Der mediale Schauer vor Whitney Houstons letztem Wannenbad

Ich war ja immer gern Journalist. Es reizte mich, den Menschen Ereignisse zu beschreiben, auf dass sie (diesem je individuellen Ereignis angemessen) mit auf meinem Weg der Beschauung, der Kritik oder auch nur der Beschreibung genommen wurden. Das durfte schmunzelnd gelesen werden, das durfte betroffen wahrgenommen werden, das durfte auch zornig oder protestierend geschehen. Nur eines lag mir fern: Kopfschütteln, das wollte ich nur erzeugen, wenn es um das Erzählte ging, nicht über meine Art, es zu erzählen.

Nun sitze ich da – und schüttele den Kopf, klopfe an meine Stirn, bin nachgerade atemlos. Denn ich blicke auf eine Badewanne. Sie kann in jedem Hotel dieser Welt stehen, selbst ich könnte theoretisch in ihr schon mal die Haut habe quellen lassen. Und dennoch, glaube ich den Verfassern des darunter veröffentlichten Berichtes, ist dies eine ganz außergewöhnliche Badewanne. Denn in diesem Behältnis, in ihrem wannig-warmen Bad, starb angeblich Whitney Houston. Uih!

Damit mensch auch erkennt, dass es sich um eine Badewanne handelt, weist ein roter Pfeil darauf – Achtung, hier Wanne. Und damit jeder die hohe Aktualität dieser fotografischen Meisterleistung wahrnimmt, wird noch nebengetitelt: Jetzt veröffentlicht.

Ich bin erschüttert. Ich nehme unversehens den Schauer der Ehrfurcht wahr, den die Aura des letzten Whitney-Housten-Wannenbades auf meiner Haut auslöst.

Nun, auch ich bedauere das 15 Jahre währende Dahinscheiden einer in ihrem Genre wunderbaren Künstlerin, weil sie sich viel zu früh ruinierte. Ich bedaure sie ebenso wie Amy Winehouse oder andere, die das noch viel früher geschafft hatten. Und mir liegt es sehr fern, mich über so etwas lustig zu machen.

Indes, wie manche Kolleginnen oder Kollegen mit Veröffentlichungen zu diesem und anderen Themen umgehen, das belustigt mich einerseits, andererseits ist es auch zutiefst betrüblich, weil die Grenzlage bis hin zum Lachhaften weit überschritten wird.

Im erläuternden Text zur Badewannenenthüllungsfotografie wird der geneigte Leser unter anderem darüber aufgeklärt, dass da noch ein Handtuch und ein Fläschchen mit Olivenöl im Wasser liegen, Frau Houston ihre Haut damit elastisch hielt. Was man so alles erfährt, nur dass die bildenden Redakteure Gelegenheit bekommen, die ganze Geschichte der vergangenen Tage nach Whitneys Tod noch einmal zu erzählen.

Ich war ja immer gern Journalist, weil ich auch eitel genug bin zu gestehen, dass mir die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser wichtig war und ist. Allerdings dreht sich mir alles um im Verdauungstrakt, wenn ich sehe, wie manche es in jeder sich anbietenden Verkrampfung unternehmen, das zu erreichen. Wenn das die Erfolgreichen in einer stets bunter werdenden Medienwelt sind…




Meilensteine der Popmusik (3): Elton John

Elton John live in Wembley 1984

Auch wenn Billy Joel ihn besang – für viele ist und bleibt Elton John der wahre „Pianoman“, Wegbereiter für Kollegen wie Gilbert O’Sullivan, Barry Manilow, Chi Coltrane, Bruce Hornsby, Joshua Kadison und andere Tastendrücker, die nach ihm Karriere machten. Viele von ihnen spielen schon lange keine Rolle mehr. Doch Elton John gehört nach all´ den Jahrzehnten noch immer zu den absoluten Superstars, ein Genie, mit dem es nur wenige aufnehmen können. Wenn es auch bei ca. 40 LPs einige Durststrecken gab, es sind immer noch reichlich Perlen darunter.

1973 zum Beispiel war Elton John besonders munter. Anfang des Jahres hatte er mit dem nachgebauten Oldie „Crocodile Rock“ seinen ersten großen Welthit, ein Song aus der LP mit dem witzigen Titel „Don’t shoot me, l’m only the piano player“. Für viele Kritiker ein eher schwaches Album, und auch für Elton John war es nicht das Gelbe vom Ei. Nach eigener Aussage ging er damals eher lustlos an die Sache. Also nichts wie die Zähne zusammengebissen und weitermachen.

Die neue LP sollte wieder in gewohnter französischer Schloss-Atmosphäre im Château D’Heronville entstehen. Doch dort ruhte der Studiobetrieb, weil es Streitereien um die Besitzrechte des Prachtanwesens gab. Der Produzent Gus Dudgeon hatte die Idee mit Jamaika. Die dortigen Studios waren gerade „in“, und versprachen vor allen Dingen Ruhe für die Produktion. So wurden Instrumente, technischer Kram und vor allen Dingen Tischfußballspiele auf die Reise geschickt. Der alte Genießer Elton John überbrückte die Distanz auf einem Luxus-Dampfer, ohne bis zum Ablegen auch nur eine einzige Note auf dem Papier zu haben. Am Ende der Reise waren dann 20 Songs fertig. Das Piano im Schiffssalon hatte gute Dienste geleistet. Bessere Dienste auf jeden Fall als das Exemplar im Inselstudio auf Jamaika, das wohl besser in ein Bierzelt gepasst hätte. Außerdem fehlten passende Mikrofone, die Bandmaschine hatte Aussetzer, die Mietwagen wurden über Nacht gestohlen, und jeden Morgen mussten sich die Musiker an Streikposten vorbeiquetschen, die offensichtlich während der Aufnahmezeit ihre Probleme lösen wollten. Man bat um Geduld. Als diese zu Ende war, glaubten die Hotel-Manager das gesamte Equipment beschlagnahmen zu müssen. Die Rechnung für die Ausrüstung war nicht – wie vertraglich zugesichert – vom einheimischen Studio bezahlt worden. Da kam die erfreuliche Nachricht, dass auf dem französischen Schloss wieder alles klar war, man könne dort das Album fertigstellen. Der Zeitplan der Firma Elton John war total durcheinander gewirbelt. Eine geplante Deutschland-Tournee musste zwischenzeitlich abgesagt werden.

Unter diesem immensen Druck entstand das Doppel-Album „Goodbye yellow brick road“. Erstaunlicherweise eines der besten von Elton John. Auch der Künstler war begeistert: “Alle meine Einflüsse sind darin enthalten; alles, was ich je geschrieben habe, klingt darin an“.

Bei der ironischen Pop-Gruppen-Verherrlichung „Benny and the jets“ war es zum Beispiel Elton Johns erster geglückter Versuch mit der Soulmusik, und die nachträglich im Studio zugemischte Liveatmosphäre störte auch nicht weiter. Oder „Candle in the wind“, eine Hymne an sein Idol Marylin Monroe, deren Bild er schon als Schüler täglich in seinem Ranzen mit sich trug.

Alles aber wurde überstrahlt vom Titelsong, der wie eine große Verbeugung vor der Musik von John Lennon und Paul McCartney klang. Dazu kamen weitere 16 Songs vom Rock, Rock’n´Roll bis zur schlichten Ballade. Popmusik in Reinkultur. Popmusik so wie Elton John sie sieht: „In 200 Jahren wird sich keiner mehr anhören, was heute geschrieben und gespielt wird. Doch ich glaube, man wird immer noch Beethoven hören. Pop-Musik ist reiner Spaß, und das ist einer der Gründe, warum ich mich selbst nicht so ernst nehme. Ich liebe Pop-Musik, sie ist mein Leben. Und ich liebe sie, weil sie Spaß macht.“ Weltweit über 30 Millionen verkaufter Alben von „Goodbye yellow brick road“ bedeuten für Elton John bis heute einen persönlichen Rekord.




„Heimat ist auch keine Lösung“ – das Schauspielhaus Bochum hat Recht

Karte Schauspielhaus BO Heimat

Theater-Rezension in exakt 150 Wörtern, Teil II:

Schauspielhaus Bochum „Heimat ist auch keine Lösung“, musikalischer Abend, Premiere 21.1.2012

Nebel wabert. Zieht ins Publikum. Fließt um die Schultern und in die Lungen.

Auf der Bühne: ein Vollmond. Ein Mann, der vom Leierkastenmann singt.

Ein Hafen ist das also. Ein Ort des Aufbruchs. Des Verlassens. Der Hoffnung. Der Wehmut. Des Fernwehs. Ein Ort, an dem die alten Lieder von daheim plötzlich wichtig werden.

„Heimat ist auch keine Lösung“, so hat Thomas Anzenhofer den musikalischen Abend genannt. Recht hat er. Die erste Szene zeigt schon, wohin der Abend führt.

In aller Herren Länder. In alle Gefühle. In schwermütigen kubanischen Jazz, in afrikanische Trommelfreude, in dröhnenden New Wave. Zu Nietzsche, Udo Jürgens, Ton Steine Scherben. Zu Idylle, Fremdsein und Schnaps.

Italienische Mandolinen-Sehnsucht trifft auf jiddische Fiddel-Wut, türkisches Wehklagen auf Hans Albers. Und in „Sweet Home Alabama“ wird gejodelt.

karte schauspiel bo heimat rückseite

SOUND Wispernd. Dröhnend. Verständlich. Je nachdem.

BÜHNENBILD Roh. Video-Leinwand, Bühne, Theke.

VIDEO Live. Abwechslungsreich.

KOSTÜME Tramp-inspiriert. Neuzeit-Stereotypen.

SCHAUSPIELER Alle drei grandios.

HUMOR Aber holla!




Meilensteine der Popmusik (2): Creedence Clearwater Revival

„Die Welt sehe ich immer noch mit den Augen des Proletariers. Wer nur an die Kohle denkt, dem fällt künstlerisch überhaupt nichts mehr ein“. Der CCR-Macher und Kopf John Fogerty sagte dies nach seinen Welterfolgen als Band-Boss, durch die er selbst um einige Millionen Dollar reicher geworden war.

Die Anfänge der Gruppe gehen zurück bis ins Jahr 1959. Damals tat sich John mit seinem Bruder Tom und den Schulfreunden Stu Cook und Doug Clifford zusammen. Auf Partys war in erster Linie der Schreihals John der absolute Brüller, er übertönte jedes Getümmel mühelos. Aus den Amateuren wurden vier Jahre später Profis mit grandiosen Flops. Die Jungs aus El Cerrito (nahe San Francisco) nannten sich damals noch „Golliwogs“ (Vogelscheuchen). John musste dann erst einmal zum Wehrdienst. Als er zurück nach Hause kam, hatte sich vieles verändert. San Francisco war Nabel der Rockmusik, aus der ganzen Stadt ein permanentes Hippie-Happening geworden. Plattenfirmen und Manager durchschnüffelten die ganze Umgebung nach neuen Talenten, ein Act aus der „Bay Area“ war ein Muss. Da war sie also, die Chance auch für John und seine Gruppe. Doch es musste schnell ein neuer Name her, ein Name, der in die neue Zeit passte. Ein guter Freund namens CREDENCE (Glauben, Vertrauen) musste herhalten. Dazu gesellte sich eine aufdringliche Bierwerbung im TV. Hier war von „CLEARWATER“ die Rede: sauberes Wasser, Wiedergeburt, Erneuerung, und dazu noch Vertrauen, das waren die Stichworte. Das klang fast schon wie eine neue Sekte, wurde letztlich aber nur  d i e  neue US-Rocksensation der späten 60-er Jahre.

Wie die Wortkombination CREEDENCE CLEARWATER REVIVAL (kurz: CCR) schon sagt, war die Gruppe eigentlich nur das, was auch die amerikanische Rock-Szene in einigen Abständen wohl benötigte: Die Rückbesinnung auf die alten Werte nach durchlebten Identifikationskrisen (in den 80ern wurde Bruce Springsteen, der „Boss“ dafür zuständig… doch das ist eine andere Geschichte). Bei CCR war auf jeden Fall John Fogerty der Boss. Jahre später konnte man es noch immer auf seinen leidlich erfolgreichen Soloplatten heraushören, erst recht wenn man die absolut indiskutablen Versuche der anderen Gruppenmitglieder dagegen hielt. Die kalifornische Herkunft schien CCR  zu verleugnen. Prägend waren hingegen die musikalischen Vorlieben von John Fogerty. Seine Songs spielten überwiegend in den Südstaaten, erzählten vom alten Raddampfer „Proud Mary“, dem „Bad Moon Rising“ über den Sümpfen von Louisiana, oder vom „Green River“ Mississippi.

Ihre 5. LP benannten sie nach ihrem Probenraum (einer alten Lagerhalle) COSMO´S FACTORY. Ihre Musik war unverändert eine Mischung aus Rock’n’Roll der 50-er, britischem Beat, Delta-Blues und Country-Music. Das alles rockte schlicht geradeaus, ziemlich laut produziert, mit dem manchmal ruppig dröhnenden Organ von John Fogerty im Vordergrund. Er gröhlte von alltäglichem („Who’ll stop the rain“), dem Tourneeleben („Travelin´ Band“), bis hin zu leicht religiösem („Long as I can see the light“). Alles, was der aufrechte Amerikaner nicht vertragen konnte – Politik, Sex und Drogen – waren keine Themen. COSMO´S FACTORY ließ die braven Jungs von CCR nicht überschnappen. Ihre Landsleute vergaßen in diesem Superjahr 1970 sogar für einen Moment die Trennung der Beatles. Es war der typisch amerikanische Nationalstolz, der vor jedem den Hut zieht, der diese „Von-ganz-unten-nach-ganz-oben-Karriere“ hinter sich hat, und trotzdem berechenbar und bescheiden bleibt.

Dass dieser Traum schon ein Jahr später platzte, war einmal mehr die Schuld des Big Business´. Der Plattenboss hatte die Band derart mit Knebelverträgen zugeschnürt, dass es Jahre dauerte, bis man sich befreien konnte. Übrig blieben fast zwei Dutzend Single-Hits, die man wie einst in „American Graffiti“ am besten aus einem quäkenden Mono-Empfänger hört – je kleiner, desto besser. Empfehlenswert sind hier die früher so beliebten, kleinen 0,5-Watt-Hand-Transistorgeräte aus Taiwan-Produktion. Aus diesen flatternden Mini-Membranen scheppert CCR auch heute noch wie damals…

http://www.youtube.com/watch?v=FGdFHL8AHJs

 




Meilensteine der Popmusik (1) : Peter Gabriel

Er schreibt, singt und spielt im Rhythmus der Vereinten Nationen. Globale Klänge sind sein Beruf, er ist wohl bis heute der Generalsekretär der „Welt-Musik“. Für ihn ist Rhythmus das Rückgrat der Musik. „Rhythmus diktiert die Gestalt eines Songs“ sagt Peter Gabriel dazu, „konventionelle Rock-Rhythmen führen immer zu konventionellen Rock-Kompositionen. Deshalb suche ich bei fremden Kulturen nach alternativen Möglichkeiten.“

Die Trommel entdeckte der kleine Peter schon mit 13. Ein Jahr zuvor hatte er bereits seinen ersten Song geschrieben. Der pickelige Teenie war damals ein kleines Dickerchen, träumte vom Starruhm der Beatles. Es war anfangs nur der Traum von „Girls and Money“, aber mit schwindender Pubertät wuchs das künstlerische Vermögen des Peter Gabriel. Er trommelte sich durch Jazz- und Soul-Bands, und wurde schließlich Mitbegründer und Vordenker einer neuen experimentellen Rockband: Genesis. Die Auftritte dieser Gruppe entwickelten sich im Laufe der Jahre zu Multi-Medien-Spektakeln. Peter Gabriel war Regisseur und Hauptdarsteller in einer Person. Auf der Bühne konnte er seinen Mode- und Verkleidungsfimmel total ausleben, es schien fast so, als würde er sich schon damals auf eine zukünftige Ära der Video-Clips vorbereiten.

Mitten in der Erfolgsstory von Genesis packte Peter Gabriel 1975 seine Bühnen-Garderobe und ging. Seine Frau hatte eine sehr komplizierte Geburt vor sich, er wollte sich Zeit für die kleine Familie nehmen. Genesis wählte den neuen König Phil Collins, und Gabriel schuf sich sein eigenes Reich. Seine ersten vier Solo-Alben machten ihn zu einem der eigenständigsten und doch erfolgreichsten Künstler der neueren Rock-Geschichte. Dieses war schon etwas verwunderlich, weil er keine markt- oder trendgerechten Kompromisse einging. Ganz im Gegenteil, er schien immer mehr Freude am Experimentieren zu bekommen. Bei diversen Soundtracks spielte er z.B. fast ausschließlich mit Atmosphäre und Klängen.

Für sein 5. Album vermischte er dann neueste Technik mit den traditionellen Formen des Songschreibens. Und er nahm sich Zeit. Drei Jahre lang reiste Gabriel um die Welt, vom Senegal bis nach Brasilien. Überall studierte er die rhythmischen Grundlagen populärer Volksmusik. Sein Credo: „Wenn ich eine Platte mache, lasse ich mir viel Zeit zur Vorbereitung, um Klänge zu kreieren, auszuprobieren und auszuwählen. SO ist da keine Ausnahme. Jeder Klang besitzt eine bestimmte Eigenart, einen Charakter, was für mich das Auswahl-Kriterium darstellt. Oft sind es gerade die simplen, primitiven und naiven Klänge, die am meisten Charakter haben“. Peter sammelte diese Klänge und holte sich dazu eine Reihe von großen Namen ins Studio. Dem Ex-Police-Drummer Stewart Copeland überließ er einen großen Teil seiner eigenen Trommeln, mit Kate Bush sang er ein herzzerreißendes Duett („Don’t give up“), und aus dem Senegal hatte er mit Youssou N’Dour einen Superstar der Worldmusic mitgebracht. Bei all dem Aufwand blieben dann doch nur 8 Songs übrig, die aber zum Besten gehören, was die 80-er zu bieten hatten. Dazu kam Peters Vorliebe für visuelle Ausdrucksformen. Sein vielfach preisgekrönter Video-Clip zu „Sledgehammer“ war wohl einer der witzigsten seiner Art. Zusammen mit Malern und Bildhauern hatte er in London und New York an diesem 4-Minuten-Kunstwerk gearbeitet. Er ermutigte diese Künstler-Kollegen, Möglichkeiten der neuen Technologie zu ergründen.

Doch Peter Gabriel war und ist auch in anderer Hinsicht ein öffentlicher Mensch. Als überzeugter Pazifist und Anti-Rassismus-Kämpfer stellte er sich für unzählige Benefiz-Konzerte zur Verfügung. So wäre er auch ohne SO zu einer Persönlichkeit der 80er geworden, denn seine Musik ist zeitlos. Schon damals 1986, schrieb die US-Fachzeitschrift „Rolling Stone“: „Peter Gabriel ist es gelungen, einen Sound zu etablieren, der das Jahrzehnt überstehen wird“.

http://www.youtube.com/watch?v=RVUxgqH-y4s

Mit diesem Beitrag beginnt eine Reihe in loser Folge.




Theater Dortmund: Schräge Helden in der SpielBar

„Helden meiner Jugend“ – das klingt nach Leidenschaft, Liebe und ein wenig Nostalgie. Ein wenig von all dem, vor allem aber viel Charme hielt am Freitag die SpielBar im Institut (Theaterbar) des Schauspiels bereit, die Ensemblemitglied Sebastian Graf organisiert hat.

Einen musikalischen Auflauf hatte Sebastian Graf im Vorfeld angekündigt – und diesem Ruf waren viele erlegen: Das kleine, gemütlich hergerichtete Institut platzte aus allen Nähten, bevor der Schauspieler und seine zahlreichen Gäste auch nur den ersten Ton gespielt hatten. Mit dem ziemlich launigen „Ne Frau, die sich mich leisten kann“ und den ersten Zeilen „Ich bin ein fauler Knabe, daraus mach ich keinen Hehl und Faulheit kostet nun mal ihren Preis“ gab Sebastian Graf den Ton des Abends vor: lässig, ein wenig schnoddrig, sehr authentisch. Knüpfte der Start mit einigen „Joint Venture“-Liedern noch an den ersten Teil des „Helden meiner Jugend“-Abends an, sorgte Ensemblemitglied Uwe Schmieder anschließend für eine Zäsur: Im hautengen, schwarzen Kostüm mit Bürste auf dem Kopf drosch er auf ein Bierfass ein und brüllte, dass manchem Zuschauer fast das Trommelfell zerplatzte.

Danach war der Weg frei für die überzeugende Combo aus Paul Wallfisch am Klavier, Uwe Muschinski am Schlagzeug (ein Techniker des Schauspiels) und Gast David Schlax aus Köln an der Gitarre und mit beeindruckendem Gesang, die gemeinsam mit Sebastian Graf Liedern wie „Whisky in the Jar“ oder „Rebel Yell“ ihre eigene Interpretation aufdrückten. Für großes Amüsement sorgte Christoph Jödes Massenmörder-Version von „Umbrella“, während Bettina Lieder mit „Valerie“ berührte. Die größte Überraschung war aber sicherlich Maik Fuhrmann, der eigentlich als Techniker am Schauspiel arbeitet – diesmal aber mit Ukulele und vor allem klarer, schöner Stimme für Gänsehaut sorgte. Chaos und Improvisation taten ihr Übriges für einen schräg-charmanten Abend.

Die neue Theaterreihe SpielBar wird im Februar fortgesetzt.

Dieser Artikel ist in ähnlicher Form in der Westfälischen Rundschau erschienen.




Bosse in Dortmund: Romantische Rampensau

„Wie heisst der eigentlich mit Vornamen? – Axel! Axel? Wie unsexy! Aber ich kann ihn doch sicher Aki nennen? – Nenn ihn einfach Bosse, das ist ihm am liebsten. Selbst seine Band nennt sich ja so.“ Soweit der Dialog zweier weiblicher Fans. Axel Bosse wird es verschmerzen können. Es darf getrost vermutet werden, dass „sexy sein“ nicht seine höchste Priorität ist. Wo seine Leidenschaft liegt, demonstrierte er mit einem sehr gelungenen Konzert im Dortmunder Freizeitzentrum West. Die beiden Mädels dürfte es über den unsexy Vornamen hinweg getröstet haben.

Das FZW Dortmund hat in diesem Jahr mehr als einmal gutes Gespür bewiesen und Bands an der Schwelle zum Erfolg verpflichtet. Am Vorabend der 1Live-Krone gab es das bereits zweite Konzert von Bosse im Ruhrgebiet. Der Braunschweiger Axel Bosse ist ein deutscher Sänger, Gitarrist und Songwriter, der bereits als 17-jähriger mit der Schülerband Hyperchild erste Erfolge feierte und seit 2005 beharrlich an seiner Solo-Karriere arbeitet. Das erste Album „Kamikazeherz“ war ein Achtungserfolg, das zweite „Guten Morgen, Spinner“ ein fulminanter Flop und kostete ihn den Plattenvertrag.

Bosse entschied sich für die Ochsentour und vermarktete sich mit Hilfe guter Freunde im Eigenverlag. Lohn der Mühen: Das aktuelle Album „Wartesaal“ stieg sofort in die Album Charts ein, es kommen mehr als 300 Leute zu seinen Konzerten und mit Silly-Frontfrau Anna Loos belegte er den dritten Platz beim Bundesvision-Song-Contest. 1Live schliesslich promotete „3 Millionen“, den Song, der Bosse „den Arsch gerettet hat“ (so der Sänger wörtlich) und nominierte ihn in der Kategorie „bester Künstler“ für die 1Live Krone. Für das ZDF gab er in der großartigen Reihe „ZDF @ Bauhaus“ ein viel beachtetes Konzert, welches ihm auch ein Publikum jenseits jugendlicher Sexyness erschloss. Musikalisch lässt er sich in keine Schublade pressen, am besten passt noch das Etikett „Indie-Pop deutsch“. Wichtig sind ihm zunächst die Texte, seine Musik kommt danach und passt sich diesen an. Entstanden sind eigenwillige Lieder, die wie kaum andere Alltägliches in nicht alltäglicher Form präsentieren.

In Dortmund war Bosse in Bestform. Nach überstandener Kehlkopfentzündung gab er alles und hatte wie sein Publikum sichtlich Spaß. „Die Nacht“ gehörte ihm und seiner musikalisch einwandfreien Band fast alleine. Unterstützt wurden die versierten Musiker von den beiden Damen des Duos „Boy“ (ebenfalls für die 1Live Krone nominiert), welche einen kleinen Einblick in ihre Erinnerungen an Suzanne Vega weckende Musik präsentierten. Der in Interviews stets höfliche Bosse verwandelt sich auf der Bühne in eine Rampensau, paart Romantik mit wildem Toben, schweißtreibend, hingebungsvoll, unpeinlich und mit sichtlicher Freude über sein tanzendes, textsicheres Publikum.

Nach etlichen gern gegebenen Zugaben bewies er zudem mit dem älteren, ruhigen Stück „Wende der Zeit“ ein selten gewordenes Gespür für einen würdigen, nachwirkenden Abschluss. Auch wenn es noch nicht „drei Millionen“ Zuschauer sind und er für die 1Live Krone nun doch noch ein wenig im „Wartesaal“ ausharren muss, die ganz große Karriere könnte nicht mehr „weit, weit weg“ sein. Sollte es damit wider Erwarten nicht klappen, kann er immer noch Chorleiter werden. So erfolgreich, wie er das Publikum im FZW zum Mitsingen (sogar im Kanon) animierte…

Empfehlenswert: der Youtube Kanal des Künstlers.

 

 




Zappa, Varèse, Cage: Alarmsirene schallgedämpft

Rückschau: Das Ensemble musikFabrik spielte Zappa, Varèse und Cage in der Essener Philharmonie

Von „ernster Musik“ zu sprechen, klingt bei Frank Zappa ulkig. Doch hat er, der die Saiten so anzuschlagen verstand, als handele es sich bei jedem Ton um eine Parodie des Rock-Gitarrenspiels, längst seinen Platz unter den Klassikern des 20. Jahrhunderts erobert. Wenn Zappa auf der Bühne auch gern als Komiker improvisierte – die Aufführungen seiner Werke überwachte er stets mit der Strenge eines Perfektionisten. Und sein Album „Does Humor Belong in Music?“ formuliert, nicht nur auf seine Musik bezogen, eine viel diskutierte Sorge.

Wer die Zappa-Stücke, die kürzlich in der Philharmonie Essen aufgeführt wurden, aus den Konzert-Videos der Mothers of Invention kennt oder wer Zappa auf der Bühne erleben konnte, mag überrascht sein, dass diese Musik auch ohne Show-Elemente des Rock und Jazz und ganz ohne Star-Allüren auskommt. Selbst beim fetzigen Solo der E-Gitarre in „RDNLZ“ scheint es den Virtuosen nicht zu reizen, sich an die Rampe der Bühne zu rocken; alle Musiker bleiben an ihren Notenpulten. Ein Konzert von Musterschülern, mochte man bei den ersten beiden Stücken denken – „Big Swifty“ und „T’Mershi Duween“ von der fünfköpfigen Bläsergruppe und Schlagwerk in schnellem Tempo durchgespielt – ohne die Aura des Meisters.

Danach sind erst einmal drei Kompositionen von John Cage an der Reihe. „Radio Music“ von 1956, beim Konzert des Ensemble musikFabrik mit drei Röhrengeräten und einem Kofferradio. Die Frequenzen, die Lautstärken und die jeweilige Dauer sind von der Partitur vorgegeben, was aber auf den Frequenzen ertönt, variiert je nach Aufführungsort. „Credo in US“ (1942) ist geschrieben für präpariertes Klavier, zwei Schlagwerke (Konservendosen, Wecker) und Plattenspieler. Zur Aufführung von „The Perilous Night“, entstanden im Winter 1943/44, betrat mit Benjamin Kobler ein erfahrener Pianist, der lange Zeit mit Karlheinz Stockhausen zusammengearbeitet hat, die Bühne. Das mit Radiergummis, Metallteilen und Holzstückchen präparierte Klavier nähert sich – besonders in der raffinierten Rhythmik des Teils VI – dem von Schlaginstrumenten dominierten Schwerpunkt des Abends an.

Frank Zappas frühe Bewunderung für Edgar Varèse (1883–1965) ist hinlänglich dokumentiert. So war es konsequent, mindestens ein Stück des amerikanischen Komponisten französischer Herkunft in die Reihe „‘Now!‘ – America“ der Philharmonie Essen aufzunehmen. Für „Ionisation“ (1931) wurden die 41 Schlaginstrumente und zwei Sirenen in einem eindrucksvoll beleuchteten Halbkreis aufgebaut. An das zuvor gehörte John-Cage-Stück knüpfte das Werk von Edgar Varèse auch insofern gut an, als hier ein weiterer Konzertflügel auf der Bühne zu den Schlaginstrumenten gerechnet werden kann. Erstaunlich leise, geradezu schallgedämpft anmutend, fügten sich die beiden Kurbelsirenen in die Komposition ein. Der Nachklang bleibt so lange im Raum stehen, als sei das gesamte vorausgegangene Rhythmusstück ein einziger Anlauf, um das Ausklingen erfahrbar zu machen. Der Dramaturgie des Abends kam es sehr entgegen, das nur rund sechs Minuten dauernde Stück zweimal zu spielen, jeweils unmittelbar vor und nach der Pause.

Der gesamte zweite Teil des Konzerts war Frank Zappas Kompositionen gewidmet. „The Black Page“ hat Zappa ursprünglich geschaffen, um die Virtuosität und Notenfestigkeit seiner Schlagzeuger zu testen. Zu deren Qual hat er die Noten so dicht gesetzt, dass die Seite von ihnen geschwärzt ist – daher der Name des Stücks. Am Mittwochabend wurden drei Versionen nacheinander aufgeführt. Die Schlagzeug-Fassung, die wir zum Beispiel aus einer Aufnahme kennen, in der die beiden Zappa-Drummer Terry Bozzio und Chad Wackerman den komplizierten Rhythmus perfekt synchron schlagen, wird in Essen von gleich fünf Schlagzeugern der musikFabrik gespielt. Übergangslos folgt die Variante für großes Ensemble, Black Page # 1 – gestrichener Kontrabass und Cello, drei Geigen, zwei E-Gitarren, Vibraphon, Marimbas, ein E-Piano und eine zehnköpfige Bläsergruppe bestehend aus Querflöte, Klarinette, Oboe, Trompeten, Zugposaune, Horn und Tuba. Black Page # 2, (laut Ansage) „The Easy Teenage New York Version“ gibt einen Einblick in Zappas Art, seine Kompositionen mit der Zeit mehrfach, auch radikal, zu verändern. Und spätestens jetzt ist der erste Eindruck von braven Musterschülern, aus denen sich die musikFabrik zusammensetzt, nicht mehr haltbar. Die Musik ist einfach groß, hymnisch; und die Musiker zeigen, dass sie es mit dieser Größe aufnehmen können.

„RDNZL“, „Echidna’s Art (Of You)“ und „Don’t You Ever Wash That Thing?“ werden grandios in einem Rutsch gespielt, so wie Zappa selbst gern seine Stücke ohne abzusetzen aneinanderfügte. Die Stellen der Partitur, an denen einst Ruth Underwood ihre Vibraphon-Soli lieferte, werden heute freudvoll von Geigern gezupft. Bei „RDNZL“ kommt neben dem Rock-Gitarristen ein mittlerweile historisches erscheinendes E-Piano zur Geltung; in „Echidna’s Art“ zeigt besonders der Schlagzeuger sein Können; und „Don’t You Ever Wash That Thing?“ bietet Raum für ein überzeugendes Bass-Solo. Danach gibt es für die musikFabrik und ihren Dirigenten Carl Rosman Standing Ovations. Als Zugabe spielte das große Ensemble „Sofa # 2“ – ohne Gesang in einer Full-blown-Version – und gleich im Anschluss „Son of Mr. Green Genes“.

Ein gelungenes Konzert. Es gibt nichts zu kritisieren. Allenfalls klingt in so manchem mitgehörten Pausengespräch etwas Bedauern durch, dass 1968 schon so weit zurückliegt. „My Guitar Wants to Kill Your Mama“ hat sich zwar nicht musikalisch, aber inhaltlich überlebt. An dem Zappa-Abend in der Philharmonie dürften neben zahlreichen Müttern auch Großmütter und Großväter ihre Freude gehabt haben, für die der Original-Frank-Zappa auf den Essener Songtagen 1968 noch das Versprechen auf eine nicht nur musikalische Revolution bedeutete. Junge Menschen gab es ebenfalls in nicht geringer Zahl im Publikum. Sie wirkten wie Kenner, nicht wie eine Schar, die aus Vergnügungssucht zu einer Massenveranstaltung strömt.

„Now!“ – America: Cage Reich Adams Zappa. Ensemble musikFabrik: Frank Zappa (Mittwoch, 30. November 2011, 19:30 Uhr in der Philharmonie Essen)

.Das Ensemble musikFabrik spielte in der Philharmonie Essen




Jamiroquai: Acid-Jazz mit Autsch

Ich war so glücklich. Ein Konzert von Jamiroquai. Endlich. Der eigentliche Termin im Frühjahr war wegen einer Grippeerkrankung von Sänger Jay Kay ausgefallen. Also nun Oberhausen, ein Abend voller Sound, Funk, Acid-Jazz – und Ohrenschmerzen.

Die Ausgangslage war schon ein bisschen schwierig. Die Band hatte eine Absage wieder gut zu machen. Und dann das: Dem Schweizer Alleinunterhalter mit Beatboxing-Qualitäten gehört die Bühne viel länger als geplant – die Combo ist gerade erst in Düsseldorf gelandet. Nebel in London.

Die Ende 2010 erschienene Jamiroquai-CD "rock dust light star" (Mercury Universal)

Die Ende 2010 erschienene Jamiroquai-CD "rock dust light star" (Mercury Universal)

Als Jay Kay endlich um halb zehn auf die Bühne stürmt, ruft er eine lautstarke Entschuldigung in die Halle. Lautstark ist leider auch, was folgt: Der Sound ist brutal und schmerzhaft, unausgewogen. Jay Kays Gesang klingt wie aus einer Blechbüchse, Rückkopplungen stören das Konzerterlebnis. Einige Buhs aus dem Publikum werden laut. Immer wieder zeigt Jay Kay selbst auf die Monitore, geht in den Pausen zwischen den Liedern an den Bühnenrand, flucht „What a fuck is this.“

Ärgerlich. Aber ich entscheide irgendwann, mich nicht mehr zu grämen, sondern das Beste aus der Situation zu machen und trotzdem zu feiern. Schließlich zeigt sich „Jamiroquai“ experimentierfreudig: Viele Lieder bekommen einen neuen Anfang oder eine ganz andere Stimmung, überzeugen mit ausgedehnten Improvisationen und engagierten Musikern. Auch Jay Kay in grüner Indianer-Jacke und mit schwarzem Hut will die Situation durch den Flirt mit der Masse retten, tanzt und verteilt Handschläge. Planeten schweben über der Bühne, geniale Videoeinspielungen entführen in die Hippie-Ära, rasante Rennfahrtszenarien oder auf Ausflüge ins All mit dem „Jamiroquai“-Raumschiff – dorthin, wo sicher auch der Sound besser wäre.




Spielarten des Rock beim Dortmunder Westend-Festival

Crashkurs durch die Spielarten des Rock gefällig? Das Musikmagazin Visions hat die selbst gestellte Aufgabe beim Westend-Festival am Freitag und Samstag im FZW im jeweils flotten Dreiklang gelöst – mit so unterschiedlichen Künstlern wie Thees Uhlmann, Therapy? und Maximo Park. Da konnten selbst die Toten Hosen nicht Nein sagen.

Thees Uhlmann im FZW Dortmund. Foto: Normen Ruhrus

Thees Uhlmann im FZW Dortmund. Foto: Normen Ruhrus

„Ich weigere mich, die Regel zu akzeptieren, dass es eine Korrespondenz gibt zwischen Rock’n’Roll und älter werden.“ Thees Uhlmann, Jahrgang 1974, liefert am Freitag im FZW den passenden Auftritt zu seinen Worten: Triefend vor Schweiß, die schwarze Lederjacke längst in die Ecke gepfeffert, stürzt er sich mit unverminderter Energie als selbsternannter „ältester Newcomer Europas“ in jedes Lied seines ersten Soloalbums, sei es die Erfolgssingle „Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf“ oder „17 Worte“. Wer beim Hören der CD vielleicht noch skeptisch war, wird live mitgerissen von dem eingängigen, poppigen Sound und den ohrwurmfreundlichen Melodien. Die müssen auch die Toten Hosen überzeugt haben: Die Düsseldorfer Punkrocker mischen sich munter unter das Publikum.

Anfangs verfällt der Tomte-Mann ab und zu noch in seinen leicht nöligen, monotonen Gesang, erreicht aber zunehmend mehr Prägnanz und
Kraft. Uhlmann redet mit dem Publikum, als wäre es in seinem Wohnzimmer: „Ich bin die Ina Müller des deutschen Indie-Rock.“ Sicherlich sind seine Lyrics und die Haltung, die keine Angst vor Kitsch kennt, Geschmackssache. Aber: Thees Uhlmann und seine bemerkenswerte Band sind authentisch und emotional – die Bruce-Springsteen-Pose auf dem Poster im Hintergrund ist kein Zufall.

Felix Brummer von Kraftklub beim Westend-Festival im FZW. Foto: Normen Ruhrus

Felix Brummer von Kraftklub beim Westend-Festival im FZW. Foto: Normen Ruhrus

Klare Kante zeigen auch Kraftklub: Die Jungs aus Chemnitz haben sich beim Bundesvision Song Contest Platz 5 geangelt – und bringen auch im FZW die Leute zum Toben. Gegen die reflektierenden Momente von Thees Uhlmann setzen sie eine anti-intellektuelle,
brachiale Mischung aus Rock und Rap, immer mit mächtig selbstironischer Attitüde. In einer Linie stehen sie fast militärisch, allesamt gleich gekleidet in College-Jacken, Polohemden und roten Hosenträgern – Frontmann Felix Brummer salutiert gar zur Begrüßung – und positionieren sich zur Melodie von Becks „Loser“  als Verlierer aus Karl-Marx-Stadt, die in einem anderen Lied auf keinen Falls ins hippe Berlin wollen. Rotzig, erdig, dreckig sind die fünf, die treibende, tanzbare Rhythmen in die Körper ihrer Zuhörer schießen.

Andy Cairns, Sänger der Band Therapy?, beim Auftritt im FZW bei dem Westend-Festival von Visions. Foto: Normen Ruhrus

Andy Cairns, Sänger der Band Therapy?, beim Auftritt im FZW bei dem Westend-Festival von Visions. Foto: Normen Ruhrus

 

 

Nach dieser Demonstration deutscher Spielarten gilt das Scheinwerferlicht am Samstag internationalem Rock: Zurück in die 90er Jahre katapultiert „Therapy?“ die Fans mit der Live-Wiederbelebung ihres Erfolgsalbums „Troublegum“ – das sie so laut in die große Halle knallen lassen, dass es einem fast die Ohren wegfegt. Die nicht ganz so perfekte Aussteuerung lässt Andy Cairns Stimme manchmal sogar leider untergehen in dem martialischen Klanggewitter. Beim Publikum aber kommt vor allem eins an: Der dämonisch schauende und brüllende Cairns, der hüpfende Bassist Michael McKeegan und Schlagzeuger Neil Cooper haben Lust auf den Live-Moment, feuern den Pogo mit „Screamager“ oder dem Joy Division-Cover „Isolation“ an – möglicherweise ein bisschen Retro, aber voller Druck.

Paul Smith von Maximo Park beim Westend-Festival im FZW. Foto: Normen Ruhrus

Paul Smith von Maximo Park beim Westend-Festival im FZW. Foto: Normen Ruhrus

Neuzeitlichen Indie Rock werfen die Briten von Maximo Park in die Runde – und auf sie hat die Menge gewartet, feiert sie mit hochgereckten
Armen, die Refrains mitsingend. Der charmante Sänger Paul Smith kann sich auf seine Fans sogar so sehr verlassen, dass ihm Laura aus Reihe eins mit der erste Liedzeile von „Kiss me better“ aushilft – schließlich hat der einzige Deutschland-Auftritt 2011 die Jungs mitten aus ihrer Arbeit am neuen Album gerissen. Sonst aber ist ihnen keinerlei Schwäche anzumerken – ganz im Gegenteil: Im Anzug, eine Nelke im Knopfloch, schwankend zwischen Alex aus „Clockwork Orange“ und dem Witz von Monty Python, genießt Paul Smith den großen Auftritt, tanzt, spielt, reißt die Augen auf, flirtet, umarmt die Menge, ist mit Leib und Seele da. Zusammen mit seinen großartigen Musikern bringt er harmonische Melodien, treibende  Rhythmen und einen durchaus fordernden Gesangsfluss zusammen. Ob nun die Hits wie „Books from Boxes“ oder „Girls who play guitar“ durch die Halle fegen oder eine der ganz frühen B-Sides – die Zuschauer tanzen und feiern. Erst recht, als die Band einen Vorgeschmack auf das neue Album gibt, mal ganz intensiv und gesangsfokussiert, dann stark rhythmisiert und mitreißend. „Ich hoffe, wir sehen uns nächstes Jahr“, ruft Paul Smith am Ende glücklich – die Fans werden kommen.

Bei so viel Stärke werden die jeweils ersten im Bunde, am Freitag Imaginary Cities, am Samstag Japanese Voyeurs, eher zum Vorgeplänkel –
die ersten spielerisch und gut gelaunt, die anderen hart und grungig.

 

(Dieser Artikel ist in ähnlicher Form in der Westfälischen Rundschau erschienen).




Happy Birthday, Paul Simon!

Zu den Klängen von „Bridge over troubled water“ himmelte ich das erste weibliche Wesen an, das sich mir ernsthaft in den Lebensweg stellte, nachdem wir tags zuvor gemeinsam ebenso andächtig Klaus Doldinger, Ingfried Hoffmann und Udo Lindenberg zugehört hatten. Damals puzzelten sie noch als „Simon and Garfunkel“ ihre Stimmen ebenso gekonnt wie trendy ineinander und klampften US-Zeitgeist gegen Swinging London. Paul Simon, der sich selbst für durchschnittlich talentiert hält, wird heute 70 Jahre alt und nutzte die Zeit allemal, ein paar der populärsten und wohl auch besten Songs der neueren Geschichte zu produzieren. Und am besten klangen die, wenn „Tom and Jerry“ (das war ihr Gründungsname um 1957) gemeinsam sangen.

Zu den Klängen von „Mrs. Robinson“ sah ich zum ersten Mal Dustin Hoffman in „The Graduate“ („Reifeprüfung“), wie oft danach noch, das kann ich kaum mehr zählen.

Zu den Klängen von „The Boxer“ nahm ich die Trennung der beiden zur Kenntnis, sah Art Garfunkel in „Catch 22“ schauspielern und hatte lange Zeit nur noch die nostalgische Wahrnehmung, wenn die Radiowellen mal wieder einen dieser Ewigkeitshits spielten.

CD-Cover des erwähnten Konzertmitschnitts aus dem New Yorker Central Park - rechts Paul Simon, links Art Garfunkel (Sony Music/amazon.de)

CD-Cover des erwähnten Konzertmitschnitts aus dem New Yorker Central Park - rechts Paul Simon, links Art Garfunkel (Sony Music/amazon.de)

Zu fast allen Klängen, die sie je produziert hatten, krähte ich mit den beiden, als sie am 19. September 1981 mit einer geschätzten halben Million Menschen den New Yorker Central Park beschallten, vor einem TV-Gerät im Freundeskreis – wie gern wäre ich dabei gewesen. Der legendäre Bürgermeister Ed Koch hat nur noch Erinnerungswert, der Central Park, den er schließen wollte, liegt immer noch in Manhattans Mitte und „Sounds of Silence“ wird immer noch mal wieder im Radio gespielt.

Zu den Klängen von „Graceland“ beschloss ich dann später, Paul Simon doch für wesentlich begabter zu halten als er sich selbst. Er klampft mit 70 wahrscheinlich mit anderer Technik, des Bäuchleins wegen, das er mittlerweile hat und er wirkt ein wenig pausbäckig, aber mal ehrlich: Wie 70 sieht er auch nicht aus. Muss ich ja sagen, werde ich ja auch in nicht mehr allzu ferner Zukunft.
Bin mal gespannt, welche Gelegenheit er und Art nutzen werden, um die Reunion eines ziemlich unerschüttlerlichen Duos zu begehen. Ein Internet-Portal haben sie ja stets unter gemeinsamer Namensnennung.

Happy Birthday, Paul!




Sole Sentry rocken plugged und unplugged in der Hafenliebe

Kieron Gerbig - Foto: Sabine Musik

Kieron Gerbig - Foto: Sabine Musik

Die bisher im Bam Boomerang beheimatete Dienstag-Reihe „tuesday live“ bietet ab jetzt in der Dortmunder Hafenliebe lokalen Bands eine Bühne. Sole Sentry, die in Kulturcafés, Diskotheken und sogar Heavy-Metal-Kneipen, ein Standbein im Live-Sektor gefunden haben, werden am 11. Oktober in der Hafenliebe plugged und unplugged auftreten. Die Band um den gebürtigen Australier Kieron Gerbig verlangt von sich Tiefe, gepaart mit einem ordentlichen Schuss Rock. Im Interview erzählt Kieron, wie sich die Band entwickelt hat und warum er es liebt, seine Musik so zu präsentieren, wie sie auch geschrieben wurde.

Am 11. Oktober spielt ihr in der Hafenliebe in Dortmund. Die so genannte „Dienstags-Reihe“ soll lokalen Newcomer-Bands eine Plattform geben. Doch so neu seid ihr eigentlich nicht. Seit wann gibt es Sole Sentry?

Kieron Gerbig: Die Band gibt es schon länger, die Konstellation ist allerdings neu. Bevor ich zu Sole Sentry kam, spielte ich in der Band ‚Increase‘. Leider trennten sich unsere Wege und die Band wurde aufgelöst. Es ging mir gesundheitlich nicht gerade gut, doch nach einer erfolreichen Operation wollte ich sofort wieder mit der Musik loslegen. Und das nicht alleine, sondern mit einer Band.

Wie bist zu Sole Sentry gestoßen?

Kieron Gerbig: Ich schaute mir eine Menge Bands an und als ich die Jungs von Sole Sentry kennenlernte, wusste ich: Das ist die Band, mit der ich Musik machen will. Also schrieben wir neue Songs, machten unseren ganz eigenen Stil, es herrschte stetig Austausch zwischen den Bandmitgliedern, so änderte sich schließlich auch der Sound.

In der Hafenliebe werdet ihr plugged und unplugged spielen. Was macht ihr da genau? Ist es euch wichtig zu demonstrieren, dass eure Musik „handgemacht“ ist?

Sole Sentry - Foto: Sabine Musik

Sole Sentry - Foto: Sabine Musik

Kieron Gerbig: Ich für meinen Teil liebe es, die Musik so zu präsentieren, wie sie auch geschrieben wurde. Schnörkellos und an der Gitarre. Zumeist akustisch, um es dann gemeinsam im Kollektiv zu einem fertigen Song zu zaubern. Unplugged kannst du natürlich viel mehr Tiefe in die Songs reinlegen. Selbstverständlich mögen wir es auch zu rocken und zu zeigen wo der Hammer hängt. Daher unplugged und plugged.

Und warum Dortmund und nicht Sidney? Du bist gebürtiger Australier, aufgewachsen in Marl, lebend in Dortmund. Warum bist du im Ruhrgebiet geblieben? Wäre Australien nicht auch ein guter Ort als Musiker?

Kieron Gerbig: Hier bin ich mit meiner Musik etwas Besonderes, in Australien bin ich ein Australier unter vielen die rocken. Australien ist ein guter Ort für Musiker, die Happy-Musik á la Jack Johnson machen.

Vielen Dank für das Interview.

[youtube http://www.youtube.com/watch?v=bJnbgsFI4I4&w=560&h=315]




Sonnenwochenende im Dunkel – Denovali Swingfest 2011

Die Musikerinnen und Musiker hätten schlechteres Wetter verdient. Wer mochte sich schon an einem Wochenende, an dem sich die Sonne erfolgreich Mühe gab, den bereits verloren geglaubten Sommer nachzuholen, in eine lichtlose Halle zurückziehen? Immerhin einige Hundert oder Tausend, die sich in ihrer musikalischen Ausrichtung den experimentierfreudigsten unter den jüngeren Bands und Solo-Künstlern verbunden fühlen.

Wenn sich am Sonntag bereits zur Mittagszeit die nicht gerade kleine Essener Weststadthalle mit hauptsächlich jungen Menschen füllte, die den Eigenkompositionen des französischen, hierzulande kaum bekannten Klavierquartetts Les Fragments de la Nuit lauschen wollten, darf das als ein Erfolg der Organisatoren von Denovali gewertet werden – einem Label, das die verschiedensten Ausrichtungen abseits der musikalischen Mainstreams in sein Programm aufnimmt.

Einundzwanzig Gruppen und Solo-Musiker – allesamt gut auf ihre Art – forderten an drei Tagen das Durchhaltevermögen der Festivalbesucher heraus. Die Vielfalt verleitete zur Selektion. Bei mir waren es vor allem die eher dem schweren Metall verbundenen Künstler, die durch den Filter meiner Aufmerksamkeit fielen, sowie einige „Public Autistics“ aus dem Ambient/Drone-Bereich, die mit sorgsam ausgetüfteltem, fertigem Klangmaterial angereist kamen. Künstler wie Jefre Cantu-Ledesma, dessen Konzert aus einem 35-minütigen Dauerton zu bestehen schien, mit nur einem sehr empfindlichen Gehör zugänglichen Veränderungen, das durch die dargebotene Lautstärke zugleich in der Wahrnehmung feiner Unterschiede beeinträchtigt wird.

Der Grieche Subheim, der ebenfalls in die Kategorie der musikalischen Autisten gehört, setzte zur Elektronik zusätzlich eine Gitarre und ein mit dem Besen geschlagenes Tom Tom ein, was die Zuhörer ihm dankten.
Nadja, das kanadische Duo in charakteristischer Aufstellung – sie konsequent mit dem Rücken zum Publikum, er demselben zugewandt –, erinnerten einmal mehr daran, dass sich diese Variante des Postrocks nicht allein den Einflüssen von Godspeed!, sondern auch des Krautrocks verdankt – ähnliche Klänge hatte man in Essen vor vierzig Jahren schon recht ähnlich gehört, wenngleich damals noch mit tonnenschweren Geräten generiert.
Das schottische Hidden Orchestra betrat zwar mit vier Musikern die Bühne, darunter doppelte Schlagzeugbesetzung, verdeutlichte bei seinem Auftritt aber, warum es so heißt. Einige der Beteiligten blieben unsichtbar, ihre Gesangs- oder Instrumentalparts wurden auf Knopfdruck eingespielt. Insgesamt kamen die zum Teil auf Traditionen des Cinematic Orchestra zurückgreifenden Klänge zu schön, zu harmonisch, herüber, mit einer oft lächelnden, sich in den Hüften wiegenden Geigerin/Keyboarderin. Als dazu noch Vogelgezwitscher eingeblendet wurde, mochten Teile des Publikums sich gewünscht haben, die Kapuzenmänner von Sunn O))) wären verfrüht auf die Bühne gekommen, um ein paar schrille Doom-Metal-Riffs dazwischenzukloppen.

Im Unterschied dazu brachte das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble am Samstagabend raffinierter das Wechselspiel aus Schmerz und Glück in die Gehörgänge. Wer gegen Ende des vorigen Jahrtausends glaubte, mit Nils Petter Molvaers Album „Khmer“ oder Eivind Aarsets „Électronique Noire“ sei eine bestimmte Rhythmik, ein bestimmter Einsatz der Trompete oder ein bestimmter Sound der Gitarre an ein nicht mehr überbietbares Extrem gelangt, konnte sich beim Auftritt der Amsterdamer Formation davon überzeugen, dass diese Musikrichtung ausbaufähig ist, nicht zuletzt durch die teils trip-hop-haften Partien der Sängerin.

Angesichts der extremen Hell-Dunkel-Kontraste zwischen der Weststadthalle und der Rasenfläche an der Thea-Leymann-Straße entschied ich mich, während drinnen solch schwere monolithische Kompositionen wie die von Kodiak + N abliefen, für eine gute halbe Stunde Sonnenlicht. Generell aber dominierte während des Festivals (wie auf dem Denovali Label) das Dunkel. Bohren & der Club of Gore, beinah von allem Licht befreit, beugten nur selten ihre Hinterköpfe in die wenigen, von oben durch den Bühnennebel herabstrahlenden Lichtsäulen. Die nach eigenem Bekenntnis „unromantischste Band Deutschlands“ rebelliert mithilfe einer extremen Dehnung des Takts gegen das schnelle Vergehen der Zeit. Freilich wird in ihren (selbst so bezeichneten) „Songs“ nicht gesungen, und der spärliche Text erschöpft sich in lakonischen Ansagen („Im nächsten Stück geht es um Engel, die alles kaputt machen“). Dann folgt ein weiteres bass-lastiges Low-Tempo-Stück.

In die dunkelste Ecke gehört auch das Dale Cooper Quartet aus Frankreich, das seine Stücke an David-Lynch-Filmen entlangkomponiert. Die Gitarre ist gestimmt wie im Twin-Peaks-Soundtrack von Angelo Badalamenti, und ein vom Diktaphon eingespielter Musikschnipsel zitiert ein Schmachtlied von der Sorte, wie sie der von Dennis Hopper gespielte Brutalo aus „Blue Velvet“ liebt. Streckenweise nimmt uns das Quartett mit auf einen Trip, um dann im Collagen-Durcheinander die Harmonie zu brechen.

Einer der Höhepunkte des Festivals spielte sich an seinem Rand ab, als Pausen-Act auf einer unscheinbaren Bühne neben der Bar im Merchandising Room. Hier trug in der Umbaupause zwischen dem (sehr guten!) Contemporary Noise Sextet und dem Dale Cooper Quartet der Sänger von Her Name is Calla, Tom Morris, zur akustischen Gitarre einige seiner Lieder vor. Die teilweise an Jeff Buckley erinnernde Stimme könnte ein Stadion ausfüllen. Am Samstag sang er vor kleinem Publikum Stücke aus einem Soloalbum, aus der ersten CD von Her Name is Calla und den mehrfach schon gecoverten Kate-Bush-Klassiker „Running Up That Hill“.
Die UK-Band Her Name is Calla, die am Sonntagnachmittag auftrat, lebt von der Stimme ihres Lead-Sängers, von seinem Variationsreichtum zwischen zartesten Tönen und kräftigsten. Was nicht heißen soll, dass die übrigen Bandmitglieder (diesmal ist der Trompeter leider nicht mit nach Deutschland gekommen) nicht gut wären; sie sind allesamt große Klasse. Geige, Bass und Schlagzeug stellen sich auf die Nuancen ein, die Tom Morris aus seiner Stimme herausholt. Wenn andere Bandmitglieder mitsingen, mal die Geigerin, mal zusätzlich der Bassist und ausnahmsweise auch der sonst wild wirbelnde Schlagzeuger, sind das Accessoires. Die Basis ist die Stimme des Leadsängers. Auch wenn Geige und Schlagzeug im Duett das selbstentfesselte Chaos bändigen, wird der nächste stimmliche Einsatz von Tom Morris bereits erwartet. Entfesselt wird das Mikrofon, damit Gitarrenhälse sich am Mikroständer reiben können. Kalkuliert werden Rückkopplungen herbeigeführt, doch die drohende Zertrümmerung der Gitarren bleibt aus.

Neben den dunklen Schwerpunkten kamen auf dem Fest auch einige fröhliche, lustige, verspielte Töne zum Klingen. So bei den eingangs erwähnten, neo-klassisch orientierten Les Fragments de la Nuit, ebenso wie bei dem Münsteraner Komponisten und DJ Thomas Bücker, alias Bersarin Quartett, der am Freitagabend gemeinsam mit einem Gitarristen und einem Schlagzeuger auftrat. Vor allem aber bei dem Düsseldorfer Hauschka.

Hauschka (bürgerlich: Volker Bertelmann) ist ein vielseitiger Pianist. Er komponierte schöne Stücke, zum Beispiel auf dem Album „Ferndorf“ (2008), mit dem er Frieden mit der Siegerländer Provinz schloss, in der er aufwuchs: Reminiszenzen an ein blaues Fahrrad, an den Nadelwald, ans Freibad, an die Eltern, an verregnete Wochen … Er spielte im vorigen Jahr mit dem Magik*Magik Orchestra aus San Francisco seine durchkomponierten Partituren der „Foreign Landscapes“ ein, schrieb Filmmusik, wird im nächsten Jahr auf Einladung des Goethe-Instituts in Kenia mit afrikanischen Musikern zusammenarbeiten. Auf dem Denovali-Festival präsentierte er sich dagegen musikalisch eher einseitig. Hauschka hat nach eigenem Bekunden eine starke Affinität zu Club-Musik, und sein Lieblingsclub ist der „Salon des Amateurs“ in der Düsseldorfer Kunsthalle. So heißt auch sein aktuelles Album, auf dem er Techno-Rhythmen in die Instrumentalmusik zurückführt. Aber während ihm auf dem Album erstklassige Musiker assistieren, zum Beispiel der Schlagzeuger John Convertino von Calexico, kommen bei den Solo-Auftritten die Drums leider nur aus der Beatbox. Dafür ist die Kamera-Großeinstellung in das Innere seines präparierten Klaviers ein Fest fürs Auge. Kleine Schellen ertönen auf Tastendruck, Tamburins scheppern im Kasten des Flügels, eingeklemmte Holzstäbe schnarren, Kronkorken hüpfen, Klebeband dämpft, und ein Stück lang springen Pingpong-Bälle wie Popcorn aus der heißen Pfanne und sortieren sich neu.

Denovali Swingfest
30.09. – 02.10. 2011
Weststadthalle
Thea Leymann Strasse 23
45127 Essen
Infos: www.denovali.com/swingfest




Düstere Schönheit – Vorschau aufs Denovali Swingfest in der Essener Weststadthalle

Der Wortbestandteil „Swing“ im Festivalnamen ist pures Understatement. Sicher wird der Beton mitschwingen, wenn die durchdringenden Bässe finsterer Bands wie Bohren & der Club of Gore oder Kodiak durch die Weststadthalle wummern. Mit einer älteren Ausrichtung des Jazz hat die am kommenden Wochenende präsentierte Musik aber rein gar nichts zu tun.

Der Untertitel „Experimental Music Festival“ verrät dagegen schon etwas mehr über die einundzwanzig Gruppen und Einzelkünstler, die vom 30. September bis 2. Oktober in Essen auftreten werden. Aber experimentieren lässt sich ja in den verschiedenen Genres.

Das Bersarin Quartett tritt am Freitag gegen 19 Uhr auf

Mehrere der auf dem Festival vertretenen Musiker greifen Traditionen klassischer Instrumentalmusik auf und variieren sie, oftmals um elektronische Mittel erweitert. So der Münsteraner Komponist und DJ Thomas Bücker, alias Bersarin Quartett, dessen Auftritt für Freitag, 30.09., 19 Uhr, vorgesehen ist. Oder der Düsseldorfer Hauschka (i .e. Volker Bertelmann) mit seiner bestechend schönen, manchmal wehmütigen, manchmal heiteren Klaviermusik (Sonntag, 2.10., 19 Uhr). Der Klassik vielleicht am engsten verbunden ist die französische Formation Les Fragments de la Nuit (Piano, Cello und drei Violinistinnen), die den Sonntagnachmittag bereits gegen 13 Uhr eröffnet.

Der Düsseldorfer Hauschka, alias Volker Bertelmann

Postrock – sofern diese generelle Bezeichnung überhaupt etwas aussagt – ist auf dem Festival durch mehrere Gruppen präsent. Die UK-Band Her Name is Calla, die bereits im vorigen Jahr auf dem Denovali Swingfest im Essener Jugendzentrum durch die kräftige Stimme des Lead-Sängers Tom Morris und durch satten Gitarrenklänge überzeugte, ohne dass die subtileren Töne von Geige und Posaune in den Klanggewittern untergingen, spielt auch in diesem Jahr wieder in Essen (Sonntag, 16 Uhr). Der gleichen musikalischen Kategorie ließen sich die Petrels (UK) zuordnen. Angenehm zu hören, etwas in Richtung Shoegazing weisend, sind auch die schwedischen September Malevolence (Freitag, leider schon um 14.30 Uhr). Ebenso AUN aus Kanada. Wer es gern härter mag, wird von Omega Massif gut bedient.

Her Name is Calla spielen am Sonntag gegen 16 Uhr

Ambient und Drone sind auf dem Essener Fest vertreten durch Künstler wie Jefre Cantu-Ledesma (San Francisco), Tim Hecker (Montreal), Kodiak (Gelsenkirchen) sowie durch den Musiker und Videokünstler Thomas Köner, dessen Performance den Freitag beschließt. Das überragende Duo Nadja aus Toronto tritt am Samstag gegen 16 Uhr auf.

Aus dem Jazz kommt das polnische Contemporary Noise Sextet (Samstag, 17.30 Uhr). Stärker elektronisch geprägten Jazz bringt das Hidden Orchestra aus Edinburgh auf das Essener Festival – voraussichtlich eines der herausragenden Ereignisse am Sonntagabend (20.30 Uhr). Das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble aus Amsterdam dagegen, das den Samstag beschließen soll, trägt den Jazz zwar ebenfalls im Namen, ließe sich aber ebenso in eine Reihe stellen mit experimentierfreudigen, mit dem Abgründigen spielenden Postrockbands. Soundtracks zu nie gedrehten Filmen. In diese Richtung gehen auch die dunklen Sounds des Dale Cooper Quartets (Samstag, 19 Uhr). Nicht nur der Bandname, auch die Musik der Bretonen spielt auf David Lynchs Kult-Serie „Twin Peaks“ an. Subheim aus Griechenland, der am Freitag um 17:30 Uhr auftreten soll, steht ebenfalls schwärzester Harmonik nahe, ebenso wie Lento aus Italien oder die Finsterlinge aus Mülheim, Bohren & der Club of Gore, die den Takt auf das größtmögliche Maß verlangsamt haben (Freitag um 22 Uhr). Das Licht am Sonntagabend machen drei dem Death oder Doom Metal zugewandte amerikanische Kapuzenmänner aus: Sunn O))).

Denovali Swingfest
30.09. / 01.10. / 02.10. 2011
Weststadthalle (U-Bahn: Berliner Platz)
Thea Leymann Strasse 23
45127 Essen
Tickets und Infos: http://www.denovali.com/swingfest

 

 




R.E.M. – R.I.P., liebe Eckkneipe

 

nightswimming / deserves a quiet night / … (1992)

yeah all those stars drip down like butter… (1994)

that sucarcane that tasted good… (2001)

not everyone can carry the weight of the world… (1983)

follow me, don’t follow me… (1988)

where is the road I follow? to leave, leave … (1996)

there’s a progess we have found / a way to talk around the problem … (1986)

you and me / we know about time … (1991)

REM_Alben_83_bis_11

Sie waren immer da. Die Eckkneipe unter den Rockbands. Trends-am-Rande-Wahrnehmer. Sich-selbst-treu-Bleiber.

Ein neues Album, das alte gute Gefühl. R.E.M. sind da. Michael Stipe nuschelt, schreit, wispert, singt. Mike Mills‘ sanft-melodiöse Bass-Läufe. Peter Buck schremmelt, ist noch immer kein virtuoser Gitarrist, war immer noch nicht beim Frisör.

1000 Momente: Das bis heute beste Bandfoto aller Zeiten (von dem ich nur eine komische Kunst-Version im Netz gefunden habe). Das Gratis-Konzert am Kölner Dom. Das alte Album. Das davor. Das noch eins davor. Die anderen, die zurückgehen bis 1983.

R.E.M. sind nicht mehr da. Titel ihres letzten Albums, von 2011, wieder eines meiner liebsten des Jahres: „Collapse Into Now“.

Das müssen wir jetzt wohl tun. Nach 28 Jahren hat die Eckkneipe geschlossen.




Die norwegische Katastrophe oder: Warum der Tod von Amy Winehouse zur Randnotiz wurde

Es sollten einige Gedanken werden, über Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison, Kurt Cobain und nun Amy Winehouse, die jede und jeder nur 27 Jahre alt wurden. Und dass sie allesamt so grenzwertig gute MusikerInnen waren und wohl nur deshalb das leisten konnten, was sie so virtous beherrschten, weil sie parallel dazu das taten, was sie so frühzeitig umbrachte. So blieben sie legendär, und auch Amy Winehouse wird legendär bleiben, ob sie bei You Tube nun volltrunken auf der Bühne zu sehen ist, oder ihre Wahnsinnstimme wuchtig gegen jeden Lebensfrust ansingt.

Aber ehrlich gesagt, je länger die Anschläge in Norwegen vor drei Tagen nachbebten, desto intensiver beschatteten sie jede andere Nachricht. Ich weiß gar nicht, ob ich alle Gründe aufzählen kann, ob sie sich mir erschließen, mir überhaupt je bewusst werden kann, warum der Schatten so weit reicht. Ich will doch versuchen, mich dem ein bisschen zu nähern.

Es gab schon viele Katastrophen und menschenverursachte Anschläge, die ähnlich viele und noch mehr Menschenleben beendeten. Dennoch halte ich das nun Geschehene für bisher einmalig. Denn dieser blond-blauäugig-christliche „Schützer“ des Abendlandes, ein Mustergermane, vermutlich in der eigenen Nachbarschaft auch ein Muster-Norweger, er hat seine offenbar minutiös voraus geplanten Morde anscheinend als eine Art Marketing verstanden. Er gab eilends auf, als Polizisten ihn stellten, provozierte keinen finalen Rettungsschuss eines nervösen Beamten – was ja angesichts dessen, was auf dieser Insel geschehen war, eine verständliche Reaktion hätte sein können. Nein, Anders Behring Breivik wollte die Chance wahren, seine „Botschaft“ zu verkünden, den Menschen zu erläutern, warum er sein Handeln für unausweichlich hielt. Der Mann ist kein Amokläufer, der den eigenen Tod als Fanal und Finale der Tat mit einplant. Er fühlt sich als messianischer Verkünder einer Botschaft – in seinen Augen der Botschaft drohenden gesellschaftlichen Unheils.

Es gab schon viele menschenverursachte Taten, viele, die unmenschlich erschienen. Aber dieser Anders Behring Breivik blieb anscheinend zu jeder Sekunde dieses schrecklichen Tages kühl, voraus berechnend emotionslos. Er schaute jungen Menschen in die Augen und tötete sie mit einer Pistole, er peilte sie über die Zeileinrichtung seines Gewehrs an und sah wohl mehr oder weniger ungerührt zu, wie sie umfielen. Das ist schon eine andere Dimension als die eines Bombenanschlages, wenn auch in der grausamen Wirkung gleich. Diese Art des Anschlages setzte er nach polizeilichen Ermittlungen kurz zuvor in der Hauptstadt Oslo um, damit auch die Regierung wisse, dass sie gemeint sei. Anders Behring Breivik suchte geradezu diesen „Kontakt“, wollte keine Anonymität. Er war ja auch in seinen eigenen Augen kein Täter, sondern Botschafter, vielleicht sogar Prophet. Und die Opfer, junge Menschen, die fröhlich den Sommer im Ferienlager verbringen wollten, sie waren keine Opfer, sondern – in der kruden Fantasie des „Jägers“ – Bannerträger des Kulturmarxismus, was immer das auch sein mag.

Der Mensch als solcher hat wohl von jeher seinen jeweiligen Gesellschaften Gläubigkeit verordnet, höheren Wesen die Verantwortung für das Schicksalhafte weitergegeben, Weltanschauungen erdacht, damit erklärbar wurde, was zu den jeweiligen Zeiten noch nicht so schlüssig erklärbar schien – kurz, er schuf sich Religionen. Und weil im Laufe der Jahrtausende immer mehr und immer neue Anschauungen hinzu kamen, einige Religionen es unternahmen, missionarisch tätig zu werden, wuchs langsam aber sicher immer stärker die Angst vor dem Neuen und Unbekannten – was keineswegs auf eine Region oder eine Religion beschränkt blieb.

Und weil die jeweils missionierende Religion ihre Anschauung oder ihre Weltsicht für die einzig wahre und gültige hielt, wuchsen aus der jeweiligen Heimat und der Sicht auf die Dinge und weltlenkenden Göttlichkeiten Alleinvertretungsansprüche. Und entlang des geschichtlichen Strahls entdeckten die Alleinvertreter natürlich auch Minderheiten, vor denen man die Mitmenschen Furcht lehren konnte, die für Pest oder ähnliche zeitgenössische Bosheiten der Umwelt verantwortlich waren. Derzeit werden im westlichen Europa gern mal die Muslime haftbar gemacht…

So auch bei Anders Behring Breivik, der nach den bisherigen Erkenntnissen gern das Armageddon voraussagte, natürlich in Form anonymer, quasi vermasster islamischer Horden, die vor nichts und niemandem Halt machen. Norwegen wird zu klein für den „Ansturm“, 1,6 Prozent Muslime bei knapp fünf Millionen Einwohnern. Dabei ist gerade Norwegen in unsere Augen doch traditionell tolerant, ist als reiches Land relativ geschützt vor um sich greifendem Sozialneid, scheint durch seine ungeheure Weite eher erfreut über Zuwanderungsinteresse. Wird auch sicher alles so sein, aber es wird immer hoffähiger nicht so zu sein, ob das in Finnland, in Dänemark, Norwegen oder direkt vor unserer Türe geschieht.

„Hoffähig“ würden solche Gedanken gemacht, sagte heute Morgen jemand im WDR-Tagesgespräch. Unter anderem durch jene, „die schreiben, was sich offen auszusprechen andere nicht trauen“. Sofort fiel das Stichwort „Sarrazin“. Diese Gattung pseudowissenschaftlicher Schnellschreiber, die Millionen damit verdienen, dass sie als sehr ernst zu nehmende Persönlichkeiten und mit verfeinertem Sprachgebrauch das aussprechen, was andere nur am Tresen gut abgefüllt von sich lallen würden. Oder nicht so ernst zu nehmende Menschen wie Udo Ulfkotte es publizieren oder in den Internet-News des Kopp-Verlags von Eva Hermann verlesen lassen. Islamophobie hat Modecharakter, man kann sich eines Vokabulars bedienen, das verwissenschaftlicht klingt und kann dennoch braune Gedanken gut blondiert verkaufen.
Jedem so gestrickten Veröffentlicher sollte massiver Widerstand begegnen, eine Form Widerstand, die ihn lächerlich macht, seine gedankenlose Fehlsicht publik macht, sein Vokabular auf das reduziert, was es darstellt: grunddumme Hetze.

Das waren sie, ein paar Gedanken der schlafarmen Nacht. Amy Winehouse kam in dem Gedankenwust auch immer wieder vor. Aber sie geriet zur Randnotiz. Gleichwohl bedauere ich ihre zukünftige Abwesenheit ebenso wie die von Janis Joplin damals – lang her.

Tagespresse vom 25. Juli 2011 (Bild: Bernd Berke)




Bochum total voll

Nach dem gelungenen Auftakt am Donnerstag feierten Zigtausende gestern TGiF* im Bermuda-Dreieck. Die Schulferien hatten begonnen, der Regen vorerst beendet, bekannte Acts warfen ihre Schatten voraus – nie in den vergangenen 25 Jahren war Bochums Innenstadt so voll.

Die Enge besonders an den Zu- und Abgängen war zeitweise grenzwertig. Genauso hatte ich es mir bei Bochum Total vorgestellt. Der Freitag hatte einen Headliner, den die Veranstalter als solchen lange nicht erkannt haben. Der Bielefelder Rapper Benjamin Griffey aka Casper.

Casper, EIns-Live Bühne, 22.07.2011

Sein Anfang Juli veröffentlichtes Album XoXo schaffte es schnell an die Spitze der Charts, plötzlich kennt ihn jeder, namhafte Feuilletons interpretieren seine Stücke und erfinden ver-casper-te Wortspiele. Alle reden über den „Überraschungserfolg“, auch der Veranstalter. Man hätte sich vielleicht vorher mal informieren sollen – in der Altersgruppe der 14-20jährigen. Dort ist Casper schon länger ein Star, das Album wurde ungeduldigst erwartet, die Zahl der Vorbestellungen bei Amazon sprach für sich. Sein früheres Album „hin zur Sonne“, längst vergriffen, erzielte Mondpreise bei Ebay, eine Karte für den geplanten Auftritt in Dortmund im Herbst zu bekommen, glich einer Zitterpartie.

Dass Massen strömen würden am Bo-To Freitag, vor allem Massen von konzertunerfahrenen Besuchern, war zu erwarten. Natürlich dachte so mancher an die Worte der Bochumer Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz, die bei der Absage der Loveparade in Bochum damals erklärte, dass Bochum Total das Äußerste sei, was ihre Stadt stemmen könne. Und auch den Massenandrang am Freitag haben sie gut gemeistert. Es war zwar streckenweise kein Vor-und Zurückkommen mehr, Teenies mussten aus der Masse herausgezogen werden, das Handynetz brach zusammen. Aber Polizei und Ordner waren gut präsent, ordneten und beruhigten besonnen, die Security vor der Bühne reichte Wasser durch und hatte kein Nachsehen mit jugendlichen Stage-Divern, die sich auf Händen nach vorne durchreichen liessen. Die Ansagen von der Eins-live Bühne taten ein Übriges, dass alles gut ging.

Die von uns gehörten Konzerte im einzelnen. Auf der Pottmob-Bühne:
Pottmob-Bühne, 22.07.2011

Benzin: Klarer, gradliniger deutscher Punkrock „fürs Volk“. Die sympathischen Jungs begeisterten nicht nur ihre noch recht überschaubare Fangemeinde, sondern auch den neugierigen Konzertbesucher. ( Neugierig bin ich im übrigen auch, was den „Gießkannentanz“ angeht. Wäre reizend, wenn mir das jemand erklären könnte…. )

 

 

Pottmob-Bühne, 22.07.2011

Kellermensch: In ihrer Heimat Dänemark auf dem Weg zum ganz großen Erfolg,in Deutschland noch eher als Geheimtipp gehandelt. Einer ihrer ersten Live-Auftritte in Deutschland nun bei Bochum Total, zeitgleich mit Casper. Ihr Publikum hatten sie aber schnell gefunden und begeistert. Einem Genre kann man die Combo nicht zuordnen, der Stilmix ist eigenwillig und läßt Genre-Grenzen ineinander fliessen.

 

 

Auf der Eins-live Bühne:

Casper: Begann sinnigerweise mit „der Druck steigt“ und war schnell eins mit seinem begeisterten Publikum. Fast schien es, als könne er selbst noch nicht fassen, welche Massen ihm da zujubeln. Sie singen jedes Wort mit und sind mehr als gerne bereit, mit ihm zusammen dem Bassisten einen „400-Euro-Job“ zum Geburtstag zu schenken. Die Frage, ob Casper wirklich den deutschen HipHop neu zu erfinden in der Lage ist, vermag ich nicht zu beantworten. Ich frage mich allerdings, ob er  das überhaupt will. Mein Eindruck ist, dass er in diesem Genre neue, eigene unverwechselbare Akzente setzt und sich auch über seine sorgfältigen Texte definiert. Vor allem aber ist er ein Star, der die klassische Ochsentour gegangen ist und von seinem Publikum und nicht von einer Casting-Show entdeckt wurde. Von daher gönnen wir ihm und seinen jungen Fans, dass ihr Star weiter so „unzerbrechlich“ seinen Weg „hin zur Sonne“ findet.

Jupiter Jones: Gerne hätten wir mehr mitbekommen vom angekündigten Headliner. Jedoch – der beschriebenen Enge geschuldet – verfolgten wir das Konzert eher aus weiter Ferne. Den Vieren, die sich nach einer Figur aus die drei ??? benannt haben, fiel die für eine Punk-Rock-Band ungewöhnliche Aufgabe zu, die Massen in ruhigere Bahnen zu lenken. So spielten sie zunächst ruhigere, gradlinigere Stücke und gaben direkt zu Beginn die Parole aus: Passt aufeinander auf, kein Pogo, kein Klettern und entließen das Bochumer Publikum nach dem friedlich gefeierten Konzert schliesslich mit „Wenn alle die Augen aufhalten und aufeinander Acht geben, ist die Welt schon ein wenig besser. Das ist mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt“ in die Off-Stage Partys.

Glückliche Fans nach den Konzerten

 

Das Bochum Total Festival dauert noch bis Sonntag Abend. Auf das Publikum warten u.a. the Frits, Thomas Godoj, Frida Gold, M. Walking on the Water und Kettcar.  EInzelheiten unter  bochum.total.de

Fotos B. Langhoff,  vom Casper Konzert mit Dank ©CarenSpleiter

* Thank God, it’s Friday




Wohin geht die musikalische Reise?

Vorneweg: Das Zweifeln hat mit dem Verzweifeln nicht mehr gemein als ein paar Buchstaben. Beim ersten kratzt man sich am Hinterkopf, beim zweiten schlägt man die Hände vor der Stirn zusammen. Wenn es jedoch um Phänomene geht wie zum Beispiel Populärmusik, da ergeben sich Schnittmengen, welche heute (also im beginnenden 3. Jahrtausend nach christlicher Zeitrechnung) durchaus hilfreich sein könnten, wenn nicht sollten – um dem Planeten Erde entscheidende Impulse zu „geben“.

Das Fallbeispiel „Easy Listening“ wurde innerhalb kurzer Zeit abgehandelt und als sarkastisches Füllsel zwischen einerseits den Genres PopRock und DiscoHouse, andererseits Schlager und Underground optimal zur Geltung gebracht. „Violently Happy“. Björk wusste, wovon sie sang.

Nun war es eine zeitlang gut so. Die Hardcore-Tekknos gingen zwar genauso ihre eigenen Wege wie die paar übrig gebliebenen Metaller, doch die vernünftigen Spezialisten spürten: „groove is in the heart“. Das war der nachträgliche Soundtrack zum Mauerfall und die Hoffnungshymne auf ein friedliches Miteinander, und alle waren eingeladen. Und jeder sollte sein Bestes geben dürfen.

Dann kam Chirac auf die Idee, im Muruoraatoll Atombombentests durchzuführen. Die Love Parade erlebte ihre Hausse und weil aus der Punkrock- Ecke nichts mehr kam, war es schon bemerkenswert, daß Neil Young mit Pearl Jam auf Tour ging. Der Gitarrensound war in der Krise. Man ahnte, dass erstmal der Britpop federführend sein würde. Aus Frankreich selbst war zunächst Daft Punk erwähnenswert in Erscheinung getreten, in Fußstapfen von Talking heads, Zappa, Vangelis, sprich: irre… Kurz drauf kam AIR, und die möchte ich nicht beleidigen, wenn ich sie als Schülerlotsen der Politikverdrossenheit bezeichne, weiß aber noch gut, wie es mir auf einem ihrer Konzerte erging…Muruora! Und das obwohl in keiner Weise darauf angespielt wurde. Man kann es als große Kunst bezeichnen.

Große Kunst, was wäre es heute? Seit geraumen zwei Jahrzehnten wird ein Revival vom nächsten abgelöst, House und Techno sind zurückgekrochen in ihre Dunkelkammern…auf was dürfen wir gespannt sein? Selbst vom afrikanischen Kontinent kommt nichts, aus Asien schon gleich gar nichts, Südamerika…das war auch so eine Phase, um 2005 rum, als Bossa und Samba getanzt wurde (wo?).

Es gibt aber Anlass zur Hoffnung!

Es gibt das Label Arts&Crafts

Und langer Rede kurzer Sinn,

es gibt die „Broken Social Scene“…

Und Max Raabe hat seine Anhänger nicht von ungefähr.

Auf dieser CD von "Broken Social Scene" ist der Titel "Churches under the stairs" zu finden




Wege zur Musik: „The Feelies“

„Was wird das denn jetzt?“ Wohl an kaum eine zweite Situation, in der mir mein musikalischer Ziehvater eine Schallplatte vorstellte, kann ich mich genauer erinnern, als eben jene, in der er „The Feelies-Crazy Rhythms“ aus der Reihe zog.

Er hatte kein Regal, ging jedoch seit jeher äußerst pfleglich mit seiner Woche um Woche um fünf Scheiben (mindestens) wachsenden Sammlung um. Mit 16 Jahren hatte er es damit schon auf gut eineinhalb Meter Musik gebracht, und sein Spektrum war klar definiert. Wir kannten uns erst ein paar Monate, es war die Zeit von Dischord, Rough Trade und SST, noch lang kein Nirvana in Sicht, obgleich das Album „Bleach“ auf dem Markt  war und natürlich schon seinen Platz in Mikes Reihe hatte. Da waren die „Minutemen“ und die neuformierten „fIREHOSE“, da waren auch Jugendsünden wie „Die Kreuzen“, doch über „NoMeansNo“, „The Descendents“, „The Silos“ reichte es hinüber bis zu den „Fellow Travellers“. Alles interessant und für einen Jungspund wie ihn erstaunlich stilsicher. Ich selbst war immer musikinteressiert, doch wusste lang nicht wohin, so war meine Herangehensweise eher die eines Geschichtsstudenten…Beatles, Cat Stevens, auch Melanie…

Doch geht es hier nicht um Namedropping, es geht zunächst um diesen Moment, als er wie üblich die Platte samt Cover aus der mit der Öffnung nach hinten zeigenden Schutzhülle, dann die eigentliche Platte aus dem Cover nahm, welches er mir zur genaueren Betrachtung reichte und den Tonträger selbst sorgsam auf den Drehteller legte…

Das Cover, vier Nerds, für die der Begriff noch nicht gefunden war, nachkoloriert wie eine Postkarte aus Reit im Winkl die im Rathauscafé hing… „Was wird das jetzt?“

Der einzig halbwegs stimmige Vergleich in Sachen Schallplatte, der mir einfällt: „Pat Boone-40 greatest hits“ und der Song „Speedy Gonzales“, den ich meinem leiblichen Vater verdanke, da war ich 5 oder 6 Jahre alt. Und das einzig zutreffende Adjektiv lautet schrill. Und dann: Euphorie!

Denn was kam, das war ein formvollendetes Arrangement, wie ich es noch nie gehört hatte, woher auch? Ein dermaßen hibbeliger Sound, Percussions, die an Stellen der Hirnrinde anschlugen, die ich vorher nicht kannte, ein sich überlagenderer Gesang, der mich willfährig zu abnormen Bewegungen zwang, zwischen Spasmen und Eurythmie, nah am epileptischen Anfall.

„Was es wurde?“: „Loveless Love“ – und eine nicht endend wollende Odysse über Flohmärkte.

Auf den Gedanken zu fragen, ob es noch mehr Musik von denen gab, kam ich erst gar nicht, denn diese Erweckung war Erfüllung zugleich.

Doch Mike war ein guter Ziehvater und nach geraumer Zeit machte er mich vertraut mit „The Good Earth“ und „Only Life“. Eine Ernüchterung, doch wohl vorbereitet, ich hatte mir inzwischen etwas an theoretischem Unterbau angeeignet, und für zärtlicheren Wahnsinn mein Ohr geöffnet bekommen. Punk Rock muss nicht verzerrt sein, das Tempo nicht immer furioso (was schließlich für mein heutiges Dafürhalten die zentrale Aussage der „Crazy Rhythms“ darstellt).

Wer mit den Feelies vertraut ist, kann meine Vermutung, die Jungs hätten sich mit ihrem Debutalbum die Hörner aber sowas von ordentlich abgestossen, dass sie es fortan etwas ruhiger angehen mussten, hoffentlich nachvollziehen und eventuell bestätigen, auch wenn das grandiose side-project „Yung-Wu“ Argumente liefert, dies zu wiederlegen. Da kommen sie wieder, die sägende Gitarre, die klackenden Percussions, die man eher im Rumba gewohnt ist, der zersetzende Heulgesang – doch eben gereifter, elegischer.

Mike und Ich haben eine ähnlich lange Pause hinter uns. Vor ziemlich genau 19 Jahren haben wir zuletzt auf mehr oder minder ernstzunehmende Weise zusammen musiziert, unsere Wege führten zwar noch bis vor kurzem Parallelen, doch die Verlockungen der Großstadt mit der einhergehenden Problematik, dort einen vernünftigen Proberaum zu finden, ließen es nicht zu, weiter an eigenen Beiträgen zur Musikgeschichte etc. etc. PP

Aber man trifft sich. Und das Interesse ist geblieben. Und so war mein „Ach was!“ ein durchwegs positives, als er mir unlängst steckte, in ein paar Tagen stehe sie im freien Verkauf, und er sei schon bei VoPo Records gewesen (Berlin, Danziger Str.), und ja, dort würde er sie bekommen… Und so war ich doch sehr gespannt, auf die vor knapp einem Monat herausgebrachte vierte Scheibe von „the feelies“.

Dank Internet und den einschlägigen Plattformen konnte ich mir http://www.bar-none.com/the-feelies.html zur Probe anhören… Haben will ich sie, sowieso, doch konnte ich meine Ungeduld beruhigen, denn hier in Augsburg schlugen alle Versuche fehl, die Platte beim Fachhändler zu erstehen. Bestellen werde ich sie nicht. Ich möchte sie auf den Ladentisch legen, bar bezahlen, auf dem Weg nach Hause kurz in einem Café halt machen, schön schattig, die Platte in einer knisternden Plastiktasche mit beiden Händen sichernd einen Pernod genießen..und zur blauen Stunde dann das gute Stück von vorn bis zum letzten Ton auskosten…ein schöner Grund, mal wieder an die Spree zu reisen. Ist eine Prozession das Gegenteil einer Rezession? Ich freu mich drauf!

(Bild: Cover des Feelies-Debütalbums „Crazy Rhythms“)




Traumzeit in Duisburg und Moers

Die Kraftzentrale und das Zirkuszelt liegen Luftlinie 11,7 km auseinander. Pfingsten und Traumzeit trennten in diesem Jahr nur drei schnell vergangene Wochen. Im westlichen Ruhrgebiet verwöhnt der Frühsommer Liebhaber grenzüberschreitender Musikarten mit zwei Großereignissen.

Beide, das Moers Festival und das Duisburger Traumzeit-Festival, pflegen Musikrichtungen, für die es kaum einen oder sehr viele Namen gibt: Improvisierte Musik, freie Musik zwischen Jazz, (Post-)Rock, Indie, Neuer Musik, Elektronik, „Weltmusik“, Neo-Folk oder Klassik. Wer in der Vorstellung lebt, weit und breit der einzige zu sein, dem eine bestimmte Musikgruppe abseits des Mainstreams bekannt ist, stellt fest, es sind Tausende, die sich im Moerser Festzelt oder in einem der Meidericher Industriegebäude für anspruchsvolle musikalische Experimente begeistern können, Zigtausende sogar, die sich über den Schlosspark (Moers) oder die verschiedenen Aufführungsorte des Landschaftsparks (Duisburg) verteilen.

In diesem Jahr spielten Igmar Thomas & The Cypher an beiden Orten, in Moers und in Duisburg; über die Jahre verteilt, ist die Schnittmenge beider Festivals beachtlich. Die Künstlerischen Leiter, Reiner Michalke in Moers und Tim Isfort in Duisburg, öffnen ihre Festivals einem neuen Publikum, und seit neuestem bietet auch Duisburg – wie in Moers bereits seit Anbeginn üblich – gleich neben dem Festival eine Camping-Möglichkeit.

Wo aber liegen die Unterschiede? Moers überraschte in diesem Jahr gleich doppelt mit hartem Metal. Bei Orthrelm (USA) trifft Thrash Metal auf Minimal Music. Repetitive Klangmuster mit minimalen Variationen und kaum merklichen Entwicklungen tönen hier nicht wie bei Steve Reich mit klarem Vibraphon und festlichem Glockenspiel, sondern werden mit den trashigsten aller übersteuerten Gitarrensounds in rasantem Tempo hingeschmettert, mit einem wirbelnden Schlagzeuger, der ein 45-minütiges Solo hinlegt, nur nicht solo, sondern vervollständigt von einem ruhelos schrammelnden Gitarristen, dessen den Pedalen zugewandtes Gesicht von einem Vorhang langer glatter Haare verdeckt ist. Am nächsten Tag am gleichen Ort präsentieren Monolithic eine norwegische Variante: Ebenfalls im Duo Gitarre – Schlagzeug, mit angenehm unverständlichem Gesang. Auf Audio-Masochisten verschiedenster Couleur hat das Fest in Moers, das seit 1972 die meiste Zeit als „New Jazz Festival“ firmierte, immer schon eine besondere Attraktion ausgeübt. Mit Orthrelm und Monolithic zog in diesem Jahr die bislang härteste Spielart ein.

Neben den Festivalneulingen bleiben sowohl Moers als auch Duisburg Treffpunkte für die alten Hasen der Szene. In der Meidericher Kraftzentrale trieben der bekannte Fusion-Jazzer Mike Stern (Gitarre) und Didier Lockwood (Teufelsgeige) mit dem grandiosen Dave Weckl am Schlagzeug und Tom Kennedy am Bass die Perfektionierung des Sich-überlebt-Habenden auf die Spitze. Branford Marsalis (Saxophon, Klarinette), längst schon aus dem Schatten seines berühmten Bruders Wynton getreten, überzeugte gemeinsam mit dem Pianisten Joey Calderazzo durch Stil, Brillanz, Tempo, Größe.

Branford Marsalis

Branford Marsalis / Foto: Wolfgang Cziesla

 

Drei Wochen zuvor hatte sich in Moers der 71-jährige Ronald Shannon Jackson zwischen Vernon Reid an der Gitarre und Melvin Gibbs am Bass als ein scheinbar von aller Last des Alltags befreites Individuum präsentiert, bei dem ein langes Schlagzeugerleben nicht die geringste Verspannung hinterlassen hat. Warum auch – hatte doch bereits der 76-jährige Abdullah Ibrahim am Piano mindestens ebenso jugendlich gewirkt!

Die absolute Überraschung in Moers aber – nicht im gedruckten Programm aufgeführt und von der Ansagerin als Geburtstagsgeschenk des 40-jährigen Festivals an sein Publikum angekündigt – war Ornette Coleman (81 Jahre alt). Einer Legende gegenüber zu stehen mag beeindrucken; ein solches Highlight völlig unerwartet zu erleben, steigert die Wirkung um ein Vielfaches. Coleman, der 1960 den Free Jazz aus der Taufe gehoben hatte, und sein Quartett boten den Zuhörern allererste Qualität.

Aber mit dem Bemühen, möglichst große Stars in den Westen des Ruhrgebiets zu holen, sind wir wieder bei den Gemeinsamkeiten beider Festivals gelandet. Zurück zu den Unterschieden. Das Traumzeit-Festival verstand sich seit seiner Gründung 1997 immer auch als Bühne der sogenannten Weltmusik (eine fragwürdige Bezeichnung für fraglos spannende Musikrichtungen). Die Duisburger setzten in diesem Jahr den Länderschwerpunkt Myanmar, brachten Musiker aus dem südostasiatischen Land mit Kollegen aus Frankreich, Italien, Deutschland auf eine Bühne und vermittelten dem Publikum einen Klangeindruck von der hierzulande selten gehörten Bogenharfe saung gauk, dem Trommelkreis oder der burmesischen Kegeloboe hne.

Seltene Instrumente – um gleich wieder auf die Gemeinsamkeiten zu sprechen zu kommen – gab es auch in Moers. Mit einer 17- und einer 21-saitigen Koto kam Michiyo Yagi in das Festivalzelt, wo die Japanerin bereits 1992 aufgetreten ist. Diesmal spielte sie im Double Trio: Symmetrischer Bühnenaufbau: rechts und links außen jeweils ein Schlagzeug, halbrechts und halblinks je ein Kontrabass, der in einzelnen Stücken auch durch ein Cello ersetzt werden konnte. Und im Zentrum das Koto und das Bass-Koto von Michiyo Yagi. Perfektes Zusammenspiel, traumhaft.

Das Verwöhntwerden durch zwei herausragende Festivals in so kurzem Zeitraum bringt mit sich, dass ein Bericht über beide Großveranstaltungen selbst erstklassige Acts nur in der Aufzählung würdigen kann – wie Nils Petter Molvaer, Little Red Big Bang, Seun Kuti (alle in Moers); Cyro Baptista, Anne Paceo Triphase, das Portico Quartet, Hundreds, Mogwai oder Stefan Rusconi (in Duisburg).

Erstklassig sein genügt nicht. Was war das Phantastische der diesjährigen Traumzeit?

Caribou schuf fast unglaubliche Momente. Die vier Nerds aus Kanada im Medizinerweiß oder in Parka mit auf den Rücken geschnallter Gitarre schlugen zur Live-Elektronik die Beats präzise auf zwei Schlagzeuge, vergleichbar der US-amerikanischen Band Tortoise, und versetzten am Freitagabend bei einem ihrer seltenen Deutschlandauftritte das Publikum auf den Tribünen wie die Tanzenden gleichermaßen in Ekstase.

Zwei Tage später, gleicher Programmplatz: Der 28-jährige Vielkönner Patrick Wolf und Alec Empire (39) – der ehemalige Noise-Punker von Atari Teenage Riot – bilden ein ungewöhnliches Duo. Zu Wolfs Bluesstimme lebt 80er-Jahre-Elektropop, gebrochen von Empires Noise-Einlassungen, neu auf, und beim Spiel mit dem Bühnenbild verbindet sich alles zu einem popmusikalischen Gesamtkunstwerk. Auch wer sich keine CD der beiden komplett anhören möchte, dürfte vor allem von Patrick Wolfs dandyhaften Entertainer-Qualitäten nicht unbeeindruckt geblieben sein.

Jeweils um 23 Uhr an den drei Tagen traten in der Gießhalle die großen Gruppen auf: Mogwai, Amiina, Hundreds. Gleichzeitig aber wurde die Kraftzentrale von Klangzauberern bespielt. Am Freitagabend erwies sich Ólafur Arnalds als ein solcher. Der isländische Pianist wurde von einem Streichquartett und Elektronik begleitet – raumgreifender Enthusiasmus, Musik, in der man sich verlieren kann. Ebenso wie beim Bestaunen der dazu laufenden Zeichentrick-Videos. Schattenrisse von Vögeln, die sich von Mobiles lösen und frei fliegen, sich wie Kulissen verschiebende Wolken, ein Leuchtturm und Wellen, in denen ein Boot versinkt und verwandelt auftaucht. Vergleichbare Klang-Bild-Poesie hat 2003 an diesem Ort auch das Tin Hat Trio geschaffen.

Die Samstagnacht in der Kraftzentrale gehörte dem Amsterdamer Blockflöten-Trio aXolot. Zur atmosphärischen Vervollständigung sei kurz das Bühnenbild beschrieben: Eine halbe Schwingtür in komplettem Rahmen, ein extrem kleiner Kinderstuhl, ein normalgroßer Kunstleder-Schaukelstuhl, zwei Orientteppiche, ein Sofa und zwei dazu passende Ohrensessel, Kunstlederstühle mit Nieten – das Ganze in verdampfendes Nebelfluid getaucht. Das Programm der drei Flötistinnen bestand aus mittelalterlichen Klängen nicht mehr bekannten Ursprungs und Werken junger Komponistinnen und Komponisten: Dorothée Hahne, Aliona Yurtsevich, Stefan Thomas und des Amsterdamer Komponisten Paul Leenhouts, dessen bezauberndes Zultanas Raizins sie aufgeführten. Nicht-existente Töne schwingen hier mit – wie die Flötistin Kim-José Bode erklärt –, sogenannte Geisttöne, Töne, die als dritte entstehen, wenn man zwei spielt.

Die Samstagnacht ist ein gutes Beispiel, um den entscheidenden Unterschied zwischen den Festivals in Moers und Duisburg zu benennen: Moers konzentriert sich auf das große Zirkuszelt, in dem sich im Wesentlichen das gesamte Festival abspielt, ergänzt durch eine Reihe elektronischer Musik in einem Darkroom sowie durch Nachtprogramme und Matineen an verschiedenen Orten der Stadt. Das Traumzeit-Festival dagegen verteilt sich auf verschiedene Bühnen im nachts wunderbar beleuchteten Lapadu (Landschaftspark Duisburg-Nord): Kraftzentrale, Gießhalle, Open-Air-Bühne am Gasometer, Foyer Pumpenhalle, Gebläsehalle und Hüttenmagazin. Die guten Auftritte konkurrieren miteinander, und der Besucher kann von Luxusnöten gequält werden, wie ich am Samstag kurz vor 23.00 Uhr. In der Gebläsehalle spielten noch Bohren & der Club of Gore, deren Auftritt von 22.15 Uhr auf 22.30 Uhr verschoben wurde. Wer wäre düsterer als die vier Männer aus Mülheim? Während gealterte Virtuosen wie Mike Stern oder Joey Calderazzo in Duisburg losjammten, als hätten sie keine Zeit zu verlieren, verfügen Bohren & der Club of Gore über alle Ruhe der Welt, und nicht nur dieser Welt. Aus der Schwärze der Bühne mit unsichtbaren Gestalten heraus kam eine der spärlichen skurrilen Ansagen: „Es ist Mode geworden, auf junge gutaussehende Mütter, die ihre Kinder zum Fußball fahren, einzudreschen. Wir von Bohren unterstützen das und haben darüber ein Lied geschrieben, erstaunlicherweise schon 2003.“

Ich kann gerade noch die ersten der langgezogenen Doom-Töne auf mich wirken lassen, da flüstert mir eine innere Stimme zu, dass es an der Zeit ist für aXolot. Ein geschlossener Vorhang in der Kraftzentrale, und ein Wächter kündigt mir freundlicherweise an, der Soundcheck werde voraussichtlich noch eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Eine weitere innere Stimme sagt mir, dass aXolots gründliche Vorbereitung meine Chance ist, gegenüber in der Gießhalle ein paar Takte von Aniima wahrzunehmen, den jungen Isländerinnen, die an der Seite von Sigur Rós arbeiten, wenn sie nicht wie heute ihr eigenes Ding machen. Das ursprüngliche Streichquartett ist inzwischen durch eine Vielzahl an Instrumenten erweitert.

Zurück in der Kraftzentrale beginnt aXolot das Konzert mit der neuen Komposition von Dorothée Hahne, dessen Titel die innere Zerrissenheit eines Traumzeit-Besuchers auf den Punkt bringt: Interferences of Inner Voices.

Gut, dass ich kein Partygänger bin, sonst gäbe es zu später Stunde auch noch zwei verlockende Tanzveranstaltungen.




Wahnwitzige Wundertüte

„Vision“ selbst hatte es schon als ziemlich irrsinnige Mischung angekündigt. Und tatsächlich bot der Club Sabotage im FZW diesmal eine wahnwitzige Wundertüte, in der zwei englische Bands aufeinander trafen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Die Gallows und Razorlight.

Um das Ganze noch ein bisschen bunter zu machen, bereiteten die vier Kalifornier der Rival Sons mit ihrem klassischen Rock und der Verbeugung vor Led Zeppelin den Boden für das ungleiche musikalische Duell der englischen Combos. Die Trennlinie brachte Gallows-Sänger Frank Carter böse vor den Fans auf den Punkt: „Razorlight ist was für Eure Mami – das hier ist was für Euch!“

Tatsächlich konnte man sich kaum vorstellen, dass das Publikum der Hardcore-Punk Band nach deren Auftritt im Club wirklich rüber in die Halle zu Razorlight wechseln würde, so weit entfernt schienen die beiden Welten.

Bei dem auf Kampf gebürsteten Auftritt der Gallows mit wütender englischer Arbeiterklasse-Attitüde flogen die Plastik-Bierbecher mit den Fans um die Wette, die schon bei den ersten brachialen Klängen einen harten Mosh-Kern formiert hatten. In dem schien auch Sänger Frank Carter ordentlich mitzumischen – denn auf der Bühne tauchte der Rotschopf erst nach den ersten Liedern auf. Von dort aber setzte er zu einem brachialen Dirigat der Masse an: Ausgerechnet mit dem Aufdruck „Pure Love“ auf seinem T-Shirt, riss er die tatöwierten Arme auseinander wie ein wütender Messias, um mit einer gewissen Portion Irrsinn in den Augen seine Zeilen über Gewalt, die Aussichtslosigkeit des Lebens und den Untergang seiner Heimat herauszuschreien. Seiner Aufforderung „Die Bühne gehört euch ebenso wie uns“ folgten die Fans unmittelbar, stürzten sich hoch zu den Musikern und tauchten wieder unter zwischen den erhobenen Fäusten der Feiernden. Die Bandmitglieder revanchierten sich mit Tempoläufen durch die Massen, die keine Rücksicht darauf nahmen, ob irgendein Fan schnell genug zur Seite springen konnte.

Auf die Idee wäre Johnny Borell, selbstbewusster Frontmann von Razorlight, wohl keinesfalls gekommen. Deren Musik wirkte, als solle der eben aufgeputschte Puls wieder einige Runden ruhiger werden. Und während die Gallows jugendliche Verzweiflung und Aggression rausbrüllten, wartete in der Halle die beruhigende Antwort: Alles wird gut! So unbeschwert und lockerleicht zeigte sich die Combo in ihren Melodien, dass der Sommer in der FZW-Halle angekommen schien. Melodien, bei denen der Körper nahezu automatisch zum Mitwippen und –schwingen gebracht wird, getragen von der schönen, klaren Stimme von Burrell. Razorlight zeigte sich von seiner tanzbaren Seite mit durchaus poppigem Retro-Rock. Gefällig, aber vielleicht auch etwas zu wenig herausfordernd.

Dass die Jungs durchaus auch experimentierfreudig und weniger glatt sein können, ließen sie zwischendurch aufblitzen: Da durften die Gitarren jaulen, der Bass schräg wummern, zeigten die Musiker dass sie auch performen und nicht nur glatt und ohrwurmfreundlich sein können. Neben dem lockigen Sänger fiel dabei vor allem der neue Bassist Freddie Stitz (für Carl Dalemo) auf – mit schrägem Aussie-Cowboyhut und geflochtenen Zöpfen – , der ebenso wie Gus Robertson (für Bjorn Agren) an der Gitarre zum neuen Line-Up gehört.  Bleibt die Hoffnung, dass Razorlight auf dem neuen Album mehr davon auspackt – ein paar neue Songs lieferten einen Vorgeschmack auf die Scheibe, für die sich die Band nach dem dritten Album 2008 viel Zeit gelassen hat.

Ihre größten Hits jedenfalls packte Razorlight fast schon verschämt an den Schluss: „America“ und „Wire to Wire“ wirkten eher wie Pflichtübungen für Johnny Borell.

(Artikel aus der Westfälischen Rundschau / http:www.derwesten.de)




Viertes Gebot: Du sollst dich nicht über Neil Young ärgern!

Ich habe mir – aus altgedientem, bislang oft belohntem Vertrauen – gleichsam „blind“ Neil Youngs CD „A Treasure“ besorgt. Ganz gegen meine sonstige Gewohnheit ohne jedes Probehören, ohne jede vorherige Information, quasi hechelnd im Pawlowschen Reflex, auf den bloßen medialen Zuruf hin: „CD von Neil Young kommt auf den Markt“.

Und schon war das Ding bestellt. Hätte ich nur zur Kenntnis genommen, dass der Kanadier hier mit den „International Harvesters“ (benannt nach einem Landmaschinenhersteller, daher auch das sorgsam auf „verblasst“ getrimmte Coverbild mit Traktor) musiziert hat, so wäre ich hellhörig geworden. So aber habe eine bittere Enttäuschung mit einem ansonsten verehrten Musiker erlebt. Eigene Schuld. Über mich selbst muss ich mich ärgern, nicht so sehr über Neil Young.

Nebenbei: Ich habe die Platte auf eigene Rechnung gekauft, nicht etwa ein Rezensionsexemplar erhalten. Also kann ich mich frei von der Leber weg echauffieren. Ein recht angenehmer Zustand.

„A Treasure“ also, namentlich zum „Schatz“ deklariert. Doch es ist eine dieser elend putzmunteren Fiedel-Country-Platten, wie man sie in den Staaten sicherlich in ähnlichem Zuschnitt von etlichen Musikanten bekommen kann. Auch beim zweiten und dritten Hören will es sich nicht besser fügen.

Schon nach wenigen Nummern habe ich jenen Rufus Thibodeaux verflucht, der als Fiddler verzeichnet ist. Nicht, dass er sein Handwerk nicht beherrschte. Doch er darf sich penetrant in den Vordergrund spielen und unwiderruflich den flauen Charakter der Platte prägen. Der geht bisweilen in Richtung quietschfidele, biedere Lagerfeuer-Folklore. Genau davon wollte die Plattenfirma Young damals abbringen. Er blieb widerspenstig aus Prinzip. Man kann beide Positionen verstehen.

Schaut man etwas genauer hin, so wird schnell klar, dass hier eine Tournee von 1984/85 wieder aufgewärmt wird. Die Produzenten halten sich einiges darauf zugute, dass sechs Songs bisher noch nicht veröffentlicht worden sind. So what! Meinethalben mag es dokumentarischen Wert besitzen und im gesamten Oeuvre seinen gebührenden Platz einnehmen. Übrigens liest man in anderen Quellen von einer Tour 1985/86 und von fünf bisher unveröffentlichten Titeln. Habe ich Lust, in derlei Detailkunde einzusteigen? Nicht doch! Das sollen die Unentwegten unter sich ausmachen.

Da frage ich mich lieber: War ich beim Hören nur nicht in der passenden Stimmung? Nein, daran hat es wohl nicht gelegen. Selbst ein Neil Young hatte immer mal wieder schlaffere Phasen. Hin und wieder wird sehr deutlich, dass er im Grunde des Herzens auch ein verdammt konservativer Knochen ist. Die alten („uramerikanischen“) Werte und die Natur bewahren, jajaja. Gewiss. Bei uns wäre er wahrscheinlich für die schwarzgrüne Option zu haben. Was ja kein Vergehen ist, aber bitteschön: „Hey hey, my my, Rock’n’Roll will never die…“ Diese hymnischen Zeilen hat Neil Young schließlich selbst inbrünstig gesungen. Von Rock, Blues oder Punk-Anwandlungen aber spürest du kaum einen Hauch auf „A Treasure“.

Ich bin seit Anfang der 70er Jahre von Neil Young eingenommen, häufig auch hingerissen. Er gehört zu jenen, die einen quasi auf dem Lebensweg begleitet haben wie sonst nur wenige andere. Man ist ihm seither weit gefolgt, manche Biegung des Flusses entlang, bergauf und bergab, in verschiedenste Gelände, an ferne Gestade. Meistens bereitwillig, manchmal verzückt, selten widerspenstig.

Doch dies geschieht eben von Zeit zu Zeit gerade bei begnadeten Singer-Songwritern wie Bob Dylan (dessen dylanologische Anhängerschaft ungleich strenger ist) oder eben Neil Young. Sie tun einen Teufel, deine Erwartungen zu bestätigen. Längst ein Gemeinplatz: Sie durchlaufen Phasen des Suchens und Findens. Sie wollen sich nicht immerzu wiederholen und schiffen daher auf mehreren Fahrwassern. Auf einigen könnte man unbesehen mitfahren. Doch nicht auf jedem mag man ihnen folgen.

Und jetzt freue ich mich schon mal auf seine nächste Neuschöpfung.

Neil Young: „A Treasure“. Reprise Records/Warner Music, Juni 2011, ca. 16 Euro.




Open-Air-Saison im Ruhrgebiet: Der Graf und Grönemeyer

Die Saison ist eröffnet. Mit gleich zwei hochkarätigen Konzerten wartete Gelsenkirchen in der vergangenen Woche auf. Den Anfang machte der unheilige Graf im Amphitheater, zwei Tage später unser aller Grönemeyer auf Schalke. „Ja, und? Wie war et denn? Isser noch derselbe wie imma?“ Zwei ganz unterschiedliche Konzerte, eine Frage. Anscheinend muss ich et ja wissen, so oft wie mir diese Frage gestellt wurde. Die Karriere von Unheilig verfolge ich seit Jahren und mein erstes Grönemeyer Konzert erlebte ich 1986. Also, wie war et?

Zunächst der Graf. Er ist noch immer derselbe.  Es ist sein Publikum, welches sich geändert hat.  Die Erwartungen der rund 6000 Zuschauer gingen bunt durcheinander. Um diejenigen abzuzählen, die sich in gräflichem Outfit in die Menge wagten, braucht es nicht mehr als eine Hand.

Im Konzert folgen Unheilig dem Weg ihres Konzeptalbums „Grosse Freiheit“. Mit einem hölzernen Schiffsbug als Erhöhung der Bühne im hinteren Drittel, nehmen sie ihr Publikum „Abwärts“ mit „über’s Meer“ und in ferne Galaxien aus früheren Alben. Die „Lichter der Stadt“ (das für 2012 angekündigte Album) schimmern erfolgversprechend durch. Unter der Flagge des Grafen wurde getanzt, gesungen, aber auch andächtig bei den ruhigeren Balladen verharrt. Zumindest von den meisten. Der Graf startet die „Maschine“ wie immer, aber mein Eindruck war: Mit diesen Massen kann er nicht so wirklich umgehen, ein Stück weit fehlt ihm Chuzpe und Frechheit. Noch ist es ihm nicht gegeben, „O wie ist das schön“ oder gerne auch „Einer geht noch“ Rufen anders als mit Verlegenheit zu begegnen. Die Geister, die er rief – er wird sie nicht mehr los und langjährigen Fans stellt sich immer drängender die Frage, ob diese Geister noch gut sind für die Band und ihre Musik. Der Graf singt seine unheiligen Texte mit heiligem Ernst, fast missionarisch beseelt. Alleine – nicht jeder ist da, um sich beseelen lassen. Rockigere Stücke rufen bei einem gut Teil des Publikums Befremden und Irritation hervor. Ernstere traurige Lieder dienen vielen als Gelegenheit zum Schlangestehen beim Biermann. Viele Künstler haben bewegende Momente, in denen sie sich mit dem Publikum gemeinsam besinnen möchten. Bei den Toten Hosen ist es „Nur zu Besuch“, bei Grönemeyer war es „der Weg“, bei Unheilig ist es „An Deiner Seite“. In Gelsenkirchen war das Publikum bei diesem zwar älteren, aber sehr persönlichem Stück nicht an seiner Seite und bereit, sich mit ihm gemeinsam zu besinnen. Für diejenigen, die es gerne getan hätten, ein unwürdiger, ein unheiliger Moment.

Ganz anders dagegen letzte Woche Dienstag bei Grönemeyer. Auch in der Arena galt: Mitgrölen kann eine kathartische Wirkung haben. Auch seine Bühne ist einem Schiff nachempfunden, der Blickfang jedoch ist pure Selbstironie. Unübersehbar in der Mitte ein großes HRBRT! Weiß der geneigte Grönemeyer Fan doch spätestens seit CRRYWRST: Vokale sind völlig überschätzt.

HRBRT also. Ist er noch derselbe? Ja. Unprätentiös, bodenständig und mit nach wie vor ausbaufähigem Tanzstil. Und nein. Er hat sich verändert. Der Mann, der in der Arena 50.000 Menschen in seinen Bann zog, ist ein anderer. Älter, klar. Und entspannter. In sich selber ruhend. Grönemeyer muss niemandem mehr etwas beweisen. Er weiß, was er kann und er weiß, was er will. Feuilletonisten mögen fragen, ob Textzeilen wie „Ich will mehr – Schiffsverkehr“ kryptisch genial oder sinnentleert sind, ob sich Ruhr auf Ur reimen muss. Ihn kümmert es nicht.  Was HRBRT knödeln will, knödelt er.

Das Konzert ist natürlich die Heimreise, auf die Ruhrstadt wirklich gewartet hat. Drei Stunden, die Sperrstunde der Veltins-Arena ignorierend und Konventionalstrafen in Kauf nehmend, feiert Grönemeyer mit den 50.000. Stücke vom neuen Album kommen nicht zu kurz, ebenso wie auch seine Klassiker. Er bleibt der „Mensch“, wie er lebt und liebt bei „Vollmond“ und mit „Flugzeugen im Bauch.“ Auch wenn die Atmosphäre der Veltins Arena richtige Konzertstimmung schwer aufkommen lässt, seine Fans feiern nicht nur mit ihm, sie würdigen auch seine sehr persönlichen Balladen wie eben „Der Weg“ oder das zeitlos schöne „Halt mich“ angemessen. Und wenn ein ganzes Stadion das Steigerlied mitsingt, um danach hymnisch „Tief im Westen“ anzustimmen – kann sich trotz der Dixie Klos im Innenraum kaum einer der Magie entziehen.

Es zeigte sich deutlich, Grönemeyer ist mehr als nur ein Sänger. Er ist eine Institution, eine gehörte Stimme in unserem Land und unserer Zeit. Wohin die Heimreise des Grafen letztendlich führt, wird sich erst weisen. Sein früheres Publikum hält sich spürbar zurück, sein neues passt noch nicht richtig zu ihm und seinem Anliegen.

Ein Wort zur Security: Nicht wenige äußerten im Amphitheater Bedenken ob versperrter Fluchtwege und unbeholfen ordnender Ordner. Wie es richtig geht, konnte man in der Veltins Arena besichtigen. 50.000 Zuschauer, kein Stau, kein Chaos, freie Fluchtwege, entspannt geordnet. Das war vorbildlich.




Wrestling beim Wacken Open Air – Lesung beim Rock Hard Festival

Während das Wacken Open Air Wrestling ins Programm übernommen hat, versucht es das Rock Hard Festival mit Literatur. Am Pfingstwochenende stellen die beiden Autoren Christian Krumm und Holger Schmenk ihr Buch „Kumpels in Kutten – Heavy Metal im Ruhrgebiet“ den Festival-Besuchern im Gelsenkirchener Amphitheater vor. Ein guter Anlass, um mit Christian Krumm zu sprechen, der bereits an einem Buch über die Plattenfirma Century Media arbeitet.

Am Pfingstwochenende habt ihr vier Lese-Termine beim Rock Hard Festival. Das ist schon etwas Besonderes?

Christian Krumm: Definitiv. Es ist so etwas wie ein Ritterschlag, denn hier ist die Ruhrpott-Szene versammelt und somit gehören wir auch dorthin. Es ist ein einzigartiges Event und wir freuen uns sehr über diese Möglichkeit.

Hören die Metal-Fans in einem Umfeld von lauter Musik und viel Bier überhaupt zu?

Christian Krumm: Wie es auf dem Rock Hard Festival wird, ist natürlich noch schwer zu sagen, denn das ist eine ganz andere Veranstaltung als unsere bisherigen Lesungen. Mit Bobby und Gerre als Gäste wird es vielleicht auch mehr Show als einfache Lesung, aber das Wichtigste ist, dass die Leute Spaß haben.

Wie war die bisherige Resonanz auf das Buch?

Christian Krumm: Wir hatten sicher mit einigen Resonanzen gerechnet, aber was seit der Veröffentlichung passiert ist, hat uns schon überrascht. Neben vielen, fast ausschließlich positiven R ezensionen überraschte besonders die Unterstützung aus der Szene für unser Buch. Die Verkäufe haben entsprechend ziemlich schnell unsere Erwartungen übertroffen.

Vergangenes Jahr habt ihr euer Buch bereits beim Wacken Open Air der Presse präsentiert. Seitdem seid ihr auf Lesereise – mit einigen prominenten Gast-Lesern. Gibt es einen Gast, den ihr besonders in Erinnerung behalten habt?

Christian Krumm: Da kann man sicher niemanden wirklich hervorheben. Wenn Tom Angelripper am Tag nach der Release-Party von „In War And Peaces“ (letztes Sodom-Album) sich mittags um zwölf Uhr mit uns trifft und sich die Zeit nimmt mit uns zwei Lesungen zu machen, dann sagt das viel über die Bodenständigkeit und Leidenschaft für die Szene von Tom aus. Andererseits arrangiert es Bobby von sich aus, ohne dass wir davon wussten, dass auch Gerre bei den Lesungen auf dem Rock Hard dabei ist und macht bei einem Video für Rock Hard Online Werbung dafür. Für wen soll man sich da entscheiden?

Kannst du denn sagen, welcher Ort für euch der schönste war?

Christian Krumm: Das war sicher das Café Nord. Die Kneipe ist seit zwanzig Jahren ein fester Bestandteil der Szene und als wir dort gelesen haben, mit einem Unplugged-Gig von Layment als besonderen Bonus, waren fast 200 Leute da. Das hat schon eine Menge Spaß gemacht.

Aktuell arbeitet ihr an einem spannenden Projekt – der Biografie der Plattenfirma Century Media. Wie ist es dazu gekommen?

Christian Krumm: Das gehört auch zu den positiven Resonanzen auf „Kumpels in Kutten“. Nicole Schmenk – die Ehefrau von Holger – hat zuletzt einen eigenen Verlag gegründet, der sich unter anderem auf Metal spezialisiert. Auf der Suche nach guten Buchthemen kam der Kontakt mit Robert Kampf, dem Chef von Century Media, zustande. Der zeigte sich begeistert von unserem Buch und schnell waren sich alle einig, dass wir die Geschichte der Plattenfirma aufarbeiten werden.

Ein Buch aus der Sicht der Musikindustrie ist selten. Was erwartet ihr an Reaktionen?

Christian Krumm: Das wird sehr spannend. Dieses Buch wird definitiv Geschichten enthalten, die man nicht so einfach in Magazinen oder anderen Szene-Büchern nachlesen kann. Musiker haben oft ein kompliziertes Verhältnis vom Geschäft, wollen vielfach damit so wenig wie möglich zu tun haben. Aber natürlich ist die Arbeit einer Plattenfirma enorm wichtig und ist ebenso ein Teil der Szene. Die Mitarbeiter sind fast ausschließlich selbst Fans, die sich mit Enthusiasmus und viel Herzblut engagieren und einiges dazu beitragen, dass zum Beispiel ein Album ein Klassiker wird, dass Bands das Beste aus sich herausholen oder auch nicht an Konflikten zerbrechen. Diesem speziellen Teil der Szene ist das Buch gewidmet und ich hoffe, dass die Fans sich auch für diesen Aspekt der Musik interessieren und begeistern können.

Vielen Dank an Jörg Litges für die Fotos




Thanks for your company, Bobby

Keine Ahnung, wann es war, aber ich war ganz sicher ein Jüngelchen, da trällerte ich auf dem Schulweg, so etwa in Höhe der Kreuzung Lindemannstraße/Kreuzstraße in Dortmund „Like a rollin‘ stone“ – hatte ich nächtens gehört, via Transistorradio. Keine Ahnung wer da sang, aber es ging widerstandslos ein und blieb in Erinnerung.

Ehrfürchtig meinte mein damaliger Schulfreund, der mich wie jeden Morgen begleitete: „Ah, Bob Dylan …“ Und ich tat so, als wüsste ich, wer das ist. Wenig später wusste ich es, wusste ich, wer dieser Robert Allen Zimmermann war, der sich (man weiß nie, ob man ihm wirklich glauben darf, oder er einen schlicht auf den Arm nimmt), der sich also nach Marshall Matt Dillon nannte, weil ihm die Serie so gut gefiel. Und ich wusste, was er mit „Blowing in the wind“ meinte. Und ich wusste, dass mir seine Version von „Tambourine Man“ besser gefiel als die der „Byrds“ – allenfalls Melanie Safka coverte den Song kongenial.

Seit diesen Mittsechziger Tagen in Dortmund begleitet mich der „Meister“ nun, näselt er sich durch unsere gemeinsame Geschichte, von Baez bis heute. Belegt er immer wieder neu, dass er weder ein umwerfender Sänger noch Mittelpunkt einer ebenso umwerfenden Bühnenshow ist, dass er aber umwerfend bleibt, immer wieder umwerfende Titel lebendig macht und sich niemals in einen noch so umwerfenden Mainstream schachteln lässt.

Er wird heute 70, ein wenig Zeit bleibt mir bis dahin noch. Es ist sicher die Zeit der alten Herren, wenn zahllose Wunderer oder Bewunderer ihm innerlich dazu gratulieren, dass er bisher jeden Trend, jede Sucht und sich selbst überlebt hat. Der „Meister“ ist 70, und ich fühle mich auch nicht mehr so gut.
Irgendwann hörte ich „Knock, knock, knockin‘“ und war begeistert. Dann irgendwann mal wieder „Lenny Bruce“. Und immer auch mal wieder die alten – wie „Lay Lady Lay“. Sie fielen mir einfach immer mal wieder im Radio auf, ich legte weder ein Platte auf den Teller noch eine CD in der Schacht, wenn ich Bobby hörte. Er blieb präsent, von Zeiten, die er mit Jack Kerouacs Beatnik-Literatur verbrachte über die Wilburys bis zum Zeitpunkt,vf als zwei Päpste ihm zuhörten (der eine war es noch, der andere wurde es nach ihm und ist es bis heute).

Und warum näselt sich Bobby „der Meister“ durch meine Zeit? Weil er nie das Alte machte, sondern das Neue suchte, es manchmal fand und uns servierte. Tolle Zeit, Bobby, und noch einmal: Happy Birthday. Ich freue mich auf Zukunft.

(Foto: Bernd Berke)




Zeche Carl feiert Evil Horde Metalfest – Ruhrpott-Metal kehrt zurück ins Kulturzentrum

Erstmalig findet das Evil Horde Metalfest in der Zeche Carl statt. Was in Oberhausen startete, wird damit nun in Essen-Altenessen fortgesetzt und der Ruhrpott-Metal erhält wieder Einzug an der Stelle, an der die Reise vor mehr als 25 Jahren begann. Am 14. Mai ist es soweit. Ab 15 Uhr lautet das Motto „Metal aus dem Ruhrgebiet – von Fans für Fans“. Neben Konzerten wird es auch Lesungen und Aktionen geben. Ein Gespräch mit Veranstalter Martin Wittsieker.

Martin Wittsieker

Martin Wittsieker

Wann und wie ist die Idee für das diesjährige und damit dritte Evil Horde Metalfest entstanden?

Die Idee entstand bereits 2007. Damals hatte Jens Basten von Night In Gales und ex-Deadsoil, die Idee, ein kleines Festival auf die Beine zu stellen, um seinen 30. Geburtstag zu feiern. Das erste Evil Horde fand im Dezember selbigen Jahres im Oberhausener Druckluft statt. Seinerzeit rockten Motorjesus, Deadsoil, Butterfly Coma, The Very End und viele weitere namenhafte Bands der Ruhrgebietsszene die Hütte.

The Very End

The Very End

2008 fand es ebenfalls im Drucklufthaus statt, dann folgten zwei Jahre Pause.

Genau. Der Hauptgrund war, dass wir schlicht keine Kapazitäten hatten, um uns angemessen um die Sache zu kümmern. Wir betreiben ja auch noch unsere eigenen Bands, spielen Konzerte und feilen an beruflichen Zukunftsplänen. Ein anderer Grund ist, dass das Evil Horde bislang nicht als jährliche Veranstaltung angedacht war. Wir hoffen aber, am Samstag das Ganze erfolgreich über die Bühne zu bringen und einen Grundstein für die Zukunft des Festivals zu legen.

Und dieser Grundstein soll in der Zeche Carl gelegt werden. Warum habt ihr euch für diese Location entschieden?

Harasai

Harasai

Da das Festival unter dem Stern „Metal aus dem Ruhrgebiet“ steht, schien es uns folgerichtig das Konzert in der Zeche Carl zu veranstalten. Die Zeche ist einfach so originell wie das Ruhrgebiet selbst. Zudem ist sie eine Location, die als Spielstätte harter Sounds Tradition hat und tief in der Region verwurzelt ist.

Nachdem die alte Betreibergesellschaft vor einigen Jahren Insolvenz amelden musste, war dort in Sachen Metal leider nicht mehr viel los, was viele Leute sehr vermisst haben, da die Zeche einen unverwechselbaren Klang und Charakter besitzt. Seit einiger Zeit wird versucht den alten Gemäuern neues Leben einzuhauchen und deswegen waren Marcus Kalbitzer und die Crew der Zeche Carl auch sofort von unserem Vorschlag begeistert, das Evil Horde Metalfest dort wieder aufleben zu lassen.

Motorjesus

Motorjesus

Ihr konntet hochkarätige Bands, wie zum Beispiel Motorjesus als Headleiner, verpflichten. Wie habt ihr die Musiker für das Festival begeistert?

Wir wollten die aktuell besten und umtriebigsten Bands aus dem Ruhrgebiet zusammentrommeln. Dies hat sich als relativ leicht herausgestellt, da so gut wie alle auftretenden Bands seit Jahren ein freundschaftliches Verhältniss untereinander pflegen – sowohl auf privater als auch auf professioneller Ebene. Dass das Ganze in der guten alten Zeche Carl, der wohl schösten und geschichtsträchtigsten Location für Stahl und Leder stattfindet, ist natürlich auch ein absoluter Pluspunkt. Denn: Wer möchte nicht auch mal die Bühne beackert haben, auf der etwa Kreator und Sodom erwachsen geworden sind?

Night In Gales

Night In Gales

Mit wie vielen Besuchern rechnet ihr?

Das können wir leider nicht genau sagen. Wir haben bewusst auf einen Vorverkauf verzichtet, um den Charakter des Selbstgemachten zu erhalten und das lokale Publikum nicht unter Druck zu setzen. Aber von mindestens 250 Leuten gehen wir aus, irgendwas zwischen 300 und 400 zahlenden Gästen wäre schön! Die alte Kaue, in der die Bands spielen werden, hat ein Fassungsvermögen für zirka 550 Leute.

An dem Tag werden elf Bands zu sehen sein. Der Eintritt ist mit fünf Euro günstig.

Final Depravitiy

Final Depravitiy (Pressefoto)

Es geht uns vor allem darum in einem großen Miteinander für alle Beteiligten einen schönen Abend zu bewirken, von dem wirklich alle profitieren können. Egal ob es das Publikum ist, das für kleines Geld enorme Qualität zu Gesicht bekommt oder eben die Bands, die dank kleinem Eintritt vor mehr Publikum spielen, als es lokal leider mittlerweile üblich ist.




Schlingensief: Erst kommt das Chaos des Lebens

Der Regisseur Christoph Schlingensief ist mit 49 Jahren an Krebs gestorben. Im November 2006 hatte er einen nunmehr doppelt denkwürdigen Auftritt im Dortmunder Konzerthaus. Dieser zwangsläufig noch nicht pietätvolle Artikel des jetzt trauernden B. B. stand am 15.11.2006 in der Westfälischen Rundschau und lässt vielleicht ein wenig ahnen, wie vital und springlebendig Schlingensiefs irrlichternder Geist gewesen ist. So viele überschießende Ideen wie er haben jedenfalls nur wenige Menschen. Längst nicht alle hat er ins Werk setzen können.

Dortmund. Konzerthauschef Benedikt Stampa hat das Publikum gewarnt: Heute werde es kulturell „ans Eingemachte“ gehen. Kein leeres Versprechen. Denn der Mann, der danach die Bühne betritt, ist Christoph Schlingensief. Dieser umtriebige Aktionskünstler, Theater- und Filme-Macher („Terror 2000“) gilt vielen als „Provokateur“ und „Enfant terrible“ der Szene. Wegen des enormen Andrangs ist der Auftritt (in der Reihe „Lektionen zur Musikvermittlung“) vom Foyer in den großen Saal verlegt worden.

Schlingensief (46) ist gebürtiger Oberhausener – wie Hape Kerkeling. Noch so ein witziger „Entlarver“. Kommt ‚rein, wirft Rucksack und Jacke achtlos hin, entert wie im Handstreich das Rednerpult. Eine Performance beginnt. Schlingensief spricht ohne Punkt: über Gott, Gesellschaft, Kindheit, Welt. Erst kommt das Leben mit Urängsten, Urantrieben. Dann vielleicht Kultur. Zum Schluss die blöden Kritiker.

Oft macht er den Klassenkasper, doch stellenweise erinnert er an einen sendungsbewussten Power-Prediger, freilich um Selbstironie bereichert. Schlingensief als „Maschinengewehtr der Anarchie“? Mit Chaos und Taumel ist er jedenfalls per Du. „Deswegen mögen mich Leute mit Bausparvertrag nicht.“ Das Leben sei nun mal ungeordnet und rasch vergänglich. In sieben Jahren (so führt er ein Zitat von Joseph Beuys fort) könne sowieso alles zerstört sein, dann gebe es statt des Konzerthauses vielleicht wieder den Drogenstrich…

Und inhaltlich? Schwer zu sagen. Ein paar Vorlieben und Abneigungen kristallisieren sich jedoch heraus. Alle Wege, die geradeaus führen sowie einfach belichtete Filme, Menschen und Dinge sind Schlingensief ein Graus.

Schluss mit den Festlegungen! Her mit den vielfach überblendeten, undeutlichen Verhältnissen; mit dunklen Momenten zwischen den (Film)-Bildern. Oder mit dem Übermaß, in dem man sich vor andrängenden Bildern nicht mehr retten kann. Hier geschehe, ob in Kunst oder Leben, das wahrhaft spannende.

Sein manischer Redefluss gefällt nicht jedem. Alsbald stürzt ein erboster Herr aus dem Saal und ruft Schlingensief zu: „Machen Sie weiter mit Ihrem Geschwätz!“ So nennt er, was durch den kreativen Kopf kreist und schnell zur Zunge drängt. Dabei hat Schlingensief etliches erlebt und gelesen. Ganz gewiss kein Dummkopf, sondern einer, der aus Wirrnis munter schöpft. Einer, der sich alle (Narren)-Freiheit nimmt und das wilde Denken zelebriert.

Zudem ist er ein Entertainer, begabt auch fürs spontane Impro-Theater. Wie er den Stil der Dirigenten von Bayreuth (Boulez, Thielemann) parodiert, wo er als Regisseur den „Parsifal“ in Bilderfluten getränkt hat! Übrigens: Auch Richard Wagner sei unsteter Chaot gewesen und somit lebensnah.

Wenn Schlingensief durch assoziative Achterbahnen saust, von Wagner auf seine eigenen Eltern, Marihuana und katholische Demut kommt, dann blitzt es zuweilen – oder läuft ins Leere. Egal.

Den Spruch, er sei ein „Provokateur“, mag Schlingensief nicht mehr hören: „Wenn ich einer bin, was sind dann die Politiker?“ Für den wohlfeilen Satz gibt’s Szenenapplaus.

Schließlich noch sein kurzer Dialog mit Holger Noltze, der den Dortmunder Studiengang „Musikjournalismus“ leitet und tapfer versucht, Schlingensiefs Gedanken ein wenig zu sortieren. Zwecklos.

(Bild: Schlingensief bei der Verleihung des Nestroy-Preises, 2009 – Copyright Manfred Werner/Tsui – Wikipedia Creative Common Lizenz)




Funny van Dannen: Saugefährliche Katzenpisse

Denn siehe, hier kommt eine gute Nachricht: Funny van Dannen klampft wieder. Er versprüht abermals seinen skurrilen Charme – auf der neuen CD „Saharasand“. Alles andere wäre aber auch jammerschade gewesen.

Wie soll man das musikalische Tun und Trachten dieses Mannes jemandem beschreiben, der ihn noch nie gehört hat? Nun, er klingt meistens so, als schrammle und singe er unverzagt am immerwährenden Lagerfeuer. Manchmal hört er sich schier nach altvorderen Schlagerbarden wie – im Extremfalle – Martin Lauer („Taxi nach Texas“) an. Sag ich jetzt mal ganz ungeschützt. Aber irgendwie bringt Funny van Dannen (Jahrgang 1958) es fertig, selbst solche Vorlagen mit „Kult“-Verdacht zu veredeln. Ohne großen Aufwand, just mit einer (scheinbaren?) Naivität des frischen Zugriffs gesegnet. Auch der Titel „Saharasand“ könnte ja gut und gern aus späten 50er oder frühen 60er Jahren stammen, Freddy Quinn & Artgenossen grüßen aus der Ferne. Wie? Stimmt gar nicht? Na, dann nicht.

Dann eben die nächste steile Behauptung. Eine hörbare Basis und Quelle seiner Lieder sind so genannte Protestsongs seligen Angedenkens, deren Stimmlage er freilich meistens ins liebenswert Komische und Harmlose wendet. Er ist so gar kein aggressiver Mensch und mag eigentlich niemanden verletzten. Und so schießt er denn sogar auf die gierigsten Banker und Börsianer lediglich mit einer „Katzenpissepistole“. So heißt der Auftakt-Song seines neuen Albums, das 21 Titeln enthält und auch in bluesnahe Spielarten ausgreift.

Just aus der Friedfertigkeit des Urhebers bezieht gleich der zweite Song seine gelinde Komik. Funny van Dannen versichert uns da, er wolle auch einmal „saugefährlich klingen“. Ausgeschlossen! Nimmermehr! Er doch nicht! Nicht einmal richtig grimmig kann er werden. Aber das weiß er natürlich selbst am besten. Und er weiß auch, wie sich ein Mann tröstet, der seiner Freundin ein „Simpsonsplakat“ schenken möchte und besuchsweise feststellen muss: „Sie war nackt und sie war nicht allein.“ Wie es danach weitergeht, wird hier natürlich nicht verraten.

Sagen wir’s mal siebtelkritisch so, klagend auf hohem Niveau (reimt sich): Die Platte ist derart aus einem Guss, dass man sie nicht unbedingt in einem Rutsch durchhören, sondern eher dosiert genießen sollte. Monotonie? Nein, das wäre das verkehrte Wort. Schließlich sind erneut ein paar „Ohrwürmer“ dabei, freilich keiner vom genialischen Kaliber der „Infrastruktur“ auf dem Album „Nebelmaschine“. Auch hat sich der Künstler für meinen Geschmack etwas zu weit aufs glitschige Terrain der Wirtschaftskrise locken lassen. Es ist nicht sein Hauptmetier.

Mehrere Nummern der neuen CD handeln von der Unübersichtlichkeit unserer wirren Zeitläufte. Der menschliche Instinkt drohe daran zuschanden zu gehen, heißt es einmal sinngemäß. Hochtrabend ausgedrückt: Funny van Dannen sehnt sich nach Komplexitäts-Reduktion. Sprich: Er hätte die Dinge gern näher, fassbarer, einfacher. Wer könnte ihm solche Wonnen der Simplizität nicht nachfühlen?

Und also summt man immer mal wieder selbstvergessen mit. Schön wäre es, wenn… das gelingende Leben so einfach zu haben wäre. Noch schöner, wenn es zum vollen, runden Glück eines gemeinsam feiernden Freundeskreises nur noch einer solchen Unter-dem-Pflaster-der-Strand-Wandlung bedürfte: „Wenn die Straße ein Fluss wäre und die Autos Schiffe…“

Tatsächlich wiegen sich gerade die besten Lieder im Gefühl einer ungeahnten Leichtigkeit – am Rande sanft schwirrenden Irrsinns. Etwa die Legende vom Mann, dem überall (un)willkürlich das Wort „Sozialismus“ entfährt. Ganz einfach so. Egal, ob beim Zahnarzt, im Supermarkt oder selbst beim Orgasmus. Wie das die Mitwelt irritiert! Oder die Ballade vom Paar, das aus dem Museum kommt und kurzerhand beschließt, dass ihm die ganze gesehene Richtung nicht passt: „Scheiß-Jugendstil“ tönt es mit wünschenswerter Klarheit im Refrain. Und schon hebt sich merklich die Stimmung in der sonst wahrscheinlich etwas öden Zweierkiste – auf Kosten einer ganzen Kunstrichtung.

Funny van Dannen hat halt immer wieder diese leicht schrägen Einfälle, so auch diesen: In eine Disco zu gehen, wo Pflanzen tanzen. Man denke nur und spinne die Idee ein wenig weiter… Und wenn das Leben ein Würfelspiel wäre? Dann lautet die schlichte Frage eben: „Wie viele Augen wirfst du?“ Ach, ist das herrlich, wenn die Sinnsuche dermaßen deliriert und trudelt.

Trotz aller (letztlich nebensächlichen) Sorgen und Zerknirschungen ist Funny van Dannen zwar keine „Stimmungskanone“ (Gott bewahre!), jedoch auf sehr spezielle und originelle Weise gelegentlich ein Gute-Laune-Sänger. Wogegen ja nun mal prinzipiell nichts einzuwenden wäre. Wer das teils munter gepfiffene Lied von der „Magnolie“ hört, weiß gleich Bescheid. Da hellt sich etwas wundersam auf. Fast so schön wie einst bei „Singin’ in the Rain“…

CD „Saharasand“. JKP / Warner Music. Ca. 16,99 €.

P. S.: Ab 23. September geht Funny van Dannen auf Tournee. Jetzt möchte ich ihn endlich mal live sehen. Schon um einen Eindruck zu bekommen, wie seine Fans denn so aussehen. Es müssen doch wohl ziemlich sympathische Leute sein.




Gisbert zu Knyphausen: Gehen, gehen, gehen

Ach, ach, ach. Die Platte, die ich hier nachdrücklich empfehlen möchte, ist schon im April 2008 erschienen und mir erst jetzt aufgefallen. Eine kleine Ewigkeit im hechelnden Pop-Business. Ja, darf man’s denn wagen und darüber noch schreiben?

Nun, ich bin keiner zeilengeilen PR-Abteilung der Plattenbranche verpflichtet (es stört mich schon, dass diese Fuzzis einen immerzu ungefragt duzen), sondern habe mir die CD neulich selbst gekauft. Niemand drängt mich, diese Rezension zu verfassen. Doch hindert mich auch keiner.

Vor einiger Zeit hat Ingo Juknat, wenn ich mich recht entsinne, in diesem Blog (Westropolis) die deutsche Rock-Szene gescholten. Er hat da sicherlich viel öfter und weitaus aktueller ’reingehört als ich (auch eine Altersfrage). Und es stimmt ja: Glamour und Charisma sind in unseren Breiten kaum zu Hause. Es gibt es aber einige rühmliche Ausnahmen, was die musikalische und textliche Qualität betrifft. Manche werden vielleicht Blumfeld, Tomte und Kettcar nennen. In Ordnung.

Zu meinen heimischen Favoriten der letzten zehn bis fünfzehn Jahre zählen beispielsweise: Element of Crime, Tocotronic, die Frauenband Britta um Christiane Rösinger, Erdmöbel – und Funny van Dannen. Jeweils ganz eigene „Hausnummern“ und Kategorien. Darauf kommt’s ja schließlich auch an: auf unbeirrbare Eigenart.

Zu solchen Original-Könnern gesellt sich also neuerdings der aus dem hessischen Rheingau stammende, heute in Hamburg lebende Mann mit dem nicht gerade rockigen Namen Gisbert zu Knyphausen, dessen ursprüngliches Adelsprädikat noch um einiges länger sein soll. Egal. Er ist jedenfalls ein Singer-Songwriter (vulgo: Liedermacher) von einigen Graden und Gnaden, mit gut und gern ausgelebter Neigung zum Indie-Rock. Insgesamt eher eingängig als sperrig. Doch genauer hinhören muss man schon, es fließt nicht einfach so daher.

Sein erstes Album heißt ebenso wie der Urheber und ist gleich famos geraten. Ja, es dürfte auf diesem Felde hierzulande schwerlich übertroffen werden. Zwar lassen sich einzelne Titel durchaus ausgekoppelt hören, jeder beweist Charakter für sich. Doch zeigt sich hier wieder einmal die Stärke eines gereiften Albumkonzeptes (das ja leider längst von diffusen Einzeldateien abgelöst worden ist): Bei Knyphausen gibt es noch eine Dramaturgie des An- und Abschwellens, der sinnreichen Abfolge.

Die Texte gehören wohl zum Besten, was derzeit auf dem Pop-Sektor in deutscher Sprache vorgetragen wird. Die Worte setzen sich zwar zuweilen nonchalant und rauh-charmant über das Reim- und Rhythmus-Schema hinweg, sie trudeln aber nahezu unfehlbar in poetische Bezirke. Fast absichtslos manchmal, in den allerschönsten Momenten. So ehrlich und authentisch klingt das, dass man fast schon wieder geneigt ist, es für Pose zu halten. Aber das wäre nun wirklich eine Hirnschraubenwindung zu weit gegrübelt.

Das Spektrum reicht vom sanfteren Gitarrenlied beinahe à la Hannes Wader (erinnert Knyphausen nicht auch vom Habitus her ein wenig an diesen Altvorderen?) über geerdeten Blues bis zum strubbligen Geradeaus-Rock, der freilich auch seine Finessen hat. Auf Videos im Netz kann man es sehen: Die Band wirkt so, als seien diese Typen direkt aus den frühen 70er Jahren zu uns gekommen. Doch gestrig sind sie beileibe nicht.

Gisbert zu Knyphausen balanciert wie auf schmaler Kante. So manche Verwundungen, Melancholie und Depression auf der einen Seite, plötzlich unversehens wieder erwachende, wilde und unbekümmerte Lebenslust auf der anderen. Auf einmal doch wieder unterwegs zum unversehenen, ungeahnten Glück: Komm ins Offene!

Aus dieser Gefühls- und Gemengelage unsinnigen Unglücks und unfassbaren Glücks beziehen nicht nur die Texte ihre Impulse, auch die Musik holt daraus ihre Energie. Stichwort-Beispiele: Das Lied „Spieglein Spieglein“ ist eine harsche Absage an alle unnötige (Selbst)-Quälerei, auch in „Der Blick aus deinen Augen“ ist der schöne Schwebezustand nach allzu mühsamer Sinnsuche nahezu erreicht. Die „Kleine Ballade“ scheint sich federleicht über erlittene Mühsal erheben zu wollen. „Sommertag“ begräbt furios all den lang gehegten Pessimismus, der nun endlich in Scherben liege. Da möchte man tatsächlich sogleich aufbrechen und gehen, gehen, gehen (was ja ohnehin ein Grundantrieb hörenswerter Rockmusik ist). Und weiter, weiter bis zu den beiden abschließenden Stücken „So seltsam durch die Nacht“ und „Verschwende deine Zeit“. Songs, die man wieder und wieder hören möchte.

Da geht es – aus persönlich getönter Sicht – fast immer auch ums Ganze, ums Leben, wie man es schlecht und recht oder ein kleines bisschen besser lebt. Manchmal ergeht sich Gisbert zu Knyphausen in kämpferischer Metaphorik und nennt sich an einer Stelle sogar „kriegsgeil“. Etwa in diesem Sinne: Erst aus Trümmern kann das Neue und Künftige entstehen. Nun ja. Dieses „Stirb und werde“ gibt es nicht erst seit Goethe. Und es wird auch so bald nicht aufhören.

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Die CD „Gisbert zu Knyphausen“ ist im April 2008 beim Label „PlayItAgainSam“ erschienen und kostet ca. 17 €.

Zwei Video-Links (Titel „Sommertag“ und „Neues Jahr“) zur Kostprobe:
http://www.youtube.com/watch?v=axWLddS4aUI
und

Die Bandbesetzung: Gisbert zu Knyphausen (Gitarre, Gesang), Gunnar Ennen (Keyboards), Jens Fricke (Gitarre), Sebastian Deufel (Schlagzeug), Frenzy Suhr (Bass).




Nico: Die Frau mit der Sirenenstimme

Köln. Christa Päffgen war ein Weltstar, ja geradezu eine Ikone der Popmusik. Wie bitte? Christa Wer? Nun, weitaus bekannter war die gebürtige Kölnerin unter ihrem Künstlernamen „Nico“ – und geradezu legendär wurde sie als zeitweilige Sängerin der Kultband „Velvet Underground“.

Zur Erinnerung: Diese formidable Formation um Lou Reed und John Cale spielte anfangs unter der Ägide des Pop-Künstlers Andy Warhol, der auch das berühmte Bananen-Cover für ihre Debüt-Platte schuf. Das immens einflussreiche Album hieß „The Velvet Underground & Nico“ und war mit düsteren Titeln („I’m Waiting for my Man“, „Venus in Furs“, „Femme Fatale“, „Heroin“, „All Tomorrow’s Parties“) ein Meilenstein der Rockgeschichte. Nicht zuletzt lag es an Nicos suggestivem Sirenengesang, der sich mit hartem deutschen Akzent im Niemandsland zwischen Minimalismus und Nihilismus erging.

Die Ausstellung, mit der das Kölner Museum für Angewandte Kunst jetzt an Nico (1938-1988) erinnert, erweist sich mit zahlreichen Doku¬menten (Bilder, Texte, Filme und Töne – auch via Audioguide) als weit verzweigte Spurensuche. Sie ist mehr als eine bloße Reliquienschau.

Kaum zu glauben, in welchen Sphären sich diese Nico bewegt hat. Ihr Dasein als öffentliche Frau begann beileibe nicht erst im Pop-Geschäft. Nico wurde in hohem Maße zur Projektionsfläche diverser Männerphantasien. Wahrscheinlich ist sie daran zerbrochen; vielleicht auch am Überangebot der Freiheiten, das sich damals aufgetan hat.

Schon mit 16 Jahren wurde sie in Berlin als Model (damaliger Ausdruck: Mannequin) der Marke „Lolita“ entdeckt und zog bald nach Paris, wo sie den Künstlernamen „Nico“ annahm. Sie zierte die Titelseiten von Magazinen wie dem „Stern“ (1959 – Fotograf: Charles Wilp) oder des Zeitgeistblattes „Twen“ (1961). Auch die Glamour-Postillen „Elle“ und „Vogue“ wurden aufmerksam auf die Blondine mit der Aura zwischen Unschuld und Erfahrung. Später mengten sich mehr und mehr Schattierungen todessüchtiger Traurigkeit und von Dämonie mit hinein.

Eigentlich kein Wunder, dass ein auf optische Sensationen versessener Mann wie Federico Fellini sie dann 1960auch für den Film rekrutierte. Nico spielte eine kleine, aber seltsam faszinierende Rolle in dem Klassiker „La dolce vita“ (Das süße Leben) – neben den Stars Marcello Mastroianni, Anita Ekberg und Anouk Aimée. Einem gewissen Bob Dylan prägte sich Nicos kurzer Kinoauftritt derart ein, dass er ihr den Song „I’ll keep it with mine“ (1965) widmete. Folgenreicher Vorfall jener Jahre: Der Filmschönling Alain Delon schwängerte sie, wollte aber den gemeinsamen Sohn Ari nie anerkennen.

Nach dem furiosen Einsatz bei „Velvet Underground“ vagabundierte Nico durch die wildesten „Szenen“ der späten 60er Jahre. Klischee-Stichworte sind schnell genannt: Sex, Drogen, überdrehtes Leben am Rande des Todes. Nico faszinierte denn auch andere, früh verstorbene Rockgrößen: Jim Morrison (1943-1971) von den „Doors“ überredete sie zu musikalischen Solo-Projekten. Eine Zeit lang gehörte sie zu den Groupies im Gefolge der Rolling Stones, besonders der Gitarrist Brian Jones (1942-1969) war ihr zugetan. Stärkste Platte dieser Phase: „Chelsea Girl“ mit dem phänomenalen Titel „These Days“.

Zunehmend stilisierte die einstige Blondine zur dunklen, schläfrig wandelnden Erscheinung. Schwarz gefärbtes Haar, finster umflorter Blick, ausgezehrtes Gesicht. Später, in den 80er Jahren, gibt es erschreckende Bilder von einer aufgedunsenen, durch harte Drogen vorzeitig vergreisten Frau.

Den windungsreichen Weg, der immerzu bergab führt, kann man anhand der in Köln kenntnisreich ausgebreiteten Dokumente eingehend verfolgen. Hie und da könnte man glauben, Nico sehr nahe zu kommen; so etwa, wenn man die rasch hingefetzten Postkarten von ihrer zittrigen Hand liest. Diese fahrige, flüchtige Schrift, diese ziellose Signatur eines verletzlichen Menschen, der alle Wurzeln gekappt hat und sich nicht mehr zurechtfindet: Wort-Bruchstücke aus Herzen der Finsternis.

„Nico – Stationen einer Pop-Ikone“. Museum für Angewandte Kunst, Köln, An der Rechtsschule (neben dem Dom/Hauptbahnhof). Bis 1. Februar 2009. Geöffnet Di-So 11-17 Uhr. Eintritt 5 Euro. Internet: http://www.nico-cologne.de

(Der Beitrag stand am 21. November 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Grönemeyer: Einsatz für Bochum

Bochum. Das Datum ist markant, der Anlass ebenfalls: Am 6. 6. 2009 wird Herbert Grönemeyer im Bochumer Fußballstadion ein Benefiz-Gastspiel fürs künftige Konzerthaus der Stadt geben. Willkommen daheim!

Der in Bochum aufgewachsene Grönemeyer (Geradeaus-Hits: „Bochum“, „Mensch“, „Männer“, „Currywurst“) beliebte gestern zu unken: „20 000 Leute sollten schon mindestens kommen, sonst müsste ich persönlich für Verluste geradestehen.“ Aber mit diesem Risiko rechnet eigentlich niemand – schon gar nicht „tief im Westen“. 28 000 Menschen passen bei einem solchen Konzert in die Bochumer Arena hinein. Wenn am kommenden Samstag der Vorverkauf beginnt, dürfte diese Zahl wohl recht bald erreicht werden, denn es ist ja (obwohl der 52-Jährige heute in London lebt) ein gefühltes „Heimspiel“.

Mietfreie Arena, höhere Eintrittspreise, Verzicht auf Gagen

Manche munkeln gar schon von einem „Plan B“ für ein zweites Konzert am Folgetag. Herbert Grönemeyer mag nichts überstürzen, aber: „Wenn jetzt eine Hysterie ausbrechen sollte, kann man ja darüber nachdenken.“

Jede Mehreinnahme wäre willkommen. Rund 4,5 Millionen Euro fehlen noch zur kompletten Finanzierung (rund 29,3 Mio. €) des Konzerthauses in der Stadt, deren mehr als heimliche Hymne von „Herbie“ stammt. Kaum übertrieben: „Hier nehmen es mir viele Leute sogar übel, falls ich ,Bochum‘ nicht wenigstens zweimal singe.“

Wenn Grönemeyer am 6. Juni (einem Samstag) gemeinsam mit den Bochumer Symphonikern im Stadion auftritt, gelten erhöhte Eintrittspreise von durchschnittlich 73 Euro. Ein Einzelkonzert ist vergleichsweise aufwendiger als eines im Tourneerahmen. Grönemeyer: „Das läuft nicht nach dem Motto: Wir gehen da mal eben hin und singen ein bisschen.“ Wer den höheren Eintritt entrichte, könne sich außerdem selbst gratulieren, etwa so: „Ich habe den Zapfhahn an der Theke des Konzerthauses mitbezahlt.“ Na, wenn das nichts ist!

Das Stadion bleibt am 6. Juni mietfrei. Und alle Mitwirkenden werden auf ihre Gagen verzichten. Also könnte ein hübsches Sümmchen fürs Konzerthaus herausspringen. Mindestens ebenso wichtig ist die Vorbildfunktion: Im Sog von Grönemeyers Gastspiel soll so mancher spenden, der bisher vielleicht noch gezögert hat. Diesen Effekt erhofft sich auch Bochums Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz, die gestern klarstellte: „Wir müssen noch fleißig sammeln und brauchen jeden Euro.“

Den Zeitpunkt für seine Konzert-Ankündigung hat Grönemeyer übrigens günstig gewählt: An diesem Freitag (7. November) kommt seine neue Single mit dem schlichten Titel „Glück“ heraus, am 21. November erscheint das Best-of-Album „Was muss muss“. Also wird jetzt sowieso die Werbetrommel gerührt.

Das Programm für den 6. Juni steht noch nicht fest, doch „es wird wohl etwas getragener‘ werden als üblich.“ Auftritte mit einem Orchester sind für einen Popstar wie ihn immer noch etwas Besonderes: „Man fühlt sich da so schön eingebettet. Aber wir werden viel proben müssen, um Phrasierung und Tempo aufeinander abzustimmen.“

Selbstverständlich kommt er auch diesmal nicht an Fragen nach dem Revier vorbei. Ja, wenn er mal wieder hier sei, fahre er mit dem Auto noch die alten Nostalgie-Strecken ab. Was er in der Fremde am meisten vermisse? Nun, vor allem die ehrliche Ruhri-Sprache. Und womit die Region „draußen“ am besten für sich werben könne? Na, mit Kultur! Aber nicht mit jeder Sorte. „Die Menschen lassen sich hier nix vormachen.“

Schließlich Grönemeyers scherzhafte Drohung: „Wenn das Bochumer Konzerthaus erst steht, werde ich dort wöchentlich auftreten. Bis mich niemand mehr hören will.“

(Der Beitrag stand am 5. November 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Leonard Cohen: Jeder Zoll Würde und Weisheit

Oberhausen. Mit dem Wort „Sensation” sollte man sehr vorsichtig sein, aber dies ist gewiss eine: Leonard Cohen, der große kanadische Sänger und Songschreiber, ist nach 15 Jahren Abwesenheit und innerer Einkehr auf die Bühnen der Welt zurückgekehrt.

Der jetzt 74-Jährige zelebriert in der Oberhausener Arena ein unvergessliches Konzert, das mit Pause weit über drei Stunden währt. Gibt’s dabei keine langatmigen Minuten? Wohl kaum! Und das keineswegs nur wegen der berühmten Titel wie „Suzanne” und „So long, Marianne”, bei denen die Menschen geradezu andächtig sanft mitsummen.

Dunkler Anzug, graues Hemd, klassischer Herrenhut, eine Haltung von Anmut und Demut. Zuweilen kniet Cohen auf der Bühne buchstäblich nieder vor den Inbildern dunkler Poesie und ewig besungener Weiblichkeit. Manche Wörter raunt er wie ein Verschwörer, halb hinter vorgehaltener Hand.

Doch gern bewegt sich Cohen auch heiteren Sinnes, swingend im Kreise seiner erlesenen Musikerschar, die er gleich zweimal ausgiebig preisend vorstellt (doch die einzige, verzeihliche Länge im Programm). Stellenweise fühlt man sich gar an die Lässigkeit eines Frank Sinatra erinnert, doch Cohens Stimm- und Gefühlslage lotet ja die untersten Bassregister aus. Vor allem aber reicht seine subtile Song-Lyrik in ganz andere Daseinstiefen hinab.

Er wirkt wie eine asketische, hagere Erscheinung aus europäischen Nachkriegszeiten. Jeder Zoll Würde und Weisheit. In seinen vielen Liedern, so scheint es, gibt es keine unwahre Zeile. Dieser Mann ist spürbar durch so manche Abenteuer des Lebens, Liebens und Hassens hindurch gegangen. Was er da singt, klingt beglaubigt; ganz gleich, ob Cohen illusionslos düstere Krisen-Zukunft („The Future”) prophezeit oder ob er zum schwerelosen Flug höherer Selbstironie anhebt, die alles Finstere hinter sich lässt. So auch beim zornlosen Blick zurück: Damals mit 60, als er zuletzt aufgetreten sei, habe er noch verrückte Träume gehegt, lässt er wissen. Über solche „Kindereien” ist er also inzwischen hinweg. Nun ja. Man muss das milde Lächeln sehen, mit dem er das sagt.

Hat man je einen Auftritt gesehen, der über derart weite Strecken zur stehenden Huldigung gerät? Schwerlich. Immer wieder erhebt sich das Publikum (längst nicht nur ergrautes „Mittelalter”), um dem Altmeister die Ehre zu erweisen. Ergreifende Szenen. Und viele Tränen der Rührung im Publikum.

Was soll man da noch eigens hervorheben? Vielleicht das Auftauchen und Erstrahlen bestimmter Titel, die wie aus dem Nichts kommen und plötzlich als Erscheinung im Raume stehen: „Bird on a Wire”, „Who by Fire”, „The Partisan”. Große, erhabene Momente. Wer es erleben durfte, wird es treulich bewahren.




Yoko Ono: Kunst ohne jeden Umweg

Bielefeld. Die meisten kennen Yoko Ono als Witwe des Ex-Beatles John Lennon. Dass sie selbst schon seit 1961 auf der Kunstszene agiert, gehört nicht zum Basiswissen. Doch nun richtet ihr Bielefelds Kunsthalle die größte Werkschau aus, die sie in Europa je gehabt hat.

Das heißt: „Werkschau” oder Retrospektive sind vielleicht keine passenden Begriffe, Yoko Ono lehnt sie jedenfalls ab. Nennen wir’s also eine Häufung der Ausdrucksformen – vom Film bis zur Zeichnung, vom Objekt bis zur bloßen Ideen-Notiz. Kunsthallen-Chef Thomas Kellein: „Sie ist eine Künstlerin, die keine Ruhe gibt. Sie will und kann nicht abschließend einsortiert werden.” Aber schauen wir mal, was sie so macht.

Leichenwagen und
Himmelsleitern

Bereits draußen vor der Kunsthalle legt die heute 75-Jährige ihre Spuren. Hier werden sich bald Onos „Himmelsleitern” recken, die einen Hang zum Höheren offenbaren. Stufe für Stufe. Schon jetzt gibt es dort „Wunschbäume”, an die man Zettel mit Hoffnungen heften kann. Und dann steht da noch ein veritabler Leichenwagen, mit dem sich Besucher durch die Stadt chauffieren lassen dürfen (15 Minuten für 5 Euro). Warum? Weil die Künstlerin es sich so vorgestellt hat.

Bei ihr regiert oft der blitzartige Einfall, der nach rascher Umsetzung, ja Entladung drängt. Da hat sie frühmorgens Sonnenstrahlen er-blickt – und kurzerhand entsteht eine Strahlenbündel-Skulptur, die diesen Moment einfangen soll. Da hat sie von Katzen mit glühenden Augen geträumt – und alsbald stehen da 54 derartige Tiere als Installation im Raum (siehe Bild). Diese Kunst will sofort und direkt „da” sein. Geradeaus, zuweilen ziemlich simpel.

Yoko Ono war freilich auch eine Pionierin der Konzeptkunst, die mehr von skizzenhaften Ideen als von genauer Ausführung lebt. So sieht man denn zahllose schriftliche „Anweisungen” an den Wänden. Etwa die, dass man im Konzerthaus geräuschlos Fahrrad fahren solle oder dass man so lange auf einem spartanischen Bett nächtigen möge, bis sich auf dem Laken ein „Gemälde” abzeichnet. Immerhin: Bett und Rad stehen als Objekte bereit; ganz so, als könne man jede Kopfgeburt flugs verwirklichen. Ansätze zur Bewusstseins-Erweiterung, zum Umdenken? Nicht immer. Manchmal franst diese Kunst an den Rändern in Wirrnis aus.

Dass wir alle zu hohen Prozentsätzen aus Wasser bestehen, ist bekannt. Bei Yoko Ono wird auch aus diesem Befund recht umstandslos die raumgreifende Installation „We’re all Water”. 118 mit Wasser gefüllte Gläser sind aufgereiht, jedes säuberlich mit einem bekannten Namen beschriftet. Die Skala reicht vom Dichter Rilke über John Lennon bis zu Adolf Hitler. Sollen wir denken, dass die schiere Wässrigkeit all diese Gestalten einander angleicht? Das wäre heikel.

Yoko Ono hat auch eine frauenbewegte Ader. Drei aufgeschüttete Erdhügel stehen für verschiedene Formen der Gewalt gegen Frauen oder besser: für deren offenbar immergleiche Folgen. Gegenstück ist der „Familienraum”. Ganz egal, ob Spiegel, Frauenschuhe, Haarbürste, Kleiderbügel, Esstisch oder Kästchen – aus allen Gegenständen quillt Kunstblut. Häusliche Gewalt, auf einen einfachen, plakativen Nenner gebracht.

Hie und da werden Besucher zum Mitmachen angestiftet. Auf anfangs leeren Leinwänden sollen sie Bilder ihrer Mütter anbringen. Einen zerteilten und in Boxen verpackten Silikon-Körper soll man berühren („Touch me”); am besten ganz weihevoll, nachdem man die Hand in Wasser getaucht hat. Daneben läuft ein 25-minütiges Video, in dem sich eine Fliege nach und nach auf alle Partien eines nackten Frauenleibes setzt. Auch die befreite Phantasie fliegt, wohin sie will.

Vor allem aber sollen wir alle stets ganz fest an Frieden denken. Yoko Ono glaubt, dass dies die Energien umpolt – bis eines Tages wirklich überall Frieden herrscht. Das klingt einfältig. Oder sollten wir’s vorsichtshalber doch mal probieren – vielleicht zum Sound von Lennons Gassenhauer „Give Peace a Chance”?

Kunsthalle Bielefeld (Artur-Ladebeck-Str. 5). Bis 16. Nov. Di, Do, Fr, So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr. Eintritt 7 €

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ZUR PERSON:

  • Yoko Ono wird am 18. Februar 1933 in Tokio (Japan) geboren.
  • 1952 wandert sie dauerhaft in die USA aus.
  • 1956 erste Ehe mit einem Komponisten (bis 1962).
  • 1961 erste Galerie-Schau.
  • 1962 zweite Ehe mit einem US-Filmproduzenten.
  • 1966 lernt sie den Beatle John Lennon kennen.
  • 1969 Heirat mit Lennon auf Gibraltar. In den Flitterwochen das legendäre „Bed-In” (Ono und Lennon öffentlich im Bett) im Amsterdamer Hotel.
  • Viele Beatles-Fans machen bis heute Yoko Ono fürs Ende der Gruppe (1970) verantwortlich.
  • Ono und Lennon produzierten mit der Plastic Ono Band Songs wie „Give Peace a Chance”, „Cold Turkey” und „Mother”.
  • 1980 (8. Dezember): John Lennon in New York erschossen.



Klassische Lyrik im Rap-Sound

Es klingt wie ein simples Patentrezept: Wenn Kinder keine Gedichte mehr auf herkömmliche Art lernen wollen, dann sollen sie die Verse eben rappen. Mit dem rhythmischen Sprechgesang kehrt vielleicht die Freude an der Lyrik zurück.

Die Hoffnung mancher Eltern und Pädagogen hat einen Namen: „Junge Dichter und Denker” oder kurz „JDD” nennt sich die sechsköpfige Kindergruppe aus Buchholz (Nordheide/Niedersachsen). Die Mädchen und Jungen zwischen 11 und 15 Jahren haben kürzlich eine CD mit berühmten „klassischen” Gedichten herausgebracht – frisch und frech im Wechselgesang vorgetragen, mit vorwärts drängendem Beat unterlegt. Da klingen die Verse von alten „Haudegen” der Literaturgeschichte zuweilen so, als hätten diese gerade erst zur Feder gegriffen und mal eben ganz spontan unsterbliche Verse hingefetzt.

Laut neudeutscher Formulierung auf dem Plattencover haben folgende Leute die „Lyrics” (also: Texte) geliefert: Goethe, Schiller, Mörike, Heine und Fontane. Wow! Ihre Ohrwurm-Hits heißen beispielsweise „Erlkönig”, „Heidenröslein”, „Der Handschuh”, „John Maynard” und „Loreley”. Und das alles mit Kinderstimmen gerappt – man stelle sich vor.

Gewiss: Da klingt die eine oder andere Zeile auch schon mal putzig. Manchmal haben die Kontraste zwischen edler Wortwahl und lockerem Gesang ihren ganz eigenen Verfremdungs-Reiz. Aber nicht jede kostbare sprachliche Wendung lässt sich ins coole Rap-Schema zwängen.

Allerdings gibt es auch viele Passagen, die einen musikalischen Rhythmus bereits in sich tragen: Beispielsweise das „Walle! Walle! Manche Strecke . . .” aus Goethes „Zauberlehrling” und natürlich Fontanes „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland”. Beide Gedichte haben sich ja schon vor etlichen Jahren bei Achim Reichel als rock-tauglich erwiesen. Auch die zugespitzte Dramatik in den Balladen von Schiller und Fontane eignet sich für diese Darbietungsform.

Jede Gruppe braucht ihre Legende: Die ursprüngliche Idee zum ganzen JDD-Projekt soll die elfjährige Nicola gehabt haben. Sie musste für die Schule Mörikes „Er ist’s” („Frühling lässt sein blaues Band…) auswendig lernen, verspürte wenig Lust dazu – und auf einmal kam ihr der Rap in den Sinn: Die immergrünen Frühlings-Zeilen nahmen dabei zusätzlich Fahrt auf. Gemeinsam mit anderen feilte Nicola den Song nach und nach aus; dann kamen immer weitere Texte hinzu. Inzwischen können die Kinder eine Menge Gedichte auswendig. Na, wenn das nichts ist!

Jedenfalls traf es sich bestens, dass Nicolas Vater Addo Casper lange Musikmanager war und als Entdecker der „Fantastischen Vier” gilt. Er ließ seine Branchenkontakte spielen – und schon bald gab’s einen Plattenvertrag für Nicola und die anderen Kinder. Der Produzent Achim Oppermann sorgte sodann für den professionellen Zuschnitt. Es folgten Auftritte in diversen TV-Sendungen und jüngst in Til Schweigers Film „Keinohrhasen”. Das übliche PR-Programm also.

Bei all dem ahnt man, dass es sich um Nachwuchs aus so genannten „besseren Häusern” handelt, der ohnehin eher zum Lesen neigt. Ob das Gedichte-Rappen auch in sozialen Brennpunkten rasch weiterhilft, darf bezweifelt werden. Auch könnte man einwenden, dass hier sehr verschiedene Gedichte mehr oder weniger über einen musikalischen Kamm geschoren werden. Aber immerhin: Es ist ein Zugang zur Welt der Dichtung, den man nicht fahrlässig verschütten sollte.

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Info:

  • „Junge Dichter und Denker – JDD”. CD bei edelkids (ca. 16 Euro).
  • Die Gruppe besteht aus Nicola (11), Laura (11), Konstantin (12), Tim (12), Friederike (14) und Philipp (15).
  • Das Prinzip ist vielseitig anwendbar: Die sechs Kinder haben inzwischen sogar schon das Einmaleins gerappt, um Spaß an Mathe zu vermitteln.
  • Geplant sind gerappte Volkslieder. Ein Erfolgsrezept geht in Serie…



Wo man „Draufhauen“ studieren kann – Schlagzeuger Gereon „Gerry“ Homann ist Westfalens einziger Rockdozent an einer Musikhochschule

Von Bernd Berke

Münster. Marktgeschrei muss manchmal wohl sein, etwa so: „Erster Rock’n’Roll-Dozent Deutschlands: „lch muss immer auf irgendwelchen Sachen rumhauen!“

So kernig und boulevardesk empfahl die Uni Münster kürzlich den Schlagzeuger Gereon „Gerry“ Homann der öffentlichen Aufmerksamkeit. Teilerfolg: Die WR hat den Mann, der auch schon für den Dortmunder Kultrocker Philip Boa getrommelt hat, jetzt in Münster besucht.

Dass er Deutschlands erster Rock-Dozent sei, mag Homann (31) selbst nicht beschwören. Sagen wir mal: Westfalens erster Rock-Dozent. Ja, das dürfte stimmen. Vorher gab’s in dieser akademischen Sphäre nur Spezialisten für Klassik oder Jazz. Homann, selbst öfter bei jazzigen Sessions aktiv: „Die Grenzen waren früher starr und sind heute fließend.“

Die Fäden aufnehmen und weiterspinnen

2005 wurde der Job bundesweit ausgeschrieben, Homann durfte ran. Seither firmiert er an der Musikhochschule Münster als Lehrender für „Drum-Sets und Combo-Teaching“, sprich: Er bringt den Studenten Grob- und Feinmotorik fürs rockige Schlagzeugspiel bei und kümmert sich ums fruchtbare Zusammenwirken in einer Band. Genau auf die Anderen hören, die Fäden aufnehmen und weiterspinnen. Auf solider Basis. Aber auch spontan im Hier und Jetzt.

Nicht nur nebenher spielt Homann weiter in Formationen wie derzeit vor allem „Eat the Gun“. „Ohne Auftritte kann ich mir das Leben nicht vorstellen. Ich brauche das. Und die Studierenden haben etwas davon, dass ich weiter Band-Erfahrungen sammle.“

Unvereinbares Dasein zwischen der Uni und Konzerten vor bis zu 20 000 Leuten? Hier geht’s ganz beflissen zu, dort muss es ordentlich fetzen? Gereon Homann: „Nee, nee, gerade in der Band zählt auch Disziplin.“ Umgekehrt: An der Uni ist Spaß an der Sache beinahe Pflichtfach.

„Spuren der Seele“ sollen hörbar werden

Was lernen die etwa 18- bis 27-jährigen (überwiegend männlichen) Studierenden bei ihm? „Die können alle schon was. Sie haben eine schwierige Aufnahmeprüfung hinter sich. Wir versuchen dann im Einzelunterricht, die Technik Schritt für Schritt zu verbessern.“ Mühsame Feinarbeit. Wie schlägt einer auf die Drums, welche Wege nehmen seine Hände, welche Kraftlinien werden da sichtbar? Wie verändert sich ein bekannter Song, wenn er neu arrangiert wird? Von nichts kommt nichts. Von wegen „einfach draufhauen“.

Aber: „Technik ist längst nicht alles. Schlagzeuger sollen – wie alle Musiker – ,Spuren ihrer Seele‘ hörbar machen.“ Eigene Wege gehen, vielleicht unverwechselbar werden. Und: „Talent genügt nicht. Harte Arbeit ist gefragt, jeden Tag.“ Da ist sie wieder, die harte Disziplin. Wenn alles gut läuft, gründen die Absolventen später erfolgreiche Bands oder werden gefragte Studiomusiker. Manche wollen auch nur reinschnuppern und wenden sich dann der Klassik zu. Ein Umweg kann nicht schaden. Man muss erst spüren, wohin es einen zieht.

Spezielle Vorbilder? Homann: „Ich habe keine musikalischen Götter. Man kann bei so vielen etwas abschauen. Jede Musikrichtung hat ihre eigenen Emotionen.“ Und dann nennt er doch mit glänzenden Augen Phil Rudd, den Drummer von AC/DC. „Wenn der loslegt, ist pure Energie im Raum.“ Salopper gesagt: „Da gibt’s richtig was auf die Mütze.“ Okay.

Jetzt noch ein Foto. Gereon Homann, sonst ein ausgesprochen freundlicher Mensch, setzt dazu rasch eine aggressive Miene auf. Klarer Fall von Imagepflege. Zusatz-Begründung:„Auf Fotos wird überhaupt viel zu viel gelächelt.“ Ob er den Studierenden auch solche Tricks für die Karriere beibringt?

 

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ZUR PERSON

Mit sieben Jahren am Schlagzeug

  • Gereon „Gerry“ Homann (31) hat mit sieben Jahren erstmals am Schlagzeug gesessen. Es folgte eine Laufbahn in Schülerbands.
  • Sein Vater, Musikschulleiter, hätte den Sohn lieber am Klavier gesehen.
  • Statt dessen studierte Gereon Homann „Klassisches Schlagzeug“ an der Musikhochschule Münster, dann an der Folkwang-Hochschule in Essen. Abschluss 2002, im selben Jahr Folkwangpreis im Bereich Jazz.
  • Er spielt(e) mit Gruppen wie „Philip Boa & The Voodoo Club“ (bis 2003). „Black Gallon“, „Pussy Fever“ und „Eat the Gun“.
  • Mit „Eat the Gun“ auf Tour, u. a. in diesen Städten: 4. Oktober Köln (MTC), 12. 0kt. Soest (Sonic), 30. Nov. Lüdenscheid (Alte Druckerei).
  • Musikhochschule Münster, Ludgeriplatz 1. Tel.: 0251/48 233-61.
  • Klassisch orientierter Leiter der Schlagzeugklasse ist Prof. Stephan Froleyks.



Funny van Dannen: Einmal fröhliche Anarchie und zurück

Jetzt klampft und schrammelt er wieder: Funny van Dannen bleibt sich auf seiner neuen CD „Trotzdem Danke“ treu. Vielfach klingen seine Lieder spontan und unbehandelt, wie frisch am Lagerfeuer zubereitet.

Doch was mitunter naiv erscheint, ist natürlich ganz schön durchtrieben – und dann eben doch wieder herrlich unbekümmert. Mal so, mal so, oft beides verwoben. Mal scheu, mal keck. Der Mann ist kaum zu fassen.

Nicht weniger als 24 Songs hat der schräge Barde auf seine Einzelscheibe gepresst. In dieser Überfülle verpufft manch‘ nette Miniatur. Und es stellen sich gewisse Abnutzungseffekte ein. Aber insgesamt ist’s ein Vergnügen.

Man ahnt, welchen Vorläufern Funny van Dannen gelauscht hat. Beileibe nicht nur den ewigen Blues-Größen, sondern auch 70er Jahre-Liedermachern à la Hannes Wader und wohl sogar Erscheinungen wie Martin Lauer. Das war jener 110-Meter-Hürden-Weltklasseläufer, der in den frühen 60ern plötzlich grausliche Schlager mit Western-Touch vorgetragen hat. Andererseits reicht das breite Spektrum bis hin zu harschen Heavy Metal-Anklängen oder punktuellen Punk-Attitüden.

Sandra Bullock
einen Korb gegeben

Aus all dem gewinnt Funny van Dannen mit parodistischem Humor sein ganz eigenes Gebräu. Gleich zu Beginn schlüpft er in die Maske eines Hartz-IV-Empfängers, den vor Jahren Sandra Bullock hat heiraten wollen. Doch damals habe er dem noch unbekannten Hollywood-Sternchen einen Korb gegeben. Bei Funny van Dannen wirkt die hanebüchene Story nicht etwa zynisch, sondern (auf raffinierte Weise) unbeholfen.

Überhaupt diese kleinen, peinlichen Liebesdramen, die hier mit unschuldigem Sinn erzählt werden. Einem Kerl brennt die Gespielin mit einem Chinesen durch – „Scheiß-Globalisierung“. Ein penetrant wohlmeinender Freund verpetzt bei ihrem Partner eine gewisse Linda, denn – so der eingängige Refrain – „Linda treibt sich mit Bauarbeitern ‚rum“. Es ist eines der absurden Spitzlichter dieser Platte; allenfalls übertroffen vom „Dicken Ticket“, einer mutwillig selbstgebastelten Fahrkarte, die unversehens zum Zeichen utopischer Freiheit gerät. Bitte einmal fröhliche Anarchie und zurück. Fensterplatz.

Auch das Jammern beherrscht van Dannen: In „Mütter“ klagt der vierfache Vater die unverwüstlichen Glucken an, welche die Kinder allzeit fürs Leben verderben. Im waghalsigen „Kaputt“ werden im Sekundentakt sämtliche Leiden der Welt angehäuft. Wahrlich: Selbst ein Dichter wie Ernst Jandl hätte sich dafür nicht schämen müssen.

Aus solchen Verhältnissen erwächst eine Sehnsucht nach Einfachheit und Ruhe, nach Freiheit von bleischweren Gedanken. „An manchen Tagen geht nichts ohne Prager Gurken“, weiß eine bärige Blues-Zeile. Und überhaupt sollte man einfach mal die Straße runterlaufen wie Hund – so empfiehlt’s weiterer Song. Doppelter Frevel also, wenn einer seinen Fiffi „Gasprom“ nennt und so bei jedem Zuruf an politische Übel erinnert. Stoßseufzer im Lied: Warum denn nicht Hasso oder Purzel?

Immer wieder traut sich van Dannen auch, Momente des kleinen Glücks aufleuchten zu lassen – wie kaum sonst jemand. In „Genug gute Menschen“ spendet er umfassenden Trost: Wo immer man auch ist, es leben überall ein paar warmherzige Wesen. Dies ist gewiss die durchlittene, ungleich intelligentere Variante von „Du bist nicht allein“.

Funny van Dannen: „Trotzdem Danke“. CD bei JKP/Warner Music, ca. 16 Euro

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INFOS

  • Funny van Dannen wurde am 10. März 1958 in Tüddern an den Grenze zu den Niederlanden geboren. Der Ort gehört heute zu Selfkant (Kreis Heinsberg/NRW) und nennt sich „westlichste Gemeinde Deutschlands“.
  • Er ist gelernter Grafikdesigner, hat diesen Beruf aber nie ausgeübt.
  • 1978 siedelte er nach Berlin über. Er ist verheiratet und hat vier Söhne.
  • 1988 war er Mitbegründer der „Lassie Singers“. Deren Frontfrau Christiane Rösinger gründete wiederum 1998 die Gruppe „Britta“.
  • Viele Lieder der „Toten Hosen“ wurden von Fanny van Dannen geschrieben, beispielsweise „Bayern“ oder „Schön sein“. Auch Udo Lindenberg hat gelegentlich auf Funny van Dannens Schöpfungen zurückgegriffen.
  • CD-Auswahl: „Clubsongs“ (1995), „Uruguay“ (1998), „Herzscheiße“ (2003), „Nebelmaschine“ (2005).



Wenn Rockmusik zur Reife kommt – Düsseldorf: Lou Reed spielt sein stilprägendes „Berlin“-Album nach 34 Jahren erstmals live

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Die Wiederkehr von Rock-Heroen der 60er gerät stets auch zur Generationen-Beschau: Wer geht beispielsweise hin, wenn Lou Reed in Düsseldorf auftritt?

Es pilgern Leute aus ganz Nordrhein-Westfalen in die Philipshalle. Vom Leben ledrig gezeichnete Altfreaks sind reihenweise dabei; aber auch jüngere Fans, die ahnen, dass Reed seit jeher „cooler“ ist als manche, die sich heute so gebärden. Zudem finden sich in dieser Gemeinde wahrhaftige Wiedergänger. Einer hat sich so gestylt wie der Pop-Künstler Andy Warhol (der Lou Reed einst mit dessen legendärer Truppe „Velvet Underground“ förderte), und eine Frau kommt wie Janis Joplin daher. Fast gespenstisch.

Bereits 1973 hat Lou Reed seine vielleicht finsterste Platte herausgebracht, die manchen als sein stilprägendes Meisterwerk gilt: Das als eine Art Rockoper angelegte Konzept-Album „Berlin“ taumelte durch ein schier auswegloses Labyrinth zwischen Drogen, Sex, Gewalt und Tod. Die bedrückende Mauer-Atmosphäre in der damals geteilten Stadt stand auch als Menetekel für die Depression eines verzweifelten Junkie-Paares. Übrigens kannte Reed die Stadt seinerzeit nur vom literarischen Hörensagen.

Eine Gesichtslandschaft wie Keith Richards

Lou Reed befand, dass die Zeit reif sei, das gesamte Opus erstmals live zu spielen – 34 Jahre danach. Der prominente US-Maler Julian Schnabel, der auch die wohltuend zurückhaltende Konzert-Inszenierung inspirierte, soll ihn dazu bewogen haben. Natürlich führte die Tournee auch nach Berlin. Doch Düsseldorf war im deutschen Westen die einzige Chance, den Mann mit der exzessiven Vergangenheit zu erleben. Die Gesichtslandschaft des 65-Jährigen erinnert denn auch an Keith Richards von den Stones. Solchen Kerlen glaubt man vieles, auch Bizarres.

Auf der Bühne steht beileibe nicht nur die klassische Gitarren-Band. Da versammelt sich eine rund 30-köpfige Formation – mit Streichern, Bläsern, Kinderchor und der Begleitsängerin Sharon Jones, die nicht raspelt, sondern gospelt. Welch ein Kontrast zu Lou Reeds Reibeisenstimme, die sich am besten auf lässigen, trockenen, schmutzigen Sprechgesang versteht! Puristen ist dies am liebsten. Und wenn Reed eines seiner energischen Gitarrenduelle mit Steve Hunter (schon 1973 dabei) austrägt, möchte man gern auf den Instrumenten mitreiten – notfalls durch jede Schleife der Geisterbahn.

Unverwüstliches Song-Material

Der Song-Reigen ist neu arrangiert worden. Über weite Strecken geht es deutlich druckvoller, rockiger zu als im Uralt-Original, hie und da freilich auch noch etwas bezuckert, leicht überproduziert. Hochkulturelle Ambition scheint gelegentlich dem schnurgeraden Ausdruck in die Quere zu kommen. Doch das starke Material (Titel wie „Men of Good Fortune“, „Caroline Says“, „How do you Think it Feels“) ist ja gar nicht kleinzukriegen. Und oft genug fügen sich Streicher, Chor und scheppernde Gitarren tatsächlich zu beinahe schon surrealen Harmonien.

Im Song „The Bed“ beschwört Lou Reed die desolate „German Queen“ Caroline, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Einst hatte die Klage einen eher zynischenUnterton. Heute hört sie sich gebrochen an, melancholisch, tief traurig, von Erfahrung und Wissen getränkt. So klingt lang gereifter Rock.

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ZUR PERSON

Einfluss bis zum Punk

  • Lou Reed wurde 1942 in Freeport/New York geboren.
  • 1965 gründete er mit John Cale und Sterling Morrison „Velvet Underground“ – mit Langzeit-Einflüssen bis in die Punk-Szene hinein.
  • Legendär die Platte mit Bananen-Cover, an der die deutsche Sängerin Nico mitwirkte.
  • Ab 1972 Solokarriere. Alben wie z. B. „Transformer“, „New York“ und „Ecstasy“.
  • Drei seiner Hits waren Zugaben in Düsseldorf: „Sweet Jane“, „Satellite of Love“ und „Walk on the Wild Side“.



Alles ist schön – besonders das Geld / Ein Phänomen des Zeitgeistes: Heute vor 20 Jahren starb der Pop-Künstler Andy Warhol

Von Bernd Berke

Der Kerl war ziemlich unfassbar, und er gibt bis heute Rätsel auf. Eine verstörend maskenhafte Erscheinung war diese bleiche männliche Diva – mit starkem Hang zu Kommerz und Glamour, doch auch zum düsteren Inferno des Lebens. Heute vor 20 Jahren ist der legendäre Pop-Künstler Andy Warhol nach einer Gallen-Operation gestorben – unter letztlich ungeklärten Umständen.

Der vormalige, schon gegen Ende der 50er Jahre gut bezahlte Werbegrafiker hat nach 1960 gar vieles in die Kunst eingeschleust, was vorher nicht drin war. Vor allem: blanke Reklame-Ästhetik, grelle Konsum-Fetische. Und eine „coole“ Haltung, wie man sie vorher kaum gekannt hatte. Nicht nur die Kunst, auch die Gestalt des Künstlers hat sich mit ihm noch einmal schillernd gewandelt. Gelegentlich hat Warhol gar das Menschenbild überschritten und sich zum quasi maschinellen Phänomen stilisiert.

Glorienschein für die banale Welt der Waren

Bevor die Linke sich anschickte, den „Konsum-Terror“ zu geißeln, glorifizierte Warhol die banale Warenwelt mit Serienbildern von Campbell’s-Suppendosen, Cola-Flaschen und Dollarnoten, die unter seiner Hand zu Ikonen der Zeit wurden. Ehe liebreizend harmlose Hippies von befriedeten Blumenwelten träumten, vervielfältigte er 1963 ungeniert schockierende Pressefotos von Unfällen und Selbstmördern ins Riesenhafte. Und wo andere mal vorsichtig Haschisch probierten, kursierten in Warhols kaputten Kreisen ganz selbstverständlich die harten Drogen.

Andy Warhol hat sich und seine Kunst vermarktet wie niemand zuvor. Ja, er hat just Geschäfte als Kunstform gepriesen. Zitat: „Ein gutes Business ist die faszinierendste Kunst überhaupt.“ So könnte auch ein Börsen-Guru reden. Joseph Beuys behauptete, jeder Mensch könne ein Künstler sein. Warhol postulierte: „Alles ist schön.“

Anything goes – auch schon mit Videotechnik

Klingt ja wirklich tolerant, kann aber geradewegs auf Verächtlichkeit und auf fürchterliche Nivellierung hinauslaufen. Alles gilt dann gleichermaßen viel oder wenig. Warhol ist Vorläufer einer so genannten Postmoderne, die sich um ästhetische Wertigkeiten und Hierarchien nicht mehr bekümmert: Anything goes. An der Spitze des Zeitgeistes betrieb er seine Sache so multimedial, wie es seinerzeit nur irgend möglich war. Auch die Videotechnik hat er als einer der ersten Künstler genutzt. Hätte er das Internet schon gekannt, so hätte er es wohl entscheidend mitgeprägt.

In seiner New Yorker „Factory“ (Fabrik) jedenfalls, wo sich Durchgeknallte jeder Sorte unter seinem Leitstern ausleben durften, entstanden nicht nur Siebdruck-Bilder (Porträt-Motive von Monroe bis Mao) wie am Fließband. Hier tobte sich die von Warhol geförderte Rockformation „Velvet Underground“ (Lou Reed, John Cale, Nico & Co.) im Stroboskop-Gewitter aus. Warhol schuf das berühmte Bananen-Cover der finster charismatischen Gruppe.

Monströse Filme aus der „Factory“

Im Umfeld der „Factory“ entstanden monströse Filme wie etwa „Empire“ – ein achtstündiger, starrer Kamerablick auf das Empire State Building. Oder wüste Streifen mit schäbigem Porno-Touch wie „Flesh“, „Trash“, „The Chelsea Girls“ und „Blue Movie“. Es war Warhol keinesfalls wurscht, was diese chaotische Werkstatt ausstieß. Alles musste am Ende seinen Stempel tragen. Trotz allem Laissez-faire ließ er in diesem Punkt nicht mit sich spaßen. Er galt als „Kontrollfreak“.

Wie ein Vampir, der das Leben aussaugt, fotografierte Warhol alles und jeden mit seiner Polaroid-Sofortbildkamera (damals eine avancierte Apparatur), am liebsten freilich Prominenz wie etwa Brigitte Bardot oder Bianca Jagger, die er auch bei den berüchtigten Partys im New Yorker „Studio 54″ um sich scharte. Denn da witterte er stets schon den Duft des Geldes, das diese Bilder einbringen würden. Er verlangte (und bekam) alsbald um die 30 000 Dollar für jedes Porträt.

Apropos: Die Preise für seine Werke haben jüngst noch einmal enorm zugelegt. Ein Mao-Bildnis von 1972 erzielte kürzlich in New York den Rekordpreis von 17,4 Millionen Dollar. Solche Zahlen hätten Warhol sicherlich gefallen.

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ZUR PERSON

Eltern aus der Slowakei

  • Warhol wurde am 6. August 1928 als Andrej Warhola in Pittsburgh (USA) geboren.
  • Seine Eltern waren slowakische Einwanderer.
  • Mit 21 zog er nach New York, wurde Werbegrafiker und zeichnete für Magazine wie „Glamour“, „Vogue“ oder „Harper’s Bazaar“.
  • Seine erste Ausstellung als Künstler hatte er 1962 in einer Galerie in Los Angeles. Er zeigte Bilder von Campbell’s-Suppendosen.
  • 1963 gründete er die „Factory“ in New York.
  • 1968 schoss die radikale Frauenrechtlerin Valerie Solanas auf Warhol. Er wurde lebensgefährlich verletzt.
  • Später vermarktete er jene Bilder, die durch die Schüsse durchlöchert worden waren .. .

 




Essenzen von Liebe und Abschied – Charles Aznavour in der Essener Philharmonie

Von Bernd Berke

Essen. War es ein Abschied für immer? Man mag es kaum glauben.

Der große französische Chansonnier Charles Aznavour hat am Montag Abend in der ausverkauften Essener Philharmonie eine kurze Deutschland-Toumee triumphal beendet. Angeblich soll es sein letzter Bühnenauftritt in unseren Breiten gewesen sein. Doch schon mehrmals hat er auf ähnliche Weise Adieu gesagt. Warten wir’s ab.

Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd. So existenzialistisch erwartet man es von ihm. Dann seine unvergleichliche Stimme, scharf umrissen und doch zartfühlend. Ganz wie früher. Der Mann soll 81 Jahre alt sein? Auch seine Bewegungen lassen beim zweistündigen Konzert keinerlei Müdigkeit erkennen. Er kann es sich leisten, mit vermeintlicher Vergesslichkeit („Wie hieß noch mal diese Zeile?“) zu kokettieren.

In seinen Chansons (rund 1000 hat er inzwischen verfasst) sind Essenzen von Liebesüberschwang, schmerzlichen Abschieden und vergänglicher Jugend auf höchst kultivierte Weise aufgehoben. Untröstliche Momente und die Feier einer wunderbaren Lebensfülle sind hier keine Widersprüche. Vor allem aber: Die Liebe kann niemals lächerlich sein …

Man traut ihm durchaus zu, dass er selbst noch erotisch entflammt. Wenn er auftritt, fühlt man jedenfalls ein aufregend charmantes Paris, seine Boulevards und Bistros immer mit. Klischees also, doch in Vollendung stilisiert.

Natürlich singt er auch einige seiner größten Erfolge: „Les comédiens“, „Sa jeunesse“, „II faut savoir“, „Tu te laisse aller“ (Du lässt dich geh’n), „She“ und „La bohème“. Er hat keine Scheu vor Pathos, vor den ganz großen Gefühlen, beinahe schon im Kitsch-Bezirk. Auch solche Grenzgänge kann sich einer wie Aznavour erlauben. Bei wem sonst erstrahlt selbst die Melancholie so herrlich und würdevoll?

Mit äußerst sparsamen, doch ungemein wirkungsvollen Gesten lenkt Aznavour den rauschenden Beifall des Publikums – und die Band, die zwischen Jazz, Swing, Chanson und gehobenem Schlager so manche Nuancen beherrscht. Zum musikalischen Begleitpersonal zählt auch seine Tochter Katia, mit der er im Duett „Je voyage“ vorträgt. Die junge Frau kann auf jene entzückend französische Weise naiv klingen – wie einst France Gall oder die frühe Françoise Hardy. Hach!




Nichts zu verlieren – neue CD der Kölner Band „Erdmöbel“

Von Bernd Berke

Besser kann’s kaum anfangen: Schon der Titelsong ist eingängig, die Harmonie zum Refrain erinnert wahrlich an die Beatles. Wer schafft das?

Immer noch ein Geheimtipp: Die Band heißt „Erdmöbel“ (also: Sarg) und kommt aus Köln. „Für die nicht wissen wie“ ist das sechste Album seit 1996. Musikalisch geben sie jeder Platte eine andere Grundfarbe – von Elektronik-Rock über Chanson bis zum 60er Jahre-Sound. Textlich bewegen sie sich auf einem Niveau, das bei uns sonst kaum erreicht wird. Wenn ein Vergleich sein muss: Sven Regeners lakonische Poesie für „Element of Crime“, das wäre in etwa die gleiche Liga.

Der Gründer und Songschreiber von „Erdmöbel“ heißt Markus Berges. Er singt unverkennbar. Sehr entspannt, lässig und zuweilen träge bis zur Trance. Titel wie „Nichts zu verlieren“ öder ein „Lied über gar nichts“ sind stimmungstypisch. Stets melancholisch, nie verzweifelt. Das Richtige zum Abhängen und Nachsinnen. Trotzdem ist das meiste tanzbar.

Englisch passt in aller Regel besser zum Rock-Rhythmus. Doch gerade das gelegentlich Holprige am Deutschen kann enorme Qualitäten entfalten, wenn es so phrasiert wird wie hier. Nicht, immer flüssig geht’s voran, sondern zuweilen stockend – und daher umso druckvoller, wenn der fein kalkulierte Wortstau sich löst.

„Erdmöbel“ hat, wie schon der Bandname ahnen lässt, einen Hang zur höheren, manchmal morbiden Schrulligkeit. Beinahe dadaistisch wird ein offenbar weitläufig bedrucktes Schlafgewand gepriesen: „Was ich an deinem Nachthemd schätze / sind die orangenen Tennisplätze / im Wald der Wendehammer für die Feuerwehr / das Binnenmeer…“ Gesungen klingt das wie die schönste Liebeserklärung der Welt.

Als „Nah bei dir“ hört er sich abermals ganz unverbraucht an: Burt Bacharachs sanft eindringlicher Klassiker „Close to You“, in den 70ern ein Hit der Carpenters und auch von der jüngst „wiederentdeckten“ Französin Claudine Longet gecovert. Von solchen Traditions-Linien lebt die Musik. Und wie!

• Erdmöbel: „Für die nicht wissen wie“. CD bei tapeterecords / Live am Freitag, 7. Oktober, im Dortmunder FZW.