Zum 40. Todestag des Idols – Vom Erwachen eines Elvis-Fans im Ruhrgebiet

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über den Tod eines Idols vor 40 Jahren:

An jenem denkwürdigen Abend hatte ich lange vor dem Fernseher gesessen, bis zu den Spätnachrichten, die damals ausschließlich aus stummen Schrifttafeln bestanden. Auf einer davon war zu lesen: Elvis Presley, der King of Rock ‘n‘ Roll, ist tot. Anschließend einige dürre Lebensdaten. Ich war wie vom Schlag gerührt. Immerhin war Elvis in meiner Kindheit und Jugend mein absolutes Idol gewesen (mit dem Tophit: Jailhouse Rock).

Nach der ersten Überraschung schob sich jedoch ein gänzlich anderer Gedanke in mein Hirn: Wenn Du jetzt ganz schnell bist, könntest Du der Erste sein, der nach dem Tod von Elvis ein brandneues Buch herausbringt, das ihn zum Thema hat. Ich schrieb damals gerade an der Erzählung „Das erste Erwachen eines Elvis-Fans“.

Der Text war allerdings noch nicht weit gediehen. Doch dann bekam ich Gewissensbisse: Würde ich durch diese hastige Schreiberei den Tod von Elvis nicht schändlich für schlichte und ekelhaft profane Zwecke ausnutzen, würde ich mich mit so einer schnell rausgehauenen Erzählung, nur, um anderen zuvorzukommen, nicht an Elvis versündigen? Ich hatte ein sehr schlechtes Gefühl dabei, als würde ich mit so einem übereilten Text auch meine Hochachtung vor Elvis verraten.

Kurzum: Ich habe die Erzählung in aller Ruhe weitergeschrieben, mit Erinnerungen an die 1950er Jahre, an die Kirmes in Bottrop, Halbstarken-Kloppereien und Rock ‘n‘ Roll an der ratternden Raupe. Und fühlte mich moralisch auf der besseren Seite, als kurz nach der Todesnachricht – wie zu erwarten – die Elvis-Erinnerungsbücher den Markt fluteten. Ich jedenfalls hatte mich an diesem kommerziellen Hokuspokus nicht beteiligt!

Die ganze Geschichte nahm später ein unerwartetes, erfreuliches Ende. Die Erzählung vom „Erwachen eines Elvis-Fans“ wurde zunächst von Biby Wintjes in seinem Bottroper Info-Zentrum veröffentlicht. Dort entdeckte sie Carl-Ludwig Reichert, ein Münchner Autor, der gerade eine Anthologie „Fans, Bands, Gangs“ für den Rowohlt-Verlag vorbereitete. In diesem Sammelband erschien das „Erwachen eines Elvis-Fans“ ungekürzt – und in naturgemäß hoher Auflage.

Im Rowohlt-Verlag! Da war ich, damals ein noch relativ junger Autor, wirklich stolz wie Oskar. Und zu Recht, will ich meinen. – Ich sollte wieder einmal Jailhouse Rock auflegen.

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(Elvis Presley * 8. Januar 1935 in Tupelo/Mississippi
† 16. August 1977 in Memphis/Tennessee).




Moers ist ganz woanders – eine Nachlese zum Festival

Mit Sorge sahen langjährige Besucher der Zukunft ihres Festivals entgegen. Im vorigen Jahr waren der Künstlerische Leiter und der Geschäftsführer des Moers Festivals nach Querelen mit den Stadtobersten vorzeitig aus ihren Verträgen ausgestiegen. Es ging um Geld, um einen Anteil der Stadt an dem von vielen Seiten geförderten Festival, aber auch, wie schon öfter in der wechselvollen 45-jährigen Geschichte, um die Vermittlung zwischen den hohen künstlerischen Ansprüchen der Festivalmacher und den Interessen der Stadtbewohner.

Festival-Plakat (© Moers Festival)

Diese begegneten mitunter nie gesehenen Gestalten, von denen manche den Namen ihrer Stadt „Mars“ aussprachen und ihrerseits von einem fremden Planeten, auf dem man ein seltsames Verständnis von Musik hatte, zu stammen schienen. Während der Parkplatz vor der Haustür, eine der verständlichen Hauptsorgen der Anwohner, eher von Fahrzeugen aus Münster, Bonn oder den benachbarten Niederlanden zugestellt war.

From Mars to Moers

„Jemand, der sich schon lange aus dem Jazz verabschiedet hat (…) und der ganz woanders ist“, diese Worte wählte Tim Isfort, der neue Künstlerische Leiter, als er am Samstagabend den Ausnahmekomponisten Anthony Braxton ankündigte. Ganz woanders sein, zumindest für die Dauer von vier Tagen, das möchten auch viele der Moers-Pilger – nicht in einer mittelgroßen Stadt am Niederrhein, sondern auf einem den Kosmos musikalischer Möglichkeiten erkundenden Raumschiff. So treffen seit Anbeginn diejenigen, die Moers als Metapher der Grenzenlosigkeit verstehen, auf Menschen, die ganz konkret hier leben.

Vom neuen Festivalleiter erwarten die Stadtväter nicht mehr und nicht weniger, als die verschiedenen Welten einander näherzubringen. Seinem ersten Programmheft stellt Tim Isfort ein 1978 entstandenes Foto voran, das ihn, auf seinem Bonanzarad stehend, mit seiner Familie am Bretterzaun des Festivals zeigt: Er ist ein Kind der Stadt; hier, ganz nah am jährlichen Festival, ist er aufgewachsen.

Auch Anthony Braxton ist in Moers ein alter Bekannter – in den Jahren von 1974 bis 1978 trat er hier regelmäßig auf – und zugleich ein noch zu entdeckender großer Unbekannter. Braxton schreibt täglich Musik, hat mehr als zweihundert Alben aufgenommen, ist mit Jazz und Neuer Musik gleichermaßen vertraut, kombiniert Notation und Improvisation und ist vor allem ein Freigeist.

Braxton-Projekt so komplex wie Stockhausens „Licht“-Zyklus

Braxtons Opernprojekt mit 36 Teilstücken ließe sich in Dauer und Komplexität mit Stockhausens Zyklus „Licht“ vergleichen. Seine Kompositionen Nr. 169 aus dem Jahr 1992 und Nr. 199 von 1997 aus dem Konvolut „Ghost Trance Music“ wurden am 20. Mai dieses Jahres im Großen Sendesaal des WDR vom Ensemble Musikfabrik in Braxtons Abwesenheit, aber mit seinem langjährigen Mitarbeiter, dem Trompeter Taylor Ho Bynum, als Gastmusiker, der die schwierigen Passagen auch dirigierte, aufgeführt.

Anthony Braxton begeisterte am Samstagabend. (© Moers Festival)

Eingerahmt waren seine Stücke von Werken ähnlich anspruchsvoller Komponisten, Harrison Birtwistle und Richard Barrett. Keine leicht zugängliche Musik, aber wohl wenige Erdenbewohner fassen die Welt so durch und durch musikalisch auf wie der Verfasser des 1.700-seitigen Manifests mit dem Titel Tri-Axium Writings. Entsprechend groß waren die Erwartungen an sein einziges Konzert in Europa in diesem Jahr, und sie wurden nicht enttäuscht.

Anthony Braxton reiste mit dem ZIM Sextet aus den USA an; ein Gastauftritt der Saxophonistin Ingrid Laubrock erweiterte die Formation an diesem Abend zum Septett. Zur Aufführung kam ein hochkomplexes Werk für zwei Harfen, Cello, Tuba, verschiedene Saxophonformen einschließlich des riesigen Kontrabasssaxophons und Klarinetten sowie mehrere Blechblasinstrumente (Trompeten, Posaune, Flügelhorn, Kornett), die Taylor Ho Bynum spielte. Eine Komposition mit Noten und Freiräumen zur Improvisation, zusammengehalten durch ein gestisches System der Verständigung. Ein Konzert der Meisterklasse.

Empfehlung: Swans leise hören

Als Anthony Braxton nach einer kurzen Zugabe seinen Auftritt beendete, bereit, mit einigen Freunden in seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag hineinzufeiern, waren die Swans auf ihrer Abschiedstour soeben aus Barcelona eingetroffen. Trotz längerer Umbaupause und Soundcheck konnte der Auftritt zur angekündigten Uhrzeit 23:11 beginnen (fast alle Anfangszeiten im Programmheft wirkten wie gewürfelt).

Zuvor hatten die Zuhörer ausreichend Gelegenheit, sich mit Ohrstöpseln zu versorgen. Der Schaumstoff in den Ohren ließ das Gewitter aus drei Gitarren, zwei Keyboards und einem unentwegt wirbelnden Schlagzeuger zwar dumpfer, jedoch nicht spürbar leiser klingen. Im Publikum vor der Bühne sah ich eine einzelne Frau ausgelassen tanzen. Vielleicht reagierte sie angemessener auf die in der Lautstärke angelegte physische Destruktion als wir Vorsichtigen in den hinteren Stuhlreihen, die wir uns von den vibrierenden Lehnen den Rücken massieren ließen. Auch der Sänger der Swans arbeitete wie Braxton mit Gesten, aber die seinen dienten weniger der Kommunikation mit den Mitmusikern; er schien vielmehr seine Fans beschwören oder verhexen zu wollen.

Ich verließ die Festivalhölle nach etwa einer halben Stunde und schaffte es, zu Hause im Livestream nicht nur das Ende des Auftritts, sondern auch die während der Autofahrt verpassten Teile nachzuhören – und stellte bei selbstbestimmter Lautstärke fest, es steckten sehr wohl Feinheiten in dem massiv wirkenden Sound, die mir zuvor mit Ohrstöpseln und zusätzlich zugehaltenen Ohren entgangen waren. Swans-Fans werden mich für den wohlmeinenden Rat, ihre Musik in Zimmerlautstärke zu hören, steinigen wollen, denn, wie der Frontman der Gruppe, Michael Gira, im Programmheft zitiert wird, wirke die Musik durch ihre Energie, „seelisch beflügelnd und körperlich zerstörend“.

Kommerzielles Kalkül und künstlerisches Konzept

Diese beiden gegensätzliche Auftritte am Samstagabend – die schnell gespielten kleinen, feinen Töne Anthony Braxtons und die betäubende Lautstärke der Swans – mögen stellvertretend stehen für eine nur allzu auffällige Eigenart des diesjährigen Festivals, die mindestens ebenso sehr kommerzielles Kalkül sein dürfte wie künstlerisches Konzept. Um es in der Sprache von Online-Shops zu sagen: Wer Anthony Braxton mag, dem wird vermutlich auch Miller’s Tale gefallen, das Trio mit der großartigen Pianistin Sylvie Courvoisier aus der Schweiz, dem britischen Saxophonisten Evan Parker, der zuletzt 2012 mit Rocket Science in Moers auftrat, und der Japanerin Ikue Mori an der Elektronik (sie war hier 2013 mit John Zorns „Electric Masada“ zu erleben).

Und wer sich Karten für diese beiden Auftritte kaufen würde, ließe sich sicherlich auch für die beiden Kompositionen „Vogelfrei“ und „Contemporary Chaos Practices“ von Ingrid Laubrock begeistern, die am Pfingstmontag mit dem EOS Kammerorchester Köln aufgeführt wurden, das erste Stück zusätzlich mit zwei Chören, das zweite als Kompositionsauftrag der Kunststiftung NRW eine Welturaufführung.

Verschiedene Schnittmengen im Publikum

Das gleiche Zielpublikum wird auch bereits am Freitagabend dem Auftritt des Streichquartetts um Carolin Pook mit Genuss gelauscht haben, das mit seinem Programm „cosmic string time travel“ auf das New Yorker Powertrio Spacepilot traf. Vier großartige Konzerte für einen bestimmten Teil des Publikums, eventuell auch fünf, wenn man das medidativ-minimalistische Saxophonquartett Battle Trance aus New York hinzunimmt. Bezeichnenderweise fanden diese Konzerte an vier verschiedenen Tagen statt, sodass das Festivalticket die preisgünstigste Option war.

Unmittelbar vor oder nach solchen Höhepunkten standen Musiker auf der Bühne, die eine andere Schnittmenge im Publikum ansprachen. Ich kann mir vorstellen, dass Verehrer der Swans dem Auftritt der belgischen Crust Punks von Cocaine Piss mehr Lustvolles abgewannen als manche Hörer neuer Kammermusik, für die Aurélie Poppins‘ Kreischen geklungen haben könnte, als habe sich die Sängerin einen Finger in der Autotür eingeklemmt, vierzig Minuten lang. Doch freilich schickt der Künstlerische Leiter nicht einfach irgendeine Punkband auf die Bühne. Er brachte die vier Crusties aus Liège mit der dänischen Saxophonistin Mette Rasmussen zusammen, die ihr Instrument so punkgemäß malträtierte, dass beides gut zueinander passte.

Jedem sein eigenes Moers

„Ich bin sicher, dass nach den vier Festivaltagen jeder ‚sein eigenes Moers‘ erlebt haben wird“, schreibt Tim Isfort in der Einleitung des Programmhefts. Die Vielfalt an musikalischen Stilen war auf dem Festival selbstverständlich sehr viel reicher, als die bisher genannten Beispiele vermuten lassen. Da war das Dub Trio aus den USA, das genau die Musik spielte, die der Name der Band versprach. Es waren neue Kostproben aus der Singer-Songwriter-Szene zu hören, von der 21-jährigen Julien Baker in der Kirche St. Josef, oder von Brian Blade, der eigentlich Schlagzeuger ist, aber für sein Projekt Mama Rosa als Sänger mit Gitarre auf die Bühne der Festivalhalle kam, begleitet von fünf Musikern.

Stimmgewaltig und theatralisch präsentierte sich Dorian Wood am Piano, der seine ersten Auftritte in der Gay-Bar-Szene von Los Angeles hatte. Er sang, vielmehr: er performte seine Songs auf Spanisch, Englisch und Bulgarisch, unterstützt von dem sechsköpfigen Ensemble CRUSH, bestehend aus vier Streichinstrumenten, Akkordeon und E-Gitarre. Einen bewegenden Song widmete er den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.

Dorian Wood widmete einen Song den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.
(© Moers Festival)

Und es war auch weiterhin gediegener Altherren-Jazz auf dem Festival vertreten, etwa von der isländischen Formation ADHD oder von The Bad Plus aus den USA.

Dagegen hoben sich erfrischend einige jüngere deutsche, österreichische oder belgische Jazzer ab, das Quartett Philm des Berliner Saxophonisten Philipp Gropper etwa, das Trio De Beren Gieren und nicht zu vergessen: der diesjährige „Improviser in residence“ in Moers, John-Dennis Renken. Mit seiner Gruppe „Tribe“ spielte er unter anderem drei Stücke, die er für seine kleine Tochter geschrieben hat, die am Samstag ihr erstes Konzert besuchte. Eines der Stücke heißt „Quatschkopp“ und klingt ziemlich chaotisch, ein anderes, „Charlie‘s Lullaby“, langsamer und sehr emotional. Dennoch: Charlotte muss ein ganz besonderes Kind sein, wenn es ihr gelingt, zu der Musik ihres Papas einzuschlafen. Moers war, für diejenigen, die lange genug im Saal blieben, ein Wechselbad der Gefühle.

Likembe ekuba und die Bohrmaschine

Zu den temperamentvollsten Auftritten gehörte am späten Sonntagabend die kongolesische Gruppe Radio Kinshasa mit der kraftvollen Sängerin und Trommlerin Huguette Huguembo und dem ausdrucksstarken Sänger und Performer Strombo, der seine Instrumente selbst baut. Sie tragen Namen wie likembe ekuba, clavier mesa oder guitard miliki.

Die beiden und drei weitere afrikanische Perkussionisten/Drummer spielten zusammen mit FM Einheit, alias Frank-Martin Strauß, langjähriges Mitglied der Einstürzenden Neubauten, der seine Instrumente ebenfalls selbst herstellt, meterlange Metallspiralen, die er auf der Bühne mit dem Elektrobohrer bearbeitet, oder ein Blech mit Steinen. Dazu spielte der Tenorsaxophonist und Pianist Pavel Arakelian, der an seinem Wohnort Minsk nicht allein von der Musik leben kann und sich ein Zubrot als Bodybuilder verdient. Der Trompeter Markus Türk vervollständigte den energiegeladenen Auftritt von Radio Kinshasa, der im Programm an der Stelle stand, an der früher die African Dance Nights stattfanden. Die Musik lädt nicht nur ein, sie treibt das Publikum geradezu zum Tanzen.

Ausblick

Viele gute Ideen sind in der kurzen Vorbereitungszeit von nur fünf Monaten realisiert worden, und das bei spürbaren finanziellen Einschnitten, die Tim Isfort auf der Bühne ansprach. Aber auch die eingangs erwähnten Sorgen sind nicht unberechtigt. Freunde des Festivals hoffen, dass Moers keine ähnliche Entwicklung wie das benachbarte Traumzeit-Festival nehmen wird, dessen künstlerische Leitung nach der Trennung von Tim Isfort 2012 vom Festivalbüroleiter der Duisburger Marketing Gesellschaft zusätzlich zur kaufmännischen Leitung übernommen wurde und seitdem mit erheblichen Zugeständnissen an den Mainstream fortgeführt wird. Für dieses Jahr jedenfalls erwies sich die Befürchtung, das Moers Festival könnte zu viele Kompromisse eingehen, als unbegründet. Doch andererseits sollte der Wunsch nach Besonderheit nicht in einem Kuriositätenkabinett sämtlicher Musikstile münden.

Deutlicher noch als Vorgänger Reiner Michalke hat die neue Programmleitung das Festival an verschiedene Spielorte verlagert, in die Innenstadt, in den Park, wo Kunstinstallationen zu sehen waren, ins Festivaldorf; moersify nennt sich eine der Reihen. Auch innerhalb der Festivalhalle sucht Isfort neue Formen, wie die discussions, Sessions, die in einer Art Boxring im unteren Teil der Tribüne stattfanden.

Auf der Startseite des Moers Festivals ist im Newsletter zu lesen, das gesamte Team freue sich sehr darauf, „nächstes Jahr mehr Zeit zu haben für – – – Alles!“ Das lässt hoffen.

Das vollständige Programm kann auf der folgenden Website nachgelesen werden: www.moers-festival.de/programm/programmuebersicht/




Coup fürs „Dortmunder U“: Schau über die legendäre Rockband „Pink Floyd“ kommt aus London

Das ist doch mal eine gelungene Überraschung: Edwin Jacobs, aus Utrecht kommender neuer Chef des „Dortmunder U“ und somit auch des Museums Ostwall, kann bereits den ersten Coup seiner Dortmunder Amtszeit verbuchen; allerdings nicht mit einer klassischen Kunstausstellung, sondern mit einer Schau über die legendäre Rockgruppe „Pink Floyd“.

"Animals" - album cover art, Riger Waters, 1977 (© Pink Floyd Music Ltd. / Victoria and Albert Museum, London)

„Animals“ – album cover art, Roger Waters, 1977 (© Pink Floyd Music Ltd. / Victoria and Albert Museum, London)

Die weltweit erste derartige Retrospektive über die Band startet ihre Tour am kommenden Wochenende im ehrwürdigen Victoria and Albert Museum in London, wo sie vom 13. Mai bis zum 1. Oktober zu sehen sein wird. Der Titel kommt schon gebührend gravitätisch, aber auch ein wenig britisch-ironisch daher: „Pink Floyd: Their Mortal Remains“ („Pink Floyd: Ihre sterblichen Überreste“).

Ab Frühjahr 2018 soll dann Dortmund die einzige Station im deutschsprachigen Raum sein. Schauplatz ist dann die 6. Etage des „Dortmunder U“. Einen weiteren Halt macht die Präsentation in Rom. London – Rom – Dortmund. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen…

Angekündigt wird eine multimediale Reise durch die rund 50-jährige Geschichte der ungemein einflussreichen Band. Im Mittelpunkt steht zwar vorwiegend, aber nicht nur die Musik – mit den Bandmitgliedern, ihren Songs und Instrumenten, Tourneen und Auftritten. Es geht beispielsweise auch um die visuelle Gestaltung der Alben und der Bühnenbilder – und um persönliche Erinnerungsstücke wie etwa Klassenbuch oder Rohrstock aus Kindertagen. Insgesamt soll die Ausstellung die wandelbare Entwicklung von der anfänglichen psychedelischen Phase bis hin zu den kommerziellen Welterfolgen nachzeichnen.

Schon dieses erste Ausrufezeichen des neuen Museumsdirektors deutet an, dass künftig auch populäre Themen ins Haus geholt werden dürften, die das bisherige Spektrum erweitern. Sicherlich hofft man dabei auf ein Publikum, das über die üblichen Kreise der Museumsbesucher hinaus reicht. Es kann ja wirklich nicht schaden, neue Besucherschichten zu erschließen.

Das „Dortmunder U“ könnte dabei zur temporären Pilgerstätte von zahlreichen „Pink Floyd“-Fans werden, die sich vermutlich auch auf weitere Anreisen begeben . Übrigens war es die Dortmunder Westfalenhalle, wo die Band im Februar 1981 mit der gigantischen Show „The Wall“ einen ihrer wohl spektakulärsten Auftritte hatte. Auch 1977 und 1988 gastierte die Gruppe in Dortmund. Manche Leute schwärmen heute noch davon.

Einen Vorgeschmack auf die Londoner Ausstellung kann man sich auf der Internet-Seite des Victoria and Albert Museums verschaffen: https://www.vam.ac.uk/exhibitions/pink-floyd




Pionier des Rock’n’Roll: Zum Tod des Gitarristen Chuck Berry

Charles Edward Anderson, weltbekannnt als „Chuck“ Berry, hat uns alle verlassen. Zurück bleiben nicht zu zählende Fans in Trauer, aber auch dankbarer Freude – über einen 90 Jahre währenden Lebensweg, den „Chuck“ streckenweise mit seiner unvergleichlichen Musik veredelte.

Chuck Berry bei einem Konzert im Casino von Deauville (Frankreich) am 12. Juli 1987. (Foto: Roland Godefroy / Wikimedia Commons) - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Chuck Berry bei einem Konzert im Casino von Deauville (Frankreich) am 12. Juli 1987. (Foto: Roland Godefroy / Wikimedia Commons) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Er war ein wahrer Pionier des Rock’n’Roll, später seine lebende Ikone. „Chuck“ schien so unverwüstlich wie seine Musik – ewig jung. Der Sohn von Henry Berry, dem Diakon einer Baptistenkirche, und Martha Berry, einer Schulleiterin, begann an der Sumner High School in St. Louis mit dem Gesang und dem Gitarrespielen. Doch schon 1944 begann auch sein Lebensweg, sich zu krümmen: drei Jahre Jugendgefängnis wegen bewaffneten Raubüberfalls.

Auch Beatles und Stones waren seine Fans

1959 geriet er nochmal mit der Justiz über Kreuz. Dann glättete er das ramponierte Verhältnis. Inzwischen bewaffnete sich der rockende Jüngling lieber mit seiner Gitarre, die er im Laufe der Jahre zum führenden Instrument seines Genres machte.

Ob es die Beatles waren, die gestanden, ohne seinen Einfluss niemals Musiker geworden zu sein. Oder die Stones, deren Keith Richards sich als Chuck Berrys größter Fan outet. Die Namen der liebevoll gedenkenden Verehrer schmücken das „Who is Who“ der neueren Musikgeschichte.

Eric Clapton, Bruce Springsteen, Angus Young von AC/DC, ja selbst Simon and Garfunkel – sie alle verwiesen gern auf Chucks Vorbildfunktion, oder sie coverten gleich seine klassischen Stücke. Wie Motörhead oder Status Quo, die mehr als 40 Bühnenjahre lang ihre Konzerte mit „Bye Bye Johnny“ beendeten. Oder sie alle spielten Berry-Kompositionen wie „Rock and Roll Music“, „Carol“, „Johnny B. Goode“ oder „Roll over Beethoven“ live auf der Bühne.

Immer schlug der Gitarrero des Rock seit Karriere-Beginn eine Gibson. Sie war der Klang ganzer Musiker und-Liebhaber-Generationen, sie prägte das Verständnis der Musik. Chuck Berry, we will miss you. Bye bye Johnny.




Das Fundament zur Musik: Dortmunder Festival „Klangvokal“ präsentiert die Vielfalt des Singens

Bild: Festival Klangvokal Dortmund

Titelmotiv des Programmbuchs (Bild: Festival Klangvokal Dortmund)

Georg Philipp Telemann, vor 250 Jahren in Hamburg verstorben, prägte einen berühmten Satz. Singen, so schreibt er in einem Brief an Johann Mattheson, sei „das Fundament zur Musik in allen Dingen“. Komponisten wie Instrumentalisten sollten des Singens kundig sein. „Also präge man das Singen jungen Leuten fleißig ein“.

So gesehen, müsste Dortmund eine der musikalischsten Städte in Deutschland sein, denn hier wird eifrig gesungen: Rund 300 Chöre und Vokalensembles soll es in der Stadt und ihrem Umfeld geben – und 130 von ihnen lassen zum neunten Mal beim „Fest der Chöre“ zwischen St. Reinoldi und St. Petri lebendig erleben, welche Vielfalt des gemeinsamen Singens möglich ist: vom diffizilen Chorsatz bis zum kraftvollen Volkslied, vom Gospel bis zum Shanty, von liturgischem Gesang bis zum Popsong. Am Samstag (17. Juni) also wird es in der Dortmunder Innenstadt an allen Ecken und Enden klingen, beginnend mit dem gemeinsamen Singen um 12 Uhr auf dem Alten Markt, ein Ereignis, das in den vergangenen Jahren stets Tausende von Besuchern angezogen hat.

Weit über die Grenzen hinaus

Das Chorfest ist Teil des ehrgeizigen Festivals „Klangvokal“, das seit 2009 immer wieder für künstlerische Höhepunkte gesorgt hat – man denke allein an die Deutsche Erstaufführung der Urfassung von Giacomo Puccinis früher Oper „Edgar“ oder an Franz Schmidts monumentales Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ im letzten Jahr. Das Musikfest hat aber auch den Blick geweitet über Grenzen der Gattungen, der Länder und der Kontinente hinaus: Wie singen die Menschen in Aserbeidschan oder in Zypern?

In diesem Jahr steht von 28. Mai bis 25. Juni in 20 Veranstaltungen so etwas wie eine Selbstvergewisserung an: Wie klingt eigentlich die „Heimat Europa“? Wie verändert sich Vokalmusik im Lauf der Jahrhunderte? Was nimmt sie an Einflüssen in sich auf? Wie sieht die Zukunft des Singens aus zwischen technisch perfektem, ausziseliertem Belcanto und vulgär deklamiertem Rap?

Enorm hoher Anspruch

Festival-Direktor Torsten Mosgraber hängt den Anspruch hoch: „Mit dem Thema ‚Heimat Europa‘ begleitet das Klangvokal Musikfestival Dortmund den aktuellen Diskurs um die Zukunft auf unserem Kontinent und belebt ihn mit vokalmusikalischen Kostbarkeiten vom 14. Jahrhundert bis heute.“ Wenn das nicht nur wohlfeiler Marketing-Sprech bleiben soll, hat sich das Festival-Team einiges vorgenommen.

Lawrence Brownlee, einer der führenden Rossini-Tenöre der Gegenwart. Foto: Derek Blanks

Lawrence Brownlee, einer der führenden Rossini-Tenöre der Gegenwart. (Foto: Derek Blanks)

Das Programm, wenn man es so lesen will, behauptet zunächst den klassischen Belcanto als Ausgangspunkt des Singens: Bei der Eröffnung am Sonntag (28. Mai) wird mit Gioacchino Rossini einer der Komponisten zu Klang gebracht, der noch die verfeinerte Kunst des Singens aus dem 18. Jahrhundert geschätzt und ins nächste Jahrhundert gerettet hat, gleichzeitig aber mit einer neuen Epoche unmittelbarerer Emotionalität und mit veränderten technischen Möglichkeiten konfrontiert war. Seine Oper „Le Comte Ory“ steht als ironisch blitzendes Juwel am Ende der Ära des Ziergesangs. Mit Lawrence Brownlee – flankiert von Sängerinnen wie Jessica Pratt oder Stella Grigorian, die in der Vokalkunst einen Namen haben – erwartet ein Virtuose des kunstreichen Rossini-Gesangs im Dortmunder Konzerthaus sein Publikum.

Der Opernkunst huldigen

Die Oper mag man als Mekka des Gesangs ansehen, und ihrer heiligen Kunst wird reichlich gehuldigt: Antonio Vivaldis Pasticcio „Il Tamerlano“ – auch bekannt als „Bajazet“ – kommt am 2. Juni zur Aufführung, Henry Purcells „King Arthur“ am 24. Juni. Mit Georg Friedrich Händels „Acis und Galathea“ kehren am 10. Juni das mit hervorragenden Sängern und Instrumentalisten besetzte Collegium Marianum und die Puppenspieler von „Buchty a loutky“ aus Prag nach Dortmund zurück, um Händels „Masque“ zu spielen.

Mit Edward Elgars „The Dream of Gerontius“ steht am Pfingstmontag (5. Juni) in der Reinoldikirche ein Hauptwerk des englischen Chorgesangs auf dem Programm. Der Philharmonische Chor des Dortmunder Musikvereins und die Dortmunder Philharmoniker realisieren unter Leitung von Granville Walker Elgars klangüppige Vertonung eines Poems von Kardinal John Henry Newman. Ein – immerhin gläubiger – „Jedermann“ steht vor dem Sterben und beschreitet nach seinem Tod einen Weg jenseits von Raum und Zeit, der ihn durch die klanglichen Welten von Engeln und Dämonen vor das Gericht Gottes und mit der Verheißung der Erlösung ins Purgatorium führt, die jenseitige Reinigungsstätte, die in der katholischen Tradition als Fegefeuer bezeichnet wird. Das Werk hat übrigens nach einer desaströsen Uraufführung unter Hans Richter in Birmingham seinen Siegeszug mit zwei Aufführungen in Düsseldorf 1901 und 1902 angetreten. Heute gilt es vielen als Hauptwerk von Elgars vokalem Schaffen.

Chormusik durch die Jahrhunderte

Chormusik vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart ist bei weiteren sechs Konzerten zu hören, etwa am Pfingstsonntag (4. Juni) in der Nicolaikirche mit dem Chor des Lettischen Rundfunks und dem Großen Abend- und Morgenlob op. 37 von Sergej Rachmaninow, einem monumentalen Gipfelwerk der russischen liturgischen Musik. Oder am Freitag, 9. Juni in St. Bonifatius, wo das französische Ensemble Correspondances unter Sébastien Daucé Barockmusik des 17. Jahrhunderts singt. Die Schola Gregoriana Pragensis stellt am Dienstag (13. Juni) in der Marienkirche geistliche Gesänge, aber auch weltliche Chansons der Zeit Kaiser Karls IV. vor. Und an Fronleichnam (15. Juni) verweist Frieder Bernius mit Kammerchor und Barockorchester Stuttgart zwei Kantaten vor, die Johann Sebastian Bach zur Feier des Reformationsfestes geschrieben hat und die in diesem Jahr an den Beginn der konfessionellen Umwälzungen vor 500 Jahren erinnern.

Soul, Blues, Pop: China Moses, Tochter der Jazz-Sängerin Dee Dee Bridgewater, präsentiert ihr neues Programm „Nightintales“ am Donnerstag (1. Juni) im „Domicil“, die international erfolgreiche polnische Sängerin Anna Maria Jopek kommt mit ihrem Quartett am Donnerstag, 22. Juni, ebenfalls in dieses Dortmunder Forum für aktuelle Musikrichtungen.

Das Dortmunder Konzerthaus. (Foto: Häußner)

Auch Bespaßung gehört dazu

Wer’s mag, wird sich am 18. Juni einen Sonntagnachmittag im Konzerthaus gönnen und an den Lippen der zum „Opernvulkan“ stilisierten Simone Kermes hängen, die sich nicht zu schade ist, die Wahnsinnsszene aus Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ in eine Reihe mit Schlagern und Filmsongs zu stellen und sich dabei vom „bekanntesten Protagonisten des deutschen Schlagers“, Roland Kaiser, assistieren zu lassen. Die Neue Philharmonie Westfalen hat die dankbare Aufgabe der Begleitung übernommen, der Mann oder die Frau am Pult ist noch nicht bekannt. Zur Vielfalt des Singens und zur Heimat Europa gehört eben auch die Art musikalischer Bespaßung, die gemeinhin als besonders populär angesehen wird.

Auf einem originelleren Niveau wird sicherlich der Abschlussabend des Festivals Kurzweil verbreiten: Zarzuelas, die spanische Form unterhaltenden Musiktheaters, laden am Sonntag (25. Juni) auf der Seebühne im Westfalenpark die hoffentlich laue Sommernacht mit feurigen Rhythmen und federleichten Melodien auf. Das WDR Funkhausorchester unter Enrico Delamboye entführt mit dem Flamenco-Gitarristen Santiago Lara und den Sängern María Rey-Joly und Ismael Jordi auf die iberische Halbinsel, wo Zarzuelas nach wie vor gerne gespielt und von allen großen einheimischen Gesangsstars hingebungsvoll gesungen werden.

Karten: Tel. 0231 / 50 299 96 – Internet: www.klangvokal-dortmund.de

 




Anmerkungen zur neuen WAZ-Beilage „Lust aufs Wochenende“

Es ist wahrlich kein neues Phänomen, dass viele Chefredakteure ihre Schwierigkeiten mit Kulturrezensionen haben. Vorab häppchenweise Appetit machen – okay. Das lassen sie schon mal gern durchgehen. Doch all das nachträgliche Kritisieren erscheint ihnen überflüssig. Die Leute werden schon selbst merken, ob es ihnen gefallen hat. Das könnte jetzt auch eine ziemlich populistische Denkfigur sein, oder?

Ausriss aus dem Titelseitenkopf der neuen Beilage (© WAZ)

Ausriss aus dem Titelseitenkopf der neuen Beilage (© WAZ)

Nach diesem unbedarften Gusto ist jetzt auch eine neue Beilage gefertigt, die heute erstmals in der WAZ erschienen ist. Sie heißt „Lust aufs Wochenende“, kommt donnerstags (mit 8 Seiten) und samstags heraus. Am Donnerstag besteht die Neuheit zu großen Teilen aus einem Terminkalender, der mit ein paar Texten garniert wird. Erleben, entdecken, genießen – so heißen die Leitwörter. Mann, sind die gut drauf! Immer jung und flott. Ein bisschen Kulinarik, ein bisschen Pop, Lifestyle und Events – fertig ist die bonbonbunte Mischung.

Von den Autor(inn)en hat man als Leser des WAZ-Mantelteils bislang noch nicht viel gehört, sie zählen nicht zur Kerntruppe des Blattes. Vergebens habe ich heute nach einem speziellen Impressum gesucht. Hab‘ ich’s übersehen? Gern hätte ich jedenfalls gewusst, wo die Funke-Gruppe diese Beilage produzieren lässt. Vielleicht erfährt man’s ja noch nachträglich.

Schauen wir mal etwas genauer hin: Bislang sind donnerstags in der WAZ stets einige Kinokritiken erschienen, weit überwiegend von erfahrenen und sachkundigen Mitarbeitern verfasst. Daran konnte man sich schon ganz gut orientieren. Und jetzt? Hat man diese Rezensionen offensichtlich gestrichen.

Statt dessen gibt’s praktisch nur noch kurzatmige Zehn-Zeilen-Vorstellungen neuer Filme, natürlich mit Sternchen-Wertung von 1 bis 5. Damit man sofort sieht, woran man ist und keine Zeit verschwenden muss. Richtig geraten: Kinocharts werden natürlich auch abgedruckt. Man muss ja unbedingt wissen, ob man zur großen Mehrheit gehört. Diese ganze Hit-oder-Niete-Top-oder-Flop-Denke. Ihr wisst schon, was ich meine.

Ein einziger Kino-Text ist in der Premierenausgabe ein ganz klein wenig länger geraten. Doch natürlich hat er empfehlenden Charakter, wenn man dabei von „Charakter“ sprechen kann. Mit Kritik hat man hier so gut wie nichts im Sinn. Schon gar nicht mit nachvollziehbaren Begründungen oder mit abwägendem Für und Wider. Fazit: Als kritische Instanz (hahaha! Der war gut…) ist diese neue Beilage ein Totalausfall.

Diese Donnerstags-Beilage u. a. in Großbuchstaben mit dem Slogan „MEHR KINO“ anzukündigen, ist jedenfalls ein schlechter Witz. Dass es dabei eh nicht um Arthouse-Filme, sondern um „die spannendsten Blockbuster und Familienfilme“ geht, dürfte wohl klar sein.

Damit nicht genug. Auf vier luftig layouteten Spalten wendet man sich in aller Kürze auch neuen Büchern zu. Kostprobe der heutigen drei „Bewertungen“ gefällig? Wortwörtlich: „Ein nahezu perfekter Roman“ (Julian Barnes), „Ein großer Roman von einem wahrlich meisterhaften Autoren“ (James Lee Burke) und „gelingt es in ihrem Debütroman großartig…“ (Noemi Schneider). Alles bestens also. Kein lästiges Gemecker. Mit dem ungefilterten Pressematerial der Verlage und werblichen Klappentexten ließe sich die Trommel kaum penetranter rühren. Überdies darf man gespannt sein, ob die WAZ-Kulturredaktion dieselben Bücher auch noch einmal aufgreift. Man kann ohnehin nur hoffen, dass sich dort noch weiterhin das eine oder andere Gegengewicht bemerkbar macht.

Schon am Mittwoch hatte die WAZ Reklame in eigener Sache betrieben. „Die WAZ macht Lust aufs Wochenende“, hieß es da im Anreißer auf der Titelseite und man dachte schon, es ginge gleich los. Doch wir, die wir das Wochenende bislang immer so verschmäht haben, mussten uns noch einen Tag gedulden, bevor uns die Zeitung endlich Lust darauf machte. Ein weiterer Hieb wird dann am kommenden Samstag folgen, die Ausgabe soll sich in Erscheinungsbild und Themenstruktur deutlicher von den Wochentagen abheben, soll sozusagen „wochenendiger“ werden und dabei offenbar Anleihen bei den Sonntagszeitungen nehmen. Man wird sehen.




Songs für die Ewigkeit: Zum Tod des großen Dichters und Sängers Leonard Cohen

Auf immer verflucht sei der Tod. Jetzt hat er uns auch noch Leonard Cohen genommen, den vielleicht größten Songschreiber unserer Zeit, neben dessen Tiefenwirksamkeit allenfalls Bob Dylan bestehen kann.

Leonard Cohen bei einem Konzert in Genf, 2008 (Wikipedia Creative Commons, User

Leonard Cohen bei einem Konzert in Genf, 2008 (Wikipedia Creative Commons, User „Rama“, eigenes Werk. Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/fr/deed.en)

Vor wenigen Wochen war seine Platte „You Want It Darker“ erschienen, ein wahrhaft dunkles, geheimnisvoll funkelndes letztes Meisterwerk, das allseits hymnisch gefeiert wurde. Nicht nur zwischen den Zeilen war Cohens Bereitschaft zu sterben vernehmlich. Zwar hat er auch noch gescherzt, er wolle 120 Jahre alt werden, doch damit wollte er nicht mehr sich selbst aufmuntern, sondern wohl nur noch uns alle beruhigen und trösten.

Ob nun Zufall oder Fügung: Mitten in der Nacht bin ich plötzlich aufgewacht, das Tablet lag noch neben mir und war nicht ausgeschaltet. In der Dunkelheit leuchtete die schlimme Nachricht von Leonard Cohens Tod auf. An ruhigen Schlaf war nicht mehr zu denken; wie dies denn überhaupt eine Woche der schlaflosen Nächte ist. Ihr wisst schon.

Weisheit und Würde

Froh und dankbar bin ich, Leonard Cohen in den letzten Jahren noch auf der Bühne erlebt zu haben: einmal in Oberhausen und einmal in Dortmund. Wenn man überragendes Künstlertum mit Lebensweisheit, Noblesse und Würde in Einklang sehen wollte, so war es hier in Reinkultur zu erleben.

Leonard Cohen wurde am 21. September 1934 in Westmount, einem Vorort von Montreal (Kanada), geboren. In seiner wohlhabenden jüdischen Familie ist er sehr früh und intensiv in die Buchkultur eingetaucht. So hat er zwar schon als Kind auch Gitarre spielen gelernt, wurde aber zunächst Schriftsteller und hat ab 1954 Lyrik und Prosa publiziert. Nein, wir reden jetzt nicht mehr weiter vom Literaturnobelpreis, der womöglich ihm gebührt hätte.

Grandioser Erstling

Man kann nachlesen, dass Judy Collins ihn animiert hat, seine Poesie auch in Songs zu fassen. Ende 1967 kam das Album „Songs of Leonard Cohen“ heraus – mit legendären Liedern wie „So long, Marianne“, „Sisters of Mercy“ und „Suzanne“. Gleich dieser Erstling erwies sich als eine der besten und stimmigsten LPs aller Zeiten. Es folgten noch zahlreiche grandiose Schöpfungen. Wer seine komplette Diskographie erkunden will, findet beispielsweise hier reichlich Material.

Seine Lieder handeln von den größten, ewigen, ersten und letzten Dingen, zumal von Liebe und Tod. Texte und Klänge sind vielfach melancholisch-elegisch getönt, oft greifen sie ins Spirituelle aus, allerdings ohne jede hohepriesterliche Anmaßung. Doch eine überirdische Idee waltet beileibe nicht nur in dem berühmten Song „Hallelujah“. Und es gibt auch etliche Cohen-Songs, die sich auf ganz eigene, wunderbar leichtfüßige Weise ins Tänzerische begeben.

Keiner fragt nach meinem Favoriten, doch ich nenne ihn trotzdem: Es ist der famose Song „Chelsea Hotel“, mit dem Cohen sich an Janis Joplin erinnert. Okay, ich könnte auch noch zwanzig andere erwähnen. Mindestens.

Nachhaltige Wirkung

Ich weiß nicht, ob dermaßen subjektive Äußerungen hierher gehören, aber ich riskiere es mal, weil es in diesem Falle eben nicht so abwegig ist und über allgemein verfügbaren Wikipedia-Stoff hinaus weist: Aus mehreren Generationen können viele, vor allem Frauen (denn er war ein „homme à femmes“ oder „Ladies’ Man“ wie nur je einer), sehr Persönliches erzählen, das Biographien und Schicksale auf manchmal nahezu magische Weise zu prägen scheint.

Eine meiner liebsten Cohen-LPs ist bis heute „Songs of Love and Hate“ (1971). Warum? Wegen einer – im Nachhinein betrachtet – „unsinnigen“ Verliebtheit. Aber wer fragt hier nach Sinn? Damals war es jedenfalls in manchen Kreisen üblich, angehimmelten Frauen Audio-Kassetten mit bedeutungsvollen Songs zu überreichen, mit denen man sich und seine Gefühle ausdrücken wollte. Natürlich war Cohen für derlei Wechselfälle besonders ratsam…

Ein paar Jahre später sind ein Freund und ich mit zwei ansonsten stets giggelnden Teeny-Mädchen in einen Cohen-Konzertfilm gegangen. Es war wie ein Zauber. Sie waren gerührt, haben Tränen vergossen und wirkten auf einmal seltsam gereift – „Just Like a Woman“, um Dylan zu zitieren.

Neigung zum Rückzug

Meine Frau ist als Teenager sogar ein kleines bisschen ungesetzlich vorgegangen, um an seine erwähnte Debüt-LP „Songs of Leonard Cohen“ zu gelangen. Im Tausch gegen einen Judoanzug hat sie einer Freundin die Platte abgeluchst, die eigentlich deren älterem Bruder gehörte. Wer weiß, woher er die hatte. In weiten Teilen des Sauerlands gab es damals offenbar keinen Plattenladen, der Cohen führte.

Eine Facebook-Bekannte war so vom Menschen und Künstler Cohen ergriffen, dass sie ihm durch Länder und Kontinente nachgereist ist und sicherlich viele Dutzend seiner Konzerte erlebt hat. Wahrhaftig: Nicht wenige Frauen waren Cohen geradezu verfallen oder ergeben.

Leonard Cohen, der zuletzt in Los Angeles lebte, hatte nachhaltigen Einfluss auf zahllose Menschen, doch er hat nie entsprechende Attitüden eines Popstars entwickelt. Er war und blieb auch als Singer/Songwriter ein Schriftsteller, den es eher in die Stille und zur Kontemplation zog. Mehrmals hat sich dieser (nach eigenem Bekunden zu Depressionen neigende) Dichter vor der Welt verschlossen – in den 60ern wählte er die griechische Insel Hydra als Rückzugsort, ab Mitte der 90er Jahre ein buddhistisches Kloster bei Los Angeles.

Darf man sagen, dass seine Wiederkehr einer Erscheinung glich? Oder klingt das unangemessen messianisch? Sei’s drum.




Alle paar Tage ein „Album des Jahres“ – über das entgrenzte Rühmen in den Feuilletons

Vielfach wurde und wird dieser Tage Leonard Cohens neues Album „You Want it Darker“ besprochen, und zwar zu allermeist feierlich, ja hymnisch, als wäre es ein quasi-religiöses, jedenfalls transzendentes Ereignis.

Tatsächlich hat der in Würde gealterte große Meister mit letzten verbliebenen Kräften eine verehrungswürdige, berührende Platte geschaffen. Insofern ist all das Rühmen in diesem Falle sicherlich angebracht. Manche halten ja auch Leonard Cohen – und nicht so sehr Bob Dylan – für den wahren Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Gerade bei ihm mögen also euphorische Höhenflüge am Platze sein. Ihm gebühren größere Worte als anderen.

Aus der Reihe "Unsinnige Vergleiche": Was ist finsterer - das Telefon, der Kugelschreiber oder der Holzkorpus des Radios? (Foto: BB)

Aus der Reihe „Unsinnige Vergleiche“: Was ist finsterer – das Telefon, der Kugelschreiber oder der Holzkorpus des Radios? (Foto: BB)

Doch die Neigung zu Hurra und Hallelujah, zu Superlativ und Überschreitung ist viel weiter verbreitet; auch dort, wo sie mutmaßlich nicht hingehört.

Um noch einmal bei der neuesten Cohen-Rezeption anzuknüpfen: Es werden unsinnige Konkurrenzen inszeniert. Da hieß es etwa jüngst in der FAZ, Cohens Düsternis übertreffe mit seiner neuen Produktion das gesamte Spätwerk von Johnny Cash (welch ein sinnloser Vergleich!) und lasse auch David Bowies verstörende Abschiedsplatte weit hinter sich. Ach, wenn doch die Werke öfter für sich gewürdigt werden könnten und nicht ständig solchem Wettstreit unterworfen wären! Wir ahnen doch auch so, dass der Rezensent rundum alle möglichen und unmöglichen Vergleichbarkeiten parat hat. Davon sollte er vielsagend schweigen.

Zuständig für vorschnelle Steigerungen ist sonst gerne auch die Süddeutsche Zeitung. Da kann es beispielsweise geschehen, dass schon etwa Mitte Januar eilfertig das „Album des Jahres“ ausgerufen und mit großem Tremolo gepriesen wird. Im Dezember sind dann schätzungsweise 37 Alben des Jahres und 143 Alben (respektive Romane, Inszenierungen, Ausstellungen, Kinofilme) „der Stunde“ beisammen. Bei den vorweihnachtlichen Geschenketipps kommen dann noch ein paar Fuder hinzu. Ich übertreibe nur unwesentlich. Wenn überhaupt.

Habt ihr’s nicht manchmal eine Nummer kleiner?

Der Drang zur zwanghaften, haltlosen, entgrenzten Lobhudelei gilt – unter etwas anderen Vorzeichen – auch für regionale Medien, bei denen der Kulturteil (intern wie extern) täglich um ein bisschen Anerkennung ringen muss, sofern er denn überhaupt noch nennenswert vorhanden ist. Da regiert die Furcht, sich mit den Feuilleton-Häppchen womöglich gar kein Gehör mehr zu verschaffen. Also muss man den Mund ziemlich voll nehmen und darf seine Gegenstände nicht durch „Verrisse“ zerfetzen, sondern muss sie noch und noch aufwerten. Motto: Was ich hier bespreche, ist ungemein wichtig und richtig. So erhöht man vor allem sich selbst. Andererseits: Nichts schreibt sich so süffig wie ein herzhafter Verriss.

Vielleicht hat ja auch die nur bedingt kulturaffine Chefredaktion mal wieder süffisant durchblicken lassen, dass kritische Äußerungen im Blatt längst nicht so willkommen sind wie nachdrückliche Empfehlungen. Dann wird’s wieder höchste Zeit für ein bisschen „Service“, beispielsweise fürs nächste PR-Interview mit (gar nicht mehr so) furchtbar angesagten Popstars, die uns vor ihrem Auftritt das unvergleichlich Blaue (oder Düstere) vom Himmel versprechen.

Beispiele gefällig? Gern. In einem bekannteren Ruhrgebiets-Blatt waren das jüngst Phil Collins, der gelobte, im Konzert „110 Prozent“ zu geben, und Robbie Williams, der laut Schlagzeile „Hungrig wie nie zuvor“ ist. Wenn das keine substanziellen Aussagen sind, dann weiß ich auch nicht.

P.S.: Viele Künstler und solche, die sich dafür halten, sehen das alles natürlich ganz anders. Sie reklamieren Lob und Preis fraglos für sich und sehen im angeblich ewig nörgelnden Kritiker den altbösen Feind, der stets hohnlachend auf Kulturvernichtung aus ist.




Nobelpreis für Bob Dylan – nun gut!

Nun hat er ihn also: Bob Dylan ist der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2016. Endlich, endlich. Hosianna! Doch obwohl ich ihn seit Jahrzehnten verehre, ist mir diese Ehrung letztlich gleichgültig.

Ein paar Sachen aus dem Plattenregal. (Foto: BB)

Beispielsweise: ein paar Dylan-Sachen aus dem heimischen Plattenfundus. (Foto: BB)

Wenn es ihm denn Freude und Genugtuung bereitet, so ist es gut. Nur, ganz ehrlich: Hat er und haben „wir“ (sprich: unsere Generation(en)) es denn wirklich noch nötig, dass eine bisweilen arg verschnarchte Jury ihn mitsamt seiner Musik auf diese Weise – viel zu spät – in seinem einzigartigen Rang bestätigt? Fürwahr nicht.

Viele von den Allerbesten haben den Preis nie erhalten. Nüchtern besehen, ist es eigentlich keine besondere Zierde, dass sie ihn jetzt doch noch erkoren haben. Wahrscheinlich wird das nun alles wieder ungemein politisch gedeutet, womöglich als machtvolles Zeichen gegen den tumben Trump, als Signal des wahrhaftigen amerikanischen Geistes…

Wie gut, dass wir im nächsten Jahr nicht mehr spekulieren müssen, ob Dylan ihn kriegt.

Ich mache es mir hinfort leicht und komme auf meine Zeilen zu Bob Dylans 75. Geburtstag zurück, die am 23. Mai in den „Revierpassagen“ erschienen sind und von denen ich auch jetzt nicht abrücken möchte:

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Der Blick ins Rocklexikon bestätigt es: Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 geboren, er wird also jetzt 75 Jahre alt. Geburtsort war Duluth/Minnesota, danach wuchs Dylan – bürgerlich bekanntlich Robert Zimmerman(n) – in der Grubenstadt Hibbing auf. Er hat, wenn man so will, Wurzeln in einem Bergbau-„Revier“. Auch darüber hat er ja den einen oder anderen Song gemacht.

Doch wir wollen etwaige Analogien zum Ruhrgebiet nicht weiter treiben, es wäre lächerlich. Jedenfalls war Dylan durch solcherlei Herkunft wohl „geerdet“, er hat gewusst, wie gewisse Härten des Lebens sich anfühlen. Dass er hernach für die Schwachen und Erniedrigten Partei ergriffen hat, war nur folgerichtig.

Der Blick ins Plattenregal zeigt: Von keinem Künstler (ausgenommen Neil Young) habe ich so viele Platten und CDs wie von Bob Dylan. Warum wohl? Die Antwort drängt sich wiederum beim Blick ins eigene Innenleben auf. Seine Musik und seine Wesensart haben mich, wie so viele aus meiner Generation, durch all die Jahre und Jahrzehnte begleitet, mal inniglich, mal auf Hörweite, mal etwas entfernt. Manche seiner Songs waren und sind immer da. Und das wird so bleiben, selbst wenn eines Tages… Nein, ich mag nicht daran denken.

Dabei habe ich seine Anfänge damals gar nicht wahrgenommen, sondern ihn erst auf dem Umweg über die Beatles (mein musikalisches „Erweckungs“-Erlebnis schlechthin), Stones, Small Faces usw. kennen gelernt, als auch er (1965 beim Newport Folk Festival) die elektrischen Verstärker einstöpselte. Was immer er getan hat, hat die Fans – so oder so – gleichermaßen bewegt und oft erregt, wie die Musikerkollegen. Er ist wahrscheinlich der einflussreichste Protagonist der populären Musik überhaupt.

Man hat dann halt mehr oder weniger andächtig nachgeholt, was Dylan vorher so fabriziert hatte. Es war eine vielfältige Welt für sich, mit weit gespanntem Horizont: Da waren die so genannten Protestsongs, authentischer Blues, die allerschönsten Liebeslieder und zwischendurch mal etwas religiöser Kitsch. Auch das war verzeihlich. Kein Künstler ist immerzu auf gleicher Höhe. Nicht einmal diese mythische Gestalt.

Literaturnobelpreis – was soll’s?

Schon seit einigen Jahren ertönt die Forderung immer lauter, man möge ihm doch endlich den Literaturnobelpreis zuerkennen. Dann würde eine ganze Generation nicht nur ihn, sondern sich selbst feiern und abermals in „Forever Young“-Seligkeit schwelgen. Mit literarischen Legenden wie Rimbaud, Villon und William Blake hat man ihn vergleichen wollen, mit den Surrealisten, natürlich auch mit Dylan Thomas, von dem sich Dylans Künstlername herleitet. Und und und. Ganz ehrlich: Mir ist es einerlei, ob er den Nobelpreis erhält. Die meisten genialen Autoren haben ihn nicht bekommen.

Ist er nun in erster Linie Dichter oder Musiker? Auch das ist eine müßige Frage. All seine Antikriegs-, Liebes-, Freiheits- und auch Glaubensbotschaften sind zutiefst in seine Musik eingesenkt, diese hat ihren eigenen Goldstandard. Weil dann noch sinnstiftende (und kunstvoll sinnverweigernde) Poesie hinzu kommt und mit der Musik untrennbar verwoben ist, wird spätestens klar, dass Popmusik auf hochkulturelle Pfade führen kann. Doch wer wollte das noch bezweifeln? Derlei Debatten sind ja längst ausgestanden, nicht zuletzt dank Dylan.

Die endlose Tournee

Der nun doch schon etwas ältere Mann befindet sich weiterhin auf seiner „Never Ending Tour“, die er nur kurz unterbricht, um seinen Geburtstag zu feiern. Anschließend geht es wieder und wieder auf die Bühnen, derzeit kreuz und quer durch die USA. Wahrscheinlich hört er mit solchen Rundreisen erst auf, wenn sich eines seiner berühmtesten Lieder für ihn erfüllt: „Knockin’ on Heaven’s Door“.

Wer ihn je im Konzert erlebt hat, weiß, dass Dylan zwischen den Songs wahrlich nicht lange schwafelt, sondern nur die allernötigsten Ansagen macht. Wie seine Klassiker, die das Publikum immer und immer wieder hören will (am liebsten mit Mundharmonika), dann tatsächlich live klingen, das weiß man vorher nie.

Er richtet seine Kreationen stets wieder anders zu, zuweilen hat er sie den Zuhörern auch lustlos hingeworfen, als wären es wertlose Bruchstücke. Erwartungen zu bedienen, ist seine Sache noch nie gewesen. Ich hatte das Glück, bei seinen Auftritten auch erhabene, strahlende Momente wie für die Ewigkeit zu erleben. Naja, für die Lebzeiten-Ewigkeit. Und ein bisschen darüber hinaus.

Und er kann doch singen

Immer wieder haben Leute spöttisch behauptet, Bob Dylan könne nicht singen, sondern nur nuscheln und näseln. Das ist natürlich Quatsch. Er singt wie kein anderer, auf ureigene Art perfekt phrasiert und mit untrüglichem Gespür fürs richtige Wort im richtigen Augenblick. Er singt eben so, wie seine Songs gesungen werden müssen; auch dann, wenn er sie mal mit Ingrimm selbst verhunzt. Millionen haben es probiert, doch es ist blanker Unsinn, einen solchen Sound nachzuahmen. Es kann nie und nimmer gelingen. Und es geht bei all dem nicht um stimmliche Glockenreinheit.

Es gibt einen Film, der ein lang zurückliegendes Treffen zwischen Donovan (kürzlich 70 geworden) und Dylan zeigt. Irgendwo backstage spielen die beiden einander etwas vor. Zuerst Donovan. Sehr schön, fürwahr. Er war ja auch kein Stümper. Dylan selbst soll einmal gesagt haben, Donovan sei der bessere Gitarrist. Doch dann greift Dylan ungemein lässig zum Instrument – und vom ersten Ton an ist klar, dass seine Schöpferkraft, seine Präsenz und sein Charisma Donovans Habitus bei weitem übersteigen.

Welches sein allerbester Song sei? Darüber könnte man ebenfalls lange palavern. Ich halte es vor allem mit einigen früheren Titeln, darunter „Love minus Zero (No Limit)“, „All Along the Watchtower“, „Just Like a Woman“, „Shelter From the Storm“ oder „Lay Lady Lay“. Ach, jetzt könnte ich doch noch Dutzende nennen, nahezu unaufhörlich, aber ich lasse es bleiben. Wer will schon einzelne Sterne vom Firmament zupfen?




Versäumtes nachholen: Es ist niemals zu spät, die Songs von Nick Drake zu hören

So ist es üblich, so ist es Brauch: In den jugendfrischen Lebensphasen, da man sich stark und manchmal gar unverwundbar (zwischendurch freilich umso verwundbarer) fühlt, hört man auch am intensivsten Rock- und Popmusik. Das, was die eigene Generation anbetrifft, entgeht einem dabei erst recht nicht. Im Großen und Ganzen.

Carlos Bottelho: Porträt-Bildnis von Nick Drake (Mischtechnik auf Leinwand - Foto: Bottelho. Wikimedia Commons, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/)

Carlos Bottelho: Bildnis von Nick Drake (Mischtechnik auf Leinwand – Foto: Bottelho. Wikimedia Commons, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/)

Doch hie und da versäumt man wohl doch etwas und erfährt vielleicht erst Jahrzehnte später staunend davon. So erging es mir jetzt, als im Rahmen einer „Langen Nacht“ des Deutschlandfunks (Dank an die findigen Hörfunkleute!) ein paar Songs gesendet wurden, bei denen ich sofort aufhorchte. Das war ja wundersam zartsinnige, feinstens versponnene, ausgesprochen originelle Musik. Von wem stammte sie nur?

Hatte man die Ansage verpasst, musste man früher umständlich an die Stationen schreiben, um zu erfahren, wer da zu einer bestimmten Uhrzeit zu hören gewesen war. Längst vorbei. Heute ruft man die Playlist auf und erfährt’s mit allen wissenswerten Grunddaten. So auch jetzt.

Es war also ein gewisser Nick Drake. Kenner schnauben jetzt vielleicht verständnislos oder sogar verächtlich: „Waaaas? Den kanntest du nicht? Ich habe den schon immer…“ Na, und so weiter. Die ehrliche Antwort lautet: „Nein. Bisher habe ich ihn nicht gekannt.“

Dieser Nick Drake hatte – grob gerechnet – in meiner und für meine Generation Songs geschaffen, gespielt und gesungen; vielleicht auch nur für sich selbst. Jedenfalls fühlt sich dieses Verpassthaben sehr seltsam an. Habe ich ihn damals, zwischen all den anderen, nur nicht sonderlich wahrgenommen oder ist er mir wirklich völlig unbekannt geblieben?

Gewiss, er galt Zeit seines kurzen Lebens (1948-1974) als Geheimtipp und als „Musiker für Musiker“, doch gerade auf solche war man damals doch versessen und ist es noch heute.

Man mag nicht daran denken, was aus den vielen früh Verstorbenen geworden wäre – aus Jimi Hendrix, Jim Morrison, Janis Joplin, Keith Moon, Brian Jones, eben Nick Drake und einigen weiteren. Vielleicht sähen die gesamten Musiklandschaften (oder wenigstens deren aufregendste Gefilde) mit ihnen deutlich anders aus.

Nachruhm war dem melancholischen Gitarrenkünstler Nick Drake, der zusehends in heillose Depressionen gestürzt sein soll, immerhin beschieden. Auf einer 2003 von der führenden Musikzeitschrift „Rolling Stone“ erstellten Liste der 500 besten Alben aller Zeiten standen alle drei (!) Studio-LPs, die er jemals herausgebracht hat: „Five Leaves Left“, „Bryter Layter“ und „Pink Moon“. Diese drei Platten schafften es auch samt und sonders auf die Bestenliste des Buchs „1001 Albums You Must Hear Before You Die“.

„Before You Die…“ Es ist also noch nicht zu spät, diesen großartigen Singer-Songwriter nachträglich kennen zu lernen. Und jetzt bitte Ruhe. Ich habe zu lauschen.




In Gelsenkirchen Federn lassen: Die Kissenschlacht als (beinahe) neuester Schrei

Leute! Ihr seid in Disco-Schaumbädern versunken. Ihr habt euch über und über mit Farbe bepulvert – und was des Kitzels mehr war. Aber vergesst das alles. Schleunigst. Denn jetzt kommt der ultimative Kick, und der heißt:

Kissenschlacht !!!

Jetzt guckt ihr etwas enttäuscht und murmelt vielleicht, das sei doch ein Vergnügen aus Urgroßmutters Zeiten. Aber ihr ahnt ja gar nicht, wie krass das sein kann. Ihr habt ja noch nichts vom „Frau-Holle-Festival“ gehört, das am 2. Juli im Gelsenkirchener Amphitheater die hedonistisch enthemmten Massen begeistern soll. Ausgerechnet Gelsenkirchen…

Vielleicht doch nicht mehr ganz so neu? Diese öffentliche Kissenschlacht begab sich jedenfalls anno 2010 in Warschau. (Foto: Kuba Bozanowski from Warsaw, Poland - Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Vielleicht doch nicht mehr ganz so neu? Diese öffentliche Kissenschlacht begab sich jedenfalls anno 2010 in Warschau. (Foto: Kuba Bozanowski from Warsaw, Poland – Wikimedia Commons, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Voll des anspielungsreichen Sprachwitzes, lässt der Regionalverband Ruhr (RVR) in seinem Nachrichtendienst idr wissen, beim besagten Festival müssten „die Besucher Federn lassen“.

Tatsache ist wohl, dass DJs (wer sonst?) elektronische Tanzmusik (was sonst?) auflegen werden und es dazu im Publikum „gigantische“ Kissenschlachten geben soll. Wir zitieren: „Und damit die Federn so richtig fliegen, werden sie regelmäßig aus Kanonen abgefeuert.“ Ob man sich auch mit Wattebäuschen bewerfen wird, ist noch nicht heraus.

Um es passend altmodisch zu sagen: Heißa, das wird ein Hauptspaß!

Denn was gibt es da nicht noch alles: Eine Gauklerbühne (was sonst?), „mittelalterliche“ Musik (was sonst?), eine Märchenbühne und ein Märchenspiel (bilingualer Titel: „Escape the Märchenwald“). Mit anderen Worten: Es ist offenbar das soundsovielte Festival, das sich an den erstaunlich langlebigen „Mittelalter“-Trend hängt und selbigen Aufguss mit Elektro-Pop und Märchen verrührt. Das mit dem Abspielen der „altertümlichen“ Musik sehen die Veranstalter freilich als Novum an: „Mit Sicherheit etwas Besonderes und mal was anderes“. Aha.

Auf der Festival-Homepage spricht „Frau Holle persönlich“, beispielsweise so wundersam authentisch: „Hier habe ich mich mit meinen Waldgeistern zusammengetan…“ Oder: „Mit dabei sind natürlich auch meine Gauklerfreunde aus dem fernen Nordland.“ Klar, dass auch die Besucher möglichst verkleidet erscheinen sollen. Bloß raus aus der unübersichtlichen Gegenwart mit Wahnwitz-Kapitalismus, Flüchtlingskrise(n), Terror und Brexit.

Auf dem Gelände gilt folglich nicht der schnöde Euro, sondern man zahlt mit Silber- und Kupfertalern, für die man allerdings zuvor Euros ausgegeben hat. Frau Holle weiß auch schon, wie man sie nutzbringend verwenden soll: „…kostet von meinen Speisen und eiskalten Getränken.“ Außerdem lässt sie („in meiner kleinen Manufaktur“ – ach, wie süß!) Entenfeder-Kissen sonder Zahl herstellen – „extrem umweltfreundlich und biologisch abbaubar“, versteht sich. Schade nur, dass nicht auch sprachlicher Unrat biologisch abbaubar ist.

Apropos Kissen. In der Märchenwald-Regel Nummer 6 wird klargestellt: „Die Kissen dürfen nicht mit voller Wucht auf eine Person geschlagen werden.“ Kissenschlacht light also, gewaltfrei und womöglich nachhaltig.

Frau Holle kennt sich übrigens auch mit den Finten der Juristerei aus. Regel 5 lautet: „Sobald mein Festplatz betreten wird, gilt mein Foto- und Videorecht. Das bedeutet: sämtliches Material von dir darf ich für Werbe- und Promotionszwecke nutzen…“

Och. Das hört sich ja plötzlich gar nicht mehr so altfränkisch an.

www.frau-holle-festival.de




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Zum Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt

Durch eine Mitteilung des Schauspielhauses Bochum erfahren wir vom Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt, der jetzt mit nur 63 Jahren gestorben ist. Wir zitieren im Wortlaut:

„Das Schauspielhaus Bochum trauert um Wolfgang Welt.
Wolfgang Welt war seit 1991 Nachtpförtner am Schauspielhaus Bochum und allen hier arbeitenden Kolleginnen und Kollegen vertraut. Er war im besten Sinne des Wortes ein ,Original‘ des Hauses, jedem Künstler bekannt, umgeben von einer geheimnisvollen Aura, nicht ganz zu durchschauen, mal abweisend beobachtend, dann wieder gesprächig, offen und interessiert.
Vor seiner Tätigkeit als Nachtpförtner war Wolfgang Welt bereits als Journalist und Autor erfolgreich tätig. In den späten 1980er war er einer der wichtigsten Musikjournalisten des Reviers, schrieb für „Sounds“, „Marabo“ und „Musikexpress“. Danach begann er Romane zu schreiben und galt mit Büchern wie „Peggy Sue“, „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ oder „Doris hilft“ als Geheimtipp der deutschen Literatur-Szene. (…)
Wolfgang verstarb gestern Morgen nach kurzer schwerer Krankheit.
Wir werden ihn sehr vermissen.“

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Hier noch einmal ein Text über Wolfgang Welt, der am 23. November 2012 erstmals in den Revierpassagen erschienen ist:

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So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Neues Design der Hörfunk-Nachrichten auf WDR 2: Das Dudeln höret nimmer auf

Zugegeben: Auf die Hörfunkwelle WDR 2 komme ich sowieso nur noch selten zurück. Schon die Musik missfällt mir, sie besteht größtenteils aus dem allgegenwärtigen Hitparaden-Mainstream.

Überhaupt biedert man sich dort zunehmend dem angeblichen Mehrheitsgeschmack an. Nur gut, dass es noch WDR 5 und WDR 3 bzw. Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur gibt. Selbst WDR 4, wo sie früher hauptsächlich Schlager abnudelten, liegt mir mit seiner Rock- und Pop-Nostalgie inzwischen näher.

Tja. Welche Frequenz soll man denn nun einstellen? (Foto: BB)

Tja. Welche Frequenz soll man denn nun einstellen? (Foto: BB)

Aber das wollte ich gar nicht hauptsächlich erzählen, es ist nur der dauerhafte Hintergrund meines Ärgers. Vielmehr geht es um dies:

Bei den heutigen Morgennachrichten auf WDR 2 habe ich meinen Ohren nicht getraut. Das konnte doch nicht wahr sein, oder?

Da gab’s eine unsägliche Neuerung, die offenbar schon am letzten Wochenende eingeführt wurde, nämlich ein „Musikbett“, das den Hauptnachrichten jetzt permanent unterlegt wird. Das undefinierbare, absolut identitätsfreie Muzak-Gedudel oder auch Gesäusel wird also gnadenlos durchgezogen; ganz egal, welcherlei Nachricht gerade verlesen wird. Mord und Totschlag? Terrorattentate? Katastrophen? Völlig einerlei. Das Dudeln höret nimmer auf.

Immer wenn Sprecherin oder Sprecher die Stimme zwischen zwei Nachrichten senken und Luft holen, kommt einem diese erbärmliche, fluchwürdige Klanguntermalung plötzlich lauter vor. Zwischendurch wabert sie in einer enervierenden Endlosschleife.

Wer hat sich das nur einfallen lassen? Nun ja, man muss wohl nur schauen, wer an der Spitze des WDR-Hörfunks steht. Die Dame heißt Valerie Weber, kam vom Privatfunk (Antenne Bayern) und schickt sich seit einiger Zeit nachdrücklich an, unsinnige Gepflogenheiten aus den dortigen Sphären zu übernehmen. In manchen Punkten fällt es bereits schwer, WDR 2 noch zweifelsfrei als öffentlich-rechtlichen Kanal zu erkennen.

Was will man denn mit der neuen Aufmachung der Nachrichten bezwecken? Soll diese läppische Maßnahme jetzt Hunderttausende von zusätzlichen Hörer(inne)n anlocken? Oder soll sie auch nur das Stammpublikum bei Laune halten? Rätsel über Rätsel. Nur auf der Chefetage glaubt man die Lösung ganz genau zu kennen. Also wird nach Gusto umgemodelt und durchregiert.

Eines der Grundübel der Berufswelt ist ja ohnehin, dass neue Chefs/Chefinnen immer meinen, sie müssten das Rad noch einmal erfinden. Dann doktern und wurschteln sie haltlos am Vorhandenen herum – bis der nächste Boss wieder eine Kehrtwende ausruft. Beim Radio wird dann das Stations-Design abermals geändert. Nur zur Substanz geht’s wohl leider nicht mehr zurück.

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Nachtrag am 11. Juni: Offenbar setzt WDR 2 das Wabern jetzt – nach wenigen Tagen – „nur“ noch als akustische Trennung zwischen zwei Nachrichten ein und nicht mehr als permanenten Klangteppich. Das macht die Sache zwar nicht grundsätzlich besser, deutet aber auf eine Experimentierphase hin.

Und noch ein Nachtrag (14. Juni): Kann es sein, dass vormittags ein durchgehendes Musikbett läuft, nachmittags ein zwischendurch gedämpftes? Um das zu verifizieren, müsste man wenigstens einen ganzen Tag die Nachrichten auf WDR 2 durchhören. Das möchte ich mir nicht antun.




Seine Songs waren immer da – und das wird auch so bleiben: Bob Dylan zum 75. Geburtstag

Der Blick ins Rocklexikon bestätigt es: Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 geboren, er wird also jetzt 75 Jahre alt. Geburtsort war Duluth/Minnesota, danach wuchs Dylan – bürgerlich bekanntlich Robert Zimmerman(n) – in der Grubenstadt Hibbing auf. Er hat, wenn man so will, Wurzeln in einem Bergbau-„Revier“. Auch darüber hat er ja den einen oder anderen Song gemacht.

Doch wir wollen etwaige Analogien zum Ruhrgebiet nicht weiter treiben, es wäre lächerlich. Jedenfalls war Dylan durch solcherlei Herkunft wohl „geerdet“, er hat gewusst, wie gewisse Härten des Lebens sich anfühlen. Dass er hernach für die Schwachen und Erniedrigten Partei ergriffen hat, war nur folgerichtig.

Der Blick ins Plattenregal zeigt: Von keinem Künstler (ausgenommen Neil Young) habe ich so viele Platten und CDs wie von Bob Dylan. Warum wohl? Die Antwort drängt sich wiederum beim Blick ins eigene Innenleben auf. Seine Musik und seine Wesensart haben mich, wie so viele aus meiner Generation, durch all die Jahre und Jahrzehnte begleitet, mal inniglich, mal auf Hörweite, mal etwas entfernt. Manche seiner Songs waren und sind immer da. Und das wird so bleiben, selbst wenn eines Tages… Nein, ich mag nicht daran denken.

Ein paar Sachen aus dem Plattenregal. (Foto: BB)

Beispielsweise: ein paar Dylan-Sachen aus dem heimischen Plattenfundus. (Foto: BB)

Dabei habe ich seine Anfänge damals gar nicht wahrgenommen, sondern ihn erst auf dem Umweg über die Beatles (mein musikalisches „Erweckungs“-Erlebnis schlechthin), Stones, Small Faces usw. kennen gelernt, als auch er (1965 beim Newport Folk Festival) die elektrischen Verstärker einstöpselte. Was immer er getan hat, hat die Fans – so oder so – gleichermaßen bewegt und oft erregt, wie die Musikerkollegen. Er ist wahrscheinlich der einflussreichste Protagonist der populären Musik überhaupt.

Man hat dann halt mehr oder weniger andächtig nachgeholt, was Dylan vorher so fabriziert hatte. Es war eine vielfältige Welt für sich, mit weit gespanntem Horizont: Da waren die so genannten Protestsongs, authentischer Blues, die allerschönsten Liebeslieder und zwischendurch mal etwas religiöser Kitsch. Auch das war verzeihlich. Kein Künstler ist immerzu auf gleicher Höhe. Nicht einmal diese mythische Gestalt.

Literaturnobelpreis – was soll’s?

Schon seit einigen Jahren ertönt die Forderung immer lauter, man möge ihm doch endlich den Literaturnobelpreis zuerkennen. Dann würde eine ganze Generation nicht nur ihn, sondern sich selbst feiern und abermals in „Forever Young“-Seligkeit schwelgen. Mit literarischen Legenden wie Rimbaud, Villon und William Blake hat man ihn vergleichen wollen, mit den Surrealisten, natürlich auch mit Dylan Thomas, von dem sich Dylans Künstlername herleitet. Und und und. Ganz ehrlich: Mir ist es einerlei, ob er den Nobelpreis erhält. Die meisten genialen Autoren haben ihn nicht bekommen.

Ist er nun in erster Linie Dichter oder Musiker? Auch das ist eine müßige Frage. All seine Antikriegs-, Liebes-, Freiheits- und auch Glaubensbotschaften sind zutiefst in seine Musik eingesenkt, diese hat ihren eigenen Goldstandard. Weil dann noch sinnstiftende (und kunstvoll sinnverweigernde) Poesie hinzu kommt und mit der Musik untrennbar verwoben ist, wird spätestens klar, dass Popmusik auf hochkulturelle Pfade führen kann. Doch wer wollte das noch bezweifeln? Derlei Debatten sind ja längst ausgestanden, nicht zuletzt dank Dylan.

Die endlose Tournee

Der nun doch schon etwas ältere Mann befindet sich weiterhin auf seiner „Never Ending Tour“, die er nur kurz unterbricht, um seinen Geburtstag zu feiern. Anschließend geht es wieder und wieder auf die Bühnen, derzeit kreuz und quer durch die USA. Wahrscheinlich hört er mit solchen Rundreisen erst auf, wenn sich eines seiner berühmtesten Lieder für ihn erfüllt: „Knockin’ on Heaven’s Door“.

Wer ihn je im Konzert erlebt hat, weiß, dass Dylan zwischen den Songs wahrlich nicht lange schwafelt, sondern nur die allernötigsten Ansagen macht. Wie seine Klassiker, die das Publikum immer und immer wieder hören will (am liebsten mit Mundharmonika), dann tatsächlich live klingen, das weiß man vorher nie.

Er richtet seine Kreationen stets wieder anders zu, zuweilen hat er sie den Zuhörern auch lustlos hingeworfen, als wären es wertlose Bruchstücke. Erwartungen zu bedienen, ist seine Sache noch nie gewesen. Ich hatte das Glück, bei seinen Auftritten auch erhabene, strahlende Momente wie für die Ewigkeit zu erleben. Naja, für die Lebzeiten-Ewigkeit. Und ein bisschen darüber hinaus.

Und er kann doch singen

Immer wieder haben Leute spöttisch behauptet, Bob Dylan könne nicht singen, sondern nur nuscheln und näseln. Das ist natürlich Quatsch. Er singt wie kein anderer, auf ureigene Art perfekt phrasiert und mit untrüglichem Gespür fürs richtige Wort im richtigen Augenblick. Er singt eben so, wie seine Songs gesungen werden müssen; auch dann, wenn er sie mal mit Ingrimm selbst verhunzt. Millionen haben es probiert, doch es ist blanker Unsinn, einen solchen Sound nachzuahmen. Es kann nie und nimmer gelingen. Und es geht bei all dem nicht um stimmliche Glockenreinheit.

Es gibt einen Film, der ein lang zurückliegendes Treffen zwischen Donovan (kürzlich 70 geworden) und Dylan zeigt. Irgendwo backstage spielen die beiden einander etwas vor. Zuerst Donovan. Sehr schön, fürwahr. Er war ja auch kein Stümper. Dylan selbst soll einmal gesagt haben, Donovan sei der bessere Gitarrist. Doch dann greift Dylan ungemein lässig zum Instrument – und vom ersten Ton an ist klar, dass seine Schöpferkraft, seine Präsenz und sein Charisma Donovans Habitus bei weitem übersteigen.

Welches sein allerbester Song sei? Darüber könnte man ebenfalls lange palavern. Ich halte es vor allem mit einigen früheren Titeln, darunter „Love minus Zero (No Limit)“, „All Along the Watchtower“, „Just Like a Woman“, „Shelter From the Storm“ oder „Lay Lady Lay“. Ach, jetzt könnte ich doch noch Dutzende nennen, nahezu unaufhörlich, aber ich lasse es bleiben. Wer will schon einzelne Sterne vom Firmament zupfen?




Der Sound des Aufbruchs im Revier: Ruhr Museum zeigt 60 Jahre „Rock & Pop im Pott“

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Essens Kulturdezernent Andreas Bomheuer erinnert sich: Essener Songtage 1968, ein singuläres Ereignis in der neueren Musikgeschichte des Ruhrgebiets. Der legendäre Frank Zappa entstieg auf der Bühne einem Sarg und fragte das Publikum schlankweg: „How do you feel?“ Dann legte er los. – Bomheuer ist heute noch ergriffen von dem Moment: „So etwas vergisst man nie.“

Just in Essen, im Ruhr Museum auf dem Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein, schickt sich jetzt eine Ausstellung an, derlei kostbare Erinnerungen en gros zu wecken: „Rock & Pop im Pott“ erzählt die Geschichte der populären Musik im Revier über 60 Jahre hinweg. Dazu bietet man die immense Fülle von rund 1500 Exponaten auf (etwa die Hälfte davon Schallplatten).

Historischer Startpunkt sind die damals bundesweit beispiellosen Dortmunder Jugendkrawalle im Spätherbst 1956. Deutsche Radiosender spielten seinerzeit keinen Rock’n’Roll, also musste man sich die Schaffe im Kino „reinziehen“. Es lief der Film „Rock Around the Clock“ (deutscher Titel „Außer Rand und Band“) mit Bill Haley.

Dortmunder Jugendkrawalle

Nach dem Lichtspiel waren nahezu 2000 Jugendliche tatsächlich dermaßen aufgekratzt, dass gar Scheiben zu Bruch gingen – ein in jenen Jahren ungeheuerlicher Vorgang, über den etwa der „Spiegel“ breit berichtete und der schon die Energien ahnen ließ, die sich in dieser Musik Bahn brachen. Fotos und aufgeregte Zeitungsartikel erinnern daran. Interessanter Nebenaspekt: In den Anfangszeiten war – neben dem Kino – auch die Kirmes ein Ort, an dem Rock’n’Roll zur Geltung kam. Auch hier konnte man für ein paar Stunden aus der landläufigen Spießigkeit der Adenauer-Ära ausbrechen.

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Die Schau beginnt mit markanten Songzitaten und dem Durchgang durch einen Sound-Raum, in dem Highlights des Ruhrgebiets-Rock zur 15minütigen Bild- und Toncollage komprimiert sind. Eine Ausstellung über Musik geht halt nicht ohne Musik. Es ist freilich eine Gratwanderung: Man kann Rock & Pop zwar nicht nur in Vitrinen einsperren, doch andererseits muss man im Museum weit übers bloße „Zuballern“ mit Musik hinaus gelangen.

Sperrholzkisten-Ästhetik

Das Rock-Spektrum im Westen der Republik reicht von Nena bis Herbert Grönemeyer, von Phillip Boa bis Extrabreit (die heute zur längst überbuchten Eröffnung der Ausstellung spielen), von Franz K. bis Geier Sturzflug, von Grobschnitt bis Bröselmaschine. Auch die Humpe-Schwestern Inga und Annette stammen aus dem Ruhrgebiet, genauer: aus Hagen. Die berühmte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“ brachte ein neues Selbstbewusstsein zum Ausdruck.

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe "The Kepa Beatles" in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe „The Kepa Beatles“ in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

Nach dem akustischen Einstieg wird man über einen Boden mit starken Farben (nach passender Maßgabe der Pop Art) durch die Jahrzehnte geleitet, unterwegs waltet eine dem Gegenstand angemessene Sperrholzkisten-Ästhetik. Bloß nicht zu schick und gediegen werden, lieber ein wenig „schmutzig“ bleiben! Einige Seitenkabinette vertiefen die Themen des Hauptstrangs, da geht es beispielsweise um veränderte Tanzstile und vielfach ausdifferenzierte Moden.

Das Team unter Leitung des Museumschefs Prof. Heinrich Theodor Grütter hat kaum eine Facette ausgelassen, die Ausstellung entfaltet ein wahres Kaleidoskop, sie trumpft hie und da mit raumgreifenden „Leitobjekten“ (Kinokasse, Jukebox, Synthesizer) auf, lässt aber nebenher auch manche Zwischentöne anklingen.

Wenn Rock historisch wird

Grütter hält dafür, dass eine solche Ausstellung erst jetzt wirklich sinnvoll sei, weil nun manche Entwicklungen abgeschlossen und somit „historisch“ sind. Mitten im Strom der Ereignisse wäre eine museale Aufarbeitung kaum möglich gewesen. Am Konzept beteiligt war übrigens das Dortmunder Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet. Eine Einrichtung, die sicherlich größere Beachtung verdient.

"Schmutzige" Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von "Eisenpimmel". (Ruhr Museum)

„Schmutzige“ Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von „Eisenpimmel“. (Ruhr Museum)

Zur besseren Gliederung gibt es eine Außen- und eine Innenperspektive, sprich: Hier geht es sowohl um Gastspiele internationaler Rock- und Pop-Stars im Revier, allen voran Beatles (25. Juni 1966) und Stones (12. September 1965) in der Essener Grugahalle, als auch um die zahllosen Bands, die im Ruhrgebiet selbst entstanden sind.

Heinrich Theodor Grütter selbst erinnert sich gern an die Jungs aus seiner Heimatstadt Gelsenkirchen, die als „German Blue Flames“ Furore machten und als eine der ganz wenigen deutschen Gruppen im „Beat Club“ des Fernsehens spielen durften.

Zu großen Teilen ist die Ausstellung eine Angelegenheit für „Best Agers“, wie Grütters selbstironisch anmerkt. Erkennbar ist aber auch das Bemühen, denn doch ein paar jüngere Leute aufs Zollverein-Gelände zu locken, beispielsweise durch Live-Konzerte und musikalische Workshops.

Hymnen aufs Revier

Hunderte, ja Tausende Formationen sind seit Ende der 50er Jahre im Revier entstanden. Zunächst spielten sie Rock’n’Roll und Beat, es folgten z. B. Protestlieder, Krautrock, Neue Deutsche Welle, Punk und Heavy Metal, schließlich Techno und HipHop, wobei in letzterer Stilrichtung Migranten den Ton angeben. Gar nicht mal so erstaunlich: Von den Kindern der Zugewanderten stammen, wie Experten versichern, neuerdings auch die treffendsten „Hymnen“ aufs vielfach geschundene Revier.

Eine regional zugespitzte These der Schau lautet, dass das proletarisch geprägte Revier für Beatmusik fast so prädestiniert gewesen sei wie die Gegend um Liverpool. Immerhin hat ja der Dortmunder Manfred Weissleder den Star Club in Hamburg gegründet, in dem die Beatles frühen Ruhm erlangten. Auch in späteren Jahrzehnten kann man dem (zuweilen rebellischen) Geist der Ruhrregion nachspüren. So hat das einst stählerne Industriegebiet buchstäblich seine eigenen Spielarten des Heavy Metal hervorgebracht.

Weitere Leihgaben gesucht

Die Essener haben den strammen Ehrgeiz, möglichst die gesamte Band-Landschaft des Ruhrgebiets zu kartographieren. Bereits jetzt zeugen über 700 Tonträger-Exponate von ungeheurer Vielfalt. Und die bis Februar 2017 dauernde Schau soll unentwegt wachsen: Wer selbst noch dergleichen Schätze hortet, soll sich melden und womöglich zum Leihgeber werden. Auch Bands, die schon Tonträger veröffentlicht haben (im Zweifelsfalle reichen Demo-Kassetten), werden aufgefordert, Laut zu geben. Das Ganze könnte zur Unternehmung von geradezu enzyklopädischen Ausmaßen anschwellen…

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs "Fantasio", 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs „Fantasio“, 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Man sollte sich jedenfalls für diese Schau reichlich Zeit nehmen, am besten (ganz im Sinne der Veranstalter) mehrmals kommen, sonst entgehen einem vielleicht Feinheiten wie etwa die Catering-Listen von Rockstars (welchen Saft wollten sie trinken?) oder rare Plakate wie jenes der vom Niederländer Ruud van Laar begründeten Dortmunder Kultstätte „Fantasio“ von 1971, das einen Auftritt des famosen Gitarristen Rory Gallagher avisierte. Oder ein hübsches Detail auf dem Plakat von 1967, das die Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle ankündigte und den Eintrittspreis mit schlappen 7 Mark angibt. Man vergleiche, was heute für die Crew von Mick Jagger aufgerufen wird.

Königsweg der Kultur

Rock & Pop haben auch im Revier etliche neue Auftrittsorte (neudeutsch Locations) entstehen lassen, dies ist natürlich gleichfalls Thema im Ruhr Museum, ebenso wie Fanzines, Szene-Zeitschriften und Devotionalien, das technische Equipment (vor allem zahlreiche Gitarren) oder die großen Festivals von „Rockpalast“ bis „Juicy Beats“, wobei die in Duisburg katastrophal beendete Loveparade nur diskret gedämpft zur Sprache kommt.

Glasklar wird allerdings, dass die anfangs so misstrauisch beäugte und niedergehaltene Rock- und Popkultur in den letzten Jahrzehnten recht eigentlich der Haupt-und Königsweg der Kultur gewesen ist. Wer damals jung war, hat es eh im Innersten gespürt.

„Rock & Pop im Pott“. 5. Mai 2016 bis 28. Februar 2017. Geöffnet Mo-So 10 bis 18 Uhr. Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (Gebäude A 14), kostenlose Parkplätze A 1 und A 2, Zufahrt über Fritz-Schupp-Allee. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de Audioguide 3 Euro. Katalog 304 Seiten, 33 Abbildungen (Klartext Verlag) 24,95 Euro. Info-Telefon/Buchung von Führungen: 0201 / 24 681 444.




Zeitlose Kultband „Element of Crime“ machte im Münsteraner „Jovel“ ihren Job

„Wenn der Wolf schläft, müssen alle Schafe ruhen“ – ist das neue „Wenn der Kuchen spricht, schweigt der Krümel“, nur nachdrücklicher. Dieser Songtitel scheint das derzeit beliebteste Zitat bei den Bandmitgliedern von „Element of Crime“ zu sein. Schon im letzten Jahr wurden müde Tatort-Zuschauer damit aus ihrem verkaterten Neujahrs-Dämmerschlaf gerissen, die Webseite der Band macht damit auf und betritt man eine EoC-Konzert-Location, ist das Erste, was man sieht, Klamottage mit diesem Spruch.

Element of Crime gastierten am Donnerstag in Münsters nach wie vor famoser Music-Hall Jovel; nicht ohne vor dem eigentlichen Konzertbeginn einer hoffnungsvollen Nachwuchsband die Chance des Vorgruppen-Acts zu geben. Bei der aktuellen Tour ist es „Von Wegen Lisbeth“ aus Berlin, die zunächst einmal den Altersdurchschnitt in der Halle rapide senkte, vor allem aber mit funkigem Indie-Pop und rasantem Instrumentenwechsel gut ankam. Durchweg „nice“ wie die Jungs wohl selber sagen würden, folgt man ihrem amüsanten Tourblog.

Die Bühne für die Elements ist danach gut bereitet. Die Combo, nach dem gleichnamigen Kultfilm von Lars von Trier benannt, hat einen sehr eigenen und auch einzigartigen Stil in der deutschen Singer-Songwriter-Szene etabliert und das Kunststück fertig gebracht, gleichermaßen vom Publikum und vom Feuilleton gefeiert zu werden.

Melancholisch, aber nicht düster

Die Stücke leben musikalisch von einem unaufdringlichen, aber stets zielsicher führenden Rhythmus, den bei Indie-Gruppen üblichen schrammelnden Gitarren und den Bläser-Elementen, die einen an Wim-Wenders-Engel denken lassen – und natürlich von der rauen, man möchte fast sagen verlebten Stimme des Frontmanns Sven Regener, die auch zunächst „unsingbar“ wirkende Texte berührend zu intonieren weiß. „Element of Crime“ sind im besten Sinne eine zeitlose Kultband mit einer treuen Fangemeinde. Auf ihrer Homepage bezeichnen sie sich selbst als Melancho-Rocker, das trifft es ganz gut. Melancholisch, aber nicht düster, sondern hoffnungsfroh.

Das Spannendste an den Stücken sind die großartigen Texte. Bei Sven Regener stellt sich sowieso allenfalls die Frage: Mag man seine Bücher lieber oder doch seine Songtexte? Seine Texte handeln von den Mysterien des Alltags und was sie mit den Menschen machen. Aus alltäglichen, jedermann bekannten Situationen zieht Regener ganz erstaunliche Rückschlüsse, die einen in einer merkwürdigen Gefühlsgemengelage zwischen verzaubert und verstört zurücklassen. Selbstironisch wird Weltfremdheit absichtlich zelebriert, obwohl die Musiker ganz genau wissen, wie es läuft.

Das perfekte Liebeslied

Betroffenheits-Rock und politische Statements findet man so gut wie nie. Wobei die Darbietung des Titels „Draußen vor dem Fenster“ aus dem Jahr 1993 gerade vor dem Hintergrund aktueller Geschehnisse erschreckend aktuelle Assoziationen heraufbeschwor. Und immer wieder ist natürlich Liebe ein Thema, Liebe und ihre Ausweglosigkeit. Liebe kann man nicht erklären, aber beschreiben kann man sie. Vor allem Sven Regener kann das, im Herzen vermutlich ein ungebrochener Romantiker. „Am Ende denk ich immer an Dich“ ist das perfekte Liebeslied. Alleine dafür gebührt den Elements ewiger Dank.

Die vier Stamm-Musiker (Regener, Jakob Ilja, David Young und Richard Pappik) werden bei der aktuellen Tour wie schon im Vorjahr von Rainer Theobald (Klarinette, Saxophon) unterstützt. Alle sind sehr gute Musiker, die auf der Bühne einen ausgezeichneten Job machen. Aber es schleicht sich der Eindruck ein, dass es genau das ist, was sie da machen: ein Job. Ausgezeichnet zwar, aber trotzdem ein Job.

Keine Überraschungen

Übertriebene Nähe zum Publikum gehört definitiv nicht zum Grundanliegen der Musiker, um es vornehm auszudrücken. Was nicht weiter schlimm ist. Aber worauf sich der geübte Rockkonzert-Gänger doch vor einem Konzert freut, sind Überraschungen. Neu-Interpretationen, Zusätze, verlängerte Soli bei den Stücken. Bei Element of Crime bedauerlicherweise Fehlanzeige. Geboten wird seltsam unbeteiligte Perfektion, nur ganz selten unterbrochen von einer zu hohen Aussteuerung, die leider gerade der Stimme Regeners nicht gut bekommt.

Die Darbietung auf der Bühne ist an Statik nicht zu überbieten und macht es schwer bis unmöglich, alle Musiker wenigstens einmal in Augenschein zu nehmen. Hat man einen blöden Platz und richtet sich der Vordermann plötzlich zu ungeahnter Körpergröße auf, hat man eben einen blöden Platz und Ende. Wer darauf hofft, dass das ein oder andere Bandmitglied mal seine Position verändert, der hofft vergebens. Bei Sven Regener wird es wohl der Tatsache geschuldet sein, dass er auf der Bühne den mit Abstand stressigsten Job macht. Dauernd zwischen Trompete und Gesang nahezu übergangslos wechselnd, maximal einen Atemzug lang Zeit, Luft zu holen. Dass er da nicht den Tanzbären gibt und Ansagen macht, die „kein Mensch braucht“ (O-Ton Regener), sieht man sogar ein.

Entlassen wurde das Publikum mit der inoffiziellen Hymne der norddeutschen Tiefebene („Delmenhorst“) und der erleichternden Beobachtung, dass keine E-Gitarren-Aufhängung gerissen ist. Es gab wohl genug Craft-Bier samt altmodischer Gummidichtungen*. Das freut dann doch.

„Element of Crime“ tourt in diesem Jahr noch außerordentlich fleißig. Termine auf der Homepage der Band.

(* bezieht sich auf ein in dieser Woche in der FAZ erschienenes „Bier-Dramolett“ von Sven Regener)




Vieles von allem: Das Theater Dortmund präsentiert sein Programm für 2016/2017

Schauspielhaus Dortmund

Hier wird derzeit renoviert – und alle hoffen, daß es pünktlich sein Ende hat: Das Theater Dortmund (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Die längste Theaterveranstaltung in der kommenden Spielzeit ist ein „54 Stunden Night Club“ im Megastore. Beginnend Freitag, 21. Oktober, und endend am Sonntag, 23. Oktober, will das Dortmunder Schauspiel – hoffentlich! hoffentlich! – Abschied nehmen von seiner provisorischen Spielstätte im Gewerbegebiet an der Nortkirchenstraße.

Das setzt natürlich voraus, daß dann die Renovierungsarbeiten im Großen Haus beendet sind. Dort, im Großen Haus, soll sich erstmalig wieder am 10. Dezember der Vorhang für Bert Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ heben, Regie führt der 1967 geborene Sascha Hawemann, von dem in Dortmund bereits als Regiearbeit das Familiendrama „Eine Familie (August: Osage County)“ zu sehen war.

Fünf Sparten machen Betrieb

Das Theater Dortmund, mit seinen fünf Sparten Ballett, Philharmoniker, Oper, Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater doch ein recht machtvoller Kulturbetrieb, hat seine Pläne für 2016/2017 vorgestellt. Ein aufwendig gestaltetes Spielzeitheft (eigentlich eher ein Buch) faßt all die Pläne und Termine faktenreich zusammen, und Bettina Pesch, die Geschäftsführende Direktorin, weist nicht ohne Stolz darauf hin, daß dieses Buch den Etat nicht belastet hat, sondern ausschließlich aus Mitteln von Kulturstiftern bezahlt werden konnte. Das ändert allerdings, kleiner Schmäh am Rande, nichts daran, daß der optische Auftritt des Theaters Dortmund, seine, wie man heute gern sagt, „Corporate Identity“, dringend einer Auffrischung, besser noch einer ziemlich grundlegende Modernisierung bedarf.

Der optische Auftritt ist reichlich angestaubt

Die Grundfarbe Orange war in den 80er Jahren modern (zusammen mit Braun und Olivgrün, in wild wogenden Tapetenmustern), erbaut heutzutage aber bestenfalls noch patriotisch gestimmte Holländer; die fette Schrift von Typ Helvetica sowie die vor allem im Konzertbereich immer noch gepflegte Kleinschreibung von Hauptwörtern sind Moden der 60er Jahre, die andernorts längst überwunden wurden und keine Nostalgiegefühle hervorrufen. Für ein fortschrittliches Haus ist dieser Auftritt schlicht kontraproduktiv.

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Im Schauspielhaus. (Foto: Sascha Rutzen/Theater Dortmund)

Revolutionär und globalisierungskritisch

Wenden wir unseren Blick nun auf das Schauspiel, das sich, je nach dem, mal revolutionär, mal doch zumindest globalisierungskritisch gibt. Revolutionär startet es in die Spielzeit, wenn man den Stücktitel wörtlich nimmt. Doch auch wenn Joël Pommerats „La Révolution #1 – Wir schaffen das schon“ mit der französischen Revolution mehr zu tun hat als vor einigen Jahren sein Erfolgsstück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ mit Korea, bleibt noch Platz für Menschliches, Privates, was diesen Abend in der Regie von Ed Hauswirth hoffentlich vor der Tristesse des freudlosen Historiendramas bewahren wird. Um die französische Revolution geht es aber wirklich: „Schloß Versailles, 1787. König Louis XVI hat die wichtigsten Adeligen seines Landes zusammengerufen…“ beginnt der Ankündigungstext. Also schau’n wir mal – auch, was die Ereignisse von einst den Heutigen noch sagen können. Übrigens ist auch „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ im Programm, Premiere am 8. April 2017 im Schauspielhaus, Regie Paolo Magelli.

Der lange Schatten Michael Gruners

An Horváth, sagt Schauspielchef Kay Voges, habe man sich in seiner Intendanz für Jahre nicht herangewagt, weil die Horváth-Kompetenz seines Vorgängers Michael Gruner so übermächtig gewesen wäre. Oder zumindest diesen Ruf hatte. Nun aber gibt es doch einen: „Kasimir und Karoline“, ab 18. September im Megastore und in der Regie von Gordon Kämmerer.

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Markant: Das Opernhaus (Foto: Philip Lethen/Theater Dortmund)

Zu Gast bei den Ruhrfestspielen

„Die Simulanten“, die Philippe Heule erstmalig ab dem 23. September im Megstore auftreten läßt, können vorher schon bei den Ruhrfestspielen besichtigt werden, nämlich am 7., 8. und 9. Juni. Nach gefühlten 150 Jahren gibt es tatsächlich eine Kooperation von Recklinghausens Grünem Hügel und dem Theater Dortmund, was trotz der räumlichen Nähe doch eine Win-Win-Situation zu sein scheint. Die Dortmunder können sich einem anderen Publikum präsentieren, das Festival sichert sich eine Produktion von größter Aktualität. Denn Philippe Heudes Simulanten sind mit ihren Fernbeziehungsneurosen, ihrer Therapiegläubigkeit und ihrer Angst vor dem Konkreten wohl recht typisch für die Jetztzeit. Auch ihr Unbehagen in der Welt ist es, also am besten schnell einen UN-Weltklimagipfel abhalten. Nur als Simulation natürlich.

Rimini Protokoll kurvt durch das Ruhrgebiet

Was haben wir noch? Das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll verlegt seine Truck Track Ruhr Nummer 4 ins Dortmunder Stadtgebiet („Album Dortmund“) und tüftelt zusammen mit Dortmunder Theaterleuten aus, wo genau es langgehen soll. Übrigens begegnet man den Truck Tracks Ruhr auch bei den Ruhrfestspielen und bei der Ruhrtriennale, sie kommen halt viel rum und sind, wie man sieht, überaus kontaktfreudig. Was dort konkret passiert? Den Beschreibungen nach – ich war noch nicht dabei – werden maximal 49 Zuschauer auf einem überdachten Lkw zu markanten Punkten gefahren, die sie mit Musik und künstlerischer Intervention intensiv erleben. Gute Reise!

Häßliche Internationalisierung

Interessant in des Wortes höchst ursprünglicher & positiver Bedeutung klingt, was uns in „Die schwarze Flotte“ erwartet. Dieser „große Monolog“ (Voges) „von Mike Daisey nach einer Recherche von Correct!v“ blickt sozusagen in die Abgründe der internationalen Seeschiffahrt, die mit beängstigendem Gleichmut Rohstoffe, Öl und Handelswaren, Waffen, Drogen, Flüchtlinge und Arbeitsmigranten über den Globus transportiert. Zu wessen Nutzen? Das Stück verspricht Antworten, Regie führt Hausherr Kay Voges.

Von Franz Xaver Kroetz gibt es „Furcht und Hoffnung in Deutschland: Ich bin das Volk“, entstanden in den 80er und 90er Jahren (Regie: Wiebke Rüter), von Kay Voges einen Film zum Flüchtlingselend dieser Welt und Europas Abwehrhaltung dazu („Furcht und Ekel in Europa“, Premiere im Dezember 2016).

Wolfgang Wendland Ekkehard Freye Julia Schubert

Manchmal kommen sie wieder: „Die Kassierer“ mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland, hier noch bei „Häuptling Abendwind“ zu sehen, sind demnächst „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Kassierer“ kommen wieder

Bevor die Punk-Greise „Die Kassierer“ (wieder im Unten-ohne-Look?) mit der Punkoperette „Die Drei von der Punkstelle“ der Spielzeit 2016/2017 ihren krönend-krachenden Abschluß verleihen werden, wartet das Programm noch mit einer besonderen „Faust“-Adaption auf („Faust At The Crossroads“, Regie Kay Voges), einem neuen Stück der Theaterpartisanen („Übt das Unerwartete“), einem Stück über die islamistische Radikalisierung junger Männer („Flammende Köpfe“ von Arne Vogelsang) und einem „Live-Animationsfilm von sputnic nach dem gleichnamigen Roman von Paul Auster“: „Mr. Vertigo“. Und was der Hausherr in der Oper veranstaltet, wird ein paar Absätze später erzählt.

Internetreinigung

Zuvor jedoch einige Worte über „Nach Manila – Ein Passionsspiel nach Ermittlungen auf den Philippinen von Laokoon“. Hier bekommt Globalisierungskritik ein Gesicht, genauer ihrer viele, Millionen, täglich. Es geht um die 350 Millionen Fotos, die täglich auf Facebook hochgeladen werden, die 80 Millionen auf Instagram, die 400.000 täglichen Videostunden bei Youtube. Auf den Philippinen ist es der Job vieler vorwiegend junge Menschen, diese Material auf unzumutbare Pornographie, Brutalität, Grausamkeit und so fort zu sichten und alles zu löschen, was der Kundschaft im reichen Norden des Planeten nicht zuzumuten ist.

Warum Philippinos? Weil sie, so wird behauptet, überwiegend katholisch sind und nordwestliche Moralvorstellungen sich weitgehend mit den ihren decken. Vielleicht aber auch nur, weil ihre Arbeit spottbillig ist. Jedenfalls interessiert es die weltweit agierenden Internetkonzerne nicht sonderlich, wie die Menschen in derart belastenden Jobs zurechtkommen. Schlecht, behauptet das Stück in der Regie von Moritz Riesewieck. Ich bin gespannt.

Kay Voges inszeniert Wilson-Oper

Ein kurzer Blick nun auf das Programm der Oper, wo wiederum Schauspielchef Kay Voges gesichtet wird. Er führt Regie in „Einstein on the Beach“ von Robert Wilson und dem weltberühmten Musikminimalisten Philip Glass. Es ist die erste Bühnenfassung, die nicht Großmeister Wilson selbst gestaltet. „Nein“, bestätigt Opernintendant Jens-Daniel Herzog, es gibt keine Inszenierungsvorschriften, keine Auflagen, das Stück à la Robert Wilson auf die Bühne zu stellen. Florian Helgath hat die musikalische Leitung, das Chorwerk Ruhr wirkt mit und man hat den Eindruck, daß dies ein schöner Abend werden kann (erstmalig am 23. April 2017).

Der Opernball fällt aus, dafür gibt es am 9. Januar eine konzertante „Fledermaus“. Nicht fehlt „Die Zauberflöte“, nicht „Otello“ doch sind auch Andrew Lloyd Webber und Paul Abraham zugegen, mit dem Musical „Sunset Boulevard“ der eine, mit der Jazz-Operette „Die Blume von Hawaii“ der andere. Und jetzt höre ich auf, Opern-Facts zu reihen und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß mein geschätzter Kollege S. sich dieser Aufgabe hingebungsvoll hingibt.

Lüner Solistin Mirijam Contzen im philharmonischen Konzert

Gleiches gilt für die Konzertreihen, an denen stark beeindruckt, daß sie alle schon bei der ersten Präsentation des Programms bis zur Zugabe (Scherz!) durchgeplant sind. Träume und Phantasien, so Generalmusikdirektor Gabriel Feltz, seien so etwas wie das Leitmotiv der kommenden Saison, die seine vierte in Dortmund sein wird. Übrigens wird beim 8. Konzert am 9.und 10. Mai 2017 die Geigerin Mirijam Contzen zu hören sein, die in Lünen aufwuchs und seit etlichen Jahren das Musikfestival auf Schloß Cappenberg leitet (das in diesem Jahr wegen Renovierung des Schlosses ausfällt). Mittlerweile zählt sie zu den Großen der internationalen Solistenszene. In Dortmund wird sie in Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur op. 35 zu hören sein.

Open Air auf dem Friedensplatz

Und endlich gibt es Open Air Klassik auf dem Dortmunder Friedensplatz! Der Cityring macht’s möglich (und verkauft die Eintrittskarten). Am Freitag, 26. August, startet die vierteilige Reihe mit einer Sommernacht der Oper, mit La Traviata und Zigeunerchor (heißt nun mal so). Am darauffolgenden Samstag ist unter dem Titel „Groove Symphony“ „ein perfekter Mix aus Soul, Elektro, Klassik und Hip Hop“ zu hören, die Gruppe Moonbootica und Philharmoniker spielen gemeinsam auf.

Sonntag ist dann um 11 Uhr Familienkonzert unter dem Titel „Orchesterolympiade“ Musiker im Trainingsanzug treten an zum Höher, Schneller, Weiter der Instrumente, und am Pult steht Gabriel Feltz höchstselbst. Na, das wird was werden. Abends dann schließlich die Musicalgala „A Night full of Stars“. Es dirigiert Philipp Armbruster, es singen Alexander Klaws, Patricia Meeden und Morgan Moody.

NRW Theatertreffen Juni 2014

Schauspielhaus (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Schwanensee ist wieder da

Und jetzt gucken wir noch kurz, was Ballettdirektor Xin Peng Wang anzubieten hat. Bei seinen Premieren gibt es einen „Faust II – Erlösung“, und bei den Wiederaufnahmen „Faust I – Gewissen!“. „Schwanensee“ kommt wieder, und von besonderer Delikatesse ist sicherlich die Präsentation dreier Choreographien von Johan Inger, Richard Siegal und Edward Clug unter dem Titel „Kontraste“. An zwei Wochenenden (24./25.9.2016, 24./25.6.2017) spenden die Ballettgalas XXIV und XXV (also 24 und 25) Glanz. Und wie immer gilt besonders für das Ballett der Rat: Man mühe rechtzeitig sich um Karten, denn allzu schnell sind sie vergriffen.

Weihnachten wird es eng im Kinder- und Jugendtheater

Zu guter Letzt das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das sich tapfer und mit Erfolg bemüht, alle Kinder zu erreichen, auch die benachteiligten, und dessen Produktionen sich immer auch um Solidarität, Fairneß und Gerechtigkeit drehen. In „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel gehen „ein Hoch- und ein Tiefbegabter“ (KJT-Chef Andreas Gruhn) auf erfolgreiche Verbrecherjagd, ein bißchen so wie weiland Kästners „Emil und die Detektive“. Jörg Menke-Peitzmeyers „Strafraumszenen“ drehen sich um Fußball und Rassismus, es gibt ein Flüchtlingsprojekt („Say it loud II – Stories from the brave new world“) und im Sckelly etwas für Kinder ab 4 Jahren („Dreier steht Kopf“ von Carsten Brandau).

Das Weihnachtsstück heißt „Der falsche Prinz“, Andreas Gruhn schrieb es nach der Vorlage von Wilhelm Hauff. Uraufführung ist am 11. November, und dann wird gespielt und gespielt und gespielt. Leider aber nicht im Großen Haus, denn das wird ja renoviert. An der Sckellstraße aber sind die Plätze knapp, nur zwei Drittel der sonstigen Menge stehen zur Verfügung.

Auslastung lag bei 73,1 Prozent

Viel Theater. Viel Oper, viel Ballett und viel Konzert. Und in Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Hagen, um nur die nächstliegenden städtischen Bühnen der Umgebung zu nennen, gibt es auch attraktive Angebote. Da muß man sich strecken, wenn man mithalten will. 73,1 Prozent durchschnittliche Auslastung aller Veranstaltungen hat Bettina Pesch ausgerechnet, Gabriel Feltz hält eine Zielmarke von 80 Prozent für realistisch. Und dann wäre statistisch gesehen ja immer noch Luft nach oben. Jedenfalls lasten im Moment keine lähmenden Sparzwänge auf dem Dortmunder Theater. Und das ist auch gut so.

Wer jetzt noch mehr wissen möchte, sei auf die Internetseite des Dortmunder Theaters verwiesen: www.theaterdo.de

Die neuen Programmbücher, in denen alles steht, liegen an der Theaterkasse im Opernhaus aus und können kostenlos mitgenommen werden.

 




Randale für den Rapper

Dies vorangeschickt: Mit Rap habe ich so gut wie nichts im Sinn, noch weniger mit Gangsta-Rap. Das ist auch, aber nicht nur eine Generations- und Schichtenfrage. Ich mag nicht glauben, dass Musik zur Feier von Gewalt und Verbrechen erfunden wurde. Auch besinnungsloses Auskotzen ist nicht ihr Wesenskern.

Nun aber konkreter: Einer dieser Typen, die für eine leider ziemlich zahlreiche Anhängerschaft als Gangsta-Rapper posieren, nennt sich Kurdo. Sein äußerst schmales Textrepertoire kreist kraftwortreich um Phantasien wie („sinn“-gemäß) „Ich-bin-ein-richtiger-harter-Verbrecher-ihr-alle-seid-schwule-Weicheier-mit-Scheiß-Abitur“ sowie „Ich **ck deine Mutter, ich **ck deine Schwester“. Also richtig bodenloser Mist der weithin üblichen Art.

Zu einer Autogrammstunde dieses begnadigten, äh ich meine natürlich begnadeten Künstlers hatte ein Saturn-Markt im Dortmunder Vorort Eving eingeladen. Es erschienen rund 4000 (!) Fans und es kam zu heftigen Tumulten, die ein polizeiliches Großaufgebot erforderten. Leute, die bedeutend näher dran waren, sagen, dass die Polizei strategisch überfordert war.

Die Autogrammstunde fand schließlich nicht statt, sie soll aber angeblich nachgeholt werden. Warum eigentlich? Soll die wahrlich anderweitig schon mehr als genug geforderte Polizei abermals kostspielig und riskant eingreifen müssen, damit dieser längst zum Kommerz-Heini mutierte Ghetto-Brüller noch mehr Publicity bekommt? Gut denkbar, dass Kurdo und seine Spießgesellen jede Randale als willkommene Werbung bejubeln. Aus diesem Grund scheut man sich ja schon, ihn überhaupt zu erwähnen. Aber sei’s drum.

Anderntags musste dann auch in Hamburg die Polizei einschreiten, als Kurdo auftauchte. Und es waren beileibe nicht die ersten Vorfälle dieser Art. Schön wär’s, wenn man Kurdo, den Veranstaltern und/oder Managern die Kosten der Polizeieinsätze in Rechnung stellen könnte. Dann müsste er noch ein paar Verbrecher-Liedchen mehr singen.

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P.S.: Wenn wir schon beim Thema sind: Ja, ich bin auch dafür, die Bundesliga-Vereine an den Kosten für Polizeiaufgebote wenigstens zu beteiligen.




Ungemein wandelbar, unstillbar neugierig – zum Tod von David Bowie

Als er neun Jahre alt war, hatte er eine Begegnung mit „Gott“, wie er es später beschrieb. Der kleine David Robert Jones aus Londons Stadtteil Brixton hörte Little Richards Version von „Tutti Frutti“ verzückt rauf und runter – und war seinem Vater Haywood endlos dankbar, dass der ihm die Rille geschenkt hatte.

Im Klang von Little Richards Stakkato erwachten der Sinn für die Musik, die Kreativität, das Sinnliche am Machbaren beim Jungen, aus dem später David Bowie werden sollte. Er wurde zur Ikone des Pop und zu einem Künstler, dessen Einfluss auf die Entwicklung des Genres ungeheuer wurde. David Bowie, das Multitalent mit dem androgynen Äußeren, ist jetzt mit 69 Jahren an Krebs gestorben.

David Bowie am 8. August 2002 bei einem Auftritt im Tweeter Center (Tinley Park bei Chicago). (Foto: Adam Bielawski/Wikipedia Commons)

David Bowie am 8. August 2002 bei einem Auftritt im Tweeter Center (Tinley Park bei Chicago). (Foto: Adam Bielawski/Wikipedia Commons) – Link zur Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Bevor aus ihm der gefeierte Star mit 140 Millionen verkauften Tonträgern wurde, war er aber erstmal Dave Jay, der bei einer weniger gefeierten Combo namens „The Kon-Rads“ sang und Saxophon spielte. Aber immerhin. Er war es, der den Titel „I Never Dreamed“ mit komponierte, den die Decca aufnahm. Allerdings blieb der kommerzielle Erfolg zunächst aus.

David machte auf Solo, spielte und sang in anderen Gruppen, machte einen Ausflug in die Pantomime, deren Einfluss bei späteren Bühnenauftritten sichtbar blieb, wurde kurzfristig zu „Davy Jones“, was er aber alsbald aufgab, weil einer der „Monkees“ so hieß. Also wurde David Bowie geboren, und beim Nachnamen stand Amerikas Nationalheld Jim Bowie Pate.

„Ground Control To Major Tom“, das war das erste, was ich von diesem schillernden Künstler wahrnahm. Immer wieder mal kreuzte der Titel meinen Weg im Auto, wenn es aus den schwindsüchtigen Lautsprechern plärrte, was der einsame Astronaut und die Bodenstation miteinander besprachen. Ein Jahrzehnt später bestätigte David Bowie meine spontane Assoziation mit psychedelischen Halluzinationen, outete Major Tom als Junkie.

Seine unstillbare Neugierde, sein Hunger nach neuen Einflüssen, seine chamäleoneske Wandlungsfähigkeit sorgten dafür, dass David Bowie anscheinend unaufhaltsam aufstieg. Als Musiker wurde er vorübergehend „Ziggy Stardust“ (Madonna sah ihre Welt verändert, nachdem sie ein Ziggy Stardust-Konzert besucht hatte), Andy Warhol und dessen Follower weckten seine Leidenschaft, bei Auftritten mit Geschlechterrollen zu spielen.

Dem Aufstieg konnte er nur selbst im Weg stehen. In seiner durchaus kreativen „Berliner Phase“ durchlebte er einen kalten Entzug. In der „Hauptstadt des Heroins“, wie er Berlin taufte, säuberte er Geist und Körper, machte unter anderem einen Abstecher zum deutschen Film. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sah ihn in einem Kurzauftritt, der gesamte Soundtrack stammt von ihm.

Ohnehin ist Davids Filmografie beeindruckend. Mit Cathérine Deneuve und Susan Sarandon wirkte er in „Begierde“ von Tony Scott mit. In „Der Mann, der vom Himmel fiel“ habe er eigentlich nur sich selbst gespielt, gestand der damalige Debütant – er war zu der Zeit schwerst süchtig nach Kokain. Martin Scorsese stellte ihn neben Willem Dafoe und Harvey Keitel in „Die letzte Versuchung Christi“.

Die Bandbreite seiner musikalischen Wegbegleiter reichte (beispielsweise) von Pat Metheny über Queen, Pink Floyd, Mick Jagger und Marianne Faithfull bis hin zu Bing Crosby.

Nun wird er die unterschiedlichen Szenen nicht mehr inspirieren und deren Inspirationen in sich aufsaugen. Kurz vor seinem Tod erschien sein letztes Album, „Blackstar“. Nun kommt bei der Groundcontrol ein letzter Gruß von Major Tom an. David Bowie ist auf seinem letzten Trip.




Über alle Gegensätze hinweg – Andreas Maiers Huldigung „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“

Da schreibt ein viel beachteter Belletrist im hochrenommierten Suhrkamp-Verlag ein ganzes Buch über – Udo Jürgens. Ja, ist der Schlagermann denn überhaupt literarisch themenwürdig?

Das fragt sich Andreas Maier (zuletzt: „Die Straße“, „Der Ort“) auch selbst unentwegt, der gelinde Zweifel ist konstitutiver Bestandteil des Buches „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Doch zugleich erfahren wir von einer Art – nun, nennen wir es ruhig beherzt „Erweckung“, die den am 21. Dezember 2014 gestorbenen Musiker mehr und mehr als quasi überzeitliches, dem Alltag enthobenes Phänomen wahrnimmt, in dem gleichsam alle Gegensätze aufgehoben sind… Nanu?

42519Als Kind hatte Andreas Maier noch Jürgens’ Erfolgslied „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ vernommen. Dann setzte eine langjährige Pause ein, in der derlei Klänge nur noch peinlich waren. Die meisten von uns dürften wohl in dieser Phase verharren, wenn nicht sich darin verschanzen.

Bei Andreas Maier setzt jedoch irgendwann eine zunächst zögerliche Rückkehr ein, deren Fortgang man beinahe als reuiges Konvertitentum bezeichnen könnte. Maier hebt freilich nicht völlig ab, sondern verankert diese Bewegung in seiner heimatlichen Region, bezieht sie innig auf die Stimmungslage in gewissen Frankfurter Äppelwoi-Wirtschaften, wo Jürgens’ allzeit radikale Emotion im rechten Moment auf ein – alkoholisch befeuertes – kollektives großes „Ja“ treffen kann.

Und so singt denn auch die gesamte Kneipe hingebungsvoll seine Lieder, als sich die Nachricht von Jürgens’ Tod verbreitet. Welch’ eine gefüllte Gegenwart, wie sie wohl kein zweiter Künstler dieses Genres hervorrufen könnte. Ja, man muss sagen: Diese Stunden hätte man wohl auch gern miterlebt. Wer sonst stiftet schon derlei Gemeinschaft?

Also gut. Werden wir erst mal wieder nüchtern.

Maier schickt sich an, nicht nur etliche populäre Mythen seiner jüngeren Jahre (z. B. zwischen Asterix, Beatles, Perry Rhodan und Raumschiff Enterprise) anklingen zu lassen, er arbeitet auch heraus, wie Udo Jürgens hinter und neben all diesen Hervorbringungen immer und immer da gewesen ist. Einzelne Songs werden deutend herauspräpariert, teilweise mikrostrukturell bis kurz vor die Parodiegrenze, also Zeile für Zeile (besonders „Merci Chérie“), bis sich tatsächlich so etwas wie ein beständiges „Narrativ“ des Udo Jürgens ergibt.

Obwohl er so angetan ist, muss Maier doch immer wieder innehalten, etwa so: „Aber wodurch wurde er wichtig? Es war ja nicht mein Ziel und Vorsatz, diesen Chansonnier und, in seinen kommerziellsten Augenblicken, Gassenhauser-Wodka-Trallala-Unterhalter Einzug in mein Leben halten zu lassen.“

Der Autor kommt zu dem Schluss, dass Jürgens wie kaum ein anderer geeignet sei, eine bestimmte Art des Weltzugangs zu eröffnen, etwas ganz und gar Offenes und Allgemeines zu verkörpern – jenseits aller sonstigen Zersplitterung. Nach und nach sucht Maier diesen Erzählzusammenhang zu (re)konstruieren.

Verblüfft stellt er dabei fest, dass diejenigen, die Udo-Jürgens-Konzerte besucht haben, im Umkreis der Hallen gar nicht identifizierbar waren – anders als praktisch alle anderen Fans: „Hier aber war nichts charakteristisch, abgesehen von einem gewissen Glanz, der auf allen Gesichtern lag.“ Vielleicht lag’s auch an der allgemeinen Vorfreude, habe doch nach solchen Konzerten die „Koitalquote“ enorm hoch gelegen, wie Maier mutmaßt. Lassen wir die These mal so stehen. Auch eine Formel wie die vom Klassizismus des Nichtssagens setzt ja etwas in Gang. Und dass niemand die Musik des Udo Jürgens adäquat nachspielen kann, hat doch wohl gleichfalls etwas zu bedeuten.

Jedenfalls sind wir uns nun in Maiers Gefolge zum Hymnus vorgedrungen. Diese Musik sei nicht cool oder hip, sie bewege sich weit außerhalb solcher bequemen Geschmacksurteile. Bei einem Jürgens-Auftritt fühlt sich Maier nach jedem Lied, als habe er „fünfmal hintereinander Doktor Schiwago geschaut“. Ganz großes Kino der Emotionen also. Erschöpfend in jedem Sinne.

Nun. Man kann in derlei Gefilde nicht so ohne weiteres folgen. Man erlebt, wie da einer „in Zungen“ redet. Unter der Hand ist dies denn wohl ein selbsterfüllendes Buch geworden. Das Projekt war nun einmal eingestielt, die Verlagsmaschinerie angeworfen, also musste eine inhaltliche Entsprechung her. Dennoch ist es mehr als nur das.

Dass dieser Text unsere Geschmacksbildung (nicht nur) auf dem Pop-Sektor hinterrücks gründlich infrage stellt, ist nämlich ebenso wahr. Rechthaberisch oder auch nur einfordernd ist Andreas Maier bei all dem an keiner Stelle. Soll man deshalb sagen, dies sei ein angenehmes Buch? Oder ist es nicht vielmehr auf einschmeichelnde Weise unbequem?

Andreas Maier: „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Suhrkamp Verlag. 218 Seiten. 17,95 €.




Philosoph des Metal: Zum Tod von Lemmy Kilmister

Als ich Lemmy Kilmister und Motörhead zum ersten Mal hörte, klapperte es in meiner eustachischen Röhre noch tagelang und ich rätselte, ob es am Nachbeben des Steigbügels lag oder schlicht der damals noch unter Ohrklingeln bekannte Tinnitus war. Lemmys Vorbild Paul McCartney war eindeutig melodiöser, fand ich, neigte nicht zu hastiger Wiederholung des Hörgenusses – oder war’s eigentlich eher chinesische Geräuschfolter?

Lemmy Kilmister 2006 (Foto: Wikipedia/Alejandro Páez = Molcatron on Flickr)

Lemmy Kilmister 2006 (Foto: Wikipedia/Alejandro Páez = Molcatron on Flickr) – Link zur Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Dann hatte ich jahrzehntelang Motörhead und ihren von Fibromen gezierten Bassisten und Frontman vergessen. Ich wusste zwar von beider Existenz, aber verweigerte ihnen meine Wahrnehmung. Bis ich ein Interview mit Ian Frazer Kilmister, dem Sohn eines Feldkaplans der Royal Air Force und einer Bibliothekarin auf Stoke-on-Trent in Staffordshire sah.

Seit ich hörte, wie der Mann dachte, was ihn bewegte, wie er zu seinen beiden Söhnen stand (mit Paul hatte er die engste Beziehung, trat sogar mal gemeinsam mit Motörhead auf), war der hinfällig wirkende Mann, dessen Gesichtslandschaft der üppige Konsum von Zigaretten und Drugs vielgestaltiger Art anzusehen war, war er für mich der Philosoph des Metal.

Metallica platzte vor Stolz, als sie mal mit Lemmy jammten. Ozzy Osborne sang Handgeschriebenes von Lemmy, Wackens Kult-Festival schmückte sich mit dem Altvater des Metal. Verstärkerhersteller Marshall berief sich auf ihn, als er Produkte wie den 1992LEM auf den Markt brachte. Der dröhnende Bass wurde seit Einstieg bei seiner Band Hawkwind ständiger musikalischer Begleiter von Lemmys rauchgeschwärzter Stimme (Jack Daniels und Glimmstengel), er liebte die Instrumente der Firma Rickenbacker, die er stets Rickenbastard nannte. Allerdings spielte er sie wie ein Rhythmus-Gitarrist.

Religionen, Ideologien, welterklärende Gedankenmodelle jeglicher Art waren ihm zuwider, was Lemmy auch in vielen Texten zum Ausdruck brachte. Umwerfend trocken seine Glaubenskritik: „Eine Jungfrau wird von einem Geist geschwängert? Come on! …“

Wie es zu seinem eigentümlichen Sammeltrieb in Sachen Nazi-Devotionalien kam, ist unklar, dass er mit dem der Ideologie hinterliegenden Schwachsinn nichts am Hut habe, versicherte er immer wieder, obwohl der Stetson, den er ständig trug, von einem Eisernen Kreuz verziert wurde.

Als mir Lemmy Kilmister und Motörhead zum ersten Male den Weg kreuzten, hätte ich nie gedacht, dass der Bassist und Sänger mal 70 Jahre alt werden würde, stopfte er seine Hülle doch voll mit allem, was schädlich sein konnte. Doch überraschte mich sein Tod nun umso mehr, weil ich annahm, dass Ian Frazer Kilmister, seit seiner Schulzeit „Lemmy“ genannt, auf der Bühne einmal eintrocknen würde, weil der Nachschub an Jack Daniels nicht ausreichend war.

Lemmy, der als „Christkind“ am 24. Dezember 1945 zur Welt kam, musste nur zweimal aufgeben: Als der Krebs ihn angriff und als er versuchte, Sid Vicious von den Sex Pistols beizubringen, wie man Bass spielt. Er nannte den als unmusikalisch geltenden Sid einen hoffnungslosen Fall.

Cheers, Lemmy.




Musik-Erlebnisse im Halbschlaf: Johnny Halliday und Nive Nielsen & The Deer Children

Hier mal ganz außer der Reihe einen herzlichen Dank an die Redaktion des Kulturmagazins „Fazit“ im Deutschlandfunk bzw. Deutschlandradio Kultur. Natürlich auch für den einen oder anderen Bericht zu den künstlerischen Zeitläuften. Doch just jetzt habe ich anderes zu verdanken, nämlich zwei Hinweise auf unverhofft grandiose Musik.

Auf den französischen Altrocker Johnny Halliday habe ich nie sonderlich geachtet, also habe ich auch nichts auf ihn gegeben. Seit Jahrzehnten ist er zugange – und ich habe kaum jemals richtig hingehört. Ich Ignorant habe ihn für den französischen Peter Kraus gehalten. Ein arges Missverständnis und Versäumnis?

Da braucht es wohl besondere Umstände: ein reifes Alterswerk – und die Stunde zwischen Tag und Traum. So kann’s gehen: Mitternacht ist vorbei, man ist beim Radiohören unversehens eingeschlafen und merkt plötzlich auf: Da haben halb verwehende Klänge ins Verdämmern hinein gespielt. Und nun ist man auf einmal wohlig wach und wird gewahr, wer da singt.

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Zwischen den Wortbeiträgen spielt „Fazit“ das eine oder andere Musikstück. Man muss sagen: Es sind oft ausgesuchte Interpreten und Stücke darunter. An jenem späten Abend war es eben das neue, am 12. November herausgekommene Halliday-Album, das so heißt wie jenes berühmte Buch von Stendhal: „De l’amour“ („Über die Liebe“). Man höre zur Einstimmung vor allem in den krass lautenden Titel „L’amour me fusille“ (etwa: „Die Liebe erschießt mich“) hinein.

Etwa 24 Stunden später hatte ich – ohne allzu große Übertreibung – ein noch größeres Erweckungs-Erlebnis. Buchstäblich. Denn wieder war ich eingenickt und bin erwacht, als eine wahrhaftige Sirenenstimme sang. Gottlob wurde angesagt, was da zu hören war – und man kann halt die entsprechende Playlist im Internet aufrufen. Das sind so Angelegenheiten, für die man früher eigens Briefwechsel mit dem Sender beginnen musste…

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Wer da gesungen hat? Nun, eine Frau aus Grönland. Ja, richtig gelesen. Nive Nielsen und ihre Band „The Deer Children“ (ungefähr: Rehkinder/Kitze) sind ein veritables Ereignis. Das Allerfeinste, was mir in letzter Zeit zu Ohren gekommen ist. Herzschmelze sehr wahrscheinlich.

Schon ist die Platte („Feet First“, erscheint am 27. November) bestellt, schon habe ich probehalber in andere Produktionen mit ihr reingelauscht. Und ich weiß: In dieser Musik kann man sich verlieren, wenn man denn bereit ist. Und das sollte nicht nur im Halbtraum der Fall sein. Obwohl: Wahrscheinlich hat eben dieser trancehafte Zwischenzustand die ästhetischen Sinne weiter geöffnet.

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P.S.: Die Links zum Versand jpc sind nicht als Empfehlung zu verstehen, sondern als Option. Allerdings sind die Leute aus Georgsmarienhütte vor allem auf dem Gebiet der Tonträger eine Alternative zu Amazon und anderen Weltherrschern…




Vorzeige-Ruhri kann auch anders: Grönemeyer traut Journalisten nicht über den Weg

Vor Äonen hat der Rock- und Popsänger Herbert Grönemeyer mal eine Langspielplatte mit dem Titel „4630 Bochum“ herausgebracht. Doch halt! Wir wollen nicht gleich gar so polemisch sein, es war im August 1984. Noch nicht so lang her, wenn man’s mal erdgeschichtlich betrachtet…

Seither gilt der Mann, der in grauer Vorzeit vorwiegend musikalisch am Bochumer Schauspielhaus gewirkt hatte, jedenfalls als Vorzeige-Ruhrgebietler. Wenn es hier ums große Ganze der Region geht, kommt er immer wieder ins Spiel. So auch am 9. Januar 2010, als er zur Eröffnung des Europäischen Kulturhauptstadt-Jahres seine Revier-Hymne „Komm zur Ruhr“ schmetterte.

Kaum einer, so scheint es, gilt gegenwärtig als „ruhriger“. Dabei hat der mit vielen Preisen dekorierte Grönemeyer der Gegend längst den Rücken gekehrt und seit vielen Jahren hauptsächlich in London gelebt. Es sei ihm natürlich gegönnt, aber was genau ist daran jetzt so ruhrverbunden?

Steht diese Bank etwa an dem Weg, über den Grönemeyer den Journalisten nicht traut? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Steht diese Bank etwa an dem Weg, über den Grönemeyer den Journalisten nicht traut? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Doch das nur nebenbei. Auch dass ich – ehrlich gesagt – seine Gesangskünste nur selten sonderlich gemocht habe, soll hier zwar erwähnt werden, aber hübsch im Hintergrund bleiben. Es tut nichts zur folgenden Sache.

Beim Pressetermin fand ich ihn vor Jahren menschlich recht sympathisch und entspannt. Doch er und sein Management können auch anders. So jedenfalls muss man wohl die schmallippige Mitteilung der WAZ-Kulturredaktion verstehen, die ihm vorwirft, er wolle auf ungebührliche Weise in die Berichterstattung der Medien eingreifen.

Das behauptet die WAZ: Anlässlich einer Vorab-Pressekonferenz über einen Grönemeyer-Auftritt (27. Mai 2016, Arena Gelsenkirchen) sollten Journalisten unterzeichnen, dass Zitate vor Veröffentlichung durchgehend autorisiert (also von ihm und seinen Presseleuten gestattet) werden müssten; nicht nur im Interviewtext (wie gelegentlich vor allem bei brisanten Politthemen üblich), sondern auch „in der Überschrift und in Bildunterschriften“. Ein starkes Stück. Überdies wollte Grönemeyer laut WAZ kontrollieren, welche Fotos in der Berichterstattung verwendet werden. (Drum verwenden wir hier ein ganz und gar unverfängliches Foto aus völlig anderem Zusammenhang, hehe!).

Angesichts solcher Ansprüche bzw. Zumutungen verzichtete die WAZ auf einen Bericht über das Hintergrundgespräch. Gut so. Sich auf Grönemeyers Bedingungen einzulassen, hätte bedeutet, einen möglichen Eingriff in die redaktionelle Unabhängigkeit hinzunehmen. Gegenbeispiel: Die „Rheinische Post“ hatte damit anscheinend weniger Probleme und berichtete wohlwollend.

Man fragt sich, was Grönemeyer so Weltbewegendes zu erzählen hat. Soweit mir bekannt ist, ist er weder Kanzler noch Minister der Bundesrepublik Deutschland, ja nicht einmal Präsident oder König des Ruhrgebiets. Man würde seine Worte gewiss nicht allzu sehr auf die Goldwaage legen. Er selbst scheint das allerdings anders sehen zu wollen. Da kann man nur appellieren: Komm zur Ruhe.

Grönemeyer scheint derzeit auf Krawall gebürstet zu sein. Soeben hat er den NDR harsch kritisiert , weil der Sender beim ESC-Schlagerwettbewerb doch nicht an Xavier Naidoo festhalten mochte (ansonsten kein Wort mehr über den insgesamt verkorksten Vorgang). Er wird bestimmt nicht den vergifteten Kampfbegriff „Lügenpresse“ im Munde führen. Dann soll er aber auch bitte nicht den Eindruck erwecken, die Journalisten würden ihm allzeit das Wort im Munde herumdrehen.




Kinoschauspieler, Folkmusiker und vieles mehr: Theodore Bikel starb mit 91

Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an die TV-Sendung und ihren genauen Namen erinnern, ist einfach zu lange her. Aber der Name des Moderators (wie man es heute nennen würde) blieb haften. Es war Theodore Bikel. Theodore Meir Bikel ist jetzt im Alter von 91 Jahren gestorben. Nach meinem Dafürhalten ist er auf eine Stufe zu stellen mit beispielsweise Sir Peter Ustinov.

Immer wieder seit unserem ersten Kennenlernen via TV ereignete es sich, dass ein Film begann oder endete, und ich im Vorspann seinen Namen las oder im Nachspann erfuhr, dass er es war, dessen Rolle mir auffiel, aber wieder mal sein Name mir nicht eingefallen war. Meist entfuhr mir dann leise: „Ah, ja, Theodore Bikel.“ Und selten waren es Rollen und Filme, deren Auftauchen in einer späteren Filmografie hätten bedauert werden müssen.

Auftritt beim St. Louis Jewish Books Festival: Theodore Bikel am 2. November 2014. (Foto: Fitzaubrey / Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Auftritt beim St. Louis Jewish Books Festival: Theodore Bikel am 2. November 2014. (Foto: Fitzaubrey / Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ob es in John Hustons „African Queen“ der zackige deutsche Marineoffizier war, dem sein Schiff von Humphrey Bogarts handgeklöppeltem Torpedo im tapferen Flussschiffchen unter den Füßen abgeschossen wurde, oder ob er als Sheriff Max Muller in Stanley Kramers „Flucht in Ketten“ neben Tony Curtis und Sidney Poitier auftrat – fast alle Filme mit dem gebürtigen Wiener (auch in scheinbar randständigen Nebenrollen) hatten eine tolle Geschichte zu erzählen. „Flucht in Ketten“ bescherte Theodore Bikel sogar eine Oscar-Nominierung.

Der multibegabte junge Mann musste indes wie viele seiner Konfession im Jahre 1938 mit Mutter Miriam und Vater Joseph vor den Hitler-Deutschen fliehen, als die Österreich anschlossen. Erst einmal nach Palästina, wo sie britische Staatsbürger wurden. Dort war er zunächst Kibbuzim, dann studierte er am Habimah-Theater in Tel Aviv, und schließlich war er Mitbegründer des Tel Aviv Chamber Theater. Niemand anderem als Sir Laurence Olivier war es vorbehalten, sein Talent zu entdecken und ihm den Weg nach London zu weisen, wo er dann in „Endstation Sehnsucht“ auftrat.

Aber nach „African Queen“ zog’s ihn endgültig in die Staaten, nach New York. Dort führte er seine lebenslange Doppelkarriere fort – als anerkannter Bühnen- und Filmschauspieler und als beklatschter Folksänger, der mit Pete Seeger das „Newport Folk Festival“ ins Leben rief, der selbst außer Gitarre, Mandoline, Balalaika und Mundharmonika spielte, um sich selbst zu begleiten, wenn er in 20 Sprachen dieser Welt sang (sechs davon beherrschte er perfekt).

Und immer wieder kamen die Filmanfragen. Bis hin zu „007“, wo er fast Gerd Fröbe den Bösewicht Goldfinger weggeschnappt hätte. Auch an seine Auftritte in „Star Trek – The Next Generation“ wird man sich wieder erinnern, wenn sie im TV wiederholt werden.

Theodore Meir Bikel war sein Leben lang ein ungemein politischer Mensch. Immer stand er den amerikanischen Demokraten nahe. 1977 nahm Präsident Jimmy Carter ihn ins National Council for the Arts auf, was er bis 1982 beibehielt. Er war Präsident der Actors’ Equity Association und war bis zu seinem Tod Präsident der Associated Actors and Artistes of America. Er engagierte sich bei Americans for the Arts und natürlich im American Jewish Congress, dessen Vizepräsident er war.

Theodore Bikel spielte jedoch im Film gern den Schurken, den garstigen Typen, der seinen Weggefährten Übles antat. Seltsam, aber so oft ich ihn in Filmen genau so sah, so oft er selbst diesen Rollen eine manchmal fast sympathische Wärme gab, werde ich doch Theodore Bikel immer nur mit dem freundlich aus dem Schwarz-Weiß-Fernseher blickenden Herrn verbinden, der uns Kindern Freude machte und dabei immer wieder eines der Lieder aus seinem grenzenlosen Repertoire klampfte.




Können Saxophon-Klänge politisch sein? Eindrücke vom Moers Festival

Saxophone in verschiedenen Stimmlagen waren diesmal die dominierenden Instrumente der Festivaltage in Moers.

Sowohl Hayden Chisholm, Improviser in Residence Moers 2015, als auch Colin Stetson, Artist in Residence für die vier Festivaltage, sind herausragende Saxophonisten. Zusätzlich hat Hayden Chisholm angeregt, mit Frank Gratkowski, der am Pfingstmontag in der Formation Z-Country Paradise auftrat, einen seiner wesentlichen Lehrer des Instruments einzuladen. Hayden Chisholm eröffnete das Festival mit einer meditativen Komposition, die es ermöglichte, vom Stress der zurückliegenden Arbeitswoche zu relaxen und ganz auf dem Festival anzukommen. Einfach schön – genauer gesagt: in angenehmer Weise höchst ausgetüftelt schön.

Saxophonist der Sonderklasse: Colin Stetson. (Foto: © Frank Schemmann)

Saxophonist der Sonderklasse: Colin Stetson. (Foto: © Frank Schemmann)

Wie Frank Zappa einmal einen Musiker, der in seiner Band mitspielen wollte, gefragt hatte „What can you do that‘s fantastic?“, so scheint Reiner Michalke auch das Programm für das Moers Festival zusammenstellen. Jedes einzelne Konzert beantwortet die Frage auf die eine oder andere Weise. Da Moers auch in diesem Jahr die ganze Bandbreite des New Jazz vom Solisten bis zum Orchester mit 80-köpfigem gemischtem Chor, vom Tanzbaren bis zum kaum Hörbaren, aufzeigt und längst über die Grenzen des Genres weit hinausgeht, kann in diesem Beitrag nur ein Teil des durchweg sensationellen und berichtenswerten Programms besprochen werden.

Exzeptionell, so dass sich geradezu der Eindruck aufdrängte, bei der Entstehung einer der Legenden von morgen dabei zu sein, waren die vier Aufritte von Colin Stetson – solo, im Duo, in einer Drei-Mann-Formation und im kleinen Orchester aus zwölf Personen. Mit Sarah Neufeld im Duo war Colin Stetson bereits vor einem Jahr im Nachtprogramm des Moers Festivals zu erleben. Für den Auftritt im Hauptprogramm 2015 haben die beiden ihr Repertoire nochmals erweitert. Ein glückliches Zusammenspiel, aber auch mit eingefügten Solo-Stücken. Sarah Neufeld, Geigerin der Gruppe „Arcade Fire“ und Gründungsmitglied des sechsköpfigen „Bell Orchestre“, präsentierte bereits einen Titel ihres nächsten, noch unveröffentlichten Soloalbums. Stetson, der mit seiner perfektionierten Zirkularatmung minutenlang Arpeggio-Bögen spielt, dabei ins Saxophon singt und schreit, es wie ein Urtier rufen lässt und mit den Klappen seines Instruments zugleich die Percussion liefert, ist ein Phänomen.

Einen Kontrast bildete an dem Abend die deutsche Viermanngruppe „The Nest“. Christoph Clöser, auch er Saxophonist, der sich am Freitag aber auf die Klarinette beschränkte, spielt seit 1997 bei „Bohren & der Club of Gore“ und prägte entscheidend die Richtung des Doom Jazz. Mit dem Seitenprojekt „The Nest“ klingt er weniger düster, zeigt jedoch umso mehr, dass er, wie lange schon vermutet wurde, in der Oberliga der Jazzwelt mitspielen kann.

Ein weiterer Vorzug von Moers ist es, einen der Musiker, die mit Bohren stets unsichtbar auf finsterer Bühne agieren, überhaupt einmal zu Gesicht zu bekommen. Das Schlagzeug wurde um einen mit leeren Glasflaschen gefüllten Getränkekasten erweitert. Thomas Mahmoud stampft mit dem Kasten auf oder tritt clownesk-trotzig gegen ihn; das kommt beim Publikum gut an. Wenngleich er während des Konzerts seinen Platz am Schlagzeug nicht verlassen hat, lautet die Instrumentenangabe im Programm zutreffend nicht „drums“, sondern „vocals, effects“. Mit seinem „Amore, amore, amore“ verbreitete er den Ohrwurm des Festivals.

Bleiben wir noch kurz bei den Männerbands. Das norwegische Duo „sPacemoNkey“ mit Morten Qvenild – bekannt durch Jaga Jazzist – an den Keyboards und Gard Nilssen, hochenergetisch am Schlagzeug, brachten abwechslungsreichen improvisierten Jazz.

Ein noch überzeugenderes Beispiel für ständig unter Strom stehende Männer boten anschließend „Pulverize the Sound“ – mit dem ruhelosen Trompeter Peter Evans und den ebenso hart und laut arbeitenden Tim Dahl am Bass und Max Jaffe an den Drums.

Dass aber die sicht- und hörbare körperliche Anstrengung eines Männer-Trios nicht auch für die Zuhörenden anstrengend sein muss, machte wieder einmal der Artist in Residence, Colin Stetson, deutlich, der mit Trevor Dunn am Bass und dem Schlagzeuger Greg Fox konzentrierte Glücksschübe an die Zuhörenden abgab.

Erstklassig war auch „Eivind Opsvik Overseas“, die Formation des norwegischen Bassisten, der nach New York gezogen ist. Der Oud-Spieler Ziad Rajab führte hingegen mit dem Neuseeländer James Wylie am Saxophon und dem Griechen Kostas Anastasiadis am Schlagwerk das Publikum in arabische Musikwelten.

Von Frauen geleitete Big Bands und Orchester

Im vorigen Jahr lud Festivalleiter Reiner Michalke mit Ava Mendoza, Julia Hülsmann und Johanna Borchert drei Frauen ein, die jeweils ein Quartett leiteten. In diesem Jahr leiten drei andere Frauen richtig große Formationen. Eve Risser aus Paris, Sara McDonald aus New York und Sofia Jernberg aus Stockholm.

Jeder der vier Festivaltage vom 22. Bis 25. Mai begann mit einem Orchester, bzw. einer Big Band. Eve Risser brachte am Samstag neben ihren Instrumentalisten einen 80-köpfigen gemischten Chor mit, für den sich die Bühne der Festivalhalle als zu klein erwies und der zeitweise aus einem der Gänge zwischen den Sitzreihen dirigiert wurde. Hymnische Klänge. Sara McDonald eröffnete mit den jungen Musikern der Big Band der Hochschule für Musik und Tanz Köln den Pfingstsonntag. Sofia Jernberg kam mit dem Trondheim Jazz Orchestra und dem Geiger Olav Mjelva. Jernberg folgt einer Tradition des Moers Festivals, für die es bereits in den vergangenen Jahren gute Beispiele gab, Stimmkunst über das hinaus, was üblicherweise als Gesang bezeichnet wird.

Darüber sollen aber die nicht von Frauen geleiteten Großformationen nicht unerwähnt bleiben, wie die von Michael Mantler, der „The Jazz Composer’s Orchestra Update“ mit der „Nouvelle Cuisine Big Band“ und dem „Radio String Quartet“ in Moers vorstellte. Oder Mikko Innanen aus Finnland, dessen aktuelle Big Band sich „10+“ nennt.

Wie Jazz auf aktuelle Fragen der Zeit reagiert

In seinem Vorwort auf der Festival-Website beschreibt der künstlerische Leiter, Reiner Michalke, in knappen Worten das Auseinanderdriften der Welt – Terror, Krieg und Vertreibung, und auf der anderen Seite die Rauschzustände der Finanzspekulanten. Er spricht von der dem Festival „angeborenen Selbstverpflichtung zur Aktualität“ und vom künstlerischen Mandat der eingeladenen Musikerinnen und Musiker, Antworten auf die drängenden Fragen zu finden. Ist das von der Musik zu viel erwartet? Nein. Das Festival hat in seinem Verlauf verschiedene Antworten nahegelegt.

Am offensichtlichsten sind wohl die internationalen Zusammensetzungen und Kooperationen, bei den Orchestern sowieso, aber auch unter den Trios oder Quintetten – bestes Beispiel vielleicht das „Ziad Rajab Trio“, dessen Musiker aus Aleppo (Syrien), Neuseeland und Griechenland stammen und die heute alle drei in Thessaloniki leben. Im Weltmaßstab hat Verständigung über Musik immer schon gut funktioniert (besser als zum Beispiel in häuslicher Nachbarschaft).

Aber auch in einem ganz anderen Sinne wird das Politische deutlich. Colin Stetson führt vielleicht mehr als jeder andere Künstler, der auf dem Festival aufgetreten ist, den Zuschauern die körperliche Kraftanstrengung vor Augen, die solche Musik erfordert. Vor jedem Stück muss er Luft holen wie ein Apnoe-Taucher vor dem Sinken in die blaue Tiefe (und blau ausgeleuchtet war auch die Bühne).

Erwartete das Publikum vom Künstler nicht immer schon, dass er alles gibt, und ist nicht die Haltung, seinen Mitmenschen etwas Unbezahlbares geben zu wollen, politisches Handeln? Niemand versinnbildlichte auf dem Festival so sehr wie Colin Stetson das Alles-Geben als Gegenmodell zu jener desaströsen Ökonomie-Auffassung, die nur dem Planeten alles entnimmt.

Nicht zuletzt wurde auch in Moers eine altbekannte Wirkungsweise von Musik wieder intensiv spürbar – ihre Emotionalität und Pathosfähigkeit, die es nicht nur schafft, Gefühle zu verarbeiten, sondern die auch Gefühle auszulösen vermag. Das wurde während des Festivals vielleicht an keiner Stelle so deutlich wie in Colin Stetsons Referenz an den Komponisten Henryk Górecki und seine Symphonie No. 3, opus 36, deren drei Sätze jeweils ein Klagelied beinhalten. Ergreifend. Die klassische Komposition von 1976 erweist sich als eine der aktuellsten. Pathos als Gegengewicht zum kalten Kalkül. Das ist vielleicht das Politischste an Musik, ihre Fähigkeit zu jenem Mitleiden, das den Finanzspekulanten ebenso zu fehlen scheint wie den Waffenproduzenten und Kriegstreibern.




„Hier bin ich! Hier darf ich!“ – Wie Robert Wilson und Grönemeyer „Faust“ verjuxen

Während das Publikum noch Platz nimmt, wabern schon wilde Rock-Rhythmen und Folk-Balladen durch den Saal. Auf der Bühne posieren aufgekratzte Mimen, trällern ein Liedchen, wirbeln munter durcheinander.

Sie suchen sich und ihre Rolle, wollen auffallen und gefallen, denn „ihr wisst, auf deutschen Bühnen / probiert ein jeder, was er mag“. Goethes „Vorspiel auf dem Theater“ als chaotische Casting-Show und „Faust I und II“, die deutscheste aller deutschen Theater-Tiefbohrungen als munteres Musical. Das kann ja heiter werden.

Konfrontation: Faust (Fabian Stromberger, li.) und Mephisto (Christopher Nell). (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Konfrontation: Faust (Fabian Stromberger, li.) und Mephisto (Christopher Nell). (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Wird es auch. Denn der Theater-Regisseur, Möbel-Bauer und Licht-Designer Robert Wilson bolzt gut gelaunt und frei von jedes Gedankens Blässe im Berliner Ensemble die absolute Kurzversion eines überdimensional langen Textes auf die Bühne. Wofür Dichterfürst Goethe 500 Druckseiten und über 12.000 Verse benötigte und was in der legendären Expo-2000-Inszenierung von Peter Stein 14 Stunden dauerte: Bei Bob Wilson fliegt Goethes Mysterien-Ritt – vom Himmel über die Erde in die Hölle – in knappen vier Stunden dahin.

Dramaturgin Jutta Ferbers hat ganze Arbeit geleistet und mit der Axt alles weggeholzt, was nicht in Gesang und Tanz umgedeutet werden kann. Was es auf sich hat mit dem Gelehrten, der sich mit dem Teufel einlässt, warum Leidenschaft und Verstand, Genie und Wahnsinn, Versuchung und Verfehlung miteinander ringen: alles einerlei. Wer Goethes „Faust“ nicht kennt, wird ihn hier nicht finden.

Dafür aber (und das mutet paradox an, hatte doch BE-Intendant Claus Peymann jüngst wieder heftig gegen „Event“-Kultur polemisiert) bescheren Regisseur Wilson und Musiker Herbert Grönemeyer dem unterhaltungswilligen Publikum einen äußerst kurzweiligen Szenen-Reigen, bei dem deutscher Rock und kerniger Chorgesang einen faustischen Pakt eingehen und alle laut jubilieren: „Hier bin ich! Hier darf ich! Hier bin ich Mensch! Hier darf ich´s sein!“: Yeah! That´s Great! Gimme Five!

Szene mit (v. li.) Alexander Wanat, Joshua Seelenbinder, Nicolaas van Diepen, Marvin Schulze und Christopher Nell. (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Szene mit (v. li.) Alexander Wanat, Joshua Seelenbinder, Nicolaas van Diepen, Marvin Schulze und Christopher Nell. (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Faust gibt es gleich in vierfacher Ausführung, Grete wird verdreifacht, Valentin verdoppelt: Das macht zwar keinen Sinn, wirkt aber irgendwie dynamisch. Da kann man die Text-Happen auch noch kleiner hacken und aufteilen und zudem mehr Akteure punktgenau mit dem Scheinwerfer ausleuchten und aus dem sinnfreien Bühnen-Gemurkse ein geheimnisvolles Gemälde aus Licht und Schatten machen.

Außerdem fällt dann nicht so ins Auge, dass Bob Wilson diesmal vor allem mit Schauspiel-Schülern arbeitet und sich weder für das komplizierte Stück noch für die komplexe Sprache Goethes interessiert.

Einzig Mephisto, gespielt von Christopher Nell, gewinnt Kontur und Farbe: ein androgyner, sanft salbadernder und hinterhältig grinsender Spielleiter, der alle anderen, vielfach geklonten Menschen-Monster durchs Geschehen schubst. Mal greift Mephisto den süffisant singenden Engeln an die Brüste, mal schaut unter dem Gewand eines Bischofs ein riesiger Penis hervor.

Das soll komisch sein, ist aber doch nur bieder. So wie die Musik von Grönemeyer, die schenkelklopfend lustig und selbstironisch sein möchte, aber doch nur mit ein paar wenigen Noten und simplen Melodien auf der Stelle tritt. „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wird´s Ereignis“, singt der „Chorus Mysticus“ zum großen Finale. Besser hätte man die Kritik an der ziellos durchs Faust-Mysterium flatterten Inszenierung nicht formulieren können.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 17., 18., 19., 22. Mai., 14.,15.,16. Juni, Karten unter 030/28 40 81 55.

  • „Faust I und II“ ist die zweite Zusammenarbeit des 1941 geborenen US-amerikanischen Regisseurs, Architekten und Licht-Designers Robert „Bob“ Wilson mit dem 1956 geborenen deutschen Musiker und Schauspieler Herbert Grönemeyer.
  • Wilson und Grönemeyer begegneten sich zum ersten Mal 1978 am Schauspielhaus Köln, wo Wilson sein „CIVILwarS“-Projekt inszenierte und Grönemeyer als Schauspieler und Musiker tätig war.
  • Bereits für Bob Wilsons Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“ (2003 am Berliner Ensemble) schrieb Grönemeyer die Songs.
  • Grönemeyer befindet sich damit in einer Tradition von bekannten Singer-Song-Writern, die für Bob Wilsons Inszenierungen Lieder schrieben: David Byrne („The Forest“, 1988), Tom Waits („The Black Rider“, 1990, „Alice“, 1992, „Woyzeck“, 2000), Lou Reed („POEtry“, 2000, „Lulu“, 2011).



Vom Mikro zur Motorsäge – die zweite Karriere von Pia Lund („Phillip Boa & the Voodooclub“)

Sie war Sängerin bei Phillip Boa & the Voodooclub, der einzig wirklich erfolgreichen und international anerkannten Dortmunder Band. Heute arbeitet Pia Lund alias Pia Bohr als bildende Künstlerin im Dortmunder Klinikviertel. Unser Gastautor Michael Westerhoff hat sie dort besucht.

Pia Bohr alias Pia Lund (Foto: privat)

Pia Bohr alias Pia Lund (Foto: privat)

Pia Bohr arbeitet dort, wo sie lebt. In einem Hinterhof-Loft des Dortmunder Klinikviertels. „Hier ist nichts richtig gedämmt, im Winter ist es sehr kalt“, bremst Pia Bohr meine Begeisterung. Ihr Hund hat es sich auf einem Teppich gemütlich gemacht. Wir sitzen in ihrer Küche, die gleichzeitig Schlafzimmer und Wohnzimmer ist. Halt ein großer Raum, in dem sich das Leben abspielt.

Außer der Kunst. Die hat Pia Bohr ausgelagert. In einen Vorraum des Lofts. Wenn sie Baumstämme mit der schweren Motorsäge bearbeitet, staubt es mächtig. Holz für ihre Skulpturen holt sie einmal im Jahr in Italien: „Ich packe dann so viel wie möglich in den Kofferraum und fahre mit dem schwer beladenen Wagen nach Hause“.

Nach Hause – das ist seit einigen Jahren wieder Dortmund, nachdem sie einige Zeit mit ihrem früheren Partner Phillip Boa auf Malta gelebt hat. „Ich bin viel unterwegs und froh, wenn ich wieder hier hin komme“, erzählt sie. Pia weiß, dass Dortmund nicht der Nabel der Kunstwelt ist, sie fühlt sich hier aber wohl. Übrigens genauso wie ihr Ex-Partner Boa, der mittlerweile wieder zeitweise in der Stadt lebt.

„Du hast dich mit ihm im Café Strickmann getroffen? Da hat er schon früher immer seine Interviews gegeben.“ Es ist ein, zwei Jahre her, dass wir dort über Musik, aber insbesondere über Musiker, die an Streams und Downloads kaum noch etwas verdienen, gesprochen haben. Das ist durchaus auch für Pia ein Thema: „Die sollen schön weiter auf Tour gehen“, grinst sie. Bohr ist Mit-Autorin der meisten Lieder, bekommt also Tantiemen, wenn ihr Ex Phillip Boa mit den Songs auf Tour geht…

Mit Musik hat sie sonst nicht mehr viel zu tun. 2013 ist Pia Bohr ein zweites Mal beim Voodooclub ausgestiegen. Es hatte mal wieder Krach gegeben. „Ich würde gern mal wieder einen Song schreiben, das fehlt mir“, sagt sie. Die Auftritte mit der Band weniger. Doch sie hat den kreativen Prozess vom Schreiben bis zum Aufnehmen der Songs genossen.

Sie ist stolz auf ihre musikalische Vergangenheit: „Wir haben uns nie verbogen.“ Mit „Container Love“ oder „This is Michael“ hatten Phillip Boa & the Voodooclub ein paar passable Hits, arbeiteten mit dem Produzenten von David Bowie und verkauften in 30 Jahren immerhin rund zwei Millionen Tonträger. Dass sie keine Superstars wurden, lag wohl eher daran, dass sie Promotion und Marketing weitgehend vermieden haben.

Das Potenzial hatten sie. Auch wegen der einprägsamen Stimme von Pia Lund, wie sie sich damals nannte. „Sie haben sich durch ihre unnahbare Art viel kaputt gemacht“, sagen manche Kritiker. An Pia Bohr kann es nicht gelegen haben. Sie ist eine offene, sympathische Frau, mit der es Spaß macht, über Gott und die Welt zu reden.

Tim Renner holte die Band in den 80ern vom eigenen Independent-Label zur großen Polydor. „Der Renner ist ja jetzt Staatssekretär für Kultur in Berlin“, sagt Bohr. „Und er legt sich gerade heftig mit Claus Peymann an“, ergänze ich. „Naja, mit dem kann man sich ja auch gut anlegen“, antwortet Bohr. Und schon sind wir beim nächsten Thema.

Auf dem Esstisch liegt ein Buch von Kim Gordon, Ex-Sängerin von Sonic Youth. Wie Bohr Musikerin, die in den frühen 80ern begonnen hat, wie Bohr bildende Künstlerin und wie Bohr eine der wenigen Frauen, die in der musikalischen Macho-Welt der 80er als Frau bestehen konnte.

"Spionin" - eine Skulptur von Pia Bohr (Foto: Pia Bohr)

„Spionin“ – eine Skulptur von Pia Bohr (Foto: Pia Bohr)

Für Wehmut gibt es jedoch keinen Anlass: „Heute kann ich entscheiden, was ich arbeite und wie ich arbeite, ich muss nicht mehr in einer Gruppe agieren.“ Sie genießt sie ihre Unabhängigkeit: „Ich muss keine Kompromisse mehr machen, kann tun und lassen, was ich will. Das war schon immer mein Traum“.

Ein lauter Traum, von dem die Kinder in der Tagesstätte gegenüber sicherlich ein Lied singen können. Wenn sie den Motorschleifer anwirft, ist das schon Punk: „Mehr als drei Stunden am Tag schaffe ich nicht, das Gerät ist zu schwer.“ Wegen der schönen Struktur bearbeitet sie in erster Linie Birnen- und Oliven-Baumstämme.

Bohr hat zwar einen Plan, wenn sie einen der Baumstämme zu großen Skulpturen verarbeitet. „Aber dabei bricht schon mal was ab.“ Das durchkreuzt regelmäßig ihren Plan. „Man muss mit dem Holz gehen, mit ihm kommunizieren.“ Bis eine Skulptur fertig ist, können Wochen vergehen.

Demnächst stellt Bohr in Berlin aus: „Da gibt es eine richtige Kunstszene, die die Arbeiten schätzt“, sagt sie mit einem kleinen Seitenhieb auf Dortmund. „Die Dortmunder wollen kleine, quadratische Bilder.“ Allenfalls Ärzte und Rechtsanwälte kaufen im Ruhrgebiet ihre Skulpturen. Trotzdem engagiert sie sich im Vorstand der „Dortmunder Gruppe“, einer Künstler-Vereinigung, die 1956 gegründet wurde, beteiligt sich an Kunstaktionen und öffnet ihr Atelier regelmäßig für Besucher.

Auftragsarbeiten macht Bohr eher ungern, aber manchmal kann sie nicht nein sagen. Sie zeigt mir zwei kleine Holzstücke, die sie vorsichtig in Handtücher eingeschlagen hat. „Sieht man, dass das Büffelköpfe sind?“ Die Hörner und der Kopf sind klar erkennbar. Man wird sie demnächst an der Tür eines Burgerladens im Kreuzviertel bewundern können.




Ein Kulturzentrum muss sich stets verändern – Gespräch über die Lindenbrauerei in Unna

Wohin wird der Weg der Kulturpolitik in Unna führen? Werden neue, ganz andere Wege beschritten? Müssen ausgetretene Pfade verlassen werden? Ein Gespräch unter Parteifreunden mit Sebastian Laaser (SPD), stellvertretender Vorsitzender des Kulturausschusses:

Frage: Vorweg, den Herrn Laaser schenke ich mir, diese Förmlichkeit wäre albern. Sebastian, siehst du die Diskussion um das Kulturzentrum Lindenbrauerei als abgeschlossen an?

Sebastian Laaser: Ja und Nein. Ja, weil in den letzten Monaten ja eher diskutiert wurde, ob Jahresabschlüsse oder Wirtschaftspläne korrekt seien. Da sage ich klar, dass die nicht-öffentliche Arbeitskreissitzung aus meiner Sicht alle Fragen beantwortet hat. Ich maße mir nicht an, Prüfungen durch das Finanzamt oder vereidigte Wirtschaftsprüfer in Frage zu stellen. Ich gehe davon aus, dass die Vereinsverantwortlichen auch für das Jahr 2014 alle Unterlagen ordentlich einreichen werden.

Nein, weil es immer Diskussionen um die Brauerei gegeben hat und geben muss. Genau wie die Soziokultur insgesamt – die Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur macht das Anfang März mit einer Tagung “Zukunftskongress Soziokultur – Vorwärts und Wohin!” – müssen wir uns auch vor Ort fragen, wo wir stehen und wie die weitere Entwicklung aussehen muss. Ich finde, dazu passt es doch, dass wir in diesem Jahr das erfreuliche 25jährige Bestehen feiern können.

Die Brauerei vor 25 Jahren ist nicht mehr vergleichbar mit der von heute und sie wird in ein paar weiteren Jahren wiederum eine andere sein. Ich sähe es lieber, wir betrachteten kulturelle Angebote generell nicht als festgenagelte Statik, sondern als flexibel Reagierende und Agierende in einer sich stets verändernden Gesellschaft.

Frage: Das heißt nun?

Sebastian Laaser: Wenn in den kommenden Wochen alle notwendigen Beschlüsse eine solide Mehrheit finden, haben wir ein Jahr lang Zeit, gemeinsam mit allen Beteiligten nach zukunftsorientierten, trittsicheren Wegen zu suchen. Nicht nur für die Brauerei, sondern für die gesamte Kulturarbeit in unserer Stadt. Und zwar auf einem Weg, der die Stärken aller drei Säulen (Brauerei, ZIB mit Kulturamt und Stadthalle) berücksichtigt und diese nutzt. Daran zu arbeiten, fundamentale Konzepte aufzustellen, die anschließend resistent gegen Abweichungen und neue Anforderungen durch veränderte Rahmenbedingungen sind, halte ich im Kulturbereich für untauglich. Wir haben es hier mit einer Art lebendigem Organismus zu tun, im wahren Wortsinne lebendig.

Frage: Was hältst du in diesem Zusammenhang von Vorschlägen, beispielsweise den gastronomischen Bereich der Brauerei in die Hände der Stadthalle zu übergeben?

Sebastian Laaser: Ähnliches wurde vor rund 25 Jahren in der Gründungsphase des Kulturzentrums ja versucht. Damals scheiterte das Experiment grandios. Ich sehe nicht, dass es heute mehr Aussicht auf Erfolg haben sollte. Darüber hinaus macht es Sinn, die Brauerei als “Ganzes” zu führen und somit flexibel reagieren zu können. Nebenbei bemerkt, erwirtschaftet die Gastronomie auch einen nicht unerheblichen Deckungsbeitrag…

Frage: Wo siehst du denn Chancen auf Erfolg?

Sebastian Laaser: Wo wir gerade beim gastronomischen Bereich sind. Zunächst warne ich davor, zu glauben, dass alle Heilmittel für sieche Finanzen aus dieser Ecke gezogen werden können. Von dort kann allenfalls ein Beitrag von vielen kommen. Aber die Lindenbrauerei verfügt mit der Hausbrauerei und dem Lindenbier über ein Alleinstellungsmerkmal. Ich würde mir wünschen, dass dieser Bereich stärker als bisher ausgebaut wird bzw. Begonnenes konsequenter fortgeführt wird. Wenn man sich in unserer Region umsieht, bin ich mir sicher, dass die Brautradition mit attraktiven Angeboten durchaus interessant für Besucher sein kann.

Darüber hinaus sollten wir mit den Kulturfachleuten in unserer Stadt ins Gespräch kommen, um in diesem Fall „der Kultur Bestes zu suchen“. Wir müssen uns über eines einig sein. Darüber, dass wir auch in Zukunft in unserer Stadt ein Kulturzentrum Lindenbrauerei wollen. Ich persönlich beantworte mir diese Frage mit einem überzeugten „Ja“. Und ich stelle mir auch nicht die Frage, wie viel Geld wir für dieses Kulturzentrum in der Vergangenheit schon ausgegeben haben, sondern gebe mir selbst und vielen anderen eine Antwort: Die Brauerei und ihre Belegschaft haben in der Vergangenheit u.a. durch individuellen Verzicht enorm mitgeholfen, unserer Stadt ein Zentrum zu erhalten – und dies durch allerlei Maßnahmen (bisweilen auch schmerzhafte) für einen Preis, von dem andere Städte träumen. Wie schon gesagt, wir haben an einem Prozess zu arbeiten und nicht an finalen Lösungen.

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(Das Gespräch erschien in ähnlicher Form zuerst auf http://dasprojektunna.de)




„Häuptling Abendwind und die Kassierer“: Punk trifft Nestroy im Theater

Koch und Sänger: Wolfgang "Wölfi" Wendland. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Koch und Sänger: Wolfgang „Wölfi“ Wendland. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Die „Kassierer“ aus Bochum-Wattenscheid machen Fun-Punk – eine legendäre Band seit inzwischen 30 Jahren. Auf ihren Konzerten grölen sie vom Bier, das alle ist oder von „Sex mit dem Sozialarbeiter“.

Klassiker unter ihren Songs heißen „Stinkmösenpolka“ oder „Ich töte meinen Nachbarn und verprügel‘ seine Leiche“, dargeboten von Sänger „Wölfi“ Wendland gerne auch mal unten ohne, mit freiem Blick aufs baumelnde Gemächt. Weil das als Satire durchgeht, haben die vier größtenteils akademisch gebildeten Musiker bislang keine Probleme mit der Bundesprüfstelle.

Johann Nestroy ist ein österreichischer Dramatiker, der vor 150 Jahren starb. Sein Stück „Häuptling Abendwind“ gehört nicht gerade zu den Spielplan-Klassikern; es handelt von zwei Kannibalen, die sich gegenseitig ihre Frauen aufgefressen haben und versehentlich auch noch den Sohn des einen. Ein ziemlich irres Stück, das je nach Interpretation als Satire auf den Nationalismus oder auf das Gebaren der politisch-diplomatischen Klasse durchgeht – in der Hauptsache aber eher noch auf seine Wiederentdeckung wartet.

Häuptlinge des Punk: Uwe Schmieder (li), Uwe Rohbeck. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Häuptlinge des Punk: Uwe Schmieder (li), Uwe Rohbeck. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Die Idee, die „Kassierer“ und Nestroys „Häuptling Abendwind“ in einer „Punk-Operette“ zusammenzubringen, ergibt sofort Sinn – nicht nur, weil die Werke Nestroys, eines ausgebildeten Sängers und Schauspielers, sowieso halb Schauspiel, halb Operette sind.

Wer allerdings erwartet hat, dass das Schauspiel Dortmund in der Regie von Andreas Beck der Gaga-Show der Kassierer und ihren expliziten Texten etwas Hochkultur entgegensetzt, hat sich getäuscht. Die Kassierer und Nestroy, die Gleichung ergibt in Dortmund keine Inszenierung mit punkigem Touch. Sondern Punk auf allen theatralen Ebenen – da wächst zusammen, was zusammen gehört. Johann Nestroy wirkt in dieser Inszenierung wie ein früher Apologet der Punk-Bewegung. Und was noch nicht passt, das wird passend gemacht.

Wie hat man sich das vorzustellen? Zum Beispiel Atala, die Tochter des Häuptlings Abendwind, die in der Originalfassung eine der Zeit gemäße passive Rolle als Stichwortgeberin und Be-Handelte statt Handelnde hat. Darstellerin Julia Schubert zeigt dieser Rollenzuschreibung den blanken Hintern – nicht nur im übertragenen Sinne. „Ist Ihnen aufgefallen, dass ich bisher nur Reaktionssätze hatte?“, fragt  sie das Publikum und klärt es darüber auf, dass das weibliche Fleisch eine ausgebeutete Ressource sei. „Ich habe ein Recht auf lange Monologe“, verkündet sie, zetert „Nieder mit dem Patriarchat“ – und öffnet im rosafarbenen Prinzessinnen-Glitzer-Kostüm Bierpulle um Bierpulle. Mit den Zähnen.

Zum Beispiel die Häuptlinge. Abendwind (Uwe Rohbeck) und Häuptling Biberhahn (Uwe Schmieder in Bollerbuxe und Adiletten) wollen ihre Reiche vor der Leit- und Hochkultur schützen. Sie spekulieren auf eine „anarchische Revolution“ und feiern das Zusammentreffen mit einem Festmahl, das versehentlich aus Biberhahns Sohn Artuhr (Ekkehard Freye) besteht. Der wurde im fernen Europa bei den „Zivilisierten“ erzogen und sollte eigentlich Abendwinds Tochter Atala heiraten. Nun liegt er geschlachtet im Topf, die Häuptlinge stürzen sich kopfüber in die riesigen Tröge, und natürlich gibt es eine angemessen ekelhafte Fress-Schlacht am Bühnenrand, bei der das Essen (Spaghetti mit Tomatensauce) auch schon mal in den ersten Publikumsreihen landet. Dort landen im weiteren Verlauf des Abends auch noch aufblasbare Gummi-Sex-Puppen und, immerhin, einige Flaschen Bier. Denn Sven Hansens Bühneneinrichtung, das sei nachgeholt, besteht ausschließlich aus leeren Bierkisten, aus denen Thron und Sofa gebaut wurden.

Nieder mit dem Patriarchat: Julia Schubert. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Nieder mit dem Patriarchat: Julia Schubert. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Und die Kassierer? Die vierköpfige Band steht die ganze Zeit über auf der Bühne, liefert den Soundtrack, gibt dem Abend ihren Rhythmus, ihren Humor, ihr Niveau. Sänger Wölfi spielt außerdem den Koch. Er trägt, wie immer, ein viel zu kurzes T-Shirt über viel zu dicker Wampe und hat ansonsten das Aussehen eines freundlichen Grüffelos mit Bluthochdruck. Tatsächlich integrieren sich die Songs mühelos in die Nestroysche Handlung: „Arbeit ist Scheiße“, „Blumenkohl am Pillemann“, „Arsch abwischen“, „Mein schöner Hodensack“.

Letzter Song erklingt zum Höhepunkt des Abends, zumindest für die zahlreichen Kassierer-Fans im Publikum. Die sind es von den Konzerten ihrer Band längst gewöhnt, dass Sänger Wölfi sich irgendwann die Hose auszieht, passend zum Songtext: „Hast du schon mal so nen schönen Hodensack gesehen?“ Diesmal erleben sie eine Überraschung. Als Wölfi in seiner Rolle als Kannibalen-Koch seine blutbespritzte Metzgerschürze hebt, erblickt das johlende Publikum Schamhaar-Extensions, eine hübsche Locken-Frisur für untenrum. Sogar das passt weitgehend zu Nestroy: Tatsächlich hat im Stück der zum Festmahl erkorene Friseur Arthur den Koch mit einer neuen Frisur bestochen, auf dass er ihn verschone und statt seiner das Orakel des Stamms schlachte.

Eine Seh-Empfehlung gibt es für: Fans der Kassierer, Punks, Ex-Punks und Möchtegern-Punks sowie für alle, die nach der Lektüre dieses Textes nicht abgeschreckt, sondern neugierig sind. Wer sich jedoch auf ein selten gespieltes Nestroy-Stück freut oder im Theater gerne mal die Frage nach der künstlerischen Notwendigkeit von Nacktheit stellt – der bleibe lieber zu Hause.

Nach 75 Minuten haben die Zuschauer von „Häuptling Abendwind und die Kassierer“ die Genitalien von fünf der acht Beteiligten gesehen. Und wenn es im Song heißt „Ich möchte mir mit deinem Gesicht den Arsch abwischen“, dann wird das auf der Bühne nicht nur gesungen, sondern dargestellt. Insofern ist der Abend vor allem eines: die Erweiterung des Fun-Punk mit theatralen Mitteln. Oder auch: ein theatralisch dargestelltes Musikvideo mit Nestroy-Motiven.




Rio Reiser wäre jetzt 65 – er fehlt mehr denn je

Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=_UlTvJ2POXM

Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=_UlTvJ2POXM

Zum Platz der Kulturen hinter der Backsteinfassade des Kulturzentrums Lindenbrauerei in Unna führt ein Weg. Er heißt “Rio Reiser-Weg”, benannt nach dem legendären Frontmann der ebenso legendären Gruppe “Ton, Steine, Scherben”.

Rio Reiser wäre heute 65 Jahre alt geworden. Und ich fragte mich gerade, ob er im Rentenalter schweigsamer geblieben wäre und den Versuch unterlassen hätte, der fortschreitend wirrer werdende Welt auf seine Art den Zerrspiegel vorzuhalten. Ich denke nein.

Rio Reiser, der am 20. August 1996 mit nur 46 Jahren starb, hieß bürgerlich Ralph Möbius. Er hatte einen Bruder mit Namen Gert und einen, der heißt Peter Möbius und blieb einst durch das Langzeitengagement des “Hoffmanns Comic Teater” in Unna hängen. Damals, in den 1980er Jahren, trieb es auch Rio Reiser dorthin, und er machte Musiken für wegweisende Projekte am Hellweg. Noch heute gibt es dort viele, die dem Musiker und Protagonisten linker Bewegungen Deutschlands liebend-kritisch verbunden blieben.

Rio wählte seinen Künstler-Nachnamen mit Bedacht: Er zog nicht von ungefähr die Romanfigur Anton Reiser herbei, die Karl-Philipp Moritz in seinem – wenn man so will “Lebenswerk” – zwischen 1785 und 1786 in drei Teilen in Berlin veröffentlichte. Anton war in diesem “psychologischen Roman” der Spross einer kleinbürgerlichen Familie, der hoch begabt nach Anerkennung und fortschrittlichen Wegen für sich und seine Zukunft strebte, der den engen Grenzen einer pietistischen Umgebung entweichen wollte, der aus dieser Umgebung zum Rebellen geradezu geboren wurde und Erfolg aus der selben Kraft schöpfte, die ihn rebellieren ließ. Diese Kraft ließ ihn aber auch sein individuelles Scheitern ertragen, in diesem Umfeld, das bisweilen zu stark für ihn war.

Rio Reiser gehörte zu den handverlesenen Intellektuellen seiner Zeit, die Karl-Philipp Moritz und seinen Gedanken zu dessen Epoche und deren besonderen Zwängen näher getreten waren. “Rebell” – das ist die treffende Bezeichnung für ihn. Abseits der immer wieder herunter gebeteten verurteilenden Stereotype, die ihn gern auch heute noch in die Nähe von Gewalt und revoluzzend-zerstörerischen Ambitionen stellen. Ja, er konnte in seinen Texten und in seinem realen Leben auch mal um sich rüpeln. Aber ihn auf solche Einzelfälle zu reduzieren, wird ihm ebenso wenig gerecht, wie ihn auf die Textzeile “… macht kaputt, was euch kaputt macht …” einzudampfen. Auch sollte man sein Lebenswerk nicht nur unter der Zeile „Rio, König von Deutschland“ in Erinnerung bewahren.

Die Deutsch-Rock-Band, deren Frontman er war, “Ton, Steine, Scherben” in der Exegese ihres Namens in die Nähe von Trümmern zu rücken, die nach einem revolutionären Akt übrig bleiben, ist auch völlig blödsinnig. Eine Herkunftsanalyse des Namens besagt, dass Heinrich Schliemann beim Ausheben von Troja Pate stand (“Was ich fand, waren nur Ton, Steine, Scherben.”) Eine andere Version entlehnt den Bandnamen einer alternativen Antwort auf die damalige IG Bau, Steine, Erden, was auch recht wahrscheinlich klingt.

Nun balgen sich völlig unterschiedliche Unterströmungen seit langem darum, ob Rio eine nennenswerte Bedeutung für die bundesdeutsche Nachkriegskultur hatte oder nicht, oder ob er sogar eher schädlich für sie gewesen sein könnte. Sagen wir es so: Das Schädlichste für die abendländische Nachkriegskultur war stets die reichsdeutsche Vorkriegszeit (so um die 12 Jahre während) und deren Nachbeben, die bis heute ihre Ausschläge auf einer nach oben hin offenen Richter-Skala hinterlassen. Und die kamen nicht von einer politischen Linken. Die seismischen Quellen waren woanders zu verorten.

Und daher meine, wenn auch sehr persönliche Einschätzung: Rio Reiser war nicht nur wesentlicher Teil eines kulturellen und gesellschaftlichen Fortschritts, er war nicht nur ein bedeutender Faktor in der modernen deutschen Musik, er war nicht nur ein kluger und facettenreicher Poet, Künstler, Sänger – Rio Reiser war in Europa so etwas wie der Bob Dylan einer Generation, die für sich Hirnselbsständigkeit erzwang, wenn versucht wurde, ihnen diese zu verweigern. Und das ist mehr als mancher Denker, mancher Dichter und fast alle Lenker dieses Landes in der Vergangenheit zu Wege gebracht haben.

Vielleicht fehlt dem Deutschland von heute, das Pegida und AfD-Populismus als akut beklagt, vielleicht fehlt ganz Europa, das Phantomschmerzen aus sogenannter „Islamisierung“ beklagt, vielleicht fehlt aber auch dem Europa, das die Terroropfer von Paris betrauert, heute eine wuchtige Stimme wie die von Rio Reiser. Sie war wahrlich nicht traumschön. Das war Bob Dylans Stimme auch nie. Aber Rio rüttelte unverdrossen wie Dylan an der Engstirnigkeit der Gesellschaft.

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Und schon wieder ist ein Großer gestorben: Joe Cocker goes „Up Where We Belong“

Ehrlich gesagt, die augenblickliche Mortalitätsrate meiner musikalischen Helden von einst empfinde ich derzeit als unangenehm hoch. Obwohl Joe Cocker, als Auge und Ohr meiner Person damals mit ihm in Kontakt gerieten, für mich eindeutig ein Kandidat zum unmittelbar bevorstehenden Eintritt in den Club der 27-er war, die eben so jung sterben.

Aber der liebenswerte Zappelphilipp mit dem unvergleichlichen Whiskey-Organ blieb stabil, überlebte Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrisson, Kurt Cobain, Amy Winehouse und Alexandra. Nur dem Lungenkrebs hielt seine erstaunliche Konstitution nicht stand. Der Star mit dem britischen Blues, an dessen Stimme kaum ein anderer reichte, der Held von Woodstock raspelt seine Riffs nun nicht mehr begleitet vom zupfenden Trema der Finger, die eine Luftgitarre spielten, als die noch unbekannt war. Joe Cocker starb im Alter von 70 Jahren auf seiner Ranch in Colorado.

Joe Cocker 1969 in Woodstock (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=bRzKUVjHkGk)

Joe Cocker 1969 in Woodstock (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=bRzKUVjHkGk)

„Vance Arnold and the Avengers“ hieß die Band, deren Frontman er war, wenn er nach einem langen Arbeitstag als Gasinstallateur die verrauchten Kneipen Sheffields überhitzte. Einmal, 1963 war’s, durften die Jungs aus der englischen Industriemetropole sogar platzend vor Stolz als Vorgruppe für die „Stones“ auf die Bühne. Aber den Raketenstart legte Joe Cocker hin, als er „With A Little Help From My Friends“ von den Beatles coverte. Nie zuvor und nie wieder später interpretierte ein Sänger dieses Lied so eindringlich und virtuos wie Joe (Ringo Starr wird mir diese Feststellung verzeihen).

Auch in Woodstock strahlte sein Stern über alle, und das waren damals, 1969, die Besten der Größten. Ein schmaler Junge, der schon fast so alt wirkte wie er einmal werden sollte (nur die Fülle der Haare verriet seine Jugend), ein fast zerbrechlich erscheinender Jüngling barst los, füllte mit einer einzigartigen Stimmgewalt die zerregnete Festivalwiese und ließ jede Sekunde seines Auftrittes die Besucher an seinen Lippen hängen.

Nach Woodstock und dem folgenden Stargerumpel um den Plumber (engl.: Installateur) aus Sheffield kam postwendend der Absturz. Joe Cocker kippte und rauchte in seinen Körper hinein alles, was berauschend zeitgemäß war, er betrieb Raubbau an seiner Physis und seinem Talent, war hilflos eigensüchtigen und gierigen Beratern ausgeliefert. „Wenn du erst mal in dieser Abwärtsspirale bist, dann ist es schwierig, da wieder rauszukommen. Ich brauchte Jahre, das zu schaffen“, erzählte er in einem Interview der „Daily Mail“.

Er brauchte Jahre, so viele Jahre, dass ich beinahe vergessen hätte, dass er noch am Leben war. Diese Zeit und eine Frau namens Pam Baker, die er später heiraten sollte, brauchte er, um sich gegen die Abwärtsspirale zu stemmen. Und gemeinsam schafften sie das auch.

„Geh‘ mal in ‚Officer And Gentleman'“, riet mir ein Freund damals. „Und wenn’s nur wegen des Soundtracks ist.“ Ich ging und sah mir die weinerlich-romantische Story mit dem jungen Richard Gere und Debra Winger an. Aber beide waren vergessen, wenn Joe Cocker mit Jennifer Warnes „Up Where We Belong“ anstimmten. Nicht der Plot des Filmes, sondern Joe’s künstlerische Auferstehung trieb mir Tränen in die Augen.

Ja, er war wieder da, voll da. „When The Night Comes“, „N’oubliez jamais“, „Unchain My Heart“ – nur ein paar der Comeback-Hits. Und es schien (mir zumindest), als wäre seine Stimme mit jedem Mal besser geworden. 40 Alben eines Fieberkurvendaseins im Haifischbecken des Showgeschäftes zeugen von Pam Bakers felsenfester Überzeugung, dass die Menschen Joe Cocker wieder und wieder hören wollten. Eine Überzeugung, die sie liebevoll auf ihn übertragen hatte. 2012 erschien mit „Fire It Up“ das letzte Cocker-Werk. Und es ist nicht lange her, da kündigte er noch an, im kommenden Jahr eine neue Produktion folgen zu lassen.

Da holte ihn jedoch der unbarmherzig ablaufende Sand des Uhrenglases ein. Bye, Joe!

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Zur Ergänzung: ein Cocker-Porträt von Klaus Schürholz.




Udo Jürgens lebt nicht mehr – doch so vieles klingt noch nach

Udo Jürgens singt "Siebzehn Jahr', blondes Haar"... (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=2-g7bDHHEnA)

Udo Jürgens singt „Siebzehn Jahr‘, blondes Haar“… (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=2-g7bDHHEnA)

Irgendwie teilten wir uns allerlei im Leben. Obwohl er mir stets mit 15 Jahre voraus ging. Obwohl er „meine Musik“ nie machte, mochte ich vieles von dem, was er mit seiner Musik verbreiten wollte.

Udo Jürgens, der ewig jugendliche Musikant, der als Udo Jürgen Bockelmann zur Welt kam, der Mann, den ein glühender Antifaschismus befeuerte, der „sich für die Schweiz schämte“, als deren Bürger sich Anfang des Jahres 2014 mit knapper Mehrheit für die Vorstellungen der Eidgenössischen Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ aussprachen, er starb jetzt, am 21. Dezember des selben Jahres: Im Alter von 80 Jahren wollte sein Herz nicht mehr schlagen.

Ich höre noch, wie Robert Lembke ihn grantelnd fragte, nachdem das Schweinderl schwerer geworden war und der Ratetrupp Udo Jürgens Namen lauthals ins Studio posaunt hatte: Er möge ihm doch verraten, warum er diese entsetzlich langen Haare trüge, er sei doch sonst ein richtig netter Kerl. Udo begann freundlich und geduldig dem älteren Robert zu erläutern, dass es nun mal Mode der Zeit sei und es ihm zudem wirklich gefiele. Er konnte Lembke nicht nachhaltig überzeugen, aber für einen netten Kerl hielt er ihn doch.

Ich höre noch, wie er zum ungeteilten Entzücken des Publikums in der Theateraula zu Kamen „Siebzehn Jahr‘, blondes Haar“ schmetterte und ich in einem Ausbruch von Leidenschaft den Takt mit dem rechten Fuß stampfte. Zurück in der Redaktion tippte ich als erstes die Überschrift: „Spät kam er nach Kamen, aber er kam und kam nicht zu spät“. Tags drauf maulte mein damaliger Chef Günter Schaumann, dass in Überschriften Satzzeichen nichts zu suchen hätten. Er sollte in den folgenden Jahren nicht der Letzte sein, der sich darüber mokierte.

Ich höre noch, wie es an meinem 50. Geburtstag aus den Disko-Lautsprechern bedauernd scholl: „Ich war noch niemals in New York …“ Noch ahnte ich nicht, dass ich ein paar Stunden später genau dorthin abheben sollte.

Ich höre noch Bing Crosby, wie er für den Titel „Come Share the Wine“ bejubelt wurde, der als „Griechischer Wein“ europäische Charts in Serie stürmte und den damaligen Oberhellenen Karamanlis bewegte, Udo Jürgens und seinen Texter Michael Kunze mit rotem Teppich zu empfangen, weil sie so schön emotional gespiegelt hätten, was Gastarbeiter aus ihrer Heimat in deutscher Ferne so bewegte.

Ich höre noch das „Ehrenwerte Haus“ oder „Rot blüht der Mohn“, nur zwei Beispiel-Melodien dafür, dass Udo Jürgens und seine Texter (u.a. Eckart Hachfeld) Politik und gesellschaftliche Probleme nicht aus ihrer Form der populären Musik heraushalten wollten.

Und ich höre noch heute gern „Viel Dank für die Blumen“, das Lied, das eine jede Folge „Tom und Jerry“ einleitete und dessen unübertroffene Fröhlichkeit das vorweg nahm, was kurz darauf an einem Feuerwerk des gezeichneten Slapsticks abgebrannt wurde.

Der unverwüstlich wirkende Udo Jürgens, dessen Bruder Manfred ein ungemein begabter Fotograf war, zu dessen Familie mütterlicherseits der Dadaist Hans Arp zählte, der mehr als 1000 Titel schrieb und gleich mehrere Generationen in seinen Bann zog; nun ist sein schöpferisches Leben beendet. Und vor wenigen Wochen schrieb mein Freund Lars Reckermann noch, wie sehr es sich gelohnt habe, sein letztes Konzert in diesem Jahr besucht zu haben.

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Für die Revierpassagen hat Britta Langhoff im November eines der letzten Konzerte von Udo Jürgens besucht – in Oberhausen.




Chapeau für einen der Großen im Musikgeschäft – Udo Jürgens in Oberhausen

„Udo Jürgens? DU gehst zu Udo Jürgens? Freiwillig?“ So ungefähr darf man sich die Reaktionen auf mein erklärtes Vorhaben vorstellen, zum Oberhausener Gastspiel des Entertainers zu gehen.

Und auch der ein oder andere Leser wird sicher irritiert eine Augenbraue hochziehen, denn bisher bin ich wohl eher als inoffizielle Punk-Rock-Beauftragte dieses Kulturblogs aufgefallen. Aber ja – ganz freiwillig war ich mit einer Freundin bei diesem Konzert. Unsere Motive waren zwar eher privat begründet, aber das tut hier nun mal nichts zur Sache, wenngleich es erfreuliche Beweggründe waren.

Aber wenn ich schon einmal da war, kann ich auch davon berichten. Denn lohnenswert ist Udo Jürgens live allemal, auch wenn der eigene Musikgeschmack eigentlich ein ganz anderer ist. Meine Erwartungshaltung war es, ein Stück deutsche Musikgeschichte einmal live zu erleben und eine perfekte Show zu sehen. Denn für perfekte Shows habe ich – ungeachtet des Stils – ein Faible, ist doch gerade das vermeintliche Leichte so schwer perfekt darzubieten.

Das Fazit vorweg: Unsere Erwartungshaltung wurde nicht enttäuscht, ganze drei Stunden boten Udo Jürgens und das Pepe Lienhard Orchester perfekte Unterhaltung. (Nur so zum Vergleich: Unser Sohn war neulich in den Westfalenhallen bei einem Konzert des hochgelobten Rappers Macklemore, der hatte bereits nach anderthalb Stunden fertig, zum selben Konzertkartenpreis wohlgemerkt).

Udo Jürgens live ist etwas ganz anderes als ein Fernsehauftritt des Entertainers, es ist eine ganz andere Welt, in die Udo Jürgens auf der Bühne sein Publikum mitnimmt. Eine Welt, in der Lieder die Menschen verbinden und auf die er seine Fans schon mit einem grandiosen Opening einstimmt. Die Halle ist dunkel, auf der Leinwand erscheint eine Weltkugel, das Orchester spielt, man hört seine Stimme „Die Welt braucht Lieder“ singen und dazu sehen wir eine virtuelle Weltreise. Das Konzert hat noch gar nicht wirklich angefangen und man schluckt bereits den ersten Kloß im Hals herunter.

Danach geht es zunächst gemächlich weiter. Gassenhauer haben erst im letzten Teil des Konzerts ihren Platz. Das ist wohl in jedem Musikgenre gleich. Zunächst präsentiert Udo Jürgens Lieder, die durchaus dem Anspruch eines Chansons genügen, sowohl aus seinem neuen Album „Mitten im Leben“ als auch aus den vergangenen Jahrzehnten.

Thematisch ist er breit aufgestellt, gerne auch mit aktuellem Bezug wie im „gläsernen Menschen“, wo er sein Publikum eindringlich vor zuviel Naivität im Umgang mit „Neuland“ warnt. Bei Udo Jürgens hat Unterhaltung eben auch immer mit Haltung zu tun. Auch wenn manche Wahrheiten wie die, dass man seine Fehler gefälligst erstmal bei sich selbst suchen soll, schlicht sind – es bleiben dennoch Wahrheiten. Es entbehrt auch nicht eines gewissen Charmes, wenn der Grandseigneur seinem gutsituierten Publikum ins Gewissen redet. Einer muss es ja machen.

Das heißt nicht, dass seine Hits zu kurz kommen, ganz und gar nicht. Fast alle bekannten Stücke kamen zumindest in Medleys zu Gehör, manch altes Schätzchen wie das fast 50 Jahre alte „Und immer wieder geht die Sonne auf“ kam zu neu arrangierten Ehren. In seinen Ansagen betonte Udo Jürgens, dass er seine Hits nach wie vor gerne singt, für ihn sind es Lieder, denen er viel verdankt und für die er sich niemals schämen würde.

Dabei wird aber durchaus die Gelegenheit genutzt, den oder anderen Hit ganz anders arrangiert zu bringen. Wenn beispielsweise der – mich über die Jahrzehnte zuverlässig nervende – „Griechische Wein“ als Ballade gesungen wird, fällt tatsächlich doch mal auf, welch bewegenden Text dieses Lied hat und man kommt nicht umhin, den Vergleich mit BAP’s „Verdamp lang her“ zu ziehen. Welch grandiose Missverständnisse der Popgeschichte diese Lieder doch sind. Welch bewegende, persönliche Texte und dann oft genug als Schenkelklopfer im Bierzelt genutzt. Schön, das mal so ganz anders gehört zu haben.

Seit 38 Jahren bestreitet Udo Jürgens seine Konzert nun mit dem Pepe Lienhard Orchester. Länger als die meisten Ehen dauern, wie der Sänger augenzwinkernd anmerkt. Zusammen alt geworden, zusammen perfekt geworden und geblieben. Von der ersten bis zur letzten Minute sitzt da jeder Ton, nichts wirkt abgenudelt, alles ist sorgfältig arrangiert und auf den Punkt dargeboten.

Exzellente Musiker hat er da um sich versammelt, die auch erfreulich viel Raum und Zeit bekommen. Erstaunlicherweise ist es nicht so, dass das Publikum keinem anderen Gott neben ihm huldigen darf. Viele Soli sind zu hören, auch andere Sänger bekommen eine Plattform, was vor allem den ausführlichen „New York“-Teil zu einem besonderen Erlebnis macht.

Zum Schluß gibt es natürlich die obligatorische Bademantel-Nummer, aber bitte – Rituale wolle gepflegt sein, vor allem, wenn man sie selbst erfunden hat. Und zugegeben: Ein Mann alleine am Flügel, dessen Stimme auch mit 80 Jahren noch eine Halle von der Größe der Arena Oberhausen mühelos trägt, das nötigt ja auch Respekt ab.

Nur folgerichtig, dass das Publikum den Entertainer euphorisch feierte. Aber mit so einem Lebenswerk darf man sich ruhig auch episch feiern lassen, das haben andere weit weniger verdient. Entsprechend gerührt und dankbar nahm Udo Jürgens diese Ehrbezeugungen auch an.

Auch wenn er immer sagt, dass er im Gegensatz zu anderen Künstlern seine letzte Tournee niemals ankündigen würde, er wird wissen, dass jede Tournee, jedes Konzert schon das Letzte sein könnte und es wird entsprechend zelebriert. Mit Respekt und Würde, aber auch mit Sentimentalität. Und wenn in 30 Jahren vielleicht meine Enkel noch zu „Ich war noch niemals in New York“ feiern, dann kann ich sagen „Ich hab‘ den Mann live gesehen und es war sehr beeindruckend“. Chapeau, Udo Jürgens.




Rockoper über Kevin Gilbert – die Wiederentdeckung eines musikalischen Genies

Madonna, Michael Jackson, Sheryl Crow – es sind Persönlichkeiten mit großen Namen, die im Leben des musikalischen Genies Kevin Gilbert eine Rolle spielten. Seinen Namen hingegen kennt kaum jemand. Das will Singer-Songwriter Stefan Weituschat jetzt ändern („Er hätte der John Lennon seiner Generation werden können“) und organisiert die europäische Uraufführung von Gilberts Rockoper „The Shaming of the True“ am 9. November in der Stadthalle Oer-Erkenschwick. Ein Projekt, das vor Herzblut, Verrücktheit und echter Liebe sprüht.

Stefan Weituschat bei der Probe von "The Shaming of the True". (Fotos: Tim Jansen)

Stefan Weituschat bei der Probe von „The Shaming of the True“. (Fotos: Tim Jansen)

Die Geschichte beginnt vor 15 Jahren, bei einem Konzert von „Spock’s Beard“ in Düsseldorf. Bevor die US-Prog-Rock-Band die Bühne entert, dröhnt ungewöhnliche Musik durch die Lautsprecher. Stefan Weituschat (38) kommen ein paar Worte, ein paar Zeilen davon bekannt vor. Sie erzählen von der Liebe zur Musik, der Sehnsucht nach Erfolg, den Schachzügen der Plattenindustrie. Stefan Weituschat ist selbst ein junger Musiker; er kennt diese Kämpfe, dieses Hin und Her zwischen Kunst und Kommerz, Hoffnung und Enttäuschung. Das Gehörte lässt ihn nicht los. Es ist „The Shaming of the True“ von Kevin Gilbert. Stefan Weituschat stürzt sich in die Recherche – und stößt auf ein kurzes, aber außergewöhnliches Musikerleben.

„Der talentierteste Musiker, den ich je getroffen habe“

„Der talentierteste Musiker, den ich je getroffen habe“ – so sprechen einstige Kollegen von Kevin Gilbert. Und tatsächlich sieht es anfangs gut aus für den gebürtigen Kalifornier: Schon als Teenager nimmt er mit seiner Band „Giraffe“ erste Tracks auf, gewinnt einen großen Musikwettbewerb, trifft die richtigen Leute, ist dabei, als Michael Jackson und Madonna Songs aufnehmen.

Die Probe von "The Shaming of the True". (Fotos: Tim Jansen)

Die Probe von „The Shaming of the True“. (Fotos: Tim Jansen)

Gemeinsam mit anderen Songwritern trifft er sich jeden Dienstag, um Songs zu schreiben und aufzunehmen – der „Tuesday Music Club“. Kevin Gilbert bringt irgendwann eine junge Frau mit, ebenso Musikerin, bisher aber ohne großen Erfolg. Ihr Name ist: Sheryl Crow. Fortan geht es in den dienstäglichen Treffen um ein Album für sie.

Das Drama mit Sheryl Crow

Ihr Debüt – bezeichnenderweise mit dem Titel „Tuesday Night Music Club“ – wird ein Riesenerfolg, vor allem auch durch den Song „All I Wanna Do“. Was dann geschieht, vergleicht Joel Selvin vom San Francisco Chronicle mit einem klassischen Hollywood-Drama: Künstler trifft Künstlerin, wird ihr Mentor, bis sie erfolgreich ist – und wird geschasst. Es kommt zu Streitigkeiten über die kreative Urheberschaft. Selvin zufolge gab es Gilbert den Rest, als Sheryl Crow den Song „Leaving Las Vegas“ in der David Letterman-Show als autobiographisch bezeichnet. Kevin Gilbert bekommt zwar als Koautor von „All I Wanna Do“ 1995 einen Grammy. Zwischen Sheryl Crow und ihm aber kommt es zum großen Bruch. Die Verletzung, die Enttäuschung ist riesig.

Die Kraft der Musik hat alle bei der Probe von "The Shaming of the True" gepackt. (Fotos: Tim Jansen)

Die Kraft der Musik hat alle bei der Probe von „The Shaming of the True“ gepackt. (Fotos: Tim Jansen)

Gilbert stürzt sich in seine eigenen Projekte. Der Erfolg aber bleibt aus. 1996 findet sein Manager ihn tot in seiner Wohnung, erstickt. Kevin Gilbert ist gerade 29 Jahre alt.

Das letzte große Werk – nach dem Tod veröffentlicht

Sein Freund Nick D’Virgilio (Gitarrist von Spock’s Beard) und Manager Jon Rubin sorgen dafür, dass sein letztes großes Werk nach seinem Tod veröffentlicht wird: die Rockoper „The Shaming of the True“. Die Geschichte des Rockmusikers Johnny Virgil, der auf seinem Weg nach ganz oben in Drogen und Alkohol versinkt und sich selbst verliert, hat durchaus autobiographische Züge. „Aber es ist auch heute, in einer Welt der Casting- und Popstars, die dem Erfolg hinterherrennen, eine wichtige Botschaft: dass es in Wirklichkeit nicht auf die Dollarscheine ankommt, sondern darauf, sich selbst zu akzeptieren“, sagt Stefan Weituschat.

Erstmals in Europa

Bis heute wurde das Werk erst zwei Mal in den USA aufgeführt. Die Idee, es erstmals auch in Europa zu zeigen, kam Stefan Weituschat vor einem Jahr, bei einem Spaziergang. „Natürlich wollte ich das schon immer spielen, seit ich es entdeckt habe. Aber allein auf der Gitarre fehlt unglaublich viel. Dafür braucht man eine Rockband.“ Also trommelte der Singer-Songwriter, der sich zum Beispiel als „Der feine Herr“ oder mit der Band „anna.luca“ Gehör verschafft hat, seine Musikerfreunde zusammen: Neben ihm als Frontmann wirken Thomas Elsenbruch (Keyboards, Vocals), Christoph Granderath (Gitarren, Vocals), Freddi Lubitz (Bass, Vocals), Sven Hansen (Schlagzeug) und Max Klaas (Percussion) mit. Er nahm auch Kontakt zu Jon Rubin und Nick D’Virgilio auf – und erntete Begeisterung.

Kevin Gilberts Musik ist "authentisch und stark" - fanden die Musiker bei der Probe von "The Shaming of the True". (Fotos: Tim Jansen)

Kevin Gilberts Musik ist „authentisch und stark“ – fanden die Musiker bei der Probe von „The Shaming of the True“. (Fotos: Tim Jansen)

 

Authentisch und stark

Die Arbeit allerdings ging damit erst los. Denn außer der CD gibt es keinerlei Material für „The Shaming of the True“ von Kevin Gilbert – keine Noten, keine Regieanweisungen, nichts. „Deswegen wird es kein Musical, sondern eher ein Konzert mit Geschichte“, erklärt Stefan Weituschat.

Damit die Zuschauer Johnny Virgils Weg folgen können, gibt es immer wieder szenische und atmosphärische Videofilme. Vor allem aber ist es die Musik, die spricht. Eingängig sei die und voller Emotionen, vergleichbar mit Peter Gabriel, Steely Dan, Sting, Spock’s Beard, Marillion und Jellyfish, mal sehr rockig, mal melodiöser, dann epochal. Die Kraft der Musik packte auch Stefan Weituschat und seine Bandkollegen bei der ersten Probe:

"Dafür braucht man eine Rockband": Die Probe von "The Shaming of the True". (Fotos: Tim Jansen)

„Dafür braucht man eine Rockband“: Die Probe von „The Shaming of the True“. (Fotos: Tim Jansen)

„Wir waren alle durch die Bank überrascht, dass das so authentisch und stark ist. Das Material lebt schon so lange in mir, aber erst mit der Band habe ich gemerkt, wie nah einem das alles ist. Beim Singen habe ich richtig Gänsehaut bekommen.“

„Er hätte der John Lennon seiner Generation werden können“

Dieses Herzblut, hofft Stefan Weituschat, kommt auch bei den Zuschauern an. „Ich möchte, dass dieser Funke, der mich damals gepackt hat, auch die Leute vor der Bühne erreicht.“ Ein wenig hofft er auch, etwas wieder gut machen zu können für Kevin Gilbert, dieses verkannte Genie. „Diese Musik hat einfach noch zu wenige Ohren erreicht. Er hätte der John Lennon seiner Generation werden können“, sagt Stefan Weituschat. „Unser Anspruch ist, dass er stolz wäre.“

Übrigens – die Aufführung von „The Shaming of the True“ am 9. November könnte weitere Kreise ziehen: Mark Hornsby, musikalischer Leiter der letzten US-Produktion, hat eine Zusammenarbeit mit ihm und Nick D’Virgilio für die Zukunft nicht ausgeschlossen. „Eine Tour mit den beiden wäre natürlich ein Traum“, so Stefan Weituschat.

Fakten: 9. November 2014, 20 Uhr, Stadthalle Oer-Erkenschwick, Tickets bei der bei Stadthalle Oer-Erkenschwick oder eventim, mehr Infos auf Facebook




Dortmund als Spaghettiträger-Metropole: „Juicy Beats“ mal anders betrachtet

Um 12 Uhr mittags gehen im Dortmunder Kreuzviertel die Türen auf. Heraus strömen die Freiluftlivemusikfreunde. Gelassen und lässig wandern sie zum Westfalenpark. Manche sind ausgerüstet wie für einen Kurzurlaub, anderen reichen Flipflops und ein Jutebeutel mit Proviant. Die meisten sind zwischen 15 und 30.

Die Palette ihrer Lieblingsmusiken reicht von Raggae bis House, von Ethno bis Hiphop. Um 12 eröffnete das diesjährige 19. Juicy Beats Festival, das zum ersten Mal (damals noch unter dem Titel „Juicy Fruits“) am 26. Juli 1996 die Live-Musik in Dortmund unter dem Sonnensegel im Westfalenpark bereichern wollte. Inzwischen haben sich Programmumfang und Publikum vervielfacht. Ausverkauft. Früchte sind die Wegweiser zu den Veranstaltungen –  über 40 Live-Acts und 100 DJs, die dafür sorgen, dass hier keine Ruhe einkehrt.

Alles so schön bunt hier: Screenshot der "Juicy Beats"-Homepage.

Alles so schön bunt hier: Screenshot der „Juicy Beats“-Homepage.

Als „Alter Sack“ fühle ich mich wie Methusalem und beobachte das Treiben und sehe nur einige  Ü40er und Ü50er oder sogar mehr, manche in Erinnerung an früher, andere, um sich das Jungsein zumindest musikgeschmacktechnisch zu erhalten, manche auch, weil sie so sind, wie sie sind. Alle verlassen sich auf den Wetterbericht. Sommerliche Kleidung, zuversichtliche Gesichter, hier eine lange Party zu feiern. Kein Regen, also kein Woodstock in Dortmund mit vermatschten Böden und klitschnassen Liebespaaren.

Schon lange bin ich kein regelmäßiger Konzertbesucher mehr. Nur ab und an verschlägt es mich zu Pop- oder Rockmusikveranstaltungen. Meist muss man stehen oder wird gar zu Bewegungen aufgefordert, die allgemein als Tanzen bezeichnet werden. Ganz anders natürlich „früher“. In den 70ern gab es eine Band namens „Juicy Lucy“ (https://www.youtube.com/watch?v=qcPGtxUqAVU), die ich live im Londoner Marquee-Club gesehen habe, auch „Cream“ und „Tyrannosaurus Rex“. Wow! Die Liste der Bands war übersichtlich. Es wurde nicht getanzt, sondern gewackelt. Ich erinnere mich an die Rolling Stones Konzerte in Stadien, wo gleich mehrere Generationen zugegen waren. Ich war einer unter Tausenden auf der Isle of White, erinnere mich aber nur dürftig daran. Der Alkohol war mein Festivalbegleiter. Wäre ich fit wie die Turnschuhe, die in variabelsten Variationen mit den Füßen der Juicy Beatler verankert sind, würde ich Wacken in Angriff nehmen, aber dort wird heftige Kondition verlangt. Dagegen ist es im Westfalenpark eher beschaulich, allerdings mit gefühlten tausend Musikrichtungen. Das macht es dem Flaneur und der Begleitung einfach.

Viele Spezialisten versammeln sich, aber ebenso welche wie ich, die keinen Überblick über Bands und Musikgruppen haben, sondern einfach flanieren, rein in die Menge und ab die Post. Das Dortmunder Festival gehört inzwischen sicher zu den beliebtesten im Lande, gut organisiert, große Auswahl, gute Stimmung, angemessener Preis.

Meine Begleiterin ist partyerprobt und schmeißt sich als Mid-Agerin ins Vergnügen. Hier ein paar ihrer Eindrücke:

15 Uhr Wallis Bird aus Irland – eine sympathische rote, blonde, kleine Rockröhre begeistert mit ihrem Gitarrenrock auf der Rentless Energy Stage. Es ist jetzt schon voll mit Leuten. 16.30 Frittenbude. „Mit Heißhunger geht man nicht auf solche Veranstaltungen“, denke ich, aber Frittenbude ist eine Band. Three guys on stage auf der Mainstage gefallen meiner Begleitung mit ihrem Remix über die Liebe, Elektro, Punk und Hip Hop. 17 Uhr: Kalle Mattson im Spatengarten, kanadische Band, wunderbar sonore Stimme aus Kanada, Akustik- und E Gitarre und Horn. Findet sie sehr relaxt. Der Frontmann sagt, er habe noch nie so viele Spaghettiträger-Shirts (Tank Tops) in seinem ganzen Leben gesehen, wie heute. Dortmund ist also die Spaghettiträger-Metropole. Oma Doris Indiestage gefällt ihr am besten, mit dem Sofa unter Nadelbäumen.

17.30: Swimming TV – ein wie ein Nerd aussehender, sehr junger DJ mit Laptop und Schlagzeug, knarzige Klick-Klacksounds bis treibende Beats. Lange Schlangen an den Klos. 19:15: Frans Zimmer nennt sich „Alle Farben“, gefällige Elektrobeats…sehr tanzbar. Ein kleiner Mann bringt Hunderte zum Tanzen. Zwischendurch gibt´s ne knallrote Konfettibombe im Sonnenuntergangslicht… “Wow“, sagt sie. 21.00: Auf der Funkhaus Europa-Bühne bringt uns Ebo Taylor mit seiner 6-köpfigen Band zum Grooven. Der 78jährige Erfinder des Afrobeat (O-Ton) begeistert sie mit seinem jazzig funkigen Hip-Hop. 22.20:  An der FH Drum´n´Bass, Dubstep & Bassmusik Floor legt Doc Scott auf, wohl einer der prägendsten Persönlichkeiten der Drum ´n´ Bass Szene, bringt die Menschen im Nebel zum Schwingen und hüpfen und zucken.

Ansonsten gab es noch einen Junggesellinnenabschied, die einem verdutzten Mid-Ager unbedingt das Waschetikett aus der Unterhose trennen musste…die Sammlerleidenschaften! Um 22.00 Uhr waren die großen Bühnen fertig und das wilde Gesuche, wo noch was ist, geht los. Daddy Blatzheim und See-Pavillon war wohl das vollste. Aus dem Spatengarten klang 80-er Groove. Und nachts geht die Party ab. Damals waren DJs auf Live-Bühnen noch nicht zu sehen. Sie standen in sogenannten Diskotheken hinter ihren Plattentellern und kündigten um 22.00 Uhr die Ausweiskontrolle des Jugendamtes an.

Juicy Beats ist eine Massenveranstaltung, die sich auf dem Gelände in kleine Massen aufteilt, ein Festival mit Auswahl, für ahnungslose neugierige Musikfreunde aller Altersklassen zu empfehlen. Da kann man auch mal als älteres Paar nach langer Zeit mal wieder heimlich hinter dem Gebüsch knutschen und dabei Raggaesounds lauschen. Die Duftwelle süßen Qualms führt zur notwendigen Lässigkeit. Heute hab ich wieder was gelernt und bin noch nicht soweit, Makramee-Kurse für Senioren zu besuchen.




Keine Genre- und Generationengrenzen – das Festival in Moers zeigt, wie das geht

Es gibt keine Genres mehr. Dieser Gedanke kann nur den erschrecken, der Kunst, Literatur oder Musik verwalten, beschreiben oder verkaufen muss. Für den Betrachter, Leser oder Zuhörer aber dürfte die Aufhebung der Genre-Abgrenzungen eine Bereicherung mit sich bringen. Seit seiner Gründung 1972 hat das Festival in Moers vielfältige Experimente gewagt und bereits vor acht Jahren konsequenterweise die Bezeichnung „New Jazz“ aus seinem Namen gestrichen. Das Moers Festival lädt seine treuen und neuen Besucher zu einer lustvollen Odyssee in die Grenzregionen des musikalischen Kosmos ein, in denen Begriffe wie Free Jazz, Neue Musik, Elektronik und Post-Rock ihre Bedeutungen verlieren oder eine neue gewinnen.

Mögen die Veranstalter eines anderen, räumlich nicht weit entfernten Festivals durch ihr breitgefächertes Angebot die verschiedensten Zielgruppen am Hochofen versammeln – zu etwas Neuem verschmolzen werden die Genres nicht in Duisburg, sondern in Moers. Es geht weniger darum, beispielsweise einen eingefleischten Thrash-Metal-Fan zu verführen, sich auch einmal einen lyrischen Songwriter anzuhören. Vielmehr lösen sich solche Begriffe im Verbrennungsprozess auf der Moerser Bühne in Schall und Wasserdampf auf.

Erfolgreiche Duo-Reihe

Die Inklusion des Andersartigen wird nicht zuletzt durch die gut etablierte Duo-Reihe erreicht, die bereits auf vorangegangenen Festivals die heterogensten Künstlertypen zusammenbrachte. In diesem Jahr traten vier Duos auf, deren jeweilige Bestandteile unterschiedlicher kaum sein können.

Foto: Moers Festival

Frauen spielen eine zunehmend stärkere Rolle im Jazz
Ava Mendoza by Peter Gannushkin

Die in der Neuen Musik beheimatete Robyn Schulkowsky (nach eigener Aussage zieht sie „Drummer“ den Bezeichnungen „Perkussionistin“ oder „Schlagwerkerin“ vor) und der Jazz-Schlagzeuger Joey Baron begrüßten es, einmal nicht vor ihrem gewohnten Fachpublikum zu spielen. Zwei durchkomponierte Stücke von Christian Wolff – neben John Cage, Morton Feldmann und David Tudor der Vierte der sogenannten „New York Four“ – brachten sie dem begeisterten Publikum gekonnt zu Gehör. Gerade bei den leiseren Partien machte sich die neue Festivalhalle im Vergleich zum bisherigen unruhigen Zirkuszelt bezahlt.

Moers vereint nicht nur Genres, sondern auch Generationen (das mag beim Traumzeit Festival in Duisburg auch der Fall sein, doch dort besuchen die unterschiedlichen Generationen vermutlich unterschiedliche Konzerte). Ein Altersunterschied von einundvierzig Jahren liegt zwischen dem niederländischen Schlagzeuger Han Bennink, der bereits im Jahr der Festivalgründung in Moers auftrat, und seinem Duo-Partner an den Tasteninstrumenten, Oscar Jan Hoogland. Han Bennink setzt sich beispielsweise breitbeinig auf den Bühnenboden, auf den er mit zwei Stücken trommelt. So unterhält er das Publikum mit Witz, Gymnastik und Clownerien in lässiger Durchlässigkeit von Lebensaltern und Stilen.

Aus unterschiedlichen Generationen und Musikwelten stammen auch die beiden Kölner Jaki Liebezeit und Marcus Schmickler. Jaki Liebezeit, seinerzeit bekannt geworden als Schlagzeuger der Gruppe Can, trommelt auch mit 76 Jahren konzentriert und präzise seine repetitiven Schlagfolgen, die durch Komplexitätsreduktion und Ausdauer auf eine hypnotisierende Wirkung abzuzielen scheinen. Marcus Schmickler, in der Kölner Club- und DJ-Szene heimisch, fügt von seinem kleinen Elektronikpult aus synthetische Sounds hinzu, was optisch und akustisch ein bisschen an die Düsseldorfer von Kraftwerk erinnert.

Arto Lindsays punkig-schräge Gitarrenklänge und der norwegische Hochgeschwindigkeitsdrummer Paal Nilsson-Love bildeten am Sonntag das vierte Duo des Fests. Ihr erster gemeinsamer Auftritt im Club Audio Rebel in Rio de Janeiro, meint Arto Lindsay, sei magisch gewesen. Mag sein. Leider lässt sich Magie nicht planen. In Moers war das improvisierte Zusammenspiel der beiden gut, ein halbstündiges Vergnügen ohne Zweifel; Arto Lindsay schien Spaß zu haben, und der Drummer arbeitete und schwitzte enorm. Lediglich der Eindruck von Magie sprang nicht aufs Publikum über.

Denn schließlich pilgern viele Menschen zu Pfingsten nach Moers, um das Unglaubliche zu erleben – „jazz has to be exceptional, not normal“, wie das Zitat von Sonny Rollins an einem der Tragpfeiler der neuen Festivalhalle lautet. Das Außergewöhnliche bekam das Publikum in der Nacht von Sonntag auf Montag nach Mitternacht mit dem Auftritt von Sarah Neufeld und Colin Stetson zu spüren. Beide sind keine unbeschriebenen Blätter; Sarah Neufeld aus der Montréal-Szene, wo Colin Stetson ebenfalls seit einiger Zeit lebt; beide aus dem Umfeld der Post-Rock-Gruppe Arcade Fire, mit denen sie auf Tournee waren beziehungsweise sind; Sarah Neufeld, die Violinistin, die bereits vor zehn Jahren mit dem Bell Orchestre ihr erstes, stark beeindruckendes Album aufgenommen hat; Colin Stetson, der alle Saxophonarten, einschließlich des gigantischen Basssaxophons sowie Klarinette, Flöte und Waldhorn beherrscht und dessen Kunst der Zirkulationsatmung schier endlose Arpeggio-Bögen hervorbringt; Sarah Neufeld und Colin Stetson, die sich gegenseitig werbend umspielten, schufen wahrhaft magische Passagen. Musik, für die ein Genre-Name erst noch erfunden werden muss – oder auch nicht.

Colin Stetson ist bereits zu Pfingsten 2009 solo in Moers aufgetreten; Sarah Neufeld dürfte nun zehn Jahre nach ihrem Debüt endlich auch als Solo-Künstlerin gefragt sein.

Big Bands als Kontrapunkte in der Komposition des Programms

Der musikalische und optische Gegenpol zu den Duos und dem Ein-Mann-Auftritt von Marc Ribot, der am ersten Festivalabend seine thematische und spieltechnische Ausweitung der Gattung „Protestsongs“ präsentierte, waren die Big Bands. Mit einer unüblichen Orchester-Variante bestand die neue Festivalhalle am Freitagabend ihre Feuerprobe. Das Orchester bestand nur aus einer Sorte Instrument, das aber gleich vierundvierzig Mal. Vierundvierzig gleiche Kontrabässe? Nicht ganz. Einer davon war das auratisch besonders aufgeladene Instrument, das einstmals dem Pionier des Free Jazz Peter Kowald gehört hatte. Was aus einem solch monoinstrumentalen Orchester an Nuancen zu erzielen ist, hat Sebastian Gramms‘ „Bassmasse“ aus dem Holz herausgeholt.

Greg Haines begleitete die Zuhörer in den frühen Pfingstmontag Foto: Moers Festival

Greg Haines begleitete die Zuhörer in den frühen Pfingstmontag
Foto: Moers Festival

Natürlich gab es auch „richtige“ Big Bands, mit Blech- und Holzblasinstrumenten; vor allem zum Abschluss eines jeden Programmtags, wenn am Rand der Halle getanzt wird. Das begann am Freitagabend mit den Finnen der Ricky-Tick Big Band & Julkinen Sana, die drei Größen des finnischen Hip-Hop dabei hatten. Den Sonntag schlossen zwanzig weißgekleidete Musiker von Letieres Leite und seinem Orkestra Rumpilezz aus dem warmen Salvador de Bahia ab. Und in der Mitte, am Samstag, trat das legendäre Sun Ra Arkestra auf, geleitet vom 90-jährigen Marshall Allen, der seit Ende der Fünfzigerjahre mit dem 1993 gestorbenen Sun Ra zusammenspielte. Das Sun Ra Arkestra bewies auch in Moers, wie großartig es noch immer ist; es bezieht seinen Glanz aber auch ein bisschen aus der Legende, den farbenfrohen, glitzernden Gewändern und dem extravaganten Kopfschmuck, der bei manchen Musikern ägyptische Mythologie zitiert. Mythos und Show greifen hier ineinander.

Aber nicht nur die groovenden, zum Mitswingen und Tanzen einladenden Formationen zum Abschluss der jeweiligen Festivaltage (für den Pfingstmontag wären die in Moers gut bekannten „Mostly Other People Do The Killing“ zu ergänzen) waren die Highlights unter den Big Bands. Die positiven Überraschungen traten manchmal mitten am Nachmittag auf.

Es sei unüblich, bei einem Indie-Festival wie Moers Gruppen einzuladen, die das Wort „National“ im Namen tragen, sagt die unverzichtbare Hanna Bächer bei der Ankündigung des Orchestre National de Jazz Olivier Benoit. „Bei diesem speziellen Ensemble aber sind die Leute deutlich besser, als der Name vermuten lässt“. Die Moderatorin hat nicht zu viel versprochen. Die elf Musiker sind allesamt große Könner und schaffen gemeinsam ein über das ohnehin hohe Festival-Niveau herausragendes Werk.

Die nicht mehr so jungen Jazz-Kenner, denen Fred Frith‘ Album Gravity aus dem Jahr 1980 bekannt ist, mochten am frühen Sonntagabend mit großen Erwartungen der „Gravity Band“ entgegengesehen haben, die Stücke des Albums vierunddreißig Jahre nach ihrem Erscheinen zum ersten Mal live spielten. Zweifellos war das experimentelle Werk bei der Veröffentlichung seiner Zeit um gut und gern vierunddreißig Jahre voraus, doch heute klingt es nicht wie eine aktuelle Komposition, sondern wie eine historische, die um 1980 ihrer Zeit um vierunddreißig Jahre voraus war. Trotzdem gut.

Von Frauen geleitete Quartette

Mit fünf Musikerinnen hat Fred Frith eine korrekte Frauenquote in seiner elfköpfigen Gravity Band. Qualität geht selbstverständlich über Quote, aber auch die stimmt. Mit der Ausnahme-Gitarristin Ava Mendoza, die am Pfingstmontag zusätzlich mit ihrem eigenen Trio „Unnatural Ways“ auftrat, und der das Publikum begeisternden Akkordeonspielerin Marié Abe seien hier inkorrekterweise nur zwei Namen genannt.

Doch auch außerhalb der Band von Fred Frith wirkt sich der gestiegene Frauenanteil im Jazz erfreulich aus. Als „Improviser in Residence“ arbeitet Julia Hülsmann ein Jahr in Moers und hat für das Festival neue Songs komponiert, teils unter Verwendung von Textteilen von Margaret Atwood, Emily Dickinson oder Walt Whitman. Gesunden werden die Texte von dem in New York lebenden gebürtigen Dortmunder Theo Bleckmann, ein Sänger, Schauspieler und Stimmkünstler, der unter anderem für die Aliens aus Steven Spielbergs Men In Black ihre Sprache schuf. Der neuseeländische Saxophonist Hayden Chisholm und der Schlagzeuger Moritz Baumgärtner vervollständigen das Quartett. Der Aufbau der Kompositionen von Julia Hülsmann weist das auf, was man im Roman als klug gestaltete Spannungsbögen bezeichnen könnte; die Leistung aller vier Musiker ist hervorragend; und doch wirkt das Ganze ein bisschen zu kunstsinnig, zu sehr wie für den Kultursender ARTE geschaffen, der alle Konzerte mitschneidet und auf seiner Website veröffentlicht. Es fehlte vielleicht das Gefühl von Freiheit, mit dem Jazz auch zu tun hat, oder, wie mein Sitznachbar in der Pause meinte, dass die Band „mal so richtig die Sau rauslässt“ (er dürfte später bei Arto Lindsay und Paal Nilssen-Love auf seine Kosten gekommen sein).

Ein anderes Quartett mit einer Frau als Chefin schuf ebenfalls kunstvolle Songs, Johanna Borchert mit „Wayside Wayfarer“, doch machte sich der hohe künstlerische Anspruch hier keineswegs störend bemerkbar – vielleicht weil sich die von Schneeweiß & Rosenrot bekannte Sängerin die Verbindung zum Pop bewahrt hat?

Als vorletzte Gruppe am Pfingstmontag hat Ava Mendoza wieder einmal bestätigte, dass ein Trio aus Gitarre, Bass, Schlagzeug völlig ausreicht; wie am Festival-Samstag bereits die französische – fast möchte man sagen: Rockgruppe – Jean Louis mit der Variante Trompete, Bass, Schlagzeug. Die hier nicht eigens besprochenen Gruppen waren nicht schlechter, aber es liegen eben vier sehr volle Festivaltage hinter uns, zusätzlich eine Sonntagnacht, in der nach dem sensationellen Duo Sarah Neufeld / Colin Stetson und dem eher meditativen Elektroniktüftler Tim Hecker das schöne Pianospiel von Greg Haines die ausharrenden Hörer in den frühen Morgen begleitete.

Die neuen „Night Sessions 2.0“, die im bisherigen Zirkuszelt aus Emissionsschutzgründen nicht gestattet waren, versprach Festivalleiter Rainer Michalke bei der abschließenden Pressekonferenz in den nächsten Jahren fortzusetzen. Wir dürfen uns freuen.




Zeit für „Raketenmänner“ – das neue Buch von Frank Goosen

RaketenmännerBei Elton Johns Song „Rocket Man“ heisst es „I’m not the man they think I’m at home“. Frank Goosen selbst sagte in einem Interview*, diese Zeile sei ihm die Inspiration für seinen Buchtitel gewesen. Es sind Geschichten von Männern, die die Rakete starten wollten, aber mit diversen Fehlzündungen hadern.

Frank Goosen erzählt von geschiedenen Vätern, von Chefs, die in Konferenzen von einem Haus am Meer träumen, von alten Schulfreunden, die in grauer Vergangenheit leidenschaftlich gemeinsam in einer Band schrammelten, von Männern, für die das Leben eine einzige Spätpubertät ist.

Es sind kleine Geschichten, die doch von den großen Lebensthemen handeln: Wehmut, Ernüchterung, der Macht von Vergangenheit und Erinnerung, Träumen, Plänen und was am Ende davon übrig bleibt. So erzählen Goosens Raketenmänner vom Leben und vom Tod sowie dem Frieden, den man damit machen kann – oder eben nicht. Geschichten, jede für sich stehend, aber doch zusammengehörig. Manche Männer treffen wir in einem anderen Umfeld, einer anderen Geschichte wieder. Manch loser Faden fügt sich wieder zusammen, so dass das Buch am Ende keine Sammlung von Kurzgeschichten ist, sondern ein in sich abgerundeter Episodenroman.

Im Buch ist „Raketenmänner“ der Titel einer vergessenen, unbekannten Schallplatte (für die jüngeren Leser: Das sind diese runden, schwarzen Dinger aus Vinyl). Die Raketenmänner tauchen aus dem Dunkel eines alten Plattenladens auf und stehen für das einzig Perfekte, das ein Musiker mit dem bezeichnenden Namen Moses je hervorgebracht hat. Wie ein roter Faden zieht sich diese Platte durch die Geschichten und spielt im Leben mehrerer Männer eine wichtige Rolle.

Goosens Stil in diesen Geschichten ist wie die Musik auf der Platte: „schlicht, ohne Show und Schnörkel. Da trifft einer, ohne zu zielen.“ Mit feinem Sprachwitz und trockenem Humor lässt Goosen zeitweilig auch Melancholie und Nostalgie zu. Rechtzeitig findet er aber immer wieder zurück zu ironischer Distanz, so dass Sentimentalität gar nicht erst aufkommt. „Raketenmänner“ ist ein wesentlich reflektierteres Buch als die beiden letzten des vor allem im Ruhrgebiet äußerst beliebten Autors.

Nach dem kommerziell völlig zu Unrecht nicht so erfolgreichem Roman „So viel Zeit“ konnte man bei Goosen die Befürchtung hegen, er würde sich mit Büchern wie „Radio Heimat“ oder „Sommerfest“ auf eine Art ruhrischen Heimatroman beschränken. Die „Raketenmänner“ nun zerstreuen diese Befürchtung, sie sind sozusagen die Quintessenz des lachenden Pokorny mit So viel Zeit.

Die beliebten Gassenhauer legt Goosen nun klugerweise seinen Protagonisten in den Mund, der Erzähler selbst gönnt sich schöne einfühlsame Bilder wie die „vom Himmel über den abgeschlossenen Geschichten“ oder „vom Irgendwann, dem Land, in dem die schönsten Dinge passieren“. Sätze, für die man manche Geschichten schon vom ersten Absatz an mag, auch wenn man noch gar nicht weiß, worum es geht. Sätze, die so für sich alleine stehen bleiben könnten, eine ganze Geschichte, ein ganzes Leben, in einem Satz erzählt.

Natürlich sind es wie immer Geschichten mit hohem Wiedererkennungswert. Eins der größten Talente des Autors ist seine exzellente Beobachtungsgabe. Der Tonfall eines jeden Charakters ist wunderbar getroffen, man hat sie sofort vor Augen: den schnöseligen Unternehmensberater, den träumerischen Schallplattenverkäufer, die Frau, die man(n) nur noch als Frau Dingenskirchen in Erinnerung hat.

Wie so oft bei Frank Goosen werden viele Geschichten von Musik begleitet. Die lautlosen Geschichten, die keinen Soundtrack haben sind auch die hoffnungslosen. In den anderen Geschichten ist es die Musik, die Leben retten, begleiten und beenden kann. Wie in der letzten Geschichte, die ein würdiger Schlusspunkt geworden ist. Eine Geschichte wie ein Traum von einem Rockkonzert, einem Konzert von „einfachen Leuten“ für „Raketenmänner“ oder umgekehrt. So sind die Raketenmänner ihre eigene Hymne geworden: Auf die Freundschaft, für die Verwirklichung von Träumen und eine verständnisvolle Liebeserklärung an die Männer mit all ihren Bemühungen und all ihrem Scheitern. Kurze Geschichten, geschrieben von einem Mann über Männer, bei weitem aber kein Buch nur für Männer. Schließlich wollen auch wir Frauen gerne wissen, wie Männer ticken. Vor allem die, die so gerne „Raketenmänner“ wären.

Bei aller Freude über ein sehr gelungenes neues Buch von Frank Goosen – eins kann der Autor fast noch besser als schreiben: nämlich lesen. Vorlesen. Den Tresenleser vergangener Tage hat er in sich bewahrt. Meiner eigenen Erfahrung nach werden seine Geschichten erst dann so richtig rund, wenn er sie selber liest und kommentiert. Termine finden sich auf seiner Homepage. Gerüchten zufolge gibt es noch einzelne Tickets.

Frank Goosen: „Raketenmänner“. Verlag Kiepenheuer und Witsch. 233 Seiten, € 18,99

Homepage des Autors: frankgoosen.de

(* Interview in der allgemeinen Frankfurter Sonntagszeitung vom 2. Februar 2014)

 

 




Pete Seeger: Die Stimme der Minderheiten und Unterdrückten ist verstummt

Wenn Joan Baez‘ Stimme wie eine Freiheitsglocke mit „We shall overcome“ aus dem Getümmel eines Ostermarsches klang, wenn Bob Dylan elektronisch verstärkt klampfte und sein Vorbild ihm den Stecker rauszog, wenn Bruce Springsteen mit ihm gemeinsam Musik zu Ehren des ersten schwarzen Präsidenten der USA machte und beide offenbar Hoffnungen in Barack Obama setzten – und wenn der große Woody Guthrie nur mit ihm zusammen „The Alamac Singers“ gründen wollte, dann fiel stets sein Name: Pete Seeger, der viel Verstand und Musikalität, politische Integrität, unbeugsamen Widerstandsgeist und das Krächzen seines 5-saitigen Banjos gegen jeden Zeitgeist  setzte, ist im Alter von 94 Jahren in einem Krankenhaus seiner Geburtsstadt New York gestorben.

Er war Soziologiestudent in Harvard, brach aber gelangweilt ab, um sich einer lebenslangen Leidenschaft zu widmen, der Musik seines Heimatlandes. Es begann damit, dass er amerikanischer Volkslieder und Blues aus den Südstaaten sammelte. Und er nahm sein Banjo zur Hand, spielte eigene Lieder und machte die ersten Schritte dorthin, wo er bis zu seinem Tode seine Aufgabe sah: Unterdrückten, Ausgebeuteten und Minderheiten eine laute und allerorts in den USA und darüber hinaus vernehmbare Stimme zu verleihen.

In der Tradition seines Freundes Woody Guthrie wurde er der Großvater der Folkmusik und sah in ihr ein Werkzeug, das gegen Machthaberei und für Bürgerrechte eingesetzt werden konnte. Und seine – heute würde man sie vielleicht „Follower“ nennen – Weggefährten und „Jünger“ tun es ihm nach.

Pete Seeger unterstützte Henry A. Wallace, den demokratischen Präsidentschaftskandidaten von 1949. Vergebens, wie wir wissen, denn statt des integren Wallace kam Harry Truman an die Macht, dessen Intellekt eher als ergänzungsbedürftig anzusehen war. Pete Seeger weigerte sich 1955 standhaft, vor dem Tribunal-Herren McCarthy und dessen „Komitee gegen unamerikanische Umtriebe“ auszusagen, was ihm eine Haftstrafe von 10 Jahren einbrachte; nur eines musste er absitzen. Aber darauf wurde er 17 Jahre lang boykottiert. Kein kommerzielles US-Medienunternehmen wollte ihm mehr eine Bühne geben.

Also schuf er sich selbst seine Öffentlichkeit, gemeinsam mit Theodore Bickel, der mit ihm das Newport Folkfestival auf Rhode Island anregte und zum Leben erweckte. Dort drehte er auch dem jungen Bob Dylan den „Saft ab“, was dazu führte, dass dessen Nuschel-Gesang gar nicht mehr beim Publikum ankam und der arme Kerl ausgebuht wurde. Pete Seeger meinte später kleinlaut, dass er doch nur Bob Dylans Lyrik verständlich werden lassen wollte, die durch die brüllende elektronische Beschallung nicht mehr zu verstehen war.

Bis ins hohe Alter blieb Pete Seeger, übrigens Neffe des Lyrikers Alan Seeger, musikalisch und damit politisch aktiv, hob für den Umweltschutz seine Stimme, stritt stets für Menschenrechte und war zur Stelle, wenn es darum ging, Solidarität mit denen zu zeigen, die geknechtet wurden. Pete Seeger war der Denker, der Philosoph und der sammelnde Bewahrer ganzer Musik- und Musikergenerationen. Die Themen seiner Lieder werden wohl nie ihre Aktualität verlieren. Bye, Pete.




TV-Nostalgie (7): „Beat Club“ – Endlich gab’s die heiß ersehnten Klänge…

Haben wir je eine TV-Sendung heißer herbeigesehnt? Bestimmt nicht! Wir waren ja gerade im richtigen Alter dafür. Und der „Beat Club“ kam (ab 25. September 1965, samstags zunächst von 16.45 bis 17.15 Uhr) zwar reichlich verspätet ins verschnarchte deutsche Fernsehen, aber irgendwie doch gerade noch rechtzeitig. Yeah!

Seither gehört Uschi Nerke, die im Monatsrhythmus all die Auftritte und Filmeinspielungen immerzu munter präsentierte, zu den unvergänglichen Ikonen des Mediums. Mit den Jahren trugen sie und die zeitweise unvermeidlichen Go-Go-Girls dann etwas knappere Röcke.

Schon ein paar Tage her: Uschi Nerke präsentiert den "Beat Club" - © Radio Bremen/ARD - Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=VMzoVYcJHyQ

Schon ein paar Tage her: Uschi Nerke präsentiert den „Beat Club“ – © Radio Bremen/ARD – Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=VMzoVYcJHyQ

Am Anfang war es brav und bieder

Die Jugendlichen, die da anfangs zur „Beatmusik“ tanzten, wirkten äußerlich noch ziemlich brav und bieder. Auch die Bands traten zumeist noch im adretten Anzug auf. Die „Warnung“, die der noch junge Ansager und spätere Tageschau-Sprecher Wilhelm Wieben der Premieren-Sendung vorausschickte („Sie aber, …die Sie Beatmusik vielleicht nicht mögen, bitten wir um Ihr Verständnis…“), war im Grunde herzlich überflüssig. Doch viele ältere Menschen regten sich damals trotzdem auf.

Rotierende Spiralen

Nicht nur die Musik wurde (vor allem ab 1967) „progressiver“, sondern auch Design und Darstellung. Der „Beat Club“ war ein Feld, auf dem man die damals noch sehr begrenzten technischen Möglichkeiten phantasievoll ausreizen konnte – bis hin zu psychedelischen Experimenten mit allerlei rotierenden Spiralen und Spiegelungen. Natürlich wurde dabei gelegentlich auch Unsinn verzapft. Doch es zeigte sich so manches Stück vom wandelbaren Zeitgeist.

Ausgebrütet wurde all das beim kleinen Sender Radio Bremen, federführend beim „Beat Club“ war der Redakteur Mike Leckebusch, damals eigentlich Jazzfan. Jetzt kommt ein Name ins Spiel, mit dem Sie bei Jauchs Millionenquiz Chancen hätten: Gerhard Augustin. Gerhard Wer? Nun, der Mann war damals – als einer der ersten seiner Zunft in ganz Deutschland – Plattenaufleger in einem Bremer Club und brachte Leckebusch auf die Spur der Beat- und Rockmusik. Augustin stand bei den frühesten Folgen auch mit vor der Kamera.

Bärenstarke PR-Show

Zugegeben: In den ersten Sendungen zählte vor allem die gute Absicht, es traten eher zweit- und drittklassige Bands auf. Der allererste Titel war übrigens – hätten Sie’s gewusst? – deutschsprachig: Die Bremer Lokalband Yankees brachte ihr Liedchen „Halbstark“ („Oh Baby, Baby, halbstark…“) zu Gehör. Fortan waren deutsche Töne allerdings verpönt.

Als jedoch die Plattenindustrie allmählich merkte, welches Werbepotenzial hier schlummerte, traten immer mehr wirkliche Größen des Geschäfts im „Beat Club“ auf, darunter etwa die Rolling Stones, die Who oder Jimi Hendrix. Uschi Nerke hätte sich nie erlaubt, bei ihren Ansagen auch nur einen Hauch von Kritik einfließen zu lassen. Nüchtern und bei Licht besehen, war der „Beat Club“ lupenreine PR-Jubel für die Musikindustrie.

Atemlose Aufnahmesitzungen

Das ändert nichts daran, dass dort oft bärenstarke Musik zu erleben war. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie wir (falls solche vorhanden waren) die Tonbandgeräte angeworfen und atemlos mit dem Mikro vor dem Fernsehlautsprecher gehockt haben – in der innigen Hoffnung, dass niemand geräuschvoll ins Wohnzimmer kam…

Heute hingegen gibt’s einen eigenen Internet-Kanal für nostalgische Musik aus der Bremer Kultsendung. Auch sind alle 83 Folgen bis zum Ende im Dezember 1972 auf DVDs zu erwerben. Und überhaupt: Jetzt sind fast alle Wellen und Netze so mit Rock und Pop angefüllt, dass es wahrlich genügt.

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Hier die Ansage zur allerersten Sendung und ein paar weitere Schnipsel: http://www.youtube.com/watch?v=VMzoVYcJHyQ




Genie der Selbstzerstörung: Aus dem wilden Leben des Drummers Ginger Baker

Er ist wahrscheinlich der vielseitigste und einflussreichste Drummer der Rock-Musik.

Seine Lehrer waren Jazz-Größen wie Max Roach und Art Blakey, seine Mentoren Alexis Korner und Graham Bond. Seine musikalischen Meisterstücke hat er mit Supergruppen wie Cream und Blind Faith abgeliefert. Er hat in unzähligen Bands gespielt und mal in England oder Italien, mal in den USA, Nigeria und Südafrika gelebt. Oft ist er schon wegen seiner Drogensucht und Tabletten-Abhängigkeit für tot erklärt worden. Doch auch wenn es stiller um diesen kauzigen Weltenbummler und neugierigen Multikulti-Musiker geworden ist: Ginger Baker lebt.

Er ist noch immer angriffslustig und schlagkräftig wie eh und je. In einem Interview hat er jüngst behauptet, die Rolling Stones seien völlig unmusikalisch. Und als ihm die Fragen von Jay Bulger auf die Nerven gingen, hat er dem Regisseur kurzerhand mit seinem Gehstock verprügelt und die Nase gebrochen. „Beware of Mr. Baker“ heißt der dokumentarische Film, der jetzt in die Kinos kommt und Schlaglichter auf das abenteuerliche und ereignisreiche Leben von Ginger Baker wirft.

Exzentrisch: Schlagzeuger Ginger Baker im Januar 1970. (© NFP)

Exzentrisch: Schlagzeuger Ginger Baker im Januar 1970. (© NFP)

Jay Bulger hat den von unzähligen Abstürzen und Entziehungskuren schwer gezeichneten Musiker auf dessen Farm in Südafrika besucht und mit Fragen gelöchert. Während der zittrige Ginger Baker eher unwillig Einblicke in sein Leben gewährt und immer wieder ätzende Kritik an den meisten seiner Kollegen und Weggefährten übt, werden Fotos und Filmstücke eingespielt, Kommentare seiner Ex-Gattinnen und Kinder, Konzertmitschnitte, Reisedokumente, Hasstiraden und Liebeserklärungen von Kollegen.

Ginger Baker hat mit allen gespielt, mit seinem furiosen und variablen Spiel alle fasziniert und mit seinen Launen und Gewaltausbrüchen alle schier in den Wahnsinn getrieben: Ob Eric Clapton oder Jack Bruce, Steve Winwood, Carlos Santana oder Charlie Watts, sie alle verneigen sich vor dem Ausnahme-Drummer. Aber alle auch meiden diesen Derwisch des Schlagzeugs. Die (einmalige) Wiedervereinigung von Cream war denn auch beileibe keine Herzensangelegenheit von Eric Clapton und Jack Bruce: Es ging ganz schnöde ums liebe Geld. Ginger Baker, der stets über seine Verhältnisse lebt und ein Pferdegestüt sein eigen nennt, war wieder einmal pleite und benötigte dringend eine Finanzspritze.

Der zur Selbstzerstörung neigende Ginger Baker und der zur Selbstverleugnung fähige Regisseur Jay Bulger sind ein ideales Gespann. Während der eine meckert, stellt der andere hinterhältige Fragen. Beide ringen bis zum Nasenbruch miteinander. Das Resultat ist eine hoch spannende, musikalisch und filmisch gelungene Biografie.

(Ab 19. Dezember 2013 im Kino)

Trailer zum Film: http://www.youtube.com/watch?v=RkIiAkx4LtQ