Russland gehört zu Kultur-Europa

Ich sehe die Geschehnisse in der Ukraine und denke, das kann doch nicht wahr sein. Jetzt ist Rußland wieder der Feind? Das Reich der finsteren und selbstverständlich unbelehrbaren Despoten? Die ideologische Konfrontation schien doch überwunden. Und die  Gegenüberstellung von „Europa“ und „Rußland“ ist doch geographischer Unsinn. Europa geht bis zum Ural, natürlich liegt Moskau in Europa.

Um nicht mißverstanden zu werden: Ich will hier kein politisches Urteil fällen. Nach meinem Eindruck haben beide Seiten des Konflikts gravierende Fehler gemacht, die aber alle nicht in den Untergang führen müssen. Mir geht es, ich bitte um Entschuldigung für den bombastischen Sound, um „Kultur-Europa“, in dem die russische Kultur größte Bedeutung hat. Landauf, landab spielen Theater und Konzertsäle in allen europäischen Ländern Tschechow und Tschaikowsky, um nur die beiden zu nennen; die russische Literatur hat Weltgeltung, und in den letzten Jahren hat beispielsweise auch die vormoderne russische Malerei, die sich mit dem Namen Ilja Repin verbindet, im Westen wachsende Beachtung erfahren. Russische Kultur ist, wie auch die französische oder die italienische, Teil unserer gemeinsamen europäischen Kultur. Wie kann man eine Nation, mit der uns kulturell viel verbindet, politisch ausgrenzen? Nach meinem Empfinden geht das nicht. Auch deshalb nicht, weil man den Russen Unrecht täte, die in ihrer großen Mehrzahl fraglos vernünftige Menschen sind.

Eine Lösung habe ich nicht – nur die Hoffnung, daß „die Politik“ vernünftig handelt. „Versöhnen statt spalten“, war ein Drei-Worte-Spruch unseres ehemaligen Ministerpräsidenten Johannes Rau. Zu seinen Lebzeiten klang das banal; doch jetzt wäre es für alle Beteiligten die richtige Parole.




Ausstellungen im Kreis Unna: Schwierige Verhandlungen über das Schloss Cappenberg

Über zwei wichtige Ausstellungsstätten verfügt der Kreis Unna am Ostrand des Ruhrgebiets: Schloss Cappenberg in Selm und Haus Opherdicke in Holzwickede. Doch vor allem in Cappenberg dräuen nun Schwierigkeiten, die eine Kulturpolitik der kleinen Schritte erfordern.

Das Schloss gehört Sebastian Graf von Canitz. 1985, also vor fast 30 Jahren, hat sein Vater mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ausgehandelt, dass größere Teile des Gebäudes als Ausstellungsfläche genutzt werden dürfen – gegen entsprechende Miete, versteht sich. An diese Verträge hat sich der Kreis Unna angeschlossen und seither viele sehenswerte Kunstschauen auf dem Schloss präsentiert. Die Miete teilt man sich mit dem LWL, der im Schloss historische Zeugnisse über den Freiherrn vom Stein zeigt.

Bei Ausstieg drohen hohe Kosten

So weit, so gut. Bald aber könnte es ungemütlich werden. Denn Ende 2015 läuft der Vertrag aus. Problem: Das Papier sieht vor, dass LWL und Kreis Unna umfangreiche, womöglich millionenschwere Restaurierungen am Gebäude bezahlen müssen, falls sie aus dem Kontrakt aussteigen. Da hat man damals wohl reichlich sorglos verhandelt. Es waren andere Zeiten…

Schloss Cappenberg in Selm, Teilansicht. (Foto von 2009: Bernd Berke)

Schloss Cappenberg in Selm, Teilansicht. (Foto von 2009: Bernd Berke)

Dr. Thomas Wilk, Kulturdezernent (und Kämmerer) des Kreises Unna, findet, dass der Kreis allein schon deshalb an einer Fortsetzung der Ausstellungstätigkeit interessiert sein sollte. Eine Vertragskündigung könnte die öffentliche Hand erst einmal teurer zu stehen kommen als weitere Mietzahlungen (derzeit 90000 Euro pro Jahr, allein für den Kreis). Mal ganz davon abgesehen, dass es gilt, eine kulturelle Attraktion zu erhalten, die Besucher aus ganz NRW anzieht. Doch eine Fortsetzung des Vertrags „um jeden Preis“ werde es nicht geben, so Wilk kurz vor einer Sitzung des Kreiskulturausschusses, dem er seine Sicht der Dinge nichtöffentlich darlegen wollte.

Konfliktstoff vor der Renovierung

Wie auch immer. Das Schloss muss auf jeden Fall gründlich renoviert werden. Zur Zeit wird ein von allen beteiligten Seiten paritätisch bezahltes Gutachten erstellt, das die Schäden auflistet (bis hin zu undichten Fenstern und marodem Parkett). Anschließend müssten der Graf, der LWL und der Kreis Unna sich einigen, welcher Seite welche Kosten zuzurechnen sind. Da wird mancher Konfliktstoff zu entschärfen sein.

Dezernent Wilk stellt klar, dass der Kreis Unna keinesfalls Investitionen in die Gebäude-Substanz tragen kann. Dies und der (vorgeschriebene) barrierefreie Umbau seien Sache der gräflichen Familie. Um ausstellungsspezifische Kosten wird der Kreis allerdings schwerlich herumkommen. Man will den Gesamtaufwand reduzieren, indem man weniger Fläche anmietet als die bisherigen 1067 Quadratmeter (davon rund 600 qm Ausstellungsfläche).

Eins steht – selbst bei geschickt oder glimpflich absolvierten Verhandlungen – schon heute fest: Ausstellungen auf Schloss Cappenberg werden künftig wohl kleinere Dimensionen und einen anderen Zuschnitt haben als bisher.

Die Befindlichkeit des Kunstsammlers

Weitere Kulturbaustelle des Kreises ist immer noch die teilweise hochkarätige Kunstsammlung des Wiesbadeners Frank Brabant. Schon seit einigen Jahren bemüht man sich, über ein Stiftungsmodell umfangreiche Bestände nach Holzwickede zu holen. Mehrere Ausstellungen mit Brabant-Leihgaben im Haus Opherdicke haben ahnen lassen, dass dies ein lohnendes Unterfangen ist. Die nächste Schau folgt ab April.

Kunstsammler Frank Brabant (2. v. li.) im August 2012 bei einer Ausstellungs-Vorbesichtigung im Haus Opherdicke. (Foto: Bernd Berke)

Kunstsammler Frank Brabant (2. v. li.) im August 2012 bei einer Ausstellungs-Vorbesichtigung im Haus Opherdicke. (Foto: Bernd Berke)

Entsprechende Stiftungsverträge sind eigentlich schon seit Jahren ausformuliert und praktisch unterschriftsreif. Dennoch sind die Gespräche seit langem ins Stocken geraten. Kulturdezernent Thomas Wilk sieht dafür vor allem emotionale Gründe. Beim Besuch in Wiesbaden habe er gemerkt, welch ein leidenschaftlicher Sammler Frank Brabant ist. Es tue ihm offenbar in der Seele weh, sich dauerhaft von Stücken zu trennen, die seine gesamte Wohnung über und über anfüllen.

Auf diese Befindlichkeit soll nun noch mehr Rücksicht genommen werden. Wilk plädiert dafür, dass man jede zeitliche Festlegung und erst recht jeden Zeitdruck aus den Gesprächen „herausnehmen“ müsse. Der jetzt 75-jährige Sammler könne ganz sicher sein, dass zu seinen Lebzeiten der gesamte Kunstbesitz bei ihm verbleibe. Erst nach seinem Tod würde das Stiftungsmodell in Kraft treten und einen wesentlichen Teil der Schätze in Holzwickede beieinander halten.

Nach Lage der Dinge werden die Westfalen freilich teilen müssen. Kürzlich hat Brabant dem Landesmuseum an seinem langjährigen Wohnort Wiesbaden einen wertvollen Jawlensky („Helene im spanischen Kostüm“, 1901/02) geschenkt. Wenn das kein Signal ist! Auch Brabants Geburtsort Schwerin soll einmal etliche Bilder erhalten. Keine geringfügige Konkurrenz.




Nichts blieb, wie es war: Herfried Münklers umfassendes Werk über den Ersten Weltkrieg

muenkler
Es hätte ein deutsches Jahrhundert werden können – im positiven Sinn. Ob Wissenschaft, Technik, Medizin oder Industrie: Deutschland nahm 1914 in Europa durchaus eine Vorreiterrolle ein und erfuhr vielfältige Anerkennung.

Verheißungsvoll waren auch die Signale des südlichen Nachbarn, der k.u.k. Monarchie. Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand wollte den einzelnen Nationalitäten mehr Eigenständigkeit gewähren, um auf diese Weise den Vielvölkerstaat in eine sichere Zukunft zu führen. „Wo ist da also das Problem?“, drängt sich als Frage am Vorabend des 1. Weltkrieges auf. Wieso es dann doch zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ kam, um den amerikanischen Historiker George F. Kennan zu zitieren, analysiert der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seinem eindrucksvollen Werk „Der große Krieg“ und geht noch einige Schritte weiter.

Welche Folgen die Jahre 1914 bis 1918 für die Grenzen auf dem Globus hatten, wie die Menschen mit dem unsagbaren Leid umgegangen sind, was der Krieg für die politischen Systeme bedeutet hat und wie sich der Krieg auch als solcher maßgeblich verändert hat, sind Fragestellungen, die für den renommierten Professor an der Berliner Humboldt-Universität zwingend dazugehören, wenn er über den Ersten Weltkrieg schreibt. Schließlich sucht Münkler auch nach den Lehren, die aus dem Waffengang zu ziehen sind, und kommt gerade mit Blick auf die heutige Weltpolitik zu eher ernüchternden Erkenntnissen.

Aber der Reihe nach.

Wer und was hat den Krieg ausgelöst?

Hat nun der deutsche Militarismus, der Kriegsenthusiasmus der Bevölkerung, das Pulverfass Balkan oder die komplizierte Bündnispolitik auf dem europäischen Kontinent den Ersten Weltkrieg ausgelöst? Es spielten nach den Ausführungen von Münkler wohl alle aufgeführten Gründe eine maßgebliche Rolle – in Kombination mit einer Kette unglücklicher Umstände, so banal sich das auch anhören mag. Vor allem lässt sich das über das Attentat von Sarajewo sagen, bei dem der Erzherzog von dem serbischen Freiheitskämpfer Gavrilo Princip erschossen wurde. Zu den widrigen Zufällen gehört unter anderem, dass zunächst eine andere Fahrtroute geplant war, die dem Attentäter überhaupt nicht die Chance auf den Anschlag gegeben hätte.

Indem Münkler aber nicht nur auf die Kausalitäten des Kriegsausbruchs eingeht, sondern auch den Begriff des Militarismus und das Bild eines kriegsbegeisterten Volkes einer kritischen Würdigung unterzieht, entsteht ein sehr differenzierte Betrachtung der politischen Verhältnisse in Deutschland und in Europa. Denn militaristisch waren die Nachbarstaaten auch aufgestellt, macht der Autor deutlich, zum Teil sogar noch stärker.

Sicherlich gab es Strömungen, die einen Krieg herbeisehnten, aber war das die Mehrheit des Volkes? Wenn man aber nun schon in einen Krieg hineingeraten ist, sich dann aber nach wenigen Monaten abzeichnet, dass er nicht zu gewinnen ist, warum hat niemand der Kriegstreiberei ein Ende bereitet, überlegt Münkler. Es war vor allem – nach seinen Forschungsergebnissen – eine sehr eigenartige Personen- und Machtkonstellation, die verhinderte, dass ein Kaiser, dessen Kriegswille bis heute umstritten ist, und ein Kanzler, der bis zuletzt auf Frieden setzte, sich nicht gegen einen Generalstab durchsetzen konnte, der auch nicht in Gänze als kriegslüstern zu charakterisieren ist. Das Verhalten aller Beteiligten, so wie es Münkler beschreibt, erinnert an einen Satz von Karl Valentin, den man wie folgt abwandeln könnte: „Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen habe wir uns nicht getraut“.

Eigentlich gab es nur Verlierer

Am Ende des Krieges gab es zwar offiziell Gewinner, doch nach Ausführungen des Politikwissenschaftlers eigentlich nur Verlierer. Frankreich hatte in Relation betrachtet die meisten Verluste an Soldaten zu beklagen, Großbritannien sein Kolonialreich verloren und Italien das Ziel verfehlt, eine bedeutsame Stellung zu erringen. Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gab es nicht mehr, ebenso wenig das Osmanische Reich, und die neuen Staaten in Südosteuropa entpuppten sich als eher fragliche Gebilde. Deutschland war ein Schatten seiner selbst geworden – mit der Bürde, für den Krieg verantwortlich zu sein.

Der Begriff der Urkatastrophe meint aber noch mehr als eine Verschiebung der Machtverhältnisse und eine neue Landkarte für weite Teile der Welt. Mit den Stellungskriegen, dem Einsatz von Giftgas, Stacheldrahtverhauen, Panzern und Flugzeugen erreichte der Krieg bislang ungeahnte Dimensionen an Brutalität, schreibt Münkler. Überdies musste auch die Zivilbevölkerung in einem Ausmaß Not und Hunger leiden, das man bislang nicht gekannt hatte. Authentizität verleiht Münkler er seinen Schilderungen auch dadurch, dass er unter anderem Schriftsteller wie Ernst Jünger, Thomas Mann oder Arnold und Stefan Zweig zu Wort kommen lässt, die ihre Erlebnisse in Büchern verarbeitet haben.

Waffengänge ohne wirkliches Ziel

Apropos Literatur: Der Politikwissenschaftler befasst sich eingehend damit, wie Schriftsteller der damaligen Zeit den Krieg bewerten und ihm neue Deutungen gegeben haben. Denn ein Kriegsziel sei schon sehr schnell abhanden gekommen, wenn es überhaupt je ein solches gegeben habe, erklärt der Autor. Nach seinen Ausführungen war das die Geburtsstunde der Helden, die in der Schlacht kämpften und an denen sich die Bevölkerung ein Beispiel nehmen sollte.

Eine Zäsur bildete der Erste Weltkrieg schließlich auch, weil die USA sich schon sehr bald als eine Weltmacht gerierten und in Russland ein ganz neues Herrschaftssystem entstand, nicht zuletzt durch deutsche Hilfe. Die Regierung ließ bekanntlich Revolutionär Lenin durchs Land gen Osten reisen, um den Kriegsgegner Russland zu schwächen.

Angesichts der Tragweite, die dem Weltkrieg und seinen Folgen zukommt, ist es mehr als unverständlich, dass in Deutschland die Jahre 1914 bis 1918 nur noch ein Fall für Historiker sind und politikwissenschaftlich keine Relevanz mehr besitzen, wie es Münkler ausführt. Es bietet sich zum Beispiel an, darüber zu reflektieren, ob wirtschaftliche Verflechtungen Kriege verhindern, wie es in aktuellen politischen Debatten häufig zu hören ist. Der Politikwissenschaftler stellt heraus: Auch vor dem Ersten Weltkrieg gab es zwischen den späteren Gegnern intensive ökonomische Beziehungen Und: Der Adel in den Monarchien bestand aus nahen Verwandten.

Herfried Münkler: „Der große Krieg. Die Welt 1914-1918“. Rowohlt-Verlag, 924 Seiten, 29,95 Euro.




„Die Anstalt“: Harte Arbeit an der ZDF-Satire

Es sieht ganz so aus, als wollten sie nicht mehr in erster Linie komisch sein, sondern vor allem (ge)wichtig und relevant. Sie attackieren frontal die Deutsche Bank, sie zeigen gar deutliche Sympathien für Positionen der Linkspartei, als wollten sie die leitenden Herrschaften beim ZDF mal so richtig ärgern. Doch sie spielen auch schon die Illusion mit, die sich darin verbirgt.

Sie, das sind Max Uthoff und Claus von Wagner, die jetzt von Urban Priol und Frank-Markus Barwasser (Pelzig) die Satiresendung des ZDF übernommen haben. Die heißt nicht mehr „Neues aus der Anstalt“, sondern schlichtweg „Die Anstalt“ und hatte heute ihre Premiere.

Neue Chefs in der "Anstalt": Max Uthoff (li.) und Claus von Wagner (© ZDF/Jürgen Nobel)

Neue Chefs in der „Anstalt“: Max Uthoff (li.) und Claus von Wagner (© ZDF/Jürgen Nobel)

Was der Sendung leider fehlt, ist eine wirklich prominente und zugkräftige Leitfigur. Ersichtlich fahrig und hektisch strampelt man sich ab, um den mangelnden Bekanntheitsgrad wettzumachen. Man kokettiert mit der eigenen, mutmaßlich durchschlagenden Wirkungslosigkeit, erklärt die Sendung aber vollmundig für „besetzt“ und träumt nicht nur insgeheim davon, dass das ZDF einem „den Saft abdreht“. Doch dazu besteht vorerst denn doch wenig Anlass.

Gewiss. Man arbeitet sich nicht mehr so sehr parodierend an einzelnen Figuren des Politikbetriebs ab, wie es Urban Priol kräftezehrend vollführt hat. Doch so mancher personalisierende Kalauer (Gauck als „moralische Knautschzone“ usw.) rutscht auch jetzt noch durch. Sei’s drum.

Gewiss. Eine Wut über so manche Verhältnisse (Fernsehprogramm-Elend, Schwulen-Diskriminierung, irrwitzige Banken-Macht, unbarmherziger Umgang mit Flüchtlingen) ist spürbar. Doch das wirkt zum Auftakt noch etwas wahllos gestreut, ja mitunter geradezu diffus – und gelegentlich auch flau und undifferenziert.

Gewiss. Da gibt es den einen oder anderen erhellenden, aufklärerischen Moment. Doch vieles kommt noch herzlich unkomisch und somit flügellahm daher. Der depressive Gestus von Nico Semsrott und der dampfende Zorn von Matthias Egersdörfer setzen immerhin gegenläufige Akzente mit etwas Kontur. Simone Solga steht freilich ein wenig hilflos dazwischen.

Aus der Sendung kann jedoch noch etwas werden, wenn man nach und nach die richtigen Mitstreiter an Land zieht und einen wirklich eigenen Stil entwickelt. Wahrlich keine leichte Aufgabe, diese Kärrnerarbeit an der ZDF-Satire…




Pete Seeger: Die Stimme der Minderheiten und Unterdrückten ist verstummt

Wenn Joan Baez‘ Stimme wie eine Freiheitsglocke mit „We shall overcome“ aus dem Getümmel eines Ostermarsches klang, wenn Bob Dylan elektronisch verstärkt klampfte und sein Vorbild ihm den Stecker rauszog, wenn Bruce Springsteen mit ihm gemeinsam Musik zu Ehren des ersten schwarzen Präsidenten der USA machte und beide offenbar Hoffnungen in Barack Obama setzten – und wenn der große Woody Guthrie nur mit ihm zusammen „The Alamac Singers“ gründen wollte, dann fiel stets sein Name: Pete Seeger, der viel Verstand und Musikalität, politische Integrität, unbeugsamen Widerstandsgeist und das Krächzen seines 5-saitigen Banjos gegen jeden Zeitgeist  setzte, ist im Alter von 94 Jahren in einem Krankenhaus seiner Geburtsstadt New York gestorben.

Er war Soziologiestudent in Harvard, brach aber gelangweilt ab, um sich einer lebenslangen Leidenschaft zu widmen, der Musik seines Heimatlandes. Es begann damit, dass er amerikanischer Volkslieder und Blues aus den Südstaaten sammelte. Und er nahm sein Banjo zur Hand, spielte eigene Lieder und machte die ersten Schritte dorthin, wo er bis zu seinem Tode seine Aufgabe sah: Unterdrückten, Ausgebeuteten und Minderheiten eine laute und allerorts in den USA und darüber hinaus vernehmbare Stimme zu verleihen.

In der Tradition seines Freundes Woody Guthrie wurde er der Großvater der Folkmusik und sah in ihr ein Werkzeug, das gegen Machthaberei und für Bürgerrechte eingesetzt werden konnte. Und seine – heute würde man sie vielleicht „Follower“ nennen – Weggefährten und „Jünger“ tun es ihm nach.

Pete Seeger unterstützte Henry A. Wallace, den demokratischen Präsidentschaftskandidaten von 1949. Vergebens, wie wir wissen, denn statt des integren Wallace kam Harry Truman an die Macht, dessen Intellekt eher als ergänzungsbedürftig anzusehen war. Pete Seeger weigerte sich 1955 standhaft, vor dem Tribunal-Herren McCarthy und dessen „Komitee gegen unamerikanische Umtriebe“ auszusagen, was ihm eine Haftstrafe von 10 Jahren einbrachte; nur eines musste er absitzen. Aber darauf wurde er 17 Jahre lang boykottiert. Kein kommerzielles US-Medienunternehmen wollte ihm mehr eine Bühne geben.

Also schuf er sich selbst seine Öffentlichkeit, gemeinsam mit Theodore Bickel, der mit ihm das Newport Folkfestival auf Rhode Island anregte und zum Leben erweckte. Dort drehte er auch dem jungen Bob Dylan den „Saft ab“, was dazu führte, dass dessen Nuschel-Gesang gar nicht mehr beim Publikum ankam und der arme Kerl ausgebuht wurde. Pete Seeger meinte später kleinlaut, dass er doch nur Bob Dylans Lyrik verständlich werden lassen wollte, die durch die brüllende elektronische Beschallung nicht mehr zu verstehen war.

Bis ins hohe Alter blieb Pete Seeger, übrigens Neffe des Lyrikers Alan Seeger, musikalisch und damit politisch aktiv, hob für den Umweltschutz seine Stimme, stritt stets für Menschenrechte und war zur Stelle, wenn es darum ging, Solidarität mit denen zu zeigen, die geknechtet wurden. Pete Seeger war der Denker, der Philosoph und der sammelnde Bewahrer ganzer Musik- und Musikergenerationen. Die Themen seiner Lieder werden wohl nie ihre Aktualität verlieren. Bye, Pete.




Der Wahnsinn mit dem Fleisch

In den Grundzügen weiß man es ja – und muss doch wohl immer mal wieder daran erinnert werden: Der Beitrag „Schweine für den Müllcontainer“ (3Sat, übernommen vom SWR) führte noch einmal das eklige Elend der heute weithin gängigen Fleischproduktion vor.

Da sah man abermals schockierende Bilder aus der Massentierhaltung; kranke und verletzte Schweine, die unter unerträglichen, widernatürlichen, alles andere als artgerechten Bedingungen in gigantischen Ställen vegetieren. Was ist das nur für ein System, das seine Profite aus solch rücksichtslosem Umgang mit der Kreatur zieht und überdies die Umwelt belastet?

Subventionen für Massenhaltung

Doch nicht nur mit Tierschutz und Ökologie liegt es im Argen. Ein weiterer Strang der aufrüttelnden Reportage zeichnete zudem den ökonomischen Irrsinn nach. Nahezu uferlos fließen Subventionen der EU, von Bund und Ländern zugunsten der Massenhaltung.

Vergleichsweise "glückliches Ferkel" vom Ökohof. Die Wirklichkeit der Mastbetriebe sieht in der Regel ganz anders aus. (© ZDF/SWR/3Sat)

Vergleichsweise „glückliches Ferkel“ vom Ökohof. Die Wirklichkeit der Mastbetriebe sieht in der Regel ganz anders aus. (© ZDF/SWR/3Sat)

Schiere Größe der Mastbetriebe wird ebenso belohnt wie „Marktmaßnahmen“ im großen Stil, sprich: Kühlhaus-Lagerung als künstliche Verknappung, bis die Preise wieder ansteigen. Bezahlt wird das alles von offenbar reichlich vorhandenem Steuergeld…

Was einem keiner erklären kann

Besonders bizarr: In Holland kassieren Großbauern, wenn sie ihre Ställe abreißen. Anschließend ziehen sie in Deutschland neue Riesenställe hoch – ebenfalls mit Subventionen. Das kann einem keiner schlüssig erklären, weder in Brüssel noch in Berlin.

Vielleicht ein wenig zu sehr bewegte sich Reporter Edgar Verheyen quasi am Leitseil von Mitarbeitern des BUND. Doch die Leute vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland sind ja im Prinzip keine schlechten Wegweiser, wenn man ergänzend eigene Recherchen heranzieht.

Überproduktion für den Müll

Und der Titel mit den Müllcontainern? Der Umstand, dass wir in Deutschland inzwischen mit 58 Millionen Mastschweinen pro Jahr eine satte Überproduktion haben und auch daher beinahe ein Drittel des Fleischs (aus Supermärkten, Kantinen, Privathaushalten) im Müll landet, verschlägt einem den Atem. Da läuft etwas rundum und grundsätzlich falsch. Und man kann nicht erkennen, dass die Politik entschieden gegensteuern würde.

Als glaubhafter Kronzeuge gegen die fatale Billigkauf- und Wegwerf-Mentalität wurde ein früherer Fleisch-Magnat aufgerufen: Karl Ludwig Schweisfurth, einst Herr über die Herta-Wurstfabriken mit 5000 Mitarbeitern, ist jetzt Öko-Landwirt, bei dem 150 Schweine mit anderem Getier in fast schon paradiesischer Weise freien Auslauf genießen. Fragen seiner Kinder hätten ihn zur Umkehr bewogen, sagt der heute 83jährige. Doch kann die Idylle seines oberbayerischen Hofes ein Modell für die ganze Gesellschaft sein?




Ein Jahr nach Schließung der Rundschau-Redaktion: Die Folgen schmerzen noch!

Heute ist es genau ein Jahr her: Am 15. Januar 2013 verkündete die Geschäftsführung der WAZ-Mediengruppe (heute Funke-Gruppe) das „Aus“ für die gesamte Redaktion der Westfälischen Rundschau (WR) in Dortmund. Und natürlich sind die Folgen dieser brachialen Entscheidung noch längst nicht ausgestanden; weder die persönlichen noch die (medien)politischen.

Manche Kolleginnen und Kollegen, die damals Knall auf Fall ihren Job verloren haben, sind anderweitig untergekommen, vor allem in Pressestellen; meistenteils unter finanziellen Einbußen, aber immerhin.

Andere versuchen, sich mit Umschulungen oder mit Gründerprojekten aller Art durchzuschlagen – vom Blog über die Spezialzeitschrift bis hin zur eigenen Kneipe. Von glücklichen Einzelfällen abgesehen, dürfte hier die bisherige Gewinn- und Verlustbilanz im Schnitt noch betrüblicher aussehen.

Wieder andere stehen gänzlich vor dem Nichts.

Das schienen noch Zeiten zu sein: Titelblatt-Ausriss einer umfangreichen Sonderbeilage zum 60jährigen Bestehen der Westfälischen Rundschau.

Das schienen noch Zeiten zu sein: Titelblatt-Ausriss einer umfangreichen Sonderbeilage zum 60jährigen Bestehen der Westfälischen Rundschau, erschienen im März 2006.

Mit Gehaltsfortzahlungen gemäß Kündigungsfrist oder auch Abfindungen (von denen die freien Mitarbeiter des Blattes nur träumen können) kann man sich eine Zeit über Wasser halten, aber irgendwann sind auch diese Mittel aufgebraucht. Besonders die Jüngeren sollten dann dringlich einen anderen Weg ins Berufsleben gefunden haben. Dazu kann man nach wie vor nur alles Gute wünschen!

Kein Wunder jedoch, dass die anfängliche Solidarität alsbald an vielen Stellen gebröckelt ist. Zwar trifft und hilft man einander noch hie und da. Doch muss in erster Linie jede(r) sehen, wo er/sie bleibt. Diese leider nur zu verständliche Haltung hat sich schon recht früh abgezeichnet. Man möchte seufzen.

Erst recht hat die Empörung außerhalb der Kollegenschaft nach einiger Zeit spürbar nachgelassen. Man beachte beispielsweise die wachsende Windstille auf den diversen Soli-Seiten im Internet. Die Leute haben ihre eigenen Sorgen.

Obwohl der Umgang mit der WR-Redaktion bundesweit immer noch beispiellos ist, sind seither etliche andere Themen in den Vordergrund gerückt. Auf diesen Vergessens-Effekt hat sicherlich auch die Funke-Geschäftsführung bauen können.

Die Presselandschaft in Dortmund und der Region ist jedenfalls wirklich spürbar verarmt. Beispielsweise haben es die Ruhrnachrichten nicht mehr nötig, mit verstärkten Anstrengungen auf etwaige Konkurrenz zu reagieren. Das schlägt sich nicht nur im gelegentlichen Nachlassen der journalistischen Qualität nieder, sondern generell in den Debatten, die etwa in Dortmund (nicht) geführt werden. Hier kann man studieren, wie ungut sich ein lokales Quasi-Monopol in einer der größten Städte der Republik auswirkt; ein Lehrstück und ein reiches Betätigungsfeld für den Studiengang Journalistik an der örtlichen Hochschule…

Neuerdings war zu lesen, dass Funke-Geschäftsführer Christian Nienhaus, der die Schließung der WR-Redaktion an vorderster Front vorangetrieben und vertreten hat, die Gruppe wohl verlassen wird. Seine Abfindung wird gewiss für alle Lebenszeit reichen.




Geierabend 2014: Schwarzhumor aus der Grube

Flüchtlinge gucken vor Lampedusa. Foto: StandOut

Flüchtlinge gucken vor Lampedusa. Foto: StandOut

Einst war Kabarett relevant. Kabarettisten wie Dieter Hildebrandt kommentierten mit Schärfe die Missstände in Politik und Gesellschaft. Ins Kabarett ging man nicht nur in Erwartung eines bierseligen Schenkelklopf-Abends, sondern durchaus in dem Bewusstsein, dort auf Standpunkte zu treffen, die dazu beitragen können, sich eine (andere) Meinung zu bilden. Solche Kabarettisten gibt es heute immer noch, sicher. Doch sie erreichen längst kein Massenpublikum mehr. Wenn ein Comedian heute Stadien füllt, dann mit flachen Witzen über die Geschlechter und ihren fortwährenden  Kampf, eine offenbar bodenlose Fundgrube.

Umso bedeutsamer ist, dass sich der Dortmunder Geierabend mit seinem aktuellen Programm („Späßchen in der Grube“) dazu entschieden hat, noch konsequenter auf Gegenkurs zu gehen. Die Comedy-Show zum Ruhrpott-Karneval, eine Art Stunksitzung des Reviers, geht in diesem Jahr in ihre 23. Session. Sie hat ihre treue Fan-Gemeinde, und viele warten vor allem auf die Kult-Nummern im Programm: „Die Zwei vonne Südtribüne“, besoffene Fußball-Philosophen, rülpsen ihre Weisheiten über den Sport, den Alkohol und das Leben. „Die Bandscheibe“ (die großartige Franziska Mense-Moritz) widersetzt sich Jahr für Jahr renitent dem Nichtraucherschutz („Wo ich bin, is Raucherecke!“). Die „Hossa Boys“ intonieren mit heiligem Ernst Bierhymne um Bierhymne. Darin sind die „Geier“ um Regisseur Günter Rückert groß; das Ensemble besteht aus versierten und professionellen Kleinkünstlern, Musikern und Comedians, die auch alleine Abende bestreiten können.

"Kimberley, komm vom Gerüst weg": Sandra Schmitz als Hartz 4-Mutti. Foto: StandOut

„Kimberley, komm vom Gerüst weg“: Sandra Schmitz als Hartz 4-Mutti. Foto: StandOut

Es sind jedoch  die Nummern dazwischen, die den Geierabend zu dem machen, was er heute ist: ein relevantes Stück Gegenöffentlichkeit. In einer Zeit, in der ein schwuler Fußballer auf mehr Interesse stößt als Umwelt- oder Abhör-Skandale und in einer Region, die sich überwiegend schon an die Existenz nur einer Zeitung vor Ort gewöhnt hat, holt der Geierabend das Politische auf die Bühne öffentlicher Unterhaltung zurück. Das ist altmodisch, aber heute sogar wichtiger als zu Blütenzeiten des Kabaretts vor drei, vier Jahrzehnten.

Es ist vor allem eine Nummer, bei der einem Großteil des Publikums das Lachen im Halse stecken bleibt: „Eine Seefahrt vor Lampedusa“. In der bitterbösen Satire hat eine Familie eine Seefahrt mit besonderer Attraktion gebucht: Flüchtlinge gucken. Walfische standen schließlich schon im vergangenen Jahr auf dem Programm. „Die hab‘ ich mir viel schwärzer vorgestellt“, sinniert der Vater (Murat Kayi), während das Kind (Sandra Schmitz) quengelt: Es will die über Bord gegangenen Flüchtlinge füttern, am liebsten einen mitnehmen. „Füttern verboten! Du darfst eines herausholen, aber hinterher kommt es wieder ins Wasser!“, mahnt der Kapitän (Roman Henri Marczewski). „Wenn ein Neger vor Lampedusa im Meer versinkt…“, singen die Geier auf die Melodie von „Bella Bella Marie“. Wer sich traut zu lachen, hält plötzlich erschrocken inne.

Hitler und sein Hund Eva. Foto: StandOut

Hitler und sein Hund Eva. Foto: StandOut

Denn politisch korrekt sind wir Deutschen ja – keiner kann das besser beurteilen als „Osman und Yüksel“ (Hans-Peter Krüger, Murat Kayi). „Roma? Wer Sinti?“, fragt der einbürgerungswillige Türke seinen bereits erfolgreich integrierten, ja assimilierten Landsmann. Dieser erklärt seinem Kollegen, wie wichtig die korrekte Wortwahl ist – Eiche rustikal reiche nicht, um ein guter Deutscher zu werden. Was wiederum Unverständnis provoziert: Ayshe rustikal? Am Ende ist man sich einig: Die Deutschen bürgern Türken wohl vor allem aus einem Grund ein: Damit es wieder einen Türken in Deutschland weniger gibt.

Mutti macht die Raute. Foto: StandOut

Mutti macht die Raute. Foto: StandOut

Diese Botschaft kommt in der Nummer „Neujahrsansprache der Kanzlerin“ so zwar nicht vor – dafür wird diese aber gereimt und gesungen. Mense-Moritz ist ein wunderbares Mutti-Double, zurzeit originalgetreu auf Krücken. Und selbst mit denen kann frau die berühmte Raute machen.

Es geht um weiterhin um die NSA und den Luxus liebenden Bischof, das Ende der FDP und die Zukunft des Ruhrgebiets, vegane Ernährung, singende Sauerländer und fliegende Holländer. Doch das bislang heftigste Erregungspotential birgt zumindest den Reaktionen auf Facebook zufolge eine Homöopathie-Nummer: „Der Steiger“ (Martin Kaysh) schluckt Geierabend für Geierabend den Inhalt einer zufällig ausgewählten Flasche Globuli. Ein Menschenversuch auf der Bühne. Auf der Facebook-Seite des Steigers entbrannten bereits engagierte Diskussionen über wahlweise Sinn und Unsinn dieses Experiments sowie der Homöopathie.

Wie geht es heute, das richtige Leben, und wird es durch Homöopathie besser? Das sind Fragen, die die Menschen bewegen – zumindest dazu bewegen, sich zu Wort zu melden. Es wird wirklich Zeit für mehr gutes Kabarett.

Wer es drei Stunden lang eingeklemmt zwischen bestens aufgelegten Mitmenschen auf Bierbänken aushält, dem sei der Geierabend 2014 warm empfohlen.

(Offenlegung: Die Autorin verfasst ab und zu Pressetexte für den Geierabend. Für diesen Beitrag wird sie jedoch nicht bezahlt).




Denkmal der Deutschen, die Demokratie wagen: Willy Brandt wäre 100 Jahre alt geworden

Wir lauschten in einen Bildschirm, auf dem nur eine Person und deren markantes Gesicht zu sehen war, eine Person, die sich anschickte einer der historischen Bundeskanzler dieser Republik zu werden.

Wir, das waren Christine Markhoff, Malte Markhoff, Klaus Mendel und Rosel Linner und ich (das war so ziemlich der Kernbestand der damaligen Schwerter Ruhrnachrichten). Politisch waren wir aus unterschiedlichen Ecken, doch eines einte uns: Wir waren ziemlich gefesselt von dem, was dieser Willy Brandt 1969 als persönliche Botschaft ins Land schickte: „Mehr Demokratie wagen!“

Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt beim Besuch der Dortmunder Zeche Minister Stein am 1. März 1974. (Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt beim Besuch der Dortmunder Zeche Minister Stein am 1. März 1974. (Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Er ist bereits vor seinem Tode am 8. Oktober 1992 sein eigenes Denkmal gewesen, er ist dieses bis heute für seine Partei, die SPD. Im Foyer des nach ihm benannten Hauses der SPD-Zentrale in Berlin steht er als solches, überlebensgroß, in Bronze gegossen, geformt vom Bildhauer Rainer Fetting. Furchig, die personifizierte Weisheit, eine erklärende, mahnende Körpersprache, aber keinen Widerspruch duldend: Willy Brandt eben, der wesentlich härter sein konnte, als sein Weggefährte Herbert Wehner („Der Herr duscht gern lau“) ihm zutraute, der ungeduldiger sein konnte, als seine ruhige Redner-Sprache verriet, der unleidlicher werden konnte, wenn es nicht so ablief, dass es seinen Vorstellungen entsprach.

Ja, ich weiß, dass er als Herbert Ernst Karl Frahm zur Welt kam. Meine Eltern sagten es mir so häufig und meist so abfällig, dass ich eine Zeitlang glaubte, meine Bewunderung gelte einem Menschen, der dem gesunden deutschen Wiederaufbau destruktiv entgegenarbeite. Aber selbst deren, aus Willy Brandts subversiver Nazi-Widerstandsarbeit gespeiste Abneigung wurde im Laufe der Jahre durch dessen (mindestens in der SPD) unerreichtes Charisma weg gehobelt. Die Abfälligkeit ersetzten sie durch einen distanzierten Respekt.

Willy Brandt begleitet mich in Lebensphasen, die für mich einschneidend und entscheidend waren. Ich sah ihn nach dem Mauerbau, als Regierender Bürgermeister war er damals ebenso wehrlos wie unerschrocken empört (ähnlich wie einst sein Vorgänger Ernst Reuter, als der die „Völker dieser Welt“ aufrief, auf Berlin und die Blockade zu schauen). Ich sah ihn, als er US-Präsident John F. Kennedy zuhörte, dessen „Ich bin ein Berliner“ sich in die Erinnerung erschütterten Republik grub. Ich sah und hörte ihn, als er begann, für sein Konzept der Aussöhnung mit Osteuropa zu werben und zu streiten. Ich sehe das legendäre Bild des Kniefalls von Warschau und höre die „Willy, Willy“-Rufe von Erfurt, als die DDR-Bürger pfiffig den Vornamen von Willi Stoph skandierten und keine Konsequenzen fürchten mussten.

Und ist sehe auch heute noch sein bewegtes Gesicht, als die Mauer fiel und „zusammenwachsen sollte, was zusammen gehört“.

Willy Brandt war aus der Ferne ein Wegbegleiter, ein Vorbild, ein Magnet, der mir den Eintritt in eine Partei erleichterte und die Auswahl, welche Partei es sein sollte, beinahe zwingend auf eine fokussierte. Er hat ganz sicher jede Menge Fehler gemacht, er hatte ganz sicher auch persönlich jede Menge davon, aber er hatte für diese Republik einen ganz besonderen Wert. Er konnte Menschen jeden Alters und beinahe jeder politischen Herkunft für eine große und gute Idee begeistern: die Demokratie und ihre Freiheiten, für die es lohnt zu streiten und zu kämpfen.

Ich habe ihm einmal, als ich ganz und gar nicht einverstanden mit seinem Handeln war, einen Brief geschrieben. Das war im Frühjahr 1987, als er die parteilose Margarita Mathiopoulos zur zukünftigen Parteisprecherin küren wollte. Heute sehe ich das so: Wir hatten beide recht. Er, weil er seiner SPD neue Wege erschließen wollte, ich, weil Margarita Mathiopoulos sich später bei einer wirtschaftsliberalen FDP und Herrn Westerwelle besser aufgehoben fühlte. Willy Brandt antwortete natürlich nie, was ich ihm auch nicht übel nahm.

Ich schreibe auch an dieser Stelle nicht, was ich ihm wirklich stets nachtragen werde, was ich insgeheim an meinem Idol ernsthaft zu mäkeln habe. Das wäre in meinen Augen auch klein (von mir) und seiner historischen Bedeutung unangemessen.

Michail Gorbatschow wollte ihn wenige Tage vor seinem Tod unangemeldet besuchen. Willy Brandts Frau öffnete nicht, weil sich Gorbatschow über die Gegensprechanlage mit seinem Namen meldete, und sie das Ganze für einen schlechten Scherz hielt. So kamen die beiden Männer, deren Wege im jeweiligen Heimatland ähnliche Schleifen gehen mussten und Willys politische Vorarbeit Teile des Weges von Michail Gorbatschow pflasterten, nicht mehr zusammen.

Willy Brandt wurde neben Ernst Reuter auf dem Berliner Waldfriedhof Zehlendorf beigesetzt. Zwei große Männer, die für Berlin, die Bundesrepublik und das freie, demokratische Deutschland unbeirrt ihren Traum verfolgten.

Am 18. Dezember 2013 wäre der Mann, für den wir damals „Willy wählen!“ an jede sich bietende Häuserwand pappten, 100 Jahre alt geworden. Und noch immer begleitet er alle die, die noch immer „mehr Demokratie wagen“ wollen, durch den beschwerlichen Alltag.




Was Willy Brandt und Erich Ollenhauer gemeinsam haben

Weil Willy Brandt an diesem 18. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre, werden allerorten sein Wirken und seine Persönlichkeit gewürdigt – auch in diesem Blog natürlich. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat in diesen Tagen aber auch noch eines anderen großen Streiters zu gedenken: Erich Ollenhauer. Er starb am 14. Dezember vor 50 Jahren.

Die beiden sozialdemokratischen Politiker haben außer diesen beiden Daten im Dezember aber noch einiges mehr an Gemeinsamkeiten: Beide arbeiteten zeitweise als Journalisten und begannen ihre politische Arbeit für die SPD in der Weimarer Republik – Ollenhauer nach seiner Buchdruckerlehre in seiner Geburtsstadt Magdeburg seit 1919 als Redakteur der „Magdeburger Volksstimme“, Willy Brandt ab 1927 als Autor ebenfalls in seiner Geburtsstadt für den „Lübecker Volksboten“, allerdings unter dem Klarnamen Herbert Frahm. Den Decknamen Willy Brandt nahm er sich erst 1934.

Beide Politiker waren selbstverständlich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv. Erich Ollenhauer gehörte 1933 bereits dem Parteivorstand der SPD an und ging mit diesem ins Exil, zunächst nach Prag, ab 1938 nach Paris und 1940 nach London. Willy Brandt arbeitete ab 1933 von Oslo aus für den Untergrund, er war damals noch in der SAPD, einer Abspaltung von der SPD.

Erich Ollenhauer wurde 1946 Stellvertreter des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, und als dieser 1952 verstarb, wählte ihn die Partei am 27. September 1952 zum Vorsitzenden. Für den Deutschen Bundestag kandidierte der gebürtige Magdeburger übrigens im Ruhrgebiet, in einem Wahlkreis in Bochum.

Auch Erich Ollenhauer starb während seiner Amtszeit, eben an jenem 14. Dezember 1963, gestern vor fünf Jahrzehnten. Sein Nachfolger im Amt wurde am 16. Februar 1964 Willy Brandt, der damals Regierender Bürgermeister in Berlin war und der zwei Jahre später die Sozialdemokraten in die Große Koalition mit der CDU/CSU führte und der dann zwischen 1969 und 1974 der vierte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war.

In diesen Tagen geht es wieder um eine „GroKo“, und weil die entscheidende Phase des SPD-Mitgliedervotums und der Regierungsbildung auf den gestrigen 14. Dezember 2013 fiel, ging die Erinnerung an den 50. Todestag Erich Ollenhauers wohl etwas unter. Die SPD-Zentrale in Bonn hieß zwar im Volksmund „die Baracke“, aber offiziell trug sie den Namen Ollenhauers. Erst nach dem Mauerfall und dem Umzug der SPD-Führung nach Berlin ging auch dieses Gedenken verloren: Das neue Parteihaus in der Hauptstadt heißt „Willy-Brandt-Haus“.

Hat er doch auch verdient, der unvergessliche Willy.




Willy Brandt: Größer als ein übliches Porträt

Willy Brandts legendärer Kniefall in Warschau am 7. Dezember 1970. (© WDR/Interfoto)

Willy Brandts legendärer Kniefall in Warschau am 7. Dezember 1970. (© WDR/Interfoto)

Eigentlich waren auch 95 Minuten Sendezeit viel zu kurz, um einen Stoff wie „Willy Brandt: Erinnerungen an ein Politikerleben“ (arte) auch nur annähernd zu fassen. Einer wie er sprengt den Rahmen der üblichen Porträts.

Vor allem politische Freunde und journalistische Weggefährten äußerten sich über den großen Sozialdemokraten, der am 18. Dezember 100 Jahre alt werden würde. Es war eine Würdigung ohne Misstöne. Das fiel kein böses Wort über den Porträtierten. Und tatsächlich: Was hat dieser Mann nicht alles erreicht! Und wie sehr fehlen uns heute Politiker von solchem Charisma, von solchem Schrot und Korn. Vor allem die klugen Einschätzungen des langjährigen Brandt-Mitarbeiters Egon Bahr brachten einem die menschliche Seite dieser historischen Gestalt näher.

Wenig originelle Form

Die Machart solcher Porträts ist leider immer ziemlich ähnlich. Da wird von mehr oder minder berufenen Zeitzeugen enorm viel geredet, während die ins Unscharfe geblendeten Hintergrundbilder stets ausgesucht idyllisch (vorzugsweise mit Büchern, Bäumen und Blumen) arrangiert werden. Da würde man sich gelegentlich originelle und mutigere Formen der Darstellung wünschen. Immerhin hatte André Schäfer („Lenin kam nur bis Lüdenscheid“) für seinen Beitrag teilweise rare und aussagekräftige Filmausschnitte aus den Archiven ans Licht geholt.

Von der Schulzeit in Lübeck und der norwegische Emigration reichte der ungeheuer weite Bogen über die Amtszeiten des „Deutschen Kennedy“ als Regierender Bürgermeister von Berlin, als Außenminister (ab 1966) und Bundeskanzler (1969-1974). Dazwischen noch so legendäre Ereignisse wie die Ostverträge, der Kniefall von Warschau und die Guillaume-Affäre. Sehr anrührend war es schließlich zu sehen, wie Brandt den Fall der Berliner Mauer und die deutsch-deutsche Grenzöffnung noch erlebte – ein Ziel, für das er all die Jahre hartnäckig gestritten hatte. Da wehte wirklich der Atem der Geschichte.

Depressionen und Intrigen

Deutlich wurde auch, wie sehr der Politikbetrieb schon damals einen Mann zermürben konnte. Brandts ohnehin vorhandene Neigung zur Depression wurde zunächst von Adenauer (der sich infam über Brandts Namenswechsel und die Emigration empörte) und später vom intriganten „Partei-Freund“ Herbert Wehner gesteigert. Da kann man noch im Nachhinein zornig werden.

Manchmal heißt es ja recht allgemein, der heutigen Politik fehlten überhaupt solche Typen. Doch da gibt es wahrlich Unterschiede. Einem Apparatschik wie Wehner muss man nicht viele Tränen nachweinen, einem beseelten Gestalter wie Willy Brandt schon. Über den jetzigen Zustand der SPD wollen wir in diesem Zusammenhang lieber nicht sprechen.

„Unvollendete Kanzlerschaft“

Vieles konnte nur angerissen werden, dennoch schälten sich zwischendurch immer wieder ein paar schlaglichtartige, prägnante Befunde heraus. Brandt war offenbar einer, der auch nach grandiosen politischen Siegen nie den Triumphator herauskehrte. Fast im Gegenteil: Gerade in solchen Momente konnte er überaus nachdenklich und wie versteinert wirken.

Brandts einstiger Redenschreiber Klaus Harpprecht sprach von einer „Unvollendeten Kanzlerschaft“. Hätte Brandt trotz Guillaume einfach weitermachen sollen? Hätte damals eigentlich FDP-Innenminister Genscher zurücktreten müssen, wie es im Film hieß? Auch darüber gibt es weitaus mehr als eine Meinung.

Übrigens: Wer noch etliches mehr über Willy Brandt wissen will, sollte sich (neben der Lektüre einschlägiger Bücher) für den 13. Dezember im WDR-Fernsehen „Die lange Willy Brandt Nacht“ vormerken. Ab 23.15 Uhr dauert sie über sechs Stunden. Ein typischer Fall für den Recorder.




Serena Frome statt James Bond – Ian McEwans Geheimdienstroman „Honig“

Ian McEwan ist jemand, der noch die wildesten oder auch trockensten Vorgänge im süffig fließenden Plauderton darzustellen vermag, ein Erzähler von hohen Graden der Unterhaltsamkeit. Die gehörige Substanz wird dabei quasi nebenher und subkutan verabreicht.

Diesmal heißt seine Hauptfigur Serena Frome. Die junge Frau stammt aus einem stocknüchternen, stocksteifen anglikanischen Bischfoshaus in der englischen Provinz. Selbst die gesellschaftlichen Bewegungen der 60er Jahre kommen dort nur äußerst gedämpft an. Aus eher unerfindlichen Beweggründen studiert Serena Mathematik, liest aber nebenher wahllos alle möglichen und unmöglichen Romane.

9783257603415

Durch eine ziemlich bizarre Abfolge diverser Liebschaften rutscht sie unversehens in den britischen Geheimdienst MI 5 hinein, als bessere Hilfskraft und „Tippse“. Frauen können dort schon mal gar nichts werden, es herrscht eine undurchdringliche, noch kolonialistisch getönte Herren-Hierarchie. Doch zwischen Pflichtbewusstsein und Verdruss trottet Serena jeden Tag brav ins Büro. Wenn das kein Anti-James-Bond ist! Denkt man aber ans heutige Treiben der Geheimdienste im virtuellen Raum, so ist es fast schon wieder ein bisschen nostalgisch.

Englische Krisen der 70er Jahre

McEwan zeichnet ringsum die gesellschaftlichen Spannungsfelder der 70er Jahre auf sehr lebendige Weise nach – vom traditionellem Cambridge-Milieu bis zum „Swinging London“. Alles noch sehr britisch. Doch gleichzeitig sind derlei Kategorien auch in Auflösung begriffen. Geradezu schlingernd steuert der Roman auf die Jahre 1973/74 zu, die das Königreich mit Energiekrise, Massenstreiks und zeitweise 20prozentiger Inflation in schwere See führten.

Beim Geheimdienst MI 5 bilden sich unterdessen neue Schwerpunkte heraus. Zwar operiert man selbstverständlich noch mit antikommunistischer Stoßrichtung im „Kalten Krieg“, doch wendet man sich auch schon verstärkt gegen den Terror der irischen IRA.

Kulturförderung undercover

Der eigentliche Clou ist aber die Aktion mit dem Codenamen „Honig“: Man legt ein Kulturförderprogramm auf, mit dem insgeheim etwa konservative Schriftsteller finanziell unterstützt werden sollen. Für diesen Nebenschauplatz im Kampf der Ideen hat man auch die Romanleserin Serena auserkoren, die den Autor Tom Haley betreuen soll. Von dem bekommen wir zwischendurch gleich mehrere Kurzgeschichten zu lesen, als hätte McEwan noch reichlich Überschuss in seinem Füllhorn der Einfälle gehabt. Freilich segeln diese Storys auch am Rande der Kolportage daher (was sie im Kontext des Romans umso glaubhafter erscheinen lässt).

Natürlich verliebt sich Serena in Haley. Da gleichzeitig ihr „Ex“ namens Max den Einsatz steuert, kommt Eifersuchts-Würze ins wirre Spiel. Wird Serena etwa verfolgt, wenn sie Haley im Badeort Brighton trifft? Und wer verrät dem „Guardian“ schließlich die Hintergründe des Autorenpreises, den Haley erhalten hat? Ein Schriftsteller mit Kontakt zum Geheimdienst dürfte beim Lesepublikum für alle Zeiten erledigt sein. Ein harter Schlagschatten fällt auch aufs womöglich korrupte Verlagwesen, um nicht zu sagen auf den gesamten Kulturbetrieb.

Doch damit nicht genug. Ian McEwan schuldet dem erfahrenen Leser, der es gern verschachtelt mag, ja noch die kunstreich gewobene Meta-Ebene. Also führt er uns virtuos vor, wie alles vorher Erzählte im anderen Sinne zur ungeahnten Fiktion gerät. Es ist gleichsam die (nicht unbedingt notwendige) Kür zur bravourös erfüllten Pflicht. Vielleicht hat McEwan dabei in erster Linie an literarische Preisrichter gedacht.

Ian McEwan: „Honig“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich. 463 Seiten. 22,90 €.




Heute vor 80 Jahren entstand der Ein-Parteien-Staat der Nazis auch offiziell

Jahrestage sind immer wieder ein Grund zum Nachdenken – zum Beispiel auch dieser 1. Dezember. Heute vor acht Jahrzehnten wurde der Ein-Parteien-Staat in Deutschland, also die absolute Herrschaft der NSDAP, durch ein scheinbar legal entstandenes Gesetz auch offiziell besiegelt.

Als die letzten noch einigermaßen freien Reichstagswahlen vom 5. März 1933 ausgezählt waren, da hatten die Nazionalsozialisten – entgegen ihren eigenen Erwartungen – mit ungefähr 44 Prozent der gültigen Stimmen die absolute Mehrheit verfehlt. Hitler und seine Partei ergriffen daraufhin illegale Mittel: Kommunustische Reichstags-Abgeordnete wurden unter Vorwänden (unter anderem der Reichstagsbrand) verhaftet, und als es im Parlament am 24. März 1933 zur Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz kam, da stimmten nur noch die Sozialdemokraten dagegen. Auch die bürgerlichen Abgeordneten, darunter auch der spätere Bundespräsident Theodor Heuß, gaben Hitler den erwünschten Freibrief und sorgten so für die formal erforderliche Zweidrittelmehrheit.

In der Folge hatte sich das Parlament selbst entmachtet, und alle Parteien außer der NSDAP wurden verboten. Auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter kamen in „Schutzhaft“ oder ins Konzentrationslager, und die SPD-Parteiführung floh nach Prag ins Exil. Nach der Besetzung der Tchechoslowakei durch die deutsche Wehrmacht im Jahre 1938 musste der SPD-Vorstand auch aus Prag flüchten, der Exilort war nun bis zum Kriegsende die britische Hauptstadt London.

Was nach der Machtübernahme zunächst nur aufgrund von Verordnungen oder Einzelaktionen örtlicher SA- und NSDAP-Organen an Verfolgung veranstaltet worden war, das wurde nun zum Jahresende 1933 durch ein scheinbar ordnungsgemäßes Gesetz abgesichert: Adolf Hitler als Reichskanzler unterzeichnete das am 1. Dezember 1933 von der Reichsregierung beschlossene „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ noch am folgenden Tag. Dadurch wurde die NSDAP als „Trägerin des deutschen Staatsgedankens“ definiert, „der Stellvertreter des Führers und der Chef des Stabes der SA wurden per Amt Mitglieder der Reichsregierung“ (Wikipedia). Der Ein-Parteien-Staat, die absolute Diktatur, hatte nun auch einen formalen Rahmen und nutzte diesen auf schreckliche Weise aus.

Bereits am 2. Dezember 1933 wurde das Gesetz im Reichsgesetzblatt Nr. 135 veröffentlicht, und die alliierten Siegermächte hoben es nach dem Ende des Weltkrieges durch das Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 20. September 1945 wieder auf. Das „Tausendjährige Reich“ hatte nur zwölf Jahre gehalten und in dieser Zeit unsäglichen Terror gebracht, nun konnte die Rückkehr zur Demokratie beginnen.




„Willy wählen“ war 1972 ein besonderes Bekenntnis

Wenn wir am 18. Dezember an den 100. Geburtstag des großen Politikers und Menschenfreundes Willy Brandt erinnert werden, wenn wir die entsprechende Sonder-Briefmarke mit dem Bild des Friedens-Nobelpreisträgers aufkleben oder vom Fernsehen an seine Lebensstationen herangeführt werden, dann kommen besonders bei den etwas älteren Mitmenschen wie mir zum Beispiel ganz persönliche Erinnerungen hoch.

Willy Brandt im März 1980 (Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

Als Brandt im September 1972 nach dem gescheiterten konstruktiven Misstrauensvotum gegen ihn als Bundeskanzler die  Vertrauensfrage stellte und diese absprachegemäß verlor, gab es einen sehr emotionalen Wahlkampf. Viele Menschen, auch Nicht-Sozialdemokraten, liefen mit dem rot-weißen Button und dem Aufdruck „Willy wählen“ durch die Lande. Als Student arbeitete ich damals in den Semesterferien nachts in der Druckerei der Münsterschen Zeitung, und dort führten die ovalen Buttons – wie auch in anderen Betrieben – zu scharfen Konflikten, und zwar nicht nur zwischen den Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlicher politischer Präferenz, sondern auch mit der Geschäftsleitung. Politische Dokumentation am Arbeitsplatz sei verboten, die Schildchen müssten verschwinden, lautete die Forderung. Die Schriftsetzer jedoch ließen sich nicht beirren und kamen jeden Abend wieder mit ihren Plaketten am Kittel an ihren Arbeitsplatz, und schließlich ließ man sie doch einfach gewähren.

Die Neuwahlen im November 1972 brachten dann den größten Erfolg für die SPD in ihrer Geschichte. Brandts Partei erhielt 45,8 Prozent der Stimmen und konnte ihre Ostpolitik ungefährdet zu Ende führen. Allerdings hielt der Friede nur zwei Jahre: Der Kanzler stürzte nicht nur über die eigenen Parteifreunde, sondern vor allem über seine naive Wirtschaftspolitik.

Das Ende ist bekannt: Der große Weltökonom und heutige Lieblings-Altkanzler der Deutschen, Helmut Schmidt, übernahm das Ruder. So tief in die Herzen der Menschen wie Willy Brandt eindringen, das konnte er jedoch nie. Als Brandt am 8. Oktober 1992 starb und anschließend in Berlin beigesetzt wurde, da konnte man bei vielen Bürgern echte Trauer spüren. Sie hatten ihn geliebt.




Es ist schwer, sich daran gewöhnen zu müssen: Dieter Hildebrandt lebt nicht mehr

Dieter Hildebrandt ist tot. Er starb im Alter von 86 Jahren in einem Münchner Krankenhaus. So tickert es spiegel.de durch das weltweite Netz. Knapp und nachrichtlich, wie es sich gehört.

Als ich das gerade vor ein paar Minuten wahrnahm, drehte sich der physische Erdball zwar immer noch weiter, aber der Augenblick blieb einfach stehen. Unwirklich, ein Zustand ist eingetreten, an den man sich zwar gewöhnen muss, aber es nicht will, es vorher auch gar nicht wollte, weil im Inneren stets der Gedanke herrschte, dass er ewig Bestand haben werde.

Dieter Hildebrandt, Klaus Havenstein, Jürgen Scheller, Hans-Jürgen Diedrich, Ursula Noack – die Münchner Lach- und Schießgesellschaft und Sammy Drechsel. Nun leben sie alle nicht mehr, die Helden meiner heranwachsenden Zeit. Nur Dieter Hildebrandt schien bis heute in seiner unverwechselbaren Art mit dem Ungesagten das Zutreffende auszusagen, alle Zeiten überleben zu wollen.

Der gebürtige Schlesier und adoptierte Münchner Dieter Hildebrandt bohrte seinen fröhlich-bissigen Humor durch jedes sich nach dem Kriege anbietende Polit-Segment und tat Repräsentanten jeglicher Couleur damit weh, was Politiker und Wirtschaftsführer am meisten peinigen kann – er sprach ihnen öffentlich ab, dass sie ernst genommen werden müssen. Die Spätfolgen ihres Jobs sind allerdings schon gravierend.

Auch wenn ihm bisweilen ein Bannstrahl nach dem anderen um die Ohren flog, er überstand sie alle. Und stammelte sich weiter durch die real existierenden Gesellschaftsformen deutscher Provenienz, ganz im Stile eines Werner Finck, der ihm anscheinend Vorbild war, im Einlassen auf Auslassungen und Wortspielen, die so aus ihm fielen, als ob sie ihm mal so eben einfielen.

Der legendäre Finck trat übrigens im Theater „Die kleine Freiheit“ in München auf, Erich Kästner schrieb an den Programmen und Dieter Hildebrandt war wesentlich dafür verantwortlich, dass das Publikum es bequem hatte – als Platzanweiser. Ganz so eine Nachkriegskarriere, die ihn in Höhen führte, dass alle, die politisches Kabarett nach ihm lebten, an seinem Können gemessen wurden.

Das Folgende ist nur wirklich meine Ansicht, mein liebevolles, an einem großen Künstler und klugen Menschen Festhaltenwollen: Sie können sich allesamt bemühen, solange und so viel sie wollen, niemand wird so hinreißend und lustvoll je wieder sprachlich und mimisch die Kaste karikieren, die meint, diese Republik lenken zu wollen.

Mit Dieter Hildebrandt starb ein Mensch, den ich leider nie persönlich kennenlernen durfte, aber der mir so häufig aus dem Herzen sprach, dass ich heimlich vermutete, er und sein aufrechter Menschengang müsse einfach zu mir gehören. Ade, Dieter Hildebrandt!




Politiker mit Widersprüchen: Buch lenkt den Blick auf die menschliche Seite von Willy Brandt

Die Willy-Welle schwappt durch das Land, unter anderem Spiegel, Stern und Zeit haben ihm ausführliche Rückblenden gewidmet. Der 100. Geburtstag von Willy Brandt am 18. Dezember ist auch der Anlass für die Neuauflage der Biographie von Gregor Schöllgen.

„Eine Annäherung“ wäre für das Buch des renommierten Professors für Neuere Geschichte an der Uni Erlangen wohl der treffende Untertitel, schaut der Autor doch vor allem auf den Menschen Willy Brandt mit allen seinen Widersprüchen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Schöllgen, der den Nachlass des Friedensnobelpreisträgers von 1971 mitherausgegeben hat, legt hier keine Homestory vor. Er zeichnet vielmehr den Lebensweg des langjährigen SPD-Politikers nach, einen Weg, auf dem Siege und Niederlagen, Höhen und Tiefen meist ganz nah beieinander lagen.

schoellgen

Dabei war es wohl, wenn man den Ausführungen Schöllgens folgt, die menschliche Seite Brandts (der durchaus das Leben zu genießen wusste), die zu seiner Popularität maßgeblich beitrug. Aber es war auch die Achillesferse. Sehr deutlich arbeitet der Geschichtswissenschaftler heraus, dass Brandts Rücktritt 1974 keine zwingende Konsequenz aus der Guillaume-Affäre darstellte, sondern der Kanzler politisch müde, gesundheitlich angeschlagen und von Gegnern bedrängt das Amt aufgab.

Intimfeind Herbert Wehner

So sehr der Intimfeind, SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, an Brandts Sturz mitgewirkt haben mag, so kann man aber auch nicht übersehen, wie massiv den Sozialdemokraten die Strapazen, die die Aufgaben als Regierungschef mit sich brachten, und die ständigen Quengeleien in Fraktion und Koalition ihm zugesetzt hatten. Schöllgens Schilderungen lassen das Bild vom allzu schnell verglühten Stern am Polithimmel aufkommen, der mit dem zweiten Wahlsieg 1972 eigentlich schon seinen Zenit überschritten hatte.

Ein neuer Stil, weltoffen, modern und diskussionsfreudig, hatte mit ihm und seiner Frau Rut Einzug gehalten in das politische Bonn Ende der 60er Jahre. Trotz des positiven Echos, das dem Paar gegönnt war, ist Brandt selbst aber nie wirklich in Bonn heimisch geworden.

Sehnsucht nach Berlin

Mit Wehmut dachte er häufig an die Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin zurück, wo er sich eins fühlte mit der Bevölkerung und diese ihn hochachtete. In der geteilten Stadt gründete sich eine Popularität nicht zuletzt auf sein Verhalten beim Mauerbau. Er stand zu den Berlinern, als diese sich von Kanzler Adenauer und den Westmächten im Stich gelassen fühlten. Neue Pfade hatte Brandt aber auch in Berlin beschritten. Er setzte auf eine vorwärtsgewandte SPD, die sich zum einen mit den Realitäten des geteilten Deutschlands abfinden und zum anderen nicht mehr nur als Arbeiterpartei verstehen sollte. Seine Wahlkämpfe waren von Anleihen in der amerikanischen Politik geprägt, gezielt wusste er sein Familienleben in Szene zu setzen und für seine Zwecke zu nutzen.

Jemand wie Brandt reizte folglich zum Widerspruch – auch und gerade in den eigenen Reihen. Die Stärke des Buches liegt vor allem darin, diese Konfliktlinien sehr deutlich herauszuarbeiten. Die Partei wusste, was sie an ihm hatte, und für ihn, der nach heutigen Maßstäben in einer Patchwork-Familie aufwuchs, erfüllte die Partei eine Ersatzfunktion familiärer Art. Sein Redetalent, seine Schreibbegabung (als gelernter Journalist), seine Fähigkeit, „mit Menschen zu können“, brachten ihm viele Sympathien und anfänglich auch den Rückhalt von Wehner ein, der immer mehr von ihm ließ, als vermeintliche Schwächen sich bemerkbar machten. Zu einer echten Versöhnung sollte es auch später nicht mehr kommen, anders beim innerparteilichen Kontrahenten Helmut Schmidt, mit dem er sich in den letzten Lebensjahren zumindest aussprach.

Schwieriges Verhältnis zur SPD

Das Verhältnis zwischen Brandt und der SPD war längst nicht durchgängig entspannt. Beispielhaft steht dafür die Haltung des Vorsitzenden zum Nato-Doppelbeschluss und die Proteste Anfang der 80er Jahre.
Partei hin oder her, sind mit dem Namen Willy Brandt aber nicht viel mehr Ereignisse wie der Kniefall von Warschau, der Tag von Erfurt oder sein Slogan „Mehr Demokratie wagen“ verbunden? Wo bleiben sein Engagement als Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen oder der Nord-Süd-Kommission? Das alles sind, daran lässt Schöllgen keinen Zweifel aufkommen, Marksteine im politischen wie auch persönlichen Leben des Sozialdemokraten.

Wer Brandt aber verstehen möchte, der muss seinen Werdegang von Beginn an nachvollziehen. Dazu gehört die kleinbürgerliche Welt in der Geburtsstadt Lübeck, was keineswegs despektierlich zu verstehen ist, dazu gehört vor allem auch sein Exil in Norwegen und Schweden, als er vor den Nazis flüchtete. Die Jahre sollten Stoff liefern für Diffamierungen und Verleumdungen, unter anderem machte man ihm zum Vorwurf, mit der Sowjetunion kollaboriert zu haben. Verbindungen hätten zwar in Ansätzen existiert, aber nach dem Überfall Hitlers auf die UdSSR sei er da keineswegs allein gewesen, unterstreicht der Autor. Die immer wiederkehrenden Anwürfe gegen den Sozialdemokraten lassen nach den Worten von Schöllgen vor allem übersehen, dass Brandt sich politisch gegen die Nazis engagierte und der Widerstand in Deutschland sehr wohl den Kontakt zu ihm gesucht habe.

Frauengeschichten nur Nebensache

Widersacher, die ihm das Leben schwer machen, hat Brandt zur Genüge erlebt, doch auch er wusste auszuteilen, beispielsweise, als die Teilung Deutschlands überwunden war. Von Oskar Lafontaine, den er zunächst protegierte, wandte er sich enttäuscht ab, als der die Einheit Deutschlands mit großer Skepsis betrachtete.

Ist Brandts Biographie eigentlich unvollständig erzählt, wenn man die Frauengeschichten weglassen würde? Wurden sie ihm nur angedichtet, um ihn zu Fall zu bringen? Schöllgen stellt hier eher Aussage gegen Aussage und lenkt, und da ist man als Leser auch nicht befremdet, den Blick auf die Lebensleistung des Sozialdemokraten.

Sein eigenes Leben hat Willy Brandt vor allem durch Schreiben verarbeitet und so viele Bücher veröffentlicht wie kaum ein anderer Politiker des 20. Jahrhunderts. Es wurde aber auch über kaum einen anderen so viel geschrieben wie über den Mann, mit dem die SPD erstmals einen Kanzler stellte, der zwei Mal in dieses Amt gewählt wurde, der drei Mal verheiratet und Vater von vier Kindern war. Schöllgen gibt einen Überblick über die Literatur und ordnet sie ein – auch das ist eine lesenswerte Orientierungshilfe.

Gregor Schöllgen: „Willy Brandt. Die Biographie“. Berlin Verlag. 336 Seiten. 19,99 Euro.




Mythos Kennedy: Wie gut, dass man nicht alles wusste

Am liebsten würden uns TV-Beiträge wie „Kennedy – Das Geheimnis der letzten Tage“ (ZDF) wohl direkt vors Schlüsselloch der Weltgeschichte setzen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Und gar manches muss Spekulation bleiben. Aber gerade so entstehen Legenden.

Eins steht allerdings für so ziemlich alle Zeiten fest: Wer immer damals schon bei wachem Bewusstsein war, für den ist Kennedy bis heute ein Mythos geblieben. Dieser strahlende, offenbar so kraftvolle US-Präsident, der der (westlichen) Welt so viel Hoffnung gegeben hat. Diese Ikone der frühen 60er Jahre – und dann sein tragischer Tod…

Sexsüchtig und ernsthaft krank

Nicht erst jetzt, fast genau 50 Jahre nach den tödlichen Schüssen von Dallas (22. November 1963), wissen wir leider etwas mehr. John F. Kennedy war ein geradezu sexsüchtiger Präsident, dem man rund 2000 (!) Affären nachsagt. Seinerzeit war das Thema für die Presse tabu. Heute sagt Mimi Alford, damals 19jährige Praktikantin im Weißen Haus, sie habe im Schlafzimmer der First Lady Jackie Kennedy ihre Unschuld verloren.

Offenbar strotzend vor Kraft: John F. Kennedy bei seiner Ankunft im Weißen Haus am 19. Januar 1961. (© ZDF/Abbie Rowe)

Offenbar strotzend vor Kraft: John F. Kennedy bei seiner Ankunft im Weißen Haus am 19. Januar 1961. (© ZDF/Abbie Rowe)

In Annette Harlfingers Film für die historische Reihe ZDFzeit wurden solche pikanten Befunde noch einmal weidlich, um nicht zu sagen genüsslich ausgekostet. Die Zeitzeugen-Befragungen waren mal wieder purer Standard, sie scheinen seit Jahr und Tag immer nach demselben Muster gefertigt zu werden.

Fatales Stützkorsett

Auch blätterte man abermals in der Krankenakte von JFK: Der Mann habe schon in seinen Zwanzigern an einer schweren Darmkrankheit gelitten, später kamen gravierende Nieren- und Rückenleiden hinzu. Mit Amphetamin-Spritzen („Speed“) wurden seine chronischen Schmerzen bekämpft. Er war also quasi drogenabhängig.

Mit Mitte 50, so mutmaßt man, wäre Kennedy an seinen Leiden höchstwahrscheinlich gestorben. Zeitweise ging er an Krücken, zudem trug er unterm Anzug ein Stützkorsett, das ihn fatalerweise aufrecht hielt, als die tödlichen Schüsse von Dallas fielen. So konnte er sich nicht wegducken.

Bewegende Trauer der US-Bürger

Wie gut, dass wir all das damals nicht einmal geahnt haben. Wir hätten uns in der Kuba-Krise noch viel mehr Sorgen gemacht als ohnehin schon. Und die Sowjets wären sicherlich viel dominanter aufgetreten.

Für eine wirklich fundierte Analyse war der Film zu kurz, er geriet hin und wieder ins ungute Hecheln. Die nachdrücklichsten Aufnahmen, noch heute ungemein bewegend, waren jene, die die tiefe und aufrichtige Trauer der US-Bürger nach dem Attentat zeigten. Da starb auch viel vom Optimismus einer Nation.

Der hohe Preis der Offenheit

Den zahlreichen Verschwörungstheorien, die über den Mord von Dallas kursieren, saßen die Filmemacher immerhin nicht auf. Während damalige US-Bodyguards sich bis heute mitschuldig fühlen, meinte ein deutscher Experte, nach Lage der Dinge habe Kennedy selbst einen hohen Preis für seine sträflich offenherzige Wahlkampftour durch Texas bezahlt.

Ausdrücklich bestand Kennedy (trotz mancher Warnungen und Drohungen) darauf, im offenen Wagen zu fahren, um dem Volk nahe zu sein. Die Personenschützer hatten derweil strikte Anweisung, sich zurückzuhalten und auf Abstand zum Präsidenten zu gehen. Was will man da machen?




Wird der Karneval von alltäglicher Realität nicht längst überholt?

Irgendetwas war anders heute Morgen, am Montag. Das Wetter strahlte über alle vier Backen, gute Laune am Firmament. Das machte mir schon mal ein wenig bessere Stimmung, so ganz allgemein, zum Montag. Und dann wimmelten eigentümliche Menschen umher, liefen ausgelassen lachend durch die Hagener Bahnhofshalle.

Da war eine weibliche Antwort auf Jack Sparrow, da sah ich eindeutig den Zwillingsbruder von Bert Wollersheim aus Düsseldorf, der daselbst seit Jahren rotbeleuchtete Etablissements managt. Da waren auch Cowgirls in ledernen Chaps oder Scheichs in blütenweißer Kleidung. Merkwürdig, dachte ich, und tappste durch den sonnigen Vormittag zum Bahnsteig.

Karneval

Und dann fiel es mir doch wie Schuppen aus den Haaren: Klar, es ist November, es ist der 11. dieses Monats und es würde in wenigen Stunden die Uhrzeit 11.11 Uhr nahen und damit der Beginn der ganz besonderen Jahreszeit, namentlich im Rheinland, wohin es die meisten vermummten Zeitgenosssinnen und –genossen heute Morgen zog. Der Karneval  drängt sich unaufhaltsam auf. Ins Rheinland drängten sie, die mummenschanzenden Zeitgenossen, dass sie der besonderen Kultur daselbst die Ehre erweisen. Tätä, Tätä, Tätä, Bumm, Bumm!

Zugegeben, alles zugegeben: Ich neige ja dazu, den kabarettistischen Wert dieser Jahreszeit immer mehr in Frage zu stellen, weil die Wirklichkeit alles einzuholen pflegt, was an temporärer Narretei so angeboten wird. Realsatire ist noch das Beste, was dabei heraus kommt. Realschwachsinn ist wesentlich häufiger vertreten. Realdummheit ist die durchschnittliche Ausprägung des närrischen Alltags.

Nehmen wir beispielsweise Gesellschaftsforscher, die herausgefunden haben, dass die geneigte Öffentlichkeit dem Uli Hoeneß einen Teil seiner Ehre abgeschnitten hat, als sie dem geständigen Steuerbetrüger kein Grundvertrauen mehr entgegen brachte. Nehmen wir die deutschen Topmanager, die wie eine Mauer hinter dem Uli stehen und ihn als Vorsitzenden des Aufsichtsrates bei Bayern München für unverzichtbar erachten.

Nehmen wir weiter diverse Zukunftsentscheidungen fleißiger Politiker, die heute schon erkennbar auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger gehen und zahlungskräftige Unternehmen schonend kosen, weil die ja dringend erkennen müssen, dass es ein Standortvorteil ist, in Deutschland die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausmisten zu dürfen.

Nehmen wir zudem die Weitsicht des weltläufigen Managements, sich durch Steuerzahler einen Teil der eigenen Gewinne bezuschussen zu lassen, oder auch – wie im Falle der Banken gern so geübt – die selbstverschuldeten Verluste.

Und so hockte ich mich aufwärmend im Zug und fand für mich heraus, dass es seit geraumer Zeit keines Karnevals bedarf, weil der Alltag so viel Unfug produziert, dass jedermensch sich ständig auf die Schenkel klopfen kann.

Kanzlerin Merkel: PKW-Maut – mit mir nicht. Kanzlerin Merkel: Verhandeln wir doch mal über die PKW-Maut in den Koalitionstastereien mit der SPD.

Bayerns Ministerpäside Seehofer: Steuererhöhungen, mit mir nicht. Bayerns Ministerpäside Seehofer: Verhandeln wir doch mal das Thema Steuererhöhungen doch erstmal in den Koalitionstastereien mit der SPD.

Tätä, Tätä, Tätä, Bumm, Bumm!




Das süßliche Werben um die SPD – Günther Jauchs Talkrunde über Koalitionen

Das aktuelle Ringen um Koalitionen war diesmal Talk-Thema bei Günther Jauch – und er hatte auch eine Schlüsselfigur zu Gast, nämlich die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), die eine Große Koalition mit CDU/CSU sehr skeptisch sieht, aber auch nicht ausschließen mag.

Warum denn auch? Erst einmal verhandeln und schauen, welche eigenen Inhalte durchzusetzen sind. So lautet die vernünftige Devise.

Talk-Moderator Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Talk-Moderator Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Wer auch immer da geglaubt haben mag, Frau Kraft würde vorzeitig eine deutliche Tendenz erkennen lassen, der wurde naturgemäß enttäuscht. Gottlob wird Politik immer noch nicht in solchen Fernsehrunden gemacht. Allenfalls springt die eine oder andere (meist kurzatmige) Nachricht dabei heraus.

War Politik früher ehrlicher?

Immerhin wurde klar, dass Vertreter der Union um die Mitwirkung der Sozialdemokraten werben. Umweltminister Peter Altmaier (CDU) und der sympathisch entspannte CSU-Altvordere Theo Waigel säuselten geradezu süßlich in Richtung der SPD. Waigel sprach von einer „stolzen Partei“, die sich nun der Verantwortung fürs ganze Land stellen müsse, Altmaier lobte den fairen Wahlkampf ohne persönliche Angriffe. Es herrschte offenbar eitel Harmonie zwischen den Volksparteien. Zumindest an der Oberfläche. Eigentlich schade, dass kein Grünen-Politiker zugegen war.

Die Runde wurde erweitert durch Bernhard Bueb (früherer Leiter der Eliteschule in Salem), der sich am Eindruck geradezu festbiss, die heutigen Politiker seien unehrlicher als früher. Dass der stocksteif und bierernst wirkende Mann ausgerechnet das florierende deutsche Kabarett zum Zeugen für seine schmale These anrief, war indes unfreiwillig komisch.

Ein unvermeidlicher Gast

Leider saß auch mal wieder der in politisch angehauchten Talkshows schier unvermeidliche Journalist Michael Jürgs dabei. Eigentlich hatte man längst gehofft, dass es in Talk-Redaktionen eine gewisse Sperrfrist für Leute gibt, die sich dermaßen oft im Sessel gelümmelt haben. Kurzum: Jürgs kann mal eine längere Pause vertragen. Vielleicht sollte er mal einen schönen Urlaub machen.

Der von Bernhard Bueb beklagten Entpolitisierung der Gesellschaft wurde jedenfalls in der Einleitung kräftig Vorschub geleistet. Günther Jauch wurde nicht müde, die „Sondierungen“ vor etwaigen Koalitions-Verhandlungen als strategisches „Spiel um die Macht“ und gar als eine Art Variante des Doppelkopf-Kartenspiels darzustellen. Nun gut: Irgendwie musste er sein Thema ja populär „verkaufen“.

Die Perspektive von Wanne-Eickel

Geradezu dümmlich aber waren die Einspielfilmchen, die Hannelore Kraft quasi den Blickwinkel einer Lokalfürstin aus Wanne-Eickel unterstellten und darin der Wochenzeitung „Die Zeit“ (Überschrift: „Geistiger Ruhrpott“) blindlings folgten. Andererseits wurde bereits geraunt, dass es eines Tages zum Kanzlerinnenduell Merkel kontra Kraft kommen werde. Doch auch dazu muss man kein großer Prophet sein.

Einen Fauxpas leistete sich Günther Jauch übrigens noch ganz zum Schluss. Direkt nach der Einblendung von „Tagesthemen“-Moderator Thomas Roth, der unter anderem ein wenig Bundesliga-Spannung verhieß, verriet Jauch zumindest tendenziell das (allerdings schon weithin bekannte) Resultat eines der Sonntagsspiele. Sonderlich kollegial war das trotzdem nicht.

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„Neues aus der Anstalt“: Abschied mit Wehmut

So. Das war’s. Jetzt hat das deutsche Fernsehen vorerst keine Kabarettsendung mehr, die diesen Namen verdient. „Neues aus der Anstalt“ mit Urban Priol und Frank-Markus Barwasser (alias Erwin Pelzig) ist Geschichte.

Wirklich schade. Man wird sie vermissen. Rund sieben Jahre und 62 Sendungen lang haben sie tapfer die Stellung gehalten. Zum Schluss und so kurz nach den Bundestagswahlen haben sie – zwischen gepackten Koffern und Umzugskartons – noch einmal einiges aufgeboten. Beim Abschied kehrte der grandiose Georg Schramm zurück, der allerdings inzwischen weit übers bloße Kabarett hinaus zu sein scheint.

Der Ernst des Georg Schramm

Schramm hat inzwischen leider nicht nur dem Fernsehen, sondern auch Live-Auftritten vor kleinerem Publikum abgeschworen. Er wirkte denn auch ernst und überhaupt nicht „lustig“ im landläufigen Sinne. Aber jeder seiner Sätze über die „Drogendealer“ der Wirtschaft regt zum Nachdenken an. Schramm lässt prägnante Fakten vom Krieg der Reichen gegen die Armen sprechen – und da läuft es einem kalt den Rücken herunter.

Urban Priol (li.) und Frank-Markus Barwasser in "Neues aus der Anstalt" (© ZDF/Tobias Hase)

Urban Priol (li.) und Frank-Markus Barwasser in „Neues aus der Anstalt“ (© ZDF/Tobias Hase)

Auch Volker Pispers zählt auf seine Weise zu den Besten der Zunft. Er zergliederte die deutsche Sehnsucht nach einer Königin-Mutter („Queen Mum(m)“), die von Angela Merkel nahezu perfekt bedient werde. Von Politik hält die Frau eigentlich gar nichts, aber sie ist eben furchtbar gern Kanzlerin…

Den Laden zusammenhalten

Neben solchen Größen muss sich Urban Priol schon ziemlich anstrengen. Wie hat er sich all die Jahre an der Kanzlerin abgearbeitet – und nun dieses Wahlergebnis nahe der absoluten Mehrheit! Da bleibt ihm nur die Freude am Schicksal der FDP. Priol ist ein anderes Kaliber als Schramm und Pispers, doch als allzeit aufgeregter, ja geradezu elektrisierter „Herbergsvater“ (oder eben Anstaltsleiter) auch eine Figur von eigenen Graden. Er hat den Laden zusammengehalten.

Ganz zu schweigen vom feinsinnigen Frank-Markus Barwasser, der diesmal mit Schramm ein geradezu philosophisches Gespräch über den Unterschied zwischen Lügnern und Verlogenen führte. Und Hausmeister Jochen Malmsheimer? Nun gut, der musste immer mal wieder seine etwas erkünstelten sprachlichen Finessen vorführen. Ein knorriger Kerl wie ein Baum, der sich schon mal in sein eigenes Reden vernarrt. Ein Gegensatz in sich. Auch er gehörte dazu.

Ritterschlag von Hildebrandt

Die wirklich großen Zeiten des Fernseh-Kabaretts („Lach- und Schießgesellschaft“, „Stachelschweine“) sind freilich schon lang vorbei. Doch es war bezeichnend, dass der große Altvordere Dieter Hildebrandt den Leuten um Priol die Ehre erwiesen hat und gelegentlich als amüsierter Zuschauer oder gar als Mitwirkender zugegen war. Es war wie ein Ritterschlag.

Man kann nur hoffen, dass im ZDF oder sonstwo etwas Gleichwertiges nachfolgt. Doch ich habe da so meine Zweifel.

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Der Wahlabend im Fernsehen: Diese gut geölte Maschinerie könnte ewig laufen

Ganz ehrlich: Ich mag jetzt erst einmal keine Balken-, Torten- und sonstigen Diagramme mehr sehen. Wer sich gleichfalls ab 17 Uhr den ganzen Abend mit der Wahlberichterstattung im Fernsehen um die Ohren geschlagen hat, der weiß, wovon ich rede.

Es waren schon prägnante Nachrichten, die dabei herauskamen: CDU/CSU bundesweit zumindest in Reichweite der absoluten Mehrheit, die FDP erstmals seit 1949 nicht mehr im Bundestag. Doch ob und wie es zu Koalitionen kommt, ist sowohl im Bund als auch in Hessen (die Landtagswahl ging im Trubel beinahe unter) einstweilen unklar. Wird es Schwarz-Grün, gibt es eine Große Koalition? Wir werden es erleben.

In der Obhut von ARD und ZDF

An solchen Tagen bin und bleibe ich in der Wahl der TV-Programme konservativ und begebe mich – wie seit jeher – vor allem in die Obhut von ARD und ZDF. Von etwaigen Sympathien oder Abneigungen mal ganz abgesehen, haben die einfach die meisten Leute im Einsatz (was freilich nicht unbedingt in Qualität umschlagen muss).

Für die ARD im Einsatz: Ulrich Deppendorf und Caren Miosga (Archivbild: © ARD-Hauptstadtstudio/Axel Berger)

Für die ARD im Einsatz: Ulrich Deppendorf und Caren Miosga (Archivbild: © ARD-Hauptstadtstudio/Axel Berger)

Tatsächlich machten die Teams unter Leitung von Caren Miosga, Ulrich Deppendorf und Zahlenjongleur Jörg Schönenborn (ARD) sowie Bettina Schausten und Theo Koll (ZDF) ihre Sache nach den üblichen Maßstäben recht ordentlich. Größere Pannen waren nicht zu verzeichnen. Ironie hin, Sarkasmus her – da sind schon routinierte Profis am Werk. Im akuten Stress eines solchen Wahlabends muss man erst einmal dermaßen die Übersicht behalten.

Die Grenzen der Vergnügungssucht

Übrigens wirkte auch Peter Kloeppel (RTL) diesmal, anders als kürzlich beim Merkel-Steinbrück-Duell, ziemlich souverän und locker. Freilich schaltete sich sein Sender später ins Geschehen ein und verließ die Wa(h)lstatt auch deutlich früher. Schon bald verlegte man sich zudem aufs leicht schrill angehauchte „Menscheln“. Das Zappen zu Phoenix, N-TV und N24 habe ich mir denn doch erspart. So vergnügungssüchtig war ich nun auch wieder nicht.

Allerdings ist die Routine auch allseits das Problem. Man absolviert die immergleichen Rituale. Ein paar neue Formen täten sicherlich gut. Außerdem zeigten sich auch bei den Öffentlich-Rechtlichen wieder die ebenfalls üblichen, ziemlich grundsätzlichen Schwächen: Immerzu lockt die Versuchung, das politische Geschehen gnadenlos zu personalisieren und auf ziemlich simple Begriffe herunterzudimmen. Bei ARD und ZDF war man sich immerhin bewusst, dass man es mit griffigen Formeln wie „Stinkefinger“, „Raute“, Halskette und „Veggie Day“ zuletzt etwas übertrieben hat. Doch man kann nicht ganz davon lassen.

Als die Hochrechnungen sich erst einmal stabilisiert hatten, schnurrte bei den großen Anstalten die volle Routine der gut geölten Maschinerien ab. Das Ganze geriet in einen Selbst- und phasenweise auch Leerlauf, als hätte es (selbst noch nach „Elefantenrunde“ und Jauch-Talk) schier endlos so weitergehen sollen.

„Erst einmal in Ruhe analysieren“

Auch die Politiker sagen halt das, was sie bei solcher Gelegenheit immer sagen: Erst einmal Dank an alle Helfer und Wähler. Erst einmal das Endergebnis abwarten. Erst einmal mit den Gremien sprechen. Erst einmal in Ruhe analysieren. In den nächsten Tagen werden wir mehr wissen. Gottlob wird die eigentliche Politik nicht im Fernsehen gemacht.

Derweil gieren die Fernseh-Journalisten (nicht minder eitel als manche Politiker) stets nach neuen Personalien und hätten am liebsten schon heute verkündet, dass ab morgen Jürgen Trittin als Vizekanzler antritt oder Christian Lindner neuer FDP-Chef wird. Doch auch diese Herrschaften lassen sich natürlich nicht aus der Reserve locken. Warum auch?

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Krieg im Eigenheim: Rimini Protokoll bei der RuhrTriennale

Wie erleben wir Krieg? Im Autoradio, wenn berichtet wird, dass Obama den Militärschlag gegen Syrien vorbereitet. Im Fernsehen, wenn wir Szenen sehen aus dem Sudan, aus Gaza, aus Afghanistan. Doch wissen wir wirklich etwas von den Menschen, die das Kriegshandwerk betreiben und von ihren persönlichen Lebensumständen? Können wir uns in das Schicksal von Opfern und Flüchtlingen hineinversetzen?

Die Theatergruppe Rimini Protokoll hat jetzt bei der Ruhrtriennale mit „Situation Rooms“ ein Projekt realisiert, das die Organisation des Krieges bis zu einem gewissen Gerade erfahrbar macht. Das die Planspiele, Kalküle, Geschäfte und technischen Voraussetzungen beleuchtet, indem die Biographien von Menschen erlebbar werden, für die Krieg Alltag, Beruf, Schicksal oder die Aussicht auf einen fetten Gewinn ist.

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Zugegeben, ich war ein wenig skeptisch, als ich mich mit den 19 anderen Besuchern des Abends in der Turbinenhalle in Bochum versammelte und auf ein zusammengezimmertes Haus mit vielen nummerierten Türen blickte, das wie ein Bühnenbild der Volksbühne wirkte: Tasche einschließen, Pfand abgeben, Kopfhörer aufsetzen und i-Pad am Stil in die Hand nehmen. Bitte an Tür 6 aufstellen und sobald der Film losgeht, den Anweisungen auf dem Bildschirm folgen, der würde mich dann durch Villa Wahnkrieg führen.

Hilfe, bin ich jetzt Duke Nukem? Muss ich gleich einen Waffenhändler küssen? Schlimmer: Ich werde selbst zum Waffenproduzenten. Zu einem, der im gemütlichen Schweizer Akzent die Vorteile seiner Präzisions(mörder)geräte darlegt und mich im Rundgang durch seine Firma an einer Werkbank vorbeiführt, wo die Familienfotos des Mechanikers hängen.

Doch kurz darauf wechsele ich die virtuelle Rolle, setze den Schutzhelm auf und berichte als dpa-Kriegsfotograf, wie vielleicht jenes maßgefertigte Schweizer Gewehr den Rebellen tötet. Da das Haus der Realität viele Zimmer hat und die Beziehungen ihrer Bewohner verschlungen sind, liege ich eine Viertelstunde später angeschossen (keine Angst, Blut fließt nur auf dem i-Pad) auf einem syrischen Balkon und muss vom Arzt ohne Grenzen im Feldlazarett behandelt werden. Der stuft mich allerdings als minderschweren Fall ein, klebt mir einen gelben Punkt auf die Hand, der bedeutet „Behandlung verschoben“ und schickt mich ein Zimmer weiter. Hier serviere ich einer Flüchtlingsfamilie aus Libyen Tee und lasse mir ihre Geschichte erzählen, während die Kinder herumtoben. Jetzt bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich zuvor als Bankmanager dem Diktator Kredit gegeben habe, damit er Panzer kaufen kann.

Das Konzept von Rimini Protokoll geht gnadenlos auf, denn die Subjektivierung durch das Rollenspiel funktioniert tatsächlich. Sicher ist man sich der Distanz zur jeweiligen virtuellen Rolle, die man einnimmt, immer bewusst. Aber genau das lässt einem den nötigen Raum, den man zur Reflexion braucht: „Ich lebe in einem demokratischen Industriestaat und fahre im Urlaub zum Wandern in die Schweizer Alpen“, könnte ich über mein Leben sagen. Jemand anders hat es nicht so gut getroffen, der krepiert im Häuserkampf. Er ist mir sehr fern; er lebt in einer Parallelwelt, in die ich mich nun einlogge. Nach anderthalb Stunden logge ich mich wieder aus. Er nicht.

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Das Setting von „Situation Rooms“ ist eine Kunstwelt, die Biographien der Protagonisten sind real, sie basieren auf dokumentarischem Material, wie die Gruppe Rimini Protokoll es gerne verwendet. So wird Krieg konkret, denn er wird von Menschen gemacht. Keinen bösen Menschen, sondern solchen, die einfach nur ihrem Job nachgehen – ganz banal.

Ich steige auf eine Leiter und schaue den kreisenden Drohnen zu. Ein Mitspieler hisst die Flagge von irgendeinem Krisenstaat, sie klirrt im künstlichen Wind. Ich salutiere – man kann ja nie wissen, vielleicht werde ich gerade beobachtet.

Infos und Termine: www.ruhrtriennale.de




„Das TV-Duell“ – und wer war jetzt „besser“?

Du meine Güte, wie hoch ist „Das TV-Duell“ zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück schon seit Wochen eingeschätzt worden! Ganz so, als hinge das Schicksal der Nation davon ab. Zumindest soll der Ausgang der Bundestagswahl am 22. September angeblich wesentlich von dieser Begegnung beeinflusst werden.

Ja, wo sind wir denn? Kann es sein, dass sich die Fernsehleute manchmal gar zu wichtig nehmen und dass andere ihnen dabei auf den Leim gehen? Die Aussicht auf rund 15 Millionen Zuschauer schien nicht nur Günther Jauch zu berauschen, der für die ARD den Countdown vor der eigentlichen Sendung und hernach die Talkshow zum Thema moderierte. „Das TV-Duell“, das praktisch alle Parteien außer CDU und SPD ausblendete, wurde zeitgleich von ARD, ZDF, RTL, Pro 7 und Phoenix übertragen. Die mediale Aufregung ist kaum zu ermessen.

Angela Merkel, Peer Steinbrück. (Foto: © ARD/Max Kohr)

Angela Merkel, Peer Steinbrück. (Foto: © ARD/Max Kohr)

Angela Merkel begann ungewohnt nervös

Die Gefahr bei dieser Sendeform ist, dass die Optik am Ende stärker zählt als jedes noch so treffende Argument. Auch täuscht der Eindruck, es handle sich hier um eine Frage des persönlichen Zweikampfs, über den wahren Sachverhalt demokratischer Wahlen hinweg. Naja, geschenkt. In die körpersprachliche Analyse wollen wir hier nicht einsteigen. Das überlassen wir anderen.

Aber lassen wir uns mal versuchsweise auf die Vorgaben ein. Wer war denn jetzt „besser“? Nun, das wird jede Zuschauerin und jeder Zuschauer für sich entscheiden wollen. Tatsache ist, dass Frau Merkel anfangs ungewohnt nervös wirkte und sich einige Male sprachlich verhaspelte. Eigentlich kein Wunder, bei diesem immensen Druck. Doch in dieser Hinsicht fing sie sich schon bald – und erst recht im Laufe der 90 Minuten. Mehrfach fiel auf, dass sie keinerlei kritische Gegen- und Zwischenfragen zulassen mochte, sondern stets geradewegs und manchmal beinahe blindlings darüber hinweg redete. Zudem verfiel sie wieder vielfach in den Tonfall des begütigenden Einlullens.

Peer Steinbrücks trockener Humor

Ihre hauptsächliche Verteidigungslinie bestand praktisch durchweg darin, dass sie mahnte, Deutschland nicht schlecht zu reden. Vieles habe ihre Regierung getan, doch vieles sei auch noch zu tun. Es war, als wollte sie anfügen: Alles wird gut. Nun lasst uns doch bitte in Ruhe weitermachen. War das nicht hin und wieder ein wenig dürftig?

Peer Steinbrück gab sich naturgemäß etwas angriffslustiger: Der Stillstand unter der Regierung Merkel müsse endlich aufhören. Hie und da klang Steinbrück auch etwas belehrend. Allerdings wirkte er – für meine Begriffe – wirtschaftlich kompetenter und zeigte sich in mancher Detailfrage besser im Bilde. Insgesamt hatte er einen recht guten Abend und lief phasenweise sogar zu einer Art Hochform auf.

Ob freilich seine Wesensart beim Wahlvolk ankommt, ist eine ganz andere Frage. Sein trockener Hanseaten-Humor ist nicht unbedingt mehrheitsfähig. Und bei der Frage, ob Politiker genug verdienen, kam er denn wider Willen doch ins Schwimmen, indem er strikt jede Aussage zum Thema verweigerte. So geht’s ja nun auch nicht. Man möchte lieber nicht wissen, wie viele Zuschauer an der Stelle bitter aufgelacht haben.

Stefan Raab fügte sich ins Ritual ein

Angela Merkel ließ sogar eine veritable Nachricht vom Stapel. Sie sagte, mit ihr werde es (entgegen dem Druck der Seehofer-CSU) keine Pkw-Maut geben. So klar hat sie das bisher noch nie gemacht. Erbärmlich hingegen ihre spürbaren Wissensdefizite beim Thema NSA-Spionage und Datenschutz. Lesen US-Geheimdienste etwa deutsche E-Mails mit? Merkels Einlassung: „Es kann sein…“

Die Fragestelleri(innen) - von links: Peter Kloeppel, Maybrit Illner, Anne Will und Stefan Raab. (Foto: © ARD/Max Kohr)

Die Fragesteller(innen) – von links: Peter Kloeppel, Maybrit Illner, Anne Will und Stefan Raab. (Foto: © ARD/Max Kohr)

Und wie waren die TV-Leute? Die vorab heiß diskutierte Personalie, dass der zuweilen rustikale Entertainer Stefan Raab als Fragesteller für Pro 7 antrat, erwies sich zu 99 Prozent als harmlos. Er fügte sich weitgehend ins Ritual und ins übrigens allzu enge Korsett aus Proporz und Sekundenmessung. Lediglich in der Gestik gab er sich ein wenig anders. Seine Fans werden das nicht sonderlich cool gefunden haben. Aber was soll’s.

Die Deutungshoheit der Fußballspieler

Ansonsten darf man dankbar sein, dass der selbstgefällige Frank Plasberg n i c h t zum Team zählte, sondern die derzeit besten Talkerinnen Maybrit Illner (ZDF) und Anne Will (ARD) zum Zuge kamen, die ihre Sache insgesamt nicht schlecht machten. Peter Kloeppel von RTL fiel demgegenüber ab. Seine Frage an Angela Merkel, ob ihr Peer Steinbrück nicht leid tue, war sogar richtig daneben. Um das Mindeste zu sagen.

Und jetzt muss noch jemand erklären, warum ARD und ZDF in ihren anschließenden Diskussionsrunden mit Paul Breitner und Christoph Metzelder jeweils einen Fußballspieler aufgeboten haben. Haben Kicker jetzt einen Teil der politischen Deutungshoheit an sich gezogen oder sollte es ein populistisches Zugeständnis sein?

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Was Macht mit Menschen macht – zur grandiosen Fernsehserie „Borgen“

Machtkämpfe, Medienkritik, Intrigen, Politdrama, dazu noch ein paar persönliche Schicksale – das ist Borgen. Borgen ist nicht nur der Name des Volksmundes für den dänischen Regierungssitz Christiansborg sondern auch der Titel einer europaweit gefeierten Fernsehserie.

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Borgen hat durchaus auch in Deutschland eine eingeschworene, wenn auch kleine Fangemeinde. Arte, die ARD und der WDR haben die erste Staffel bereits gesendet oder sollte man (aufgrund undankbarster Sendetermine) besser sagen, versendet? Aber das Thema der Sendezeiten von Serien mit intellektuellem Anspruch steht auf einem anderen, schon oft beschriebenem Blatt. In den letzten Wochen wurde die erste Staffel im späten Abendprogramm des WDR wiederholt und auf besondere, eindringliche Empfehlung der politischen Nachwuchshoffnung in unserem Hause haben wir es geschaut. Mit wachsender Begeisterung, mit wachsender Empathie, mit kaum zu bändigender Neugierde. Großartige Serie.

Im Mittelpunkt der Serie steht die Figur der Birgitte Nyborg. Birgitte ist Chefin der dänischen „Moderaten“, einer fiktiven sozialliberalen Partei. Überraschend wird sie nach den Parlamentswahlen zur ersten Premierministerin Dänemarks, muß Koalitionen eingehen und eine Regierung bilden. Schnell merkt die bis zu ihrer Wahl noch recht idealistisch agierende Politikerin, dass man an der Spitze der Macht mit Ideologie nicht weit kommt, man Prinzipien loslassen und Kompromisse eingehen muss. Doch was wird die Macht mit Birgitte machen?

Politischer Star: Birgitte Nyborg Christensen (Sidse Babett Knudsen) mit Mann, Tochter und Sohn im Journalistengedränge - Szene aus der "Borgen"-Folge "Wahlkampf". (Bild: ARTE F / ©Mike Kollöffel/DR)

Politischer Star: Birgitte Nyborg Christensen (Sidse Babett Knudsen) mit Mann, Tochter und Sohn im Journalistengedränge – Szene aus der „Borgen“-Folge „Wahlkampf“. (Bild: ARTE F / ©Mike Kollöffel/DR)

Schonungslos und nachdrücklich zeigt die erste Staffel die bestürzende Entwicklung Birgittes von der sympathischen, charismatischen Politikerin zur einsamen, machtbesessenen Premierministerin. „Opfere alles für Deine Familie – außer der Macht“ – so ist einer der Trailer betitelt, die für die Serie werben – und das trifft es gut.

Das furiose, aufrüttelnde Finale der ersten Staffel – es lief am Mittwoch und beschäftigt mich bis heute – zeigt eine Birgitte Nyborg am Ende. Eigentlich hat sie nur das getan, was getan werden musste – doch welchen Preis hat sie dafür bezahlt? Ihre politischen Weggefährten hat sie opfern müssen, ihre Freunde – hatte sie je welche? – sind nicht mehr existent und ihre Familie ist zerbrochen. Ehemann Philipp konnte sich mit der Rolle des Hausmanns nicht arrangieren, zumal Birgitte mit ihm nicht anders umging als mit dem Leiter der Staatskanzlei.

Ergänzender Gegenpart zum reinen Politikgeschehen ist die Medienwelt. Hier agieren die beiden weiteren Hauptfiguren, die aufstrebende Nachwuchsjournalistin Katrine Fonsmark und Kasper Juul, Spin Doctor der Premierministierin. Auch Katrine ist idealistisch, sie will nicht bloß Nachrichten moderieren, sondern sie am besten gleich komplett selber machen. Kasper hingegen hat keine Probleme damit, seine Ideale und Überzeugungen zu verraten, so er denn überhaupt je welche hatte. Er kann jede Art von Politik verkaufen und ist stolz darauf.

Beider Leben besteht vor allem aus Karrierestreben, gelegentlich bleibt Raum für eine gegenseitige Anziehungskraft, die bei der Beerdigung von Kaspers Vater zu einer der stärksten Szenen in der ersten Staffel führt. Auch bei diesen beiden Protagonisten steht die Macht im Mittelpunkt, sie verstehen die Medien als politisches Kontrollinstrument, agieren dabei kompromiss- und rücksichtslos und machen so die Serie ganz nebenbei noch zu einem Lehrstück in politischer Rhetorik.

Die spannendsten Szenen sind immer die, in denen klar wird, wer von welcher Überzeugung geleitet wird und welche Umstände eintreten müssen, damit sie sich von diesen Überzeugungen abwenden. Die Serie legt ein hohes Tempo vor, nichts mehr mit dem berühmten dänischen „hyggelig“ (gemütlich), die Handlung ist trotz aller auserzählten Szenen rasant, die Dialoge knapp und messerscharf, die Schauspieler ohne jede Ausnahme auf sehr hohem Niveau.

Endlich mal eine politische Serie, bei der man sich nicht an ferne Schaltzentralen sogenannter Supermächte gewöhnen muss, sondern die den Zuschauer mitten in einen europäischen Regierungssitz führt. Die Serie ist nicht zuletzt auch deshalb für den deutschen Zuschauer so interessant, weil Dänemark kulturell und politisch ähnlich wie Deutschland organisiert ist und die Themen der dargestellten Tagespolitik uns nicht fern liegen. Ob jetzt ein Autobahnbau in Ringkobing oder Münster diskutiert wird, ist für die Problematik an sich eher zweitrangig. Um Koalitionsgeschacher, Zuwanderung, Renten, Afghanistan, Steuern geht es auch hier. Dazu kommt natürlich das Thema Frauenquote und ganz allgemein Frauen in der Politik und Karriere.

Warum erzähle ich das alles? Weil bereits heute Abend Birgitte Nyborg wieder da ist. Arte wiederholt die erste Staffel und zeigt ab dem 6. September die zweite Staffel, in dessen Verlauf hoffentlich Kasper Juuls dunkles Geheimnis gelüftet wird. Im Netz schwirrt das Gerücht, Arte zeige direkt nahtlos anfügend die dritte Staffel, das lässt sich allerdings nicht bestätigt finden. Da die Sendezeiten der Serie nicht homogen sind, verweise ich auf direkt auf den Sender, der die Folgen auch immer einige Tage in der Mediathek zur Verfügung stellen wird.

Webseiten: Borgen bei Arte (Staffel 1)
(Staffel 2)




„Deutschlands neue Slums“: TV-Reportage über das Elend in Dortmund und Bulgarien

„Deutschlands neue Slums“ hieß die gerade mal halbstündige Reportage im ARD-Programm. Da wird es ja wohl weitläufig von Ost nach West und von Nord nach Süd gegangen sein? Weit gefehlt! Das WDR-Team um „Monitor“-Redakteurin Isabel Schayani und Autor Esat Mogul machte einzig und allein in der Dortmunder Nordstadt Station, um zu zeigen, wie vor allem Bulgaren und Rumänen unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen.

Mag sein, dass diese Betrachtungsweise etwas einseitig gewichtet war. Doch die Empörung in der verbliebenen Dortmunder Tageszeitung ist höchstens im Ansatz berechtigt. Das Image der Stadt und der Stadtverwaltung, die inzwischen immerhin gelegentlich an Brennpunkten eingreift, ist angesichts der unbestreitbar desolaten Gesamtlage nur zweitrangig. Wenn ab 1. Januar 2014 die komplette Freizügigkeit zwischen Deutschland, Bulgarien und Rumänien herrscht, werden sich solche Probleme wohl in einigen Großstädten enorm verschärfen.

Bulgaren in der Dortmunder Nordstadt - auf der Suche nach einem Quartier für die Nacht. (Bild: © WDR)

Bulgaren in der Dortmunder Nordstadt – auf der Suche nach einem Quartier für die Nacht. (Bild: © WDR)

Für exorbitante Beträge, die auf dem örtlichen „Arbeiterstrich“ erst einmal wieder hereingeholt sein wollen, werden in etlichen Dortmunder Nordstadt-Häusern bloße Matratzenlager, manchmal gar nur Pappunterlagen in maroden und völlig verdreckten Häusern als Schlafplätze an Armutsflüchtlinge vermietet. Derweil nehmen die offiziellen Notunterkünfte, so hat es den Anschein, auch bei bitterer Winterkälte keine Menschen aus Bulgarien oder Rumänien auf. Den Rest regelt der wildwüchsige, private Markt „ganz unten“. Für eine schlichte 50-Quadratmeter-Wohnung, hoffnungslos überbelegt mit 8 Menschen, lassen sich so monatlich 1600 (!) Euro Miete erzielen. Normal wären etwa 330 Euro.

Es drängt sich die Frage auf, wer an solchen Verhältnissen verdient. Diese Fährte wurde in der Reportage aufgenommen, die an manchen Stellen Empathie und Betroffenheit erkennen ließ. Die Fernsehleute stießen an allen Ecken und Enden immer wieder auf einen türkischen Mann mit Goldkettchen, der wie ein gewiefter „Pate“, Patriarch oder Schutzherr der Nordstadt erschien, aber natürlich jegliche ungute Absicht weit von sich wies. Fragt man ihn selbst, so hilft er, wo er nur kann…

Wie schlimm das Elend ist, das die Menschen trotz aller Widrigkeiten nach Deutschland und Dortmund treibt, erwies sich bei einer Fahrt nach Stolipinowo (Bulgarien). Rund 3000 Leute aus diesem Ort, so hieß es, lebten zumindest zeitweise in Dortmund. Wenn man da überhaupt von „Leben“ sprechen kann. Jedenfalls ist es kaum zu fassen, welche wahrhaftigen Slums in dem EU-Mitgliedsland Bulgarien wuchern. Vor allem Roma vegetieren dort unter Bedingungen, wie man sie nur in der „Dritten Welt“ vermutet hätte. Da erscheinen selbst die übelsten Häuser der Dortmunder Nordstadt als Linderung des Elends. Übrigens war jener besagte „Schutzherr“ auch in Stolipinowo anzutreffen – rein zufällig auf Besuch bei Freunden.

Die Suche nach womöglich mitverantwortlichen Nordstadt-Hausbesitzern führte auf verschlungenen Wegen zu dänischen Investoren, die ebenso wenig preisgeben wollten wie Schalke-Präsident Clemens Tönnies, in dessen gigantischer Fleischfabrik zu Rheda-Wiedenbrück zahlreiche Kolonnen aus Bulgarien und Rumänien auf der Basis von Werkverträgen schuften – allerdings keine Roma, die kommen nicht einmal an solche Jobs heran. Wohl kaum ein deutscher Arbeitnehmer würde mit den Schweinezerlegern tauschen wollen. Akkord-Arbeitszeiten zwischen 12 und 15 Stunden seien vielfach die Regel, hieß es in der TV-Reportage. Auch das wird natürlich offiziell bestritten. Tatsache ist, dass die deutsche Wirtschaft in Bulgarien und Rumänien von neuen Absatzmärkten profitiert und dort billige Arbeitskräfte rekrutieren kann.

Eine halbe Stunde war für das komplexe Geflecht bei weitem zu wenig, vieles konnte nur knapp angerissen werden. Insofern kann man nachvollziehen, dass nicht noch in weiteren deutschen Städten gedreht worden ist. Dennoch: Vielleicht hätte sich dann das Bild noch etwas differenziert und mehr Tiefenschärfe gewonnen. Das Thema muss jedenfalls gründlich weiter verfolgt werden.




Angela Merkel im ZDF-Porträt: Fast perfekte Machtstrategie – mit einem Schwachpunkt

„Wenn man sie unterschätzt, hat man verloren“, sagt Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) über Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Wahrheit dieses Satzes haben schon manche erfahren müssen, vor allem etliche Parteifreunde aus der CDU.

Und so lautete denn auch eine Prognose im Merkel-Porträt des ZDF, dass die CDU am Boden liegen dürfte, wenn diese Kanzlerin irgendwann aus ihrem Amt scheidet. Die geradezu beängstigenden personellen Verluste in den eigenen Reihen, die Merkels Weg nun einmal pflastern, sind offenkundig eine Schwäche ihres ansonsten perfekten Machtsystems. Apropos: Dass Hessens Ex-Ministerpräsident Roland Koch sich nur zu nichtssagenden Aussagen durchringen mochte, ist doppelt schade. Er hätte uns verraten können, wie sich eine Niederlage gegen Merkel anfühlt. Aber er wird schon wissen, warum er sich so zurückhält.

Das Kanzleramt als Trutzburg

Man kann sich derzeit kaum vorstellen, dass jemand im Duell um die Kanzlerschaft gegen Merkel eine nennenswerte Chance hat. Der Kanzleramtsbau wirkte in der Darstellung von „Macht Mensch Merkel“ wie eine Trutzburg, an der alles abprallt oder abgleitet. Aus jeder Krise scheint die Amtsinhaberin unbeschadet oder gar gestärkt hervorzugehen.

Angela Merkel Ende Mai 2013 bei einem Staatsbesuch. (© ZDF/Regina Schmeken)

Angela Merkel Ende Mai 2013 bei einem Staatsbesuch. (© ZDF/Regina Schmeken)

Ganz gleich, ob holprige Energiewende, Griechenland- und Euro-Desaster oder ausufernde Bespitzelung durch US-Geheimdienste, Frau Merkel scheint noch stets einen Ausweg zu finden; notfalls, indem sie einfach ihre Worte hütet. Das mehrt ihren Nimbus. Ihr Machtinstinkt ist phänomenal, mit ihrer „Strategie des Kümmerns“ (so eine Leitformel des Films von Bettina Schausten und Mathis Feldhoff) umschifft sie anscheinend alle Klippen. Dass sie vielen Südeuropäern verhasst ist, spielt für unsere Wahlen keine Rolle.

Selbst Gysi wird nicht giftig

Man hatte insgesamt den Eindruck, dass dieser Beitrag der Kanzlerin weniger ans Leder wollte (und konnte), als vor Wochenfrist das Steinbrück-Porträt am gleichen Programmplatz. Übrigens: Während Steinbrücks Frau Gertrud recht ausgiebig zu Wort kam, glänzte Merkels Ehemann Joachim Sauer im ZDF-Film durch totale Abwesenheit. Und noch eine Abschweifung: Sowohl Merkel als auch Steinbrück sind in Hamburg geboren. Da kann man fast vom Hanseaten-Duell sprechen. Fast.

Alles in allem herrschte der oft etwas langweilige, allseits ausgewogene und abgezirkelte Proporz. Beide Sendungen waren selbstverständlich gleich lang und ungefähr nach dem gleichen Muster gestrickt. Maßvoll kritische Stimmen wurden jeweils nach dem Goldwaagen-Prinzip eingestreut. Selbst Linksaußen Gregor Gysi sprach nicht etwa giftig, sondern eher augenzwinkernd über Angela Merkel. War’s etwa ein heimlicher Solidarpakt Ost?

Überhaupt wurde hier der weithin bekannte Stand der Dinge recht solide zusammengefasst, doch erfuhr man beileibe nichts Neues. Es sei denn, man betrachte die Einschätzung eines Physikers, die einstige Fachkollegin Merkel zeichne sich durch kleine Schritte, pragmatisches Vorgehen und Geduld aus, als entscheidenden Durchbruch in der Merkologie.

„Alles gemanagt, nichts gestaltet“

CDU-Mann Jörg Schönbohm brachte Merkels Regentschaft immerhin auf einen plausibel klingenden Begriff. Es werde offenbar „alles gemanagt, aber nichts mehr gestaltet“. Merkels letzte verbliebene Rivalin, Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), ist unterdessen klug genug, sich einstweilen vollkommen loyal zu geben. Wer weiß, vielleicht erleben wir es eines Tages, dass sie gegen Hannelore Kraft (SPD) antritt und es somit zur reinen Kanzlerinnen-Wahl kommt.

So bleibt als schmale „Erkenntnis“ vor allem haften, dass Angela Merkel sich mit den Jahren verändert habe. Mittlerweile beherrsche sie, anders als früher, auch den Bierzelt-Wahlkampf zur Blasmusik. Andererseits sei sie mit den Jahren auch härter geworden, hieß es. Mit anderen Worten: Nichts Genaues weiß man nicht. Und genau darin liegt wohl eine ihrer größten Stärken. Die Undurchsichtigkeit kommt ihr zupass.




Peer Steinbrück im ZDF-Porträt: Auf der Suche nach der wahren Empfindung

Kaum zu glauben: Noch stecken wir mitten im Sommerloch, doch in einigen Wochen sind schon Bundestagswahlen. Allmählich aber läuft die Medien-Maschinerie an, die uns vor dem 22. September (bis zum Überdruss?) mit allen Bildern und Daten über die Spitzenkandidaten der großen Parteien füttert.

„Kante Klartext Kandidat“ hieß jetzt – etwas albern alliterierend – das ZDF-Porträt des SPD-Mannes Peer Steinbrück. In dem gestammelten Sprachschema bleibt man auch am nächsten Dienstag, wenn Angela Merkel (CDU) unter dem Etikett „Macht Mensch Merkel“ vorgestellt wird. Proporz muss sein. In jeder Hinsicht.

Peer Steinbrück beim Billardspiel mit seinem Sohn Johannes. (© ZDF/Martin Pfitzer)

Peer Steinbrück beim Billardspiel mit seinem Sohn Johannes. (© ZDF/Martin Pfitzer)

Es begann mit Bildern des Billard spielenden Peer Steinbrück, was sogleich mit politischer Präzision, Karambolagen und kühler Strategie kurzgeschlossen wurde. Geschenkt. Irgendwie muss man ja halbwegs sinnfällig in solch einen Beitrag einsteigen.

Nashorn-Figuren und Borussia Dortmund

Auch wissen jetzt alle Zuschauer, wie sein Sohn Johannes und sein Bruder Birger aussehen, dass er Nashorn-Figuren sammelt (was sich küchenpsychologisch deuten ließe) und dass er nicht nur Fan von Borussia Dortmund ist, sondern auch im Aufsichtsrat des BVB sitzt. Zwischendurch gab es verzichtbare Trickeinspielungen, in denen die Politiker mal wieder aussahen wie etwas lachhafte Pappkameraden. Mit Politik hatte das alles nur sehr vage zu tun.

Der Steinbrück-Film von Claus Richter und Thomas Fuhrmann kam vielfach über die landesüblichen Fragestellungen und Einschätzungen kaum wesentlich hinaus. Zeigt der Kandidat zu wenig Emotionen, ist er ein reiner Kopfmensch? Hat er sich zu weit von der SPD-Basis entfernt? Hat er es sich mit Grünen und Gewerkschaften verscherzt? Ist er gar arrogant und abgehoben (fürstliche Honorare für Vorträge, Meinung über Weinpreise, Geringschätzung des Kanzlergehalts)? Herrje, das klingt nach ziemlich vielen Problemen.

Ein ziemlich konventioneller Film

Man begleitete den scharfzüngigen Hanseaten gleichsam auf Schritt und Tritt durch den Wahlkampf. Weggefährten und Gegner erinnerten sich, kurze Rückblenden skizzierten den Werdegang. Nichts Ungewöhnliches also. Im Gegenteil. Es war insgesamt ein recht konventionelles Porträt.

Immerhin hatte man eine Dreiviertel Stunde Zeit. Und so schälte sich nach und nach doch etwas genauer heraus, welche Wesensart Steinbrück eigen ist. Sein ironischer, manchmal geradezu britischer „Küstenhumor“ ist nicht in der ganzen Republik und in der breiten Mehrheit vermittelbar. Doch wenn er sich zusammenreißt und zügelt, wirkt er, als ziehe er mit „angezogener Handbremse“ in die entscheidenden Wochen. Auch das ist nicht gerade mitreißend. Überhaupt hat er ja noch nie eine Wahl gewonnen.

Desaster der Kandidatenkür

Eigentlich hatte er zunächst bei den deutschen Journalisten und beim Wahlvolk einen Stein im Brett. Im Oktober 2011 führte er die Beliebtheitsliste aller prominenten Politiker an. Und nun besehe man sich den Schaden, wie weit er hinter Frau Merkel zurückgefallen ist. Die übereilte Kandidatenkür der SPD, so wurde hier noch einmal deutlich, war ein Desaster, ein bestenfalls halbherziges Hopplahopp mit allseits unklaren Frontlinien.

Schnelldenker Steinbrück kann offenbar sehr unduldsam sein, wenn andere mit seinem Tempo nicht mitkommen. Doch er hat, so scheint’s, menschlich dazugelernt. Sein Lachen ist mitunter ebenso sympathisch wie es seine Tränen der Rührung waren, als er sprachos neben seiner Frau saß, die seinen inneren Antrieb zur Kandidatur vor Tausenden liebevoll bloßgelegt hatte.

Seht her, er hat ja wohl doch ein Gefühlsleben – und kann es gelegentlich auch noch zeigen. Ob das aber reicht, um der famos machtbewussten Frau Merkel die Stirn zu bieten?

P.S.: Übrigens war Steinbrück am späteren Abend noch in „Menschen bei Maischberger“ (ARD) zu Gast. Sandra Maischberger wollte ihn (mit Fragen aus dem Zettelkasten) partout zu unvorsichtigen Aussagen verleiten – ohne sonderlichen „Erfolg“. Man hatte den Eindruck, dass sie am liebsten Psychotests mit ihm gemacht hätte.

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Götz George als sein umstrittener Vater Heinrich: Entlastung aus lauter Sohnesliebe

Seit Wochen schreiben die Zeitungen in gehöriger Länge darüber. Jetzt ist das Fernseh-Ereignis erstmals bei arte zu sehen gewesen. In „George“ spielt der große Götz George seinen vielleicht noch größeren Vater Heinrich George. Der hatte sich in der NS-Zeit zutiefst verstrickt und in üblen Propagandafilmen wie „Jud Süß“ oder „Kolberg“ mitgewirkt.

Ein wahrlich heikles, geschichtlich schwer belastetes Thema, das unbedingt eine filmische Aufarbeitung wert ist. Man kann nur zu gut verstehen, dass Götz George sich dem Mythos seines Vaters nähern möchte, der ihn seit jeher umtreibt. Aber es war wohl keine gute Entscheidung, dass er den Altvorderen selbst dargestellt hat. Was da alles mit hineinspielt! Und wie da in nahezu jeder Szene die dringend nötige Distanz fehlt…

Götz George als Heinrich George - in der Rolle des "Götz von Berlichingen". (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – in der Rolle des „Götz von Berlichingen“. (© SWR/Thomas Kost)

Fehlende Distanz

Natürlich läuft der Film also letzten Endes auf eine weitgehende Entlastung des Schauspielers Heinrich George hinaus – allen Brüchen zum Trotz. Wer auch hätte Götz George zum 75. Geburtstag den innigen Wunsch ausschlagen sollen, seinem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Allerdings ist es eben die Gerechtigkeit des liebenden, allzeit bewundernden Sohnes, der seinen Vater ganz am Schluss noch einmal persönlich anspricht: „Du warst halt immer besser. Besessener.“ Sicherlich ist das sehr berührend und geht zu Herzen. Doch man kann Heinrich George auch ungleich kritischer betrachten, als Götz George dies vermag. Dann hätte man wahrscheinlich auch nicht Heinrich Georges „Faust“-Inszenierung im russischen Lager derart breiten Raum gegeben.

Fakten und Fiktion vermischt

In manchmal kaum noch überschaubarer Weise vermischen sich in Joachim Langs Film, der zehn Jahre Recherche erfordert haben soll, Fakten und Fiktion, dokumentarische und gespielte Sequenzen. Eins fließt ins andere, so dass man als Zuschauer bisweilen gar nicht mehr weiß, woran man momentan ist. Da geht der zivil gewandete Götz George mit seinem älteren Bruder Jan durch Schauplätze des Films. Sodann wird er als Heinrich George für große Rollen („Götz von Berlichingen“) geschminkt. Dazwischen sieht man seinen Vater in alten Schwarzweiß-Aufnahmen in derselben Rolle. Und so fort. Stellenweise ist es noch komplizierter, als ich es hier schildern möchte.

Hinterhältige Russen

Dramaturgische Leitlinie ist die hartnäckige Befragung Heinrich Georges durch die russischen Besatzer, die ihm partout nachweisen wollen, er sei ein Faschist gewesen. Die Russen erscheinen anno 1945 als unnachsichtige, durchaus hinterhältige Triumphatoren, die auch schon mal ein entlastendes Dokument verschwinden lassen und ansonsten in altbekannter Manier gerne antreiberisch „Dawai, Dawai“ rufen. Vor einem solchen Tribunal muss Heinrich George (trotz mancher Verfehlungen) wie ein unschuldig Verfolgter aussehen. Erst recht, wenn er seinen kleinen Sohn Götz am Lagerzaun in die Arme schließt und überwältigt „Mein Großer – Kleiner“ ausruft. Dann muss man einfach auf seiner Seite sein. Muss man tatsächlich?

Verstrickung ins NS-Regime

Freilich ist das Ganze auch eine Studie darüber, wie einer, der angeblich nur der hehren Kultur dienen und sich unpolitisch geben will („Ich bin nur Schauspieler, sonst nichts“), den braunen Machthabern umso mehr auf den Leim gehen konnte. Vom NS-Propagandaminister Joseph Goebbels ließ er sich – mehr oder weniger wider Willen – einspannen und zum Intendanten des Berliner Schillertheaters ernennen. Vor lauter Eitelkeit ließ er sich hinreißen, dem Regime zu Diensten zu sein. Andererseits rettete er einige jüdische oder linke Theaterleute vor Tod und Drangsal. Es war eine furchtbare Gratwanderung.

Götz George als Heinrich George - bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Bei aller problematischen Herangehensweise haben wir beachtliche schauspielerische Leistungen gesehen, das Ensemble des Films sucht ja auch Seinesgleichen. Vor allem Martin Wuttke als Goebbels und Muriel Baumeister als Heinrich Georges Frau Berta Drews oder auch Hanns Zischler als Maler Max Beckmann (der ein Familienporträt der Georges für die Villa am Wannsee malte und dann ins Exil ging) ragten heraus – von Götz George selbst gar nicht zu reden, der sich jedoch notgedrungen in der familiären Nähe verheddern musste.

Missbrauchtes Genie

Höchst eindrucksvoll waren auch einige Zeitzeugen, deren teils Jahrzehnte zurück liegende Aussagen zwischendurch eingespielt wurden. Und Heinrich George selbst. Schon die kurzen Filmausschnitte (u. a. aus Puschkins „Der Postmeister“) ließen ahnen, welch ein Genie er gewesen ist. Umso betrüblicher, dass er missbraucht wurde und sich missbrauchen ließ.

Die ARD wird „George“ am Mittwoch, 24. Juli, leider erst ab 21.45 Uhr ausstrahlen. Götz Georges Zorn über den ungünstigen Ferientermin, an dem Millionen Menschen in Urlaub sind, kann man nachvollziehen.

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Das zwiespältige Phänomen John F. Kennedy – eine neue Biographie von Alan Posener

Die Welt am Rande des Nuklearkrieges, politisches oder auch militärisches Desaster in Kuba und Vietnam, massive Rassenunruhen im Inneren des eigenen Landes und schließlich der Bau der Berliner Mauer, der den Fall des Eisernen Vorhanges für Jahrzehnte besiegeln sollte: Eine solche Bilanz scheint eigentlich nicht geeignet, einen Mythos zu begründen. Warum John F. Kennedy bis zum heutigen Tage dennoch wie ein Säulenheiliger betrachtet wird, damit befasst sich Alan Posener in seiner Biographie über den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Eine Spurensuche. Dabei drängt sich unweigerlich die Frage auf: Kann der Autor, Korrespondent bei der „Welt“-Gruppe, der schon Monographien u.a. über Franklin D. Roosevelt, John Lennon und William Shakespeare verfasst hat, Altbekanntem überhaupt etwas Neues hinzufügen? Darauf hebt Posener auch gar nicht ab, ihm geht es um das Phänomen Kennedy, dem er sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähert. Eben diese verschiedenen Betrachtungsweisen auf das Wesentliche zu konzentrieren, zusammenzuführen und sich nicht in Verschwörungstheorien über den Mord vom 22. November 1963 zu verheddern oder Kennedys Frauenaffären weidlich auszubreiten, genau darin liegt die Stärke des Buches.

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Aus dem familiären Hintergrund filtert Posener sehr anschaulich heraus, welchem Anspruchsdenken „Jack“ Kennedy durch seinen ehrgeizigen Vater ausgesetzt war: Nur die Sieger zählen, niemals die Nächstplatzierten. Dieses Denken sei, so der Autor, tief im Bewusstsein des Präsidenten verhaftet gewesen. Als die Demokraten ihn als Kandidaten für das höchste Staatsamt auf den Schild heben, hat er es zuvor geschafft, sich als „Politiker neuen Typs“ zu positionieren, der über Fraktionskämpfen und Interessengegensätzen steht. In ihm und seinen politischen Zielen, welche es auch immer sein mögen, können sich viele Amerikaner wiederfinden.

Das Bild von Kennedys Amtsführung, das der Nachwelt erhalten bleibt, ist, wie der Autor hervorhebt, ebenfalls von einem Kurswechsel geprägt, einer neuen Kultur, die mit dem Präsidenten und seiner Frau Jackie Einzug ins Weiße Haus hielt. Hier ist nicht mehr nur Platz für den politischen Führungszirkel, sondern vor allem auch für Intellektuelle und Persönlichkeiten aus Film, Musik und Wirtschaft.

Im kollektiven Gedächtnis erhalten ist von Kennedy, dass er die Kuba-Krise zu meistern wusste, den Berlinern das Gefühl verlieh, der mächtigste Mann der Welt sei einer von ihnen („Ich bin ein Berliner“), und dass er den Schwarzen versicherte, ihr Kampf sei ein gerechter. Poseners Buch ist aber auch durchaus eine Fundgrube für gegenteilige Positionen, stand doch die Welt 1962 am nuklearen Abgrund, reagierten die USA sehr spät auf den Mauerbau und schließlich: War nicht Kennedys Eintreten für die Rechte der Schwarzen vor allem wahlkampftaktischem Kalkül geschuldet?

In der Frage der Vietnampolitik besteht für Posener kein Zweifel, dass Kennedy ein hohes Maß an Verantwortung für die Eskalation des Krieges getragen hat. Sicherlich sei bei ihm eine gewisse Skepsis gegenüber einer Militärhilfe noch in den 50er Jahren erkennbar gewesen, aber die Sichtweise habe sich später geändert. „In Kennedys Denken spielt Südvietnam also für Asien eine ähnliche Rolle wie West-Berlin für Europa“. Dass Kennedy im Falle einer Wiederwahl einen Rückzug aus Indochina angestrebt habe, gehört für Posener in das Land der Legenden.

Zur Wahrheit über Kennedy zählt nach den Ausführungen von Posener nicht zuletzt auch dessen Medikamentenabhängigkeit. Ohne Arzneien hätte er seine Rücken- und Magenprobleme und schließlich auch seine Antriebslosigkeit nicht beherrschen können. Für den Autor eine Dimension, die angesichts der Machtfülle eines Präsidenten Angst mache – auch in einer historischen Rückschau.

Bedenklich stimmt zudem das „Herrschaftssystem“, das nach den Ausführungen von Posener mit Kennedy verbunden war. Es passt so gar nicht in das Bild eines liberalen Politikers und vorbildlichen Demokraten. Neid, Missgunst, Intrige und Machtmissbrauch gehörten laut Autor zum Alltag. Doch Kennedy habe es sehr geschickt verstanden, sich selbst in Szene zu setzen.

Zum Nimbus des Präsidenten habe sicherlich, erläutert der Autor, auch das Attentat auf ihn beigetragen. Es bot Anlass für eine Fülle an Mutmaßungen über mögliche Hintermänner und internationale Verflechtungen. Was aber hätte es zur Folge, wenn Harvey Oswald nichts anderes als ein (verwirrter) Einzeltäter war? Kennedys Tod wäre dann eben nicht von Castro oder Chruschtschow in Auftrag gegeben worden und somit auch kaum geeignet, ein Heldenepos zu schreiben. Schlicht- statt Lichtgestalt.

Alan Posener: „John F. Kennedy. Biographie“. Rowohlt-Verlag, 200 Seiten, 18,95 Euro




Auschwitz auf der Opernbühne: „Die Passagierin“ als DVD-Edition

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Dies ist eine nachdrückliche Empfehlung: Die DVD der Bregenzer Aufführung von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ überzeugt durch präzise Inszenierung, durchdachtes Bühnenbild, spannungsvollen Handlungsablauf, die Figurenzeichnung und -verkörperung, die Rezitative sowie den Einzel- und Chorgesang und durch die orchestrale Musik.

Nie hätte ich vorher gedacht, dass es möglich wäre, noch dazu überzeugend möglich wäre, ein derartiges Thema ins Zentrum einer Oper zu stellen. Zwar, dass man sich auch an diesem Thema mal vergreifen können würde, habe ich schon vor 30 Jahren geargwöhnt, als ich mal gesprächsweise prognostizierte, dass der Tag nicht fern sei, dass man auch aus Auschwitz noch ein Musical machen werde.

Was ich damals noch nicht wusste, was fast jeder nicht wissen konnte, war dies, dass eine Oper zu diesem Thema schon seit dem Jahre 1968 existierte. Eine Oper übrigens, die auch ihr Komponist, ein russischer Komponist mit polnisch-jüdischen Wurzeln, den ich vor drei Jahren noch nicht einmal namentlich kannte, zeitlebens nie in einer Aufführung hören konnte, nämlich weil sie nie aufgeführt wurde, in der UdSSR nicht aufgeführt werden durfte.

„Als er in den letzten Jahren seines Lebens gefragt wurde, welches Werk er für sein wichtigstes halte, antwortete Weinberg ohne Zögern: D i e P a s s a g i e r i n. Noch zwei Tage vor seinem Tod 1996 klagte er gegenüber Alexander Medwedjew, dem Librettisten des Werkes und bedeutenden Musikwissenschaftler, dass er das Werk nie gehört habe. Um ihn zu trösten, versprach Medwedjew, ,doppelt‘ genau zu hören, falls die Uraufführung jemals stattfinden würde: einmal für den Komponisten und einmal für sich selbst. Medwedjew konnte sein Versprechen am 25. Dezember 2006 bei der konzertanten Aufführung des Werkes im Swetlanow-Saal des Moskauer Hauses der Komponisten einlösen.“ (Zitat aus David Fanning: Mieczysław Weinberg / Auf der Suche nach Freiheit“ / aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Wolke Verlag, Hofheim 2010, S. 131)

Im Sommer 2010 hatte ich zwar in einem sehr positiven Bericht der Sendung „Kulturzeit“ in 3sat mitbekommen, dass Weinbergs Oper im Rahmen der Bregenzer Festspiele aufgeführt worden sei, ohne dass ich diesen Hinweis damals mehr als zur Kenntnis nahm. Erst in diesem Jahr wurde ich wieder auf Weinberg aufmerksam, zunächst durch die ganz hervorragenden, brandaktuellen Aufnahmen seiner sämtlichen Violinwerke auf 3 CDs mit Linus Roth, Violine, und José Gallardo, Klavier, dann durch 4 (inzwischen 6) CDs mit den von dem Quatuor Danel dargebotenen Streichquartetten Weinbergs, und schließlich, nachdem ich endlich gemerkt hatte, welch großartigen Komponisten ich bislang noch nicht gekannt hatte, die Opern-DVD „The Passenger“ (op. 97), von der hier vor allem die Rede ist.

Fürs Fach Deutsch war in der gymnasialen Oberstufe in NRW vor nicht allzulanger Zeit noch Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ als Kurs-Lektüre verbindlich vorgeschrieben. Dieser Roman kam (trotz aller kritischen Vorbehalte, die man haben könnte; vgl. etwa die Rezension von Jeremy Adler) bei den Schülern in der Regel gut bis sehr gut an. Dies habe ich in meiner allerletzten aktiven Zeit als Lehrer noch mitbekommen. Heute würde ich ganz entschieden diesen Roman mit der zunächst ganz ähnlich in deutscher Nach-Auschwitz-Zeit ansetzenden Oper konfrontieren: als Ergänzung und Kontrast für eine mit ziemlicher Sicherheit noch ergiebigere Besprechung.

Wer Opern immer noch vorurteilsvoll grundsätzlich meidet, könnte sich zumindest die der Oper zugrundeliegende Romanvorlage der polnischen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz aus dem Jahre 1962 etwas genauer ansehen. Dieser Roman mit dem gleichen Titel „Die Passagierin“ erschien auf deutsch erstmals 1969 in der Übersetzung von Peter Ball und ist inzwischen wieder neu aufgelegt worden.

Die Opern-DVD überrascht übrigens auch durch eine außergewöhnlich gute Kameraführung und durch exzellente, sehr aufschlussreiche Extras, so mit einem Documentary unter dem Titel „In der Fremde“. (Je nach dem, wo man diese DVD der Firma NEOS erwirbt, kostet sie zwischen 30 und 40 Euro.)




„Neues aus der Anstalt“: Wahnwitz mit Methode

Die Tage werden schon wieder kürzer, doch beim Fernsehen machen sie jetzt alle Sommerpause – so auch Urban Priol und Frank-Markus Barwasser mit „Neues aus der Anstalt“ (ZDF). Nun haben sie zum vorerst letzten Mal die Politik aus psychiatrischer Perspektive betrachtet. Und diese Art des Zugangs ist nicht einmal sonderlich absurd…

Nur noch 88 Tage sind es bis zur Bundestagswahl. Da stand zu befürchten, dass Urban Priol sich abermals mit relativ fruchtlosen Parodien an Angela Merkel abarbeiten würde. Doch diesmal hielt er sich in der Hinsicht merklich zurück. Das war eine kluge Entscheidung.

An Themen mangelt es wirklich nicht

Es gibt in diesen Tagen und Wochen ja auch wahrlich noch ein paar andere Themen – von Brasilien bis zur Türkei, vom ach so „selbstlosen“ Karstadt-Investor Nicolas Berggruen (den Priol höchstselbst einseifte) bis hin zum Fall Mollath. Die kaum glaubliche Geschichte des Mannes, der sich – höchstwahrscheinlich zu Unrecht – seit Jahren in der Psychiatrie befindet, ist geradezu ein passgenaues Thema für eben diese Sendung. Wie Frank-Markus Barwasser alias „Pelzig“ das wahnwitzige Geschehen auf einer Schautafel darstellte, das war der absolute Höhepunkt dieser Ausgabe. Manchmal ist die so genannte Realität irrsinniger als jede Satire. Der Wahnsinn hat Methode.

Urban Priol (links) und Frank-Markus Barwasser in "Neues aus der Anstalt" (Foto: © ZDF/Tobias Hase)

Urban Priol (links) und Frank-Markus Barwasser in „Neues aus der Anstalt“ (Foto: © ZDF/Tobias Hase)

Wut als neue „Krankheit“

Leitlinie war diesmal ein neues Psychiatrie-Handbuch, in dem Wut als neue seelische Krankheit definiert wird; ganz im Sinne der Pharmaindustrie. Doch wer wird angesichts gewisser gesellschaftlicher Zustände nicht wütend werden wollen? So viel Valium konnte Priol gar nicht schlucken, um sich über die Verhältnisse zu beruhigen. Diesem öffentlich-rechtlichen Wutbürger stehen ja ohnehin die Haare stets zu Berge. Sein Telefonat als hessischer Landesvater mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan (über den Umgang mit aufsässigen Bürgern) war abgründig witzig und lebte natürlich auch von der Mundart, die Priol eben bis ins Feinste beherrscht.

Georg Schramm fehlt schmerzlich

Im Großen und Ganzen hält man sich ans gute alte Nummernkabarett, das freilich hie und da auch ein wenig abgestanden wirkt. Immerhin kommen sehr verschiedene Formen des Humors zum Zuge. Zwischen einem Jochen Malmsheimer und dem Franzosen Alfons liegen Welten.

Allerdings muss man immer wieder feststellen: Der geniale Georg Schramm fehlt nach wie vor. Diesen Verlust kann die Sendung einfach nicht verschmerzen. Eigentlich kein Wunder, dass es (mehr als) Gerüchte gibt, auch Priol und Barwasser könnten gegen Ende des Jahres aussteigen – aus welchen Gründen auch immer. Man kann nur hoffen, dass das ZDF für diesen Fall ebenbürtigen „Ersatz“ findet.

Doch gemach! Erst einmal sehen wir die jetzige Besetzung am 27. August wieder – rechtzeitig vor den Bundestagswahlen.

(Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen).




Kennedys frühe Deutschland-Reisen: Seine Berlin-Rede hatte eine lange Vorgeschichte

Der Besuch von US-Präsident Barack Obama ruft nicht nur Erinnerungen an den legendären Auftritt von John F. Kennedy wach, dessen Aufenthalt in Berlin sich in diesen Tagen zum 50. Mal jährt. Er bietet auch einmal mehr Anlass, die Rede des damaligen Hoffnungsträgers historisch einzuordnen und zu analysieren.

Dass die vier Worte „Ich bin ein Berliner“, mit denen Kennedy Geschichte schrieb, mehr waren als nur ein momentaner oder spontaner Ausdruck von Solidarität mit den Menschen in der geteilten Stadt, versucht Oliver Lubrich in seinem neuen Buch dem Leser nahezulegen. Es handelte sich, so betont der Professor für Neue deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Uni Bern, wahrlich nicht um den ersten Besuch von JFK in Deutschland, sondern Kennedy hatte während seiner Reisen in den 30er und 40er Jahren eine ganze Reihe von Eindrücken gesammelt. Diese spiegeln sich in Briefen und Tagebüchern wider, die nach Aussage von Lubrich jetzt erstmals vollständig in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden.

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Wer allerdings nun auf ausführliche und weitreichende Betrachtungen über Deutschland, den Krieg, Nazi-Regime und Wiederaufbau hofft, der wird den aufwändig gestalteten Band wohl eher enttäuscht zur Seite legen. Kennedy berichtet zwar über seine drei Reisen in den Jahren 1937, 1939 und 1945, doch insgesamt betrachtet, sind es nur wenige Passagen und die mitunter auch noch in knappen, kurzen Sätzen. Gleichwohl sollte Kennedy mit einigen Einschätzungen und Prognosen richtig liegen, wie es Herausgeber Lubrich in seinen ausführlichen Erläuterungen hervorhebt. Gleichwohl sind auch Aussagen zu finden, die irritierend wirken.

Kennedys erste Begegnung mit Deutschland, ein Jahr nach den Olympischen Spielen in Berlin, war Teil einer Europareise, die ihn unter anderem nach Oberammergau, München und Köln führte. Gemeinsam mit einem Studienfreund unternahm er wohl vor allem auf Geheiß des ehrgeizigen Vaters Joseph P. Kennedy die Tour durch Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland. Tiefgreifende politische Betrachtungen sucht man hier vergebens, bis auf wenige und dann auch eher schwierige Passagen. Nachdem er seinen Herbergsbesitzer als „großen Hitler-Fan“ bezeichnet hat, schlussfolgert er: „Es besteht kein Zweifel, dass diese Diktatoren im eigenen Land aufgrund ihrer wirkungsvollen Propaganda beliebter sind als außerhalb“. Munter erzählt JFK von weiblichen Bekanntschaften und vom Besuch im Nachtclub. Doch zum Tagesablauf des Katholiken gehörten nicht nur amouröse Abenteuer, sondern auch ein klar strukturiertes Kulturprogramm. Beindruckt war er unter anderem vom Kölner Dom, „Glanzstück der gotischen Architektur“.

Als sich Kennedy zwei Jahre später erneut auf den Weg über den großen Teich macht, hat er zunächst einmal das Ziel, für seine Abschlussarbeit an der Harvard-Universität zu forschen. Das Münchner Abkommen von 1938 lieferte die Blaupause, will sich doch JFK, dessen Vater inzwischen zum amerikanischen Botschafter in Großbritannien ernannt worden ist, mit der Nachgiebigkeit der Demokratien befassen. Kurz vor Kriegsbeginn weilt er unter anderem in München, Berlin, Danzig und Warschau. Seine politischen Reflexionen sind inzwischen aber weit intensiver als noch beim Besuch 1937, wie aus einem Brief an den Freund, mit dem er die erste Deutschlandtour unternahm, hervorgeht. Kennedy gibt seiner Sorge Ausdruck, dass das NS-Regime Polen in die Rolle des Aggressors drängen könnte. Und tatsächlich: Beim Einmarsch am 1. September 1939 bezichtigt die NS-Propaganda den polnischen Staat unter anderem, den Sender Gleiwitz überfallen zu haben.

Beim dritten Besuch ist der Krieg vorbei, Kennedy arbeitet als Journalist für den Medienunternehmer Hearst und hat Gelegenheit, die Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) aus nächster Nähe zu erleben und Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg zu besuchen. Er schreibt aber nicht nur seine politischen Einschätzungen nieder, wie etwa, dass die Russen wohl in Deutschland eine eigene Sowjetrepublik gründen wollen, er berichtet auch über die Eindrücke aus dem völlig zerstörten Berlin. „In manchen Straßen ist der Gestank der Leichen überwältigend- süßlich und ekelerregend“. Besonders geißelt Kennedy, dass russische Soldaten in großer Zahl deutsche Frauen vergewaltigen. Überhaupt sei der Umgang der Sowjetarmee mit der deutschen Bevölkerung so, „wie es die Propaganda vorhergesagt hatte“.

Verstörend wirken indes die Sätze Kennedys ganz am Ende seines Berichts, als er noch einmal auf Hitler zu sprechen kommt. „Sein grenzenloser Ehrgeiz für sein Land“ hätten ihn zwar zur Bedrohung für den Weltfrieden gemacht, aber „er hatte etwas Geheimnisvolles“. Es sei, so meint Kennedy, „der Stoff, aus dem Legenden sind.“ Der Herausgeber des Buches liefert für die Worte eine Erklärung, über die jeder Leser selbst urteilen sollte: Die Aufzeichnungen seien im Eindruck des Obersalzbergs entstanden und damit vor einer überwältigenden Naturkulisse…

Festhalten lässt sich gewiss, dass Kennedy schon bei seiner ersten Reise von der Schönheit deutscher Landschaften und Städte als auch von dem Leben der Menschen angetan war, wie es seine Aufzeichnungen bezeugen. Wahrscheinlich lässt sich mit dieser Begeisterung auch die kleine Episode erklären, mit der Kennedys Besuch 1963 in Deutschland endete. Im Gespräch mit dem damaligen Kanzler Konrad Adenauer kommt die Sprache auf die politische Großwetterlage und die schwierigen internationalen Bedingungen in Zeiten des Kalten Krieges. Kennedy erzählt nun das, was er am Vorabend bereits dem hessischen Ministerpräsident gesagt hatte. Seinem Nachfolger, also dem nächsten US-Präsidenten, werde er eine Mitteilung hinterlassen mit der Aufschrift „Bei Mutlosigkeit öffnen“. Darin stehen, so Kennedy, dann nur drei Worte: „Geh nach Deutschland“.

Oliver Lubrich (Hg.): „John F. Kennedy – Unter Deutschen“. Aus dem amerikanischen Englisch von Carina Tessari, mit einem Geleitwort von Egon Bahr. Aufbau-Verlag, 256 Seiten, 22,99 Euro.




Irgendwie muss sich Peer Steinbrück doch aufs Glatteis führen lassen…

Jetzt geht es wohl los. Noch rund 100 Tage sind’s bis zur Bundestagswahl (Sonntag, 22. September) und der Wahlkampf scheint in seine heiße Phase zu treten. Nun gab es schon mal einen Vorgeschmack, als Maybrit Illner in ihrer ZDF-Sendung den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück einvernahm.

Steinbrück ist bekanntlich schon in einige Fettnäpfchen getappt. Die Skala reichte von bestens honorierten Vorträgen über Gehaltsvorstellungen fürs Kanzleramt bis hin zur nicht mehrheitsfähigen Meinung über Weinpreise. Manche kreiden ihm seither fast jede Äußerung an. Das roch hie und da bereits nach Kampagne. Zwischendurch konnte man sich schon mal fragen, warum der Mann nicht einfach hinwirft…

Auf den Ausrutscher gelauert

Im Gespräch mit Maybrit Illner gab er sich keine sonderliche Blöße. Er hat eben seine eigene Meinung, die nicht immer mit dem Hauptstrom seiner Partei übereinstimmt. Mitunter beweist er auch feinsinnigen Humor. Aber ist er auch mitreißend? Ist es ihm tatsächlich zuzutrauen, dass er der in allen Umfragen weit vorn liegenden Angela Merkel doch noch Paroli bietet? Da darf man wohl seine Zweifel hegen. Es geht ja nicht ausschließlich um Sachfragen, sondern auch um Wirkung und Charisma. Und so blendete man immer wieder „vielsagende“ Fotos ein, in denen Steinbrück hinter Merkel stand.

Befragte Peer Steinbrück: Maybrit Illner (Bild: ©ZDF/Carmen Sauerbrei)

Befragte Peer Steinbrück: Maybrit Illner (Bild: ©ZDF/Carmen Sauerbrei)

Man hatte den Eindruck, dass die stets etwas süffisant lächelnde Frau Illner – im nur mühsam gebändigten Vollgefühl medialer Machtstellung – ihren Gast liebend gern aufs Glatteis geführt hätte. Wie schön wäre es doch gewesen, hernach in allen Medien mit einem neuen Ausrutscher von Peer Steinbrück zitiert zu werden. Doch nichts dergleichen. Obwohl: Warten wir mal ab, wer doch wieder etwas auszusetzen findet.

Über Besteuerung sagte Steinbrück ebenso vernünftig klingende Sachen wie über den schwindenden Zusammenhalt der Gesellschaft, die nötigen Korrekturen an der Agenda 2010 oder die finanziellen Opfer für Südeuropa. In etlichen Punkten hätte er sich wohl rasch mit Angela Merkel einigen können, mit der er ja auch schon vertrauensvoll zusammen regiert hat. So weit, so „langweilig“, wenn man es mal vom sensationsheischenden Standpunkt aus betrachten will.

Bloß nicht mit der Wimper zucken

Ziemlich fruchtlos blieben die kleinen Konfrontationen, die Steinbrück wohl aus dem Gleichgewicht bringen sollten. Da mäkelten eine SPD-Kommunalpolitikerin, die lieber Sigmar Gabriel als Kandidaten gesehen hätte, ein mittelständischer Unternehmer und ein Finanzwissenschaftler. Alles in Maßen. Dazu wurde Steinbrücks Gesicht jeweils in irrwitzigen Großaufnahmen gezeigt, als sollte jedes Wimpernzucken und jeder Schweißtropfen erfasst werden. Oft genug sind solche spezifischen Darstellungsmittel des Fernsehens geeignet, von den eigentlichen Themen abzulenken.

Geradezu albern war die Schlussrunde. Da sollte Steinbrück einige politische Kernfragen in Sekundenschnelle spontan mit Ja oder Nein beantworten, so auch die nach der Europa-Reife der Türkei. Also wirklich! So läppisch und undifferenziert geht es nicht. Immerhin wissen wir jetzt, dass Steinbrück auch schon mal Weißweine für 4,99 Euro lecker findet, dass er mit Sigmar Gabriel in allen Fragen – außer dem Tempolimit – übereinstimmt und dass er sich am liebsten von George Clooney beraten ließe, was die Wirkung auf Frauen angeht. Am Ende holt er ihn noch in sein Kompetenzteam…

Um zur Eingangsfrage zurückzukehren: Jetzt fängt der Wahlkampf also an? Ach was! Demnächst ist erst mal Urlaub mit Sommerloch. Und danach hoffentlich nicht allzu viel Schlammschlacht.

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ARD-„Brennpunkt“ zum Hochwasser: Die unstillbare Gier nach starken Bildern

Es ist auf Dauer etwas ermüdend: Gewisse Medien müssen stets übertreiben und stellen deshalb jeden stärkeren Wetterumschwung wenigstens als Jahrzehnt-Ereignis hin. Doch diesmal ist es wirklich ernst. Die Regenflut, die jetzt vor allem Teile Bayerns und Sachsens überschwemmt hat, übertrifft tatsächlich alle vergleichbaren Ereignisse in Deutschland.

Die ARD hat schon weitaus geringfügigere Ereignisse zum Anlass für einen „Brennpunkt“ nach der Tagesschau genommen, manchmal auch schon mittelprächtige Fußball-Nachrichten. Die 45-Minuten-Ausgabe „Hochwasseralarm – der Kampf gegen die Flut“ war hingegen wirklich angebracht.

In Superlativen schwelgen

Es moderierte mal wieder Sigmund Gottlieb vom Bayerischen Rundfunk. Der barocke Mann schien geradewegs in Superlativen zu schwelgen, von einer „Sintflut“ war natürlich gleich in den ersten Sätzen die Rede. Er kostete die gängige „Jahrhundert“-Rhetorik in vollen Zügen aus und war sich seiner eigenen Bedeutung wohl bewusst.

"Brennpunkt"-Logo (©: SWR)

„Brennpunkt“-Logo (©: SWR)

Machen wir uns nichts vor. Das Fernsehen giert immerzu nach spektakulären Bildern, wie das jetzige Hochwasser sie wieder liefert. Seit ein paar Jahren kann man dazu auch die sozialen Netzwerke heranziehen, aus deren Text- und Bilderfundus man sich leicht- und freihändig bedient. Da wähnt man sich ganz nah dran am katastrophalen Geschehen und am betroffenen Bürger. Ich kann mir übrigens kaum vorstellen, dass für die bei YouTube oder Twitter vorgefundenen Aufnahmen Honorare gezahlt werden, lasse mich aber gern eines Besseren belehren…

Profis am Werk

Beinahe schon tragische Ironie liegt darin, dass ursprünglich eine eher beschauliche Naturdoku über die Donau auf dem Sendeplatz gestanden hatte. Gerade dieser Fluß ist nun so mächtig über die Ufer getreten, dass bespielsweise die Altstadt von Passau so hoch unter Wasser steht wie seit Jahrhunderten nicht. Eine Bootsfahrt durch die engen Gassen vermittelte einen Eindruck vom Ausmaß der Schäden. Viele Menschen stehen vor den Trümmern ihrer Existenz und hoffen auf staatliche Hilfe. Manche Einzelschicksale sind wahrhaftig zum Heulen, das konnte man ahnen.

Sprachlich sprudelte so manches Klischee, doch inhaltlich wurde einigermaßen solide gearbeitet. Es waren Fernsehprofis am Werk, die nahezu alle denkbaren Aspekte der Flut ins Auge fassten – vom Vergleich mit 1954 und 2002 über mögliche Vorbeugungsmaßnahmen bis hin zur schier unvermeidlichen Frage, ob all das mit dem oft beschworenen Klimawandel zu tun habe. Der eilends herbeizitierte Experte, Klimaforscher Prof. Harald Kunstmann, prophezeite, dass uns solche Extremereignisse immer öfter ereilen werden.

Politische Verwurstung

Es ist mehr als nur Legende, dass der damalige Kanzler Gerhard Schröder zur Flut von 2002 tatkräftige Präsenz zeigte und wohl auch daher noch ein paar Jahre im Amt bleiben konnte. Morgen (Dienstag) wird Angela Merkel im Krisengebiet erwartet. Innenminister Hans-Peter Friedrich war heute schon da. Alles andere wäre auch politischer Wahnsinn.

Direkt nach dem „Brennpunkt“ warf sich Frank Plasberg mit „Hart aber fair“ in die Bresche und fragte mit triefender Ironie: „Was will uns die Natur damit sagen?“ Hier wurde das Naturereignis sogleich flugs dem Parteienstreit und somit der landläufigen politischen Verwurstung zugeführt, was freilich auch wieder reflektiert wurde. So konnten sich Renate Künast (Grüne) und Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) ein paar wohlfeile Wortgefechte liefern. Um mal ein etwas schiefes Bild zu verwenden: Man kann eben auf allem sein Süppchen kochen, selbst auf Flutwasser.

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Heute Außenseiter, morgen Hoffnungsträger: Tuomas Kyrös Roman „Bettler und Hase“

Wenn eine Geschichte von einem rumänischen Roma als Hauptfigur handelt, der sein Land verlässt, um in der Ferne sein Glück zu versuchen, dann scheint der Ablauf schon irgendwie programmiert zu sein. Der Emigrant wird sich schwer tun, womöglich scheitern und am Ende auf der Verliererstraße landen.

Doch Vatanescu ist da doch von ganz anderem Schlag, was natürlich daran liegt, dass sein Erschaffer, der finnische Autor Tuomas Kyrö, hintersinnig, ironisch und zugleich humorvoll zu erzählen weiß.

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Schon das Motiv, das den Roma bewegt, sich außer Landes zu begeben, scheint recht schräg zu sein, will er doch Geld verdienen, um seinem Sohn Stollenschuhe kaufen zu können. Ob es denn da wohl nichts Wichtigeres gibt, als ausgerechnet einen solchen Sportartikel, mag man sich als Leser fragen. Zumal der Preis, den Vatanescu schon zu Beginn des Abenteuers zu bezahlen hat, äußerst hoch ist, begibt er sich doch in die Fänge der russischen Mafia. Nur die verspricht ihm, in ein gelobtes Land des Westens zu gelangen.

Der Roma findet sich schließlich in der finnischen Hauptstadt Helsinki wieder und zwar in einer Behausung, die ihm ein Drogen- und Menschenhändler zuweist. Doch Vatanescu wäre nicht Vatanescu, wenn er sich mit seinem Schicksal einfach abfinden würde. Ihm gelingt es auszubüxen. Damit aber noch nicht genug: Jener Igor, der ihn in einem Wohnwagen eingepfercht hatte, soll seines Lebens nicht mehr froh werden, war doch die Flucht eines gewissen Roma aus Rumänien ein Fanal für viele andere, die unter Igors Knute standen, dem Beispiel zu folgen.

Für Vatanescu beginnt eine Zeit des Vagabundierens, in der er Finnland von ganz anderen Seiten kennenlernen soll. Er trifft auf vietnamesische Einwanderer, die ein Restaurant eröffnet haben, auf einen glücklosen Magier und auf einen echten Haudegen, der ihn zum Saunieren einlädt. Doch wie sich Vatanescu auch drehen und wenden mag, seine neue Heimat will ihm doch fremd bleiben – bis er irgendwann zu spüren meint, was den gemeinen Finnen wohl am ehesten antreibt, nämlich die eigene Schaffenskraft, die tägliche Arbeit.

Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf gewinnt er erst das Vertrauen eines Vertrauten des Ministerpräsidenten und schließlich das des Politikers selbst, der längst amtsmüde geworden ist. Und urplötzlich ist dem Einwanderer Vatanescu der Durchmarsch gelungen, gilt er doch fortan als „Thronfolger“ in einer politischen Gruppierung, die den schönen Namen trägt „Partei der gewöhnlichen Menschen“. Einen politischen Hoffnungsträger zeichnet vor allem aus, dass er neu ist und Schläue mit sich bringt, von Wissen oder Sachverstand spricht Autor Tuomas Kyrö eher nicht.

Das Buch lebt von kuriosen Szenen. Zu ihnen gehört der Moment, als der Rumäne seinen Begleiter findet. Er rettet einem Hasen, der von mehreren Jungen gejagt wird, das Leben, indem er ihn in seine Jacke springen lässt. Vatanescu weiß zu dem Zeitpunkt schon, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Von brillanter Situationskomik geprägt ist die Passage, als er einem Arbeitsvermittler gegenübersitzt und plötzlich sein Hase, den er versteckt hält, loshoppeln will. Einem Büromenschen können da schon mal mehr als nur die Gesichtszüge entgleiten.

Gerade in der Debatte um Sinti und Roma kann das Buch von Tuomas Kyrö zu neuen Denkansätzen beitragen, werden doch Klischees und gesellschaftliche Normen amüsant und erfrischend hinterfragt.

Tuomas Kyrö: „Bettler und Hase“. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, 320 Seiten, 19,99 Euro.




Still und stoisch durch den Krieg gehen: „Neue Zeit“ von Hermann Lenz – wiedergelesen

Wie ist das im Zweiten Weltkrieg gewesen, Tag für Tag, bis zum bitteren Ende? Es gibt wahrlich zahllose Bücher über „Ereignisse“ jener Jahre, hin und wieder auch übers Alltägliche. Doch Hermann Lenz’ Roman „Neue Zeit“ ist und bleibt etwas Besonderes.

Erstmals 1975 erschienen, ist das Werk jetzt in einer neuen Ausgabe greifbar. Man kann es wieder und wieder lesen. Als Zeugnis des Nebenher, des Unscheinbaren, das wohl auch damals die meisten Geschehnisse grundiert hat. Als Dokument einer großen Hilflosigkeit angesichts der Zeitläufte. Als Studie darüber, wie man mitten im allergrößten Dreck ein Mindestmaß an Anstand wahren kann. Und dergleichen mehr.

Weder Helden noch Antihelden

Fernab von jeder Versuchung zum Spektakulären oder Heroischen, aber auch nicht mit vollmundiger Antikriegs-Rhetorik, ja überhaupt mit sehr zurückhaltender Wahl der Worte und Stilmittel, erzählt Lenz die Geschichte seines Alter ego Eugen Rapp, eines Studenten der Kunsthistorie, der wie in einer Art Trance durch die Wirren des Krieges geht; zunächst bei militärischen Übungen, dann als Soldat beim vergleichsweise unblutigen Einmarsch in Frankreich, sodann über Jahre hinweg an der Ostfront in Russland und schließlich in amerikanischer Gefangenschaft.

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Die stark autobiographisch geprägte Handlung setzt 1937/38 ein und reicht bis 1945. Zu Beginn trifft der Schwabe Eugen Rapp in München ein, um sich einen neuen Doktorvater für eine Arbeit über Dürer zu suchen, denn die jüdischen Professoren in Heidelberg sind von den Nazis entlassen worden. Rapp hat sich derweil zaghaft mit „Treutlein Hanni“ angefreundet, was sich als zunehmend riskant erweist, denn die junge Frau aus hochkultiviertem Hause, die Hermann Lenz 1946 heiraten wird, ist „Halbjüdin“ (welch eine verquere Begrifflichkeit von allem Anfang an).

Sehnsucht nach gestern

Vor der immer gewaltsamer auftrumpfenden „Neuen Zeit“ und ihren üblen Protagonisten will sich Rapp in andere Epochen fortdenken. Seine innige Sehnsucht richtet sich rückwarts, beispielsweise in die Ära der friedlich verschlafenen deutschen Kleinstaaterei, ins sonst so oft geschmähte oder belächelte Biedermeier zwischen Spitzweg und Mörike. Zustimmend zitiert er einen Professor: „Da nehme ich sogar das Muffige in Kauf…Dagegen das mächtige Deutschland Bismarcks: Sie sehen, was daraus geworden ist.“

Ein weiterer, mindestens ebenso wichtiger Fluchtpunkt ist das Wien früherer Jahrzehnte, die Welt von Schnitzler und Hofmannsthal. Es entwickelt sich also eine tiefe Abneigung gegen alles Gegenwärtige, ein heimwehkranker Hang zum Früheren.

Doch einfach aus dem Jetzt wegstehlen, so die bestürzende Erkenntnis, kann man sich nicht. Und so erlebt dieser Eugen Rapp Jahr um Jahr als überaus befremdliches Vor-sich-Gehen. Warum, so fragt er sich nahezu naiv, wird überhaupt Krieg geführt? „Du aber verstehst nicht, warum ein Russe dein Feind sein soll, wenn er dir nichts getan hat…“

„Zigaretten rauchen und allein sein“

Rapp gehört nirgendwo richtig dazu, er hält sich – so gut es irgend geht – aus dem Gröbsten heraus, macht aber letzten Endes doch zwangsläufig mit: „…dich abseits fühlen, ist dir angemessen“, hält er an einer Stelle fest. Am liebsten sieht er sich so: „Sitzen. Kritzeln. Zigaretten rauchen und allein sein.“ Andererseits: „Du bist jetzt hier hineingestellt; ausweichen kannst du nicht mehr.“ Ja, einmal heißt es sogar: „Laß alles laufen, wie es will. Nur im Krieg nichts ändern wollen…“ Und dann eine solch jähe Einsicht, die einem das Hirn zerreißen müsste: „Denn wozu machst du hier mit? Damit sie hinten ungestört Menschen zu Seife machen können und den Seifemachern nichts passiert…“

Innerlich distanziert bleiben, dennoch genau hinsehen und getreulich aufzeichnen – das kennzeichnet die stoische, zuweilen auch sture Haltung dieser Figur, die wundersam unversehrt, geradezu schlafwandlerisch durch die Hölle wankt.

Die Schilderung der Vorgesetzten und „Kameraden“ schwankt zwischen individuellen Skizzen und Typenkomödie. Fast allen, so wird es hier geschildert, ist die verlorene Sache frühzeitig klar, doch von oben kommen Durchhalteparolen. Die Hierarchien bleiben bestehen. Wer eh schon oben war, bleibt auch im Krieg oben; oft auch darüber hinaus.

Dieser feine und friedliche Ton

Die wahre Sensation dieses Buches ist der durchweg leise und feine Ton. Schon von daher ist der Roman sozusagen Zeile für Zeile ein fortwährender Einspruch gegen alles Kriegerische. Es ist wie die Erprobung einer Sprache, die wieder für kommende Friedenszeiten taugt. Das immer wieder eingestreute schwäbische Idiom steht bei all dem für regionale Verwurzelung im Herkömmlichen, der freilich im Krieg alles fraglos Beschützende abhanden gekommen ist. Einerseits ist die Mundart ein Reservoir des Friedfertigen, dann wieder klingt sie nur noch begütigend. Wenn es etwa heißt, der Krieg sei „kein Schleckhafen“, so mutet das allzu harmlos an. Doch vielleicht hat man ja damals daheim so empfunden. Wenn Rapp auf Fronturlaub nach Schwaben kommt, fängt er auch die dortige, seltsam unwirkliche Lage der Verhältnisse ein.

Mit moralisch sich erhaben dünkendem Halbwissen von heute darf man freilich nicht an diesen Roman herangehen. Natürlich kann man Rapps nur ansatzweise widerspenstige Denkungsart leichthändig verdammen. Ungleich schwerer wäre es schon, dies aus dem Bewusstsein der Zeit heraus zu tun. Und überhaupt: Wer von uns hätte in vergleichbarer Situation den offenen Widerstand gewagt?

Ein gewisses Unbehagen bleibt

Gewiss, an mancher Stelle beschleicht einen Unbehagen. Hat Lenz hier eine Apologie in eigener Sache verfasst? Hat er für Hanni festhalten wollen, dass er im größten Chaos stets an sie gedacht hat, auch in Phasen allgemeiner Auflösung keinen weiblichen Anfechtungen erlegen ist und dass er ihren Ring durch all die finstere Zeit gerettet hat? Ja, das mögen durchaus Antriebe des Schreibens gewesen sein. Und doch weist der Roman weit darüber hinaus. Abermals gepriesen sei das Gespür von Peter Handke, der Lenz einst nachdrücklich empfohlen und somit über eingeweihte Zirkel hinaus bekannt gemacht hat.

Dieser Neuauflage aus Anlass des 100. Geburtstages des Autors (1913-1998) sind einige erstmals publizierte Briefe von Hermann und Hanne Lenz aus der erzählten Zeit des Romans beigegeben. Es sind Auszüge aus einem umfangreicheren Schriftwechsel, dessen Edition noch bevorsteht. Darauf warten wir jetzt.

Hermann Lenz: „Neue Zeit“. Roman. – Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937-1945. Insel Verlag. 432 Seiten, 22,95 Euro.




Ein Künstler- und Lebensroman: Ralph Dutlis Debüt „Soutines letzte Fahrt“

Was haben Ralph Dutli und Theodor Fontane miteinander gemeinsam?
Sie haben beide mit 58 / 59 Jahren ihren ersten Roman veröffentlicht.

Bei Fontane wissen wir, dass auf seinen umfangreichen Erstling „Vor dem Sturm“ noch viele gute, meist kürzere Romane gefolgt sind, bis hin zu seinem späten, wieder etwas umfangreicheren Meisterwerk „Der Stechlin“; bei Dutli wissen wir vorerst nur, dass ihm sein Erstling wirklich gut gelungen ist und dass wir vielleicht noch auf weitere Roman-Überraschungen von ihm gefasst sein dürfen.

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Ralph Dutlis 272 Seiten umfassender Roman „Soutines letzte Fahrt“ scheint sich vom Thema her vorrangig in die gerade auch aus der deutschen Literaturgeschichte her bekannte Gattung „Künstlerroman“ einzureihen.

Denkt man kurz nach, fallen einem auch durchaus einige deutschsprachige Künstlerromane ein, in denen Maler, überhaupt bildende Künstler, mehr oder weniger zu Hauptfiguren bestimmter Romane auserkoren worden sind: „Franz Sternbalds Wanderungen“ (Ludwig Tieck), „Maler Nolten“ (Eduard Mörike), „Goya oder der arge Weg der Erkenntnis“ (Lion Feuchtwanger), „Der Judas des Leonardo“ (Leo Perutz), „Deutschstunde“ (Siegfried Lenz) usf.; auch Erzählungen wie „El Greco malt den Großinquisitor“ (Stefan Andres) und „Barlach in Güstrow“ (Franz Fühmann) sollten nicht unerwähnt bleiben.

Dennoch: Romane von Rang, in denen weltberühmte Maler porträtiert werden, sind ziemlich selten, und wenn es auch Romane über Rembrandt, van Gogh, Michelangelo, Grünewald u.s.w. durchaus gibt, wird man solche nur ganz selten unter den Hauptwerken der Literaturgeschichte finden. So mag es weise gewesen sein, dass Albrecht Dürer bei Tieck und Leonardo da Vinci bei Perutz nur am Rande oder im Hintergrund auftauchen oder aber auf bekannte, allzubekannte Namhaftigkeit auch außerhalb des Romans (vgl. „Maler Nolten“) gleich ganz verzichtet wird.

Ralph Dutli wählt sich für seinen biographisch fundierten Roman einen Maler aus wie Chaim Soutine, der im öffentlichen Bewusstsein vom Bekanntheitsgrad her bei weitem nicht so verankert ist wie etwa Pablo Picasso oder auch Marc Chagall, die übrigens in Dutlis Roman durchaus nicht unerwähnt bleiben und von denen Marc Chagall sogar gelegentlich als Kontrastfigur zu Chaim Soutine dient. Dass Ralph Dutli nun anders als im Falle Ossip Mandelstams keine Biographie schreibt, sondern gleich einen Roman, scheint mir im Fall von Chaim Soutine durchaus angebracht und vermag vor allem im Ergebnis voll zu überzeugen.

Wir begleiten Chaim Soutine für die Zeit vom 6. August 1943 bis zu seinem Tod am 9. August 1943 auf seiner letzten Fahrt von einem Krankenhaus in Chinon zu einem in Paris, zu dem er langwierig und vorsichtig auf Schleichwegen in einem Krankentransportgefährt, das sich als Leichenwagen tarnt, schließlich gebracht wird. Ob diese Fahrt nun genauso stattgefunden hat oder auch nicht, ist nicht sicher verbürgt (wodurch Raum für behutsam und einfühlsam Fiktives entsteht), wohl aber, dass dieser umständliche Transport von Chinon nach Paris mit dem baldigen Tod des Malers geendet hat, da die erhoffte Operation in Paris keine Lebensrettung mehr bringen konnte.

Im Roman nun begegnen wir, auf der Folie seiner von seiner Lebensgefährtin Marie-Berthe Aurenche begleiteten letzten Fahrt, Kapitel für Kapitel (auf so kunstvoll wie plausibel verschlungene Weise) bestimmten früheren Lebenssituationen des ursprünglich aus einem Schtetl bei Minsk herstammenden Malers. Dabei entsteht ein sehr dichtes Bild; ein lebendiges Porträt dieses Malers und seiner Eigenart und seiner Stellung unter den Menschen und ein Bild von der oft recht verworrenen, nicht nur für diesen jüdischen Maler gefährlichen Zeitsituation.

Das rege Interesse an dieser Lektüre ist bei mir nie erlahmt, aber erst mit dem äußerst feinfühligen, ein indirektes, zeitlich versetztes Zwiegespräch zweier einander auch unausgesprochen Liebender montierenden 14. Kapitel („Mademoiselle Garde und das nichtige Glück“, ein Kapitel, das man indes nicht isoliert, sondern im Zusammenhang des Ganzen lesen sollte) habe ich den Roman zu lieben begonnen.

Es steht zu hoffen, dass der Roman Ralph Dutlis den Blick auf die geretteten Bilder Chaim Soutines neu zu beleben vermag bzw. allererst eröffnet.

Ralph Dutli: „Soutines letzte Fahrt“. Roman, Wallstein Verlag Göttingen 2013, 272 Seiten, 19,90 Euro.




Allein für Vostells Arbeiten lohnt sich ein Besuch im Dortmunder „U“

In seiner Heimatstadt Leverkusen haben sie nicht nur ein Bronzeschild zu seinem Gedächtnis angebracht, nein, sogar eine Straße wurde im Jahre 2001 nach ihm benannt: Wolf Vostell, weltbekannter Künstler und auch Professor, 1931 in Leverkusen geboren und 1998 in Berlin gestorben, ist im Dortmundern Museum mit einigen hervorragenden Werken vertreten, und allein das scheint mir ein ausreichender Grund zu sein, mal wieder ins „U“ zu pilgern.

Straße in Vostells Geburtsstadt Leverkusen.

Straße in Vostells Geburtsstadt Leverkusen.

Ein Hauptthema im „Museum Ostwall im Dortmunder U“ sind Fluxus und Happening – Kunstbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die unter anderem von Wolf Vostell vorangetrieben worden sind. Nach einer Verbindung von Kunst und Leben suchte man, „fördert die Nicht-Kunst-Realität“ hieß es sogar in einem Manifest von George Maciunas. Es entstanden also nicht nur Kunstobjekte, sondern vor allem Aktionskunst war gefragt.

Vostell wollte vor allem durch „aggressive Bildsprache“, wie es im Katalog heißt, Missstände benennen und Sozialkritik üben. Am beeindruckendsten scheint mir aber sein Rückgriff auf die Zeitgeschichte zu sein – nämlich in der Dortmunder Rauminstallation „Thermoelektrischer Kaugummi“. Die Installation mit dem seltsamen Titel assoziiert im Kopf sofort die Verbindung zu Bildern von Auschwitz, und wenn man über die am Boden verstreuten Esslöffel knirschend den Raum durchschreitet, kann es einem schon eiskalt über den Rücken laufen.

„So stellt Vostell die Frage nach der Verantwortung jedes Einzelnen für Tod und Leid“, schreiben die Museumsleute. Gerade in der Stadt Dortmund mit seinen aktuellen Naziaufmärschen sollte die Beschäftigung mit dieser Frage besonders wichtig sein.




Bleibende Verheerungen – Carsten Kluths Roman-Debüt „Wenn das Land still ist“

„Auch dieser Tag geht irgendwann zu Ende – doch die Verheerungen werden bleiben.“ An einem heißen Tag im August setzt ein Mann seine Ehe und das Leben seiner Kinder aufs Spiel.

Der Berliner Richter Harald Kronauer leidet unter dem Desinteresse seiner Frau Johanna, deshalb sucht er Ablenkung und Bestätigung bei seiner Geliebten Martina. Zudem will Kronauer unbedingt politische Karriere machen und lässt sich in riskante Machenschaften verwickeln, bei denen es – unter anderem – um Aufsehen erregende Klima-Manipulationen geht.

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Sehr spät begreift Kronauer, der schon mit seinem chaotischen Familien-Alltag und seinem anstrengenden Richteramt überfordert ist, dass er von seinen vermeintlichen politischen Freunden nicht zufällig für seine Rolle auf dem politischen Schlachtfeld ausgesucht wurde: Es ist eine unheilvolle, spannende, überraschende Melange aus Emotion und Intellekt, Politthriller, Familienporträt und Gesellschaftsroman, die Carsten Kluth in seinem zupackenden Roman-Debüt anbietet.

Der 1972 geborene, mit seiner Familie in Berlin lebende Carsten Kluth hat politische Wissenschaften studiert und arbeitet – unter anderem für die Europäische Kommission in Brüssel – als Berater für Politik und Wirtschaft. Mit „Wenn das Land still ist“ ist dem eleganten und vielseitigen Erzähler jetzt ein fintenreiches Spiel über Einfluss und Macht gelungen, die großartige Geschichte eines emotional überforderten Jedermann in unsicheren und unübersichtlichen Zeiten.

Wie immer beginnt der Tag für Harald Kronauer um vier Uhr früh. Es ist ein wolkenloser Tag, der unerträglich heiß zu werden verspricht. Dass der Tag auch unendlich lang und gefährlich werden wird, ahnt der sich noch verschlafen im Bett wälzende, von erotischen Träumen und intellektuellen Verwirrungen gepeinigte Richter da noch nicht. Das wird sich sehr bald ändern. Und so wie die Minuten immer schneller zu verrinnen scheinen, werden auch die Verheerungen immer weiter zunehmen.

Kronauer hetzt von einem Termin zum nächsten, wird im Gericht von einem Kollegen erpresst und wird von seiner konservativen Partei als Nachfolger des soeben zurückgetretenen Staatssekretärs um Umweltministerium gehandelt. Dass hinter dem Rücktritt eine gezielte Intrige steht, ahnt Kronauer nicht.

Es dauert sehr lange, bis der Richter, der wegen eines Urteils zur Ausweisung von Klimaflüchtlingen nicht unumstritten ist, die wahren Ausmaße der politischen Kampagne kapiert und sich darauf besinnt, dass ihm die Familie das Wichtigste im Leben ist. Kronauer schafft es gerade noch rechtzeitig, seine Frau und seine Kinder aus der Schusslinie zu bringen. Doch wer glaubt, damit sei alles wieder gut, könnte sich gründlich irren…

Carsten Kluth: „Wenn das Land still ist“. Roman. Piper Verlag, München. 383 Seiten, 19,99 Euro.




„Unaufgeregteste Großstadt“ der Republik oder etwa doch ein Provinznest?

Abseits des Fußballs gibt es immer wieder Anlässe, sich über Verhältnisse in Dortmund aufzuregen.

Stichwort neonazistische Umtriebe. Stichwort Verwahrlosung und Laden-Leerstände bis in die Innenstadt hinein. Stichwort desolate Zustände in Teilen der Nordstadt. Ach, ich werde des Aufzählens müde.

Da können Lokalpolitiker und harmoniegeneigte Lokalpresse (also praktisch nur noch die Ruhr Nachrichten) noch so jubeln oder beschwichtigen: Diese finanziell gebeutelte Kommune droht in vielen Bereichen dauerhaft auf den absteigenden Ast zu geraten.

Abriss des ehemaligen Gymnasiums an der Dortmunder Lindemannstraße (Foto: Bernd Berke)

Abriss des ehemaligen Gymnasiums an der Dortmunder Lindemannstraße (Foto: Bernd Berke)

Nicht nur Lokalpatrioten widerstrebt überdies jedes Ranking, bei dem Dortmund schlecht abschneidet – und das kommt oft genug vor, sei’s bei Statistiken aus dem Bildungsbereich, bei Einkommenstabellen oder Arbeitslosenzahlen.

Ein neueres Beispiel einer solchen Liste kommt von der Job- und Karriere-Plattform „Xing“, die unter ihren Mitgliedern eine (freilich alles andere als repräsentative) Umfrage veranstaltet hat.

Gerade mal 845 Nutzer haben daran teilgenommen. Piepegal. Daraus lassen sich trotzdem knackige Ergebnisse filtern und dann kraftvoll ausposaunen. Man nehme also die zwölf einwohnerstärksten Städte Deutschlands und frage, in welchem Ort der Xingler (oder Xingling, Xingle?) gern bzw. ungern arbeiten würde. Und welche Weltsensation kommt heraus? In Front liegt Hamburg (hier wollen 42% gern arbeiten) vor München, Berlin, Köln und Stuttgart; am schäbigen Ende rangiert Essen (48 Prozent winken ab) vor Dortmund, Leipzig, Dresden und Frankfurt. Na klar. Immer mal wieder feste druff auf Ruhris und Ossis.

Zuweilen glaubt man allerdings tatsächlich, dass Dortmund mit seinen rund 580 000 Einwohnern Züge eines Provinznestes hat. Wollte man’s positiv wenden, so kramte man die gute alte Formulierung aus der Wochenzeitung „Die Zeit“ hervor: Dortmund sei die „unaufgeregteste Großstadt der Republik“, hieß es dort mal vor Jahr und Tag. Der Satz gilt, mit einer Prise Ironie gesprochen, heute noch.

Und wo hätte ich nun neuerdings Kennzeichen der Provinzialität entdeckt? Dazu zwei vermeintlich unscheinbare, doch kennzeichnende Beispiele.

Beispiel 1: In der ganzen großen Stadt findet sich freitags kein einziger Briefkasten, der noch nach 19 Uhr geleert würde – auch nicht an der Hauptpost. Man muss statt dessen in sehr entlegene Ecken von Hagen oder Essen (exotischer Ortsteil Vogelheim) fahren, um dann noch dringliche Post loszuwerden. Eine Angelegenheit der Deutschen Post, gewiss. Und nicht ganz so ärgerlich wie der schlampige Umgang der Deutschen Bahn mit dem Dortmunder Hauptbahnhof. Aber immerhin.

Briefkasten mit freitäglicher Abendleerung - weit draußen in Hagen. (Foto: Bernd Berke)

Briefkasten mit freitäglicher Spätabendleerung – weit draußen in Hagen. (Foto: Bernd Berke)

Beispiel 2: Am allzeit defizitären Dortmunder Flughafen, der vor allem Billigflieger-Verbindungen nach Osteuropa offeriert, sich als internationaler Airport versteht und derzeit versucht, das Nachtflugverbot aufzuweichen, leistet man sich einen geradezu lächerlichen Service-Mangel. Auf der Besucherterrasse, die viele Menschen mit ihren Kindern aufsuchen, ist kein einziges Kindergericht erhältlich. Ja, die Betreiber sehen sich nicht einmal in der Lage, einfach mal kleinere Portionen für kleinere Leute zu servieren. Das ist eine ähnliche Negativwerbung wie hie und da im Westfalenpark, wo an bestimmten Punkten oft die geringsten Bedienungsstandards missachtet werden. Genau dort, wo die meisten Gäste von außerhalb auftauchen, zeigt man sich besonders unwillig.

Wenn wir schon mal beim Querulieren sind, sei nun auch noch dies angemerkt: Dortmund ist nicht grade reich an historischem Baubestand. Da wiegt es schon doppelt schwer, dass jetzt an der Lindemannstraße das einstige Königliche Gymnasium (später Kaserne, Staatliches Gymnasium, Lehrerseminar) aus dem Jahr 1907 kurzerhand abgerissen wurde, um einem ein ziemlich gesichtslosen Wohn- und Geschäftshaus mit dem superschicken Namen „Four Windows“ Platz zu machen. Die lokal leider konkurrenzlosen Ruhr Nachrichten vermelden den baulichen Verlust ohne kritischen Unterton. Man wird doch keine Investoren verschrecken wollen…

Ja, ich gebe zu, dass ich mich mit dem Bauwerk auch persönlich verbunden fühle. Ich bin in der parallel laufenden Arneckestraße aufgewachsen. Der Balkonblick über den begrünten Hinterhof fiel auf den mächtigen Giebel und den klassisch gegliederten Baukörper des damaligen Gymnasiums. Damit verschwindet also auch wieder ein Stück der Kindheit. Als ich jetzt dort Fotos vom Abriss gemacht habe, kam gleich jemand auf mich zu und sagte: „Das da tut mir in der Seele weh. Hier bin ich zur Schule gegangen.“ Worauf ein längeres, recht einvernehmliches Gespräch über Dortmunder Defizite folgte.

Unabhängig davon frage ich mich, ob die Denkmalschützer hier nichts Erhaltenswertes gesehen haben und warum ausgerechnet die Bewohner des umliegenden, linksliberal und grün-alternativ geprägten Kreuzviertels (mit Abstrichen: Dortmunds „Prenzlauer Berg“) in dieser Angelegenheit still und stumm geblieben sind.

Warum wohl trifft es viele so hart, wenn einer wie Mario Götze den Lockungen aus München folgt? Weil es hier manchmal doch etwas trist wäre, wenn wir den Fußball und den jetzt so grandiosen BVB nicht hätten! Na gut: Und noch ein paar andere herrliche Sachen.