben, weil er seit 15 Jahren in der Oesterholzstraße wohnt: Rolf Dennemann hat als freischaffender Künstler, Autor, Regisseur und Schauspieler (und gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“) vorher schon Partizipationsprojekte angezettelt, in den Kleingärten in der Nordstadt zum Beispiel, auf dem Hauptfriedhof oder in einem Rentnerwohnblock in Essen. “Bitte kein Wasser runterschütten”, hieß eine der Aktionen.

Dennemann ist nicht der gefällige Typ, so einer „will auch nicht andere um Chancen anbetteln“. Dafür weiß er, wie das Quartier am Borsigplatz tickt. Er hat die Veränderungen, denen es unterworfen ist, über viele Jahre beobachtet. Und er kennt die wichtigen Protagonisten im Viertel. Ein klarer Vorteil gegenüber den kurzfristig zugezogenen Künstlern. Und so kommt die von Dennemann initiierte Stadtteilführung „Borsig-VIPs“ so gut an, das man ihm unaufgefordert Chancen zusteckt. Er hat sich dafür aber auch die stadtbekannte Annette Kritzler ins Boot geholt und Matthias Hecht, der alias Dr. h.c. Wilfurt Loose den Quartiersforscher zum Allerbesten gibt. Dennemann ist daher weiter auf „Spurensuche“, sammelt Geschichten und Erinnerungen von Anwohnern und deckt en passant die geheimen Berühmtheiten im Viertel auf.

Wenn die stadtbekannte Kritzler diese ehrenvollen Namen bei ihrer Führung sonor verortet und Loose das auch noch akademisch untermauert, kommt man kaum umhin, zu glauben, dass die östliche Nordstadt in Wirklichkeit voller öffentlichkeitsscheuer Stars steckt. Wahrscheinlich sind sogar noch längst nicht alle aufgespürt. Drum: Wer ungeahnte Anekdoten, verschollene Dokumente oder sonstige Quartiersgeheimnisse auf Lager hat, sollte Dennemann was erzählen. – Vielleicht ist der Borsigplatz in ein paar Jahren – weit über seine Bedeutung für den BVB hinaus – ein Stadtteil mit vielen Mythen und Legenden.




Die Kunst, den Kern zu treffen: Zum Tod des Karikaturisten Bernd Gutzeit

So haben ihn noch manche KOllegen in Erinnerung: Bernd Gutzeit an seinem WR-Schreibtisch. Jetzt (August 2019) erhielt das Dortmunder Institut für Zeitungsforschung Karikaturen aus seinem Nachlass (siehe nachträglichen Kommentar zu diesem Beitrag). (Foto: Bodo Goeke)

So haben ihn noch manche Kolleg(inn)en in Erinnerung: Bernd Gutzeit an seinem WR-Schreibtisch. Jetzt (August 2019) erhielt das Dortmunder Institut für Zeitungsforschung fast 1500 Original-Karikaturen aus seinem Nachlass (siehe nachträglichen Kommentar zu diesem Beitrag). (Foto: Bodo Goeke)

Ein Nachruf auf den Künstler und Karikaturisten Bernd Gutzeit, verfasst von Gastautorin Ilka Heiner, der langjährigen Leiterin der WR-Lokalredaktion Schwerte:

Politische Karikaturen zeichnete er seit seinen frühen Studienjahren, fast 30 Jahre lang hat er seine Kommentare für die Seite 2 der Westfälischen Rundschau (WR) mit Zeichenfeder und Pinsel festgehalten. Jetzt ist Bernd Gutzeit zwei Tage nach seinem 79. Geburtstag nach langer Krankheit in seiner Wahlheimat Schwerte gestorben.

Seine Karikaturen fügten sich in der Erkenntnis, dass sich die Welt mit keinem Federstrich in Ordnung bringen lässt. Frontal angreifend, listig spottend, skurrilen Hintersinn ausstrahlend verfolgten sie stets das Ziel, den Kern zu treffen.

Bernd Gutzeit (Foto: Bodo Goeke)

Bernd Gutzeit
(Foto: Bodo Goeke)

In seiner aktiven Zeit wurden Bernd Gutzeits Zeitungszeichnungen häufig nachgedruckt, von deutschen, aber auch von ausländischen Blättern, die ihren Lesern diese spezielle Sicht eines deutschen Künstlers auf sein eigenes Land, aber auch auf die Welt zur Kenntnis bringen wollten. Bernd Gutzeit war einer der letzten festangestellten politischen Karikaturisten, die es im bundesdeutschen Blätterwald noch gab.

„Der Künstler“ wurde er liebevoll von seinen Kollegen genannt und das wies auf das zweite – vielleicht das eigentliche? – Leben des Karikaturisten hin, in Bildern, Skulpturen und Objekten, in experimenteller Musik oder theaterähnlichen Inszenierungen seine Fantasie fliegen zu lassen.

Bernd Gutzeit mit einigen seiner künstlerischen Arbeiten. (Foto: Christoph Staat)

Bernd Gutzeit mit einigen seiner künstlerischen Arbeiten. (Foto: Christoph Staat)

Nicht das Endprodukt hatte der Maler, Zeichner und Bildhauer im Visier, sondern den Prozess. Auch war es ihm immer ein besonderes Anliegen, Menschen mit seinen zeichnerischen und bildhauerischen Operationen aus ihrer Eindimensioniertheit hinaus auf den Weg zu bringen: „…um die Augenblicke zu erhaschen, durch die man den Kopf hebt – und vielleicht mit Staunen wieder so ein Stückchen Leben entdeckt“, wie das der Wortgewandte anlässlich einer Vernissage einmal selbst formuliert hat.

Seine Karikaturen, aber auch seine Malerei, Grafik und Skulpturen wurden in zahlreichen Ausstellungen, unter anderem im Schwerter Kunstverein und im Ruhrtalmuseum, gewürdigt.

Bernd Gutzeit, 1936 in Dortmund geboren, stammte aus einer musisch-künstlerischen Familie. In Schwerte besuchte er das Friedrich-Bährens-Gymnasium, und noch bevor er an der Werkkunstschule in Dortmund sein erstes Semester absolvierte, reihte er sich in die Phalanx der Kinomaler ein, die damals noch auf großflächigen Transparenten den Inhalt des Films in eindringlichen Bildern und Portraits darstellten. „Da habe ich einen ganz schönen Schuss mitbekommen“, blickte er einst zurück.

Später unterrichtete er musisches Gestalten am Dortmunder Fritz-Henßler-Haus, war als Kunsterzieher tätig und gab als Dozent für Grafik und Grundlehre an der Werkkunstschule Dortmund sein Wissen weiter. In Schwerte hatte Gutzeit mit Ehefrau Anne, selbst Grafikerin, für viele Jahrzehnte seine Heimat gefunden.

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(Der Nachruf ist in ähnlicher Form auch in RN und WR erschienen).




Kulturpolitik in Unna – bitte bloß nicht kleinmütig und halbherzig!

Kultur, sie hatte mal mächtige Stimmen in der Stadt. Die Männer und Frauen, die der Kulturarbeit in Unna ihre Stimmen gaben, konnten sicher sein, dass nicht ungehört verhallte, was sie äußerten. Und sie fanden Gehör – auch weit über die Grenzen der Stadt hinaus. Weil das Modell Unna weithin Aufmerksamkeit erregte. Weithin woben sich auch die Netzwerke, die Unnas Kulturverantwortliche schufen, weil offenbar gern mit modellhaften Kommunen zusammengearbeitet wurde. Und Unna war eine solche.

Ein ebenso stabiles wie inhaltlich definiertes Fundament wurde im Laufe der Jahre geschaffen. Nachhaltig stemmt es sich auch aktuell in die Wellen eines immer inhaltsärmer werdenden Tsunami, der gespeist wird von den siechen Finanzkraft der Kommunen, von neuen medialen Interessen, von der erkennbaren Schwindsucht unter den Rezipienten; aber auch vortrefflich assistiert von zartbegabter Rhetorik seiner auserkorenen Sachwalter.

Das Musical “Oz” der "Freien Wildbahn" als Beispiel für gelungene kulturelle Nachwuchsarbeit. (Foto: Freie Wildbahn)

Das Musical “Oz” der „Freien Wildbahn“ als Beispiel für gelungene kulturelle Nachwuchsarbeit. (Foto: Freie Wildbahn)

Trotzig recken sich da und dort die Zeugen alter Zeiten aus Unnas soziokultureller Vergangenheit in die Landschaft: Lindenbrauerei, ZIB, Lichtkunst, Jugendkunstschule, Travados, die unvergleichlichen Feste in der Stadt sind Beispiele. Die Umwelt, mit der sie leben müssen, ist karger geworden. Die Zeiten sind natürlich auch andere geworden. Die Ideen, was man mit und aus Kultur machen könnte, sind andere geworden. Aber man muss sowohl bereit als auch in der Lage sein, überhaupt Ideen zu haben, sie dann auch noch in ein Konzept zu gießen und dann andere von diesem zu überzeugen.

Kultur ist die Summe aller menschlichen Lebensäußerungen

Nach wie vor hat Unna eine sehr spezifische und erkennbar charakterfeste Stadtkultur. Sie ist tief in Szenen vernetzt, und wer offenen Auges durch die Stadt gehen kann, erkennt, dass Soziokultur personell stark verankert ist, keinerlei schichtenspezische Kleidung umgehängt hat, nahezu alle Instrumente der musischen Lebensäußerungen von ihr bespielt werden. Und es ist auch zu erkennen, dass in der Stadt gern mal der Keim des kulturellen Nachwuchses aus dem Boden lugt und nachhaltig auf sich aufmerksam macht. Das fulminante Musical “Oz” der “Freien Wildbahn” bewies erst kürzlich, wie fruchtbar der großartige Unnaer Kulturhumus sein kann.

Die tragenden Strukturen einer Unnaer Kulturarbeit der Zukunft müssen – so wie das für alle gesellschaftlichen Strukturen gilt – stets an die sich aktuell darstellenden Verhältnisse angepasst werden. Sebastian Laaser, stellvertretender Fachausschuss-Vorsitzender im Rat, hat es getroffen, als er alles mit einen dauernden Prozess beschrieb, was im Zusammenhang mit Kultur steht. Die dahinter liegende Idee aber muss stets die bleiben, dass “der Mensch im Mittelpunkt zu stehen hat” (Hubert Biernat, einst Landrat des Kreises).

Bildung, Schule, Weiterbildung und auch Sport – als basislegend für Teamverständnis, als Erfolgsgarant in der Zusammenarbeit von Individuen –, sie können im Zusammenspiel mit der sich ständig weiterentwickelnden Unnaer Kultur ein zukunftsorientiertes Bindegewebe für eine Stadtgesellschaft bilden, deren gemeinsame Anstrengung im Erhalt einer weltoffenen, (lebenslang) bildungsorientierten und solidarischen Stadtkultur besteht. Einen solchen Chor zu bilden und gekonnt zu dirigieren, das wäre eine Idee.

Wo bleiben die kraftvollen Stimmen?

Wenn Unna, wie geplant, eine gGmbH (gemeinnützige GmbH) ins Leben ruft, um der Zukunft der Kultur ein neues und stabiles Gerüst zu verleihen, dann erfüllt das nur einen Sinn, wenn gleichzeitig der Auftrag dieser Gesellschaft klar definiert wird als Instrument, als Werkzeug eines inhaltlichen Strebens: die Kulturarbeit ständig vom Kopf auf die Füße zu stellen und immer wieder zu erneuern.

Wenn sich aber diese gGmbH kleinmütig bei den Stichwörtern „Steuerersparnis“ und „Mittelverteilung“ festfährt, bleibt der eigentliche Kern der Maßnahme gleich mit in den Startblöcken stehen und wird zum ständig finanzgeschüttelten Spielball der kulturellen Interessenarmut. Das Credo der Kulturpolitik muss hier lauten: Kultur im Mittelpunkt – für Menschen! Und nicht ins Kleinlaute stolpernd die Frage stellen: Wie bewahren wir Krümel einer Vergangenheit, für die wir nicht mehr ausreichend Geld haben?

Die inhaltlichen Zwischentöne einer kraftvollen Stimme in Unnas Kulturpolitik vernehme ich nicht. Jedenfalls nicht, solange sich die Protagonisten darin erschöpfen, im thematischen Zusammenhang mit Kultur verletzungsfrei „Spartenrechnung“ zu buchstabieren oder im Kulturbereich akteneinsichtliche Erkenntnisse zu wittern.

(Der Beitrag erscheint in ähnlicher Form in Rudi Bernhardts Blog dasprojektunna.de)




Können Saxophon-Klänge politisch sein? Eindrücke vom Moers Festival

Saxophone in verschiedenen Stimmlagen waren diesmal die dominierenden Instrumente der Festivaltage in Moers.

Sowohl Hayden Chisholm, Improviser in Residence Moers 2015, als auch Colin Stetson, Artist in Residence für die vier Festivaltage, sind herausragende Saxophonisten. Zusätzlich hat Hayden Chisholm angeregt, mit Frank Gratkowski, der am Pfingstmontag in der Formation Z-Country Paradise auftrat, einen seiner wesentlichen Lehrer des Instruments einzuladen. Hayden Chisholm eröffnete das Festival mit einer meditativen Komposition, die es ermöglichte, vom Stress der zurückliegenden Arbeitswoche zu relaxen und ganz auf dem Festival anzukommen. Einfach schön – genauer gesagt: in angenehmer Weise höchst ausgetüftelt schön.

Saxophonist der Sonderklasse: Colin Stetson. (Foto: © Frank Schemmann)

Saxophonist der Sonderklasse: Colin Stetson. (Foto: © Frank Schemmann)

Wie Frank Zappa einmal einen Musiker, der in seiner Band mitspielen wollte, gefragt hatte „What can you do that‘s fantastic?“, so scheint Reiner Michalke auch das Programm für das Moers Festival zusammenstellen. Jedes einzelne Konzert beantwortet die Frage auf die eine oder andere Weise. Da Moers auch in diesem Jahr die ganze Bandbreite des New Jazz vom Solisten bis zum Orchester mit 80-köpfigem gemischtem Chor, vom Tanzbaren bis zum kaum Hörbaren, aufzeigt und längst über die Grenzen des Genres weit hinausgeht, kann in diesem Beitrag nur ein Teil des durchweg sensationellen und berichtenswerten Programms besprochen werden.

Exzeptionell, so dass sich geradezu der Eindruck aufdrängte, bei der Entstehung einer der Legenden von morgen dabei zu sein, waren die vier Aufritte von Colin Stetson – solo, im Duo, in einer Drei-Mann-Formation und im kleinen Orchester aus zwölf Personen. Mit Sarah Neufeld im Duo war Colin Stetson bereits vor einem Jahr im Nachtprogramm des Moers Festivals zu erleben. Für den Auftritt im Hauptprogramm 2015 haben die beiden ihr Repertoire nochmals erweitert. Ein glückliches Zusammenspiel, aber auch mit eingefügten Solo-Stücken. Sarah Neufeld, Geigerin der Gruppe „Arcade Fire“ und Gründungsmitglied des sechsköpfigen „Bell Orchestre“, präsentierte bereits einen Titel ihres nächsten, noch unveröffentlichten Soloalbums. Stetson, der mit seiner perfektionierten Zirkularatmung minutenlang Arpeggio-Bögen spielt, dabei ins Saxophon singt und schreit, es wie ein Urtier rufen lässt und mit den Klappen seines Instruments zugleich die Percussion liefert, ist ein Phänomen.

Einen Kontrast bildete an dem Abend die deutsche Viermanngruppe „The Nest“. Christoph Clöser, auch er Saxophonist, der sich am Freitag aber auf die Klarinette beschränkte, spielt seit 1997 bei „Bohren & der Club of Gore“ und prägte entscheidend die Richtung des Doom Jazz. Mit dem Seitenprojekt „The Nest“ klingt er weniger düster, zeigt jedoch umso mehr, dass er, wie lange schon vermutet wurde, in der Oberliga der Jazzwelt mitspielen kann.

Ein weiterer Vorzug von Moers ist es, einen der Musiker, die mit Bohren stets unsichtbar auf finsterer Bühne agieren, überhaupt einmal zu Gesicht zu bekommen. Das Schlagzeug wurde um einen mit leeren Glasflaschen gefüllten Getränkekasten erweitert. Thomas Mahmoud stampft mit dem Kasten auf oder tritt clownesk-trotzig gegen ihn; das kommt beim Publikum gut an. Wenngleich er während des Konzerts seinen Platz am Schlagzeug nicht verlassen hat, lautet die Instrumentenangabe im Programm zutreffend nicht „drums“, sondern „vocals, effects“. Mit seinem „Amore, amore, amore“ verbreitete er den Ohrwurm des Festivals.

Bleiben wir noch kurz bei den Männerbands. Das norwegische Duo „sPacemoNkey“ mit Morten Qvenild – bekannt durch Jaga Jazzist – an den Keyboards und Gard Nilssen, hochenergetisch am Schlagzeug, brachten abwechslungsreichen improvisierten Jazz.

Ein noch überzeugenderes Beispiel für ständig unter Strom stehende Männer boten anschließend „Pulverize the Sound“ – mit dem ruhelosen Trompeter Peter Evans und den ebenso hart und laut arbeitenden Tim Dahl am Bass und Max Jaffe an den Drums.

Dass aber die sicht- und hörbare körperliche Anstrengung eines Männer-Trios nicht auch für die Zuhörenden anstrengend sein muss, machte wieder einmal der Artist in Residence, Colin Stetson, deutlich, der mit Trevor Dunn am Bass und dem Schlagzeuger Greg Fox konzentrierte Glücksschübe an die Zuhörenden abgab.

Erstklassig war auch „Eivind Opsvik Overseas“, die Formation des norwegischen Bassisten, der nach New York gezogen ist. Der Oud-Spieler Ziad Rajab führte hingegen mit dem Neuseeländer James Wylie am Saxophon und dem Griechen Kostas Anastasiadis am Schlagwerk das Publikum in arabische Musikwelten.

Von Frauen geleitete Big Bands und Orchester

Im vorigen Jahr lud Festivalleiter Reiner Michalke mit Ava Mendoza, Julia Hülsmann und Johanna Borchert drei Frauen ein, die jeweils ein Quartett leiteten. In diesem Jahr leiten drei andere Frauen richtig große Formationen. Eve Risser aus Paris, Sara McDonald aus New York und Sofia Jernberg aus Stockholm.

Jeder der vier Festivaltage vom 22. Bis 25. Mai begann mit einem Orchester, bzw. einer Big Band. Eve Risser brachte am Samstag neben ihren Instrumentalisten einen 80-köpfigen gemischten Chor mit, für den sich die Bühne der Festivalhalle als zu klein erwies und der zeitweise aus einem der Gänge zwischen den Sitzreihen dirigiert wurde. Hymnische Klänge. Sara McDonald eröffnete mit den jungen Musikern der Big Band der Hochschule für Musik und Tanz Köln den Pfingstsonntag. Sofia Jernberg kam mit dem Trondheim Jazz Orchestra und dem Geiger Olav Mjelva. Jernberg folgt einer Tradition des Moers Festivals, für die es bereits in den vergangenen Jahren gute Beispiele gab, Stimmkunst über das hinaus, was üblicherweise als Gesang bezeichnet wird.

Darüber sollen aber die nicht von Frauen geleiteten Großformationen nicht unerwähnt bleiben, wie die von Michael Mantler, der „The Jazz Composer’s Orchestra Update“ mit der „Nouvelle Cuisine Big Band“ und dem „Radio String Quartet“ in Moers vorstellte. Oder Mikko Innanen aus Finnland, dessen aktuelle Big Band sich „10+“ nennt.

Wie Jazz auf aktuelle Fragen der Zeit reagiert

In seinem Vorwort auf der Festival-Website beschreibt der künstlerische Leiter, Reiner Michalke, in knappen Worten das Auseinanderdriften der Welt – Terror, Krieg und Vertreibung, und auf der anderen Seite die Rauschzustände der Finanzspekulanten. Er spricht von der dem Festival „angeborenen Selbstverpflichtung zur Aktualität“ und vom künstlerischen Mandat der eingeladenen Musikerinnen und Musiker, Antworten auf die drängenden Fragen zu finden. Ist das von der Musik zu viel erwartet? Nein. Das Festival hat in seinem Verlauf verschiedene Antworten nahegelegt.

Am offensichtlichsten sind wohl die internationalen Zusammensetzungen und Kooperationen, bei den Orchestern sowieso, aber auch unter den Trios oder Quintetten – bestes Beispiel vielleicht das „Ziad Rajab Trio“, dessen Musiker aus Aleppo (Syrien), Neuseeland und Griechenland stammen und die heute alle drei in Thessaloniki leben. Im Weltmaßstab hat Verständigung über Musik immer schon gut funktioniert (besser als zum Beispiel in häuslicher Nachbarschaft).

Aber auch in einem ganz anderen Sinne wird das Politische deutlich. Colin Stetson führt vielleicht mehr als jeder andere Künstler, der auf dem Festival aufgetreten ist, den Zuschauern die körperliche Kraftanstrengung vor Augen, die solche Musik erfordert. Vor jedem Stück muss er Luft holen wie ein Apnoe-Taucher vor dem Sinken in die blaue Tiefe (und blau ausgeleuchtet war auch die Bühne).

Erwartete das Publikum vom Künstler nicht immer schon, dass er alles gibt, und ist nicht die Haltung, seinen Mitmenschen etwas Unbezahlbares geben zu wollen, politisches Handeln? Niemand versinnbildlichte auf dem Festival so sehr wie Colin Stetson das Alles-Geben als Gegenmodell zu jener desaströsen Ökonomie-Auffassung, die nur dem Planeten alles entnimmt.

Nicht zuletzt wurde auch in Moers eine altbekannte Wirkungsweise von Musik wieder intensiv spürbar – ihre Emotionalität und Pathosfähigkeit, die es nicht nur schafft, Gefühle zu verarbeiten, sondern die auch Gefühle auszulösen vermag. Das wurde während des Festivals vielleicht an keiner Stelle so deutlich wie in Colin Stetsons Referenz an den Komponisten Henryk Górecki und seine Symphonie No. 3, opus 36, deren drei Sätze jeweils ein Klagelied beinhalten. Ergreifend. Die klassische Komposition von 1976 erweist sich als eine der aktuellsten. Pathos als Gegengewicht zum kalten Kalkül. Das ist vielleicht das Politischste an Musik, ihre Fähigkeit zu jenem Mitleiden, das den Finanzspekulanten ebenso zu fehlen scheint wie den Waffenproduzenten und Kriegstreibern.




Politik und Privates in der englischen Provinz um 1850 – ein Roman von Anthony Trollope

Die englische Provinz-Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts muss ein skurriles Typen-Kabinett gewesen sein.

trollope

Diesen Schluss jedenfalls legt (auch) Anthony Trollopes 1855 erschienener Roman „The Warden“ nahe, der unter dem beinahe biedermeierlich anmutenden Titel „Septimus Harding, Spitalvorsteher“ auf Deutsch vorliegt, und zwar in der allzeit beachtenswerten Bibliothek der Weltliteratur des Manesse Verlages.

Der ungemein disziplinierte Vielschreiber Trollope (1815-1882), hauptberuflich ein umtriebiger und reisefreudiger Postbeamter, der immerhin 47 Romane verfasste und mithin an Balzacsche Dimensionen heranreichte, führt uns abermals ins fiktive westenglische Städtchen Barchester, dessen Bewohner er überaus detailverliebt beschreibt.

Vorangeschickt sei noch dies: Handwerklich ist der weltläufige Mann, der – ein geradezu modernes Konzept – ganze Romanserien mit gleich bleibendem Personal ins Werk setzte, sozusagen über jeden Zweifel erhaben. Der Zeitgenosse von Dickens und Thackeray, der sich selbst als literarischer Nachfahre von Jane Austen begriffen hat, zählt zu den wichtigsten Chronisten der viktorianischen Ära. In Deutschland ist er leider immer ein wenig unterschätzt worden. Auch diese Neuauflage zu seinem 200. Geburtstag (24. April 2015) dürfte daran nicht viel ändern.

Im besagten Barchester also begegnen wir der Hauptperson, jenem Geistlichen und Kantor Septimus Harding. Vom Bischof höchstpersönlich ins Amt eingesetzt, lebt er zudem recht gut dotiert als „Spitalvorsteher“, will heißen: Er leitet ohne viel Arbeitsaufwand die Geschicke eines stiftungsfinanzierten Armenhauses für zwölf alte Männer, die dort einen erträglichen Lebensabend verbringen.

Alles geht Jahr für Jahr seinen ruhigen Gang, bis ausgerechnet Hardings Schwiegersohn in spe, der Chirurg John Bold, sich in der Rolle eines Reformers und Weltverbesserers gefällt. Immer hartnäckiger forscht er nach, ob Hardings Gehalt eigentlich noch dem mildtätigen Stiftungsgedanken entspricht – oder ob das gute Geld nicht vielmehr den betagten Heiminsassen zustünde. Da zieht eine Gestalt der neuen Zeit mit Furor zu Felde.

Schon bald erfasst die gezielt geschürte rebellische Stimmung die angeblich übervorteilten Greise. Vollends bricht der Skandal aus, als die quasi „unfehlbare“ Zeitung „Jupiter“ (gemeint war wohl die „Times“) den Fall aufgreift und Harding attackiert. Die Artikel, die man heute vielleicht als „Shitstorm“ bezeichnen würde, werfen den Spitalvorsteher dermaßen aus der gewohnten Lebensbahn, dass er sein Amt freiwillig aufgeben will. Es soll auch nicht der Hauch eines Zweifels auf seiner Amtsführung liegen.

Nun hat aber der so gewissenhafte Harding, Vater zweier Töchter, bereits einen anderen Schwiegersohn, nämlich den mit allen rhetorischen Wassern gewaschenen Erzdiakon, der vehement die Interessen der anglikanischen Staatskirche vertritt, die ihre Autorität von reformerischen Bestrebungen bedroht sieht. Er will unter allen Umständen verhindern, dass Harding vor den Angriffen zurückweicht.

Und also setzt ein Ringen zwischen den Liebhabern der Töchter ein, in dem es um die (religions)politische Macht geht; wie denn Trollope überhaupt vom Räderwerk der Politik eine Menge verstanden hat. Abstecher seines Romans ins weltstädtische London zeigen, dass all dies die bloß provinzielle Perspektive weit übersteigen könnte.

Es ist heute noch hochinteressant zu lesen, wie sich hier das Politische mit dem Privaten vielschichtig und konfliktreich verschränkt. Der vielwissende Erzähler versucht, rundum Realismus und Gerechtigkeit walten zu lassen. Gleichsam im täglichen Umgang hat Trollope seine Figuren spürbar ins Herz geschlossen, wie fragwürdig ihr Verhalten auch immer sein mag. Speziell auch die Töchter und Ehefrauen geraten in den Blick, wobei sich die Frage erhebt, welchen Einfluss sie in einer männerdominierten Welt geltend machen können.

Trollope vermag etwa die raffinierten Winkelzüge eines Advokaten ebenso süffig zu schildern, wie er inständig melodramatische Szenen entwirft. Der Heißsporn Bold will aus Liebesgründen all seine Klagen gegen Harding zurückziehen, doch da hat sich die Sache schon verselbständigt. Schicksal, nimmt deinen Lauf. Am Ende trägt keiner wirklichen Nutzen davon, doch es ist etliches Porzellan zerschlagen. Und alle, die sich als Helden aufplustern wollten, haben sich als tragikomische Charaktere erwiesen.

Dass dann alles nicht ganz so schlimm kommt wie befürchtet, legt Trollope am Schluss dar, als wolle er begütigen und seine Leser(innen) denn doch lieber ruhig schlafen lassen. Ja, er stellt sogar sedierend fest: „…wir haben es weder mit vielen Personen noch mit aufregenden Ereignissen zu tun…“ Außer vielen Zeilen nichts gewesen? Von wegen. Wir nehmen lieber mit Fug an, dass Trollope hier von höherer Warte und mit kaum verhüllter Ironie spricht.

Anthony Trollope: „Septimus Harding, Spitalvorsteher“. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Ott. Nachwort von Doris Feldmann. Manesse Verlag. 384 Seiten. 22,95 Euro.




Vor 70 Jahren: Als das Ruhrgebiet im Frühjahr 1945 befreit wurde

In den vergangenen Wochen wurden wir zwei Mal deutlich darauf hingewiesen, was vor sieben Jahrzehnten in Deutschland geschah: Die Bombardierung Dresdens, ein Symbol für den Untergang des „Dritten Reiches“, jährte sich am 13. Februar, und nach dem Tod des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker kamen alle Würdigungen auf seine berühmte Rede vor dem Bundestag zu sprechen, in der er den Tag der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ nannte. Was zum Kriegsende in der Rhein-Ruhr-Region geschah, soll hier kurz skizziert werden.

Mit der Landung alliierter Truppen in der Normandie ab dem 6. Juni 1944 begann das Ende des NS-Regimes im Westen. Am 21. Oktober 1944 wurde Aachen als erste deutsche Stadt befreit – während in anderen Reichsteilen weiter gekämpft und gestorben wurde. Erst Ende Februar kamen die Truppen der Alliierten an den Rhein – ein schwieriges Hindernis für den Vormarsch, denn die Deutsche Wehrmacht sprengte vor ihrem Rückzug sämtliche Brücken, zuletzt am 3. März 1945 im Bereich der Stadt Düsseldorf.

Die erste Überquerung des Rheins gelang dann den Amerikanern über eine Pontonbrücke am 7. März bei Remagen, und die aus Holland vorstoßende britische Armee überwand den Fluss erstmals am 24. März bei Wesel.

Weil gleichzeitig alliierte Trupen von Süden und Osten auf das Industriegebiet vorrückten, entstand nach und nach ein Kessel, der bekannte Ruhrkessel, in dem fast 300.000 Wehrmachtssoldaten eingeschlossen waren. Die Stadt Hamm wurde am 1. April befreit, und einen Tag später war der Ruhrkessel geschlossen.

Von Süden stießen die Alliierten über Siegen, Olpe und Schmallenberg vor, wo es noch heftige Kämpfe gab, und zu Ostern erreichten die Befreier die Ruhr. Am 18. April 1945 kapitulierten die eingeschlossenen Wehrmachtsteile im Ruhrkessel, die bedingungslose Kapitulation auf Reichsebene folgte erst an besagtem 8. Mai 1945. Hitler hatte sich schon am 30. April umgebracht.

Leider wurde im Osten Asiens weiter gekämpft. Am 6. und 9. August zündeten die Amerikaner über Hiroshima und Nagasaki ihre Atombomben, und darauf folgte mit der Kapitulation Japans am 2. September endlich das Ende dieses schrecklichen, von Deutschland begonnenen Weltenbrandes.




Am Bande, nicht am Gängelband: „Schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr erhält Verdienstkreuz und erinnert an Voltaire

SH_83_Cover_300_dpi_b2ffc1e545Jemand mag einen Orden bekommen und doch kann er ein verdienstvoller Mensch sein, heißt es. Ganz sicher trifft dies auf Schreibheft-Herausgeber Norbert Wehr zu, der gestern im Essener Rathaus das „Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“ erhielt.

Es ist eine Auszeichnung für fast 40 Jahre Entdeckungsreisen in die Literatur der Zeiten und Länder, für Literaturveranstaltungen in Serie, die seit Jahrzehnten das kulturelle Klima der Stadt Essen bereichern. „Literatur im Folkwang“ hießen die zuletzt, bis Folkwang-Chef Bezzola die renommierte Reihe vor die Tür setzte und lieber Kunst ankaufen wollte. Die Reihe aber, das war gestern zu hören, ist wohl gerettet, sie wird unter veränderter Trägerschaft an anderen Orten und unter neuem Namen fortgeführt.

Offenheit und Wagemut
Norbert Wehr, eher schüchtern als die Öffentlichkeit suchend, bedankte sich artig für all die Unterstützung durch Mitarbeiter, Freunde, Förderer und Familie. Wer die Literaturzeitschrift kennt oder vielleicht sogar liest, die da halbjährlich um die 200 Seiten stark erscheint, weiß oder ahnt zumindest, dass im Zentrum der Redaktionsarbeit, Recherche und Organisation vor allem Wehr selbst steht, ohne den es die Zeitschrift schlicht nicht gäbe – und vielleicht irgendwann auch nicht mehr geben wird. Er ist es letztlich, der trotz gelegentlicher finanzieller Förderung durch Stiftungen, Sponsoren, Geldpreise das finanzielle Risiko zu tragen hat.

Sprachräume ausloten
„Wer gute Lesekondition mitbringt, dem erschließt sich ein Kompendium zeitgenössischer Weltliteratur. Der Leser und Sammler Norbert Wehr überrascht sein Publikum immer wieder mit Neuem, Un-Erhörtem, nie Gesehenem. Literarische Debatten wurden im Schreibheft geführt. Sprachliche Grenzen wurden transzendiert und herkömmliche Gattungsrestriktionen“, schrieb Literaturwissenschaftler Hannes Krauss, als Norbert Wehr für seine Arbeit am Schreibheft den Literaturpreis Ruhr 2010 erhielt.

Foto: Elke Brochhagen/Stadt Essen

Preisträger Norbert Wehr (rechts) und Essens OB Reinhard Paß (Foto: Elke Brochhagen/Stadt Essen)

Standhalten und dichten, berichten
Gestern in Essen griff Wehr in seinen Dankesworten auch den Terroranschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo und dessen mögliche Wirkungen auf. O-Ton Wehr: „Ich kann den Orden schwerlich annehmen, ohne zum Schluss mit dem allergrößten Respekt des Muts der Journalisten, Zeichner und Herausgeber von Charlie Hebdo zu gedenken, die in den letzten Jahren, und spätestens nach dem Brandanschlag auf ihre Redaktionsräume im Jahr 2011, unter Lebensgefahr auf der Ausübung ihres republikanischen Rechts bestanden haben – des Rechts auf Meinungs- und Pressefreiheit.

Sie schrieben und sie zeichneten in einer Tradition, die bis zu Voltaire zurückreicht, und vor allem zu dessen Mahomet, einer fanatismuskritischen Tragödie, die kein Geringerer als Goethe ins Deutsche übertragen hat. ‚Eure Majestät wissen‘ – schrieb Voltaire 1740 an Friedrich den Großen –, ‚Eure Majestät wissen, welcher Geist mich beseelte, als ich dieses Werk verfaßte. Die Liebe zum Menschengeschlecht und das Grauen vor Fanatismus haben meine Feder geführt.‘

Diese Liebe, gepaart mit dem Grauen – es sind immer noch edle Motive, auch heute, bald 300 Jahre später, für jeden der schreibt und publiziert.

Nicht erst seit einer Woche wissen wir jedoch, wie gefährdet, wie hoch gefährdet diese Haltung mittlerweile ist. Ich fürchte, der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat recht. Am Montag hat er im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung gesprächshalber geäußert, ich zitiere: ‚Wer sich die Freiheit nimmt, auf der unsere Kritikfähigkeit beruht, wird sich in Zukunft unter Todesdrohung sehen. Dies auszuhalten und Institutionen zu finden, die diese Freiheit weiterhin beschützen, ist von Stund an die Aufgabe.‘ – Und Bredekamp weiter: ‚Ein fundamentales Umdenken steht uns bevor: Meinungsfreiheit kann Leben kosten. Wir werden sehen, welche Konsequenzen das hat – wird es eine Bildpolitik der Konfliktvermeidung geben? Oder halten wir stand, in den Redaktionen, an den Universitäten, in der Kunst und in der Politik?‘“




Zwei Jahre nach dem Ende der Rundschau – beängstigende Zeiten für den Journalismus

Jetzt ist es auf den Tag genau zwei Jahre her: Am 15. Januar 2013 wurde die Entscheidung der WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) verkündet, die Redaktion der Westfälischen Rundschau komplett zu entlassen.

Damit war die Geschichte der Zeitung faktisch beendet, obwohl sie phantomhaft mit Fremdinhalten weiter erscheint. Bis heute ist dies ein singulärer Vorgang in der bundesdeutschen Pressegeschichte. An manchen Ecken und Enden der Republik haben Verleger, Investoren und Profiteure seither Redaktionen und/oder Etats verkleinert. Aber so unvergesslich rabiat wie vor zwei Jahren in Dortmund ist man noch nirgendwo vorgegangen; wenn wir mal nur von Personalpolitik sprechen.

Leerer Newsdesk der Westfälischen Rundschau in Dortmund im November 2008. (Foto: Bernd Berke)

Leerer Newsdesk der Westfälischen Rundschau in Dortmund im November 2008. (Foto: Bernd Berke)

Seit jenen Tagen hat sich allerdings das Umfeld in beängstigender Weise verändert.

Den zwischenzeitlich immer lauter gewordenen Schreihälsen, die in Bausch und Bogen eine angebliche „Lügenpresse“ (bekanntlich das Unwort des Jahres 2014) verunglimpfen, sind Entlassungen in Redaktionen gewiss egal – oder sie jubeln noch darüber. Aber wehe, wenn eine Mehrheit ihrer dumpfen Auffassung folgen würde… Dann gäbe es irgendwann nur noch die eine Meinung zu lesen. Wie in Diktaturen mancher Couleur üblich. Auch in diesem Sinne bedeutet nahezu jede Zeitung, die vom Markt verschwindet, einen Verlust.

Von der existenziellen Bedrohung, bei der es an Leib und Leben geht, gar nicht zu reden. Wir haben jüngst so furchtbar viel davon hören müssen.

Journalismus war einmal ein Beruf mit traumhaften Seiten, den man – frei nach Kurt Tucholsky – lässig mit der Zigarette im Mundwinkel ausüben konnte und musste. Damals folgte der finsterste Alptraum. Und heute würde man auch wahrlich nicht nur vor dem begleitenden Tabakgenuss warnen wollen.




Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo – Zeit für eine Debatte über die Rolle der Religionen

Der feige Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo hat zwölf Menschen das Leben gekostet und großes Leid über ihre Angehörigen, ihre Freunde, ihre Kollegen gebracht.

Und er verletzt auch meine a-religiösen Gefühle zutiefst, meine Vernunft, mein Herz. Die Erkenntnis, dass Religionen und (Massen-)Wahn sehr nah beieinander liegen, ist – im wahrsten Sinne des Wortes – beileibe nicht neu. Zeigt sich dieser Zusammenhang aber im alltäglichen Leben als Katastrophe, wird er vollends unerträglich. Da hilft auch die Flucht von Sprechern religiöser Verbände in die Schutzbehauptung, Religionen und religiöser Fundamentalismus als Terrorismus hätten nichts miteinander zu tun, nirgends weiter, sondern verdunkelt nur tatsächliche Zusammenhänge.

Es wird also höchste Zeit für mehr radikale Religionenkritik, für eine Debatte über die Rolle der Religionen im öffentlichen Raum. Laizismus (laïcité) und Abbau der Sonderrechte für alle Religionen – dahin könnte es in einer demokratischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts gehen. Statt dessen versuchen nur mehr Religionen, den öffentlichen Raum zu unterwerfen. Dagegen ist zu setzen: Freiheit für die Religionen (ja, im Privaten), aber eben auch weitgehende Freiheit von den Religionen im öffentlichen Raum. Hierzulande gilt das Grundgesetz und das schützt nicht nur die Presse- und Meinungsfreiheit, nicht nur die Religionen, sondern auch die Freiheit humanistischer Weltanschauungen als Art, die Welt anzuschauen und dies auch zu artikulieren.

Allerdings hat sich jetzt in Frankreich drastisch gezeigt, dass Laïcité allein nicht genügt. Der breite öffentliche Diskurs über menschengemachte Götter, Religionen, Kirchen, Sekten in ihrem historisch-ideologischen Kontext fehlt im europäischen Rahmen deutlicher denn je. Selbst wenn Religionen nur noch Privatsache wären, gäbe es wohl noch genug irregeleitete Gläubige aller Couleur, die mit ihrem Alleinvertretungsanspruch Gewalt gegen Andersgläubige oder „Ungläubige“ legitimieren würden. Auf Dauer helfen nur beharrliche, friedliche, kluge, kenntnisreiche Argumente gegen abergläubische Wahrheitspächter, hilft nur die sich selbst immer neu aufklärende Aufklärung.

Ich oute mich deshalb immer öfter in der Familie oder am Arbeitsplatz, im Sportverein oder beim Schreiben… als Humanist, der auf die Idee „Gott“ gerne und humorvoll verzichten kann, der deren Entstehung historisch-kritisch zwar nachvollziehen kann, aber eben auch die Überlebtheit jeder „Gottes“-Idee feststellen muss. Das Staunen vor der unerschöpflichen Vielfältigkeit allen Seins nimmt dabei eher zu, viele Fragen dazu sind offen. Religionen aber geben darauf keine auch nur irgendwie überzeugende Antwort, sondern fordern allein: Dran-Glauben, Gehorsam und Hirnabschalten.

Wie wäre es, wenn wir den wunderbaren Toleranzgedanken Gotthold Ephraim Lessings weiterentwickelten? Lessing ging es in der Ringparabel des „Nathan der Weise“ um die friedliche Konkurrenz dreier Religionen. Heute dagegen geht es weltweit um die Konkurrenz vieler Religionen mit vielen anderen Welt-Anschauungen, darunter auch ein (gottfreier) Humanismus. Nur wer Güte nicht nur predigt, sondern sie auch lebt, ist in dieser Konkurrenz überhaupt ernst zu nehmen.

Darf man den verehrten Lessing vielleicht so ein wenig umschreiben?

Nathan:
Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurteilen freien Liebe nach!
Es strebe von euch jeder um die Wette,
Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,
Mit innigster Verbundenheit als Mensch dem Menschen,
Zu Hülf‘! Und wenn sich dann der Steine Kräfte
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:
So lad‘ ich über tausend tausend Jahre,
Sie wiederum an diesen Tisch. Da werden
Weisre Menschen hier in trauter Runde sitzen,
Als ich; und sprechen.




Kurz und abgeschmackt: der ARD-„Brennpunkt“ über den Anschlag in Paris

Das war wirklich ausgesprochen dürftig: Die ARD hat heute ab 20:15 Uhr einen gerade mal 17 Minuten langen „Brennpunkt“ zum ruchlosen Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ erübrigt. Mit mancher mittelschweren Wetterkapriole hat man sich schon länger aufgehalten.

Oben rechts befindet sich der Ausschaltknopf. (Foto: BB)

Oben rechts befindet sich der Ausschaltknopf. (Foto: BB)

Schlimmer noch: Der Einstieg war ungemein abgeschmackt. Moderator Markus Preiss, bis vor kurzem noch selbst in Paris eingesetzt, hielt es für nötig, uns den Schrecken des Attentats vor Augen zu führen, indem er salbungsvoll sagte, Paris sei ja sonst für das Schöne im Leben bekannt: für die Liebe, für Kunst, für gutes Essen… Man bewundere den Eiffelturm und manche andere Sehenswürdigkeit, doch heute…

Ja, ist es denn zu fassen? Wie fühllos können Fernsehleute sein, die solche erbärmlichen Texte hinfetzen?

Schon die ersten Sätze der Sendung waren abgründig. Moderator Preiss behauptete, man habe lange überlegt, ob man diesen Untertitel (hinter ihm eingeblendet: „Blutbad in Paris“) nehmen sollte. Aber dann habe man sich dafür entschieden. Soll man wirklich glauben, dass über die Wortwahl lange diskutiert worden ist? Die Schlagzeile klingt jedenfalls nach Schublade und nach kläglicher Katastrophen-Routine. Und so war die Sendung dann auch.

Gebührenwerte Grundversorgung geht irgendwie anders.




Wenn der Minister von Wurst und Käse erzählt

Ein Minister, dessen ministrable Realexistenz mir immer erst dann wieder bewusst wird, wenn er sich zu ziemlich unwesentlichen Politikbereichen äußert (vermutlich geschieht das immer dann, wenn er sich von der allgemeinen Vergessenheit bedroht sieht); diesem Minister also (es handelt sich um einen gewissen Christian Schmidt aus der unvermeidlichen CSU) fiel es ein, dass er sich nach wiederholtem Flachsinn, den sein heimischer Ministerpräsident Seehofer von sich gegeben hat, auch mal wieder zu Wort melden musste.

Erstens, um den Nachweis zu erbringen, dass es ein Bundesagrarministerium wirklich gibt.

Natürlich künstlich: Wurst und Käse aus dem Kinder-Kaufladen. (Foto: Bernd Berke)

Natürlich künstlich: Wurst und Käse aus dem Kinder-Kaufladen. (Foto: Bernd Berke)

Zweitens, um den Nachweis zu erbringen, dass nicht nur sein Ministerpräsident in München dummes Zeug mundartlich verbreiten kann.

Drittens, um zu zeigen, dass ein deutsches Bundesagrarministerium im Themenzusammenhang mit dem TTIP – das ist ein Abkommen zwischen EU und den USA, das den freien Handel zwischen den Kontinenten nach Jahrhunderten der boshaften Vorschriftengrenzziehungen erst möglich machen soll (das war ein Scherz!), dass also dieses Bundesagrarministerium etwas zu sagen hat.

Und was sagt er Herr Schmidt? „Wenn wir die Chancen eines freien Handels mit dem riesigen amerikanischen Markt nutzen wollen, können wir nicht mehr jede Wurst und jeden Käse als Spezialität schützen!“ Seitdem ich das las, frage ich mich, ob er mit Wurst vielleicht sich selbst meinte und mit Käse das, was er da erzählt.

Aber im Ernst. Der bodenständige Bayer Schmidt will mit seinen generösen Angeboten den Amis ein Zückerchen hinwerfen, das es ihnen erleichtert, dem Abkommen zuzustimmen, dessen Verhandlungsinhalte hierzulande nur wenigen und denen auch nur rangbedingt in ausreichendem Maße bekannt sind (wird ja von der EU verhandelt).

Ob Thüringer Bratwurst, Allgäuer Emmentaler, Oude Gouda oder Schwarzwälder Schinken, das könnten doch wohl keine Hindernisse sein, bloß weil der Herkunftshinweis EU-rechtlich geschützt ist. „Es wäre unseren amerikanischen Handelspartnern schwer vermittelbar, dass sie keinen Tiroler Speck oder Holländischen Gouda zu uns exportieren dürften, wenn wir in Europa selbst den Schutz nicht konsequent durchsetzen würden“, wird er vom „Spiegel“ zitiert.

Au weia. Ich sehe schon die blühende Freihandelszukunft: „Original Holländischer Gouda“ aus Wisconsin. Gleichzeitig droht dem Mimolette (dem Gouda ähnlicher Festkäse aus Frankreich) die Massenvernichtung durch den amerikanischen Zoll. Oder „Original Schwarzwälder Schinken“ von Monsanto (amerikanischer Saatgutkonzern, der eigene Schweineherden weltweit patentieren lassen will, weil die Viecher so schön schnell wachsen). Oder wie wäre es mit „Original Pfälzer Saumagen“ oder „Original Thüringer Bratwurst“ aus Milwaukee? Im Gegenzug, so schwebt es dem pfiffigen Herrn Schmidt vor, könnte man seitens der USA ja auf die ominösen Chlor-Hähnchen verzichten.

Mieses Geschäft. Wie wäre es denn, wenn wir aus Sachsen „Original BigMacs“ liefern, aus Bayern mit den Produktion von „Original Kentucky Fried Chicken“ auf den Markt der noch nicht erschlossenen Märkte träten? Oder wenn wir den Bremer Labskaus in New Mexico anböten (ach nein, dem würde ja gleich wieder von der dortigen Lebensmittelaufsicht wegen seines Erscheinungsbildes das Schicksal des Mimolette-Käses angedroht).

Aber nochmal, im Ernst. Der famose Herr Schmidt schafft es mit ein paar geplapperten Sätzen, die dann auch noch todernst via „Spiegel“ breit getreten werden, die Bedrohungen des TTIP („Transatlantic Trade and Investment Partnership“) auf Chlor-Hähnchen und Bratwürste zu reduzieren. Dabei sind die ernsthaften Kritiker dieser Befreiung des Handels hin zu einer Machtübergabe an weltweit operierende Konzerne (Stichwort Investorenschutzklage) auf ganz anderen Ebenen unterwegs und haben sich ernsthaft mit den möglichen Folgen und der damit verbundenen Entdemokratisierung zugunsten einer gierigen Wirtschaft auseinander gesetzt.




Krasser „Sanierungs“-Vorschlag: Kunst aus dem Hagener Osthaus-Museum verkaufen…

Im Sommer stach mir beim Einkauf ein Plakat ins tränende Auge, worauf die famose Gruppierung namens „Hagen aktiv“ die Forderung aufstellte, man möge sich doch durch Verkauf des Schumacher-Museums und der mit ihm verbundenen Kosten einiger Gelsorgen entledigen.

Ziemlich überflüssiger Gedanke, weil ohnehin nicht bis an sein finanzielles Ende durchdacht, dachte ich damals und schrieb es auch. Und, was ich noch dachte: Sie sind zwar aktiv, attestieren sie sich selbst, aber wie so häufig ist bloße Aktivität noch weit entfernt davon, vernünftige Gedanken zu entwickeln.

Nun dachte ich, das wär’s gewesen und nach Jörg Dehm, der mal Ferdinand Hodlers „Der Auserwählte“ über Christie’s vom Hohenhof auf den internationalen Kunstmarkt werfen wollte (10 Millionen Bruttoerlös taxierte man damals) und den „aktiven“ Hagenern käme niemand mehr auf Schnapsideen wie den Verkauf von Hagener Kunstwerken. Weit gefehlt: Nun muckt doch tatsächlich ein hoch erfahrener Politiker wie Dietmar Thieser (SPD) auf und merkt an, man könne ja den Verkauf von Magazin-Beständen des Osthaus-Museums ins Auge fassen, von Werken, die weder ein Hagener kennt noch so schnell zu Gesicht bekäme.

Ehrwürdig: der Altbau des Hagener Osthaus-Museums. (Foto: Bernd Berke)

Ehrwürdig: der Altbau des Hagener Osthaus-Museums. (Foto: Bernd Berke)

„Um den maroden städtischen Haushalt zu sanieren, hat Dietmar Thieser, heute Bezirksbürgermeister von Hagen-Haspe (und früherer Oberbürgermeister der Stadt), einen Verkauf von Kunstwerken aus dem Karl-Ernst-Osthaus-Museum ins Spiel gebracht. Darüber müsse man angesichts des Spardrucks und der von den Sportvereinen geforderten Hallennutzungsgebühr diskutieren: ,Es darf keine Tabus geben.’“ So heißt es im WAZ-Portal www.derwesten.de.

Flugs hat Thieser eine populäre Vokabel zur Hand, weil er mit dem energischen Schritt „Transparenz“ in den Magazin-Kellern herstellen wolle, flugs auch noch einen griffigen Vergleich, nicht weniger populär: Nur 7,8 Millionen Euro stecke die Stadt derzeit in die Sportförderung, 28,7 Millionen in Wissenschaft und Kulturförderung. Und nun wolle man die Sportler auch noch mit Nutzungsgebühren für ihre Sportstätten belasten. Wenn das nicht kracht.

Ich schrieb unlängst an anderer Stelle, dass es glatter Blödsinn sei, sich mit der Einführung von erfahrungsgemäß ziemlich erlösschwachen Sportstättennutzungsgebühren eine unselige öffentliche Diskussion an den Hals zu laden. Da isse! Klar, es verbietet sich, Ausgaben für Schule, Sport oder Kultur gegeneinander aufzurechnen. Wer so was beginnt, der wird mit der gestaltenden Politik alsbald aufgeben müssen, weil dann nämlich jede Gruppe mit subjektiv für unverzichtbar gehaltenen Einzelinteressen mit demselben Unsinn begänne.

„Es darf keine Tabus geben“, mahnt Dietmar Thieser via Medien. Natürlich nicht, aber dann gilt diese Aussage auch umgekehrt. Es darf dann auch keine Tabus bei der Sportförderung geben, es darf keine bei öffentlichem Nahverkehr geben, es darf keine bei den Grünflächen geben… usw. Wo hören wir denn da auf? Beim Hasper Kirmeszug? Ja, unbedingt, denn der ist meiner Ansicht nach ein unverzichtbares Stück Hagener Lebens. (Das meine ich ernst!)

Aber, Kunst, Kultur, innovative Sprünge in einer städtischen Lebensqualität, auch sie gehörten stets zu Hagen. Karl Ernst Osthaus, dessen Museumsmagazin Dietmar Thieser versilbern will, war ein Mann, der mit dem Geld seiner Bankiersfamilie viel Seliges für Hagen anstellte. Er begründete die Folkwang-Bewegung, schuf eine unvergleichliche Sammlung, ließ den Hohenhof entstehen, bescherte dem Bahnhof eine noch heute unschätzbare Glasmalerei von Jan Thorn Prikker. Renoir, Matisse, van Gogh, Czézanne, Christian Rohlfs gehörten zu seinem Bekannten- und Freundeskreis. Ohne ihn und die Muttererde Hagens gäbe es in Essen kein Folkwang-Museum.

Nein, wir dürfen keine Tabus setzen. Wir dürfen vor allem keine Angst davor haben, den götzenanbetenden Schwarzzahlenverehrern in Berlin zu sagen, dass sie es sind, die Städte und Gemeinden (namentlich in NRW) wortbrechend veröden lassen, dass sie es sind, die ihnen Lasten auferlegen, die der Bund zu tragen hätte, dass sie es sind, die versuchen, den eigenen finanziellen Sumpf trockenzulegen und gleichzeitig den Kommunen das Wasser bis zum Halse stauen.

Täte der Bund zeitnah das, was er den Städten und Gemeinden nach der zurückliegenden Wahl versprach, müsste in Städten wie Hagen niemand auf so blöde Ideen kommen, Sportstättengeühren als Zwietracht säendes Folterinstrument zu erheben, müsste andererseits auch kein Sportsfreund sich auf die unfaire Vergleichsdiskussion einlassen, wieviel Geld für was und wen ausgegeben wird in einer einstigen Kulturstadt von europäischem Rang.

Langer Rede kurzer Sinn: Macht lieber Vollfront gegen den Unsinn im Bund als darüber nachzudenken, was man alles versilbern könnte, das dann aber unwiederbringlich weg sein wird.

(Der Text ist zuerst in Rudi Bernhardts Blog http://dasprojektunna.de erscheinen)




Wie man im Ruhrgebiet spart – und kassiert

Dortmund ist ziemlich arm dran. In fast allen Statistiken, die Gutes besagen, liegt die westfälische Großstadt hinten (neuerdings sogar in der Bundesliga-Tabelle); wenn’s hingegen prekär wird, mischt die arg verschuldete Kommune zumeist in der Spitze mit. Doch es gibt hier auch einige, die ausgesorgt haben.

Beispielsweise Guntram Pehlke, Chef der Dortmunder Stadtwerke (DSW21). Der Mann wird auch im bundesweiten Vergleich überaus ordentlich bezahlt. Laut „Ruhr Nachrichten“ (RN) vom 3. Dezember 2014 liegen bei ihm derzeit jährlich 442 389,77 Euro an – mit allen Zusatzleistungen. Pehlkes Kollegen in Düsseldorf, Hamburg oder Stuttgart liegen weit unterhalb seiner Einkünfte. Nun soll, wie die RN weiter berichten, sein Vertrag auch noch in Windeseile vorzeitig verlängert werden, was wiederum mit weiteren Vergünstigungen verbunden wäre.

Wenn's nach einigen politischen Platzhirschen geht, wird das Damwildgehege im Dortmund Süggelwald geschlossen. Esparnis: gerade mal 4500 Euro im Jahr. (Foto: Bernd Berke)

Wenn’s nach einigen politischen Platzhirschen geht, wird das Damwildgehege im Dortmunder Süggelwald geschlossen. Esparnis: gerade mal 4500 Euro im Jahr. (Foto: Bernd Berke)

Pehlke gehört als einstiger SPD-Schatzmeister im Unterbezirk Dortmund und als früherer Stadtkämmerer zu den Parteigenossen, die in Dortmund (und überhaupt im Ruhrgebiet) immer mal wieder an die Spitze kommunaler Unternehmen geraten.

Ob Energieversorger, Entsorgungsbetriebe, (stark defizitärer) Flughafen, Stadtsparkasse oder Messe/Westfalenhallen – stets steigen die Chancen auf lukrative Dortmunder Chefposten mit SPD-Parteibuch erheblich. Gewiss, andernorts gibt es Filz und Klüngel im Zeichen der CDU. Doch das Revier ist eben vorwiegend ein Selbstbedienungsladen für manche Sozialdemokraten. Ein Jammer für die vormals stolze Partei.

Das TV-Magazin „Monitor“ hat kürzlich (Ausgabe vom 20. November 2014) recherchiert, dass ausgerechnet die Ruhrgebietsstädte national meist weit vorn liegen, wenn es um kommunale Chefgehälter geht. Als Boss der Entsorgungsbetriebe kann man in Essen oder Dortmund deutlich mehr kassieren als etwa in Berlin oder Hamburg.

Bei der Dortmunder Entsorgungsgesellschaft EDG verdienen laut „Monitor“ drei (!) Chefs je etwa 266000 Euro, für ähnlich gelagerte Aufgaben reicht in Stuttgart ein Geschäftsführer, dessen Tätigkeit mit vergleichsweise bescheidenen 125000 Euro vergütet wird. Weitere verblüffende Einzelheiten sind auf der Monitor-Homepage nachzulesen.

Unterdessen muss die durch immense Sozialkosten gebeutelte Stadt ihre sonstigen Leistungen stetig reduzieren. Ein besonders groteskes Beispiel, wenn man mal vom schleichenden (und bald galoppierenden?) Kulturabbau absieht: Gerade mal 4500 Euro will Dortmunds Stadtkämmerer Jörg Stüdemann durch Schließung eines Damwildgeheges im Süggelwald (Stadtteil Eving) einsparen. Auch auf der Homepage der Stadt wird das Gehege bis heute als Möglichkeit für ansonsten vielfach benachteiligte Kinder der Nordstadt beworben, quasi in ihrer Nachbarschaft Tiere im naturnahen Raum zu erleben.

Egal. Der Posten soll gestrichen werden. Und was wird aus den Tieren? Da könnte man die polemische Frage stellen, ob anschließend noch der Wildbraten auf dem Tisch kommunaler Honoratioren kredenzt wird. Vielleicht gar beim nächsten Empfang des SPD-Oberbürgermeisters Ullrich Sierau?

Aber mal im Ernst: Drängt sich denn nicht die Idee auf, mit den Sparmaßnahmen auch bei den besagten kommunalen Spitzengehältern anzusetzen? Schon allein, um mal ein Signal zu setzen.

Unterdessen sehen sich die Städte des Ruhrgebiets gezwungen, auch noch Menschen abzuschrecken, die vielleicht trotz alledem hierher ziehen wollen – mit exorbitant steigenden Hebesätzen für die Grundsteuer B. Wie die WAZ heute berichtet, könnten ohnehin schon weniger attraktive Orte wie Duisburg und Witten, die eh schon Einwohner verlieren, auf diesem Gebiet demnächst Spitzenpositionen einnehmen. Duisburg hätte dann einen fast doppelt so hohen Hebesatz wie das benachbarte Düsseldorf, Witten könnte gar bundesweiter Spitzenreiter werden und selbst Berlin überflügeln. So gut wie alle Revierbürer sind betroffen. Per Umlage wirkt sich die Grundsteuer auch mietsteigernd aus.

Vor der Zukunft einer Region, in der just morgen das allerletzte Opel-Fahrzeug vom Bochumer Band laufen wird, kann einem gelegentlich angst und bange werden.




Heute vor 75 Jahren: Hitler kündigte den Angriff auf Frankreich und England an

„Mein Entschluss ist unabänderlich. Ich werde Frankreich und England angreifen zum günstigsten und schnellsten Zeitpunkt.“ Mit diesen Worten kündigte Adolf Hitler heute vor 75 Jahren, am 23. November 1939, in einer Ansprache vor den Oberbefehlshabern der Deutschen Wehrmacht den bevorstehenden sogenannten „Westfeldzug“ an. Der später so bezeichnete „Zweite Weltkrieg“ bekam damit eine ganz neue Dimension.

Auch auf der Avenue des Champs-Elysee marschierte ab 1940 die Deutsche Wehrmacht. (Foto von 2014/Hans H. Pöpsel)

Auch auf der Avenue des Champs-Elysee marschierte ab 1940 die Deutsche Wehrmacht. (Foto von 2014/Hans H. Pöpsel)

Hitler begründete den geplanten Überfall mit dem schon im Osten benutzten Argument: „Die steigende Volkszahl erforderte größeren Lebensraum…Hier muss der Kampf einsetzen.“ Bereíts am 1. September 1939 hatte die Wehrmacht Polen überfallen, und deshalb erklärten dessen Schutzmächte Groß-Britannien und Frankreich zwei Tage später dem Deutschen Reich den Krieg. Weil Hitler von der Überlegenheit der Wehrmacht und der deutschen Rüstungsindustrie überzeugt war, schmiedete er nun seine Angriffspläne in Richtung Frankreich.

Am 10. Mai 1940 begann dann der sogenannte Westfeldzug mit dem militärischen Überfall auf Belgien, Luxenburg und die Niederlande und deren Besetzung. Gut drei Wochen später begann am 5. Juni der Angriff auf Frankreich, das tatsächlich dem schnellen Vorrücken der deutschen Truppen wenig Widerstand leisten konnte.

Bereits am 4. Juni besetzte die Wehrmacht Frankreichs Hauptstadt Paris, aus der sich die noch vorhandenen Teile der französische Armee zuvor zurückgezogen hatten. Am 22. Juni 1940 unterzeichneten in Compiegne die Vertreter des französischen Militärs und der Staatsführung das Waffenstillstandsabkommens – im selben Eisenbahnwaggon, in dem 1918 Deutschland hatte kapitulieren müssen. Die Dritte Französische Republik war damit beendet, Marshall Petain verlegte seine Rest-Regierung nach Vichy.

Gut vier Jahre später, Ende Augsut 1944, begann mit der „Operation Overlord“ die Befreiung von Paris, nachdem bereits im Juni alliierte Truppen in der Normandie gelandet und in den Wochen darauf gegen die Hauptstadt vorgerückt waren. Mit einem Generalstreik in der Stadt und Angriffen der Widerstandskämpfer begann die Befreiungsaktion, die nur deshalb ohne große Schäden und Opfer gelang, weil der deutsche Stadtkommandant Dietrich von Choltitz am 25. August gegen den ausdrücklichen Befehl Hitlers kampflos kapitulierte. Der hatte nämlich verlangt, eher ein „Trümmerfeld“ zu hinterlassen als zu kapitulieren.

So also erlangte Frankreich seine Freiheit zurück, Paris war in doppeltem Sinne gerettet, und die Touristen aus aller Welt können sich auch heute noch an den herausragenden Bauwerken in der Stadt an der Seine erfreuen.




Jekami, Jeki, JeKits – Yeah, Yeah, Yeah!

HAI - heran ans Instrument... (Foto: Bernd Berke)

HAI – heran ans Instrument… (Foto: Bernd Berke)

Um es vorweg zu sagen: Die Sache an sich ist gut und richtig. Dass Kinder sich zunächst spielerisch und später ausgiebig mit Musikinstrumenten befassen, kann man eigentlich nur begrüßen.

Doch schon die bürokratische Abkürzung für das entsprechende Maßnahmenbündel („Jeki“ = Jedem Kind ein Instrument) ist von gelinder Komik der unfreiwilligen Sorte. Da war selbst das gute alte „Jekami“ (Jede(r) kann mitmachen) noch etwas stimmiger.

Freilich lassen sich solche Schöpfungen immer noch unterbieten. Und so wird das schulische Angebot ab 2015/16 schwungvoll umbenannt. Man möchte nicht wissen, wie viele rotgrüne Köpfe da geraucht und wie viele wichtige Gremiensitzungen dieserhalb stattgefunden haben. Ob vielleicht gar selbsternannte Sprachdesigner für derlei lachhafte Ideen Geld kassiert haben? Als der Berg gekreißt hatte, gebar er jedenfalls diese Maus:

„JeKits“

O weh, da schrillen – sofern man noch bei Trost ist – alle sprachlichen Alarmglocken, denn nicht einmal das Pseudo-Englische wird hier richtig bedient; geschweige denn, dass da ein Anklang ans Deutsche zu erahnen wäre.

Und nun dürfen wir dreimal raten, für welchen Klartext dieses „JeKits“ wohl stehen mag. Na, selbstverständlich für:

„Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“.

Was haben Sie denn gedacht?

Aber mal ehrlich. Was will man schon aus einem NRW-Ministerium erwarten, das für den Gemischtwarenladen „Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport“ zuständig ist und das sich abgekürzt allen Ernstes „mfkjks“ nennt?

Das kann noch deutlich flotter werden. Statt MFKJKS könnte man doch auch ………….. oder …………… sagen und schreiben.

(Ideen bitte eintragen und unfrankiert nach Düsseldorf schicken)




Bei Immobilien muss man halt richtig zulangen – ein kleines Lehrstück für Dortmund und NRW

Gestern habe ich mich bei Lektüre der Regionalzeitung aufgeregt, heute schon wieder. Das kommt öfter vor; nicht nur wegen der Inhalte, sondern auch wegen der Machart. Aber darum geht’s jetzt mal nicht.

Es war also im vermeintlichen WAZ-Lokalteil (der ja von den Ruhrnachrichten kommt) zu lesen, erneut habe ein Großinvestor (diesmal die Gagfah aus Luxemburg) auf einen Schlag gleich 1700 Wohnungen in Dortmund erworben, davon allein 650 im Stadtteil Westerfilde, der in den letzten Jahren derbe heruntergekommen ist und zu Teilen als sozialer Brennpunkt gilt.

Unterwegs zur Verwahrlosung

Die betrübliche Entwicklung Westerfildes wiederum lag nicht zuletzt an den bisherigen Investoren, die große Wohnungsbestände finanziell ausgeweidet haben, hingegen nicht gerade sanierungsfreudig gewesen sind, um es ganz vorsichtig zu sagen. Wo derart dem Verfall und der Verwahrlosung Vorschub geleistet wird, da geht es im Kern auch um die Kultur des Zusammenlebens.

Teil einer WAZ-Schlagzeile, die für Unmut sorgen dürfte...

Teil einer WAZ-Schlagzeile, die für Unmut sorgen dürfte…

Binnen zehn Jahren werden damit die Wohnungen in Westerfilde zum sechsten Male (!) weitergereicht. Es gibt offensichtlich nicht nur die vom Privatfernsehen penetrant vorgeführten Mietnomaden, die vermüllte Wohnungen hinterlassen, sondern vor allem – im Effekt noch ungleich verheerender – Investorennomaden, die auf breiter Front Sanierungsstau und Chaos stiften. Hat da jemand „Scheiß-Kapitalismus“ gesagt? Nicht doch!

Der Trick mit den Firmenanteilen

Um das Maß zu füllen, gibt’s beim Riesengeschäft (Euro-Millionenvolumen einstweilen unbekannt) freilich noch einen staunenswerten Aspekt: Laut Mieterverein entfällt für den Kauf die Grunderwerbssteuer, die sonst für jeden privaten Wohnungs- und Hauserwerb 5 Prozent vom Kaufpreis beträgt und jeweils schnellstens fällig wird.

Haben wir richtig gelesen? Warum ist der Reibach steuerfrei? Nun, wegen eines gesetzlich erlaubten Tricks im Rahmen eines so genannten „Share Deal“: Demzufolge wurden nominell keine Immobilien, sondern Firmenanteile verhökert. Man glaubt es nicht, was wirtschaftsdienliche Winkeljuristen manchmal so aushecken. Hat da schon wieder jemand „Scheiß-Kapitalismus“ gerufen? Ach.

Diese unwichtigen Leute

Das alles ist schon ärgerlich genug. Doch mit der Titelseite der heutigen WAZ-Ausgabe folgt die Krönung. Demnach wird – entgegen allen vorherigen Beteuerungen aus der rot-grünen Landesregierung – zum 1. Januar 2015 just die Grunderwerbssteuer von 5 auf 6,5 Prozent angehoben, um den NRW-Haushalt zu entlasten. Die kleinen Krauter, die sich nur eine einzige mickrige Immobilie leisten können, werden mithin noch kostspieliger zur Kasse geschubst. Übrigens liegt das Land NRW, sonst in vielen Statistiken zu Bildung und Wohlstand jeweils am unteren Ende, mit dem künftigen Steuersatz neben Schleswig-Holstein bundesweit vorn. Wir haben die Kraft.

Bevor jemand argwöhnt: Nein, weder ich noch nähere Bekannte oder Verwandte sind von der deftigen Steuererhöhung persönlich betroffen. Es geht nur um so ein paar unwichtige Leute, für die jeder Hunderter zählt.




Die Ferres als Kanzlerin – Romanze geht vor

Wer lässt sich nur solche Romanzen einfallen? Blonde deutsche Bundeskanzlerin, Single und kinderlos, trifft beim Staatsbesuch erstmals den neuen französischen Präsidenten. Beide kommen einander „irgendwie bekannt“ vor.

Und siehe da: Sie hatten vor 25 Jahren – just in Berlin beim Mauerfall – eine heiße Nacht miteinander. Nur: Das Adresszettelchen, das ihr der damalige französische Student ins Handtäschchen steckte, das wurde vom Winde verweht. Ob die Liebe immer noch Bestand hat?

Ein wahres Spitzentreffen

Bei solchen Herzblatt-Angelegenheiten treten auch Polit-Petitessen wie das deutsch-französische Energieabkommen erst einmal flugs in den Hintergrund. „Die Staatsaffäre“ (SAT1) ist also durchaus wörtlich zu nehmen. Das Gipfeltreffen wird sozusagen zum Spitzentreffen, wobei man dann feixend an Spitzenhöschen denken darf.

Dabei wollte die edelmütig, aber auch machtbewusst denkende Kanzlerin Anna Bremer (Veronica Ferres) doch richtig ernsthaft Politik machen und sich auf keine Glamour-Geschichten einlassen. Doch ach! Als der französische Staatspräsident mit dem ähnlich trivialen Namen Guy Dupont (Philippe Caroit) mit einem Model als Begleitung aufkreuzt und der Kanzlerin zunächst die Schau stiehlt, zählen andere Qualitäten. Fortan menschelt und knistert es – gelegentlich bis zur Peinlichkeitsgrenze.

Nackter Präsident

Da gibt’s neckische Szenen noch und noch. Monsieur le Président versteckt sich nahezu nackt im Hotelzimmer der Kanzlerin, in das er sich als Kellner geschlichen hat. Zwei Begleiterinnen des italienischen Regierungschefs (Versuch einer Berlusconi-Parodie) kratzen einander eifersüchtig die Augen aus – vor laufenden Fernsehkameras und zum Quietschvergnügen der penetranten TV-Reporterin namens Gretchen Hammerstein.

Ja, wenn sich Klein-Mäxchen die große Politik ausmalt, dann kommt womöglich so etwas dabei heraus. Mit Angela Merkel und sonstigen Realitäten hatte das jedenfalls herzlich wenig zu tun. Veronica Ferres sagt indessen, sie habe Merkels Haltungen genau studiert. Wahrscheinlich glaubt sie auch, die Hauptrolle in einem politischen Film gespielt zu haben.

Ein bisschen Jux ist auch dabei

Es ist – zumal in den Nebenrollen – auch ein bisschen Jux im Spiel. Da wird ein wenig mit Klischees über Deutsche und Franzosen gescherzt, auch gibt’s den einen oder anderen Ulk über Macho-Attitüden. Stellenweise komisch die deutsche Parteikonkurrenz, die jede Schwäche der Kanzlerin nutzen will und ihr erpresserisch nachspioniert. Doch am Schluss werden alle Gegensätze überwunden.

Die wahre Macht, so muss man anfangs denken, liegt in den Händen der Berater. Der Filou Bernhard (Martin Brambach) sucht der Kanzlerin so manches einzuflüstern – allerdings vergebens. Doch der Darsteller ist stärker als Veronica Ferres, die die Kanzlerin zuweilen wie nach dem Musterbogen einer Zeitschrift für starke Frauen mit Gefühl verkörpert. Vielleicht trotzdem kein Zufall, dass in den Werbepausen viel von Lockenpracht und Haarpflege die Rede war.




ARD: Alle talken nur noch über Islamismus

Was ist nur in die ARD gefahren? Nach der Sommerpause talken sie dort jetzt alle über Themen rund um den Islamischen Staat (wahlweise IS oder ISIS). Gibt es denn da keine Koordination, keinerlei Absprachen?

Am Montag sprach Frank Plasberg mit seinen Gästen über Waffenlieferungen ins Krisengebiet. Am späten Dienstagababend ging’s in „Menschen bei Maischberger“ ums kernig formulierte Thema: „Angst vor Gotteskriegern: Bedroht dieser Islam auch uns?“ Und schon am morgigen Donnerstag lädt Reinhold Beckmann zur nächsten einschlägigen Gesprächsrunde. Titel: „IS-Terror: Wer sind die islamistischen Fanatiker?“

Etwas mehr Vielfalt, bitte!

Gewiss, die Gästelisten sind nicht identisch, wenn auch teilweise artverwandt. Seltsam jedoch, dass gleich drei Talkmaster in derselben ARD-Programmwoche dasselbe Themenfeld beackern. Ein bisschen mehr Vielfalt dürfte es schon sein! Nur gut, dass Günther Jauch und Anne Will noch in Urlaub weilen, sonst hätten sie sich vielleicht auch noch auf Dschihad und Islamismus konzentriert.

Hatte ihre SEndung zeitweise nicht mehr im Griff: Sandra Maischberger. (Foto: WDR/Peter Rigaud)

Hatte ihre Sendung zeitweise nicht mehr im Griff: Sandra Maischberger. (Foto: WDR/Peter Rigaud)

Ganz ehrlich: Mag das Thema auch noch so dringlich sein, mehrere längliche Sendungen so kurz hintereinander möchte ich mir dazu nicht antun. Darum habe ich es vorerst beim Maischberger-Talk belassen.

Kleinlaute Alice Schwarzer

Um es gleich vorweg zu sagen: Die Sendung war von Anfang an verkorkst. Nach Monaten tauchte erstmals wieder Alice Schwarzer (die seit vielen Jahren vor dem Islamismus warnt) in einer Talkshow auf. Sandra Maischberger befragte sie erst einmal zu ihrer Selbstanzeige in Sachen Steuerhinterziehung. So kleinlaut und zerknirscht hat sich Frau Schwarzer bisher noch selten gegeben. Vielleicht wirkt es ja strafmildernd…

Anschließend war eine scharfe Themen-Kehrtwende zum Islamismus nötig. Danach redeten zeitweise alle Beteiligten wild durcheinander.

Selbstzufriedener Funktionär

Ziemlich unangenehm tat sich Aiman Mazyek (Vorsitzender des Zentralrats der Muslime) hervor, ein selbstzufriedener Funktionärstyp, der immer schon vor dem Terror gewarnt haben will und darauf pocht, dass das alles überhaupt nichts mit Religion zu tun habe. Doch seine Distanzierungen vom Terror klingen stets etwas verwaschen. Und wenn Mazyek den Dschihad (Heiliger Krieg) mal wieder lediglich als Kampf gegen den inneren Schweinehund definiert, weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll.

Die Gegenposition nahm der Journalist Oliver Jeges ein, nach dessen Auffassung die Terrormilizen des „Islamischen Staats“ sehr wohl aus dem Koran schöpfen, den sie allerdings politisch missbrauchen.

Lautstarkes Durcheinander

Die weiteren Gesprächsteilnehmer, darunter der „Spiegel“-Korrespondent Christoph Reuter (der bisher nicht gekannte Gefahren heraufziehen sieht, wenn Isis-Kämpfer nach Deutschland zurückkehren), suchten sich gleichfalls Gehör zu verschaffen, was manchmal ziemlich schwer war. Übrigens hatte Frau Schwarzer substanziell recht wenig beizutragen. Dass sie 1979 im Iran war, hilft heute nicht mehr weiter.

Jedenfalls ging es zwischen den Fronten lautstark hin und her, so dass Sandra Maischberger streckenweise die Übersicht und die Oberherrschaft verlor. Welch eine konfuse Sendung.

Die einzigen stilleren Minuten gebührten einer Berliner Mutter, die ihren Sohn an den Islamismus verloren hat. Der vormals unauffällige, „ganz normale deutsche Junge“ hatte sich binnen zwei Jahren völlig radikalisiert und wurde in Pakistan erschossen.




„Göttliche Lage“ – eindrucksvoller Dokumentarfilm über Dortmunds Phoenix-See

Phoenix-See

Phoenix-See 2012

„Eine göttliche Lage“, so beschreibt einer der Menschen sein frisch erworbenes Grundstück am Dortmunder Phoenix-See. Das ist schon etwas her. Ob er das heute noch so sieht, bleibt offen. Es ist eine von vielen sorgfältig ausgesuchten Szenen und Bilder, die den Dokumentarfilm „Göttliche Lage – eine Stadt erfindet sich neu“ ausmachen, der nun nach fünfjähriger Herstellungszeit Premiere hatte.

Die Macher des Films, Ulrike Franke und Michael Loeken (Filmproduktion Loekenfranke), waren bereits mit ihrem Film vom Abbau eines Hochofens erfolgreich. Der Film über die chinesische Übernahme, den Abbau der Anlage („Losers and Winners – Arbeit gehört zum Leben“, aus dem Jahre 2006) wurde weltweit mit zahlreichen Preisen versehen und ist ebenso wie dieses Werk ein Beispiel. Die Filme bleiben nicht am Lokalen oder Regionalen hängen. Beide sind Gesellschaftsbilder, die exemplarisch sind für Veränderungen und Einschnitte in das Leben der Menschen, private ebenso wie berufliche. Beide zeigen Beispiele aus Dortmund, ein Ort, der sich stets bemüht, seine Innovationskraft herauszustellen und Neues der Vermarktung anzupreisen.

Der Phoenix-See in Dortmund-Hörde ist ein großer Eingriffe ins Stadtbild, hat einen Ort verwandelt, vom lauten und schmutzigen Stahlwerk „befreit“, hin zum stillen See, an dessen Ufern sich Investoren versammeln, die den Seeblick anpreisen, als sei es die Toskana, verlegt an den Gardasee.

Hier wird nicht mehr gearbeitet, am See wird jetzt gewandelt. Das Umfeld des Stadtteils, der sich als eigene Einheit sieht, passt da nicht recht ins Bild. Der Film zeigt sie und lässt sie zu Wort kommen, die Anwohner, wie auch in „Losers  and Winners“, ohne Kommentare der Macher. Man hat hier einen Glücksgriff getan. Die beiden älteren Herren, die – auf das Gebiet, später den See, schauend – ihre Kommentare abgeben wie zwei gelassene Chronisten am Rande des Spielfeldes des kleinen Lokalvereins. Sie sind ein roter Faden und sorgen ebenso für Erheiterung wie die Ausschnitte von Sitzungen der Phoenix-Gesellschaft, wie Gespräche über das architektonische Ambiente oder ein Einsatz von Larry Hagman (J.R.), der souverän, wahrscheinlich nicht genau wissend, wo er sich befindet, den See offiziell eröffnet. Sicher hat ihn eine Agentur irgendwo aus Deutschland einfliegen lassen. Das passt wunderbar in das Unternehmen – weil es eben nicht wirklich passt.

Wir schließen andere Figuren ins Herz wie die Budenbetreiberin aus Serbien, die lange aushält, bevor an ihrem Kiosk nichts mehr geht, wie den Streifenpolizisten, der die abgewrackten Häuser der Nachbarschaft abgeht und die Bewohner kennt. „Das ist doch ein Schauspieler“, höre ich mich denken. Aber nein, so sind die Menschen hier und haben so gar nichts gemein mit den gewünschten Mies-van-Der-Rohe-Villen am Ufer. Da sind die beiden Männer, die am Hügel ihre Wohnungen und Gelände aufhübschen wollen und eine Spalte in der neuen Bebauung als Ausblick aufs Wasser nutzen. Man erlebt viele kleinere Ansichten, die uns Veränderung vor Augen führen. Gleichzeitig ist aber dieser Film keine Anklage an „die da oben“. Es ist die Haltung der Macher, die ihn trägt.

Phoenix-See 2010

Phoenix-See 2010

Nach den gigantischen Bauarbeiten auf dem von der Industrie verlassenen Areal, die in wunderbaren Sequenzen Bagger und anderes Gerät wie in einem Science-Fiction-Film zeigen, die scheinbar als eigene Wesen ihre Arbeit verrichten, wird die Entwicklung zum jetzigen See eindrucksvoll dokumentiert. Das Wachsen der Landschaft, die künstlich zu einem Erholungsgebiet mutiert – wie viele sagen: ein Meisterwerk der Ingenieurstechnik.

Und am Ende sind es die Kleinigkeiten, die die Absurdität der Unternehmung deutlich machen: Das Problem „Kanadagänse“, die Europa zuscheißen und auch den See in Hörde als ihre Heimat entdecken, Neuanwohner, die sich über Lärm von Jugendlichen beschweren, neuerdings der Schilderwald mit Verbotslisten, die wunderbar auf das „wirkliche Leben“ hinweisen.

Das Dortmunder Kino „Sweet Sixteen“ war bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Publikum beteiligte sich engagiert und zahlreich an der Diskussion mit den beiden Filmemachern, Betroffene wie Beobachter. Auch dieser Film wird Preise gewinnen!




Lars Vilks „Nimis“: Kunstwerk aus Treibholz reizt seit Jahrzehnten die Staatsmacht

Wer kann schon von sich erzählen, dass er während einer Reise durch den Norden Europas in vier Ländern und vier Hauptstädten gewesen sei, er sich aber nur in zwei staatlichen, vollorganisierten Gebilden aufgehalten habe. Ja, das geht!

Man reist durch Schweden, besucht Stockholm, durchfährt Schonen und trifft am Kullaberg auf Ladonien und Nimis, dehnt die Fahrt auf Dänemark und Kopenhagen aus und streift dort durch ein Lebensquartier mit Namen „Christiania“ mit der Hauptstadt gleichen Namens.

Schweden und Dänemark sind ja den meisten durchaus ein Begriff, „Christiania“ ist jedem ein solcher, der Hippies, Hanf und Hausbesetzer noch in die ihnen zugeordneten Schubladen einsortieren kann. Ladonien hingegen kennen nur Kenner – und seit einer ausgedehnten Fahrt durchs schwedische Schonen auch ich. 1980 begann dort im Naturschutzgebiet Kullaberg in einer vom Festland aus schwer zugänglichen (oh ja) Bucht der Künstler Lars Vilks Treibholz zu sammeln und es mit unzähligen Nägeln zu einer bekletterbaren Monsterskulptur zu zimmern.

Sehr zur ungnädigen Wahrnehmung der örtlichen Behörden, die in dem artifiziellen Hammerschlag-Puzzle ein Gebäude witterten, was in einem naturgeschützten Gelände nicht sein darf. Das dem Gotte Thor vorbehaltene Schlaginstrument senkte sich also büokratischerseits über Lars Vilk, dem nun das zuteil wurde, was er vermutlich billigend in Kauf nahm: eine allerseits wachsende Aufmerksamkeit.

Behördlich wurden nun salvenweise Abrissverfügungen auf den Freiluftildhämmerer abgefeuert, die er mit wachsendem Fleiß und ständig neuen Ausbauten seiner Kunst, der inzwischen der Name „Nimis“ gegeben worden war, was aus dem Lateinischen hergeleitet wird und so viel wie „zu viel“ bedeutet.

Zwischenzeitlich, als Lars Vilks Fleißarbeit 15 Tonnen wog, hatte ein behördentreuer Stifter einen Brand gelegt, der große Teile von „Nimis“ einäscherte, was Lars Vilks Eifer aber zusätzlich befeuerte und ihn antrieb, beim Wiederaufbau die ursprüngliche Tonnage noch zu übertreffen. Um es vor dem unmittelbar bevorstehenden amtlichen Zugriff zu schützen, verkaufte er „Nimis“ an seinen Freund Joseph Beuys und nach dessen Tod an die Weltverhüller Christo und Jeanne Claude.

1996 trieb Lars Vilk den Kampf gegen Schonen und Schweden auf die Spitze, rief den Microstaat Ladonien aus, abgeleitet von Ladon (griechisch), einem mythologischen Drachen. Zuvor hatte er mit der Arbeit an „Arx“ (Festung) begonnen, einer wuchtigen Steinskulptur, zu der sich 1999 der 1,61 Meter hohe „Omphalos“ gesellen sollte.

Nun mussten sich Polizei und Ämter nicht nur mit „Nimis“ herum plagen, sondern auch noch „Arx“ (Das ist ein weiteres, nennenswertes Kunstwerk in der Nähe von Nimis in Form einer Skulptur aus mit Beton zusammengehaltenen Steinen, die ein abstraktes Buch verkörpern. Es wiegt 150 Tonnen, hat 352 Seiten und wurde sogar 1993 im schwedischen Verlag Nya Doxa veröffentlicht. Arx bildet den zweiten Teil der Verfassung Ladoniens.) und „Omphalos“ gesetzlich zu bekämpfen. Lars Vilk wurde schließlich verdonnert, „Omphalos“ in geeigneter Weise zu beseitigen, die beiden anderen Kunstwerke blieben allerdings verschont, bei denen hatte der Staat aufgegeben.

Zum 100. Geburtstag des Friedensnobelpreises am 10. Dezember 2001, so schlug Lars Vilk in der Folge vor, könne er ja „Omphalos“ in die naturgeschützte Luft der Skagerag-Küste jagen (natürlich mit Nobel’schem Dynamit), was amtlicherseits wenig Beifall fand. Dafür wurde ein Beschluss gefasst, der strengstens geheim gehalten wurde – und „Omphalos“ von staatssicherheitlichen Einheiten am 9. Dezember 2001 entfernt. Dabei nahm die Skulptur, die inzwischen an den Künstler Ernst Billgren verkauft war, Schaden, was den neuen Besitzer gehörig empörte. Er schenkte die vernarbte Kunst aber postwendend dem Moderna Museet, wo sie noch heute ausgestellt wird.

Der listige Lars Vilk ersuchte nun um die Erlaubnis, dem verlorenen Kunstwerk ein Denkmal setzen zu dürfen, die er auch erhielt, nur dürfe dieses Denkmal nicht höher als 8 Zentimeter groß sein. Das Kunstwerk-Denkmal wurde am 27. Februar 2002 seiner Bestimmung feierlich übergeben. Und der ungleiche Kampf endete mit der stöhnenden Aufgabe von Seiten der staatlichen Gewalt.

Ladonien existiert nach wie vor. Es fand seine Hauptstadt in „Wotan“, einem separat stehenden Turm des Gesamtkunstwerkes. 15.000 Einwohner ergab der jüngste Micozensus, allesamt Nomaden und nicht in Ladonien sesshaft. Die Landesflagge ist gekennzeichnet durch ein grünes Kreuz auf grünem Grund (für Grün-Fehlsichtige wird bisweilen auch das Kreuz mit zarten Weißstrichen in lybische Grün gemalt. Für 12 US-Dollar kann man sich einen Adelstitel beschaffen, Ministerien gibt es auch, Steuern werden in Form von Kreativität erhoben.

Ich könnte ja jetzt angeben und sagen: „Muss man gesehen haben!“ Hab‘ ich aber nicht, jedenfalls nicht mit eigenen Augen. Yannic, jung und enorm behende, kraxelte für mich durch „Nimis“, bestaunte den ungewöhnlichen Mut schwedischer Eltern, die es zuließen, dass geschätzte 12-Jährige Türme erklommen, die nicht einmal er bezwang und schwärmte noch lange von dem Kunstwerk, das über Jahrzehnte Heerscharen von Amtsgewaltigen beschäftigte.




Christian Wulff als Talk-Gast: Einblicke ins Räderwerk zwischen Politik und Presse

Im Februar 2012 ist Christian Wulff von seinem Amt als Bundespräsident zurückgetreten. Jetzt begab er sich erstmals wieder in eine TV-Talkshow: Maybrit Illner (ZDF) hatte also eine kleine Sensation zu bieten, für die sie auch ihre Sommerpause verschob und die Sendezeit überzog.

Man bekam immerhin ein paar kleine Einblicke ins ratternde Räderwerk zwischen Politik, Presse und Justiz.

Feldzug gegen Kampagne

Wulff, inzwischen gerichtlich von allen Vorwürfen der Vorteilsnahme und Korruption freigesprochen, zieht seit einigen Wochen mit einem Buch („Ganz oben, ganz unten“) gegen die Pressekampagne zu Felde, die ihn damals in den Rücktritt getrieben habe. Es scheint so, als sei auf allen Seiten Selbstgerechtigkeit im Spiele.

Lag’s daran, dass er als Präsident gesagt hat „Der Islam gehört zu Deutschland“? War das eine Provokation? Jedenfalls schien er alsbald für weite Teile der Medien „zum Abschuss freigegeben“ und es war, als wollten manche Journalisten einmal zeigen, dass sie auch ein Statsoberhaupt aus dem Amt schreiben können. Ihre Recherchen reichten zuweilen bis tief in die Privatsphäre und unter die Gürtellinie. Jeder minimale Vorwurf war willkommen – und auch die Staatsanwaltschaft bekleckerte sich im Ermittlungsverfahren nicht gerade mit Ruhm.

Fehler auf allen Seiten

Presse und Justiz müssen sich also einige selbstkritische Fragen stellen. Doch auch Christian Wulff hat etliche Fehler gemacht. Er war, wie sich bei Maybrit Illner abermals zeigte, zu naiv und zu wenig souverän. Er offenbarte, als es auf offensive Ehrlichkeit angekommen wäre, die Wahrheit nur verdruckst in Salamitaktik und sagt noch jetzt, er sei ja seinerzeit nach bestimmten Dingen gar nicht gefragt worden…

Wie überempfindlich der Mann geworden ist, wurde auch im Umgang mit der Talkmasterin Illner klar, der er vorhielt, sie werfe alles durcheinander. Freilich stichelte Frau Illner hin und wieder auch ein wenig. Und die Rolle des Fernsehens kam bei aller Presseschelte so gut wie gar nicht zur Sprache. Warum eigentlich nicht?

Naiv und wenig souverän

Recht behutsam, differenziert und sachlich gingen hingegen die weiteren Talkgäste, Ex-Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) und Heribert Prantl (Chefredaktion Süddeutsche Zeitung), mit dem Fall Wulff um. Sie machten deutlich, dass in dieser Sache die eine oder andere Grenze überschritten worden ist.

Doch so mancher andere, der damals mit den Wölfen geheult hat, ruft heute auch nach Bedachtsamkeit. Also ist mitunter Heuchelei nicht fern.

Geradezu tragisch oder auch tragikomisch ist das Verhältnis Christian Wulffs zur „Bild“-Zeitung und deren Chefredakteur Kai Diekmann. Wulff hat offenbar geglaubt, mit dem Boulevard-Blatt einen Pakt auf gegenseitige Freundlichkeit schließen zu können. Welch ein Irrtum! Spät, doch entschieden und mit dubiosen Mitteln wendete sich die Zeitung mit den großen Buchstaben gegen Wulff. Da auch Spiegel und FAZ ihm nicht wohlgesonnen waren, hatte er den Kampf um die öffentliche Meinung schon früh verloren.

Da fragt man sich schon, ob Gewaltenteilung und Kräftebalance in unserem Gemeinwesen wirklich funktionieren.

P.S.: Seinen irritierenden Ausspruch, er wäre heute noch der Richtige fürs Bundespräsidentenamt, hat Christian Wulff in der Talkshow zurückgezogen: „Das hätte ich nicht sagen sollen.“




TV-Nostalgie (22): „Ein Herz und eine Seele“ – als „Ekel Alfred“ gegen die Sozis wetterte

Was für ein Kotzbrocken! Alle Welt kannte den Mann als „Ekel Alfred“. Den Beinamen hatte er sich wahrlich verdient.

Mit seiner Familie im Ruhrgebiets-Reihenhaus war dieser Alfred Tetzlaff keineswegs „Ein Herz und eine Seele“, wie der Serientitel ironisch verhieß. Nein, mit diesem monströsen Oberspießer konnte keiner in Frieden leben. Zu sagen, dass der Haussegen ständig schief hing, wäre eine Untertreibung.

Engstirniges Weltbild

Ab Anfang 1973 wetterte Alfred (großartig gespielt von Heinz Schubert) gegen alles, was nicht in sein engstirniges Weltbild passte und nach „Sozis“ oder gar Kommunismus roch. Jede Veränderung im Lande war ihm verdächtig. Mal ehrlich: Gibt es solche kleinen Alfreds nicht auch heute? Ja, sie gerieren sich zum Teil noch hemmungsloser: „Man wird doch noch mal sagen dürfen, dass…“

Warnt mal wieder vor den "Sozis": Alfred Tetzlaff (Heinz Schubert). (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=sOGTZ-iQpT0)

Warnt mal wieder vor den „Sozis“: Alfred Tetzlaff (Heinz Schubert). (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=sOGTZ-iQpT0)

Zu Alfreds Zeiten befand man sich noch im „Kalten Krieg“ zwischen Ost und West, zu Beginn der Reihe regierte Kanzler Willy Brandt (SPD), ab 1974 war Helmut Schmidt (SPD) an der Reihe. Der war ja immerhin Offizier gewesen, wie Ekel Alfred brummelnd anerkannte. Doch egal. Für ihn war auch Schmidt nun vor allem ein übler „Sozi“, der Deutschland ins Verderben führte.

Ehefrau als „dusselige Kuh“

Dieser Tetzlaff posaunte immer aus, wie sehr er auf Sitte und Anstand, Pflicht und Ordnung halte. Doch dann zeigte sich stets ziemlich schnell, dass er selbst polternd gegen alle möglichen Regeln verstieß, wenn es ihm in den Kram passte.

Allein schon sein Vorrat an Kraftworten war so reichlich und derb, wie es damals im Fernsehen noch nicht üblich war. Und wie ruppig dieser Wicht seine Frau Else (Elisabeth Wiedemann) behandelt hat! Man konnte kaum mitzählen, wie oft er das unbedarfte Hausmütterchen „dusselige Kuh“ genannt oder anderweitig beleidigt hat. Doch an ihr schien alles abzuperlen, so illusionslos war sie nach fast 25 Jahren Ehe mit diesem Giftzwerg.

Köstliche Streit-Dialoge

Weitere Haushaltsmitglieder waren Tochter Rita (Hildegard Krekel) und Schwiegersohn Michael (Diether Krebs), der Alfred Tetzlaff mit seinen linksliberalen Ansichten bis aufs Blut reizte. Der traumhaft pointensichere Autor Wolfgang Menge hat den beiden köstliche Streit-Dialoge geschrieben.

Gespielt wurde das alles vor Live-Publikum, wie im Theater. Diese Aufführungen wurden jeweils am Tag der Sendung aufgezeichnet, so dass man immer aktuell sein konnte. So beispielsweise in der noch heute zum Quieken komischen Folge „Besuch aus der Ostzone“ vom 17. Juni 1974: Michaels Eltern, die in Sachsen lebten, hatten sich als Gäste angesagt – sehr zum Verdruss Alfreds und noch dazu vor dem (seinerzeit wirklich anstehenden) Fußball-WM-Duell „zwischen Deutschland und der Zone“. Da konnte Alfred mal wieder so richtig vom Leder ziehen…

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), „Columbo“ (21)

„Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.“ (Elias Canetti)




Ruhrtriennale: Duisburg sagt Gregor Schneiders Installation „Totlast“ ab

Duisburg fürchtet sich. Nicht ganz Duisburg, doch zumindest der Oberbürgermeister: Sören Link hat entschieden, das Projekt „Totlast“ des Künstlers Gregor Schneider in Duisburg nicht realisieren zu lassen. Die begehbare Rauminstallation war als Projekt der Ruhrtriennale für das Lehmbruck Museum vorgesehen.

Für Duisburg nicht geeignet? "Liebeslaube" aus Schneiders Arbeit "Totes Haus u r". Copyright: Gregor Schneider/VG Bild-Kunst Bonn

Für Duisburg nicht geeignet? „Liebeslaube“ aus Schneiders Arbeit „Totes Haus u r“. Copyright: Gregor Schneider/VG Bild-Kunst Bonn

Link hat den Intendanten der Ruhrtriennale, Heiner Goebbels, am 7. Juli telefonisch von seiner Entscheidung unterrichtet. Begründung: Duisburg sei – vor dem Hintergrund der Geschehnisse bei der „Loveparade“ 2010 – „noch nicht reif für ein Kunstwerk, dem Verwirrungs- und Paniksituationen immanent sind, welches mit dem Moment der Orientierungslosigkeit spielt“.

Er habe sich die Entscheidung „nicht leicht gemacht und sehr schlecht geschlafen“, bevor er abgesagt habe, ließ der Duisburger Oberbürgermeister in einer Pressemeldung verbreiten. Doch die Wunden der „Loveparade“ seien noch nicht geschlossen und die juristische Aufarbeitung stehe erst am Anfang. „Mir ist völlig klar, dass bei dieser Thematik andere Bewertungen möglich sind. Letztendlich habe ich meine Entscheidung jedoch auf Basis meiner persönlichen Erfahrungen mit dem Thema Loveparade getroffen und werde diese auch so vertreten“, heißt es in der Erklärung von Sören Link.

Entschiedene Kritik meldeten die Ruhrtriennale und der Künstler an. Eine Sprecherin des Lehmbruck Museums wollte sich nicht äußern, sondern verwies auf das Referat für Kommunikation und Bürgerdialog der Stadt Duisburg.

Vor der Ablehnung durch den Oberbürgermeister hatten die Stadt und die Veranstalter im Rahmen des Genehmigungsverfahrens konstruktiv zusammengearbeitet, meldete die Ruhrtriennale. Das bestätigt die Stadt: „Im Rahmen des Genehmigungsprozesses kam es zu einer konstruktiven und deutlichen Annäherung an die Anforderungen der Bauordnung“, heißt es in der Pressemeldung.

Link betont, er habe unabhängig von der baurechtlichen Bewertung entschieden. Die Ruhrtriennale prüft jetzt, ob eine andere Arbeit Schneiders kurzfristig in einer anderen Stadt realisiert werden könne. Bereits gekaufte Eintrittskarten für „Totlast“ bleiben für ein eventuelles Alternativprojekt gültig oder können zurückgegeben werden. Das Erstattungsformular steht zum Download bereit.

Gregor Schneider. Foto: Linda Nylind/Ruhrtriennale

Gregor Schneider. Foto: Linda Nylind/Ruhrtriennale

Der in Rheydt lebende Gregor Schneider wurde er international durch sein „Totes Haus u r“ bekannt, das auf der Biennale Venedig 2001 den „Goldenen Löwen“ gewann. Noch mehr mediales Echo bereitete Schneider, den der „Spiegel“ als einen „der manischsten und gleichzeitig verschlossensten Künstler der Gegenwart“ bezeichnete, sein Plan, zur Biennale 2005 einen schwarzen Kubus von der Größe der Kaaba in Mekka auf der Piazza San Marco aufzustellen. Der Plan war Biennale-Kurator Davide Croff zu politisch. Schneider, 1969 geboren, ist seit 2012 Professor für Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in München.

Der Titel der geplanten und jetzt verhinderten Rauminstallation bezieht sich auf einen Fachbegriff: „Totlast“ bezeichnet das Eigengewicht von Gegenständen, die Lasten transportieren. Gregor Schneider spielt mit seinem Titel auf einen riesigen Baukörper an, den NS-Architekt Albert Speer aus Beton gießen ließ, um zu prüfen, wie tief seine Monumentalbauten im märkischen Sand absacken würden. Noch heute findet man den undurchdringlichen Monolith in Berlin-Tempelhof.

Schneider baut seine Räume so, dass der Besucher nicht bemerkt, sich in einer Art begehbaren Skulptur zu befinden. Sie lassen sich nicht überblicken, verändern sich teilweise allmählich, wirken gerade wegen ihrer vermeintlichen Alltäglichkeit unheimlich. So lassen sie den Besucher an seiner Wahrnehmung und an seinen selbstverständlichen Begriffen von Raum und Welt zweifeln. Das hermetisch Geschlossene, das Unterirdische, das Verborgene spielen in Schneiders Arbeiten eine zentrale Rolle“, heißt es in einer Präsentation der Triennale.

Die eingangs skizzierten Argumente des Duisburger Oberbürgermeisters mögen subjektiv verständlich sein, sind aber weit hergeholt. Denn bei Schneiders begehbaren Installationen gibt es keinen unkontrollierten Massenandrang wie bei der „Loveparade“. Für „Totlast“ werden Eintrittskarten verkauft; der Besucherstrom wäre jederzeit zu überblicken gewesen. Bei einem eventuellen Anflug von Klaustrophobie oder Panik hätte ein Besucher keine anderen Menschen anstecken und jederzeit das Objekt durch Notausgänge verlassen können. Vergleichbar mit einer Situation, wie sie auf der Massenveranstaltung 2010 zur Katastrophe geführt hat, ist Schneiders Installation nicht. Insofern wackelt die Begründung für die Absage auf sehr dünnen Beinen daher.




Hillary Clinton bei Jauch: Seine Gier nach Sensationen blieb unerfüllt

Darauf ist Günther Jauch sicher mächtig stolz: Für seine letzte Talkshow vor der Sommerpause hatte er die vormalige US-Präsidentengattin und Außenministerin Hillary Clinton zu Gast, die derzeit für ihre Memoiren („Entscheidungen“) wirbt.

Günther Jauch (Foto: ARD/Marco Grob)

Günther Jauch (Foto: ARD/Marco Grob)

Frau Clinton mochte ihm allerdings auch auf hartnäckiges Nachfragen nicht verraten, ob sie sich selbst als Nachfolgerin Obamas ums Präsidentenamt bewerben wird. Dabei war er so begierig auf diese Neuigkeit: „Was hindert Sie, es hier und jetzt zu sagen…?“ Geschenkt. Jauch wird nicht im Ernst geglaubt haben, eine solche Weltnachricht exklusiv in seiner Sendung zu haben.

Die Frage nach Lewinsky

Auch sonst erfüllten sich seine fast schon schamlos unverhohlenen Hoffnungen auf Sensationen nicht. Er brachte es sogar fertig, Hillary Clinton abermals nach der lang zurückliegenden Sex-Affäre zwischen ihrem Mann Bill und der Praktikantin Monica Lewinsky zu fragen – mit der scheinheiligen Begründung, diese Angelegenheit könne in einem künftigen Wahlkampf noch einmal eine Rolle spielen. Zwei Damen, die ebenfalls zu Gast waren, pfiffen Jauch gemeinsam zurück: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und die frühere Bischöfin Margot Käßmann waren sich einig, dass Jauch dieses unselige Thema nicht mehr hätten ansprechen dürfen.

Kichern über Macho-Fotos

Das Talk-Thema hieß griffig „Frauen an die Macht“. In allen Fragen, die im weitesten Sinne „feministische“ Themen berührten, waren sich Hillary Clinton und die beiden Frauen aus Deutschland schnell einig. Auch glucksten sie zusammen geradezu ausgelassen über Macho-Fotos von Politikern wie Putin, Sarkozy und George W. Bush. Ursula von der Leyen konnte sich gar nicht mehr einkriegen…

Als es freilich um NSA-Spitzeleien ging, wurden zumindest graduelle Unterschiede sichtbar. Hillary Clinton, deren Äußerungen übrigens hin und wieder ziemlich holprig übersetzt wurden, sieht Edward Snowden in erster Linie tatsächlich als Verräter und Straftäter, der Dokumente gestohlen habe und sich vor einem US-Gericht verantworten solle. Vom Ausmaß der Bespitzelung durch den US-Geheimdienst NSA will Frau Clinton auch als Außenministerin nichts gewusst haben. Nun ja.

Flauschige Versöhnlichkeit

Die Gegensätze wurden allerdings ziemlich flauschig überdeckt, etwa in diesem Sinne: Man müsse konstruktiv zusammenarbeiten und an gemeinsamen Werten festhalten. Alles andere wäre allerdings auch ein Affront gewesen. Ursula von der Leyen hätte als Verteidigungsministerin vor den ARD-Kameras selbst beim besten Willen keinen Klartext reden können. Gewiss: Dann hätte sich Jauch die Hände reiben können. Doch politisch wäre es auf diesem Podium schlichtweg äußerst unklug gewesen. Bei anderer Gelegenheit muss man/frau dann allerdings deutlicher werden.




„SS-Siggi“ genießt den Medienrummel

Mit dem rechtsradikalen Angriff auf die Wahlparty im Rathaus hat Dortmund abermals traurige Bekanntheit erlangt. Die alarmierenden Vorgänge am 25. Mai haben natürlich breiten Widerstand ausgelöst.

Es ist allerdings eine Gratwanderung. Eine ungewollte Folge ist, dass der Gruppierung „Die Rechte“, die – ebenso wie die NPD – ein einziges Mandat im Dortmunder Rat hat, inzwischen eine bundesweite und internationale Beachtung über alle Maßen hinaus zuteil wird. Ich weiß: Anderer sind da anderer Meinung und würden am liebsten jeden Tag die Notsirenen aufheulen lassen. Bloßes Ignorieren geht ja nun auch wirklich nicht.

Der längst nicht mehr nur stadtbekannte Rechtsradikale Siegfried Borchardt (Spitzname „SS-Siggi“) und seine Hilfstruppen können jedenfalls in gewisser Weise zufrieden sein. Zitat aus den heutigen Ruhrnachrichten: „Das große Medieninteresse an ihm war Borchardt sichtlich ein Vergnügen. Bereitwillig kam er Interview-Wünschen nach.“

Gemeint war die gespenstische Szenerie rund um die gestrige Ratssitzung, die unter massivem Polizeischutz stattfand. Auch hatte die Stadt zusätzlich private Sicherheitsdienste mobilisiert. Beileibe nicht nur das Team der „heute“-Nachrichten (ZDF) war zur Stelle, um das Thema abends höchst prominent und bildwirksam zu platzieren. Auch eine Journalistin der „New York Times“ hatte sich zuvor eingefunden, um die USA über Dortmunder Umtriebe aufzuklären.

Die WAZ lässt es – aus welchen Beweggründen auch immer – auf ihrer Seite 3 heute stellenweise geradezu „menscheln“. Borchardt, der nun für „Die Rechte“ im Rat sitzt, kommt mit einer Einschätzung über die Anzahl seiner Wählerstimmen zu Wort und freut sich über die neue Publicity: „So viele Flugblätter kann ja keiner verteilen.“ Und weiter: „Ob er seinen Spitznamen mag, wird er gefragt. ‚Ich wäre lieber SA-Siggi.’“ So erfährt man brühwarm aus der Presse, was man niemals wissen wollte.




TV-Nostalgie (19): Werner Höfers „Frühschoppen“ – das Sonntagsritual

In den Anfangsjahren des "Frühschoppens" durften Frauen bei Werner Höfer (ganz links) nicht mitreden, sondern nur Wein nachschenken. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=5sFe66JSaO0)

In den Anfangsjahren des „Frühschoppens“ durften Frauen bei Werner Höfer (ganz links) nicht mitreden, sondern nur Wein nachschenken. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=5sFe66JSaO0)

Wenn man das heute sieht, hält man es nicht mehr für möglich: dass jemals in einer Live-Fernsehsendung dermaßen exzessiv geraucht und gesüffelt worden ist. Wir reden von einer Fernseh-Legende, von Werner Höfers Journalistenrunde „Der Internationale Frühschoppen“.

Über Jahrzehnte gehörte die Sendung mittags um 12 Uhr zum Sonntagsritual der Deutschen. Nach einem Hörfunk-Vorspiel (ab 6. Januar 1952) lief der „Frühschoppen“ im ARD-Fernsehen vom 30. August 1953 bis zum 20. Dezember 1987. Da hatte der Zirkel unglaubliche 1874 Mal getagt…

Eindeutig der Chef im Ring

Schon in der ersten Phase hatten sich viele Menschen an die teils heftigen Polit-Diskussionen gewöhnt, so dass es einen Proteststurm gab, als Werner Höfer es 1954 wagte, ein paar Wochen Urlaub zu nehmen und deshalb der „Frühschoppen“ ausfiel. Fortan unterbrach Höfer seine Ferien immer am Wochenende. Sich vertreten zu lassen, das kam für einen wie ihn nicht in Frage.

Höfer ging reichlich autoritär zu Werke, er war eindeutig Chef im Ring. Man hat nachgestoppt, dass er im Schnitt rund ein Drittel der gesamten Redezeit beim „Frühschoppen“ für sich beanspruchte. Den Mitstreitern fiel er oft ins Wort. Ein solch ungebrochen patriarchalischer Typus könnte heute im Fernsehen wohl nichts mehr werden. Apropos: Frauen durften bei Höfer lange nicht mitreden, sondern nur Wein nachschenken. Gerade deshalb klingen bei älteren Zuschauern noch die Namen derer nach, die später eine Bresche schlagen durften. Ich sage nur Julia Dingwort-Nusseck und Fides Krause-Brewer…

Rauchschwaden und Weingenuss

Meist waren es sechs Journalisten aus fünf Ländern, die sich – unter zunehmendem Weißwein-Einfluss – die Köpfe heiß redeten und dabei rauchten wie ein Tabakskabinett. Manchmal war die Luft im Studio zum Schneiden dick. Und manchmal wurde die eine oder andere Zunge schwer.

Es waren vor allem Themen des Kalten Krieges, die da glasigen Blicks besprochen wurden. Aber auch der Konflikt zwischen Israel und der arabischen Welt beschäftigte den Kreis immer wieder.

Urdeutsche Einrichtung

Um mal den deutschen Blickwinkel einzunehmen: Prominente Presseleute wie Rudolf Augstein („Spiegel“) oder Henri Nannen („Stern“) saßen häufig an Höfers Tisch, dazu Koryphäen wie Sebastian Haffner, Peter Scholl-Latour oder Gerd Ruge. Chefredakteure, die dorthin selten oder gar nicht eingeladen wurden, zweifelten an ihrer eigenen Bedeutung.

Zuweilen verschwanden die Teilnehmer im Rauch. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=5sFe66JSaO0)

Zuweilen verschwanden die Teilnehmer im Rauch. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=5sFe66JSaO0)

Das Sendeformat, an dem Höfer die Deutschland-Rechte besaß, war zwar aus den USA übernommen worden („Meet the Press“), erzielte aber nur in Deutschland derart hohe Zuschauerquoten. Wahrscheinlich ist der Stammtisch – auch mit wechselnder Besetzung – eben eine urdeutsche Einrichtung. Übrigens gilt der „Frühschoppen“ auch als erste Talkshow des deutschen Fernsehens.

Finstere Vergangenheit

Höfers bestimmende, zuweilen arg selbstgefällige Art hätte man womöglich weiterhin belächeln können, wenn es nicht einen sehr ernsten und betrüblichen Hintergrund gegeben hätte. 1987 berichtete der „Spiegel“ darüber, was der Journalist Werner Höfer mit seinen Beiträgen in der NS-Zeit angerichtet hatte. Unter anderem hatte Höfer 1943 offenbar die Hinrichtung des Pianisten Karlrobert Kreiten wegen „Wehrkraftzersetzung“ (Kreiten hatte den „Endsieg“ bezweifelt) gutgeheißen – ganz im Sinne des Nazi-Regimes.

Als nach dem „Spiegel“-Artikel Rücktrittsforderungen laut wurden, zeigte Höfer sich störrisch. Doch der Grimme-Preisträger, der fürs WDR-Fernsehen das renommierte Dritte Programm entworfen hatte, war schließlich nicht mehr zu halten.

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18)




Autor Christian Wulff: „Rücktritt war falsch. Ich wäre heute noch der Richtige im Amt“

Wulff.1074795.jpg.1074808Nun hat auch er es getan. Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff, dessen mediengewaltig ins schier Gigantische aufgeplusterte Verfehlungen sich am schrägen Ende auf ein paar Hundert Euro eindampften und in einen besonders strengen Freispruch von Korruption oder anderen strafwürdigen Schandtaten mündeten. Und nun hat er ein Buch herausgebracht.

Nun ist es ja gerade unter mäßig prominenten Politikern gang und gäbe, sich zur großen Zahl der Schwachbuchautoren zu gesellen, Sarrazin zum Beispiel. Daher kann dem mittelmäßigen Landespolitiker und später noch mittelmäßigerem Bundespräsiden kein schlimmer Vorwurf daraus gemacht werden, dass er solches auch tut. Er wird jetzt noch ein paar Euro fuffzig abgreifen und seine ohnehin zu üppige Leibrente noch auspolstern. Schön für ihn.

Was er aber bei seiner Buchpremiere in die Weltgeschichte posaunt und uns alle mit der theoretischen Aussicht erschreckt hat, ist seine vor den Medien zementierte Feststellung: „Der Rücktritt war falsch. Ich wäre heute noch der Richtige im Amt.“ Das raubt mir fast den Atem.

Richtig, er wurde von BILDhaften und weniger bildenden Medien „geschlachtet“; richtig, die Gattin, die er hatte, fiel zwar nicht vom Blatte, aber verließ ihn eilig, als er nur noch das war, was ihn schon zuvor auszeichnete: ein provinzieller Jurist. Und auch richtig, von dem Berg an Vorwürfen blieb kaum etwas übrig, was Nachberichterstattungen wert gewesen wäre. Aber auch richtig: Christian Wulff benahm sich während der gesamten Affärenzeit so schrecklich unsouverän, wurde von seinem provinziellen Medienberater so mies gesteuert, dass man weder ihm noch seinem Umfeld zutrauen konnte, einen würdigen Präsidenten nebst dazugehörigem Stab zu geben. Alles, was sich um den Herrn Wulff rankt, wirkt so was von hinterhöfig, dass mensch mundoffen vor dessen eklatantem Mangel an realistischer Selbsteinschätzung steht.

„GANZ OBEN GANZ UNTEN“ (Verlag C. H. Beck, 259 Seiten, 19,95 Euro) nannte er sein Frühwerk (oder verfrühtes?), versal unter Verzicht auf Satzzeichen. Soll wohl bedeutend wirken. Nun, rein verfassungsrechtlich stand er tatsächlich mal „ganz oben“ in der Hierarchie des Staates. Es gab nur einen Wimpernschlag während seiner ohnehin kurzen Amtszeit, als er etwas Kluges von sich gab: Der Islam gehöre zu Deutschland, stellte er fest. Ziemlich mutig und realitätsnah. Ansonsten beließ er es dabei, ein bisschen Würde zu produzieren und seine Gönnerin, die seine Person erst ins präsidiale Spiel brachte, nicht ernsthaft zu stören.

„Ganz unten“, war er das je? Jemand, der ernsthaft und von reichen Altersruhegeldern ungesegnet die unteren gesellschaftlichen Ränge besetzt, kann über solche Verortungen der Person Wulff nur staunen. Als „schamlos und entwürdigend“ bezeichnet er vieles, was während der Affäre (die rein gewichtsmäßig diesen Namen kaum verdiente) geschah, was veröffentlicht wurde und öffentlich gemacht wurde. Mit dieser Einschätzung liegt der Schreiber Wulff ganz richtig.

Bisweilen, so stellen Auszugsveröffentlichungen im „Spiegel“ es dar, blinzelt auch die eine oder andere Selbstkritik aus dem Werk. Das hätte er mal als Grundprinzip so halten sollen, dann wäre der Rest auch glaubwürdiger geworden, und vielleicht hätte er ernsthafteres Interesse verdient. Und nicht wieder genau das besonders von den Medien, die an seiner damaligen Zerkleinerung ganz vorn beteiligt waren.




Deckname „Garbo“: Der spanische Doppelagent, der das Nazi-Regime überlistete

Berufsziel Spion klingt schon ziemlich verwegen, aber noch kühner war es wohl, dass sich jemand vorgenommen hat, als Agent gegen das Nazi-Regime zu kämpfen. Es war der Spanier Joan Pujol García, der diesen Entschluss in Zeiten fasste, als die deutsche Wehrmacht Europa überrollte.

Dass Pujol einmal eine Schlüsselrolle in der sicherlich größten militärischen Landungsoperation spielen sollte, die die Welt je gesehen hat, war in den Januartagen 1941 nicht vorhersehbar. Der „D-Day“ (Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, also morgen vor 70 Jahren) lag noch in weiter Ferne, als der zu jener Zeit in Madrid lebende Pujol seine Frau losschickte, um in der britischen Botschaft nachzufragen, ob man einen Spion gebrauchen könne.

05dd02d048Als „naiven Plan“ bezeichnet Arne Molfenter das Ansinnen des gebürtigen Katalanen. Der Autor (Jahrgang 1971) legt eine Biografie des Mannes vor, der sich schließlich als gewiefter Doppelagent erweisen sollte. Unter den Namen Garboo trug der einstige Hühnerzüchter wesentlich dazu bei, dass die verantwortlichen Militärs des NS-Regimes bis hin zu Hitler vor allem darin getäuscht wurden, wo die Alliierten den Kanal überqueren würden. Selbst nach der Landung in der Normandie schaffte es Pujol, die Deutschen glauben zu machen, der eigentliche Angriff stehe noch bevor.

Das Buch des Journalisten Arne Molfenter, der heute für die Vereinten Nationen arbeitet, ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Molfenter erinnert an einen Mann, der in den Geschichtsbüchern bislang nur wenig Beachtung gefunden hat und erläutert auch die Ursachen. Zugleich erzählt er nach intensivem Quellenstudium die Lebensgeschichte auf äußerst spannende Art und Weise.

Pujols Agentenplan wäre vermutlich ein Intermezzo in seiner Vita geblieben, wenn er sich vom Flop mit der britischen Botschaft hätte abschrecken lassen. Er besaß jedoch einen eisernen Willen, mit dem er sich auch gegen eine Ehefrau durchzusetzen wusste, die offensichtlich mit dem Begriff „hysterisch“ noch sehr euphemistisch beschrieben ist.

Der Autor lässt den Leser teilhaben an der Entwicklung eines Mannes, der seine weiteren Schritte sehr wohl bedachte und erst einmal Kontakt mit der deutschen Abwehr aufnahm, um sich als Mitarbeiter anzudienen. Die Bindungen zwischen dem Deutschen Reich und Spanien waren nach dem Sieg Francos, an dem die deutsche Legion Condor maßgeblichen Anteil hatte, ohnehin sehr eng. Nun zeigten auch die Briten an Pujol aufgrund seiner Verbindungen zu den Deutschen großes Interesse – und alsbald wurde aus ihm ein Doppelagent.

Gegenüber der deutschen Abwehr gab sich Pujol als überzeugter Nazi, erschlich sich das Vertrauen seiner Verbindungsmänner, um an militärische Pläne zu gelangen, die er dann den Briten zuspielte. In Diensten der Engländer setzte er zahllose Funksprüche ab, um die Deutschen zu irritieren. Die wahren Absichten der Alliierten sollten ihnen verborgen bleiben. Dass die NS-Militärs dem Täuschungsmanöver aufsaßen, lässt sich nach Molfenters Ausführungen historisch nachweisen. 22 deutsche Divisionen warteten auch noch acht Wochen nach dem D-Day in der Nähe von Calais auf den vermeintlichen Hauptangriff der Alliierten.

Das Kalkül der Alliierten bestand darin, dass die Deutschen möglichst wenige Truppen am Landungsort des D-Day stationieren sollten, vor allem auch, um die Opferzahlen so gering wie möglich zu halten. Menschenleben zu retten war auch das erklärte Motiv von Pujol für sein Handeln. Als er aber 40 Jahre später erstmals den Boden der Normandie betrat und die Friedhöfe nahe der Landungsstelle Pointe du Hoc aufsuchte, wirkte er eher resigniert: „Aber ich habe nicht genug getan“.

Am Ende des Krieges wurde er zum Mitglied des Ordens vom britischen Empire gekürt, die Auszeichnung hat Pujol aber erst viel später erhalten. Denn der britische Geheimdienst hatte ihn zu seinem eigenen Schutz „sterben lassen“ und seinen Tod verkündet. Man befürchtete, die ehemalige deutsche Abwehr könnte immer noch konspirativ zusammenarbeiten und den Spanier ausfindig machen.

Erst in den 80er Jahren begann, wie Molfenter schreibt, ein konservativer britischer Abgeordneter im Auftrag der Regierung mit der Aufarbeitung der Rolle des Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg und erkannte auch die Bedeutung Pujols. Er machte ihn in Venezuela ausfindig, wo der einstige Doppelagent seinen Lebensabend verbrachte. Jetzt erst nahm er wieder Kontakt zur Familie auf, besuchte Europa und wurde für seinen Einsatz geehrt.

Die britische Premierministerin Margret Thatcher war es, die lange Zeit versucht hatte, Nachforschungen zu Pujol zu unterbinden, schreibt der Autor. Sie habe die Deutschen nicht verärgern wollen. Oder ging es ihr vor allem nur um einen Deutschen – einen Gleichgesinnten, den konservativen Kanzler Kohl?

Arne Molfenter: „Garbo, der Spion – Das Geheimnis des D-Day“. Piper-Verlag, 288 Seiten, 26 Abb. 19,99 Euro.




Als auch Westfalen unter Napoleon litt – historische Ausstellung auf Schloss Cappenberg

Was hat der Flachkomiker Mario Barth mit einer seriösen Ausstellung über Napoleons Zeit zu tun? Nun, seine Produktionsfirma hat einen Hartschaum-Nachbau der Quadriga vom Brandenburger Tor zur Verfügung gestellt, den Barth einst als Deko bei seinen Auftritten im Olympiastadion verwendete. Und wo ist jetzt der Zusammenhang?

Es mag nicht direkt der Wahrheitsfindung dienen, ist aber ein machtvoller „Hingucker“: Die größenhalber auf mehrere Raumzonen des Cappenberger Schlosses verteilte Quadriga (hier zwei Pferde, da zwei Pferde, dort der Streitwagen) steht für die Demütigung, die Frankreichs Kaiser Napoleon 1806 den Preußen antat, als er das vierspännige Fahrzeug vom Brandenburger Tor abmontieren und nach Paris bringen ließ, um dort ein europäisches Museum einzurichten.

Unvollendetes Bild ohne ausgeführtes Zepter: "Kaiser Napoleon Bonaparte im Krönungsornat" (Sebastian Weygandt zugeschrieben, 1807/13) (© Museumslandschaft Hessen, Kassel)

Unvollendetes Bild ohne ausgeführtes Zepter: „Kaiser Napoleon Bonaparte im Krönungsornat“ (Sebastian Weygandt zugeschrieben, 1807/13) (© Museumslandschaft Hessen, Kassel)

Die Cappenberger Ausstellung „Wider Napoleon“, die zuvor ähnlich in Lüdenscheid (Konzeption Eckhard Trox, Susanne Conzen) zu sehen war, signalisiert schon im Titel innige Abneigung und Gegnerschaft. Zwar brachten der Kaiser und seine Truppen damals fortschrittliche bürgerliche Gesetze in die eroberten Gebiete. Beispielsweise wurde die Leibeigenschaft per „Revolution von oben“ abgeschafft. Doch Napoleons rigides, stets auf eigenen Vorteil ausgerichtetes Regime erzeugte zunehmend Widerwillen und dann auch militärischen Widerstand – vor rund 200 Jahren gipfelnd in den „Befreiungskriegen“ (1813 bis 1815), die als eine Keimzelle des späteren Deutschland gelten; mit allen lang nachwirkenden, teilweise fatalen Folgen.

Hochinteressant an jener Zeit ist überhaupt das Widerspiel zwischen europäischen und (prä)nationalen Aspekten. An den Befreiungskriegen nahmen nicht wenige Soldaten teil, die zuvor noch auf Seiten Napoleons gekämpft hatten. Die Übergänge waren zuweilen flackernd und fließend.

"Kaiser Naopleon im Krönungsornat

„Kaiser Naopleon im Krönungsornat“, Gemälde von François Gérard, 1810 (© Napoleonmuseum Thurgau, Schweiz)

Drückende Steuern und Zölle sowie die Praxis, junge Männer aus eroberten Territorien gegen deren Willen als Soldaten für Napoleons Armeen zu rekrutieren, kennzeichneten eine immer schwerer lastende Herrschaft, die auch im auf Napoleons Geheiß gebildeten Großherzogtum Berg zu spüren war, das sich quasi als „Satellitenstaat“ Frankreichs in ein Rhein- und ein Ruhrdepartement (Letzteres mit Teilen des Sauer- und Münsterlandes) gliederte. Wer will, kann darin schon einen Vorläufer großer Teile Nordrhein-Westfalens erblicken. Immerhin trugen sich hier keine Schlachten der napoleonischen Ära zu.

Eine zentrale These des üppigen, mit wissenschaftlicher Akribie verfassten Katalogs (Zeittafeln und mehr Kartenmaterial hätten freilich nicht geschadet) lautet, dass die Geschichte des Ruhrdepartements bislang sträflich vernachlässigt worden sei und zahlreiche Zeugnisse noch der Auswertung harrten.

Der preußische Reformer Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom Stein, Miniaturporträt von Joseph Lützenkirchen (Foto: Norbert Reimann)

Der preußische Reformer Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom Stein, Miniaturporträt von Joseph Lützenkirchen (Foto: Norbert Reimann)

Und so hat man etliche Dokumente mit Regionalbezug versammelt, die vielleicht einen neuen Zweig der historischen Forschung inspirieren könnten. Beim Kreis Unna ist man erfreut, dass jede Stadt im Kreisgebiet einschlägige Exponate beigesteuert hat. Eine Besonderheit, wenn nicht gar eine kleine Sensation sind die erstmals öffentlich gezeigten Briefe eines Kamener Apothekers, der 1815 vom Schlachtfeld aus Waterloo Briefe an seine Mutter geschrieben hat. Hinzu kommt etwa das Tagebuch eines einfachen Bürgers aus Hamm.

Beim Rundgang stößt man auf einige klangvolle Namen von regionalgeschichtlicher Bedeutung, beispielsweise Gisbert von Romberg (Präfekt des Ruhrdepartements in dessen Hauptstadt Dortmund), Harkort oder Mallinckrodt – und vor allem auf den Freiherrn vom Stein.

Das sozusagen größte Ausstellungsstück ist das Cappenberger Schloss selbst, denn hier hatte der namhafte preußische Verwaltungsreformer Freiherr vom Stein seinen Alterssitz – von 1816 bis zu seinem Tod 1831. Die Ausstellung umfasst nun auch sein Sterbezimmer. Der Geist des Ortes…

Passte gerade mal eben durch die Tür und in die Raumhöhe: der Streitwagen der nachgebauten Quadriga. (Foto: Bernd Berke)

Passte gerade mal eben durch die Tür und in die Raumhöhe: der Streitwagen der nachgebauten Quadriga. (Foto: Bernd Berke)

Die Ideen und preußisch-antinapoleonisch motivierten Handlungen des Freiherrn vom Stein veranlassten Napoleon 1809 gar, einen Erschießungsbefehl gegen ihn zu verhängen. Doch der Gesuchte wusste sich den Nachstellungen zu entziehen.

Trotz redlicher Bemühungen, die Schau sinnvoll sinnlich zu inszenieren (versierte Gestaltung: Michael Wienand), ist es schier unmöglich, sämtliche Exponate unmittelbar „zum Sprechen“ zu bringen. Die Porträts historischer Akteure sind künstlerisch nicht erste Wahl und vermitteln als Auftragswerke auch nur damals offiziell erwünschte Teilansichten des Zeitgeistes. Die Ausstellungsmacher behelfen sich u. a. damit, dass man ergänzend einige Blätter aus Goyas berühmter Bilderserie von den Schrecken des Krieges zeigt. Sie handeln von den Gräueltaten napoleonischer Soldaten gegen spanische Aufständische. Auf andere, fast nüchterne und doch horrible Weise kündet ein zeitgenössisches Amputationsbesteck vom Grauen der Schlachten.

Mitglied der politischen Deutungselite: Pastor Bährens aus Schwerte, Ölbildnis eines unbekannten Künstlers, 1798 (© Ruhrtalmuseum Schwerte)

Mitglied der politischen Deutungselite: Pastor Bährens aus Schwerte, Ölbildnis eines unbekannten Künstlers, 1798 (© Ruhrtalmuseum Schwerte)

Allerlei weitere Relikte wie etwa Karikaturen, Schriftstücke, Drucksachen, Urkunden, Gedenktafeln oder Objekte wie die Orden des Freiherrn vom Stein sind zu bestaunen, man wird aber meist nicht gleich schlau daraus. Besucher werden also nicht umhin kommen, viel Zeit mitzubringen und sich hernach in den Katalog zu vertiefen, wenn sie wirklich etwas davon haben wollen. Vielfach bleibt man auf Spekulationen angewiesen. Dass etwa ein unvollendetes Napoleon-Bildnis von Sebastian Weygandt auf allmähliches Desinteresse am Dargestellten zurückzuführen sei, ist bloße Mutmaßung und schwerlich zu belegen.

Das Thema wird jedenfalls hie und da breiter aufgefächert: Ein Kapitel der von Georg Eggenstein kuratierten Ausstellung widmet sich der Rolle des Klerus, dem eine gewisse politische Deutungshoheit verliehen bzw. aufgezwungen wurde. Die Pfarrer waren gehalten, jeden Erfolg Napoleons religiös zu überhöhen und liturgisch zu begehen. Eine weitere Abteilung befasst sich mit den Frauenvereinen, die nach dem Motto „Gold gab ich für Eisen“ Schmuck für die Befreiungskriege spendeten.

"Der Wunsch der Berliner" (Napoleon möge eigenhändig die Quadriga nach Berlin zurückbringen), Karikatur von 1814 (© Stiftung Stadtmuseum Berlin)

„Der Wunsch der Berliner“ (Napoleon möge eigenhändig die Quadriga nach Berlin zurückbringen), Karikatur von 1814 (© Stiftung Stadtmuseum Berlin)

Die besagte Quadriga wurde übrigens 1814 wieder nach Berlin zurückgebracht. Der Triumphzug, mit dem der Sieg über Napoleon gefeiert wurde, führte auch entlang des Hellwegs durch Westfalen. Bezeichnend: Die Skulptur der einstigen Friedensgöttin wurde nunmehr zur Siegesgöttin umgemodelt. In Preußen und anderswo begannen restaurative Zeiten, in denen alte Abhängigkeits-Verhältnisse wiederhergestellt wurden.

„Wider Napoleon“. Schloss Cappenberg in Selm, Schlossberg. 29. Mai bis 21. September 2014. Di-So 10-17:30 Uhr. Eintritt Erwachsene 4 Euro, ermäßigt 3 Euro, Familie 8 Euro. Katalog 25 Euro.




Streit bei Plasberg: Wie rechts ist die AfD?

Nachbereitung oder auch Nachkarten zur Europawahl war heute überall angesagt. Frank Plasberg machte mit seiner ARD-Talkrunde „Hart aber fair“ keine Ausnahme. Der Themen-Anreißer hieß, marktschreierisch wie üblich: „Europas Wutbürger – Abschottung statt Toleranz?“

Während Günther Jauch am Sonntag zum ähnlichen Thema geradezu staatstragende Gäste aufbot (Wolfgang Schäuble für die CDU, Peer Steinbrück für die SPD), sorgte Plasbergs Gästeliste schon für etwas mehr Zuspitzung.

Wer die Ängste schürt…

Allein schon die Anwesenheit des Chefs der „Alternative für Deutschland“ (AfD), Bernd Lucke, polarisierte die Sendung. Die Fragestellung lautete also vorwiegend: Wie rechts ist diese AfD, die sich mit rund 7 Prozent der Stimmen bei der Europawahl bereits selbst als neue „Volkspartei“ mit Wählern in allen Schichten sieht?

"Hart aber fair": Moderator Frank Plasberg (Bild: © WDR/Klaus Görgen)

„Hart aber fair“: Moderator Frank Plasberg (Bild: © WDR/Klaus Görgen)

Da auch Claudia Roth (Grüne) und Michel Friedman (CDU-Mitglied) für kernige Worte gut sind, wurde streckenweise wild durcheinander geredet. Sie warfen Lucke vor, Ängste in der Bevölkerung zu schüren und damit nach Stimmen am rechten Rand zu fischen. Der gewohnt selbstbewusste bis selbstgefällige Moderator Frank Plasberg beschwichtigte hie und da, heizte aber auch schon mal nach, indem er beispielsweise an die Lebenswirklichkeit „in Duisburg neben dem Roma-Haus“ erinnerte…

„Halten Sie einfach mal die Klappe“

Bernd Lucke versuchte jeden Eindruck der Rechtslastigkeit wegzuwischen, Frau Roth hingegen meinte, Teile der AfD seien „völkisch angehaucht“. Die Verwandtschaft gewisser AfD-Wahlplakate zu Aussagen der NPD und der Gruppierung „Die Rechte“ war zumindest unverkennbar. Lucke wollte Haltung bewahren, doch einmal vergaß sich der Professor: „Herr Friedman, halten Sie einfach mal die Klappe…“ Oha! Kein besonders kultivierter Tonfall.

Während Lucke ansonsten die Genugtuung über das Wahlergebnis anzumerken war, machten sich andere Dikussionsteilnehmer Sorgen um Europa. Sogar das Gespenst vom politischen Zerfall des Kontinents stand im Raum, weil populistische Europagegner in anderen Ländern noch weitaus mehr Zustimmung fanden als bei uns die AfD. Denkt man an Frankreich in der Nacht, so ist man um den Schlaf gebracht.

Zerfällt Europa jetzt?

Nicht selten operieren die Gegner Europas – nach uraltem Muster – mit fremdenfeindlichen Vorurteilen. Die Kritik am Euro und an der wuchernden Brüsseler Bürokratie ist das Eine, eine Rückkehr zum Nationalismus das Andere. Tatsächlich kann man sich bang fragen, was aus dem freizügigen Europa werden soll, wenn seine Widersacher an so manche Schaltstellen gelangen und wenn sie den politischen Mainstream beeinflussen.

Der CSU-Altvordere Wilfried Scharnagl kam einem im Vergleich zu Lucke schon fast altersmilde und harmlos vor, seine Partei ist ja bei der Europawahl auch ziemlich gestutzt worden. Bedenkenswert jedenfalls die Anmerkung von Nikolaus Blome, Chef der Berliner „Spiegel“-Redaktion: Die vielleicht größte Gefahr seien die vielen Nichtwähler. Erst durch sie kämen die Extremisten aller Schattierungen zur Geltung.




„Mutti“ bei den Ruhrfestspielen: Die Große Koalition in Gruppentherapie

Nadja Robiné (Angela) / Foto: Kerstin Schomburg

Nadja Robiné (Angela) / Foto: Kerstin Schomburg

Auf den ersten Blick ist es eine seltsame Idee: ein Theaterstück über eine Koalitionskrise im Jahr 2014, mit den Protagonisten Merkel und Gabriel, Seehofer und Von der Leyen, im Hintergrund läuft das WM-Finale. Ein Stück, dermaßen in der Gegenwart verhaftet, dass man einen vielleicht kurzweiligen, jedoch nicht unbedingt nachhaltigen Abend erwartet. Doch dann kommt „Mutti“. Das Stück von Charlotte Roos und Juli Zeh wurde jetzt bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen uraufgeführt.

Roos und Zeh bringen Theater und Tagespolitik zusammen und haben damit bereits zum zweiten Mal ein Genre erwählt, das man eigentlich vor allem aus Film und Fernsehen kennt: „Mutti“ ist eine politische Komödie, grandios umgesetzt in der Inszenierung des Deutschen Nationaltheaters Weimar unter der Regie von Hasko Weber.

Stephan Grossmann (Hellmann), Nadja Robiné (Angela), Michael Wächter (Sigmar) / Foto: Kerstin Schomburg

Stephan Grossmann (Hellmann), Nadja Robiné (Angela), Michael Wächter (Sigmar) / Foto: Kerstin Schomburg

Die vier Politiker treffen sich zur „Systemaufstellung“, einer Art Gruppentherapie, um bei Therapeut Hellmann (Stephan Grossmann) „soziale Interaktionen effektiver“ und „Konflikte sichtbar“ zu machen. „Entweder, Angela unterzieht sich einer Behandlung, oder ich lasse die Koalition platzen“, tönt Sigmar (Michael Wächter) in arroganter Chauvi-Pose. Horst (Sebastian Kowski) hat die heftigsten Widerstände: „Ich spiele hier doch kein Theater.“ Doch da liegt er ganz falsch: „Wir befinden uns stets im Zustand der Performance“, erklärt Hellmann.

Los geht es mit einer Familienaufstellung, bei der jeder Politiker die Rolle eines Familienmitglieds einnehmen und seine Gefühle in dieser Rolle offenlegen muss. Schnell fallen alle Beteiligten in die bekannten Muster: Sigmar und Ulla giften sich an, Angela (Nadja Robiné) hört mit heruntergezogenen Mundwinkeln vor allem zu, Horst will zurück nach Bayern.

Nadja Robiné (Angela) / Foto: Kerstin Schomburg

Nadja Robiné (Angela) / Foto: Kerstin Schomburg

Echte Kommunikation kommt erst in Gang, als es gilt, gemeinsam Gefahren abzuwenden: Während des laufenden WM-Finales in Rio (Deutschland gegen Spanien!) werden 70 Arbeiter auf Baustellen für die WM 2022 in Katar von Sicherheitskräften ermordet, was einen Aufstand vor dem brasilianischen Stadion provoziert. Bald herrscht Sicherheitsstufe rot. Zudem rücken Angela und Sigmar damit heraus, dass am Montag eine historische Rede ansteht: Griechenland ist endgültig zahlungsunfähig, Deutschland muss seine Milliarden-Bürgschaft einlösen. Angela braucht dringend den deutschen WM-Sieg, um die schlechte Nachricht im Siegerjubel untergehen zu lassen.

Nadja Robiné (Angela), Sebastian Kowski (Horst), Michael Wächter (Sigmar), Anna Windmüller (Ulla) / Foto: Kerstin Schomburg

Nadja Robiné (Angela), Sebastian Kowski (Horst), Michael Wächter (Sigmar), Anna Windmüller (Ulla) / Foto: Kerstin Schomburg

Also übt Angela ihre Rede, ballt zaghaft ihre Faust, spricht selbst in freier Rede steif von „Aggregatzuständen“ und „Parametern“ – ein hoffnungsloser Fall in den Augen von Sigmar und Ulla, die sich bei erstbester Gelegenheit in den Vordergrund drängen und zeigen, wie man „die Menschen da draußen“ wirklich begeistert.

Saukomisch, wie Sigmar dickbäuchig den Moonwalk tanzt und die nervtötend gut gelaunte Ulla (Anna Windmüller) mit schwarz-rot-goldenen Cheerleader-Pompons auftrumpft. Doch Angela bleibt dröge: „Für mich kommt Pathos nicht in Frage. Die Leute wollen in Ruhe gelassen werden.“ Nur wenn es um Fußball geht, taut die Kanzlerin auf, reckt die Arme und bellt dem Bundestrainer energische Anweisungen in den Hörer.

Der Therapeut wechselt resigniert die Methode: Tango! Wer führt, wer lässt sich führen? Sigmar behält tanzend scheinbar die Oberhand, lässt Angela drehen und sich rückwärts neigen – und liegt plötzlich strauchelnd am Boden. Hat Angela ihm etwa ein Bein gestellt? Dieser Tangotanz, soviel sei verraten, nimmt das Ende des Stücks quasi vorweg.

Natürlich: Die vier Politiker sind so angelegt, dass der Zuschauer schmunzelnd bis laut lachend alle bekannten, weil medial vermittelten Klischees bestätigt findet. Ursula von der Leyen unterstützt Merkel allzu offensiv, sieht sich aber schon als Kanzlerin. Der ein wenig bräsige Seehofer hat vor allem den bayerischen Mittelstand und seine nächste Brotzeit im Sinn. Wie könnte es anders sein, wenn Personen der Zeitgeschichte als Theaterfiguren auf der Bühne stehen.

Doch die Schauspieler haben ihre Rollenvorbilder zu genau studiert und sind zu gut, um ihre Figuren zur Karikatur verkommen zu lassen. Den Autorinnen wiederum ging es offenkundig auch nicht darum, Psychografien der politischen Klasse auf die Bühne zu bringen. Es ging darum, (bekannte) Macht-Mechanismen geistreich, unterhaltsam und entlarvend in Szene zu setzen, mit den Mitteln der Komödie und am Theater – einem Ort, an dem politische und gesellschaftliche Realitäten ansonsten mit arger Verzögerung ankommen.

Details zum Stück und Termine hier




Der Irrsinn, die Stadt und der Krieg: Zur Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“

Um das Jahr 1900 war das westfälische Hagen – ganz anders als heute – eine prosperierende, aufstrebende Stadt. Mochten auch Nachbarorte wie Dortmund (Freie Reichsstadt im Mittelalter, Hansestadt) eine weitaus längere Geschichte haben, so entwickelte sich doch jetzt auch in Hagen ein bürgerliches Selbstbewusstsein.

Hier wirkte damals der umtriebige Mäzen Karl Ernst Osthaus (1874-1921) mit seinem später so genannten „Hagener Impuls“, der 1902 zum seinerzeit weltweit ersten Museum der Gegenwartskunst führte. Die Blüte zeigte sich auch im Stadtbild: Damals entstanden in Hagen ein neues Rathaus (1903) und ein neuer, repräsentativer Bahnhof (1910), beide in historisierenden Stilformen, dazu das schmucke Stadttheater (1911). Auch eine machtvolle Stadthalle war beinahe fertiggestellt, als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann. Damit endete auch Hagens Aufstieg jäh – mit ungemein weit reichenden Folgen, deren Ausläufer teilweise noch heute nachwirken.

"Wir müssen siegen!" (Bildpostkarte, um 1915 - Stadtarchiv Hagen)

„Wir müssen siegen!“ (Bildpostkarte, um 1915 – Stadtarchiv Hagen)

In diesem vielfach tragischen Spannungsfeld bewegt sich nun die Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“ im Osthaus Museum, die vorwiegend die Perspektive der „Heimatfront“ einnimmt. 100 Jahre nach der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts sind an der Bilanz auch das Stadtmuseum und das Stadtarchiv beteiligt. Mit dermaßen vereinten Kräften hat man es geschafft, dass rund 90 Prozent der Exponate in dieser kulturhistorischen Schau aus eigenen Hagener Beständen stammen.

Rund 120 Kunstwerke sowie zahllose Archivalien und Abschauungsobjekte lassen in den besten Sequenzen der Ausstellung einen (lokal und regional zentrierten) Dialog zwischen Kunst und Alltagszeugnissen entstehen.

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Wo Stücke wie etwa Mobilmachungsbefehle und Sterberegister, alte Schreibmaschinen, Ladenkassen, Soldatenhelme oder (kriegerisches) Spielzeug für sich genommen nicht beredt genug sein sollten, tritt die Kunst in ihr Recht. Bilder der Expressionisten (Schmidt-Rottluff, Kirchner, Heckel) oder von George Grosz, Otto Dix und Max Beckmann – um nur wenige zu nennen – geben so manche Ahnung von den Schrecken des Krieges, der Not, des Hungers und des Irrsinns, den der Weltenbrand mit sich brachte. Bewegend auch die Blätter eines Walther Bötticher, der 1916 im Weltkrieg gefallen ist. Und überhaupt einige Unscheinbarkeiten am Wegesrand des Rundgangs.

Christian Rohlfs: "Tod als Sargträger" (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Christian Rohlfs: „Tod als Sargträger“ (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Neben Bildern mit verzweifelter Gebärde oder deutlich kritischem Sinn finden sich auch Beispiele für einen seelenlos oberflächlich registrierenden Zugriff oder gar nationalistisch und martialisch dröhnende Schöpfungen, wie beispielsweise das 1915 am Hagener Rathaus aufgestellte Standbild „Der Eiserne Schmied“ des „völkisch“ gesinnten Dortmunder Bildhauers Friedrich Bagdons.

Natürlich sieht man hier nicht das Original, sondern eine Dokumentation zur Entstehung. Der Schmied selbst ist – annähernd so groß wie die echte Statue – nur als „Pappkamerad“ gegenwärtig. Karl Ernst Osthaus wollte damals übrigens das Schlimmste verhindern und ermunterte Ernst Ludwig Kirchner zu einem Gegenentwurf, welcher jedoch keine Chance bei den kriegsbegeisterten Stadträten hatte…

Ein aufschlussreiches Kapitel ist der Rüstungsproduktion in gewidmet. Hier tat sich besonders die Accumulatoren Fabrik AG (AFA, Vorläuferin von Varta) hervor, die u. a. damals neuartige Spezialbatterien für U-Boote fertigte.

Nicht wenige historische Fotografien zeigen die entsetzlich angefachte Kriegslust der Bevölkerung – bis hin zu Kindern beim Kriegsspiel. Am Ende der Ausstellung wird in einer Art Epilog deutlich, wie nach dem verlorenen Krieg schon die Drachensaat für den nächsten aufgegangen ist. Was aus Hagen noch hätte werden können ohne Kriege, diese Frage könnte einen in tiefe Depressionen stürzen. Doch das gilt ja für alle betroffenen Städte und Länder.

Einige Exponate vermitteln hingegen bloßes Kolorit und reichen in ihrer Harmlosigkeit nicht so recht an das Thema heran. Nicht sehr schlüssig, wenn nicht gar überflüssig erscheint es, in einem Saal Kriegsrelikte beiderseits eines angedeuteten „Schützengrabens“ anzuordnen.

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener  Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Wenn man so will, ist das größte „Ausstellungsstück“ der Altbau des Osthaus Museums (also das frühere Folkwang-Museum von 1902), in den die Schau schließlich überleitet. Sigrid Sigurdssons stetig anwachsendes und mäanderndes Archivwerk „Architektur der Erinnerung“ gibt auch einige Dokumente aus dem Umkreis des Jahres 1914 her. Und das Junge Museum steuert noch Fotos, Materialien und Installationen aus pazifistischem Geiste bei. Möge es fruchten.

„Weltenbrand – Hagen 1914“. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 20. Mai bis 10. August 2014 (Eröffnung So., 18. Mai, 15 Uhr). Geöffnet Di, Mi, Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9 Euro, diverse Ermäßigungen. Tel.: 02331/207-2740. Internet: www.osthausmuseum.de

P.S.: Wenn man schon einmal in Hagen ist, sollte man einen Abstecher ins benachbarte Wuppertal machen, wo noch bis zum 27. Juli im Von der Heydt-Museum die Ausstellung „Menschenschlachthaus“ deutsche und französische Kunst zum Ersten Weltkrieg versammelt. Siehe auch hier: http://www.revierpassagen.de/24161/24161/20140404_1647




Kliniken unter Kostendruck: TV-Report über unser krankes Gesundheitswesen

Ganz neu waren diese Befunde übers deutsche Gesundheitswesen nicht, doch in dieser Fülle und Dichte trotzdem alarmierend. Die Patienten, so das zentrale Fazit, gelten den Kliniken zusehends als Geldbringer. Eine Besserung der Zustände ist einstweilen nicht in Sicht.

Lukrative Fälle werden viel zu oft operiert, chronische Krankheiten hingegen häufig vernachlässigt. In der Sendung „Krankenhaus-Report: Wo Medizin Kasse macht“ (3Sat) ging es vor allem um die unseligen Folgen der sogenannten Fallpauschale, nach der die Behandlung einer bestimmten Krankheit – ohne Rücksicht auf die jeweiligen Umstände – stets mit der gleichen Summe vergolten wird.

Belohnt wird Quantität, nicht Qualität

Längst hat es sich erwiesen: Belohnt wird hierbei in erster Linie Quantität, also die Häufigkeit gewisser lohnender Eingriffe, nicht aber die medizinische Qualität. Auch sorgt das System dafür, dass Patienten nach Operationen oft zu früh aus den Krankenhäusern entlassen werden, um die (insgesamt immer noch viel zu vielen) Betten besser auszunutzen.

Was die Häufigkeit angeht, sind deutsche Kliniken "OP-Weltmeister". (© ZDF/HR/3Sat)

Was die Häufigkeit angeht, sind deutsche Kliniken „OP-Weltmeister“. (© ZDF/HR/3Sat)

So kommt es, dass Deutschland „OP-Weltmeister“ ist und das drittteuerste Gesundheitssystem auf dem Planeten betreibt. In Sachen Effizienz liegen wir allerdings nur auf Rang 14. Abgesehen von ein paar kleinen optischen Mätzchen, wurden diese Verhältnisse in der Reportage von Ulrike Bremer und Ulrike Gehring glasklar herausgearbeitet.

Die Kaufleute haben das Sagen

Inzwischen, so eine weitere These des Berichts, haben vielfach die kaufmännischen Direktionen in den Krankenhäusern das Sagen und nicht mehr in erster Linie die Ärzte. Es wird wirtschaftlicher Druck auf die Mediziner ausgeübt, es werden entsprechende Boni aufs Ärztegehalt gezahlt. Wer kann da widerstehen?

Die gnadenlose Konkurrenz zwischen den Kliniken treibt manche Häuser in den Ruin – keineswegs immer die fachlich Schlechteren. Davon profitieren nicht selten private Betreiber, die eine marode Klinik schon mal für einen symbolischen Euro erwerben und das Kostenregime anschließend noch verschärfen. Unterdessen streichen Politiker den öffentlichen Kliniken Zuschüsse und die Krankenkassen üben ihrerseits Kostendruck aus. Ein Teufelskreis.

Krise gehört auf die politische Agenda

Wie weit der Zynismus geht, zeigt sich darin, dass Krebs unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten als (wie es hinter vorgehaltener Hand manchmal heißt) „sexy“ gilt, weil diese schreckliche Krankheit viele kostspielige Untersuchungen nach sich zieht. Privatpatienten sind dabei nicht etwa besser dran, im Gegenteil: Bei ihnen lohnen sich unsinnige Eingriffe noch mehr – und sie werden deshalb vorgenommen.

Die missliche, rundum verkorkste Lage lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Der Themenkomplex „krankes Gesundheitswesen“ gehört dringend auf die politische Tagesordnung. Und zwar ganz weit nach oben.




TV-Nostalgie (16): Dieter Hildebrandt – die besten Jahrzehnte des Kabaretts

Heute bestreiten gewisse „Comedians“ ganze Abende mit dröhnenden Flachwitzchen darüber, dass Frauen auf Handtaschen und Schuhe versessen sind oder angeblich nicht einparken können. Welch ein himmelweiter Unterschied zum politischen Kabarett, das den Namen verdient! Da geht’s beim Lachen eben auch ums Nachdenken. Und wer hätte mehr dafür gestanden als Dieter Hildebrandt? Der Mann fehlt!

Sicher: Das parteipolitische Witzeln der 50er und 60er Jahre hatte sich irgendwann mal erledigt. Doch einer wie Hildebrandt lief zwar gewiss nicht jedem Trend hinterher, ging aber mit der Zeit und entwickelte gemeinsam mit jüngeren Begabungen das Kabarett weiter, so dass es in seinen besten Momenten auch gesellschaftliche Tiefenströmungen erfasste.

Dieter Hildebrandt im Januar 1982 in der legendären "Scheibenwischer"-Ausgabe über den Rhein-Main-Donau-Kanal (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=MosvwkOelcs)

Dieter Hildebrandt im Januar 1982 in der legendären „Scheibenwischer“-Ausgabe über den Rhein-Main-Donau-Kanal (Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=MosvwkOelcs)

Man schaue sich Ausschnitte seit den 80er Jahren an: Wie viele Talente er da mit untrüglichem Gespür für Qualität gefördert und selbst noch von ihnen gelernt hat! Bei ihm bekamen sie alle eine große Bühne – von Gerhard Polt bis Richard Rogler, von Konstantin Wecker bis Georg Schramm, dem wohl besten Kabarettisten der letzten Jahre, der sich jetzt leider aus der Öffentlichkeit zurückzieht.

Die Technik des Verhaspelns

Der gebürtiger Schlesier und Wahlmünchner Hildebrandt (übrigens Anhänger von 1860 München) war ein vorbildlicher, durch und durch uneitler Förderer, der andere gern neben sich gelten ließ und dafür sorgte, dass sie reifen konnten. Allein das war schon eine große Lebensleistung – ganz abgesehen natürlich von den eigenen Auftritten, bei denen er seine unvergleichliche Technik des (hellwachen) Verhaspelns kultivierte. Am Ende hatte er zwischen den Zeilen immer ungleich mehr gesagt, als Geradeaus-Sätze es vermocht hätten. Übrigens merkte man bei seinen Soli und im Ensemble auch immer wieder, dass er eine ordentliche Schauspieler-Ausbildung hatte.

Legendenstatus erlangten seine Fernsehreihen „Notizen aus der Provinz“ (1973 bis 1979 im ZDF) und „Scheibenwischer“ (1980 bis 2003 mit Hildebrandt in der ARD, danach noch bis 2008 ohne den Meister). Auch bei „Neues aus der Anstalt“ (ZDF) stand Hildebrandt noch Pate und war mit von der Partie, wenn auch nicht mehr in vorderster Linie.

Bei Konservativen oft „angeeckt“

Die „Notizen aus der Provinz“ waren ein vorproduziertes Magazin, beim „Scheibenwischer“ gab’s hingegen Live-Kabarett. Beiden Sendungen gemeinsam war allerdings, dass sie oft bei konservativen Politikern und Fernsehgewaltigen „aneckten“. Besonders heftig geführt wurde der Streit um die Ausgaben zum korruptionsträchtigen Wahnwitz des Rhein-Main-Donau-Kanals (1982) und zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl (1986). Aus der Letzteren klinkte sich der Bayerische Rundfunk aus.

Millionenpublikum mit „Lach & Schieß“

Begonnen hatten all die ruhmreichen Jahrzehnte mit der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, die Hildebrandt 1956 gemeinsam mit dem Sportjournalisten Sammy Drechsel gegründet hatte. Zwischen 1963 und 1971 hatte die Truppe ein Millionenpublikum mit ihrem ARD-Silvesterprogramm „Schimpf vor zwölf“. Nie wieder hat deutsches Kabarett so viele Zuschauer versammelt wie damals.

Nur nicht unverbindlich sein

Ende 1972 löste sich die Lach- und Schießgesellschaft auf. Willy Brandt war 1969 Kanzler geworden und das linksliberal ausgerichtete Kabarett in eine Sinnkrise geraten. Es drohte staatstragend zu werden. Doch Dieter Hildebrandt hat niemals unverbindliche Scherze getrieben. Bezeichnend, dass er sich noch viel später mit Mathias Richling überwarf, der nach 2008 just auch Comedians zum „Scheibenwischer“ holen wollte. Solche Späße waren Hildebrandt zu läppisch und er untersagte die weitere Verwendung des Titels „Scheibenwischer“.

Seit Hildebrandts Tod im November 2013 vermisst man schmerzlich eine solch gewichtige Figur, die die Szene gleichsam väterlich zusammenhalten könnte. Was er wohl dort oben über den Wolken treibt? So ganz ohne klugen Spott dürfte es auch dort nicht abgehen…

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), „Was bin ich?“ (15)




„Die Spiegel-Affäre“: Starker Politthriller um Augstein und Strauß

Das war ziemlich großes Kino, was uns die ARD (und ein paar Tage zuvor arte) heute geboten hat: „Die Spiegel-Affäre“ war eines jener raren Fernseh-Ereignisse, für die man denn doch gern seine Gebühren zahlt.

Die Älteren erinnern sich – und hoffentlich wissen auch einige Jüngere ein wenig Bescheid: Im Oktober 1962 berichtete das Hamburger Magazin „Der Spiegel“ unter der Schlagzeile „Bedingt abwehrbereit“ über die mangelnde Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr.

Kampf um die Pressefreiheit

Franz Josef Strauß, CSU-Verteidigungsminister im Kabinett Adenauer, witterte Landesverrat und erwirkte (durch mehr oder weniger direkte Weisungen) die Verhaftung des „Spiegel“-Chefs Rudolf Augstein, des Artikel-Autors Conrad Ahlers und weiterer Redaktionsmitglieder. Strauß belog den Bundestag über seinen aktiven Anteil an den Verhaftungen und musste zurücktreten. Die „Spiegel“-Leute kamen nach und nach frei.

Sebastian Rudolph als "Spiegel"-Chef Rudolf Augstein (© BR/Wiedemann & Berg Film)

Sebastian Rudolph als „Spiegel“-Chef Rudolf Augstein (© BR/Wiedemann & Berg Film)

Die perfide Razzia beim „Spiegel“ wurde zum Fanal. Erstmals in solcher Form wurde breiter Protest für die Pressefreiheit laut. Die Affäre hat ungeheuer nachgewirkt und damals viele Menschen in ihrem Demokratieverständnis geprägt. Sie führte überdies später indirekt zur ersten sozialliberalen Koalition und hat gewiss auch erste Keime für die Rebellion von 1968 gelegt.

Duell der selbstherrlichen Männer

Roland Suso Richters Spielfilm-Doku spitzt die Handlung auf den Zweikampf zweier selbstherrlicher und von ihren gegenläufigen Missionen besessenen Männern zu: Rudolf Augstein ( Sebastian Rudolph) und Franz Josef Strauß (Francis Fulton Smith), der die Bundesrepublik unbedingt atomar bewaffnen wollte. Mauerbau und Kuba-Krise schienen seiner harten antikommunistischen Linie in die Karten zu spielen.

Um eine pralle Geschichte zu erzählen, muss man wohl auf diese Weise personalisieren. Gespielt wird das jedenfalls – bis in die Nebenrollen hinein – ganz exzellent. Wir erleben einen fesselnden Politthriller, wie man ihn sonst eher US-Regisseuren zutraut.

Saufen, rauchen, Frauen verachten

Trefflich auch das Zeitkolorit der späten 50er und frühen 60er Jahre. Geradezu bewundernswert, wie eine ganze Welt zwischen historischen Autotypen, Paternostern und stimmigen Interieurs herbeigezaubert wird. Fast möchte man in Nostalgie verfallen, hätte das Ganze nicht einen so ernsten politischen Hintergrund.

Francis Fulton Smith als Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (© BR/Wiedemann & Berg Film)

Francis Fulton Smith als Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (© BR/Wiedemann & Berg Film)

Das ungebremst saufselige und frauenverachtende Gockelgehabe der männlichen Akteure entfaltet sich gleichsam in einer gründlich verrauchten Sektkelch- und Bierkrug-Republik – mit Ausflügen in den Weinbrandsuff: „Darauf einen Dujardin – peng!“

Lockere Sprüche in der Redaktion

Mag sein, dass die Sprücheklopfer-Atmosphäre in der „Spiegel“-Redaktion etwas zu locker gezeichnet wird, im Sinne der Spannung und Unterhaltsamkeit funktioniert das alles jedenfalls prächtig. Einige Portionen geschichtlicher Aufklärung fallen dabei allemal ab.

Mag auch das eine oder andere historische Detail etwas verrutscht sein, so stimmen doch insgesamt wohl die Gewichtungen. Man ertappt sich gelegentlich sogar dabei, die Antriebe eines Franz Josef Strauß ansatzweise nachvollziehen (allerdings nicht billigen) zu können. Und das will wirklich etwas heißen.




Ai Weiwei und die Kunst des Konflikts

Er hätte in New York bleiben können, frei, unbehelligt. Immerhin lebte der chinesische Künstler und Architekt Ai Weiwei von 1981 bis 1993 seinen amerikanischen Traum. Aber wer kannte ihn schon? Erst als aufrührerischer Heimkehrer entwickelte Ai ein von der westlichen Welt bewundertes Werk voller Zorn und Schönheit. Der Konflikt mit dem kommunistisch-kapitalistisch agierenden Regime inspiriert ihn zu immer wieder neuen Installationen, die er jetzt in einer grandiosen Schau im Berliner Gropius-Bau zeigt: „Evidence“ – Beweis.

Dass er selbst nicht zur Eröffnung kommen durfte, passt Ai Weiwei durchaus ins Konzept. Das Verbot sei, ließ er vorab verlauten, „ein Kunstwerk an sich“ und spiegele die menschliche Verfassung wider.

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Die chinesischen Behörden verweigern ihm die Ausreise, seit er 2010 mit einer im Internet angekündigten Protestparty auf den willkürlichen Abriss seines Ateliers in Shanghai reagierte. Während Ai in Hausarrest saß, ließ er rund 1000 Gästen ein symbolhaltiges Mahl servieren: Flusskrebse, chinesisch „he xie“. Genauso klingt – etwas kompliziert für westliche Rezipienten – das chinesische Wort für Harmonie, welches wiederum vom Regime gebraucht wird, sobald es um Gleichschaltung geht. Für Ai Weiwei sind die Flusskrebse nun seine subversiven Krabbeltiere. Er ließ sie 2011 in kostbarem Porzellan nachbilden, grau und rot, zerbrechlich, aber nicht verderblich. In unübersehbarer Zahl liegen sie auf dem Boden des Ausstellungssaals – unheimlich und reizvoll.

So macht sich Ai Weiwei die Dinge und Ereignisse zu eigen. Die Idee der Verwandlung ist sein Trick und zugleich seine Erlösung. Die Überwachungskameras, die vor seinem Haus in Peking installiert wurden, ließ er in Marmor nachbilden. Versteinert sind sie nun, hübsch, harmlos und doch Zeugnisse einer allgegenwärtigen Schikane. Ai hat sie verzaubert – genau wie die Handschellen, die zum Jade-Schmuck wurden, und sechs schäbige Plastikbügel, die jetzt als Kristallobjekte edel in einer Vitrine schimmern. Gezähmte Erinnerungen an die 81 Tage, die Ai im Frühjahr 2011 in einem Geheimgefängnis verbrachte.

Ohne Angabe von Gründen hatte man ihn auf dem Flughafen verhaftet und in eine Zelle gesperrt, wo das Licht nie ausging und die Möbel mit Schaumstoff umwickelt waren. Ein Nachbau soll dem Publikum (nur sechs Personen dürfen zugleich eintreten) die Gefühle des Gefangenen nahebringen, Ai lässt nichts aus. In einem suggestiven Musikvideo marschiert er zwischen Bewachern auf und ab – und inszeniert seine Fantasien. Ein Kind rasiert ihm die struppigen Haare vom Schädel, auch der lange Bart fällt. Der bullige Künstler wird zu einer kahlköpfigen, geschminkten Diva, die aus dem Gefängnisgang einen Laufsteg macht. Wieder hat die Metamorphose funktioniert.

Ein gefährliches Spiel, was Ai da treibt. Nicht immer geht es so gut aus wie Ende 2011, als Tausende von Spendern seine angeblichen Steuerschulden bezahlten. 2009, als er nach dem verheerenden Erdbeben von Sichuan auf Baumängel in den zusammengestürzten Gebäuden hinweisen wollte, erlitt er nach einer Polizistenattacke eine Hirnblutung, die in Deutschland operiert wurde. Zu einer Ausstellung im Münchner Haus der Kunst durfte er damals noch leibhaftig erscheinen. Heute ist er virtuell gegenwärtig – und ein andächtiges Publikum huldigt ihm im Gropius-Bau, dem ehemals kaiserlichen Kunstgewerbemuseum, um 1880 von Martin Gropius (dem Großonkel des Bauhaus-Gründers) als Pseudo-Renaissance-Palast errichtet.

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: "Stools" (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: „Stools“ (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Ai weiß, wie man auch solche Räume füllt. Über 6000 alte Hocker aus nordchinesischen Dörfern stehen dichtgedrängt im prächtigen Lichthof. Sie tragen die Spuren vieler Leben und erzählen mit ihren Kratzern, Brüchen und Farbresten von Chinas Vergangenheit, deren Überreste systematisch dem Wirtschaftsboom geopfert werden.

Nicht nur in Peking verschwinden historische Stadtviertel, um neuen Wohn- und Geschäftsburgen Platz zu machen. Schon 2007, nachdem er antike Häuserteile und Möbel auf der Documenta installiert hatte, ließ Ai 30 Türen zerstörter Häuser in Marmor nachbilden. Sein „Monumental Junkyard“, der monumentale Schrottplatz, ist ein Denkmal für das Verlorene – genau wie zwölf vergoldete Bronzen chinesischer Tierkreisfiguren, die sich einst in den Gärten des kaiserlichen Sommerpalastes befanden, wo sie 1860 von europäischen Soldaten geraubt wurden.

Jede Zeit gebiert ihr eigenes Unrecht. Und sie sorgt für Verdrängung. Die jungen Chinesen im Fortschrittsrausch interessieren sich kaum für die traditionelle Kultur ihres Landes. Sie wollen Audi fahren. Ai Weiwei hat dafür in diesem Jahr ein starkes Zeichen geschaffen: Er überzog acht etwa 2000 Jahre alte Vasen aus der Han-Dynastie mit metallisch glänzendem Autolack. Sieht perfekt aus, dieser Akt der Zerstörung. Ai Weiwei, der abwesend Anwesende, hat sich wieder einmal klar ausgedrückt.

„Ai Weiwei – Evidence“: bis 7. Juli im Martin-Gropius-Bau, Berlin, Niederkirchnerstr. 7. Mi.-Mo. 10 bis 19 Uhr, ab 20. Mai bis 20 Uhr, Di. geschlossen. Katalog im Prestel-Verlag: 25 Euro (Buchhandelsausgabe: 39,95 Euro). www.gropiusbau.de




„Menschenschlachthaus“: Wie die Kunst den Ersten Weltkrieg nicht fassen konnte

Gert Heinrich Wollheim: "Der Verwundete" (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Gert Heinrich Wollheim: „Der Verwundete“ (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Als auch die Künstler in den Ersten Weltkrieg geraten, ist ihre anfängliche Kampfes-Euphorie sehr bald vorüber. Die Bilder vom Kriege, zwischen 1914 und 1918 entstanden, enthalten hin und wieder patriotische Appelle, doch kaum noch triumphale Gesten.

Ja, die Kunst macht sich geradezu klein vor der schrecklich übermächtigen Wirklichkeit, wie man jetzt in einer bemerkenswerten Wuppertaler Ausstellung sehen kann. So manche Skizze ist im Schützengraben oder an der Frontlinie entstanden. Dorthin konnte man keine Staffeleien und Leinwände mitnehmen. Doch auch die im Atelier gemalten Ölbilder haben meist bescheidene Ausmaße.

„Menschenschlachthaus“ heißt die Ausstellung mit drastischer Deutlichkeit, der Untertitel lautet „Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst“. Das Partnermuseum (Musée des Beaux-Arts) in Reims, das rund die Hälfte der rund 350 Exponate beigesteuert hat und die Schau ab 14. September übernehmen wird, will einen dezenteren Titel wählen, denn jenseits des Rheins wird der Erste Weltkrieg bis heute anders gesehen. Dort verknüpfen sich – über das Leidensgedächtnis hinaus – ungleich mehr nationale Gefühle damit, auch solche der Genugtuung und des Stolzes.

Reims hat wegen der im Ersten Weltkrieg zerstörten und später wieder aufgebauten Kathedrale (Krönungsort französischer Könige) eine herausragende Bedeutung für Frankreichs Selbstbild. So kommt es, dass im September vermutlich Frankreichs Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel die Ausstellung in Reims eröffnen werden.

Gustave Fraipont: "Brand der Kathedrale von Reims". Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Gustave Fraipont: „Brand der Kathedrale von Reims“. Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Die Ausstellung konzentriert sich ganz auf die beiden Nachbarländer und blendet alles weitere Kriegsgeschehen aus. Sie berührt freilich auch so einen weiten Themenkreis, setzt sie doch schon bei unguten Vorahnungen, kriegsträchtigen Stimmungen und beim Zustand der Kunst vor 1914 ein und verfolgt die Linie bis zu Tendenzen der 1920er Jahre, als in Deutschland die Neue Sachlichkeit aufkam und französische Künstler sich im weiten Feld zwischen Neoklassizismus und Kubismus bewegten. Der Kernbestand aber widmet sich der eigentlichen Kriegszeit, ob nun an oder hinter der Front.

Jüngst hat eine andere, thematisch verwandte große Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle („Die Avantgarden im Kampf“) die These verfechten und illustrieren wollen, der Erste Weltkrieg habe die Künste beflügelt. Gerhard Finckh, Direktor des Wuppertaler Von der Heydt-Museums, mag diesem Ansatz nicht folgen. Im Gegenteil. Alle damals wesentliche Richtungen hätten sich unabhängig vom Krieg gebildet und seien bereits vorher zur Blüte gelangt. Zudem hätten die allermeisten Künstler dann den Krieg bildnerisch gar nicht zu fassen bekommen.

Pierre Bonnard: "Zerstörtes Dorf an der Somme" (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Pierre Bonnard: „Zerstörtes Dorf an der Somme“ (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Darf man da von einem Versagen sprechen? Wie will man denn auch mit den überlieferten Mitteln der Zeichnung, der Tafelmalerei oder Skulptur die wirklichen Gräuel „angemessen“ darstellen? So wird die bildende Kunst in keiner Hinsicht „fertig“ mit dem Krieg.

In Wuppertal ruft man demzufolge Fotografie, Film und Literatur (mit längeren Textpassagen in der Ausstellung) zur Hilfe, um dem Thema gleichsam mehrdimensional beizukommen. So entfaltet die Schau, die ohnehin zwischen Kunstgeschichte und politischer Geschichte oszillieren muss, eine anfangs geradezu irritierende Vielfalt der Perspektiven.

Selbst ein Max Beckmann hat zunächst den Krieg begrüsst, der seiner Kunst „zu fressen“ gebe, also starke Themen liefere. Sogar ein Otto Dix wirkt auf einem Selbstporträt noch gewaltbereit, wenngleich Brüche und Verstörungen zu spüren sind. Ähnliche Phänomene der Begeisterung gibt es auch auf französischer Seite.

Max Beckmann: "Selbstbildnis als Krankenpfleger" (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Max Beckmann: „Selbstbildnis als Krankenpfleger“ (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Im Folgenden findet man etliche Schattierungen der Kunst im Kriege. Wenn Maurice Denis ein preußisches Schwein darstellt, das ein unschuldiges Kind brutal niedertrampelt, so ist dies natürlich Propaganda. Man sieht hie und da patriotische Posen und Heroisierungen, Stilisierungen, Überhöhungen oder auch naive Betrachtungsweisen.

Dabei kommt es der Ausstellung zugute, dass in ihrer Fülle nicht nur berühmte Künstler vertreten sind, sondern auch einige Unbekannte, zuweilen ersichtlich weniger Talentierte. So wird deutlicher, wie und warum die herkömmliche Malerei vielfach am Thema scheitert und scheitern muss.

Doch einige wenige Künstler lassen die rohe Wahrheit der Materialschlachten und der massenhaft zerfetzten Körper aufblitzen. So zeigt Otto Dix’ (hier komplett präsentierte) Mappe „Der Krieg“ in bizarrer Zuspitzung denn doch einiges vom innersten Zerstörungswesen des Krieges. Das Totentanz-Konvolut, zu dem 50 Radierungen gehören, ist freilich erst 1924 entstanden. Auch Conrad Felixmüllers „Soldat im Irrenhaus“ (1919) ist ein solcher Aufschrei, bis ins Mark erschütternd.

Neben dem grotesken Zugriff, für den beispielsweise auch George Grosz steht, scheint äußerste lakonische Zurückhaltung eine weitere Möglichkeit zu sein, sich der schlimmen Wahrheit zu stellen. Anders herum gesagt: Wo immer sich die künstlerischen Mittel zu sehr aufdrängen (oder eben auch nicht genügen), geht die Anstrengung fehl. Traditionelle Regeln gelten hier ohnehin nicht mehr. Allseits zerfallende Strukturen müssen auch im Bild ihre Entsprechung finden. Sonst ist es von vornherein Verharmlosung.

Félix Vallotton: "Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine - BDIC)

Félix Vallotton: „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine – BDIC)

Eines der großartigsten Bilder der Ausstellung offenbart wohl auch einen Zwiespalt. Félix Vallottons „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne“ (1917) ist mit seinen Tausenden von Grabkreuzen ein grandioses Monument stiller Trauer, doch könnte man auch argwöhnen, dies sei eine nahezu abstrakte Ansammlung von Ornamenten. Es ist ein schwankender Gang auf dem Grat – wie alle Kunst vom Kriege.

„Menschenschlachthaus. Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst.“ Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Vom 8. April bis 27. Juli 2014. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Karfreitag und Ostersonntag 11-18 Uhr, Ostermontag und Maifeiertag geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 25 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm. Informations-Hotline: 0202/563-26 26. www.von-der-heydt-museum.de




Drama in Damaskus: „Kuss“ am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt

Aktuelle politische Konflikte auf die Bühne zu bringen, ist immer ein Risiko: Kann man dem Schrecken des Krieges und dem Leid der Opfer im fiktionalen Raum wirklich gerecht werden? Kann man den jeweiligen Konflikt überhaupt verstehen, wenn er sich in einem völlig anderen Kulturkreis und Machtgefüge abspielt? Wie entgeht man der Gefahr des herablassenden europäischen Blickes, der den betroffenen Gesellschaften zuerst mangelndes Demokratieverständnis attestiert und sich dann ratlos abwendet?

Die Uraufführung „Kuss“ von Guillermo Calderón am Schauspielhaus Düsseldorf entgeht dieser Gefahr auf bestmöglichem Wege, indem sie sokratisch zugesteht: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Diese Erkenntnis verknüpft sie zudem mit einem Überraschungseffekt, der aus einer klugen Dramaturgie erwächst: Denn zunächst wirkt das Kammerspiel zwischen zwei befreundeten Paaren in Damaskus wie eine konventionelle Soap-Opera. Sie ist angesiedelt in dem naturalistisch nachgebautem Wohnzimmer von Hadeel (Simin Soraya) mit Perserteppichen, Sofas und Couchtisch. Hadeel wartet auf ihre Freunde, um gemeinsam Fernsehen zu schauen. Denn, und darauf fußt laut Programmheft das Konzept von „Kuss“, in Syrien erfreuen sich eben jene Fernseh-Soaps großer Beliebtheit. Sie sind Kult und jeder fiebert mit den Helden mit.

Doch zum gemütlichen Fernsehabend kommt es diesmal nicht, weil sich die Protagonisten so sehr in ihre eigenen Liebes- und Beziehungsprobleme verstricken, dass die Freundschaft am Ende zerbricht. Es beginnt schon damit, dass Youssif (Marian Kindermann) viel zu früh auftaucht und Hadeel seine Liebe gesteht. Das Problem: Sie ist eigentlich mit Ahmed (Gregor Löbel) verlobt und er mit Bana (Anna Kubin) zusammen, die wiederum die beste Freundin von Hadeel ist. Trotzdem wird Hadeel beinahe schwach, doch da betritt ihr Verlobter Ahmed die Szene und verkompliziert die Angelegenheit, indem er ihr einen Heiratsantrag macht. Bana, die als zuletzt dazu stößt, wird als erste eifersüchtig und klagt Liebesverrat und Betrug durch die beste Freundin an.

Gerade als sich die Zuschauer fragen, wo denn nun die politische Relevanz eines Stückes liegen soll, in dem es hauptsächlich um gebrochene Herzen geht und der Spielort Damaskus offensichtlich überhaupt keine Bedeutung hat, dreht sich der Plot. Hadeel fällt um und liegt tot auf dem Teppich. Bana fällt aus der Rolle, entpuppt sich als Regisseurin des Spiels im Spiel und will nun per Skype Kontakt mit der angeblichen Autorin des Stückes aufnehmen, die in den Libanon geflohen sein soll.

Der sich nun entspinnende Skype-Dialog (über eine Leinwand auf die Bühne projiziert) ist derart von Missverständnissen durchsetzt und zeigt die Diskrepanz des Lebens hier und des Lebens als Kriegsflüchtling mit solcher Deutlichkeit, dass dies die eigentlich Botschaft transportiert: Wir haben trotz medialer Berichterstattung einfach keine Ahnung, was Menschen im syrischen Krieg wirklich widerfährt und welche Konsequenzen das für ihr Leben hat.

Als Beispiel genügt schon die Diskussion um die Todesursache von Hadeel: Während die Schauspieler der festen Überzeugung sind, Hadeel sei an gebrochenem Herzen gestorben, stellt die syrische Autorin klar: „Habt ihr denn nicht die Regieanweisung gelesen, dass Hadeel die ganze Zeit hustet?“ – „Ja, natürlich, sie hustet ja auch ab und zu, aber wo ist das Problem?“ – „Hadeel ist Opfer eines Giftgasangriffs in Damaskus geworden, daran stirbt sie. Ihr Geist ist verwirrt und benebelt, deswegen kommt sie mit ihren Liebhabern durcheinander.“

Nicht zuletzt entpuppt sich die vermeintliche Autorin als Hadeels Schwester. Die Schöpferin des Stückes ist bereits tot. Auch der titelgebende Kuss bezeichnet keinen Austausch von Zärtlichkeiten, sondern einen Kontakt mit dem Geheimdienst, erfährt man. Betroffen inszeniert die Schauspielertruppe einige Szenen noch einmal neu: Kitschig sind sie nun nicht mehr.

Infos: http://duesseldorfer-schauspielhaus.de/de_DE/Premieren/Kuss.954851