Jauchs Talkshow: Mutmaßungen über Hoeneß

Übers Wochenende ist ein Thema hochgekocht, für das Günther Jauch seine ARD-Talkrunde in Windeseile hat umplanen lassen. Die Rede ist natürlich vom Präsidenten und Patriarchen des FC Bayern München, Uli Hoeneß, der Steuern in Millionenhöhe hinterzogen haben soll.

Fernsehleute (und viele Zuschauer) gieren nach Themen, die sich so kraftvoll personalisieren lassen. Welch eine tragische Fallhöhe! Da steht der FC Bayern gerade kurz vor dem sportlichen und wirtschaftlichen Zenit. Da schickt man sich an, am nächsten Dienstag und in der Folgewoche den FC Barcelona zu besiegen und ins Finale der Champions League vorzudringen.

Tiefer Fall einer moralischen Instanz

Und ausgerechnet jetzt wird – durch Recherchen des „Focus“ – bekannt, dass der Übervater des Vereins, der Mann, der vielen als Vorbild oder gar als moralische Instanz galt, nicht nur unter Verdacht steht. Nein, Uli Hoeneß hat tatsächlich (schon im Januar) Selbstanzeige erstattet und damit bereits nicht geringe Verfehlungen zugegeben. Über die Ausmaße wird ebenso spekuliert wie über die Frage, ob die Selbstanzeige „strafbefreiend“ wirkt. Schlimmstenfalls würde Hoeneß sogar eine Gefängnisstrafe drohen.

Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Eine Talkshow, die sich zum jetzigen Zeitpunkt auf das Thema stürzt, läuft Gefahr, zum Tribunal oder zum öffentlichen Pranger zu werden. Doch Günther Jauch lenkte das Gespräch nicht nur in recht vernünftige, relativ ruhige Bahnen, er hatte auch Gäste geladen, denen bewusst war, dass es sich um ein schwebendes Verfahren handelt und dass man einstweilen vielfach nur Mutmaßungen anstellen kann.

Enttäuscht und fassungslos

Dennoch war spürbar, dass die Enttäuschung über Hoeneß überwiegt, der sich 2012 – just bei Jauch – gegen eine drohende „Reichensteuer“ empört und noch dazu gesagt hatte, manche gingen dann eben mit ihrem Geld in die Schweiz. Jetzt wissen wir, dass er selbst offenbar Millionen im Nachbarland gebunkert hatte.

Der langjährige ZDF-„Sportstudio“-Moderator Dieter Kürten, zudem mit Hoeneß befreundet, war ersichtlich völlig aus der Fassung. Er möchte nach wie vor an Hoeneß festhalten und am liebsten alles auf schlechte Berater schieben. Bedeutend strenger äußerten sich hingegen NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans und vor allem der frühere Steuerfahnder Dieter Ondracek, eine nahezu alttestamentarische Erscheinung. FDP-Mann Wolfgang Kubicki, Fachanwalt für Steuerrecht, konnte sich vorstellen, dass die Selbstanzeige von Hoeneß vielleicht nicht rechtzeitig oder vollständig genug eingegangen sei, um noch die erwünschte Wirkung zu erzielen. Könnte es Kubicki gar reizen, einen solch interessanten Fall anwaltlich zu übernehmen? Egal.

„Focus“-Chefredakteur Jörg Quoos sonnte sich anfangs im Erfolg seines Blattes, die Nachricht zuerst gehabt zu haben. Mit zunehmender Dauer schien er unwirsch zu werden, weil er feststellen musste, dass inzwischen andere Presseorgane den Vorsprung mindestens aufgeholt haben. So ist das im schnelllebigen Geschäft; erst recht, seit es das Internet gibt.

Gefundenes Fressen für manche Bayern-Gegner

Jungmoderator Oliver Pocher schließlich mimte ein wenig den „Klassenclown“ und wollte unentwegt locker wirken. Doch bei manchen Themen ist eine solche Grundhaltung etwas fehl am Platze. Immerhin bekam Pocher Szenenapplaus aus dem Saalpublikum, als er meinte, die Mannschaft des FC Bayern werde sich von all dem Gerede nicht irritieren lassen. Tatsächlich geht es ja um privates Geld und nicht um die Festgeldkonten des Vereins. Als Dortmunder und BVB-Anhänger weiß ich, wovon ich rede und was ich so höre: Man kann ziemlich sicher gehen, dass manche Bayern-Gegner quer durch die Republik derzeit klammheimliche Freude empfinden, weil das „Mia san mia“ Risse zu bekommen scheint. Kein schöner Zug.

Ein Thema wird „durchgehechelt“

Nebenher wurde in der Sendung noch ein spezielles Fass aufgemacht: Wer hat eigentlich die ersten Informationen an den „Focus“ gegeben? Für die Ermittlungsbehörden hielten alle die Hand ins Feuer. Und „Focus“-Chefredakteur Quoos wehrte entschieden ab, als hierbei der Name seines prominenten Vorgängers Helmut Markwort genannt wurde, der auch im Aufsichtsrat der Bayern sitzt…

Eins aber ist klar. Bevor die Steuerfahnder ihre Arbeit gemacht und bevor Richter über die Sachverhalte befunden haben, ist das Thema beim Fernsehen längst „durchgehechelt“. Schon an diesem Montag geht’s bei Frank Plasbergs „Hart aber fair“ weiter – mit der etwas scheinheilig klingenden Fragestellung: „Ausgerechnet Hoeneß – wem kann man jetzt noch trauen?“

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Nur noch zwei Wochen Spielraum für Raucher

In zwei Wochen ist es so weit. Dann wird in Nordrhein-Westfalen eines der härtesten Nichtraucherschutzgesetze Deutschlands gelten.

Nur unter freiem Himmel und in (streng definierten, zudem anmeldepflichtigen) geschlossenen Gesellschaften darf dann noch geraucht werden. Falls nicht doch noch ein Gerichtsentscheid Einhalt gebietet (wofür die Chancen freilich sehr schlecht stehen), wird es dann weder Ausnahmen für E-Zigaretten noch für Wasserpfeifen oder so genannte Brauchtums- und Zeltveranstaltungen geben. Auch sind Raucherclubs als Ausweichmöglichkeit künftig nicht mehr gestattet. Im Sommer mag das Rauchen an der frischen Luft ja noch halbwegs angehen, doch wehe, wenn die kälteren Zeiten nahen. Dann wird das Nichtraucherschutzgesetz auch zum Raucherquälgesetz.

Schockfoto aus grauer Vorzeit: Der kleine B. B. darf schon mal proberauchen...

Schockfoto aus grauer Vorzeit: Der kleine B. B. darf schon mal proberauchen…

Das hätte früher mal jemand versuchen sollen: Ausgerechnet am 1. Mai, dem „Tag der Arbeit“ (oder auch „Kampftag der Arbeiterklasse“ seligen Angedenkens), ein solches Gesetzeswerk in Kraft zu setzen! Aber man hätte sich ja vor einigen Jahren auch nicht vorstellen können, dass beispielsweise Iren oder Franzosen sich mehrheitlich den strikten Rauchverboten beugen. Oder flunkert man uns da nur etwas vor?

Zurück nach NRW, wo Grüne und SPD das neue Gesetz beschlossen haben – gegen die Stimmen von CDU, FDP und ein paar Piraten. Man muss nur mal durch die Straßen einer Ruhrgebietsstadt gehen, um zu ahnen, dass die hiesige Mehrheit – anders als etwa im feineren Düsseldorf – immer noch zu großen Teilen aus rauchenden Menschen besteht. Die Faustregel „Je abgetakelter eine Gegend, umso höher die Rauchquote“ dürfte nicht ganz verkehrt sein.

Manche merken sich vielleicht bis zur Bundestagswahl im September, wer ihnen die Rauchverbote eingetragen hat. Wenn’s am Ende um wenige Prozenpunkte geht, gibt so etwas vielleicht gar den Ausschlag.

Es darf einen nicht wundern, wenn bald das große Kneipensterben einsetzt. Viele Leute werden gleich in ihren Wohnungen bleiben. Auch kann man kann sich lebhaft vorstellen, wie sich manche Szenen, die sich bisher gnädig im Inneren von Eckkneipen abgespielt haben, künftig nach draußen verlagern, Lallen und Grölen mitunter inbegriffen. Übrigens: Wer möchte dann gerne mit jenen tauschen, die in bestimmten Stadtbezirken das Verbot mit Bußgeld durchsetzen sollen?

Man schaue sich alte Fernsehdiskussionen bis in die späten 60er und frühen 70er Jahre an: Wie fraglos und haltlos da gequalmt wurde! Unter den Schwarzweiß-Fotos aus meiner Kindheit befindet sich eines, auf dem mein Vater mich (ungefähr 4 Jahre alt) einen Probezug an seiner Zigarette nehmen lässt. Durchaus denkbar, dass ihm heute für einen solche Untat das Sorgerecht entzogen würde. Die Tugendwächter (Raucherschnack: „Tabak-Taliban“) würden sich schon ergänzende Vorwürfe einfallen lassen.

O Zeiten- und Sittenwandel im Zeichen der gesundheitspolitischen Optimierung! Ein samtenes Wort wie „Rauchkultur“ darf man heute kaum noch im Munde führen, ohne strengstens zurechtgewiesen zu werden. Aus alten Filmen, so fordern manche gar, sollen dunstige Szenen möglichst ganz getilgt werden. Wenn es nach gewissen Volksbeglückern geht, sind vielleicht irgendwann die Bücher an der Reihe, in denen Tabak vorkommt. Später streichen sie dann noch Alkohol und Fleisch oder versehen sie wenigstens mit Warnhinweisen in den Fußnoten. Willkommen im neuen Puritanismus.

Ich habe früher vorzugsweise dem schwärzesten Kraut kräftig zugesprochen, jedoch vor fast fünf Jahren das Rauchen aufgegeben und halte mich seither lieber in rauchfreien Gefilden auf. Doch der Starrsinn der Verbotslüsternen, die Raucher als Widersacher begreifen und ihnen keinerlei Spielraum lassen wollen, ist mir trotzdem ein Graus.




Gefährliche Abenteuer am Hindukusch: Linus Reichlins Roman „Das Leuchten in der Ferne“

Es ist eines dieser Bücher, die den Leser schon nach wenigen Zeilen fesseln, weil die Geschichte einfach unglaublich klingt. So mag man Linus Reichlins Buch „Das Leuchten in der Ferne“ nicht eher aus der Hand legen, bis das Schicksal des alternden Kriegsreporters Moritz Martens geklärt ist.

Einmal Hasardeur, immer Hasardeur: Der Auslandsjournalist lässt sich auf eine Reise nach Afghanistan ein, die ihm eine Reportage über eine Geschichte einbringen soll, mit der er seinen Namen wieder aufpolieren könnte. Im Land am Hindukusch hat sich angeblich ein Mädchen in Jungenkleidern einem Trupp von Taliban angeschlossen und es besteht die große Gefahr, dass der Schwindel auffliegt. Da sie wegen ihres Geschlechts Nachteile in der Ursprungsfamilie fürchtet, ist das Mädchen getürmt und sieht in den marodierenden Banden ihre große Chance.

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Martens‘ Sensationsgier trübt allerdings seinen Spürsinn und so fallen ihm die kleinen Unebenheiten der Geschichte, die ihm seine neue Bekannte Mirjam (deren Vorfahren angeblich in Afghanistan lebten) serviert, zunächst einmal gar nicht auf. Erst als er in der Transall nach Feyzabad sitzt, mehren sich die Ungereimtheiten, doch da ist es für eine Umkehr zu spät.

Ob der Reporter aber eine solche Chance überhaupt ergriffen hätte, erscheint äußerst fraglich, er sucht nun mal das Abenteuer. Und von Mirjam möchte er auch nicht lassen. Für seinen Ehrgeiz und seine Zuneigung muss er einen hohen Preis bezahlen, wird er doch gezwungen, sich den islamistischen Kämpfern in den Bergen Afghanistans anzuschließen, um seine Haut zu retten. Tag und Nacht ist er auf sie angewiesen, er erlebt die Gotteskrieger als Menschen, die durchaus verständnisvoll sein können. In dem ständigen Zusammensein ist Martens bemüht, den Taliban gegenüber eine innere Distanz zu wahren, die er vor allem braucht, als sie ihn zum Zeugen einer Steinigung machen. Gleichwohl wird der Reporter später nichts von seinen Erlebnissen preisgeben. Nachdem Geld geflossen ist, eine Geisel und auch er freikommen, drängen ihn die deutschen Militärs, zu berichten, was er weiß. „Martens gab vage Antworten“, heißt es zu Ende des Romans. Die Nähe hat ihn zwar nicht zum Komplizen werden lassen, aber er möchte auch nicht als Verräter dastehen.

Unweigerlich stellt sich die Frage, ob man nun reale Einblicke in das Leben der Taliban bekommen hat oder der Autor, der mit „Der Assistent der Sterne“ das „Wissenschaftsbuch des Jahres 2010“ geschrieben hat, lediglich bekannte Klischees zu den Radikalislamisten benutzt und sie mit Bandenkriminalität vermengt. Aber auch ohne eine klare Antwort bleibt das Buchäußerst lesenswert, allein schon deshalb, weil es in menschliche Abgründe blicken lässt.

Linus Reichlin: „Das Leuchten in der Ferne“. Verlag Galiani, Berlin. 304 Seiten, 19,99 Euro.




Von Goethe bis zum Groschenheft: Dem Schriftsteller Georg Klein zum 60. Geburtstag

„Eigentlich bin ich der Meinung, dass alle, die mit dem Wort arbeiten, irgendwie vom selben Fleisch sind“, antwortete der Autor während der diesjährigen Leipziger Buchmesse seinem Interviewpartner am Stand der Leipziger Volkszeitung. Georg Klein wird heute (29. März) sechzig Jahre alt. Sein Verlag, Rowohlt, hat zu diesem Anlass einen Band mit 77 seiner Texte publiziert, die zuvor größtenteils in Tageszeitungen erschienen waren.

Angesichts der in „Schund & Segen“ versammelten Textsorten lag die Frage des Ressortleiters Kultur der LVZ, Peter Korfmacher, nach dem Verhältnis von Journalismus und Schriftstellerei nahe. Georg Klein reicht dem Journalisten die Hand, indem er über den jeweiligen Redakteur, der ihn um einen Beitrag für sein Blatt bittet, laut denkt: „Das ist auch so einer wie ich; bloß ich habe mehr Freiheit. Dafür hat er ’ne feste Stelle – also, es gleicht sich auch wieder ein bisschen aus.“

Zu den einfacheren, nicht allzu viel Mut erfordernden Freiheiten Georg Kleins gehört es, in einem Zeitungsartikel auch mal „ich“ sagen zu dürfen, was angehenden Journalisten meistens schon im Praktikum oder Volontariat ausgetrieben wird. Der Journalist im Dienst sei zur Sachlichkeit und zur emotionalen Auskühlung verpflichtet; er als Schriftsteller könne auch schon mal auf die emotionale Tube drücken, so Klein.

Die 77 von ungefähr 360 über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren entstandenen „abverlangten“ Texte, die für das Buch ausgewählt wurden, haben so unterschiedliche Gegenstände und Personen zum Thema wie Rolf Dieter Brinkmann, Raymond Chandler, Daphne du Maurier, Umberto Eco, Michael Ende, William Gaddis, Heinrich Heine, Robert A. Heinlein, Franz Kafka, Michael Jackson, Mick Jagger, Stephen King, Wolfgang Koeppen, Ursula Le Guin, Udo Lindenberg, Stanlisław Lem, Jonathan Littell, die Biene Maja, Märklin-Modelleisenbahnen, Josefine Mutzenbacher, Edgar Allan Poe, Gerhard Schröder, Gustav Schwab, Robert Louis Stevenson, Jules Verne oder das alte Kinderspiel „Der Kaiser schickt seine Lakaien hinaus!“

Manche der Artikel waren bereits auf einer älteren, weiterhin verfügbaren Website des Autors veröffentlicht; der hohe Anteil an Science-Fiction-Autoren verdankt sich unter anderem einer Serie der Neuen Zürcher Zeitung. Aber wie kam es dazu, dass Klein auf diese unterschiedlichen Themen von den Zeitungen angesprochen wurde? Weiterhin am LVZ-Stand gibt der Autor Auskunft: „Es entsteht auf der anderen Seite, also bei den Redakteuren, ein Bild davon, wofür man Spezialist sein könnte. Ich wehre mich mit Händen und Füßen dagegen; ich will überhaupt kein Spezialist sein. Aber es hat sich irgendwie herauskristallisiert, dass ich der Spezialist für das Zwielichtige oder für das nicht so ganz Koschere oder für das Schundige oder Trashige bin. Das bin ich schon auch, aber ich schreibe auch gern über Goethe, und nicht nur über Udo Lindenberg.“

Verlage, Medien und der Buchhandel benötigen Schubladen, doch Georg Klein wäre nicht er selbst, erfüllte er lediglich die in ihn gesetzten Erwartungen und hätte er nicht auch mit größeren Überraschungen aufzuwarten. Der Volkssänger Heino etwa sei, wie Georg Klein und sein Interviewer am Messestand der Leipziger Volkszeitung übereinstimmend feststellen, „vermintes Gelände“. Man könne nur entweder Heinos treue Anhängerschaft verprellen oder sich unter Intellektuellen und solchen, die sich dafür halten, lächerlich machen. Dass es etwas Drittes gibt, ohne kompromisslerisch zu werden, beweist der Artikel „Die Sehnsucht der Anderen“, der, ohne sich billig über „die Stimme der Heimat“ zu mokieren, den Geschmack der Menschen ernst nimmt, „die wir brauchen und schätzen“. Rumhacken wäre schäbig.

Der gleichermaßen an Arno Schmidt wie an Groschenheften geschulte Schriftsteller wagt den jeweils frischen Ansatz oder eine Perspektivenverschiebung; oft findet er einen unverbrauchten Zugang zu seinem Thema. Die vom Markt vorgegebenen Formate, wie Ehrungen zum sechzigsten, siebzigsten, achtzigsten Geburtstag oder auch Nachrufe, füllt er kreativ, mitunter geradezu experimentell aus, wie etwa im Vergleich des toten Stanlisław Lem mit dem Aussterben der Mammuts. Die „Pietätsstarre auflösen“ nennt Georg Klein das im Interview mit Tina Mendelsohn im 3sat-Forum am Leipziger Buchmesse-Freitag.

Als Antwort auf die Literaturkanon-Debatte verteidigt er „das wilde Lesen, das uns das richtige Buch im richtigen Moment in den Schoß wirft.“ Er glaube, dass er schlechten Büchern oder dem Fernsehen, das ja auch nicht immer den Ruf der Hochkultur habe, unglaublich viel verdanke, sagt Georg Klein in dem vom Sender 3sat aufgezeichneten Gespräch. Als Beispiel nennt er Hildegard Knefs Schicksalsroman „Das Urteil“, der ihn als sechzehnjährigen, noch weichen Leser damals mit aller Vehemenz getroffen habe. „Warum sollte ich hochnäsig verspotten, was mir viel gegeben hat?“, fragt er in einem Interview in der letzten Ausgabe der Zeitung für Literatur „Volltext“ (Nr. 1/2013).

Eine Sympathiebekundung für eine Politikerin mag den Leser von „Schund & Segen“ gleichermaßen wie die Redaktion der „Berliner Zeitung“ überrascht haben. „Wir kennen Angela Merkel nicht; aber wir zweifeln nicht an ihrem Humor“, heißt es in seinem Artikel über die „Schutzpatronin der Verdrossenen“. Humor? Angela Merkel? „Ich habe mir gedacht: ich verkläre sie. Ich verkläre sie zu dem, was sie vielleicht bestenfalls ist“, sagt Georg Klein in seinem dritten öffentlichen Interview am Buchmesse-Freitag, diesmal im ARD-Forum im Gespräch mit Jörg Schieke.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Artikels im September 2009 hatte Georg Klein die Gelegenheit, die Kanzlerin abseits des Medienzirkus in kleinem Kreis kennenzulernen, und fand, wie er bekennt, den vermuteten Humor mehr als bestätigt: „Die Frau ist hinreißend witzig.“ Geistreich, humorvoll – „Es ist ein Glück, Zeit mit ihr zu verbringen.“

Neben ihrem Humor sind es vor allem Ausdauer und Redlichkeit, was Georg Klein an der Kanzlerin schätzt – Tugenden, die auch die seinen sind.
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Georg Klein am Buchmesse-Stand von 3sat am 15.03.2013; Foto: W. Cz.

Georg Klein am Buchmesse-Stand von 3sat am 15.03.2013; Foto: W. Cz.

Seinen Lesern gegenüber verhält er sich ebenso fair, wie er den von ihm porträtierten Personen gerecht zu werden versucht. Georg Klein fordert die Leser oft heraus; seine Sprache verlangt meistens eine langsame, genaue Lektüre. Doch mag auch die Handlung mancher seiner Romane rätselhaft sein, sie ist nicht kryptisch in dem Sinne, dass ein Leser zum Verständnis auf Spezial- oder Geheimwissen, das nur außerhalb der Buchdeckel durch aufwendige Recherchen zu entdecken wäre, angewiesen ist.

Dieses Irgendwie-vom-selben-Fleisch-Sein in der eingangs zitierten mündlichen Antwort vor der laufenden LVZ-Kamera ist etwas, was Georg Klein auch erfolgloseren Kollegen vermitteln kann. Er, der zunächst zwanzig Jahre lang unbeachtet schrieb, bevor er „entdeckt“ und spätestens durch die Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises 2000 einem größeren Publikum bekannt wurde, musste zunächst auch Ablehnung erfahren. Verständnisvolle kollegiale Verbindlichkeit hat auch die von ihm geleitete Schreibwerkstatt geprägt, an der teilzunehmen ich das Glück hatte, damals im Mai 2004, als Georg Klein als Poet in Residence an der Universität Essen gastierte.

Georg Kleins Kunst erschöpft sich freilich nicht in Fairness und Verbindlichkeit, was auf Dauer bloß Langeweile produzieren würde. Allen seinen Romanen unterliegt etwas Geheimnisvolles, dem nicht so leicht auf die Spur zu kommen ist.

Das Bild bei den Zeitungsredaktionen, wofür Georg Klein ein Spezialist sein könnte, ist ja nicht zuletzt durch seine Romanveröffentlichungen entstanden. Der oft gelesene Hinweis auf das „Spielen mit unterschiedlichen Genres“ wie Agentenroman („Libidissi“, 1998), Detektivgeschichte („Barbar Rosa“, 2001), Horror- („Die Sonne scheint uns“, 2004) oder Ärzteroman („Sünde Güte Blitz“, 2007) allein erklärt nicht das Faszinosum seiner Prosa.

Einer der engsten Geistesverwandten könnte der Filmemacher und Fotograf David Lynch sein, mit dem auch der Band „Schund & Segen“ eröffnet wird. Das Unerklärliche und Phantastische durchwirkt sogar Georg Kleins autobiographischstes Werk, den preisgekrönten „Roman unserer Kindheit“.

In seinen Dankesworten zum Preis der Leipziger Buchmesse 2010 bezog der Autor nicht nur Jurorinnen, Juroren, Verleger, Schriftsteller-Gattin und die üblicherweise Genannten ein, sondern er gedachte auch mit Dankbarkeit der Verstorbenen. Einen Moment schien so etwas wie Sokrates‘ Daimonion spürbar zu sein, eine Ahnung, dass die „Erste Wirklichkeit“, wie Georg Klein sie in einem seiner Texte nennt und an die wir alle „gnadenlos zu glauben haben“, nicht die einzige sein könnte.

Aber sei es eine Art Schutzgeist wie das koboldartige Wesen, das in „Sünde Güte Blitz“ in die Geschicke der Romanfiguren eingreift; seien es die Gesetze des Traums; sei es ein undurchschaubarer Freak wie der, der sich in dem „poetologischen Versuch“ – ein gleichermaßen ironisch wie ernsthaft wirkender Untertitel – dem Erzähler in „Die Hölle der Autoren“ aufdrängt und der den Eindruck erweckt, die Erzählstoffe suchten sich ihren Autor, und nicht umgekehrt (nachzulesen auf Georg Kleins älterer Website); oder die Ahnung von etwas Vorformuliertem, in seiner Form bereits Feststehenden, wie es im Text „Esperanza“, abgedruckt in der in Münster erscheinenden Literaturzeitschrift „Am Erker“ (Nr. 50), durchscheint; sei es schließlich auch eine Substanz wie die, an deren Einnahme Georg Klein sich in dem kurzen Text „Mein asiatisches Gesicht“ erinnert, der 2005 in der von Thomas Böhm herausgegebenen Anthologie „Weltempfang“ erschienen ist – der heute zu ehrende Autor schreibt nie so, dass er von Esoterikern und Phantasten leicht vereinnahmt werden könnte.

Bis im Herbst 2013 der angekündigte Roman „Die Zukunft des Mars“ erscheint, gibt es auch an abgelegenen Eckchen unseres Literaturplaneten noch viel von Georg Klein zu entdecken.

Georg Klein: „Schund & Segen. 77 abverlangte Texte.“ Rowohlt Verlag, 432 Seiten; 22,95 Euro.




„Dortmunder Modell“: Die Stadt muss kleinlich sparen, ihr Airport macht Millionen „Miese“

Kürzlich konnte man im Dortmunder Lokalteil der Ruhr-Nachrichten (RN) erfahren, wie kleinlich inzwischen die Sparschrauben bei der Stadt angesetzt und festgedreht werden. Beispiele erwünscht? Bitte sehr: Zootiere bekommen ab jetzt weniger Frischkost. Macht gerade mal 10 000 Euro im Jahr. Brunnen sprudeln künftig seltener, was Strom und Wasser spart. 35 000 Euro im Jahr. Vom Kulturbereich mal wieder ganz zu schweigen.

Völlig ohne weitere Erläuterung finden sich in dem RN-Artikel Posten wie die Kündigung der „Alarmaufschaltung zur Überwachung“ der kommunalen Kindertagesstätten (was besagt das, bitte?) mit einer Ersparnis von 36 000 Euro, die hoffentlich niemand bereuen wird. Ferner werden die Kosten für Lebensmittel in den Kitas um 12,5 Prozent oder 175 000 Euro gekürzt. Das ist schon ein größerer Batzen. Steigen also die Elternbeiträge? Oder wird die Verpflegung einfach reduziert? Erläuterung Fehlanzeige. Nach dem eher als tabellarisches Kuriositäten-Kabinett angelegten Bericht hat man mehr Fragen als vorher.

Ein Monster als Maskottchen: Dortmund Airport (Foto: Bernd Berke)

Ein Monster als Maskottchen: Dortmund Airport (Foto: Bernd Berke)

Doch darauf wollte ich gar nicht in erster Linie hinaus. Halten wir uns noch einmal die genannten Beträge vor Augen, um sodann das aktuelle Jahres-Defizit des Dortmunder Flughafens erst richtig würdigen zu können. Der von den Stadtspitzen aus Prestigegründen seit jeher gehätschelte Airport, der ja auch ein paar nette Pöstchen bietet, hat – wie jetzt bekannt wurde – 2012 abermals 18,5 Millionen Euro Miese gemacht. Das ist eine Million weniger als 2011 und das geringste Minus seit 2003, also haben wir es quasi noch mit einer vergleichsweise guten Nachricht zu tun.

Man kann sich ungefähr ausmalen, was sich da im Lauf der Jahre angesammelt hat. Und wer springt finanziell ein? Nun, die allzeit ziemlich klamme Stadt Dortmund (26% Anteile) und die Dortmunder Stadtwerke DSW 21 (74% Anteile), eine hundertprozentige Tochter der Stadt. Mit den Strom-, Gas- und Wasserpreisen subventionieren Einwohner und Wirtschaft also den Flughafen ganz gehörig.

Absurde Rechenaufgabe: Wie vielen Zootieren könnte man da wie viele hundert Jahre lang Frischkost nach Herzenslust kredenzen? Doch mal ganz ernsthaft: Wie viele Theater, Museen, Schulen, Kindergärten, Sportvereine oder Schwimmbäder könnte man wirksam fördern, wenn es diesen Flughafen nicht gäbe? Wie viele Straßen ließen sich schnellstens reparieren, wie viele Sozialleistungen bezahlen?

Wer solche Verluste schreibt wie der Dortmunder Flughafen, der wird doch wohl wenigstens einen Airport von internationaler Bedeutung betreiben? Nun ja, wie man’s nimmt. Eigentlich eher nicht. Das offizielle Dortmund gefällt sich darin, dass die heimische Geschäftswelt von hier aus aufbrechen kann – freilich geht’s direkt weder nach Berlin noch nach Paris, Rom, Mailand oder Madrid. Ein paar Touristen fliegen nach „Malle“ oder Faro, einige Heimaturlauber zu teilweise zweitrangigen Destinationen Osteuropas (siehe Liste am Ende des Beitrags).

Von Steigerungsraten kann auch keine Rede sein. Im Gegenteil. Sowohl die Zahl der Passagiere als auch – besonders drastisch – die Menge der beförderten Luftfracht hat mit den Jahren in Dortmund kontinuierlich abgenommen. Gleichwohl werden weite Teile der Stadt und der östlich angrenzenden Gemeinden mit Fluglärm versorgt. Offenbar noch nicht genug. Stets wird uns vorgegaukelt, dass längere Betriebszeiten (am frühen Morgen und nachts) bzw. eine verlängerte Start- und Landebahn die Verluste mindern würden.

Da sehnt man sich im Kleinen geradezu nach einer „Berliner Lösung“ – einem Flughafen, der nie und nie eröffnet oder wenigstens nicht erweitert wird.

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Dortmunder Destinationen

Alghero, Italien
Belgrad, Serbien
Breslau, Polen
Budapest, Ungarn
Bukarest, Rumänien
Cluj-Napoca, Rumänien
Gdansk (Danzig), Polen
Faro, Portugal
Girona, Spanien
Istanbul, Türkei
Izmir, Türkei
Kattowitz, Polen
Kiew, Ukraine
Lemberg, Ukraine
London, Großbritannien
Málaga, Spanien
München, Deutschland
Neumarkt, Rumänien
Oporto, Portugal
Palma de Mallorca, Spanien
Posen, Polen
Skopje, Mazedonien
Sofia, Bulgarien
Temeschwar, Rumänien
Vilnius, Litauen




Der Zweite Weltkrieg in Nahansicht: Zum ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“

Es wurde mal wieder hohe Zeit für ein solches Großereignis im Fernsehen: Der Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ (ZDF) scheint die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch einmal ganz nah heranzurücken. Wir wissen, dass damals Millionen elendiglich gestorben sind. Und doch werden uns immer Einzelschicksale am meisten berühren.

Fünf Freunde beim Abschied im Sommer 1941. Von links: Greta (Katharina Schüttler), Wilhelm (Volker Bruch), Charlotte (Miriam Stein), Friedhelm (Tom Schilling), Viktor (Ludwig .  (Foto: © ZDF/David Slama)

Fünf Freunde beim Abschied im Sommer 1941. Von links: Greta (Katharina Schüttler), Wilhelm (Volker Bruch), Charlotte (Miriam Stein), Friedhelm (Tom Schilling), Viktor (Ludwig Trepte). (Foto: © ZDF/David Slama)

Der entsprechenden Dramaturgie, die uns gleichsam mitten ins Geschehen führt (Bewunderung gilt nicht zuletzt den Kulissenbauern und Kostümbildnern), folgt auch die Spielhandlung, die Regisseur Philipp Kadelbach mit einem großartigen Schauspieler-Ensemble in Szene gesetzt hat: Fünf Freunde treffen sich im Sommer 1941 noch einmal in Berlin. „Weihnachten sehen wir uns wieder“, glauben sie allen Ernstes und prosten einander fröhlich zu. Sie sind jung, lebenshungrig und halten sich für unsterblich. Wie tragisch sie sich irren!

Fünf Freunde und ihre Illusionen

Der Anlass des Abschieds-Umtrunks: Wilhelm (Volker Bruch) und sein schöngeistiger jüngerer Bruder Friedhelm (Tom Schilling) müssen an die Ostfront nach Russland ziehen, „den Iwan ein bisschen verhauen“, wie anfangs naiv gescherzt wird. Charlotte (Miriam Stein) folgt ihnen als Krankenschwester ins Feldlazarett. Greta (Katharina Schüttler) und ihr jüdischer Freund Viktor (Ludwig Trepte) bleiben unterdessen in Berlin, wo auch sie in ein Gestrüpp von Lüge und Verrat hineingerissen werden. Denn Viktor wird von NS-Schergen verfolgt und da nützt es gar nichts, dass Greta, die als Sängerin Karriere machen will, sich mit einem ebenso hochrangigen wie schmierigen Nazi einlässt, um Ausreisepapiere für Viktor zu beschaffen. Freilich lässt sie sich auch von der Aussicht auf Rundfunkaufnahmen betören.

Erschießungen gegen jedes Völkerrecht

Im steten Wechsel schwenkt die Handlung zwischen Berlin, der Front und dem Lazarett hin und her. In Russland zeigt sich mehr und mehr, wie schmutzig dieser Krieg geführt wird – mit Exekutionen wider jedes Völkerrecht, mit willkürlichen Erschießungen und Gräueltaten. Das Lazarett erweist sich als Schlachthaus, in dem Tag und Nacht die Schmerzensschreie durch Mark und Bein dringen. Und dann kommt auch noch der eisige russische Winter, in dem der zuerst so zartsinnige Friedhelm zum Zyniker und härtesten Hund von allen wird.

Der Film lässt drastische Szenen nicht aus. Schon in der ersten Folge bleiben keine Zweifel, dass der Krieg in jedem das Schlechteste weckt. Entweder Täter und Verräter oder Opfer – dazwischen gibt es praktisch nichts – bei allem Bemühen um Differenzierung. Das ist umso schrecklicher, als diese Generation unserer Mütter und Väter (wie hier sehr deutlich herausgearbeitet wird) wunderbar normal hätte sein und leben können, wenn sie nur nicht diesem verfluchtem Regime verfallen wären.

Ein Projekt für alle Generationen

Im Vorfeld dieses Dreiteilers hatte Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), die Bedeutung dieser Produktion beschworen und mahnend festgestellt, dass allmählich die allerletzten Zeitzeugen des Weltkriegs sterben. Deshalb sollten sich die verbliebenen Generationen diesen Film unbedingt gemeinsam anschauen. Er hat recht. Tatsächlich habe ich mir an etlichen Stellen des ersten Teils gewünscht, ich hätte ihn noch gemeinsam mit meinen Eltern sehen können.

Mein Vater ist – wie so viele andere – immer sehr wortkarg gewesen, wenn es um seine Erlebnisse an der Ostfront ging. Dieser Film, der anschließend von einer Dokumentation und einer Spezialausgabe von Maybrit Illners Talk begleitet wurde, hat vielleicht die Wucht und überhaupt die Qualität, doch noch diese oder jene Zunge zu lösen.

Teil zwei und drei (Montag, 18. März, und Mittwoch, 20. März, jeweils 20.15 Uhr) sollte man sich nicht entgehen lassen.

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„Der Minister“: Ein Taugenichts will ganz nach oben

Schon als Lausbub bedient sich Franz Ferdinand von und zu Donnersberg der Fähigkeiten seines schlauen Freundes Max Drexel. In der Schule darf er von ihm abschreiben. Später lässt er sich von ihm durchs Abitur hieven. Und als der smarte Frauenliebling Franz Ferdinand in die Politik gegangen ist, schreibt ihm Max noch die schludrige Doktorarbeit.

Große Pose in New York: Kai Schumann als Minister Franz Ferdinand von und zu Donnersberg (Bild: SAT.1)

Große Pose in New York: Kai Schumann als Minister Franz Ferdinand von und zu Donnersberg (Bild: SAT.1)

Das kommt einem doch irgendwie bekannt vor? Richtig. Die Geschichte des Freiherrn von und zu Guttenberg hat hier ganz offensichtlich über weite Strecken Pate gestanden. So eng ist die Story um den allzeit eitlen Selbstdarsteller Donnersberg (Kai Schumann) gelegentlich an wirkliche Begebenheiten angelehnt, dass man sich fragt, ob es hier nicht juristisch heikel werden könnte. Aber solche Fragen wollen wir gern den Anwaltskanzleien überlassen.

Fachwissen ist nur hinderlich

„Der Minister“ (SAT.1) gehört zu den großen Eigenproduktionen, die die deutschen Privatsender hin und wieder stemmen. Wir erleben die rasante Verwandlung eines Taugenichts und Schaumschlägers zum ministrablen Politiker, der zwischenzeitlich gar die Umfragewerte der Kanzlerin übertrifft. Ein bisschen Gel ins Haar, dann noch die richtige Brille, Ahnung von der politischen Materie ist hingegen nicht nötig, ja sogar hinderlich. Erst recht braucht man keine festen Überzeugungen. Lieber noch eine attraktive Blondine (Alexandra Neldel) geheiratet und den Chefredakteur (Thomas Heinze) der größten Boulevardzeitung, hier „Blitz-Kurier“ genannt, kennen gelernt – und fertig ist der Erfolgstyp. Als der erst einmal an der Macht geschnuppert hat, will er auch ganz nach oben, also ins Kanzleramt.

Die schier unglaubliche Handlung, die sich in einigen Grundlinien aber tatsächlich zugetragen hat, wird vorwiegend aus Sicht des zunehmend nachdenklichen Max Drexel (Johann von Bülow) erzählt, der als persönlicher Berater mit in die Ministerien einzieht und zunächst gleichfalls vom Aufstieg berauscht ist, jedoch irgendwann die ganze Posse (auch weil seine Ehe daran zu scheitern droht) leid ist und von Donnersberg („Mensch Donni, alte Kaschmirsocke!“) schließlich auffliegen lässt. Doch schon bald hat der Ex-Minister sein Comeback im Sinn; ganz wie im richtigen Leben.

Sprüche aus der Polit-Historie

Früher hat ein Helmut Dietl („Kir Royal“, „Schtonk!“, „Rossini“) solche Stoffe verfilmt. An dessen Prägekraft kommt Uwe Jansons Film beileibe nicht heran. Vor allem am Anfang stehen Drehbuch und Darsteller unter ständiger Anspannung, es herrscht haltloser Lustigkeitszwang. Fast jeder Satz muss einen schnell zündenden Gag enthalten. Sprüche aus der bundesdeutschen Polithistorie werden nahezu im Dutzend losgelassen, beispielsweise: „Wer Visonen hat, soll zum Arzt gehen.“ (Helmut Schmidt), „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort…“ (Uwe Barschel), „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“ (Konrad Adenauer). Und noch einige andere.

Immerhin gibt’s ein paar wirklich witzige Einfälle mit parodistischen Qualitäten und überwiegend passable Schauspielerleistungen. Allen voran: Katharina Thalbach liefert als Kanzlerin Angela Murkel (!) die treffliche Skizze einer souveränen Frau, die den ganzen Betrieb durchschaut und stets klug abwartend taktiert. So übersteht sie jeden Spuk.

Freilich gibt’s auch etliche alberne Szenen, in denen das Ganze zu Slapstick und Muppet-Show tendiert, wobei auch die landläufige Politikverdrossenheit bedient wird. Richtig gute Satiren werden wohl doch mit etwas feineren Fäden gesponnen.

Seitenhiebe gegen den Konkurrenzsender

Bemerkenswert übrigens die kaum verhüllten Seitenhiebe gegen die SAT.1-Konkurrenz RTL. Mehrfach ist da von einem offenbar dümmlichen Sender „RTO 5“ die Rede. Dessen Reporterin schildert beim Afghanistan-Trip des Verteidigungsministers von und zu Donnersberg vor allem das todschicke Kostüm der Gattin, während gleich darauf ein Mann von SAT.1 auftaucht und knallhart-investigative Fragen zu Kriegsopfern stellt. Aha. So haben wir das noch nie betrachtet.

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Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Vor acht Jahrzehnten in Ennepetal: Schüsse und Verletzte zur Machtübergabe an Hitler

Am 30. Januar 1933, vor acht Jahrzehnten, machte der alte Soldat und Reichspräsident Hindenburg den Anführer der Nationalsozialisten, Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Hindenburg und seine rechtsnationalen Freunde glaubten, diese Meute im Griff zu haben, doch in Wirklichkeit bedeutete die Machtübergabe den Beginn der schlimmsten Diktatur der europäischen Geschichte.

Hitler und Hindenburg in Potsdam.

Hitler und Hindenburg in Potsdam.

Im ganzen deutschen Reich wurde noch am Abend des 30. Januar der Machtwechsel mit Fackelzügen gefeiert. Aber auch Gegner der von diesen damals schon so bezeichneten „Hitler-Papen-Diktatur“ waren noch aktiv, wie das Beispiel der kleinen Stadt Ennepetal zeigt. Die „Milspe-Voerder Zeitung“ (MV) berichtete am Nachmittag des 31. Januar 1933: „Heute in aller Frühe zog ein Sprechchor durch die Straßen. Vermutlich handelte es sich um Anhänger einer Linkspartei, die Niederrufe auf die neue Regierung Hitler erklingen ließen.“

Die Lage wurde aber dramatischer, als am 2. Februar auch Schusswaffen ins Spiel kamen. Die MV-Zeitung schrieb am Tag danach: „Eine Prügelei entstand gestern Mittag zwischen politischen Gegnern hinter dem Amtsgebäude, wobei ein Anhänger der NSDAP bedrängt wurde und eine Schusswaffe zog, worauf er von der herbeieilenden Polizei in Schutzhaft genommen wurde. Es sammelte sich eine große Menschenmenge an, doch konnte die Polizei im Verein mit dem alarmierten Schwelmer Überfallkommando die Ordnung aufrechterhalten“.

Nicht berichtet wurde in der Zeitung, was sich in den Akten über schwere Unruhen mit drei Schwerverletzten am Tag nach der Machtübergabe in Gevelsberg und Milspe (heute Ennepetal) abspielte: Ein Demonstrationszug mit NSDAP-Anhängern sowie SA- und SS-Leuten hatte sich am Abend des 1. Februar von Gevelsberg aus in Bewegung gesetzt und war in Richtung Milspe gezogen. Gegen 22.40 Uhr kam er in Milspe an und wollte nach links in Richtung Voerde abbiegen. Den Schluss bildete eine SA-Gruppe. „Plötzlich fielen drei Schüsse kurz hintereinander“, heißt es im Polizeiprotokoll. „Die Menge stob auseinander. Die Polizeibeamten, und zwar nur zwei, liefen zurück und fanden ein Gewoge auf der Straße, das sie alleine nicht beherrschen konnten.“ Drei Verletzte wurden sofort in eine benachbarte Arztpraxis geschleppt. Weil sich vor Ort nicht habe klären lassen, ob die Schüsse aus dem Zug heraus oder vom Publikum am Straßenrand ausgegangen seien, „konnten irgendwelche Ermittlungsmaßnahmen nicht getroffen werden“, heißt es in den Akten. Jedenfalls wurden der Sozialdemokrat Thomas Drabent, der christliche Arbeiter Karl Grothe und der Kommunist Hermann Schott durch Schüsse schwer verwundet.

Am Tag danach kursierte ein Flugblatt: „Arbeiterblut floss in Milspe! Das ist der Auftakt der Hitler-Papen-Diktatur! Die SA räumt mit der Pistole in der Hand die Straße“. Eine für den Nachmittag angekündigte Demonstration der KPD gegen „die braunen Mordbanden“ wurde von der Polizei jedoch verboten. Die NSDAP erklärte in einem Brief an die Zeitung unter der Überschrift „Kommunistische Mordhetze fordert drei Opfer“, dass „die zaghafte Behandlung dieses … verführten Untermenschentums ein Ende haben muss.“ Wenige Wochen später wurden die Gemeinderatsmitglieder der KPD und einige Sozialdemokraten verhaftet, die NSDAP sicherte sich auch vor Ort die Macht.

 




Eine stolze Partei feiert ihren 150. Geburtstag – ein Geschichtsbuch gehört dazu

In diesem Jahr feiert die deutsche Sozialdemokratie ihren 150. Geburtstag. Stolz erklären ihre Anführer, die älteste demokratische Partei Europas zu sein, und die SPD sei nie – wie andere – gezwungen gewesen, ihren Namen ändern zu müssen. Am Gründungstag, dem 23. Mai, wird es in Leipzig einen pompösen Festakt geben. Möglicherweise beehrt ja sogar die Bundeskanzlerin ihre politischen Gegner mit ihrer Anwesenheit.

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Passend zu diesem Jubiläum ist im parteieigenen Vorwärts-Buchverlag ein neues Buch über die Geschichte der SPD erschienen: Peter Brandt, Sohn des ehemaligen Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers Willy Brandt und Professor für Geschichte an der Fernuniversität Hagen, hat es zusammen mit Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, verfasst. „Mehr Demokratie wagen – Geschichte der Sozialdemokratie 1830-2010“ heißt das Werk mit dem wissenschaftlichen Anspruch, das aber dennoch leicht lesbar geworden ist.

Das Anfangsjahr mag irritieren, aber natürlich entstand die Partei der Arbeiterbewegung nicht im luftleeren Raum. Vom Frühsozialismus in den Auslandsvereinen der Handwerksgesellen schreiben die Autoren ebenso wie über den Verlauf und das Scheitern der Revolution 1848/49, bevor sie auf Ferdinand Lassalle und den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein kommen – die Keimzelle der späteren Partei SPD. Über die Bismarckjahre und die Kaiserzeit geht es weiter in die Weimarer Republik und zur Beschreibung der standhaften Weigerung der Sozialdemokraten, die Machtübergabe an Hitler und die Nationalsozialisten zu akzeptieren. Verfolgung und Exil waren das zwangsläufige Ergebnis.

Interessanterweise nennen die beiden Autoren ihr letztes Kapitel „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts oder neue Umbruchzeit 1980-2010?“ Vom „stufenweisen Machtverlust“ und der „Suche nach dem SPD-Milieu“ ist da die Rede. Ihr Fazit? „Die Zukunftsaussichten der SPD als einer Partei eigener Prägung hängen letztlich davon ab, ob die herrschende Variante des finanzmarktdominierten Kapitalismus sich immer weiter durchsetzen wird.“

Wissenschaftlich will diese Geschichtsschreibung sein, fast 600 Anmerkungen und eine ausführliche Literaturliste finden sich im Anhang, aber natürlich – das zeigt schon der herausgebende Verlag – werden die Sympathien für den Gegenstand der Untersuchung nicht verheimlicht. Von Willy Brandts Sohn hätte man wohl auch nichts Anderes erwartet.

Peter Brandt/Detlef Lehnert: „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830-2010. Vorwärts buch Verlag, Berlin. 296 Seiten. 20 Euro.




Wie man mit einer Unterschrift die Armut verringern könnte

In regelmäßigen Abständen laufen Nachrichten über den Bildschirm über die zunehmende Armut in unserer Gesellschaft. Dazu gehört meist der Hinweis auf die entsprechende Definition von Armut: Wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung habe, der gelte als arm. Wie absurd diese relative Festlegung ist, soll hier einmal am Beispiel der Stadt Ennepetal im Süden des Reviers, fast schon im Sauerland, dargestellt werden.

Rathaus

Rathaus der Stadt Ennepetal.

Das Städtchen hat gut 30.000 Einwohner mit, zum Beispiel, einem Durchschnittseinkommen von 15.000 Euro. Von den 30.000 Einwohnern haben nun 3.000 Einwohner weniger als 9.000 Euro zur Verfügung und wären nach obiger Definition als arm zu bezeichnen. Nun lebt aber in der Stadt auch ein millionenschwerer Unternehmer, der auf die Idee kommen könnte, seinen Wohnsitz ganz auf die geliebte Insel Sylt zu verlegen. Mit seiner Unterschrift im Einwohnermeldeamt des Rathauses sänke das Durchschnittseinkommen von einer Sekunde zur anderen um ungefähr 800 Euro. Die Armutsgrenze begänne nun nicht erst bei 9.000, sondern schon bei 8.520 Euro. Der gute Mann hätte also mit seinem Federstrich alle Menschen aus der Armut gerettet, die zwischen 8.250 und 9.000 Euro für ihr Leben zur Verfügung haben. Er wäre sozusagen ein Wohltäter, ohne etwas dafür zu bezahlen.

In der Weihnachts-„Zeit“ wird eine andere und meines Erachtens sinnvollere Statistik veröffentlicht: Wir, die Gesellschaft, versprechen in Deutschland allen Bürgern ein Mindesteinkommen, sei es als Grundsicherung, Asylhilfe oder Arbeitslosengeld II (Hartz 4). Die Zahl der Mitbürger, die auf diese Hilfen angewiesen sind, sank in den letzten fünf Jahren von etwa 8,15 Millionen auf 7,26 Millionen, also um ungefähr 10,9 Prozent. In absoluten Zahlen ist die Armut also gesunken. Natürlich muss man immer darüber reden, ob die Grundsicherung hoch genug ist, aber man sollte es nicht bei der Debatte über angeblich zunehmende relative Armut belassen.




Weltuntergang – haben wir doch längst, oder?

So! Nun isses nur noch ein Tag und dann wird es wohl doch nicht zum angekündigten Weltuntergang kommen. Ob ich das bedauern soll oder frohlocken werde, habe ich noch nicht entschieden.

Bedauerlich ist die Erkenntnis, dass der weitere Bestand des Erdballs und seiner zahlreichen Anlieger wenig verbesserte Aussichten für die Zukunft birgt – in so manchem Neubeginn steckt ja bekanntlich eine Chance. Und nun fällt der Neubeginn flach. Frohlockend kann ich annehmen, dass es noch Chancen auf Umkehr in diversen Bereichen gibt, die in der Ferne Wege in eine bessere Zukunft wetterleuchten lassen.
Was schreibe ich denn da für einen Quatsch?!

Gewiss ist zwar (von der NASA bestätigt), dass unseren blauen Ball weder ein gewaltiger Meteoriteneinschlag zerplatzen lässt noch ein benachbartes Schwarzes Loch seine Masse mit uns auffüllt. Aber heißt das wirklich, es könne morgen keinen Weltuntergang geben? D e n Weltuntergang sicher nicht, aber viele kleine, erschütternd schlimme und ermüdend wiederkehrende Untergänge.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Beispielsweise wird es auch übermorgen noch die Verantwortlichen und ihre Nachplapperer geben, die populär die Ansicht vertreten, dass kulturelle Angebote nur Geld kosten und nichts einbringen. Oder es gibt standhaft und ihren Bestand pflegend auch fürderhin Exemplare der Gattung Mensch, die nur ihre eigene Nationalität, nur ihre religiöse Glaubensfestigkeit, nur ihre Einstellung zur Freiheit und deren Aufrüstung erfordernde Verteidigung bzw. weltweite Verbreitung für die einzig wahre und wichtige halten. Es wird ganz sicher auch in aller Zukunft die unter uns geben, die ebenso irrtümlich wie verbohrt daran festhalten, dass nur der FC Bayern jeden sich bietenden Titel gewinnen kann – nun, ab Februar werden sowohl dieser FC als auch seine stets irrenden Fans eines Besseren belehrt.

Und um die kurze und völlig unvollständige Aufzählung weltuntergangsähnlicher Begebenheiten der Zukunft ab übermorgen zunächst einmal abzuschließen, nenne ich auch die Irrgläubigen, die daran festhalten, dass es korrupte Banker geben muss, weil sie Gutes tun, dass es promovierte Politiker und – innen geben muss, weil sie Kluges tun, dass es Frau Merkel als Bundeskanzlerin geben muss, damit Europa viermal im Jahr gerettet wird und dass es Günther Netzer im Fernsehen geben muss, um Dortmundern das Fußballspiel zu erläutern.

Werte Leserin, liebenswerter Leser, Ihr bemerkt schon, dass ich gar nicht so viele Zeilen verfassen kann, wie es Einzelanlässe gibt, entweder den baldigen Weltuntergang herbei zu sehnen oder fest daran zu glauben, dass dies die manifestierten menschlichen Beiträge zu demselben sind. Bisweilen frage ich mich ziemlich depressiv, welche böse Überraschung die Zukunft noch bereithält, dass mein Optimismus, der Mensch könne doch irgendwann einmal zu Verstand kommen, die Kreideklippen von Dover hinuntergestürzt wird.

Kehren wir zurück zu dem, was uns, die wir an dieser Stelle schreiben und bleiben, bislang auszeichnete – unserer grenzenlosen Zuversicht. Ein wie auch immer gearteter Gott wird den menschlichen Genpool erweitern und zukünftigen Generationen die Chance eröffnen, intelligentes Leben auf der Erde zu verbreiten. Neue Menschen werden Regierungen bilden, die gesamtgesellschaftlich geprägten Verstand in ihre Tagesarbeit stecken. Energiegewinnung und –erzeugung werden nicht mehr nach Profit, sondern nach dem Grad ihrer Dienstleistung an den mit uns lebenden Menschen organisiert. Und Fernsehen wird produziert, bei dem jedem Menschen das geboten wird, womit er am liebsten unterhalten wird – ich betone jedem.

So, genug gesponnen. Das alles wird natürlich nicht eintreten, ebenso wenig wie ein FC Bayern jemals realistisch genug geführt werden wird, dass er die Vision des eigenen Scheiterns auch nur in Betracht zöge.
Und ich gebe dennoch freimütig zu, dass ich mich auf das kommende Jahr freue, nicht nur weil ich in Sachen Fußball und seiner aktuellen Qualitätsführerschaft so optimistisch bin – aber auch deshalb. Vielmehr bin ich total optimistisch, dass Weltuntergangsszenarien an diesem Portal noch lange vorüberziehen werden und hier noch vieles Kluges zu lesen sein wird, mit oder ohne Promotion der Verfassenden. Also, den weltuntergangsresistenten Revierpassagen ein tolles Neues Jahr – so in zehn Tagen.




Beispiel Ennepe-Ruhr-Kreis: Wie vor acht Jahrzehnten die erste deutsche Demokratie unterging

Nun sind schon fast achtzig Jahre vergangen, seit in Deutschland die erste Demokratie gescheitert oder besser verraten worden ist. Was damals, im Winter 1932/33 los war, kann heute fast niemand mehr erzählen. Die damals jungen Menschen sind inzwischen fast alle tot. Aber es gibt ja andere Quellen der Warnung.

Die Gevelsberger Einkaufstraße hieß schon bald Adolf-Hitler-Straße.

Die NSDAP und ihre SA fanden nicht nur in den Großstädten immer mehr Anhänger, sondern auch in Kleinstädten wie Gevelsberg im Ennepe-Ruhr-Kreis. Dort war traditionell die linke Arbeiterbewegung stark, der Metallarbeiterverband und die Kommunistische Partei bestimmten zunächst die Politik auf der Straße und in den Gaststätten, bevor die SA auftrat. Im Mai 1931 gab es im Saal Buschmann die erste „Saalschlacht“ zwischen NSDAP- und KPD-Anhängern, und zahlreiche weitere folgten.

Die Polizei kam meistens zu spät und war dann großen Gefahren ausgesetzt, im Nachbarort Milspe wurde bei einer solchen Gelegenheit ein Teilnehmer erschossen. Auch Brandanschläge auf Parteibüros oder Wohnungen prominenter politischer Gegner häuften sich. Vor allem nach Aufhebung des Uniformverbots im Sommer 1932 durch die im Putsch ausgetauschte preußische Regierung eskalierten die Auseinandersetzungen. Eine NSDAP-Kundgebung mit Dr. Goebbels am 11. Juli 1932 in Hagen zum Beispiel wurde von KPD-Anhängern massiv gestört, genauso wie umgekehrt die KPD-Kundgebung am Tag danach mit Ernst Thälmann in Elberfeld durch die Nationalsozialisten.

Überliefert sind auch Drohbriefe der Nazis gegen demokratische gewählte Bürgermeister wie Konrad Rappold in Gevelsberg. Seine Stadt war, wie die meisten anderen auch, durch die wirtschaftliche Lage in einer schlimmen Situation: 1932 wurden bereits 56 Prozent der Gevelsberger Bevölkerung mit öffentlichen Mitteln unterstützt, vor allem durch Mietbeihilfen. Die KPD im Stadtrat agierte mit populistischen Anträgen und organisierte schließlich, wie in Nachbarstädten auch, einen „Hungermarsch“ mit anschließendem Rathaussturm. Mit dabei waren auch zahlreiche Kinder.

Interessant ist die Entwicklung der „weltlichen Schule“, die auf Druck der Kommunisten im November 1920 wegen der Gesetzeslage an der Mittelstraße errichtet wurde. Ausgerechnet diese allgemeinbildende Schule ohne Religionsunterricht wurde nach und nach von nationalsozialistischen Lehrern „unterwandert“. Obwohl die Lehrer auf die Verfassung vereidigt wurden, würden die Schüler nun gegen die Republik erzogen, erklärte ein Stadtverordneter damals in einem offenen Brief an die Lokalzeitung.

Das alles war wenige Wochen vor dem berüchtigten 30. Januar 1933, an dem der rechtsnationale Reichspräsident Hindenburg den Nationalsozialisten die Macht übergab und Hitler zum Reichskanzler machte.




Die dreiste Markt-Strategie des Iman Rezai oder: Folter ist kein Mittel der Kunst!

Wäre Schweigen in diesem Fall eigentlich Gold? Warum dem Törichten eine öffentliche Plattform bieten?

Die Zeiten, in denen der Kritik das Wahre der Kunst von anderen Waren zu unterscheiden als Kernpflicht oblag, sind längst vorbei. Das System hat neben dem scheinbar reinigenden Meinungsgeblähe der Medien seinen eigenen Filter, um Qualität von, na sagen wir Scharlatanerie zu scheiden. Dennoch, wider den Stachel zu löcken ist im vorliegenden Fall einer unangenehmen Aktion von Iman Rezai angebracht, und zwar bewusst bildlos und linkfrei. Sie macht deutlich, dass eine neue Generation von Biografie-Designern am Werk ist, denen es vor allem um eins geht: PR. Und damit um Kohle. Hierbei sind die eingesetzten Mittel offensichtlich vollkommen zu Werkzeugen dieses Vermarktungssystems verkommen.

Das ist keine Kunst, das ist schlicht degoutant. Iman Rezai, 1981 im iranischen Schiraz geboren, im vergangenen Jahr Abschlusskandidat der Berliner Universität der Künste, tritt mit scheinbar provokanten Aktionen an die Öffentlichkeit. Neuester „Coup“: Er bietet – sofern es nicht ein Fake ist – dem geneigten Probanden zwischen dem 29.11. und 6.12. ein waschechtes Waterboarding an. Also diejenige Foltermethode, mit der das Opfer nicht getötet, sondern durch gewaltsames Untertauchen gequält und zermürbt wird. Diese menschenverachtende Perfidie kam während der Präsidentschaft George W. Bushs durch CIA und andere US-amerikanische Regierungsbehörden bei der Vernehmung von Terrorverdächtigen zum Einsatz und damit breiten Kreisen weltweit zu Bewusstsein.

Betroffenheitsklauseln aus der Hobbykiste

Man kann sich den ganzen hobbytheoretischen Begründungssermon hinter Rezais Pseudo-Polit-Anliegen sehr gut vorstellen. Denn seine PR-Maschine läuft wie geschmiert. In etwa so? „Der Berliner Künstler Iman Rezai kreiert Ausnahmesituationen, in denen Kunstbesucher mit einer Realität konfrontiert werden, die sie ansonsten nur aus den Medien zu kennen glauben…“ Noch ein paar Betroffenheitsklauseln in Fremdwort-Teig geknetet: Fertig ist die „große Kunst“. Besuche man nur die Webseite. Abstruse Sentenzen ummanteln in der Produktwerbung den eigentlichen Zweck mit billigen kulturhistorischen Behauptungen, um die Ausstellung – lasse man sich den verschwurbelten Titel auf der Zunge zergehen – „Die performative Postmoderne als Ausdruck moderner Austerität im Zeitalter der Prekarisierung Edition 1 – Illusion H2O“, in deren Kontext die Aktion stattfindet, zu bewerben. Neben Rezai bespielen zudem fünf weitere Nachwüchsler den Bereich eines Hotels am Checkpoint Charlie. Schaut man sich deren Werk an, wird die Lage auch nicht unbedingt interessanter.

Aktionen für den Boulevard

Wie unendlich differenzierter hat es 2006 Santiago Sierra mit „245 Kubikmeter“ in der von ihm mit Abgasen von sechs Pkw gefluteten Synagoge Stommeln vorgemacht, dass man – schockierend – Kunstbetrachter auf freiwilliger Basis in Extremsituationen bringen kann. Aber hier liegt der Fall anders, weil sinntragend und historisch kontextualisiert und auf die Gegebenheiten hin lokalisiert. Iman Rezai hingegen setzt ausschließlich auf Boulevard. Hinter ihm steht eine Agentur mit Namen „The Coup“, die sich selbst mit den Sätzen „Wir verstehen weder Fashion, Lifestyle noch Kunst als Charitybranchen. Im Fokus steht der Mehrwert und folglich der Profit des Kunden“ anpreist. Und wenn das kein Witz ist, heißt es: Wir verhökern jeden Dreck auf dreckige Weise, wenn’s nur Profit einbringt. Es geht also ausschließlich um Publicity und ums Kasse machen. Wie anders erklären sich die zwei törichten Vorläuferaktionen, mit denen Rezai sich ins Gespräch gebracht hat.

Zwischenruf: Sollen wir uns allen Ernstes an den Zustand gewöhnen, dass Modefotografen als Künstler proklamiert und von ein und derselben Agentur wie Rezai im gleichen sprachlichen Duktus vertreten werden? Der Künstler und die Kunst als gelabelte Luxushandtaschen. Und wie verkommen sind eigentlich diese „Nachwuchskünstler“, dass sie auf jene unverschämte Weise mit gestylter Dummheit in den Markt drängen und sich von PR-Schleudern wie „The Coup“ ein Image und Sprachgewand verpassen lassen?

Fingierte Guillotinen-Abstimmung

Doch zurück zur Sache: Das erste Mal fingierte Rezai im Internet eine Abstimmung über das Guillotinieren eines Schafs. Über 2,5 Millionen Klicks soll das eingebracht haben. Das Mordwerkzeug hat ein Sammler angeblich für 2,3 Millionen Dollar erworben. Anfang November verschickte er im Namen der der Neuen Nationalgalerie E-Mails, die behaupteten, Rezai habe den Server des Instituts unter Kontrolle gebracht. Täuschung wohin man schaut. Die Erregungsmaschinerie fand ihr Futter und der Schaumschläger seine billige Propaganda. Selbst gestandene Nachrichtenagenturen fielen auf den Blödsinn herein. Und nun dieses Wasserspielchen mit dem Publikum. Nein, das ist nichts. Das tut nur so, als ob es Kunst sei, dieses Deckmäntelchen niederer Interessen. Es ist ein albernes Spektakel für eine profitgeile Aufmerksamkeitsindustrie, das die niederen Instinkte einer ennuyierten Gesellschaft bedient, in der die Anliegen der künstlerischen Kritik und Aufklärung in Form rhetorischer Vehikel zum Rauschmittel des Glamours verkommen sind. Das einzig Kunsthafte an der Sache ist höchstens noch die Dreistigkeit, mit der Iman Rezai in den orchestrierenden Medien seine dürftige Karriere fingiert.




Denkwürdige Vokabeln (10): Paradigmenwechsel

Also, ich hätte da schon mal ein paar Vorschläge für das Unwort des Jahres: „Betreuungsgeld“. Oder: „Herdprämie“. Oder: „Lebensleistungsrente“. Oder: „Durchbruch“. Oder: „Paradigmenwechsel“.

Wir könnten das ad infinitum fortsetzen und blieben doch stets bei ein und demselben Ereignis, den acht Stunden langen Verhandlungen zwischen Persönlichkeiten, die sich und ihre Themen furchtbar ernst nehmen, aber ziemlich wenig dazu beitragen, dass auch andere dieses tun. Stattdessen reden und rühmen sie – meist sich selbst – um Themen herum, deren gesellschaftliche Durchschlagskraft der eines altersschwachen Kirmesboxers gleichkommt.

Und je nach dem IQ ihrer Leser-, Hörer- und Seherschaft stürzen sich die Medienvertreter und –innen auf diese Vokabeln, nutzen sie zum Ruhme einer erfolgreichen Koalition oder zur (inzwischen kommt selbiges häufiger vor) Abkanzlung einer Amateurtruppe, die indes von einer abkanzlungs-resistenten Kanzlerin angeführt wird.

Schlagzeilen von heute, 6. November 2012 (Foto: Bernd Berke)

Schlagzeilen von heute, 6. November 2012 (Foto: Bernd Berke)

Ich habe noch Zeiten in Erinnerung, da konnten sich ernst zu nehmende Politiker und –innen schrecklich lange darüber streiten, was wohl der richtige Weg sei, die Republik und ihre östlichen Nachbarn durch eine Wende in den außenpolitischen Handlungsprinzipien einander näher zu bringen. Wenn das mal kein echter Paradigmenwechsel war. Heute reicht es bereits, sich um ein paar zwar recht kostspielige aber dennoch völlig dünnflüssige Wahlgeschenke zu balgen und ein noch flüssigeres Ergebnis zu erzielen, auf dass ein forscher Politiker den „Paradigmenwechsel“ bejubelt.

Zeus oder wer auch immer hilf! Thomas Samuel Kuhn, der 1962 in seiner Eigenschaft als amerikanischer Wissenschaftstheoretiker den Begriff in die Öffentlichkeit brachte, kreiselte womöglich im Grabe rum, wenn er erführe, wie inflationär man mit seiner Wortschöpfung hierzulande umgeht.

Aber, wenn wir so wollen, haben wir, als Mittler zwischen Öffentlichkeit und selbsternannten Eliten, eine gehörige Mitschuld daran, dass so ein Blödsinn erzählt wird. Mit unserem Verhalten haben wir politisch Verantwortlichen schon früh beigebracht, dass man möglichst hochtrabend formulieren muss, damit bei der späteren Berichterstattung eine Schlagzeile für diese oder jenen herausspringt. Hätte ein liberaler Bubi gesagt, dass er ein gutes Verhandlungsergebnis erzielt habe, wäre es berichterstattenden Zunftangehörigen schwer gefallen, dieser Feststellung auch nur etwas Berichtenswertes abzugewinnen. Stellt er sich aber vor die Kameras und trompetet vom „Paradigmenwechsel“, klingt es so wuchtig, dass bereits die Zeile vorformuliert vor den inneren Augen erscheint. Was lehrt uns Lesende, Hörende, Zusehende das? Je blöder die Nachricht, die ich zu verkünden habe, desto blähender formuliere ich sie.

Ich räume ein, dass ich mit meinem Paradigma (griechisch: Beispiel, Muster, Vorbild) nicht in die Reihe der Favoriten für das Unwort des Jahres gelangen werde. Aber vielleicht mit der „Herdprämie“.




Abriss oder Architektur-Archiv: Was wird aus dem früheren Ostwall-Museum?

Es gibt Betrübliches von einer „prominenten“ Dortmunder Baulichkeit zu berichten. Das frühere Dortmunder Museum am Ostwall (dessen Bestände bekanntlich ins „Dortmunder U“ umgezogen sind) gammelt allem Anschein nach erbärmlich vor sich hin.

Schon der flüchtige Laienblick von außen lehrt jedenfalls das Gruseln. Rundum sprießt Vegetation durch die Ritzen zwischen den Steinen, ginge es so weiter, könnte irgendwann die „Natur“ das ganze Areal zurückerobert haben.

Rückseite des früheren Museums am Ostwall im Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Rückseite des früheren Museums am Ostwall im Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Die Freitreppe hinterm Haus ist in einem kläglichen Zustand. Zwischenzeitlich sind hier angeblich Drogengeschäfte abgewickelt worden, das verwahrloste Ambiente hat sich wohl geradezu dafür angeboten. Die Plastiken im kaum gepflegten Gartenbereich sind nicht nur von Sprayern versaut worden, sondern dümpeln bei entsprechender Witterung auch in Wasserlöchern. An der Frontseite zum Ostwall hin zeigt sich der schmucklose Bau noch einigermaßen präsentabel, wenn auch schon die ersten Buchstaben der Aufschrift gestohlen worden sind. Vorne hui…

Ein bisschen Schwund ist immer: Schriftzug des Museums, Zustand Ende Oktober 2012 (Foto: Bernd Berke)

Ein bisschen Schwund ist immer: Schriftzug des Museums, Zustand Ende Oktober 2012 (Foto: Bernd Berke)

Dabei heißt es, dass zwischenzeitlich schon etwa 800.000 Euro in die Sanierung gesteckt worden seien, um das Gebäude z. B. für eine etwaige Veräußerung aufzuhübschen. Ein Investor zeigt sich kaufbereit, will aber das frühere Museum abreißen und statt dessen Seniorenwohnungen errichten. Ob die Stadt solchen Lockungen nachgibt? Eigentlich war der Verkauf der Immobilie schon Ende 2010 beschlossene Sache. Doch dann haben sich die Kräfte verschoben: Es gibt eine womöglich reizvolle Alternative, die freilich bestens durchgerechnet werden muss.

Plastik im Restgrün-Bereich ums frühere Ostwall-Museum, Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Plastik im Restgrün-Bereich ums frühere Ostwall-Museum, Sommer 2012 (Foto: Bernd Berke)

Das Ostwall-Museum ist – wie gesagt – im Oktober 2010 ins heute immer noch seltsam unfertige, gleichwohl sündhaft überteuerte „Dortmunder U“ (früherer Brauereiturm) umgezogen. Schon lange währt das Gezerre darum, was aus dem leeren Gebäude werden soll. Anfangs hatte es geheißen, die stetig gewachsene Jüdische Gemeinde könne das Objekt nutzen, nun ist seit geraumer Zeit von einem „Baukunst-Archiv NRW“ die Rede. Ein Kernbestand für eine solche Einrichtung befindet sich bereits in der Stadt: An der Universität (TU) werden seit 1995 Nachlässe von etwa 50 bedeutenden Architekten betreut. Es wäre ein Signal, wenn all dies und vielleicht mehr mitten in die Stadt rückte. Der Dortmunder Professor Wolfgang Sonne hat denn auch die Archiv-Idee ins Gespräch gebracht. Ein solches Institut in einer Stadt, in der etliche Kahlschläge und Bausünden zu besichtigen sind – das hätte gerade was! Es wäre zwar längst nicht so populär, aber gleichsam origineller als das künftige Deutsche Fußball-Museum, das quasi jedermann just in dieser Stadt erwarten würde.

Man hofft inständig, dass das Land NRW mindestens 80 Prozent der Umbaukosten fürs Baukunst-Archiv bezahlt. Die Entscheidungen zogen und ziehen sich hin, sowohl in Düsseldorf als auch in Dortmund. Offensichtlich und aus nachvollziehbaren Gründen scheuen die Kommunalpolitiker jedes Risiko, hier einen weiteren, schwer kalkulierbaren Kostgänger heranzuzüchten. Dies wäre in der verschuldeten Stadt auch schwerlich zu vermitteln.

Andere Ansicht des früheren Museums am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Andere Ansicht des früheren Museums am Ostwall (Foto: Bernd Berke)

Es müsste also eine tragfähige Konstruktion mit Förderverein und eventuell mit Landeszuschüssen gefunden werden, mit denen die laufenden Kosten (ca. 300.000 Euro im Jahr, andere Schätzungen lauten auf 425.000 Euro) zu stemmen wären. Vor allem der ehemalige Bauminister Prof. Christoph Zöpel macht sich beim Förderverein, der im Juli in Düsseldorf begründet wurde, fürs Dortmunder Baukunst-Archiv stark. Auch Dortmunds früherer Baudezernent Klaus Fehlemann gehört zu den entschiedenen Befürwortern. Oberbürgermeister Ullrich Sierau und Kämmerer Jörg Stüdemann zeigen sich gleichfalls keineswegs abgeneigt; wenn es denn für die Stadt kostenneutral ausgeht…

Mit realistischen und belastbaren Vorschlägen zur Finanzierung eilt es jetzt wahrlich. Am 15. November soll im Dortmunder Rat (Sitzung ab 15 Uhr) die endgültige Entscheidung fallen. Wenn bis dahin nichts Vernünftiges auf dem Tisch liegt, dürfte es wohl doch zum Abriss kommen. Für diesen Fall kann man sich die hämischen Kommentare der überregionalen Presse schon ungefähr ausmalen. Auch kann man sich lebhaft vorstellen, welchen Sturm der Entrüstung ein vergleichbarer Vorgang in Städten mit starkem Bürgertum auslösen würde.




Der 11. September – 1944 war es ein Tag der Befreiung

Das Datum 11. September – auch amerikanisch als 9/11 abgekürzt – hat sich seit 2001 in das Weltgedächtnis eingebrannt. Die einstürzenden Türme des World-Trade-Centers in New York sind zu einem Zeichen geworden für die Verletzlichkeit der modernen Zivilisation.

Kriegsgefangene in der zerstörten Stadt Aachen. (Quelle: Bundesarchiv)

Zurzeit lese ich mit großem Gewinn „Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45“ des britischen Historikers Ian Kershaw. Da geht es ebenfalls um Terrorismus, wenn auch um weit schlimmeren als 2001, und auch in dem Zusammenhang taucht das Datum 11. September auf. Das war nämlich der Tag im Jahre 1944, an dem „ausländische“ Soldaten, in dem Fall amerikanische, im Kampf gegen Nazi-Deutschland erstmals den Boden des Deutschen Reiches betraten. Dieses Ereignis fand in der Nähe von Aachen statt, und es war der Beginn unserer Befreiung.

Natürlich ist so eine Datumsgleichheit reiner Zufall und ohne jede Bedeutung, aber doch von anekdotischem Interesse. Es gibt auch noch drei weitere Septembertage, zu denen man einen Zusammenhang konstruieren könnte: Am 11. September 1609 entdeckte Hudson die Insel Manhattan – exakt jenen Ort, an dem 2001 die Türme brannten. Ebenfalls am 11. September, aber genau 200 Jahre vor dem Attentat, wurde Schillers Jungfrau von Orleans uraufgeführt, jene Tragödie, in der es auch um Befreiung geht. Und um Freiheit ging es auch am 11. September 1989: Da durchtrennte der ungarische Außenminister mit seinem österreichischen Kollegen den Stacheldrahtzaun zwischen ihren Grenzen, damit die Menschen aus der DDR ohne Repressalien „ausreisen“ konnten.

Der 11. September als besonders Datum, ähnlich wie in der deutschen Geschichte der 9. November. Allerdings, wer genau hinschaut, wird zu fast jedem Tag ähnliche Konnexionen darstellen können. Es bleibt eben doch fast alles Zufall, aber man kann daraus richtige Schlüsse ziehen.




Peter Paul Rubens, Maler und Diplomat in den Zeiten des Krieges

Zu Van Gogh und Rubens können auch alle Kunstfernen was ausposaunen: Der eine hat sich ein Ohr abgeschnitten, der andere vorzugsweise üppige Frauen gemalt. Und fertig.

Was gleichfalls im populistischen Sinne bestens ankommt: Rubens war zu seinen Lebzeiten der weltweit teuerste Maler, auch heute würde er – käme überhaupt etwas auf den Markt – mit vorn liegen. Wuppertals Von der Heydt-Museum kann also schon mal auf einen Berühmtheits-Bonus bauen, wenn es nun rund 50 Gemälde und Skizzen von Peter Paul Rubens (1577-1640) zeigt. Museumschef Gerhard Finckh und sein Team wissen solche günstigen Vorgaben zu nutzen und peilen die magische Marke von 100 000 Besuchern an. Inhaltlich gehen sie aber deutlich über solche Äußerlichkeiten hinaus und treten mit ordnendem Konzept an.

Peter Paul Rubens: "Dianas Heimkehr von der Jagd" (um 1616) (© Gemäldegalerie Alter Meister, Dresden / Staatliche Kunstsammlungen Dresden / The Bridgeman Art Library Nationality)

Peter Paul Rubens: "Dianas Heimkehr von der Jagd" (um 1616) (© Gemäldegalerie Alter Meister, Dresden / Staatliche Kunstsammlungen Dresden / The Bridgeman Art Library Nationality)

Ein Schwerpunkt der Wuppertaler Ausstellung, die alle Lebensphasen des barocken Meisters seit dessen italienischer Frühzeit umfasst, liegt auf Rubens’ diplomatischem Wirken. Die Bilder um Macht und Pracht, aber auch um das Leiden an den Zeitläuften werden geradezu schwellend in Szene gesetzt. Da wallen eingangs schwere rote Vorhänge, einladend beiseite gezogen. Die Gemälde prangen nicht nur auf dem heute museumsüblichen weißen Grund, sondern sind hie und da auch von stilisierten Tapetenmustern hinterfangen – hinreichend diskret, versteht sich. Mit etwas blühender Phantasie kann man sich gar vorstellen, man würde in Rubens’ prächtigen Gemächern empfangen. Porträts des Hausherrn und ein eigenhändiger Brief (verfasst in diplomatischer „Geheimsprache“, wobei „Bäume“ für Bestechungsgeld stehen) tun das Ihre hinzu.

Doch halt! Ohne historische Hintergründe geht es nicht: Nach der Glaubensspaltung wütete viele Jahrzehnte lang Krieg in Europa. Bald ging es nicht mehr allein um Protestantismus und Katholizismus, sondern der religiöse Konflikt wurde überlagert vom Widerstreit der Großmächte.

Der im evangelischen Siegen geborene Rubens war von Haus aus protestantisch, konvertierte aber in Köln zum Katholizismus. Sein Lebtag hat er ringsum nur kriegerische Zeiten gesehen. Die Motivation des hochgebildeten, belesenen Mannes, nach Kräften Friedensschlüsse zu vermitteln, war enorm. Als Hofmaler, der in allerhöchsten Kreisen verkehrte und selbst einen veritablen Palast in Antwerpen unterhielt, hatte er auch entsprechende Verbindungen.

Peter Paul Rubens: "Thetis empfängt die Waffen für Achill (1630-35) (© Musée des Beaux-Arts, Pau, France, Giraudon, The Bridgeman Art Library)

Peter Paul Rubens: "Thetis empfängt die Waffen für Achill (1630-35) (© Musée des Beaux-Arts, Pau, France, Giraudon, The Bridgeman Art Library)

Den Wohnort Antwerpen hat er sicher mit Bedacht gewählt. Als Maler fand er in den katholischen Südniederlanden (heutiges Belgien) bessere Bedingungen vor als in den protestantisch gewordenen und somit eher bildabstinenten Nordprovinzen (heutiges Holland). In Antwerpen betrieb er ein Atelier mit zeitweise rund 100 Mitarbeiten. Für seine Werkstatt malten Spezialisten jedweder Richtung, darunter vorübergehend auch Anthonis van Dyck oder Jacob Jordaens. Nicht erst Andy Warhol hat im „Factory“-System produziert.

Rubens’ fulminante Skizzen für die Ausschmückung der Antwerpener Jesuitenkirche sind Beispiele für vitale Ideenfülle und Bilderlust. Da kann es sogar geschehen, dass eine Helferin der Heiligen Klara von Assisi (1620) dem Betrachter durch perspektivische Verzerrung ein monströses Hinterteil vorweist. Überhaupt ist es ein Vorzug der Skizzen, gelegentlich „frecher“, experimenteller und näher am Aufleuchten der ursprünglichen Einfälle zu sein als ausgeführte Gemälde, die meist offiziellen, repräsentativen Anforderungen zu genügen haben.

Als Diplomat operierte Rubens mit wechselndem Geschick. Nach mehreren anderweitigen Fehlschlägen gelang es ihm immerhin, 1630 einen Friedensschluss zwischen Spanien und England herbeizuführen. Manche wollen in Rubens gar einen frühen Vorläufer des europäischen Gedankens sehen. Gemach! Nicht, dass man ihm noch posthum den Friedensnobelpreis zuerkennt…

Gleichviel. Die Tätigkeit auf politischem Felde bleibt jedenfalls nicht ohne Auswirkung auf die Malerei. Anhand vieler Werke erhält man Einblick in die weltlichen und kirchlichen Sphären, in denen sich Rubens bewegte. Seidig schimmernde Herrscherporträts aus dem Umkreis der Medici-Zyklen (die großformatigen Medici-Originale verbleiben natürlich im Louvre) zeigen, zu wem Rubens Zugang hatte. Auch kündet das Bildprogramm etlicher Arbeiten von (philosophisch und mythengeschichtlich solide unterbauter) Friedensneigung und der Suche nach „dritten Wegen“ zwischen Konfessionen und Kriegsparteien.

Peter Paul Rubens: "Abraham und Melchisedek" (um 1615-18) (© Musée des Beaux-Arts, Caen, France / Giraudon / The Bridgeman Art Library Nationality)

Peter Paul Rubens: "Abraham und Melchisedek" (um 1615-18) (© Musée des Beaux-Arts, Caen, France / Giraudon / The Bridgeman Art Library Nationality)

Leitgedanken der Überparteilichkeit entnahm Rubens den Werken der Antike, speziell von Heraklit, Lukrez oder Seneca. Auf solche Lektüre deutet ein ungemein lebendiges Bildnis des Seneca (1614/15) hin, das den antiken Skulpturen gleichsam neuen Atem einhaucht und sie in die damalige Gegenwart holt. Auch „Herkules besiegt die Zwietracht“ (1615-20) gehört in diesen Zusammenhang. Bei Bedarf verwandelte Rubens selbigen Helden des Altertums allerdings auch schon mal zum Christophorus.

Die Allegorik der Bilder mag damals den gebildeten Ständen gleich eingeleuchtet haben, heute muss sie erst entschlüsselt werden. Überdies erscheint manches doppeldeutig und hintersinnig. So kann man etwa bei näherer Untersuchung der „Allegorie der guten Regierung“ (1625) stutzig werden. Die scheinbar umstandslos gepriesene Herrscherin Frankreichs, Maria de Medici, lässt die Waage der Gerechtigkeit denn doch sehr lässig baumeln, und eine Mauer, die sich hinten durchs Bild zieht, könnte sehr wohl auf unfreie Verhältnisse hinweisen.

Peter Paul Rubens: "Wildschweinjagd" (um 1615/16) (©Musée des Beaux-Arts, Marseilles, France, Giraudon / The Bridgeman Art Library Nationality)

Peter Paul Rubens: "Wildschweinjagd" (um 1615/16) (©Musée des Beaux-Arts, Marseilles, France / Giraudon / The Bridgeman Art Library Nationality)

Die Ausstellung zeichnet zwar auch diplomatische Wege nach, schwingt sich aber vielfach zu grandiosen, genuin künstlerischen Momenten jenseits aller politischen Bedeutungen auf. Ein Bild wie „Wildschweinjagd“ (um 1615/16) dient zwar der Verherrlichung eines wohltätigen Regenten, doch nimmt die dramatische Zuspitzung der Szene über allen Anlass hinaus gefangen. Wollte man noch einen Anachronismus anfügen, so müsste man hier fast schon einen Urahnen filmischer Sichtweisen vermuten. Anderes Beispiel der Überzeitlichkeit: Eine schreiende Frau, die ob der Schlachtengreuel verzweifelt die Arme in die Luft reckt, soll in weite historische Ferne gewirkt und Picasso zu einem Motiv seines Antikriegsbildes „Guernica“ angeregt haben.

Der Wuppertaler Reigen vielfach aufregender Bilder reicht bis in die Londoner Zeit. „Krieg und Frieden“ ist leider nur als Reproduktion zu sehen. Da fällt die Weisheitsgöttin Minerva dem Kriegsgott Mars entschieden in den Arm. Eine buchstäblich ergreifende Utopie in gewaltsamen Zeiten.

Peter Paul Rubens. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Vom 16. Oktober 2012 bis zum 28. Februar 2013. Geöffnet Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro, Familie 24 Euro. Katalog 25 Euro.
Info-Hotline: 0202/563-2626
Internet: www.von-der-heydt-museum.de

Am Rande: Selbstverständlich hat das Wuppertaler Museum nicht alle Wunschbilder ausleihen können. Bemerkenswert vor allem, dass der Fürst von Liechtenstein, der eine der größten privaten Rubens-Kollektionen besitzt, alle Verhandlungen strikt verweigerte – wegen der von deutschen Behörden angekauften CDs und DVDs mit Daten von Steuersündern…




„Krawomm, Tatatat, Zischzasch“ – der deutsche Afghanistan-Einsatz als Comic

Seit 10 Jahren verteidigen deutsche Truppen unsere Freiheit am Hindukusch. Doch der Einsatz der Bundeswehr ist hierzulande umstritten und wird mit jedem toten Soldaten in Frage gestellt. Ob das Buch, das jetzt unter dem Titel „Wave and Smile“ erschienen ist, eine Argumentationshilfe in der Debatte um das Für und Wider des Bundeswehr-Einsatzes sein kann, scheint auf den ersten Blick zweifelhaft. Denn der Autor und Zeichner Arne Jysch thematisiert den Afghanistan-Krieg mit den Mitteln der Graphic Novel und der Ästhetik von Comics.

„Wave and Smile“ („Winken und Lächeln“), das war lange Zeit die Strategie der ISAF-Truppen in Afghanistan, wenn sie ihre militärischen Camps verließen und sich unters afghanische Volk mischten: Das hat sich als ziemlich naiv und tödlich erwiesen, denn die Taliban sind längst nicht besiegt. Im Gegenteil. Die Sicherheitslage hat sich dramatisch verschlechtert, auch im nördlichen Afghanistan, in der Region um Kunduz, also dort, wo die Geschichte der Graphic Novel spielt und die Bundeswehr stationiert ist, die sich heute nur noch in gepanzerten Wagen und schwer bewaffnet vor die Tür wagt und ein ständiges Ziel von terroristischen Attacken ist. Schon der Titel „Wave and Smile“ ist ein ironischer Abgesang auf die verlogene Kriegsstrategie und ein erster Hinweis, dass da etwas schief läuft mit der Bundeswehr in Afghanistan.

Arne Jysch hat sich eine dramatische, von Tod und Terror, von Liebe und Verrat handelnde Geschichte ausgedacht. Die drei Hauptpersonen, Hauptmann Chris, Hauptfeldwebel Marco und Fotoreporterin Anni, erdulden die Tristesse und Einsamkeit des Alltags im Bundeswehrcamp in Kunduz und werden bei ihren Einsätzen in blutige Kampfhandlungen verwickelt. Bei einem Gefecht wird Marco von den Taliban entführt, Chris traumatisiert und zur Heilung nach Deutschland geschickt. Doch dort wartet nur die Scheidung von seiner Frau auf ihn und die quälende Frage, was aus seinem Freund geworden sein mag. Also entschließt sich Chris, als Privatperson nach Afghanistan zurückzukehren und auf eigene Faust und mit Hilfe von Fotografin Anni nach Marco zu suchen.

Jysch erzählt in der Bildsprache eines realistischen Comics: die Zeichnungen der Soldaten, der Waffen, der Saufgelage im Camp und des Verhaltens Kampf wirken authentisch, jede Figur hat eine eigene Kontur, man merkt deutlich: Jysch hat sich Rat geholt bei Fotografen und Filmemachern. Auch hat er wohl viele Informationen bekommen von der Presseabteilung der Bundeswehr. Die immer wieder eingeflochtenen Debatten über die Kampfstrategien und Kriegsziele versuchen ein möglichst großes Argumentationsspektrum abzudecken und verzichten auf billige Phrasen. Der Comic versammelt ca. 1000 einzelne Bilder, bietet knallige Sprechblasen, deftige Wortfetzen und Lautmalereien. Vor allem wenn geschossen wird und Bomben krachen, fliegen riesige Buchstaben mit viel Krawomm, Tatatat und Zischzasch durchs Bild.

Aber eine Auftragsarbeit oder ein Gefälligkeitsbuch ist es nicht, denn der Einsatz der Bundeswehr und die Gesamtstrategie der ISAF wird in all ihren Widersprüchen und Ungereimtheiten geschildert. Wer sich als potentieller Rekrut am Ballern labt, kommt zwar auf seine Kosten, muss aber mit ansehen, dass er als Soldat für politisch zweifelhafte Zwecke missbraucht und verheizt wird. Und wenn Hauptmann Chris einem an seiner Mitarbeit interessierten Amerikaner entgegnet: „Nein, Ihren Krieg, den dürfen Sie ohne mich verlieren“, ist die Anti-Kriegs-Botschaft des Comics auch mehr als deutlich. Jysch hat kein geschmackloses Rekrutierungspamphlet verfasst und gezeichnet, sondern einen durchaus kritischen, wenn auch nicht klischeefreien Comic zum Krieg in Afghanistan. Auf welche Leserschaft er abzielt, ist allerdings ein kleines Rätsel.

Arne Jysch: „Wave and Smile“. Carlsen Verlag, Hamburg. 208 S., 24,90 €




Denkwürdige Vokabeln (9): Radarfalle

Alle Welt, genauer gesagt alle am Straßenverkehr in Deutschland Teilnehmenden, redet bzw. reden derzeit leidenschaftlich darüber, ob die Politik (aus)übenden Mitglieder der Berliner Regierungskoalition neues Recht schaffen dürfen, indem sie Radarwarner (die natürlich vor mobilen Radareinrichtungen warnen) zulassen, oder ob die Verantwortlichen nur bisher unbekanntes Zeugs geraucht haben. Ich tendiere zu letzterer Annahme, Wissenschaftler natürlich zu ersterer, wenn ihre gutachterlichen Arbeiten von einschlägigen Interessengruppen bezahlt worden sind. Aber das nur am Rande.

Was mir in diesem Zusammenhang wieder einmal ins Ohr springt, ist die Vermutung, dass unsere Alltagssprache von einschlägigen Interessengruppen mitbestimmt worden sein muss, geht es doch in diesem Falle um die „Radar-Falle“. Mal ehrlich, wir alle bedienen uns dieses Begriffes und denken uns relativ wenig dabei. Aber: „Falle“, das ist nun mal eine Sache, die mit Hinterlist und bösartig gestellt wird, die so negativ belegt ist, dass man sie sich beim besten Willen nicht gutartig denken kann. Schlussfolgerung: Gesetzgeber, Polizei und andere an der Ordnung unseres Alltagshandelns interessierte Verantwortliche haben sich die Regeln, in diesem Falle die Verkehrsregeln, einfallen lassen, um uns nachhaltig zu gängeln und fremdbestimmt zu reglementieren, ganz ohne Not. Und damit wir diese unsinnigen Regeln auch wirklich beachten, stellen sie uns Fallen, dass wir arglos hinein stolpern und Punkte bekommen und Strafgeld verlieren. Boshaft, dieses Tun.

Damit niemand ins Jubilieren gerät, dass nun auch ich solch krude Gedanken mit mir trage: Ich meine das zynisch. Ernst hingegen meine ich, dass dieses unser Land das einzige sich zivilisiert nennende ist, das keine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen kennt und darüber schmunzelt, dass Touristen aus aller Welt bei uns einfallen, um mit Leihwagen ins Tempo-Doping einzusteigen, dass wir in diesem unserem Land Regeln, namentlich die für den Straßenverkehr, nur in der Fahrschule erlernen, damit wir sie in der Realität übertreten können und das auch wissen, dass wir regelrecht preußisch undiszipliniert sind, sobald wir ein Kraftfahrzeug besteigen (natürlich alle ausgenommen, die sich nicht angesprochen fühlen).

Weil die Politik (aus)übenden Mitglieder der Regierungskoalition hinter dieser Teilmenge unserer kraftfahrenden Bevölkerung eine satte Mehrheit wittern, haben sie sich diesen Schwachsinn einfallen lassen, die Freigabe von Warngeräten zur Detektion mobiler Radar-Verkehrsüberwachungsgeräte. Ja, ich gebe es zu, das klingt hölzern, Radar-Falle ist griffiger, aber sachlich auch falsch, denn alle, die in solche Fallen tappen, haben eine gesetzliche Vorschrift übertreten.

Unsere Sprache hat aber gerade in Sachen Straßenverkehr noch mehr zu bieten. Fußgänger gleich welchen Alters werden generell von „Autos erfasst“, nicht etwa überfahren, zu Tode geschleudert, mitgerissen oder ähnlich drastisch in ihrer Unversehrtheit behelligt. Und es ist meistens das Auto, das „erfasst“ und entlässt damit seinen Fahrer oder seine Fahrerin aus jeglicher Schuld, weil der oder die ja gar nicht genannt wird, allenfalls so, dass sie oder er die Gewalt über das Fahrzeug verliert. Was ja auch nicht dafür spricht, dass sie oder er sich fehl verhalten haben, sondern nur etwas verloren haben.

Nun, dass wir seit geraumer Zeit die Gewalt über unsere Sprache verlieren, haben wir uns zähneknirschend bewusst gemacht. Dass Politikerinnen und Politiker dazu neigen (das gilt über Parteigrenzen hinweg), ihren Verstand zu verlieren, machen sie uns immer aufs Neue bewusst. Dass dies aber Ausmaße annimmt, als infiziere sie weltweit – also auch bis hin nach Berlin – ein Virus-Romneyensis, ist neu und besorgniserregend.

Aber vielleicht hilft es ja seitens der verkehrsteilnehmenden Wahlbürgerschaft, einmal jemand anderem den Vogel zu zeigen als dem im Überholvorgang befindlichen Opelfahrer bei Richtgeschwindigkeit 130 km/h auf der A 2 und die Regierungskoalition daran zu erinnern, dass sie den Menschen das Gefühl geben sollte, gesetzliche Regelungen seien zu ihrem Schutz da und nicht, sie zu lehren, dass deren Übertretung durch elektronischen Fortschritt straffrei bleiben kann.

Ja, ich weiß, wovon träume ich eigentlich nachts? Ein ehrenwerter FDP-Politiker mit Namen Wolfgang Mischnick sagte mir einst, dass man in Deutschland, einem der führenden Auto-Exportländer, doch keine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung einführen könne, dann wären unsere deutschen Autos in den USA doch nicht mehr so begehrt. In den USA gilt je nach Bundesstaat auf Interstate Highways (vergleichbar mit Autobahnen) ein Tempolimit zwischen 89 und 129 km/h (55 bis 80 mph). Auf „normalen“ Highways (vergleichbar Landstraßen) sind 89 km/h (55 mph), teilweise auch 105 km/h (65 mph) erlaubt (Wikipedia). Das gilt seit 1974. Noch Fragen zum liberalen Freiheitbegriff für deutsche Kraftfahrer?




„Nach mir die Sintflut“ – Mitreißender erster Spieltag 2012/13 im Prinz-Regent-Theater

Nach mir die Sintflut Prinz-Regent-Theater

Theaterrezension in exakt 150 Wörtern – Teil Ach-was-weiß-denn-ich

„Nach mir die Sintflut“ – Prinz-Regent-Theater Bochum

Premiere: 5.9.2012

 

Demokratische Republik Kongo? Bitte – muss das sein? Selbst im Theater? Der Name allein schon. „Zaire“ hieß das. Bis ’97. Seitdem: Krieg. Vergewaltigungen. Kindersoldaten. Malaria. Gold. Diamanten. Afrika halt. Kann man sich dran bereichern als Europäer. Aber da leben?

 

„Nach mir die Sintflut.“ Hat Diktator Mobutu gesagt vor seiner Flucht. Und die Leute? Ertrinken seitdem – In der Korruption und Gewalt des eigenen Volkes, in der Gier und Skrupellosigkeit der Fremden.

 

Im Stück: Ein todkranker Afrikaner. Ein Geschäftsmann aus Europa. Eine Übersetzerin. Drei, die verhandeln über die Zukunft eines jungen Kongolesen. Wessen Fassade bröckelt? Welche bittere Wahrheit lauert da wie das Krokodil auf die Beute?

 

Süßer Traum Europa? Nein: eine bittere Wahrheit. Die die Figuren ebenso bewegt zurücklässt wie den Zuschauer.

Nach mir die Sintflut Prinz-Regent-Theater Bochum

BÜHNENBILD Drei Sessel. Projizierte Portraits. Mehr braucht’s nicht.

MUSIK Am Anfang und am Ende. Gleich. Und doch ganz anders.

SCHAUSPIELER Undurchschaubar. Dann fassadenbröckelnd. Deshalb grandios.

TIEFGANG Hui. *schüttel* #europaschaem

 

weitere Termine




Wenn der Bürgermeister das Lokalblatt lobt

Ach, es ist ein gar schönes Ding um die Wächterrolle der Presse, zumal im lokalen Bereich, wo die Redakteure ganz nah am Geschehen und an den Akteuren sind – manchmal allerdings auch allzu nah.

Oder umgekehrt. Da kann es mitunter vorkommen, dass der Bürgermeister eines Ortes sich allzu sehr der Zeitung anbequemt. Beispiel Schwerte, Beispiel heutige Lokalausgabe der Ruhr Nachrichten. Da prangt auf Seite eins oben links die Kolumne „Guten Morgen“ mit dem halbspaltig abgebildeten Kopf des Bürgermeisters Heinrich Böckelühr (von Scherzbolden auch schon mal „Hein Böck“ genannt). Er selbst kommt hier zu Wort. Aha! Da muss es sich doch vermutlich um eine gewichtige Frage des Gemeinwohls handeln.

Was also hat das Stadtoberhaupt mitzuteilen? Dies hier: „Ich freue mich sehr auf die große Radrallye XXL der Ruhr Nachrichten…“ Fast ganz Schwerte werde auf den Beinen sein, um daran teilzunehmen. Über gedrechselte Formulierungen wie „Ganz besonders toll finde ich“ und „Ich finde es einfach super“ hangelt sich CDU-Mann Böckelühr bis zum hymnischen Schlusssatz, der da lautet: „Danke, Ruhr Nachrichten, für diese Idee!“

Heftiger kann man das blaue PR-Fähnchen kaum schwenken. Mal schauen, wie das derart gepriesene Blatt in nächster Zeit mit Böckelührs politischen Entscheidungen umgeht.




Vor 20 Jahren brannte es lichterloh in Lichtenhagen – und es schwelt weiter

Da haben wir wieder einmal einen Jahrestag, den Zwanzigsten. Am 22. August vor 20 Jahren brannte es lichterloh.

Und nicht nur in Lichtenhagen, das liegt bei Rostock und wäre wohl niemandem ernsthaft bekannt geblieben, hätten nicht Bilder aus Lichtenhagen so viel Ähnlichkeiten gehabt mit Bildern aus X-beliebigen deutschen Städten: Ein paar hundert Menschen gröhlen „Deutschland den Deutschen“ und setzen ein Haus in Brand – eine weitaus größere Anzahl von Menschen schaut dem Treiben zu. Zum Teil sind sie entgeistert, diverse auch begeistert, doch eines haben sie gemein: Sie schauen zu und greifen nicht ein – exakt das Szenario, das als so genannte „Kristallnacht“ übel riechende deutsche Geschichte schrieb.

Der Ort in Mecklenburg-Vorpommern lebt nun mit dem Makel, Sinnbild dafür zu sein, dass noch so viele Jahrzehnte vergehen können in diesem, unserem Lande, dass eines aber offenbar nicht aus einem wie auch immer gearteten deutschen Bewusstsein zu vertreiben ist: Eine schier unausrottbare Phobie, dass Menschen aus anderen Ländern dafür verantwortlich sind, wenn irgendetwas bei Menschen aus deutschen Landen nicht so richtig rund läuft. Vor allem Menschen aus anderen Ländern, wo auch noch an was anderes geglaubt wird.

Deutsche Politiker – namentlich solche, die sich als Bewahrer konservativer Werte sehen – sind bei Prozessen, die diese Erkenntnis immer wieder bestätigen, ganz vorn in der Mitverantwortungshaftung. Die salbadern dann immer gern von Eindämmungen, von Zuwanderungen, die ausschließlich wegen guten Lebens im deutschen Gastland stattfinden und davon, dass Boote sinken, wenn sie überfüllt werden und anderes dummes Zeug. Namentlich im Falle Lichtenhagen drängen sich dann auch mal Zweifel auf, ob die legitimierte Staatsmacht in grüner Uniform (bald flächendeckend in Blau) immer hilfreich ist. Begründete doch in der Brandanschlagsnacht ein höherer Beamter seine Abwesenheit von der erforderlichen Anwesenheit am Ort damit, dass er sein Hemd habe wechseln müssen. Über die Gründe des Fehlens seiner Kollegen ist nichts Näheres bekannt.

Was lehrt uns das? Vor 20 Jahren Lichtenhagen, dazwischen NSU unter den offenbar total erblindeten Augen der Nachrichtendienste, demnächst was? Dass es dem Westfalen-Freund Heinrich Heine übel wurde, wenn er nachts an Deutschland dachte, kann ich gut verstehen. Alles kann sich in leicht veränderter Form wiederholen, weil in diesem, unserem Lande eine gesellschaftliche Grundstimmung undiskutiert bleibt, die so toxisch ist wie Blausäure. Wir haben sogar einen Begriff dafür erfunden, damit es nicht so schlimm klingt und im schlimmsten Falle sogar koalitionsfähig bleibt, wenn dergleichen in der Parteienlandschaft erfolgreich sein sollte: Rechtspopulismus.

„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ (Bertolt Brecht – Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui)




Potsdamer Provinzposse: SAP-Gründer Hasso Plattner als Mäzen einer DDR-Kunstsammlung

Am Neuen Markt in Potsdam ist preußische Geschichte allgegenwärtig. In Rufweite liegt Schinkels Nikolaikirche und der Marstall, der heute ein Filmmuseum beherbergt. Der Blick schweift von hier aus zum Wiederaufbau des im Krieg arg mitgenommenen und von den Baubrigaden der DDR abgerissenen Hohenzollernschlosses. In zwei Jahren soll im rekonstruierten Preußenschloss der brandenburgische Landtag einziehen.

Ob bis dahin für die sich derzeit in Potsdam abspielende kultur- und kunstpolitische Provinzposse, die viel über die nach wie vor offenen Wunden der deutschen Vereinigung und die antikapitalistischen Vorurteile in den Neuen Bundesländern erzählt, eine vernünftige Lösung gefunden wird, bleibt abzuwarten. Eine kleine Ausstellung mit gerade einmal 28 Bildern, die jetzt im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte am Neuen Markt präsentiert wird, könnte behilflich sein, die Gemüter etwas zu beruhigen. Im ehemaligen Kutschstall, wo gerade unter dem Titel „Kunst & Kartoffel“ eine Ausstellung zu Friedrich dem Großen und die preußische „Tartuffoli“ läuft, wurde der Konferenz- zum provisorischen Ausstellungsraum umfunktioniert, um „Einblick und Ausblick“ zu geben auf die Werke aus der Sammlung von Hasso Plattner.

Werner Tübke: "Der Narr und das Mädchen", Öl auf Leinwand, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind/Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Werner Tübke: "Der Narr und das Mädchen", Öl auf Leinwand, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind/Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

In der viel zu eng und unübersichtlich gehängten Bilderschau sind vor allem Werke des realsozialistischen Spätexpressionismus zu sehen, grelle Farbballungen von Bernhard Heisig, naive Romanzen und Idyllen von Wolfgang Mattheuer, auch Plakatives von Willi Sitte, Altmeisterliches von Werner Tübke, Mythologisches von Arno Rink, also Bilder von Künstlern, die der „Leipziger Schule“ angehören und zu Repräsentanten der DDR-Kunst wurden. Dazwischen geschmuggelt ist aber auch ein erst 2004 gemaltes abstraktes Bild von Gerhard Richter, der einst von Dresden nach Düsseldorf floh und heute der bedeutendste zeitgenössische deutsche Künstler ist. Und was ein Bild von dem in Velbert am Rhein geborenen Klaus Fussmann in einer Sammlung zu suchen hat, die sich dem Ziel verschrieben hat, die Kunst der DDR zu dokumentieren, bleibt genauso ein Rätsel wie die Tatsache, dass viele der gezeigten Werke vielleicht noch den Geist des untergegangenen Sozialismus atmen, aber tatsächlich von Heisig, Sitte, Tübke und Co. erst nach der Wende geschaffen wurden. Wie kann es nur sein, fragt sich der aus dem nahen Berlin angereiste Betrachter, dass diese eher stille und gut gemeinte, aber künstlerisch noch unausgereifte Sammlung von ziemlich konventionellen Bildern einen solch lauten Streit hervorrufen kann?

Arno Rink: "Lots Töchter", Öl auf Leinwand, 2007 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Arno Rink: "Lots Töchter", Öl auf Leinwand, 2007 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Der 1944 in Berlin geborene Unternehmer Hasso Plattner wurde mit seiner in Walldorf beheimateten Software-Schmiede SAP nicht nur zum reichen Mann, sondern auch zum Stiftungsgründer und Mäzen. Der Universität Potsdam hat er ein Institut für Software-Systemtechnik finanziert, für den Wiederaufbau des Potsdamer Schlosses mehrere Millionen Euro locker gemacht. Jetzt wollte Plattner der Stadt nicht nur seine noch im Aufbau befindliche Kunst-Sammlung schenken, sondern auch noch gleich den Neubau des dazu gehörigen Museums bezahlen. In Absprache mit Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) wollte Plattner das Museum dort errichten, wo seit einigen Jahrzehnten ein 17-stöckiger DDR-Plattenbau steht und das historische Ambiente Potsdams verhöhnt. Das architektonische Monster war früher ein „Interhotel“, in dem Gäste aus dem Westen überwacht und abgehört wurden. Doch Plattners Plan, den amerikanischen Investoren das heutige Hotel „Mercure“ abzukaufen und es auf eigene Kosten abreißen zu lassen, rief unerwarteten Widerstand hervor. Die in Brandenburg stark vertretene „Linke“ versammelte DDR-Nostalgiker um sich und machte mit Protestaktionen und Unterschriftenlisten mobil. Auf einer Gegendemonstration – unter dem Motto: „Plattner statt Platte“ – versicherten Prominente wie TV-Moderator Günther Jauch, Schauspielerin Nadja Uhl und Modeschöpfer Wolfgang Joop dem von der „Linken“ als „Kolonisator“ und „Kapitalist“ verunglimpften Sponsor ihre Sympathie. Doch es nützte nichts. Plattner zog sein Angebot öffentlichen Mäzenatentums zurück und verkündete gleichzeitig, er werde auf seinem Privatgrundstück am Potsdamer Jungfernsee eine kleine Kunsthalle bauen und dort allen Interessierten seine Sammlung zugänglich machen.

Erich Kissing: "Claudia", Tempera und Öl auf Hartfaser, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Erich Kissing: "Claudia", Tempera und Öl auf Hartfaser, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Abgesehen davon, dass der Streit um Plattners Mäzenatentum ein peinliches Licht auf Potsdam wirft, beantwortet auch die Ausstellung „Einblick und Ausblick“ (bei deren Vernissage Plattner demonstrativ fern blieb) nicht, welche Motive und Ziele die Sammlung zur DDR-Kunst eigentlich verfolgt. Wird sie auch Nonkonformisten wie Gerhard Altenbourg und Kunstrebellen wie Cornelia Schleime berücksichtigen? Und neben Gerhard Richter gibt es auch noch „Republikflüchtlinge“ wie A. R. Penck und Georg Baselitz. Fragen über Fragen.

Ausstellungsort: Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam (Foto: Hagen Immel / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Ausstellungsort: Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam (Foto: Hagen Immel / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Infos:

+ Hasso Plattner wird am 21.1.1944 in Berlin geboren.

+ Zusammen mit Dietmar Hopp und anderen gründet Plattner 1972 das Software-Unternehmen SAP.

+ Seit dem Rückzug aus dem Tagesgeschäft engagiert sich Plattner als Kunstmäzen und Wissenschaftsförderer.

+ 1998 gründet er das Hasso-Plattner-Institut für Software-Systemtechnik in Potsdam.

+ „Einblick und Ausblick – Werke aus der Sammlung Prof. Dr. Hasso Plattner“, bis 16. September im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Am Neuen Markt 9, Potsdam (Di-Do 10-17 Uhr, Fr 10-19 Uhr, Sa-So 10-18 Uhr).




Sterben und sterben lassen

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und die CDU/CSU streiten sich. Das ist nicht grundsätzlich neu. Diesmal aber geht es um Leben und Tod.

Die Justizministerin hat in den vergangenen Tagen einen Gesetzentwurf zum Verbot gewerblicher Sterbehilfe vorgelegt, der bei der Katholischen Kirche und den C-Parteien Protest auslöst. Die Liberale möchte zwar das Geschäft mit dem Tod, das zum Beispiel der Schweizer Verein Dignitas betreibt, unterbinden. Die private Hilfe zum Suizid etwa unter Angehörigen oder nahen Freunden soll aber straffrei bleiben. Bei der nun aufziehenden Diskussion wird es hoch hergehen und vor allem kunterbunt durcheinander.

Verschiedene Szenarien werden um die Gunst des Publikums konkurrieren. Da ist zunächst der Fall der Bettina Koch, die durch einen Unfall ab dem Hals gelähmt war und trotzdem unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper spürte. Sie konnte klar artikulieren, dass sie sterben wollte. Ärzte konnten ihr keine dauerhafte Linderung ihrer Qual versprechen. Ihr Mann musste sie mühsam in die Schweiz transportieren, damit sie dort das lebensbeendende Präparat verabreicht bekam. Diese grausige Reise soll nun vermieden werden. Der Ehemann der Bettina Koch würde sich, würde das Gesetz der FDP-Ministerin verabschiedet, nicht strafbar machen, wenn er die Tablette seiner Frau in den Mund legen würde.

Neben den üblichen Verdächtigen, die fast jede Art von Eingriff in Lebensabläufe verdammen, sei es Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch oder in diesem Fall eben Sterbehilfe, werden sich aber auch sehr aufgeklärte Menschen zu Wort melden. Was ist mit denjenigen, die sich nicht klar artikulieren können? Wird der Euthanasie Tür und Tor geöffnet? Mitleid wird hier schnell zur tödlichen Falle. Ob das Leben eines Komapatienten lebenswert ist, wird gern von außen beurteilt. Nur, stimmt dieses Urteil mit den inneren Welten des Patienten überein? Viele Menschen, die dem Tod schon nahe waren, verneinen dies. Koma kann anscheinend nicht nur für jugendliche Alkoholkonsumenten ein erquicklicher Zustand sein. Aber Angehörige möchten gern ihr eigenes Leiden, das sie als Zuschauer empfinden, schnell beenden und verwechseln ihre Gefühle mit denen ihrer Angehörigen. Auch geistig schwerbehinderte Menschen, psychisch kranke Menschen, Straftäter, demente Menschen, ihnen allen wird im Rahmen von Sterbehilfediskussionen an Stammtischen gern das Recht auf Leben abgesprochen.

Und deshalb ist bei dieser Diskussion ein schmerzhafter Blick in unsere Vergangenheit unumgänglich. Die Stammtische waren hierzulande mal in Regierungsverantwortung und beendeten mit ihrer menschenverachtenden Logik Millionen von angeblich unwerten Leben. Wer die Gleise von den Gaskammern zu den Öfen in der Tötungsanstalt im hessischen Hadamar, die nun eine Gedenkstätte sind, gesehen hat, auch die Fotos aus dem Jahr 1941, als gelber Rauch aus dem hohen Schornstein weit sichtbar über das beschauliche Städtchen zog, der wird die Diskussion um Sterbehilfe nicht nur akademisch führen können.

Aber trotzdem ist diese Diskussion so wichtig. In den Niederlanden, in Belgien und in der Schweiz sind die historisch begründeten Empfindsamkeiten verständlicherweise nicht so ausgeprägt. Vielleicht können wir voneinander lernen. Der Gesetzentwurf aus dem Bundesjustizministerium, das ist an dieser Stelle wichtig zu sagen, hat überhaupt nichts mit Euthanasie zu tun.




Was ist daran politisch? Die dOCUMENTA (13) und die „politische Kunst“

Edward Tufte nach Reinhardt; ohne Angaben (Foto web)

Auf Grundlage dieses großzügigen Politik-Verständnisses lässt sich aller menschlichen Aktivität politische Wirksamkeit bescheinigen, darunter auch ökologischen, psychologischen und sozialen Prozessen. Und diese bilden die Basis zahlreicher Beiträge der dOCUMENTA (13), wodurch sie die bislang interdiszplinärste ist.

Jenseits der twenty-somethings

Einzelne Aspekte der Ausstellung fordern zur Nachahmung auf, wie beispielsweise die Anhebung des Altersdurchschnitts von TeilnehmerInnen und Exponaten.

Etel Adnan "untitled, 1959-2010" (Foto A.S.Berg)

So lässt sich der Auftritt der 1925 geborenen Etel Adnan und Aase Texmon Rygh, sowie des ein Jahr jüngeren Gustav Metzgers als Aufruf zur Überwindung der im Kunstbetrieb herrschenden Altershierarchie verstehen, derzufolge vor 1970 Geborene für den Markt nur dann interessant sind, wenn sie sich anhaltenden Erfolgs erfreuen.

Synchronizität der Ereignisse: Abgelegene Modernen

Die dOCUMENTA (13) setzt diese Revision von Formen und Inhalten der Moderne fort, indem sie moderne KünstlerInnen jenseits der üblichen Verdächtigen in Erinnerung ruft. 

Maria Martins; Skulpturen aus den 1940er Jahren (Foto A.S. Berg)

So übertragen Hannah Ryggens Webereien die internationale Politik der 1930er Jahre in ein Amalgam der in Europa verfügbaren Formsprachen.

Hannah Ryggen; Ausstellungsansicht (Foto Roman März)

Emily Carrs und Margaret Prestons Gemälde hingegen verbinden Prinzipien der Klassischen Moderne mit denen der Kulturen der amerikanischen Nordwestküste, bzw. der australischen Aborigines.

Emily Carr; Ausstellungsansicht (Foto A.S. Berg)

Die Vermessung der Kunstwelt

Mit der Öffnung des Zeitfensters erweitert sich auch der geografische Rahmen. Die Integration des Geschehens außerhalb von Europa und den USA ist auf Biennalen, und seit der zehnten auch auf der documenta selbstverständlich. Doch angesichts der noch immer von nationalen Interessen bestimmten Ankaufspolitik der Museen und Sammlungen kommt der Aufmerksamkeit für die Kunstgeschichte abseits traditioneller Zentren Signalcharakter zu.

Grenzwertig

Tarnanstriche

Ohne künstlerische Absicht entstandene Exponate fungieren als ästhetische Lockvögel, die die Aufmerksamkeit auf den eigentlichen, nicht-ästhetischen Gegenstand lenken.

Infolge einer regimekritischen Äußerung wird Korbinian Aigner zur Zwangsarbeit in Dachau verurteilt, wo er vier neue Apfelsorten züchtet und sie KZ 1 bis 4 nennt. Der Grund für Aigners Anwesenheit auf der documenta sind demnach nicht die mit wissenschaftlicher Präzision gemalten Äpfel als vielmehr die Geschichte vom inhaftierten Dissidenten, der im Wissen um den morgigen Weltuntergang Apfelbäumchen pflanzt und so die tätige Umsetzung des Prinzips Hoffnung verkörpert.

Auch die Anwesenheit von Mark Lombardis minutiösen Geweben verdankt sich nicht ihrer grafischen Attraktivität. Ihr dekoratives Äußeres diente der Offenlegung geheimer Verbindungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern, deren Nebenprodukt die visuell ansprechenden Diagramme darstellen. Dass die Kuratorin deren ästhetischem Reiz erlegen ist, zeigt die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Personen, Firmen und Institutionen durch elegant geschwungene Linien markiert, die Art dieser Kontakte aber undefiniert ist.


Goshka Macuga "Of What Is, That It Is; of What Is Not, It Is Not, 1"; 2012 (Foto Roman März)

Anders als im Fall von Aigner und Lombardi, wo Formen allein dem Transport von Inhalten dienen, sind bei Goshka Macuga beide Komponenten gleichermaßen ausdrucksstark. Unterhalb der Ruine des Darulaman-Palastes in Kabul haben sich Angehörige des afghanischen und internationalen Kulturbetriebs eingefunden. Die Situation ist von surrealen Versatzstücken unterbrochen, wodurch die Form der Arbeit auf zweierlei Weise irritiert: Optisch ist das vermeintliche Foto eine Foto-Montage, und materiell ein Gewebe. Auch inhaltlich erweist sich die sich dokumentarisch gerierende Aufnahme als inszeniert und mehrdeutig.

Durch die Kombination inhaltlicher und formaler Vielschichtigkeit steht Macuga in der Tradition Hannah Ryggens, die ebenfalls durch ikonografisch eigenwillige und technisch ausgefeilte Webereien Aufmerksamkeit für ihre politischen Botschaften erzielt. Beide Künstlerinnen setzen somit ästhetische Methoden zur komplexen Darstellung politischer Ereignisse ein.

Eine solche ästhetische Aufbereitung nicht-retinaler Inhalte ist nicht zu verwechseln mit Ästhetisierung. Denn statt Inhalte durch gefällige Formen eingängig zu machen, werden abstrakte Phänomene sinnlich erfahrbar und so politisch aussagekräftig.

HIStory

Nach dem Prinzip, wer seine Vergangenheit nicht erinnert, wiederholt sie, werden zahlreiche Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt.

Eine Chimäre aus Mickey Mouse und Mudschaheddin patrouilliert durch Llyn Foulkes Installation, die als Bühnenbild des posthumanistischen Zeitalters durchgehen könnte: Der Day After all dessen, wovor uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Die Umgebung suggeriert unterschiedliche Lesweisen: Stadt- oder Ruinenlandschaft, unberührtes Geröll oder Trümmerfeld, Vergangenheit oder Zukunft? Durch diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird die Taliban Mouse zu Walter Benjamins Angelus Novus:

Die Janusköpfigkeit der Bilder, die verschiedenen Zeiten anzugehören scheinen, setzt sich in Mariam Ghanis Synchronisation der Geschichte Kabuls und Kassels fort, in der das Innere eines einst, neben dem eines noch immer verwüsteten Herrschaftsgebäudes erscheinen. Die Renovierung, die zwischen dem kriegsversehrten und dem heutigen Fridericianum stattfand, steht dem Darulaman-Palast noch bevor. Doch die in den Details zutage tretende Unterschiedlichkeit beider Bauten verweist auf kulturelle Identitäten, die ihre spezifischen Entwicklungen fordern.

HERstory

Die eingangs erwähnte Identität der privaten und kollektiven Sphäre veranlasste KünstlerInnen der 1970er Jahre zur programmatischen Offenbarung des Unterdrückten im Interesse psychischer und physischer Befreiung. Dieser Tradition der Transparenz als Mittel politischer Emanzipation fühlt sich Ida Applebroog spätestens seit 1969 verbunden, als sie 160 Zeichnungen ihrer Vagina anfertigte, die sie später, zu Plakaten vergrößert, als Rauminstallation präsentierte. Verglichen mit dieser wegweisenden Geste nimmt sich die Veröffentlichung einzelner Tagebuchseiten eher schüchtern aus. Ziel jedoch ist nicht eine weitere Grenzüberschreitung als vielmehr die abermalige Integration der privaten in die öffentliche Dimension.

Ida Applebroog "I See by Your Fingernails that You Are My Brother"; 1969-2010 (Foto Roman März)

Ein vergleichbares Angebot von Transparenz stellt Lori Waxmans Angebot dar, mitgebrachte Arbeiten der BesucherInnen 25 Minuten lang zu begutachten, um anschließend vor aller Augen eine Kritik von 100 bis 200 Wörtern zu verfassen, und so eine undurchsichtige Prozess unter Einschluss der Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen.

Tunix

Zivilisationskritik äußert sich auch in Andrea Büttners Videodokumentation über im Schausteller-Millieu engagierte Ordensfrauen, ergänzt von Holzschnitten, die abstrahierte Zelte darstellen – Behausung der Nichtsesshaften und Flüchtlinge.

Bodenständig

Die Erfindung des Tafelbildes markierte einst den Übergang vom religiös motivierten Handwerk zur Kunst. Die an den Flügelaltar gebundene Malerei wurde mobil und ließ sich verschiedenen Kontexten anpassen. Nun holt Pich die Standortgebundenheit zurück ins Tafelbild. Mit dem für lokale Eigenheiten sensibilisierten Blick des Rückkehrers fertigt er das universale Raster aus einheimischen Rohstoffen Bambus, Erden und Bienenwachs an.

Verglichen mit Pichs Erdung der universell transportablen Währung Bild schlägt Doreen Reid Nakamarra die umgekehrte Richtung ein. Um den Verkauf zu ermöglichen, überträgt sie ihre, nach Tradition der Aborigines auf dem Boden ausgeführten Arbeiten auf Leinwand und speist so die einstige Bodenzeichnung in den globalen Kunsthandel ein.

Die Verwandlung von Erde zu Geld gehört zu den Werken, die das Verhältnis abstrakter und konkreter Werte thematisieren – allen voran die wirtschaftliche Ab- und Aufwertung der Elemente Erde, Wasser, Luft und menschlicher Arbeitskraft.

Ja, aber. Was ist denn nun daran politisch?

Die interdisziplinäre Ausrichtung der dOCUMENTA (13) deutet darauf hin, dass ein Grund für das Scheitern politischer Programme im Outsourcing einzelner Segmente aus dem politischen Aktionsradius liegt. Statt die Anliegen wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder kultureller Bereiche rechtzeitig im politischen Zusammenhang zu thematisieren, werden die Sprengkraft bergenden Felder aus dem politischen Geschehen ausgelagert.

Angesichts dieser Optionen des selbst- und fremdbestimmtem Engagements tendiert die dOCUMENTA (13) zur Funktionalisierung, d.h. zur Anwendung künstlerischer Strategien im Interesse sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Ziele.

Das Plädoyer für die Gleichwertigkeit von Altersgruppen und Kunstgeschichten verschiedener Zeiten und Räume lässt die Hierarchien des Kunstbetriebs anachronistisch scheinen.

Auch die Integration verschiedener Wahrnehmungsformen hat Modellcharakter, da Lösungen für wirtschaftliche und ökologische Probleme eine Erweiterung der auf Menschen zentrierten Sicht erfordern. Solche Lösungen entstehen nicht durch eine bloße Verschiebung von einem Zentrismus zum nächsten, sondern durch ein Auflösen aller auf einzelne Gruppen beschränkten Herrschaftsformen zugunsten horizontaler Verfahren.

All diese Prinzipien – Interdisziplinarität, Einsatz künstlerischer Praktiken zugunsten nicht-künstlerischer Ziele, sowie Dezentralisierung – treten im Rahmen der Ausstellung und der sie begleitenden Veranstaltungen in einer Vielzahl von Varianten in Erscheinung. So werden die vielzitierten Möglichkeitsräume nicht nur angedeutet, sondern auf genuin künstlerische Weise inszeniert.




Die anderen siegen, ohne zu singen, wir siegen nicht, weil wir nicht singen

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Ich hab’s, diverse Politiker haben’s auch, die BILD hat’s und wer hat’s übersehen? WIR konnten ja gar nicht den Titel des Europameisters gewinnen, weil WIR nicht richtig singen können – oder wollen – oder ethnisch so wenig vaterländisch sein mögen, dass WIR zwar Fußball spielen für UNS, also Schland, aber die vaterländische Tradition des kollektiven Chorgesanges nicht mittels Muttermilch in uns aufgenommen haben.

Wutentbrannt stürzten sich bereits vor der schmählichen Niederlage gegen Italien diverse User ganz ohne  Netikette auf Özil, Klose, Kedhira oder Podolski, weil deren Lippen unbewegt blieben, während eine ganze Nation bewegend die Brust schwellen ließ und das weinerliche Singdings vom Inselfelsen Helgoland in jedes sich bietende Wohnzimmer bzw. über jeden sich bietenden Rudelguck-Platz jodelte. Deutschland sucht den Superstar der Hymnen, Schlandlied walle wehrhaft, elf Sänger sollt Ihr sein.

Hingegen intonierten die schwarmintelligenten Mitglieder der Squadra Azzura gläubig ein donnerndes „Italia, Italia“ übers Feld und – gewannen, zumindest gegen die fortgesetzt böswilligen Verschmäher deutschen Hymnengutes.

Also, wir haben’s: Es war nicht die Unfähigkeit eines Trainers, modernen Fußball als siegbringendes Heilmittel zu erkennen, es war nicht die Unfähigkeit vieler Spieler, schnelles, zielgerichtetes Bewegen in Richtung gegnerisches Tor bzw. in Richtung ballführende Spieler als siegbringendes Mittel zu erkennen, es war nicht die seit Jahren siechend humpelnde Fußball-Philosophie in den Vereinen der Republik (einen nehme ich natürlich aus, den großartigen Deutschen Meister), die wieder einmal eine iberische Mannschaft ins Ziel brachte und nicht uns, die wir ja eigentlich dahin gehören. Nein, es war der eklatante Mangel an sängerischer Inbrunst, erzeugt von ganz sicher zu starker germanischer Nichtherkunft einiger Balltreter.

Nun denken (tun die das?) Politiker darüber nach, Singpflicht einzuführen. Damit WIR wieder singend ans Siegen kommen. So einfach kann Fußball sein: Viel Singen, wenig Rennen!

Übrigens, wie machen diese noch viel schwarmintelligenteren Spanier das bloß? Die singen nie. Können sie auch schlecht, weil ihre Ahnen es versäumten, der auch nicht sonderlich anregenden Hymne einen gescheiten Text zu verpassen – so etwa „Spanien, Spanien über alles …“, was in Sachen Fußball ja so weit von der Realität derzeit nicht entfernt wäre. Sie singen nie, sie siegen ständig – das geht doch nicht zusammen, kann den gesangsfördernden Politikern das mal jemand erklären?

Einwurf fürs Team der Antarktis, das nach der EM wieder verstärkt in den Blickpunkt rückt. (Foto: Bernd Berke)

Einwurf fürs Team der Antarktis, das nach der EM wieder verstärkt in den Blickpunkt rückt. (Foto: Bernd Berke)




Denkwürdige Vokabeln (8): „Rauchwaren“

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Nachdem die nette Ministerin Barbara Steffens im rot-grünen Landeskabinett NRW als erste Großtat der frisch installierten Regierung auserkoren hat, das Gesetz zum Schutze der Nichtraucher auf eine Klingenschärfe von Ao-Gami Stahl (67 Rockwell) zu bringen, bedienen sich Kommentatoren und Chronisten immer häufiger eines Begriffes, der mir, in diesem Sinnzusammenhang benutzt, die Fußnägel hochkrempelt – aber ich bin ja schon im methusalemischen Alter, was die Nutzung sprachlichen Handwerkszeugs angeht. Stets formulieren die Damen und Herren, dass „Rauchwaren“ und deren Hersteller sowie die ultimative Freiheit der Konsumenten im Allgemeinen bekämpft würden oder – falls die Kommentatoren und Chronisten hartleibige Nichtraucher sein sollten – die „Rauchwaren“ und deren Hersteller zwar bekämpft, die Konsumenten aber vor sich selbst geschützt und die unfreiwilligen Mitraucher vor den Konsumenten. Wow!

Nun sind aber Rauchwaren ursprünglich mal nicht etwa blaudünstige Genussmittel zur intensiven Inhalation gewesen, sondern Produkte des Kürschnerhandwerkes, das sich vorzugsweise wohlhabende Damen nicht nur zu Winterzeiten überwarfen, damit sie teuer und gut angezogen nicht frieren mussten. Will sagen, das waren Pelzklamotten, die ins Café ausgeführt wurden, damit frau beim Nippen am Tee hinlänglich bewundert wurde und anschließend, wenn sie sich denn ins vor der Türe geparkte Cabrio schwang, die männlichen Passanten in Augenstarre versetzten. Mit Tabak hatten diese Rauchwaren nichts zu tun, das „Rauch“ stammte eher von „rau“ und stand für zottelig und so.

Ikone des Rauchens: Humphrey-Bogart-Figur aus dem Nippesschrank. (Foto: Bernd Berke)

Ikone des Rauchens: Humphrey-Bogart-Figur aus dem Nippesschrank. (Foto: Bernd Berke)

Nun, das ist längst vergessen, heute nehmen die Sprachbildner diese Vokabel für Qualm und Tabak, was mich zwar immer noch stört, aber keinen außer mir interessiert. Allerdings stieß ich beim betroffenen Grübeln über einen neuerlichen Verlust aus dem gescheiten Vokabular auf eine Tatsache, die mir als trockengelegtem Kettenraucher positiv auffiel. 1948, als meine Mutter den allgemeinen Trümmerhaufen in ihrer Umgebung mit mir als neuen Nachkriegs-Schreihals beglückte, gründete sich auch der Verband der Cigarettenindustrie (VdC), der sein unerschrockenes Wirken bis 2007 durchhielt und tapfer dafür sorgte, dass Wissenschaftler Geld verdienten, damit sie Gutachten verfassten, die der Verband wiederum dazu nutzte, dass die Bonner oder später Berliner Politik die am Verbraucher orientierten richtigen Entscheidungen trafen. Und bisweilen schrieb der Verband auch mal Gesetze für die Regierung, damit sie nicht auf die verbraucherunfreundliche Idee kam, die Tabaksteuer zu schnell und zu hoch zu erhöhen, was die Regierung dann auch im Sinne der Arbeitserleichterung für die beteiligten Ministerien 1:1 in Steuerrealität umwandelte.

Nun, zunächst verschied mit 51 Jahren der Marlboro-Cowboy, dann verabschiedete sich Philip Morris aus dem Lobby-Kader, 2007 löste sich der Verband dann vollends auf und 2008 leisteten sich die verbliebenen Reste eine grüne Sprecherin mit Namen Marianne Tritz, die wohlbestallt vollmundigen Verbraucherschutz rund um sich herum posaunte, denn an nichts anderes denken sie ja, die Kippendreher der Nation. Vielleicht kann sich die Gorleben-Bekämpferin Marianne Tritz ja nun auch „Rauchwaren“ zulegen und zu Winterszeiten vom Frost verschont bleiben, oder ihr Cabrio vor dem Café parken, wie sie am Tee zu nippen pflegt.

Marianne Tritz raucht nach eigenen Angaben nicht mehr – nach ebenso eigenen Angaben lebte sie insgesamt zu ungesund, Barbara Steffens raucht auch schon lange nicht mehr, daher ihre ultimative Konsequenz, ich auch nicht, bin dafür aber völlig inkonsequent und so elend tolerant und ich bedauere immer noch, dass inzwischen diese schöne alte Vokabel „Rauchwaren“ zu blauem Dunst verkommt.




Eine Herzmanovsky-Verführung

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Kaum dass der vor kurzem im Residenz Verlag erschienene Bild- und Textband „Forscher im Zwischenreich / Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“ uns in den Blick gerät, schon nehmen wir ihn in die Hand und ahnen sofort, welch schönes, welch interessantes Buch wir da in Händen halten.

Die Bildreproduktionen sind einladend, eröffnen einen Blick in eine ganz eigene, durch mangelnde große Bekanntheit noch recht unverbrauchte Welt. Druckbild, Farbgebung, etc. alles einwandfrei, ja hervorragend.

Es mag dabei ein beträchtlicher Vorteil sein, dass FHO (= Fritz von Herzmanovsky-Orlando) zum Beispiel in Deutschland noch nicht allzu bekannt ist, aber auch in Österreich dürfte der beeindruckende Zeichner FHO weit weniger bekannt sein als der Schriftsteller. Zwar kamen auch in Deutschland FHOs sämtliche schriftstellerischen Werke erst in der originären Ausgabe des Residenz Verlages heraus, dann vor allem jedoch (allerdings mit mir unbekanntem Erfolg) in der dreibändigen Lizenzausgabe bei Zweitausendundeins. Aber richtig bekannt ist der Schriftsteller in Deutschland nicht geworden, sicher am wenigsten noch nördlich des Mains, also auch nicht im Ruhrgebiet.

Gewiss: In der Reihe des Heyne-Verlags „Das besondere Taschenbuch“ erschien einst in den 80er-Jahren Herzmanovskys wegen seiner Skurrilität wohl berühmtester Roman „Der Gaulschreck im Rosennetz“ mit den vom Autor selber stammenden Illustrationen. In einer Kultsendung wie der vom Hessischen Rundfunk (HR2) ausgestrahlten Ratesendung Peter Härtlings, „Literatur im Kreuzverhör“, kamen mindestens zweimal schon Texte FHOs vor, bei denen nach anonymer Textverlesung der Autor erraten oder gewusst, jedenfalls gefunden werden musste und durch Telephonanrufer auch erraten wurde. Auf den Literaturreisen von „Begegnung mit Böhmen“, eines Reiseunternehmens aus Regensburg, lässt sich u. a. der literaturkundige Reiseleiter Arthur Schnabl wirkungsvoll vorlesbare Texte von FHO wie z. B. den „Wassertrompeter“ wohlweislich auch nicht entgehen.

Aber nach wie vor gilt: So richtig im Bewusstsein durchgesickert und bleibend angekommen ist Fritz von Herzmanovsky-Orlando als Schriftsteller und als Eigenillustrator, gar als eigenartiger und beeindruckend eigenständiger Zeichner zumindest in Deutschland noch nicht.

Das neue Buch des Residenz Verlages kann dem nun durchaus verführerisch Abhilfe schaffen, so es denn wahrgenommen wird. Und das darf man ihm vorbehaltlos wünschen. In diesem wunderbar ausgestatteten Band kann man den großartigen Zeichner FHO entdecken und sich zugleich indirekt einen Zugang zu seinem Werk als Schriftsteller verschaffen; oder umgekehrt, wenn man von FHO schon etwas gelesen hat, kann man in seinen Zeichnungen eine andere, womöglich die originäre Seite von ihm in unverklemmter Offenheit präsentiert bekommen. Und wirklich: Von der chronologischen Abfolge her scheint das reife zeichnerische Werk (das jedoch zeitlebens bei FHO, also auch in seiner stärker schriftstellerisch geprägten Lebensphase) nie ganz aufhört, dem schriftstellerischen voran- bzw. vorauszugehen. Im Haupttext des Buches, im vielgliedrigen Essay von Arnulf Meifert, wird jedenfalls u. a. aufgezeigt, wie sehr auch noch das schriftstellerische Werk FHOs von dem zeichnerischen her gespeist wird, ja sich geradezu aus ihm heraus entwickelt, mental, thematisch, figural.

Fürwahr, eine Herzmanovsky-Verführung ist dieser Band, eine gelungene Verführung zu ihm als Zeichner und von da her alsbald wohl auch zu ihm als Schriftsteller. Meine Anspielung auf Rolf Vollmanns im Dezember des letzten Jahres im Albrecht Knaus Verlag erschienenen Doppelband „DER DÜRER VERFÜHRER oder die Kunst, sich zu vertiefen“ ist dabei ganz bewusst. Zudem: eine klare Überschneidung gibt es auch.

Auf der Seite 31 des FHO-Bandes finden wir eine Wiedergabe von Albrecht Dürers Radierung „Der Spaziergang“ – ein auch bei Vollmann eingehend betrachtetes Bild (vgl. dort die Seiten 33 – 35 des 1. Bandes) – konfrontiert mit FHOs Dürer-Adaption in Form einer Zeichnung.

Gerade der direkte Vergleich verrät sehr viel von der Herzmanovskyschen Eigenart, die weder vor Verknappung und Leichtigkeit noch vor satirisch grotesker Zuspitzung bzw. ironisch-humorvoller Scheinverniedlichung (hier des Todes) zurückschreckt. Wie überhaupt der Bezug auf schon vorhandene Kunstwerke, an denen er sich bewusst schulte und abarbeitete, indem er sich bewusst dagegen abhob, Fritz von Herzmanovsky-Orlando zu seinem Eigenen mitverholfen haben mag.

Arnulf Meifert tut zusätzlich das Seine zur Verdeutlichung von FHOs Eigenständigkeit, indem er ihn wiederholt gezielt und durchaus abweichend von eingeschliffenen Mustern mit Alfred Kubin, vor allem aber mit Paul Klee zusammensieht, mit dem FHO u. a. den Begriff „Zwischenreich“ teilt, wiewohl ganz anders akzentuiert.

Das fast unbekannte, recht liebevoll und höchst ansprechend präsentierte Bildmaterial alleine schon lohnt die Anschaffung dieses Bandes: Freizügig und dezent tabulos sind diese Bilder – und faszinierend merkwürdig, wenn man in ihnen immer wieder eine Verschränkung von weiblich-feenhafter Dominanz mit bis zur Karikatur submissen männlichen Ungestalten wahrnimmt, eine Verschränkung eines paradiesähnlich gemeinten Zustandes also – mag man diesen nun als eine bildgewordene Utopie oder als konzentrierte Privatmythologie auffassen – mit einer das Männliche immer wieder herabstufenden realsatirischen Konkretion.

Der große Essay von Arnulf Meifert vor allem, aber auch die kleineren Beiträge von Peter Assmann, Franziska Meifert und Siegfried de Rachwitz nebst einer den Band abschließenden Übersicht der Werke im Museumsbesitz, vermitteln uns auf wichtig erhellende, durchaus ideologiekritische Weise Zusammenhänge und Hintergründe. Politisch Schlimmes, sehr Schlimmes und in künstlerischer Form weniger Schlimmes, da künstlerisch Gebanntes, so lernen wir, entstammen ein und denselben geistigen bzw. gelegentlich abstrusen Strömungen nach 1900, an denen insbesondere auch FHOs Frau Carmen, ihn stark beeinflussend und zugleich seiner sexuellen Veranlagung maßgeblich entgegenkommend, regsten Anteil nahm.

Es fällt auf, dass Arnulf Meinert Fritz von Herzmanovsky-Orlandos phantasievoller Zeichenkunst vordringlich eine gewisse „Bannbildfunktion“ (S.62) zuzuerkennen bereit ist, ihn im Übrigen gelegentlich auch als Vorwegnehmer der Surrealisten feiert.

Als besondere Bereicherung des Bandes habe ich empfunden, dass Arnulf Meifert an den Beginn eines jeden der sieben Kapitel seines Hauptessays je eine ganze Drittelseite sehr gut ausgesuchter thematischer Aphorismen gestellt hat. Diese (von sehr verschiedenartigen Autoren stammend) sind fast durchweg kaum bekannt, wiewohl von meist hoher bis sehr hoher Qualität.

Arnulf Meifert / Manfred Kopriva (Herausgeber): „Forscher im Zwischenreich. Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“. Residenz Verlag. 256 Seiten, 36 €.




Der herrliche Kosmos des Abkupferns

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Kunsthalle Karlsruhe: “Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube”

Kaum ein Thema spaltet derzeit die Intelligenzija hierzulande nachhaltiger, als die Frage nach dem Wesen und Unwesen der Kopie und des Kopierens von Kulturerzeugnissen in Zeiten des Internets. Unversöhnlich scheinen sich diejenigen gegenüberzustehen, die einerseits Angst um den Ertrag aus ihrer Musik oder ihren Texte haben, andererseits diejenigen, die für weit reichende Freiheiten des Kopierens stehen. Angefeuert nicht zuletzt durch die Erfolge der Piratenpartei.

Man hört von Filmern, Literaten und Musikern, die sich in groß angelegten Kampagnen gegen Diebstähle an geistigem Gut richten, als ob der Untergang des globalen Dorfs kurz bevor stünde. Bildende Künstler sind in dieser verzerrenden Schein-Schlacht allerdings eher in der Unterzahl. Indes spiegelt sich gerade in der Geschichte von Malerei, Plastik, Grafik etc. geradezu beispielhaft, wie die Kopie unsere visuelle Kultur von Beginn an geprägt und bereichert hat.

Es ist das Verdienst einer hervorragend strukturierten und aufbereiteten Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, den aktuell etwas einseitigen Blick zu korrigieren. Eingängig und aufregend, historisch fundiert bietet die Schau Gelegenheit, den Horizont mit Blick auf das anregende Erbe künstlerischen Kopierens anhand von 120 Werken aus dem Spätmittelalter bis heute zu erweitern. “Déjà-vu. Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube” grenzt hierbei schöpferische Aneignungsverfahren vom vermeintlichen Verbrechertum der bösen “Raubkopierer” ab.

Johann Geminger: Ritter, Tod und Teufel (nach Dürer, um 1600), (c) Kunsthalle Karlsruhe

Johann Geminger: Ritter, Tod und Teufel (nach Dürer, um 1600), Öl/Holz, (c) Kunsthalle Karlsruhe

Die Ausstellung hebt an mit einer wunderbar sinnigen Fotoarbeit von Claudia Angelmaier. Das zwei Meter breite Tableau “Das große Rasenstück, 2004/2008″ zeigt Albrecht Dürers ikonenhaftes Aquarell auf ganz besondere Weise. Die 1972 geborene Künstlerin hat sich ein Dutzend Kunstbücher, in denen das legendäre Blatt abgedruckt ist, vorgeknöpft und diese zu einer kleinen Schausammlung in zwei Reihen zu sechs Buchdoppelseiten arrangiert und abgelichtet. Die Bücher überlappen einander derart, dass die Abbildungen, recht nahe beieinander liegend, zum Vergleich anregen. Mit dem Ergebnis deutlich sichtbarer Unterschiede nicht nur im Format, sondern vor allem hinsichtlich der Druckfarben. Das mahnt die Unmöglichkeit eines Ersatzes von Originalen mit Reproduktionen an und verweist gleichfalls auf den aktuellen Schwachsinnsstreit, den sich GEMA und YouTube liefern: Die kleinen Flash-Filmchen sind Surrogate fürs Kino beispielsweise – und nicht mehr. Ihre Qualität ist relativ und gibt den Eindruck des Originals kaum hinreichend wieder.

Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich, 1513, (c) Kunsthalle Karlsruhe

Das Original: Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich, 1513, (c) Kunsthalle Karlsruhe

 

A propos Dürer. Das Werk des fränkischen Superstars der deutschen Renaissance durchzieht beinahe die gesamte Ausstellung. Nicht ohne Grund, denn er markiert die neuzeitliche Auffassung eines Originalitätsbegriffs, der merkantile Faktoren und die Genese des Künstlersubjekts als Schöpfer impliziert und zum Vorschein bringt. Im Mittelalter sah das ganz anders aus. Kopien firmierten zu dieser Zeit als Garanten für stimmige Ikonografien. Außerdem tradierten Musterbücher gelungene Werke und gewährleisteten auf diese Weise ästhetische Orientierung. Die Kopie war demgemäß nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie diente eben nicht der monetären Bereicherung. Sie fungierte als Medium der Überlieferung von Qualität und Ehrerbietung gleichermaßen.

Das ändert sich in Dürers Zeit. Er selbst, dessen vor allem druckgrafisches Werk in der Ausstellung mit wunderbaren Beispielen von Medientransfers Auskunft über je unterschiedliche Formen der ästhetischen Wertschätzung gibt, lobte das Kopieren als Mittel zur Erkenntnis von Güte. Andererseits verwehrte er sich dem Ideenklau. 1511 beschimpfte er Kopisten als Diebe und Betrüger. Der Nürnberger Rat ging 1512 gegen das unerlaubte Verwenden seines Monogramms vor. In der zweiten Abteilung hängen zwei Ölgemälde eines bekannten Motivs: “Ritter, Tod und Teufel”, ein Kupferstich aus dem Jahr 1513. Übertragen hat es einerseits ein anonymer Meister, andererseits ein Johann Geminger. Beide Bilder entstanden um 1600 und sind letztlich Interpretationen. Geminger vergrößerte die Darstellung ins Tafelbildformat. Und es bereitet schlicht Freude, die drei Bilder auch hinsichtlich der verschiedenen Wirkungen von Grafik und Malerei miteinander zu vergleichen.

Dürers Papierarbeiten als Schnitzwerk, Glasmalerei oder schlicht in der druckgrafischen Reproduktion mehrerer Stecher im direkten Vergleich beobachten zu können, mag nach übertriebener Pädagogik klingen. Jedoch ist die Argumentation der Ausstellung und die historische Aufarbeitung des Begriffswandels zwingend und den Werken direkt anzusehen. Endlich einmal eine Schau, die nicht nur plausibel und deutlich ihre Inhalte in den Ausstellungsräumen organisiert und mit knappen wie pointierten Saaltexten das Verstehen der je verschiedenen Konnotationen von Kopie in den Zeitläuften erlaubt, sondern überdies noch eine, die einen umfassenden Beitrag zur bislang nur partiell geschriebenen Kunstgeschichte des Kopierens offeriert.

Diesen entbergenden und Augen öffnenden Kosmos an Werken durchhaucht der Geist der Etymologie, denn das lateinische “copia” meint “Fülle”, “Mittel”, “Wohlstand”, “Vermögen”, “Fähigkeit”, “Möglichkeit”, “Gelegenheit” oder “Vorrat” und nicht etwa “Verbrechen” oder “Diebstahl”. Nachvollziehbar wird jene Auffassung im Werkstattbild. Pieter Breugel d. J. kopierte mehrfach das Gemälde “Anbetung der Könige im Schnee”, das aus der Hand seines Vaters stammte. Drei seiner Repliken sind in Karlsruhe zu sehen. Mal fehlt der Schnee, dann sieht man beispielsweise die unbeholfene Umsetzung des Eislochs im Kanal. Das alles sind Einladungen zum vergleichenden Sehen. Und es wird erkennbar, dass bestimmte Motive einfach Hits zu ihrer jeweiligen Zeit waren und gerade in den sehr spezifizierten bürgerlichen Märkten der Niederlande ganz unbedarfterweise kommerziellen Erfolg garantierten.

Von Rubens, der das Kopieren streng überwachte und auch Reproduktionsstiche nur an ausgewählte Grafiker übertrug, weiß man, dass eine eigenhändige Kopie ein Drittel bis maximal 50 Prozent des Originalbildes erbrachte. Und nicht jeder, der eine wollte, bekam eine. Erst der Adel, dann der Rest. Selbst im Falle einer abgekupferten Komposition.

In der großen Zeit der Akademien, ging es darum, dem Original so nahe zu kommen, dass man als Schüler die Meisterschaft eines kanonisierten Juwels quasi durch die eigenen Hände nachvollziehen lernte. Amüsante Petitessen bietet die Ausstellung ferner auf. Beispielsweise einen Teil des “Prehnschen Kabinetts” von 1780 bis 1824, ein Holzkasten mit 24 Miniaturen. Diese Minimuseen zeigen zumeist keine direkten Kopien von originalen Meisterwerken, sondern entstanden oft nach Druckgrafiken. Außerdem interpretierten die beteiligten Maler stilistische Eindrücke auf dieses puppenstubenhafte Medium hin. Der gesamte Umfang beträgt 32 Kästen mit 800 Miniaturen, die Themen und Motive aus verschiedenen Jahrhunderten und Geografien wiedergeben: Eine einzigartige Kunstliebhaberei bringt sich zum Ausdruck.

In Bildern nach Frans Hals sieht man die Entwicklung der schmackhaften Pinselführung Lovis Corinths. Hier und auch bei Max Beckmann mutiert die Kopie zum Beschleuniger und Medium der künstlerischen Innovation. Bis dann im späten 20. Jahrhundert die Kopie als künstlerisches Prinzip zu einer oft verwendeten Ausdrucksform wurde. In den Jahren der Appropriation Art, die konzeptuell die Kopie zur Schleifung der Bastion namens Genie einsetzte, entwickelten Künstler die Entgrenzung des Bildes bei Entwertung materieller Faktoren wie Leinwand, Farbe oder Form. Elaine Sturtevant, die beispielhaft für diesen Modus der Aneignung gelten kann, sagte einmal über ihre Arbeit: “Es ist eine Kunst, welche die Verführung der Oberfläche wiederholt und im Prozess der Wiederholung auflöst, um dem wirklich Wichtigen Platz zu machen, dem Denken.” Sturtevants Interpretation von Andy Warhols “Flowers” (1969/70) ist demgemäß in Karlsruhe präsent. Und es ist erstaunlich, dass Mr. All is Pretty die Wiederverwendung seiner Originalsiebe durch die 1930 geborene Künstlerin gestattete. Ob das heute noch denkbar wäre?

Aber auch diese Weise der Erweiterung des künstlerischen Potenzials der Kopie stellt nicht das Ende dar. Erstaunlich ist die Vielfalt, die heutzutage möglich ist. Klaus Mosettigs Bleistiftzeichnungen des Action-Paintings “Lavender Mist” von Jackson Pollock sind mehr als nur akribische Nachahmungen. Sie verlagern den Blick auf Prozessualität und Zeit. Dass auf YouTube oder Flickr künstlerische Laien etwa Cindy Sherman imitieren, rückt nach der Faszination an der Geschichte der Kopie wieder den Alltag von heute in den Blick.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es für viele Bürger schließlich schwer nachzuvollziehen, was erlaubt und was verboten ist. Die Gesellschaft steht vielleicht vor einem Paradigmenwechsel. Bei der Einschätzung dessen, was als Kopie verstanden werden soll, bereichert die Karlsruher Schau den Diskurs erheblich. Sicher ist nicht das massenhafte, illegale Brennen von CDs, Software oder Hollywood-Streifen gemeint, ein Verfahren, auf das bestverdienende Unterhaltungskünstler wie Mario Adorf, Sven Regener oder Charlotte Roche das Spektrum der Kopie verengen wollen. Interessanterweise kaprizieren sich die halbwegs intelligenten Aneignungen von Laien auf recht komplexe Arbeiten. Siehe Cindy Sherman und ihre “Untitled Film Stills”. Das schärft auch den Blick auf tatsächliche intellektuelle Güte und entlarvt so manchen, der sich als “Künstler” gegen das Kopieren verwehrt, lediglich als Schacherer. Diesen Kandidaten kann man nur die Ausstellung ans Herz legen, damit sich vielleicht ein kontrollierterer Sprachgebrauch in Sachen Kopie durchsetzt.

Begleitet wird das Projekt, das in Kooperation mit der Hochschule für Gestaltung entstand, von einem exzellenten Katalog, der neben einer eingängigen Einführung von Ariane Mensger (S. 30-45) auch mit den derzeit rechtlichen Fragestellungen (Thomas Dreier: Original und Kopie im rechtlichen Bildregime, S. 146-155)) auseinander setzt. Außerdem kann sich der Interessent umfangreich in der Ausstellung “Hirschfaktor – Die Kunst des Zitierens” im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM, bis 10.2.2013) über die vielfältigen künstlerischen Verwendungsweisen von Zitat und Kopie informieren. Übrigens gibt es aufgrund der Zusammenarbeit beider Häuser bis zum 5.8. jeweils einen ermäßigten Eintritt bei Erwerb eines Kombitickets.

Kunsthalle Karlsruhe: “Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube”, bis 5. August 2012, Eintritt 8 Euro, 6 Euro erm., 2 Euro Schüler, 16 Euro Familien, Di-Fr 10 – 17 Uhr, Sa, So, feiertags 10 – 18 Uhr, www.kunsthalle-karlsruhe.de, Hans-Thoma-Straße 2-6, 76133 Karlsruhe




Virtuoses Stammeln durch deutsche Zeitgeschichte: Dieter Hildebrandt ist 85

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Sie waren meine ersten Serienhelden: Dieter Hildebrandt (inzwischen 85-jähriger Altersjubilar), Klaus Havenstein, Jürgen Scheller, Hans-Jürgen Diedrich, Ursula Noack – die Münchner Lach- und Schießgesellschaft.

Brannten sie und ihr listiger Mann im Hintergrund, der unvergleichliche (auch als Sportreporter) Sammy Drechsel, ihr bissiges Feuerwerk in alle Richtungen des damaligen Polit-Establishments ab, ließ ich meinen Tränen des Lachens freien Lauf, verzieh Wiederholungen der Ausstrahlungen den öffentlich-rechtlichen Anstalten ohne Murren und wäre so gern einer von ihnen gewesen, wäre mein Talent nur ausreichend gewesen.
Meine uneingeschränkte Zuneigung verdankten die im „Laden“ – wie das Ensemble seinen Arbeitsplatz nannte – diesem Dieter Hildebrandt, der durch sein anscheinend plan- und hilfloses Gestammel die boshafte Verbindlichkeit ins kabarettistische Gemenge brachte, der durch Auslassen von Sätzen raus lassen konnte, was ihm stank und der frohgemut improvisieren konnte, ohne je nachlässig zu sein mit der akribischen Vorbereitung seiner Nummern. Er ist nun 85 Jahre alt, fragt sich erstaunt, ob er schon alt sei oder es noch werde und repräsentiert ikonesk stets moderne Urformen des deutschen Kabaretts. Sozusagen ist er nach wie vor das Maß aller Stimmen, die sich mit ihm, nach ihm und um ihn herum bewegten. Auch wenn Richling noch heute grummelt, weil er „Scheibenwischer“ nicht inhaltlich mit Comedians durchsuppen durfte und folglich dieses Programm aus dem öffentlich-rechtlichen TV-Bild verschwand.
Der gebürtige Schlesier und adoptierte Münchner Dieter Hildebrandt bohrte seinen fröhlich-bissigen Humor durch jedes sich nach dem Kriege anbietende Polit-Segment und tat seinen Repräsentanten jeglicher Couleur damit weh, was Politiker und Wirtschaftsführer am meisten peinigen kann – er sprach ihnen öffentlich ab, dass sie ernst genommen werden müssen. So rein als Menschen, die Spätfolgen ihres Jobs schon. Auch wenn ihm bisweilen ein Bannstrahl nach dem anderen um die Ohren flog, er überstand sie alle. Und stammelte sich weiter durch die real existierenden Gesellschaftsformen deutscher Provenienz, ganz im Stile eines Werner Finck, der ihm anscheinend Vorbild war, im Einlassen auf Auslassungen und Wortspielen, die so aus ihm fielen als ob sie ihm mal einfielen. Der legendäre Finck trat übrigens im Theater „Die kleine Freiheit“ in München auf, Erich Kästner schrieb an den Programmen und Dieter Hildebrandt war wesentlich dafür verantwortlich, dass das Publikum es bequem hatte – als Platzanweiser.
85 Jahre alt, wachen Hirns und kritischer Einstellung gegenüber allem, was ihm entgegentritt, sich ihm in den Weg stellt und sich der Gefahr seiner Pointen aussetzt – Dieter Hildebrandt möge so bleiben. Mein erster Serienheld – und nicht in Dr. Murkes gesammeltes Schweigen verfallen (Kurzgeschichte von Heinrich Böll, die vom Hessischen Rundfunk als Fernsehspiel verfilmt wurde mit Dieter Hildebrandt in der Hauptrolle).




Zwischen Landtagswahl und Fußballfesten: Das Propaganda-Dilemma

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Was würden die Menschen nur machen, wenn man ihnen die Rituale nehmen würde, wenn es keine Identifikationen gäbe mit dem Ort, wo man seine wertvolle Zeit verbringt und lebt? Was wäre die Welt ohne Massenbewegungen? Was wäre das Leben ohne Fußball und ohne Parlament? Wir brauchen Begeisterung und Bewunderung, Schimpf und Schande, Leid und Freude, besonders, wenn man ein Leben führt, das in einem Umfeld stattfindet, das nicht zu den paradiesischen gehört – im Ruhrgebiet. Derzeit befinden sich zum Beispiel in Dortmund die Plakate, Banner und sonstige weit sichtbare Werbung in einem engen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit: Meisterfeier und Wahl zum nordrhein-westfälischen Parlament.

An der Wand des Hauses, in dem ich wohne, hängt ein Banner zum Ruhm des ehrenwerten Ballsportvereins Borussia Dortmund, dargebracht durch ansässige Firmen, die ihre Wärme zum hiesigen Verein demonstrieren wollen. Warum nicht? Auch der Liverpooler, der Manchester, der Römer, der Madrilene, sie alle identifizieren sich mit ihrem Heimatverein. Da sieht man Fußballbrötchen und Meisterwürste, kleine, gelbe Herzen und T-Shirts, die die Liebe aus dem Bauch bedecken.  Und dazwischen stehen und hängen die Wahlplakate und – je nach Zuneigung – frohlockt der Genosse und sein Wähler.

Die Parteien sind vom Wähler abhängig, sowie der Wähler letztendlich von den Parteien abhängig ist. Und wer abhängig ist, flucht gern und entzieht sich dem Gedanken, sich der Abhängigkeit zu entledigen. Immerhin kann man sich mehr oder weniger aussuchen, von wem man denn abhängig sein will. Das gilt auch für den Fußballer und seine Fans, die ja im Falle einer Meisterschaft kurzfristig zu einer großen Masse anschwellen. Da will jeder mal den Lewandowski oder den Hummels anhimmeln. „Unsere Jungs“, heißt es dann. Es gibt ganze Städte, ja, Regionen, die vom Fußball abhängig sind. Er ist das Aushängeschild und das Tor zur Welt. Das gilt mindestens für Dortmund und erst recht für Gelsenkirchen (dort gibt es den Verein Schalke 04). Wir lassen uns auf die Abhängigkeit ein, oft mangels Alternativen.

Wenn man jedoch ein griesgrämiger Zeitgenosse ist, dann wird der Fall schwierig, denn für ihn oder sie ist das Propaganda. Er fühlt sich überdeckt von all den gleichen Meinungen und Feierstimmungen, seien es die des ungeliebten Fußballvereins, oder die der ungeliebten Partei. Das geht zu weit. Man solle ihn in Frieden lassen mit diesen Massenverehrungen, erste recht wenn er, wie in einem angenommenen Fall, einer anderen Partei zuneigt als der, die gerade feiert, oder wenn die Mannschaft, zu der er neigt, eine andere ist, zum Beispiel die aus Gelsenkirchen. Aber bei einem Bierchen und mehr kann er darüber nachsinnen, wenn es denn mal anders kommt, wenn seine Partei und erst recht seine Mannschaft die Liebesbekundungen ganzer Regionen zu spüren bekommt. Dann ist er Teil des Ganzen und freut sich gnaden- und rücksichtslos nur über seine Freude. Da schlägt die monogame Identifikation durch, wie jetzt für alle anderen in dieser Stadt, wo an jenem Haus, in dem er wohnt, ein Banner mit Liebeserklärungen das Leben verklärt.




Wie geht es weiter mit „Occupy“?

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Vielleicht wird das Jahr 2011 in die Geschichte eingehen als Beginn einer neuen politischen Zeitrechnung. Denn nicht nur in den von Armut und Willkür beherrschten arabischen Diktaturen, auch in den Zentren des westlichen Turbokapitalismus, in denen Banken und Börsen schrankenlos walten können, haben Massenproteste die Straßen und Plätze erobert.

Nach revolutionären Umwälzungen in Tunis, Tripolis und Kairo, nach jugendlichen Aufständen und Zusammenrottungen in Madrid und London, hat sich eine globale Welle der Empörung breitgemacht. Seit die „Occupy“-Wall-Street-Bewegung den Zuccotti Park im New Yorker Finanzzentrum besetzt hat, zelten überall in der Welt Aktivisten gegen den Kapitalismus. Unter dem Motto „We are the 99 percent“ kämpfen sie für soziale Gerechtigkeit und die strikte Trennung von Wirtschaft und Politik, entwerfen sie Modelle für eine lebenswerte und menschliche Gesellschaft. Wie „Occupy“ entstand und welche Perspektiven diese neue antiautoritäre Bewegung haben könnte, davon berichtet jetzt eine mit flinken Fingern erstellte Dokumentation.

Neben atmosphärisch dichten und emotional aufgeladenen Reportagen sowie Tagebuchnotizen über den heißen Herbst in New York, versammelt der Band auch intellektuell anregende Essays über die ökonomischen Hintergründe und politischen Aussichten des Aufstands. Marco Roth, Mitbegründer des „Occupy“-Magazins „n+1“, schreibt bittere „Abschiedsbriefe an den amerikanischen Traum“; Anwältin und Schriftstellerin Marina Sitrin reflektiert über die Kraft der „neuen horizontalen Bewegungen“; Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz legt Zahlen über die immer größere Kluft zwischen arm und reich in Zeiten der globalen Finanzkrise vor; und Philosoph Slavoj Zizek meint, es gehe jetzt, nach dem lauten Nein, um die Formulierung von Zielen: „Welche Gesellschaftsordnung kann den bestehenden Kapitalismus ablösen? (…) Welche Organe, einschließlich derer zur Kontrolle und Repression, brauchen wir?“

Anstelle eines Nachworts formulieren die Herausgeber ein paar Vorschläge: „Verstaatlicht die Banken“ und „Verbot aller Parteispenden von Unternehmen“ liest man da, aber auch: „Kostenlose Fahrräder für alle“, und: „Nie wieder Arbeitsessen!“ Klingt, als hätten die „Occupy“-Unterstützer ziemlich viel Spaß.

Wer es ernsthafter mag, dem sei das Fazit von Ökonom Stiglitz empfohlen: „Die oberen Zehntausend besitzen die schönsten Häuser, Zugang zu den besten Bildungseinrichtungen und den Top-Kliniken, sie führen das bestmögliche Leben, doch es gibt etwas, das sie mit Geld offenbar nicht kaufen konnten: die Einsicht, dass ihr Schicksal untrennbar an das der übrigen 99 Prozent geknüpft ist. In der gesamten Geschichte der Menschheit habe die Führungsschichten diese Tatsache am Ende immer eingesehen. Allerdings zu spät.“

„Occupy! Die ersten Wochen in New York“. Eine Dokumentation. Hg. von C. Blumenkranz u.a. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2012, 94 Seiten, 5,99 Euro.




Ein knappe Skizze zur NRW-„Wahlarena“

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Das politische Spiel (WDR-Fernsehen, 20.15 bis 21.45 Uhr) in der „Wahlarena“, übertragen aus Mönchengladbach, hat 90 Minuten gedauert. Und was ist da rund gewesen?

Das Publikum ist von infratest/dimap nach repräsentativen Gesichtspunkten ausgewählt worden. Immer wieder werden Befragungsergebnisse eingeblendet. Volkes Stimme. Pflichtschuldigst zelebriert und rasch abgehakt.

Einstiegsfrage nach dem Umgang mit den Benzinpreisen.

„Wir müssen weg vom Öl“, sagt Sylvia Löhrmann (Grüne). Ein schöner Satz. Sagt sich schnell.

Arena = Gladiatoren? Ach was! Es bleibt so zahm.

Mal wieder ein grausliches Studiodesign. Und eine wahrhaft fahrige Kameraführung. Bloß nirgendwo verweilen.

Norbert Röttgen (CDU): „Unsere Antwort heißt Elektro-Mobilität.“ Folgt eine kleine Fensterrede gegen die Ölkonzerne. Den kleinen Pendler dürfe man nicht – na? na? – „im Regen stehen lassen“.

Hannelore Kraft (SPD): „Ölkonzerne in den Griff bekommen.“ Auch das sagt sich flott. Wie denn überhaupt in dieser Sechserrunde (Arena) noch ungleich holzschnittartiger argumentiert wird als bei einem Duell. Doch früher hat es noch mehr gestanzte Sätze und betonierte Meinungen gegeben.

Joachim Paul (Piraten): Zur Pendlerpauschale wird eine Position „noch entwickelt…“ – „Wir Piraten kopieren gerne“ (z. B. Ideen aus anderen Ländern). Ein wohlfeiler Lacher.

Mehr oder weniger sprechen sich alle für die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs aus, die Piraten wollen auf Fahrscheine verzichten. Und wer bezahlt’s?

Freie Farbenwahl (Foto: Bernd Berke)

Freie Farbenwahl (Foto: Bernd Berke)

Thema Haushalt/Schulden

Christian Lindner (FDP): „Der Staat soll bescheiden sein.“ Die Wirtschaft muss schneller wachsen als der Staat. Ach, es gibt sie noch, die alte Tante FDP.

Kraft: Nicht zu Lasten der Kommunen sparen. Nicht zu Lasten der Kinder sparen. Und bloß nicht sagen, auf wessen Kosten man sparen will (gilt für alle).

Hier reden, so könnte man meinen, wandelnde Wahlplakate. Talking Heads.

Röttgen (CDU): Sparen mit uns ginge weitgehend schmerzlos. 2 Prozent der Subventionen einsparen, das täte nicht weh. Rotgrün geht euphorisch mit Steuereinnahmen um = verprasst das Geld. Vier Ausnahmen beim sparen: Familie, Schule, Kultur… (juchhu! Es hat einer Kultur erwähnt). Da vergisst man glatt die vierte Option. Röttgens traditionelle Suggestion: Sozis können mit Geld nicht umgehen.

Schwabedissen (Linke): Privaten Reichtum abschöpfen. Keine Kürzungsorgien im Haushalt.

Paul (Piraten): Bedingungsloses Grundeinkommen prüfen (auch fahrscheinfreies Fahren sollte just „mal ausprobiert“ werden). „Es gibt Überlegungen in Richtung Vermögenssteuer“… Aha. Und wohin führen die wohl eines fernen Tages?

Lindner: Rotgrüne Verschuldungspolitik wird zur Staatsphilosophie erklärt. „Legende der guten Schulden“ beenden…

Thema Arbeit/Löhne

Lindner (FDP): Bloß keinen Überbietungswettbewerb in Sachen Mindestlohn, etwa zwischen Gabriel und Gysi. Das führt nur zur höheren Arbeitslosigkeit.

Löhrmann (Grüne): Unterste Linie 8,50 Euro pro Stunde.

Kraft (SPD): „Auch da gilt es, klare Kante zu zeigen.“ (SPD-Wahlplakat „Klare Kante Kraft“)

Röttgen (CDU): Tarifparteien haben Vorrang.

Schwabedissen (Linke): 10 Euro Mindestlohn. Gewonnen! Ihr Lieblingswort: „absurd“.

Paul (Piraten): Für bedingungsloses Grundeinkommen. Kostet den Staat keinen Euro mehr = Nullsummenspiel. Es sollte wenigstens „mal untersucht“ werden. Dann übt mal schön.

Kraft (SPD): Arbeit ist wichtig für die Würde des Menschen. Wer könnte da widersprechen?

Der unvermeidliche Moderator Jörg Schönenborn würgt die laufende Debatte nach Minutenschema ab.

Thema Bildung/Kinder

Löhrmann (Grüne): Für Ausbau der Kitas und Verbesserung der Kitas. Das unsägliche „Betreuungsgeld“ einsparen und in Kitas stecken. Gegen aufgezwungene Kita-Pflicht. Doch wenn die Kitas gut sind, wären die Eltern schlecht beraten, wollten sie ihre Kinder nicht hinschicken. Statements wie aus dem Wahlomaten.

Lindner (FDP): Gegen Betreuungsgeld (hat aber im Bundestag dafür gestimmt).

Schwabedissen (Linke, zweifache Mutter): Für 150 Euro „Herdprämie“ lässt sich kein Kind erziehen. Kita sollte generell gebührenfrei sein. Auch für Millionäre?

Röttgen: 60-70% der Eltern lassen ihre Kinder in den ersten zwei Jahren ohnehin zu Hause. Die sollten gefördert werden – bei völliger Wahlfreiheit zwischen den Lebensmodellen. Ansonsten ist alles „in der Diskussion“ (hört sich in der faserigen Offenheit fast nach Piraten an).

Kraft (SPD): Wer Betreuungsgeld zahlt, glaubt wohl, er müsse keine weiteren Kita-Plätze schaffen…

Lindner (FDP): Erhalten Leute, die nicht in die Oper gehen, dann auch einen Scheck? (Juchhu, noch einer hat Kultur erwähnt – wie grinsbereit auch immer)

Paul (Piraten): Wir müssen erst mal kompetente Menschen befragen… Wir haben nicht auf alles eine Antwort, stellen aber die richtigen Fragen.

Lindner: Rotgrün trocknet Gymnasien in punkto Ganztagsbetreuung und Klassengrößen aus.

Löhrmann, Kraft & Röttgen (!) widersprechen gemeinsam. Oh, einsame FDP.

Schwabedissen (Linke): „Eine Schule für alle“ statt dieser chaotischen Schullandschaft.

Paul (Piraten): „Wir sind keine Linke mit Internet-Anschluss.“ Ein bis zwei Dutzend Schulen sollen neue Modelle erproben… Verwaltungskräfte einstellen, um Lehrer zu entlasten. Alle Lerninhalte digital vorhalten.

Schlussrunde/Koalitionsaussagen

Lindner (FDP): Wahrscheinlich ist eine große Koalition. Wir sind dann Opposition. Prinzip Hoffnung.

Kraft (SPD): Es wird wohl für Rotgrün reichen. Kann trotz vieler Nachfragen die Piraten nicht so recht einschätzen.

Paul (Piraten): Wir würden gern auf der Oppositionsbank lernen. Darüber hinaus jetzt keine Aussage.

Röttgen (CDU): Dies ist kein Lagerwahlkampf. Auch überraschende Koalitionen sind denkbar. Die Demokratie wird bunter.

Löhrmann (Grüne): Rotgrün bevorzugt.

Schwabedissen: Wer will, dass die SPD sozialdemokratisch ist und die Grünen ökologisch sind, muss die Linke wählen. Gut auswendig gelernt.

Und das Fazit? Diffus. Um das Mindeste zu sagen. Röttgen und Lindner rhetorisch gar nicht mal übel, aber mit ihren Positionen z. T. auf verlorenem Posten. Auch die Vertreterin der Linken gewandter als so manche ihrer NRW-Kollegen. Piraten bitte ein paar Jahre lang hinten anstellen und erst mal Positionen klären. Themen, bei denen die Grünen gern volkserzieherisch werden (Ökologie, Rauchverbot etc.), kamen kaum zur Sprache. Ich persönlich weiß immer noch nicht recht, was und wen ich am 13. Mai wählen soll. Zwischenzeitlich hatte ich schon erwogen, dem Wahllokal erstmals gänzlich fernzubleiben. Aber das darf ja wohl nicht wahr sein.




Gestern, heute, morgen am liebsten keine Grass-Debatte

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Schon von Anfang an haben mich ein Unbehagen und eine ausgeprägte Unlust beschlichen, mich in die allfällige Grass-Debatte zu mengen. Schnellfertige Schuldzuweisungen, harsche Positionierungen und Denkverbots-Umständlichkeiten waren zu erwarten. Tatsächlich hat sich das mediale Gestrüpp inzwischen derart verheddert, wie man es aus manchen früheren Grass-Debatten kennt. Grass selbst möchte jetzt nicht mehr so recht zu seinem „Gedicht“ (literarisch drittklassig, weil platte Meinungsprosa, vom Inhalt mal abgesehen) stehen und sagt, er hätte es anders formulieren sollen. Mit anderen Worten: Die sprachlichen Mittel stehen ihm offenbar nicht mehr zu Gebote, er schreibt tatsächlich mit „letzter Tinte“.

Doch nun kein Wort mehr davon. Möge das Gerede über den eitlen Großdichter bald wieder abschwellen. Es gibt so vieles, was nicht gesagt werden mus…




F. C. Delius zieht Bilanz – diesseits und jenseits der Ideologie

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Wenn ein Büchnerpreisträger seinen neuen Band „Als die Bücher noch geholfen haben“ nennt, so klingt das nach Resignation – und man möchte inständig hoffen, dass er es nicht so meint.

Tatsächlich scheint es, als hätte sich Delius hier noch einmal seines langen literarischen Weges vergewissern wollen. Zeitlich hebt es an mit dem eher unscheinbaren, doch recht glückhaften Auftritt des schüchternen jungen Schriftstellers beim Treffen der damals noch maßgeblichen „Gruppe 47“ im schwedischen Sigtuna.

Das ebenfalls ausgiebig geschilderte Nachfolgetreffen in Princeton/USA nutzte dann der junge Peter Handke ganz gezielt für seine furiose Generalattacke auf die „Beschreibungsimpotenz“ der deutschen Gegenwartsliteratur, also seiner lästigen Konkurrenz. Auch so hochfahrend konnte man sich damals also den Eintritt in die Kreise der Hochliteratur verschaffen. Im grob gewobenen Vergleich steht der bescheidene Delius jedenfalls nicht schlecht da. Auch so eine Marktstrategie.

Nicht nur im Vorfeld der APO-Jahre galt, dass Literatur, wenn sie den Namen verdient, vor platten Ideologien bewahrt – ein Credo, das Delius auch durch die teils dogmatisch erstarrende Nach-68er-Zeit beibehalten hat, als manche gar den „Tod der Literatur“ ausrufen oder die Literatur wenigstens in linke Dienste nehmen wollten. Auch in diesem Punkt möchte Delius sanft darauf hingewiesen haben, dass er damals nicht auf der falschen Seite gestanden hat. Was er sich freilich bis heute vorwirft, ist, dass er nicht vehementer gegen dröhnende Ideologen Einspruch erhoben hat. Wohl auch eine Frage des Temperaments.

Breit ausgemalt wird noch einmal der Konflikt mit dem eigentlich sehr literatursinnigen Verleger Klaus Wagenbach, der in den frühen 70er Jahren unter Einfluss von Baader-Meinhof-Apologeten geraten sei und daher sein Politprogramm für krude Stadtguerilla-Thesen geöffnet habe. Hier sitzt wohl noch ein Stachel: Derart ausführlich schlägt Delius noch einmal die Schlacht von vorvorgestern, dass es sich wie eine noch ausstehende, finale Abrechnung mit dem Wagenbach jener Jahre liest. Ganz so, als wollte Delius nun endlich seinen geistigen Nachlass ordnen und dabei seine damalige Rolle ein für allemal festhalten.

Doch beileibe nicht nur Wagenbach ist damals in den Strudel der Ideologie geraten. Zitat Delius: „Ein unerforschtes Gebiet: Wie sich die Sprache der Studentenbewegung zwischen 1967 und 1970 ins Offensive, vom Fragen zum Behaupten gewendet, vom Konkreten und Sinnlichen abgewendet, radikalisiert und es sich im Abstrakt-Allgemeinen bequem gemacht hat.“ Jeder, der damals in bissige Polit-Debatten verstrickt war, wird diesen Ansatz seufzend bestätigen. Es waren giftige Jahre, in denen am Streit um die „richtige“ Linie nicht selten Freundschaften oder Beziehungen zerbrachen.

Für einen Schriftsteller, der sich als Teil der Linken begriff, die literarischen Kriterien aber keineswegs preisgeben mochte, müssen jene Zeiten eine stete Gratwanderung, ein schwieriges Lavieren gewesen sein. Zumal Delius sehr frühzeitig – bereits ab 1963 – mit Autorenkollegen in der DDR (Günter Kunert, Wolf Biermann, später Heiner Müller, Thomas Brasch usw.) Freundschaft geschlossen hat, deren Texte er unter schwierigen Bedingungen im Westen zugänglich machte, wenn es nur irgend möglich war. So einer konnte den Moskauer Doktrinen nicht mehr auf den Leim gehen.

Übrigens hat Delius als Lektor beim Rotbuch-Verlag auch die spätere Nobelpreisträgerin Herta Müller erstmals hierzulande herausgebracht. Das ist denn doch ein bemerkenswerter Befund: Gerade linke Literaten und Lektoren haben damals offenkundig ungleich mehr für Autoren aus dem Osten (und somit indirekt für den Fall der Mauer) bewirkt, als die notorischen „Kommunistenfresser“.

Es ist überhaupt eine „Lehre“ dieses Buches: Wer sich den Sinn für literarische Qualität bewahrt und als Kompass nutzt, der widersteht so mancher falschen Lockung. Delius benennt auch einige andere, die auf solche Weise unbeirrbar Kurs hielten; unter den Generationsgenossen vor allem Nicolas Born und Peter Schneider, dazu verehrte Vorbilder von großer geistiger Unabhängigkeit wie etwa Susan Sontag oder Walter Höllerer.

Die Lektüre dieser Delius-Rückblicke setzt ein ausgeprägtes Interesse für Zeit-, Literatur- und Verlagsgeschichte mit ihren Kollektiv-Experimenten speziell der 1970er Jahre voraus. Der Autor breitet auch noch einmal seine langwierigen juristischen Auseinandersetzungen mit dem Siemens-Konzern (nach der fiktiven Festschrift „Unsere Siemens-Welt“, um die es einen erbitterten Satirestreit gab) und mit dem damaligen Kaufhauskönig Helmut Horten aus.

Zuweilen weiß man nicht so recht, was Delius bei seinen „biografischen Skizzen“ (Untertitel) angetrieben hat. Mal lesen sich die Kapitel wie bloße Reminiszenzen für die archivarische Schublade, anderes klingt nach Rechtfertigung und Apologie, wieder anderes nach Materialiensammlung für ein Lesebuch zum Zeitgeist und zum Werkhintergrund des Autors. An manchen Punkten wäre eine präzise Nennung der Zitatstellen dokumentarisch hilfreich gewesen.

Offen klafft schließlich die Frage, ob die Bücher heute weniger oder gar nicht mehr helfen. Der letzte Text des Bandes ist Delius’ Dankrede zum Büchnerpreis, in der denn doch den Worten wieder alles Gewicht gegeben wird: „…am Ende entscheiden in der Literatur (…) allein die Sätze, der Satz. Die Energie und die Unruhe, die sich zwischen zwei Punkten entfalten.“ Es möge so bleiben immerdar.

Friedrich Christian Delius: „Als die Bücher noch geholfen haben“. Biografische Skizzen. Rowohlt Berlin. 304 Seiten. 18,95 Euro.




Das Revier möchte auch mal wieder Kohle sehen

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Bislang waren die Touristik-Werber der Region Ruhr stets gehalten, das Revier als normalisierte oder gar potente Gegend mit einmaligen Monumenten und weitgehend gelösten Strukturproblemen zu verkaufen.

Eindruck aus Dortmund-Dorstfeld (Foto: Bernd Berke)

Eindruck aus Dortmund-Dorstfeld (Foto: Bernd Berke)

Es sollten einem schier die Augen übergehen: Kulturelle und sonstige „Leuchttürme“, wohin man auch blickte, seit dem Kulturhauptstadtjahr 2010 war gar eine Nachhaltigkeit sondergleichen wirksam, hieß es vollmundig. Mit Pauken und Trompeten wurde eine wachsende „Kreativwirtschaft“ ausgerufen. Selbst die bislang zum Himmel stinkende Kloake namens Emscher wird renaturiert und fließt auf manchen Strecken schon als lieblicher Bachlauf, in Dortmund lockt ein neuer See die Immobilienbranche. Blühende Landschaften also, so wie es Kanzler Kohl einst dem deutschen Osten versprochen hatte?

Doch halt! Schwenk um 180 Grad. Sieht’s in jenem Osten nicht längst ungleich edler, schmucker, aufgeräumter und ziviler aus? Damit verglichen, so klagen Stadtväter im tiefen Westen immer mal wieder, sei das Ruhrgebiet eine Landschaft auf Abbruch. Hier würden Schwimmbäder geschlossen, im Osten hingegen neue errichtet – vom seit 20 Jahren munter ostwärts fließenden Solidaritätsbeitrag, für den unter Finanznot ächzende Revier-Kommunen horrende Kredite aufnehmen müssen. Mit ähnlichem Drall geht es beileibe nicht nur um Schwimmbäder, sondern auch um Jugendzentren, Kinderbetreuung, kulturelle und städtebauliche Pretiosen sowie halbwegs ordentlichen Straßenbau. Dortmunds OB Ullrich Sierau (SPD), der sich gern weit aus dem Fenster reckt, nennt den „Solidarpakt Ost“ denn auch ein „perverses System“.

Mit großem Aufschlag hatte sich gestern die „Süddeutsche Zeitung“ das Thema zu eigen gemacht und im alarmierenden Ton das „Verbrechen am Tatort Ruhrgebiet“ kommentiert. Wenn nicht jetzt sofort (statt 2019) der einseitig zugunsten des Ostens aufgehäufte Soli abgeschafft werde, so könne das Ruhrgebiet bald kollabieren. Natürlich sind die Medien des Reviers darauf eingestiegen. Tenor, wie zu erwarten: Jetzt sollen die anderen mal für uns zahlen! Kohle her! Da ist einiges dran, und es wäre gut, wenn darüber mal richtig hartnäckig geredet würde. Doch man mag nicht so recht daran glauben und ließe sich so gern eines Besseren belehren.

Selbstverständlich hat das plötzliche Aufkommen der Debatte vornehmlich mit dem NRW-Landtagswahlkampf zu tun. Der Verfall der Ruhrgebiets-Kommunen kann – nach dem Verständnis der SPD-Stadtväter – weit überwiegend dem schwarzgelb-regierten Bund angelastet werden. Hannelore Krafts CDU-Gegenkandidat Norbert Röttgen wäre somit ein Teil der Misere, wie jetzt punktgenau lanciert wird. Der Mann, der sich nicht offen für Düsseldorf entscheiden mag, ist angeblich ohnehin chancenlos. Mit dem „Soli“ will man ihn vollends erwischen. Oberschlau eingefädelt?

Und womit locken wir jetzt die Touristen? Mit dem blanken Elend? Nein, nein, es wird ja mal wieder alles himmelblau und rosig.




Sarrazin hat es wieder getan

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Was wird das wieder für eine mediale Aufregung geben! Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) hat ein neues Buch fertig, das in einigen Wochen erscheinen wird.

Dem welthistorischen Anspruch entsprechend, wird Sarrazin sein Buch demnächst im Luxushotel einer deutschen Metropole der Presse vorstellen. Mehr über diesen Termin zu verraten, wäre allerdings grob fahrlässig.

Dem bloßen Buchtitel nach zu urteilen, schafft der Mann diesmal Europa ab – oder wenigstens den Euro. Jedenfalls auf dem Papier. Da darf man wohl manche Schwänke über verschwenderische Südländer, insonderheit Griechen, erwarten. Und weiter, weiter: Wenn der Euro erst einmal weg wäre, könnte ihn der Türke nie niemals nicht bekommen. Alsdann hätten wir wieder unsere starke Mark ganz allein für uns. Hach!

Von solcher Autonomie Deutschlands haben schon andere geträumt.

Aber lassen wir das. Vorerst ist’s ja nur eine spontane Spekulation zu Sarrazins Schreibe. Doch sie wird schon nicht völlig fehlgehen. Darauf so ziemlich jede Wette.




„Politische Verbrecher, Sozialdemokraten und Anarchisten“

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Im kommenden Jahr will die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ihr 150-jähriges Bestehen groß feiern. Sie ging aus dem am 23. Mai 1863 gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) hervor und war zunächst großen Anfeindungen ausgesetzt – auch im „Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet“, wie man damals das Ruhrgebiet noch nannte.

Die Erfolge der SPD bei der Wahl 1903 ängstigten die Bürgerlichen

Damals, zu Kaisers und zu Bismarcks Zeiten, rückte der Staat die Sozialdemokraten noch in die Nähe der „politischen Verbrecher“. Allerdings standen bis 1918 alle politischen Parteien unter Beobachtung der Sicherheitspolizei. Im Stadtarchiv Ennepetal zum Beispiel lagern noch heute die Akten, in denen die entsprechenden Anweisungen gesammelt sind: „Sozialdemokratie und unerwünschte Personen“ hieß das Kapitel im damaligen Amt Milspe, aber auch die Akten mit den Sammelbezeichnungen „Überwachung von Personen“ und „Tumultschäden“ gehören zu diesem Komplex. Im benachbarten Amt Voerde bezeichnete man den gleichen Vorgang mit dem Aktentitel „Politische Verbrecher, Sozialdemokraten und Anarchisten“.

Die Sicherheitspolizei in den Gemeinden musste jeweils über die Bezirksregierung genaue Berichte an das preußische Innenministerium liefern. Diese Berichte sind allerdings, da man noch keine Kopierer kannte, fast nie in den Akten enthalten. Lediglich über eine Wahlversammlung in einer Voerder Gaststätte aus dem Jahre 1903 ist ein Bericht überliefert. 400 Personen drängten sich in dem kleinen Saal, doch alles sei „in ruhigem Maße“ verlaufen. Das war neun Tage vor der Reichstagswahl 1903, bei der die SPD – zum Schrecken der Bürgerlichen – 82 Mandate erringen konnte. Das hatte die Ennepesträßer Polizei aber wohl so nicht erwartet, denn sie hatte noch kurz vorher an die Regierung berichtet: „Von einem Fortschritt oder Rückschritt der sozialdemokratischen oder anarchistischen Bewegung ist nichts zu berichten. Von den Sozialdemokraten hört man hier kaum noch etwas, da die allgemeine Geschäftslage auch den bisher unzufriedenen Arbeitern den Mund schließt, da sie sonst ihre Stellung verlieren.“

Reichskanzler Bismarck

Eine eigene sozialdemokratische Presse sei an der Ennepe nicht vorhanden: „Der Vertrieb sozialdemokratischer Schriften beschränkt sich auf das Halten der sozial-demokratischen Zeitschriften ‚Volkstribüne’ und ,Wahrer Jacob’.“

Die Beobachtung, aber auch das Bemühen der Parteien um Wählerstimmen richtete sich jedoch ausschließlich auf Männer. Frauen durften in Deutschland erst nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wählen – erstmals bei der Reichstagswahl am 19. März 1919.




Expressionen in Sachen Wulff: Er lässt den Zapfen streichen zur besten Gottschalk-Zeit

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Was so durch die Republik wulfft, kann wirklich nicht unwesentlich genug sein, es weckt mediales Interesse – ich könnte auch die kühne Behauptung aufstellen: Die Kolleginnen und Kollegen bringen Nachrichten, die überhaupt nicht blöd genug sein können, Hauptsache diese haben etwas mit dem meistveröffentlichten, aber auch bedeutungslosesten Bundespräsidenten aller Zeiten zu tun – mit Christian Wulff.

Nun stellt eine Gazette in Köln fest, dass der Zapfenstreich für den unwürdigen Herrn aus Niedersachsen aller Voraussicht nach die Sehgewohnheiten vieler TV-Anhänger des immer jungen Thomas Gottschalk auf das Empfindlichste stören wird, weil er dessen relativ schnellflüssige, ja sozusagen überflüssige Talkerei doch glatt aus dem Programm drängen werde. Unglaublich das, da stört doch eine völlig unnötige Übertragung eine andere Sendung, deren Sehens-Wert so groß ist wie der oft herangezogene Sack Reis, der in China gegen die Mauer purzelt.

Die Tatsache, dass diese nachhallende Meldung der rheinischen Expresse einen aufmachernahen Beitrag wert erscheint, kann uns manches lehren. Entweder haben die nix anderes, haben die nix mehr. Oder sie werten das als werten Lesestoff, dann haben die Redakteure sie nicht mehr alle oder die rheinischen Leserinnen und Leser haben einen ausgemachten Knall. Noch eine Lehre: Heutzutage richten sich die Nachrichten mancher Blätter eben an Menschen, die so schlau sind, dass sie in der völligen Bedeutungslosigkeit des Leseangebotes noch Rudimente von Sinn erkennen. Das wären denn also besonders kluge Lesende.

Es wächst bei mir allerdings der Verdacht, dass sowohl die Nachrichtenverbreiter als auch die von ihnen angesprochenen Nachrichten-Wahrnehmer ähnlich durchschnittlich sind wie der Mann, dessen Zahnputzglas interessanter ist als er selbst und der einmal unser Präsident war. Ich gerate schon in Panik bei der Erwartung dessen, was sie uns alsbald vom neuen Mann im Schloss vorgauckeln werden.




Straßennamen erinnern an den Widerstand

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Im schönen Münster tobt seit Monaten eine Debatte über politisch korrekte Straßennamen. In diesem Zusammenhang will ich hier einmal an einige „gute Beispiele“ aus der Stadt Ennepetal erinnern.

Die NS feiert den "Heldengedenktag" auf dem Hindenburgplatz in Münster

Da ist zum einen der „Hindenburgplatz“, den es auch in Münster in besonderer Größe gibt. In Ennepetal wurde nach Hitlers Steigbügelhalter ein Sportlatz an der Städtischen Realschule genannt – inoffiziell. Als der Platz in den 80-er Jahren mit Wohnhäusern überbaut werden sollte, kam aus dem Rathaus der Vorschlag, das Straßensystem in der neuen Siedlung nun auch offiziell Hindenburgplatz zu nennen. Aus der Redaktion der Westfälischen Rundschau heraus haben wir Kollegen damals heftig dagegen polemisiert, und in der Folge gab der Rat der Stadt die Idee auf und benannte die Siedlung nach einem lokalen Schriftsteller um in  „Wilhelm-Crone-Hain“.

Zum anderen wurden in Ennepetal bewusst mehrere große Straßen nach verfolgten Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime benannt, die zum Teil bereits 1933 in „Schutzhaft“ kamen und von der Gestapo in der berüchtigten Dortmunder Steinwache inhaftiert wurden. Das waren Sozialdemokraten wie Gustav Bohm, Otto Hühn und Julius Bangert, aber auch der Zentrums-Politiker Ewald Oberhaus, der Kommunist Karl Polixa und vor allem zu nennen der Metall-Gewerkschafter Peter Alfs. Nach der Freilassung aus der Schutzhaft machte Alfs einen kleinen Tabakladen auf, der zu einem Treffpunkt der NS-Gegner und entsprechend beobachtet wurde. 1938 wurde er erneut von der Gestapo verhaftet und wieder nach Dortmund gebracht. Später kam Alfs zusammen mit den Widerstandskämpfern Karl Polixa aus Gevelsberg, Wilhelm Kraft aus Haßlinghausen und Otto Hühn, dem späteren Landrat des Ennepe-Ruhr-Kreises, in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Im Frühjahr 1945 organisierte die SS den so genannten „Todesmarsch“ aus dem KZ Sachsenhausen Richtung Norden. Im Wald bei Below wurden hunderte von Kranken erschossen, darunter auch Peter Alfs aus Milspe (heute Ennepetal) und Wilhelm Kraft, der ehemalige Bürgermeister von Haßlinghausen (heute Sprockhövel).

Auch Wilhelm Kraft wurde von SS-Leuten erschossen.

Das Urteil gegen Peter Alfs, nach dem er ins KZ kam, wurde erst 1955 aufgehoben, ein Jahr später wurde er offiziell für tot erklärt. 1978 ehrte ihn der Rat der Stadt Ennepetal durch die Benennung einer Straße mit seinem Namen. Nach Wilhelm Kraft wurde wenig später die neue Gesamtschule des Ennepe-Ruhr-Kreises in Sprockhövel benannt, und die Schulgemeinschaft bemüht sich sehr, das Gedenken an Krafts Wirken und den Widerstand gegen die Nationalsozialisten allgemein lebendig zu erhalten.