Otto ist jetzt die Otto-Waalkes-Coverband

Gitarre her, Finger fliegen, Ulkgesicht, Gag, Gag, Stimme hoch, runter, Zack, Pfiff, Schnalz, Gag, Gag, Gitarre in die Ecke rumpeln und weiter geht’s.

Das war Otto damals – in den 70ern. Es wird Nacht, Señorita, klonk-zisch-kuckuck-pfeif, und ich habe kein Quartier…

Solche Dinge Lacher halt. Rasant, anarchisch, chaotisch. Unerreicht.

 

Die alten Stücke – nur langsamer

Otto 2011 ist anders. Otto 2011 ist: Hollerahitti, schaut mal, wen das kleine Ottili euch mitgebracht hat. Louis Flambé, Harry Hirsch, die Ottifanten und Robin Hood, der Rächer der Enterbten. Puh, war das anstrengend – erst mal ’ne Pause!

Otto Waalkes ist gewissermaßen eine Otto-Waalkes-Coverband geworden. Er spielt die alten Stücke nur an, selten zu Ende, viel langsamer als damals, dafür mit mehr Pausen und viel mehr Publikums-Beteiligung.

Hallo Dooortmund. – Hallo Oootto.

 

Das Publikum singt selbst

Dreist wird es, als sich Otto die Gitarre schnappt, rhythmisch anschlägt und singt: „Weine nicht, wenn der Regen fällt.“ Der Saal antwortet mit „Dam dam“, mit dem ganzen Rest von „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Waalkes treibt das Spiel weiter. „Er gehört zu mir“, „Wahnsinn“, „Das geht ab“, „Ein Stern“ – Otto spielt Gitarre, das Publikum singt minutenlang. Jede Coverband würde sich freuen, so leicht ihr Geld zu verdienen.

Dann hätte ja eigentlich er Eintritt bezahlen müssen, witzelt Otto. Der Saal lacht. Zwei Stunden später denkt manch ein Zuschauer sicherlich: Stimmt, Otto, das hättest du tatsächlich.

 

Imitieren, improvisieren, grimassieren

Otto kann immer noch schnellsprechen, imitieren, grimassieren, die Stimmlage nach Belieben wechseln. Wenn etwas schiefgeht, improvisiert er gekonnt. Er platziert neue Gags punktgenau. Das Handwerkszeug beherrscht er.

Waalkes (63) geht auf Nummer sicher. Mario Barth, Lady Gaga, Satellite-Lena und Unheilig sind bekannt genug, dass er ihnen Platz im Programm gibt. Ansonsten tun’s halt wieder Peter Maffay, Reinhard Mey, Udo Lindenberg.

 

Hingehen? Höchstens deshalb

Also hingehen? Waalkes wählen? Otto onschauen? Höchstens aus zwei Gründen:

  1. die gelungene Zeichensprachen-Nummer. „Schwerte“, „Obercastrop“, „Langendreer“, „Lütgendortmund“ und „Hombruch“ werden anzüglich und mit zwei Fahnen dargestellt.  Wer seinen Ort mal so sehen will – ab an die Restkarten.
  2. Ottos Status. Waalkes Superstar. Er ist nun einmal der Comedy-Urahn in Deutschland. Wer denkt „den muss man doch irgendwann mal live gesehen haben“, der sollte ihn mal live sehen gehen.

 

Allen anderen: www.youtube.com

Oder – noch besser: „Live im Audimax“, am allerbesten aus der alten Plattensammlung.




Abschied von Loriot

Es darf doch nicht wahr sein. Es soll doch bitte nicht stimmen!

Die Nachricht vom Tode Loriots macht sehr, sehr traurig. Doch sie macht die meisten nicht sprachlos. Denn nun lassen alle die Loriot-Sprüche oder sonstigen Werkpartikel vom Stapel, die ihnen ans Herz oder gleichsam ans Zwerchfell gewachsen sind. Auch das Netz vibriert heute vor lauter Hoppenstedt, Müller-Lüdenscheidt, Die Ente bleibt draußen, Heinzelmann und allem anderen. Wie wohltuend und entlastend, wenn man die Trauer ins kollektive Lachen kleiden kann – oder wenigstens in eine wehmütige Erinnerung an einstigen Frohsinn. Möge man ihn nur nicht irgendwann auf den „Hausschatz des goldenen Humors“ reduzieren. Er steht für ganz andere Dimensionen.

Das weithin presseübliche Verfahren, einen alten Artikel (etwa zum 80. oder 85. Geburtstag) „wiederzubeleben“, indem man ihn beinahe wortgleich wiederholt, um Geschehnisse der letzten Jahre sowie ein paar Trauerformeln ergänzt (und an den richtigen Stellen in die Vergangenheitsform setzt), das alles wollen wir uns hier ersparen.

Wir setzen nur noch schnell einen Link.

Dann sind wir endlich still und blättern abends leise in seinen wundervollen Büchern.




Pleurants – Trauernde

Mein Vater liegt auf demselben Friedhof wie die Krupps begraben, wenngleich sehr viel bescheidener. Die Krupps – zumindest die Männer der Familie – ruhen unter veritablen Denkmälern. Hier ein Adler, dort eine trauernde Schönheit, wie sie im 19. Jahrhundert zur internationalen Friedhofsmode gehörte. Eine lebensgroße Skulptur aus Bronze, die – Allegorie hin oder her – unter nur angedeuteten Schleiern ihre vollen Brüste über dem Kopf des Industriebarons schaukeln lässt, lasziv wie ein Groupie über dem Grab von Jim Morrison, sinnlich wie Maria Magdalena am Fuß des Kreuzes. Was haben halbentblößte Weiber, die nicht zur Familie gehören, auf den Grabplatten von Industriellen zu suchen?

Ich denke an Mutter. Als mein Vater starb, waren die beiden vierundfünfzig Jahre verheiratet. Mutter erzählte mir später, Vater sei ihr erster und einziger Mann gewesen. Ich glaube ihr. Wenn jemand ein Recht hat, den Tod meines Vaters zu betrauern, dann Mutter. Aber sie als weinende Statue auf Vaters Grab? Schlecht vorstellbar. Oder doch? Als hyperrealistische Skulptur, wie beispielsweise Duane Hanson oder Edward Kienholz Menschen aus Glasfaser und bemaltem Polyesterharz nachbildeten? Oder als Heldin des Alltags, wie sie als „Säulenheilige“ auf Düsseldorfer Litfaßsäulen stehen? Meine Mutter, 85-jährig, klein und verhutzelt über ihren Rollator gebeugt, eine angemessene Versinnbildlichung einer Trauernden.

Pleurants beiderlei oder unbestimmten Geschlechts existieren in der Grabkunst zumindest seit dem 14. Jahrhundert. Unter den 40 Trauernden, die in Dijon die Grabplatte Philipp des Kühnen tragen, befinden sich mehrere düstere Kapuzengestalten, die sich auch als Fährmänner zu Böcklinschen Toteninseln eignen würden. Jedoch hielt die als Frau personifizierte Trauer mit der erotischen Verheißung eines erfüllten Jenseits erst im 19. Jahrhundert europaweit Einzug in die Friedhofskunst.

Warum protestierten die tatsächlichen, die nicht-allegorischen Ehefrauen, die ihre Männer überlebten, nicht gegen die in Kupfer gegossenen fremden Nackedeis auf den Grabstätten? Meine Mutter hätte sich dagegen verwahrt, aber sie lebte ja auch hauptsächlich im 20. Jahrhundert.

Mir persönlich – als Mann – würde der Gedanke gefallen, über meinem Skelett würden verewigte Trauernde dauerhaft um mich weinen. Für mein Grab wünsche ich mir sechzehn Pleurantes. Mindestens vier, aber besser sechzehn. Das bringt meine Nachlassverwalter in größere Schwierigkeiten. Denn natürlich muss jede der weinenden Figuren lebensgroß sein, nicht so klein wie bei Philipp dem Kühnen. Wer meinen Geschmack kennt, weiß, dass „lebensgroß“ mindestens 1,80 m bedeutet. Das gibt ein Gedränge von in kurzen Röcken stehenden, sitzenden, liegenden, sich vor Trauer die Brust zerkratzenden, sich die Kleider vom Leib reißenden Weinenden, ein Knäuel aus Trauernden, unter denen ich begraben sein möchte (wenn es Zeit ist).

auf dem Friedhof in Essen-Bredeney

Grab eines Industriebarons




Alles ist ermattet, doch Elvis lebt!

Elvis als Automaskottchen (Bild: Bernd Berke)

Elvis als Automaskottchen (Bild: Bernd Berke)


Die Mehrheit der „Revierpassagen“-Autorinnen und Autoren ist derzeit auf Reisen, weite Bereiche des Kulturbetriebs haben jetzt eh geschlossen. Ohnehin hat der Müßiggang seine unwiderstehlichen Reize…

Aber das ist ja das Schöne am Bloggen. Während Zeitungen im Druck und mit ihren Ablegern im Netz sich abquälen müssen, trotz alledem täglich ihre Seite(n) zu füllen (ein bis auf weiteres unvergängliches Motto dabei: „Große Bilder sind schnell geschrieben“), können wir es zuweilen geruhsamer angehen lassen.

Aus gutem Grund haben wir niemandem tägliche Lieferungen versprochen, erst recht kassieren wir nicht für Abo oder Einzelverkauf, auch erheben wir keinerlei Gebühren, stecken ferner null Subventionen oder sonstige Zuschüsse ein.

Doch wenn auch die hiesige Kulturkritik ein wenig ermattet darnieder liegt und sich allenfalls zum sommerlichen Kriechgang aufrafft, so steht doch eines felsenfest: Elvis lebt! Auch unser bei typischem Sommerwetter entstandenes Fotos beweist es wieder.




Horst Evers: Notizen aus dem skurrilen Alltag

Für Eile fehlt mir die Zeit Wenn sie ihm auch für Eile fehlt, für eine neue Buchveröffentlichung hat Kabarettist Horst Evers die Zeit gefunden. Wie in den fünf vorangegangenen Büchern ist auch dieses eine Sammlung von Alltagsgeschichten – von skurril bis surreal.

Evers, der den Namen seiner Geburtsstadt Evershorst (Niedersachsen) als Pseudonym benutzt, ist leidgeprüfter Wahlberliner und findet nicht nur, aber bevorzugt dort die Sujets seiner mit Lokalkolorit gewürzten Geschichten. „Wir nehmen allen Berlinern die Hunde weg und geben ihnen dafür 4 Eier. Dann lägen auf den Bürgersteigen Eier und wir hätten das ganze Jahr Ostern“. Spätestens seit dem „Ganzkörperadventskalender“ und Auftritten beim „Satiregipfel“ in der ARD ist er auch über die Grenzen seiner Wahlheimat hinaus bekannt.

Die Erzählungen sind unterteilt in die Abschnitte Frühling, Sommer, Herbst, Winter und zweiter Frühling. In ihnen beschreibt Evers Alltagssituationen mit hohem Wiedererkennungswert – vom heimischen Innenhof bis zur Fahrt mit der deutschen Bahn. So wie die Geschichte vom Vater, der verzweifelt versucht, zur Vervollständigung der Hausaufgaben seiner Tochter ein Säugetier mit U zu (er)finden. Wobei der Leser die Situationen zwar oft wiedererkennt, aber mit einem insgeheimen Seufzer der Erleichterung denken mag „Gut, dass wir soweit noch nicht sind.“ Um mit dem nächsten Seufzer zu zweifeln „Könnte aber jederzeit so weit kommen“. Manch überzeichenete Alltagssituation ist eben nur einen Schritt von der Real-Satire entfernt.

Horst Evers zeichnet seine Figuren und Geschichten wohl mit spitzer Feder und zumeist feiner Ironie, doch ein Meister der gehobenen Bösartigkeit ist er nicht und möchte das wohl auch nicht sein. Zielsicher legt er den Finger in die Wunden, aber er dreht ihn nicht auch noch um. Sich selber und seine zuweilen eigenwilligen Erziehungs- und Lebensbewältigungsmethoden verschont er dabei nicht. Nicht immer gelingt ihm dieser sprachliche Balanceakt. Kalauer wie „hätte,hätte, Herrentoilette“ sind der Lesbarkeit nicht unbedingt dienlich. Evers beginnt seine Geschichten witzig, um im Laufe des Erzählflusses vom „Höcksen auf Stöcksken“ zu kommen. Das ist zwar recht unterhaltsam, führt aber dazu, dass sich die Kreise seiner Geschichten nicht immer rund schließen und manchmal auch ins Klamaukige abdriften. Gut hingegen gelingt ihm der Kunstgriff, Figuren wie „Jack Bauer“ oder „Captain Kirk“ in seine Geschichten einzubauen und zu zeigen, wie diese die Situationen gelöst hätten.

Informiert man sich im Internet über Evers, sei es auf seiner Homepage oder in diversen Videoaufzeichnungen seiner Auftritte, verdichtet sich der Eindruck: Das Buch alleine funktioniert nur bedingt. Als Gesamtkunstwerk – mit den Hintergrunderläuterungen auf seiner Website oder gehört und vorgetragen – wirken die Geschichten erst richtig.

Im Internet wird  Horst Evers im Übrigen schon lange heimlicher und unerkannt gefeiert. Obwohl ich vor der Lektüre weder Leseproben noch Videos zu den Geschichten gesehen hatte, kam mir doch etliches sehr bekannt vor. Wohl aus dem Kurznachrichtendienst meines Vertrauens, wo der ein oder andere Spaßvogel sich griffiger Evers-Sätze bedient und diese ins „Twittuniversum“ zwitschert. Verständlich. So manche seiner Sätze und aufgeworfener Fragen wie „Was könnte man nicht alles machen, wenn man sich mal die Mühe machen würde“ oder mein Favorit: „Solche Orte gibt es ja, wo ein Gespräch über Tanztheater einfach nicht richtig in Gang kommt“ funktionieren in der Tat einzeln signifikant besser als im Kontext. Die alte Formel „Nachahmung ist eine hohe Form der Anerkennung“ gilt wohl auch für Horst Evers.

Horst Evers: „Für Eile fehlt mir die Zeit“. Rowohlt Verlag, Berlin. 222 Seiten, 14,95 Euro

Homepage des Autors:  www.horst-evers.de




Dem Ruhrpott seine Sprache

Mit de Sprache in unserm feinen Pott der Ruhr iss datt ja sonne Sache! Viele tun datt Ruhrie-Dialekt ja sowatt von schmähen und finden et einfach nur schäbich! Ich sach Euch hier und heute: Tutto kompletto zu Unrecht! Wochenlang ham wa hier geforscht und phänomenale sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zutage gefördert. Iss ja klaar.: Hochmoderne Fördertechnik war schliesslich schon imma die Domäne in unserm Revier! Ergebnis: Wer nämlich die hochkomplexen Strukturen des Ruhrpott-Deutsch nicht verstehen tut, der offenbart unflexible Bildungsgeschmeidigkeit und mangelnde Lateinkenntnisse! Jaha. So sieht datt nämlichst aus.

Tun wa ma ganz banal mit de Aussprache anfangen: Gelsenkirchen-Buer oder Oer-Erkenschwick spricht der Nichtwissende gerne mal als Bür oder Ör aus. Der Lateiner hingegen weiss sofort Bescheid. Datt ist wie von janz früher. Wir hier, wir halten Traditionen hoch. Et heisst Bu-er wie im lateinischen pu-er, der Junge. Und erst die Endungen diverser Ortsnamen, sie zeigen ebenfalls tiefe romanistische Verwurzelung. Bochum z.B. – eine klassische Endung. Kann sogar dekliniert werden nach lateinischen Vorbild (Genitiv Bochi, Dativ Bocho). Stadttteile wie Styrum, Karnap, Fulerum, Ardey, wenn das keine römischen Ursprünge sind, die hier bis heute geehrt werden. Ach, und alleine das Wort Ruhr. Es kommt vom lateinischen Wortstamm rurus. Rure bedeutet auf dem Lande, Rus Ruris kann das Land bedeuten, aber auch die Weite und der Raum.

Richtig interessant wird es aber, wenn man in die Tiefen der Grammatik eintaucht. Das klappt bei einem Neuzugang im Ruhrpott ohne Latein Kenntnisse sowatt von gar nie nich. Wer im Lateinischen nie den Vokativ geübt hat, der wird niemals heimisch werden hier. Der nicht Ruhrie-Kundige würde jede Anrede einleiten mit einem „Ey, Du Doower!“ Datt aber, verehrte Freunde der Sprachjonglierkunst, geht sowatt von überhaupt gar nicht. Hier sacht man „Ey, Du Doowen“ und nix, aber auch nix anderet!

Sehr wichtig sind auch Kenntnisse fein abgestufter Zeitnuancen, sprich Gerundium und Gerundivum: Er iss am spinnen. Ich bin am machen dran. Wir sind am machen dran am tun. Eine der schwierigsten lateinischen Finessen, der Hortativ, wird ebenfalls bis heute im Ruhrpott verwendet. Anderswo schon längst verschwunden, wir hier sind dessen mächtig. Ergo klassische Übersetzung der lateinischen Aufforderung Dicemus: „Womma so sagen ……….“

Ebenso sind im Ruhrpott-Sprech Dativ und Akkusativ nicht so leicht vorauszusagen. Die Regel lautet: Bei den Verben des Setzens, Stellens, Legens fragt man im Lateinischen „Wo“, im Deutschen „wohin“. Aber nicht überall in deutsche Landen. Wir innem Pott, wir können die Hochform: „Stell mich ma datt Glas auffen Tisch“ oder „Ich gehma im Bett.“. Umgekehrt kommt oft da, wo im Deutschen ein Dativ steht, im Lateinischen unerwartet ein Akkusativ. Ganz wie bei uns. „Datt Bad iss hinter die Tür.“ Der aufmerksame Leser ahnt jetzt schon, dass manche angeblich falsche Verwendung des dritten oder vierten Falls in Wirklichkeit der Ablativ ist. „Komma bei mich bei“ oder „ich geb ihm datt mit bei!“ Auch die Diskussion, ob es „zu Aldi oder nach Aldi“ heissen muss – überflüssig. Der Pötter iss da ganz Partizip Präsens Aktiv und geht ma flugs „ebent beim Aldi einkaufen“.

Fazit : Wer hier bei uns kommen will, der hat mit nem kleinen, feinen, schicken Latinum ’ne solide Basis. Den Rest, den kricht er von uns locker gelernt!




Ein Dortmunder Stillleben

Vanitas – alles Irdische ist eitel und vergänglich. Dieser Umstand ist auf barocken Bildern hinreichend beschrieben worden. Eine erfrischende Neu-Interpretation erfuhr das Genre nun durch einen unbekannten Installationskünstler auf der Dortmunder Kampstraße. Die Materialien: Mixed Media (Glasflasche, Taubenleiche, Heckenrosen).

Neu ist einerseits, dass der Anonymus organische Materialien verwendete und damit quasi die Dimension der Zeit, die Vergänglichkeit, nicht nur anhand von Symbolen andeutet, sondern gleich damit arbeitete. Schon Stunden später vermutlich wird ein unwissender Flaschensammler oder Straßenreiniger das Arrangement zerstört haben, und wenn nicht, täten Insekten das ihre, das Bild zu zerstören, indem sie das tote Tier schändeten. Auch die Heckenrosen würden verblühen.

Erfrischend ist andererseits die Erweiterung der Symbolik: Statt Geige, Schmuck oder Büchern steht hier die Pilsflasche stellvertretend für jene Dinge, denen wir Wert beimessen. Statt Totenkopf , Sanduhr, Kerze oder welkender Blume symbolisiert eine tote Taube für das jedem Leben immanente Ende. Ein Dortmunder Stillleben.

 

 




Gsellas Schmähgedichte: Jede Stadt ist fürchterlich

Da haben wir also das nächste Listen-Buch: Stichwörter anhäufen, launig assoziieren, alphabetisch abhaken – und fertig. Nach dem Muster entstehen mittlerweile nennenswerte Anteile des Buchmarkts. Doch hier verhält es sich etwas anders.

Der geübte Reimschmied Thomas Gsella, vormals schon mal Chefredakteur des Satireblatts „Titanic“, hat sich über weite Strecken Mühe gegeben, um in seinen Versen Städte zu schmähen, zu besudeln, zu beleidigen und in den Orkus verdienten Vergessen hinabzustoßen, aus dem sie möglichst nie wieder auftauchen sollen. Die kleine Gedichtsammlung ist aus einer Gsella-Kolumne bei Spiegel online hervorgegangen.

Nun gut, zu München („stinkt“), Hannover („Am katastrophsten und saudoph“) und ein paar anderen Kommunen ist Gsella praktisch nichts eingefallen, was er freilich allemal durch Unverfrorenheit wettmacht. Doch es finden sich etliche Kleinode aggressiven Städte-Bashings, die gekonnt alle verfügbaren Klischees verwursten. Was Gsella ausgerechnet zu Düren rhapsodiert, klingt beinahe nach Rilke-Parodie. Und in der ersten Strophe über Frankfurt/Main heißt es

Wo scheißt die Sau ins Marmorklo?
Wo trägt man hohe Häuser
Und noch beim Lieben Anzug? Wo
Hält jeder Duck sich Mäuser?

Bis zur dritten Strophe hat sich die Wut derart vernichtend gesteigert, dass man insgeheim alle Frankfurter bedauert. Doch bitte keine Häme andernorts! Hier wird nahezu jede Gemeinde gemobbt, vielfach aus glaubhaft verbalisiertem Angewidertsein. Offenbach erscheint als Stadt der Arschgesichter („Arschgesichter ziehn per pedes / Durch die Arschgesichterstadt / Arschgesichter im Mercedes / Fahren Arschgesichter platt…“), Bonn als unbekanntes Nest, Köln als Sitz nichtswürdiger „Medienhäschen“, Düsseldorf als Stein gewordene Sinnlosigkeit, Hagen als schieres Nichts. Und so weiter, und so fort.

Im allermeist bevorzugten Kreuzreim und mit büttenverdächtigen Rhythmen (man wartet gelegentlich auf das „Tätäää“) intoniert, hört sich das alles natürlich ungleich witziger an. Jedenfalls lässt Gsella kaum eine Technik des Niedermachens aus, vergiftetes Lob ist mitunter schlimmer als frontale Attacke.

Das Ruhrgebiet kommt naturgemäß grottenschlecht weg – das hoffnungslose Duisburg, das leider vorhandene Mülheim, das aus allen Himmelsrichtungen gleich deprimierende Bochum und Dortmund, wo die Bewohner unter Tage vegetieren, so dass sie gottlob nicht wissen, wie fürchterlich die Stadt erst oben aussieht.

Als Dreingabe hat Gesella noch einige Zeilen übers gesamte Revier verfasst, die wir bei den Revierpassagen mit der gebührenden Empörung zur Kenntnis nehmen und komplett zitieren:

Hier im Revier

Hier sieht man jedem Straßenzuge an,
Dass Hitler nicht gewann.
Hier redet jeder platt
Vor Stolz, dass keiner was zu sagen hat.
Und hält sich, weil er aufrecht sein will, krumm.
Hier kommt, wer hier zur Welt kam, um.
Hier sind noch die da oben subaltern.
Hier geh ich gern.

Bodenlose Unverschämtheit! Doch wir trösten uns: Auch Orte im Süden, Norden und Osten sind ja keineswegs besser dran. Nur mal en passant zitiert: „O Stuttgart, bleiche Mutter du, / Wie sitzest du besudelt“.

In der Schlusskurve knöpft sich Gsella noch ein paar europäische Hauptstädte vor, um erst ganz am Ende (allein das schon ein Affront!) Berlin abzuwatschen. Letzte Strophe:

Und sind, dem Herrgott sei’s geklagt,
Zu blöd zum Brötchenholen.
Wer Hauptstadt der Versager sagt,
Der meint Berlin (bei Polen).

Thomas Gsella: „Reiner Schönheit Glanz und Licht – IHRE STADT ! im Schmähgedicht“. Eichborn Verlag, 124 Seiten, 9,95 Euro.

 

Nachspann:
Das Buch ist also bei Eichborn erschienen, jenem Verlag, der zur Zeit ein Insolvenzverfahren durchläuft und dessen Maschinerie daher – laut FAZ von gestern – gesetzesgemäß „in ein künstliches Koma versetzt“ worden ist, so dass gegenwärtig auch keine Autorenhonorare gezahlt würden.
Die Zukunft des Hauses ist ungewiss, eventuell wird man beim Berliner Aufbau Verlag unterschlüpfen.




Gütige Diktatur

Der und jene könnten Anwandlungen haben. Sie könnten sich wünschen, eine „gütige Diktatur“ zu errichten. Dann würde vieles geradezu hingebungs- und liebevoll verboten, ja das Ungefüge würde gleichsam zärtlich von der Erde weggestreichelt.

Wohlig ließe man sich treiben zwischen zeitweiligem Überdruss und bleibendem Widerwillen gegen Dinge und Worte. Wachsende Verbotslust. Anschwellende Verfügungslaunen.

Nun aber frisch begonnen:

Internet? Schluss mit dem infantilen Quatsch. Fernsehen? Ab dafür! Mobiltelefonie? Weg damit. Schleunigst. Keine Leute mehr mit Headsets, die vor sich hin palavern und den Anschein erwecken, als führten sie wirre Selbstgespräche. Ist doch peinlich.

Stracks kommen nun die so genannten SUVs an die Reihe. Diese gewaltförmigen „Spaß“-Tonnagen mit gefühlten tausend PS. Alltagskriegsgeräte, Macht-Maschinen. Ab zum Schrottplatz, wo sie alle sinnvoll zu Granulat zermahlen werden. Wie lieblich das bröselt.

Übrigens, damit das klar ist: Gockelhaftes Skrotumkratzen zieht allgemeine Ächtung nach sich. Nein, nicht Achtung. Ächtung.

Wenn wir schon mal sackerment dabei sind: Sofort runter mit Rucksäcken, deren Träger(innen) sich immer im falschen Moment raumgreifend umdrehen. Weitere Begründung überflüssig. Ist ja `ne Diktatur.

Die MP3-Stöpselei, der vollverkabelt einher tapernde Passant? Selbstverständlich streng verboten. Das Zeug ist samt Zubehör bei den Sammelstellen abzugeben.

Strikt unterbunden wird überhaupt das Geschrei um angebliche „Must-haves“ und vermeintlich unverzichtbare Marken. In stinkreichen Vierteln von Frankfurt/Main, so heißt es, werden Schüler gemobbt, die nicht das neueste iPhone, sondern nur ein gewöhnliches Handy bei sich tragen. Für derlei Drangsalierung betrüge das Strafmaß in der „gütigen Diktatur“ fünf Jahre Computerspielverbot nebst Bücherlesezwang und Sozialdienst.

Schließlich das tägliche Alarm- und Sirenengeheul der medialen Hypes: Ab in den Orkus, Deckel drauf. Ruhe im Karton!

Nun mögen manche einwenden, hier werde dem Leben jegliche Farbe und Freude ausgetrieben, man lande so geradewegs im eisgrauen Kommunismus altbekannter Prägung. Wartet nur, bis es erst richtig anfängt, bis Geld und Besitz gänzlich abgeschafft werden und das Paradies auf Erden befohlen wird!

Danke für die Aufmerksamkeit.




Das Menetekel der Giraffe

Eigentlich wollte ich gestern ein paar Absätze über Bin Laden schreiben. Es wäre beispielsweise um Rechtsstaatlichkeit und christliche Werte gegangen. Dann aber dachte ich mir: Jeder Terrorexperte unserer Breiten hat bereits seine (Fern)-Diagnose auf den Markt der Meinungen geworfen. Da mache ich lieber was Abseitiges – und wenn ich’s aus der Archivkiste hervorzerren müsste. And here we go:

Kürzlich hat Katrin Pinetzki an dieser Stelle über eine Sprachmarotte der Pixi-Bücher geschrieben. Ich möchte ihre Analyse mit einem Deutungsversuch ergänzen, und zwar am Beispiel einer literarischen Hervorbringung der komplexen Sorte. Kenner ahnen es bereits beim ersten Blättern: Ohne hochspezialisiertes interpretatorisches Besteck wird in diesem Falle nichts zu gewinnen sein. Proust, Joyce und Musil lassen nolens volens grüßen.

Das vorliegende Buch hat weder einen erkennbaren Autor noch einen Titel. Aufs allzu bequeme Abrufen von Vorkenntnissen über Leben, Werk und Wirkung müssen wir also verzichten, ebenso auf schnellfertige Assoziationen. Was nun? Beharrlichkeit, Spürsinn und Geschick sind in hohem Maße gefragt.

Die zumeist lakonisch, doch bildmächtig und universal verständlich entfaltete Fülle des Stoffs ist immens, sie gemahnt an Großmeister wie Dostojewski oder Tolstoi. Ein Register der handelnden Personen am Ende dieses Folianten wäre hilfreich gewesen, rankt sich doch das furiose, oft bestürzende Geschehen um einen Elefanten, eine Schildkröte, eine Ente, ein Schiff, zwei (!) Seepferdchen, einen Fisch, einen Seelöwen und schließlich (ebenso lang- wie waghalsige Wendung am Schluss) um eine veritable Giraffe. Darüber wird noch zu reden sein.

Subtil und anspielungsreich ist die Struktur der weit ausgreifenden, ungemein welthaltig hin und wider wogenden Handlung gewoben. Über fast allen Figuren dieses theatrum mundi scheint die vermeintlich liebe (in Wahrheit gnadenlose) Sonne prangend gelb, dazu gesellt sich jeweils ein harmlos sich gebendes blaues Wölkchen.

Eine besondere Funktion kommt dem Schiff zu. Es verkörpert – wenn man so sagen darf – die unbelebte Materie, sofern man etwaige Passagiere ausblendet. Allerdings deuten keinerlei Anzeichen auf Kabinen-Insassen oder Deckbewohner hin. Hier klingt offenbar das alte Motiv vom Geisterschiff an. Was aber besagen die beiden stilisierten Möwen, die über dem nahezu tortenförmigen Schiff kreisen? Künden sie nicht von ewiger Wiederkehr, vom Werden und Vergehen, vom Kreislauf der Zeiten und Gezeiten?

Alle Protagonisten sind von scharf umrissenen, pfützenförmigen Wassermengen eingefasst (der Kunstgeschichtler würde sagen: „hinterfangen“), wobei Elefant, Schildkröte, Seelöwe und Giraffe jeweils mittendrin auf gelben Inseln naiv sich ergehen, als gäb’s kein Morgen und als herrschten noch ungebrochen paradiesische Zustände. Ente, Schiff, Fisch und Seepferdchen haben hingegen derlei Refugien nicht nötig. Diese charakterstarken Figuren setzen sich vielmehr dem nassen Element existenziell aus, sind nicht auf falsche Sicherheiten bedacht. Sie nehmen die Wahrheit so feucht, wie sie nun einmal ist.

Unterdessen enthüllt sich nach und nach der horrible Kontext der bei näherem Hinsehen gar nicht mehr harmlosen Vorfälle: Es ist die finale Klimakatastrophe, die sämtliche Rückzugsgebiete vor dem stracks ansteigenden Meeresspiegel rigoros eingrenzt und die Spezies Mensch in dieser zeit- und ortlos gewordenen Welt womöglich schon längst dahingerafft hat. Übrig geblieben sind offenkundig nur noch grotesk entfremdete, animalische Wesen mit dem Intelligenzquotienten von Steckrüben. Welch ein Menetekel, welch eine Apokalypse!

Die hirnlos fröhlichen Gesichter und all das kindisch bunte Lärmen können auf Dauer nicht über die desolate Lage hinwegtäuschen, ja überhaupt weist der heitere Oberflächen-Eindruck der Szenen recht eigentlich darauf hin, dass sich diese Gestalten (unter Einwirkung von Drogen?) bestenfalls zu Tode amüsieren. Hier walten zunächst insgeheim, sodann immer fratzenhafter: Verlogenheit, Zynismus, Sarkasmus. Oder sollte es sich nur noch um Idiotie im fortgeschrittenen Stadium handeln? Fürwahr: Da haben wir ein pralles Sittengemälde im Stile eines Hieronymus Bosch.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Zur bewegenden Schlüsselszene gerät in dieser Hinsicht der zentral gestellte, einzige Dialog des gesamten Bandes, der freilich mäandert, beziehungsreich ausufert und unterdessen ungeheure Mengen von Bildungsgut anschwemmt: Gemeint ist das Gespräch zwischen den beiden Seepferdchen. Man beachte, wie die Luftbläschen, die sie absondern, mit jenen korrespondieren, die hernach dem Fische zu eigen sind. Mehr noch: Fisch und Seepferdchen sind die einzigen, die in diesem Roman-Kosmos ohne Sonne auskommen. Man beachte ferner den sprachspielerischen Anklang der Worte Fisch und Schiff. Er rührt mit seiner Buchstaben-Umkehr an die tiefsten Geheimnisse des Sagenmüssens und Nichtsagenkönnens.

Hintersinnigster Kunstgriff des anonymen Autors, dessen Effekt uns wie ein Keulenschlag trifft: Unter dem Signum der Ente hat er (oder etwa: sie?) einen diabolischen Mechanismus verborgen, der quietscht, wenn man auf die Buchseite drückt. Somit wird der Leser unversehens selbst zum hilfswilligen Agenten der allgemeinen Verblödung – was einen nachhaltigen Bewusstwerdungsprozess auslösen dürfte. Wenigstens wäre es innig zu wünschen.

Der wache, empfindsame Rezipient wird sich schließlich Rechenschaft ablegen wollen über sein bislang verpfuschtes Dasein, ja er wird sich – ganz im Sinne Rilkes – am Ende betroffen eingestehen: „Du musst dein Leben ändern.“

D a r u m also ragt auf der letzten Seite die Palme als vertikales Hoffnungszeichen neben der Giraffe auf. Hieß es nicht schon einst bei Günter Grass, jemand habe sich einen von der Palme gelockt? Gewiss doch. Ein gigantisches Symbol mithin, Mahnung genug.

Ein erschütterndes Schluss-Tableau beschließt den Reigen: Diesen abschiedswehen Blick der Giraffe wird man so schnell nicht vergessen, er sengt sich in die Seele ein. Für immer.




Max Goldt: Zimbo, Zimbo und nochmals Zimbo

Skandal ! Betrug ! Ich habe „Ein Buch namens Zimbo“ gelesen – und nirgendwo auch nur die leiseste Äußerung darüber gefunden, was es mit diesem „Zimbo“ denn auf sich hat. Oder sollte ich ausgerechnet jene zwei bis drei Zeilen auf Seite xyz übersprungen haben, in denen mir Auskunft zuteil geworden wäre? Wohl kaum. Es wäre fahrlässig, in diesem kanari-knallgelben Buch überhaupt etwas auszulassen.

Ist aber auch schnurzegal. Denn es handelt sich ja um ein Werk von Max Goldt, der die Leser schon mal ganz gern nett nasführt. Doch im Grunde treibt er beileibe nicht nur Schabernack, sondern gibt vielfach ein vernünftiges Maß der tagtäglichen Dinge. Man unterschätze das nicht in einer Zeit, in der so vieles verrutscht ist. Wir könnten einen neu geeichten „common sense“ allemal gebrauchen. Der unaufgeregte Gebrauch des Verstandes kann – paradox genug – aufregend und überdies erzkomisch sein. Hier spürt jemand haarfein auf, was vorgeht im Lande und was anders werden sollte. Nun gut. Jetzt aber Schluss mit der öligen Jury-Prosa.

Was haben wir vor uns: Sprachlich bestens gefeilte Kolumnen? Unterhaltsame, ja höchst vergnügliche Ratgeberliteratur zur Lebenshilfe im besten Wortsinne? Alltagsphilosophie der dezent gehobenen Sorte? Mal dies, mal jenes. Aber darin erschöpft es sich nicht.

Selbst wenn man seit vielen Jahren Bücher von Max Goldt liest, staunt man immer wieder, welche Haltungen er im Einzelnen zu den Zeitläuften einnimmt. Er kann da sehr eigen sein. In einem Umfeld, das allerlei Schrankenlosigkeiten zelebriert, wagt er es beispielsweise, auch Verbote als mögliche Kulturleistungen zu preisen. Hohe Zeit für solche Gedanken!

Nur ganz selten beschleicht einen das Gefühl, dass Goldt auch schon mal willkürlich gewagte Gegenpositionen zum Gängigen einnimmt, um just ihre Tragweite zu erproben. Warum auch nicht, wenn dabei so viel herauskommt, was anderen im Leben nicht einfiele?

Dem politisch korrekten Herumgeeiere ist Goldt jedenfalls abhold, ohne deshalb freiheitliche Positionen preiszugeben. Irgendwann, so spottet er, werde in Zeitungen nur noch stehen, Gewalt sei von „Geschöpfen“ verübt worden – ohne Nennung der Herkunft, des Alters, der Religion und des Geschlechtes. Es könnte ja „diskriminierend“ sein…

Max Goldt erweist sich abermals als Meister der Abschweifung. Herrlich zu sehen, welche rasanten Kurven seine Texte bisweilen nehmen, um in tollkühnen Volten bzw. Loopings zum Ursprungsthema zurückzukehren – oder vollends artistisch abzuheben.

Das Themenspektrum ist mal wieder denkbar breit. Da geht’s z. B. um vermeintlich allgegenwärtige Klagen über Sodbrennen, um Vor- und Nachteile von Umhängetaschen oder um die nach seiner Ansicht unsinnige Wendung „kreatives Chaos“. Wahre Künstler seien keineswegs Chaoten, sie entwirrten vielmehr das Durcheinander, befindet Goldt. Ferner erfahren wir, wie erhellend ein Pakistani und ein Texaner deutsche Marotten (Hunde-Manie und Polit-Debatten-Rituale) beschreiben, wie sich Worte mit bloßer Tralala-Bedeutung anfühlen und wie das „Berliner Plusquamperfekt“ klingt. Und köstlich ist’s zu lesen, wie sich Rechthaber und Besserwisser der inzwischen allzu vielen „Irrtümer“-Lexika bedienen, um mal wieder zu triumphieren.

Manche Formulierungen Goldts sind so trefflich und kostbar, dass man sie am liebsten in Seidenpapier einschlagen und verschenken möchte. „Dieser eisige Beauty-Apparatschik“ – wer könnte damit wohl gemeint sein? Doch nicht etwa Heidi Klum? Nun ja, eventuell doch.

Goldts Kunstfertigkeit ist mittlerweile hoch dekoriert worden, auch mit dem Kleist-Preis. Des Autors Dankrede dafür steht gleichfalls in diesem Buch. Kategorien wie „Alltag“ und „Satire“ lehnt er zur Selbstbeschreibung ab, auch sei er gar kein Kolumnist. Ja, was zum Teufel ist er denn dann? Am Ende vielleicht ein „Zimbo“?

Max Goldt: „Ein Buch namens Zimbo“ (Untertitel: „Sie werden kaum ertragen, was Ihnen mitgeteilt wird“). Rowohlt Berlin Verlag, 198 Seiten, 17,90 Euro.

P. S.: Kürzlich ebenfalls bei Rowohlt Berlin erschienen und ideal auch für Goldt-Leser geeignet ist der prachtvolle Sammelband „Titanic – Das endgültige Satirebuch – Das Erstbeste aus 30 Jahren“ (416 Seiten, 25 Euro) mit zahllosen satirischen, parodistischen etc. Frechheiten sowie gepflegtem Nonsens im Gefolge der „Neuen Frankfurter Schule“ seit 1979. Prädikat: Gehört pfeilgrad in jede Hausapotheke.




Funny van Dannen: Saugefährliche Katzenpisse

Denn siehe, hier kommt eine gute Nachricht: Funny van Dannen klampft wieder. Er versprüht abermals seinen skurrilen Charme – auf der neuen CD „Saharasand“. Alles andere wäre aber auch jammerschade gewesen.

Wie soll man das musikalische Tun und Trachten dieses Mannes jemandem beschreiben, der ihn noch nie gehört hat? Nun, er klingt meistens so, als schrammle und singe er unverzagt am immerwährenden Lagerfeuer. Manchmal hört er sich schier nach altvorderen Schlagerbarden wie – im Extremfalle – Martin Lauer („Taxi nach Texas“) an. Sag ich jetzt mal ganz ungeschützt. Aber irgendwie bringt Funny van Dannen (Jahrgang 1958) es fertig, selbst solche Vorlagen mit „Kult“-Verdacht zu veredeln. Ohne großen Aufwand, just mit einer (scheinbaren?) Naivität des frischen Zugriffs gesegnet. Auch der Titel „Saharasand“ könnte ja gut und gern aus späten 50er oder frühen 60er Jahren stammen, Freddy Quinn & Artgenossen grüßen aus der Ferne. Wie? Stimmt gar nicht? Na, dann nicht.

Dann eben die nächste steile Behauptung. Eine hörbare Basis und Quelle seiner Lieder sind so genannte Protestsongs seligen Angedenkens, deren Stimmlage er freilich meistens ins liebenswert Komische und Harmlose wendet. Er ist so gar kein aggressiver Mensch und mag eigentlich niemanden verletzten. Und so schießt er denn sogar auf die gierigsten Banker und Börsianer lediglich mit einer „Katzenpissepistole“. So heißt der Auftakt-Song seines neuen Albums, das 21 Titeln enthält und auch in bluesnahe Spielarten ausgreift.

Just aus der Friedfertigkeit des Urhebers bezieht gleich der zweite Song seine gelinde Komik. Funny van Dannen versichert uns da, er wolle auch einmal „saugefährlich klingen“. Ausgeschlossen! Nimmermehr! Er doch nicht! Nicht einmal richtig grimmig kann er werden. Aber das weiß er natürlich selbst am besten. Und er weiß auch, wie sich ein Mann tröstet, der seiner Freundin ein „Simpsonsplakat“ schenken möchte und besuchsweise feststellen muss: „Sie war nackt und sie war nicht allein.“ Wie es danach weitergeht, wird hier natürlich nicht verraten.

Sagen wir’s mal siebtelkritisch so, klagend auf hohem Niveau (reimt sich): Die Platte ist derart aus einem Guss, dass man sie nicht unbedingt in einem Rutsch durchhören, sondern eher dosiert genießen sollte. Monotonie? Nein, das wäre das verkehrte Wort. Schließlich sind erneut ein paar „Ohrwürmer“ dabei, freilich keiner vom genialischen Kaliber der „Infrastruktur“ auf dem Album „Nebelmaschine“. Auch hat sich der Künstler für meinen Geschmack etwas zu weit aufs glitschige Terrain der Wirtschaftskrise locken lassen. Es ist nicht sein Hauptmetier.

Mehrere Nummern der neuen CD handeln von der Unübersichtlichkeit unserer wirren Zeitläufte. Der menschliche Instinkt drohe daran zuschanden zu gehen, heißt es einmal sinngemäß. Hochtrabend ausgedrückt: Funny van Dannen sehnt sich nach Komplexitäts-Reduktion. Sprich: Er hätte die Dinge gern näher, fassbarer, einfacher. Wer könnte ihm solche Wonnen der Simplizität nicht nachfühlen?

Und also summt man immer mal wieder selbstvergessen mit. Schön wäre es, wenn… das gelingende Leben so einfach zu haben wäre. Noch schöner, wenn es zum vollen, runden Glück eines gemeinsam feiernden Freundeskreises nur noch einer solchen Unter-dem-Pflaster-der-Strand-Wandlung bedürfte: „Wenn die Straße ein Fluss wäre und die Autos Schiffe…“

Tatsächlich wiegen sich gerade die besten Lieder im Gefühl einer ungeahnten Leichtigkeit – am Rande sanft schwirrenden Irrsinns. Etwa die Legende vom Mann, dem überall (un)willkürlich das Wort „Sozialismus“ entfährt. Ganz einfach so. Egal, ob beim Zahnarzt, im Supermarkt oder selbst beim Orgasmus. Wie das die Mitwelt irritiert! Oder die Ballade vom Paar, das aus dem Museum kommt und kurzerhand beschließt, dass ihm die ganze gesehene Richtung nicht passt: „Scheiß-Jugendstil“ tönt es mit wünschenswerter Klarheit im Refrain. Und schon hebt sich merklich die Stimmung in der sonst wahrscheinlich etwas öden Zweierkiste – auf Kosten einer ganzen Kunstrichtung.

Funny van Dannen hat halt immer wieder diese leicht schrägen Einfälle, so auch diesen: In eine Disco zu gehen, wo Pflanzen tanzen. Man denke nur und spinne die Idee ein wenig weiter… Und wenn das Leben ein Würfelspiel wäre? Dann lautet die schlichte Frage eben: „Wie viele Augen wirfst du?“ Ach, ist das herrlich, wenn die Sinnsuche dermaßen deliriert und trudelt.

Trotz aller (letztlich nebensächlichen) Sorgen und Zerknirschungen ist Funny van Dannen zwar keine „Stimmungskanone“ (Gott bewahre!), jedoch auf sehr spezielle und originelle Weise gelegentlich ein Gute-Laune-Sänger. Wogegen ja nun mal prinzipiell nichts einzuwenden wäre. Wer das teils munter gepfiffene Lied von der „Magnolie“ hört, weiß gleich Bescheid. Da hellt sich etwas wundersam auf. Fast so schön wie einst bei „Singin’ in the Rain“…

CD „Saharasand“. JKP / Warner Music. Ca. 16,99 €.

P. S.: Ab 23. September geht Funny van Dannen auf Tournee. Jetzt möchte ich ihn endlich mal live sehen. Schon um einen Eindruck zu bekommen, wie seine Fans denn so aussehen. Es müssen doch wohl ziemlich sympathische Leute sein.




Knochenarbeit im Bergwerk des Humors – Vor 100 Jahren wurde Heinz Erhardt geboren

Er muss ein geradezu besessener Arbeiter im Bergwerk des Humors gewesen sein. Er selbst und seine Familie haben unter seiner nie versiegenden Schaffenswut gelitten. Doch kaum betrat der rundliche Kerl die Bühne, so war er eine Seele von Mensch – und vor allem: ein Schelm! Heute vor 100 Jahren wurde der Komiker Heinz Erhardt geboren.

Eine deutsche Ahnenreihe der Hochkomik sähe in den Grundzügen wohl ungefähr so aus: Wilhelm Busch, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Heinz Erhardt, Loriot, Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Otto Waalkes, Hape Kerkeling, Helge Schneider. Mögen da auch ein paar Bindeglieder fehlen (bitte wunschgemäß freihändig einsetzen), so gehören doch die Genannten hinzu. Heinz Erhardt steht dabei als singulärer Humor-Produzent für die 50er und frühen 60er Jahre, er war der Komiker des „Wirtschaftwunders“.

Erhardt kam am 20. Februar 1909 in der heutigen lettischen Hauptstadt Riga zur Welt. Sein Vater war Kapellmeister, der Großvater (bei dem er aufwuchs) ein achtbarer Klavierspieler. Heinz Erhardts Jugendtraum, Konzertpianist zu werden, erfüllte sich allerdings nicht. Erst 1994 kamen aus dem Nachlass einige seiner Kompositionen in klassischer Manier auf CD heraus.

1932 stand er erstmals in einem Lustspiel auf der Bühne des Deutschen Schauspiels in Riga. Entscheidender Schritt: 1938 wurde er ans Berliner Kabarett der Komiker geholt. Den Weltkrieg überstand er als schon recht prominenter Spaßmacher in der Truppenbetreuung, was ihn vor dem Dienst an der Waffe bewahrte.

Neubeginn in der Trümmerzeit: 1946 knüpfte Erhardt Kontakte zum NWDR in Hamburg, wo er Unterhaltungsprogramme wie „So was Dummes“ moderierte. Auch stand er in Komödien auf diversen Hamburger Bühnen. Seine Alleinunterhalter-Qualitäten sprachen sich schnell herum, so dass er bald erste Tourneen unternahm.

Durchaus auf der Basis traditionell überlieferter Verskunst und sprachlich manchmal höchst raffiniert, trieb Erhardt seine vorwiegend wortspielerisch grundierten Scherze. Das 1963 erschienene Buch mit dem Titel „Noch’n Gedicht“ wurde zum Verkaufsschlager. Es enthielt auch Erhardts wohlbekannte Zeilen über „Die Made“: „Hinter eines Baumes Rinde / saß die Made mit dem Kinde. / Sie ist Witwe, denn der Gatte, / den sie hatte, fiel vom Blatte …“ Und so weiter. Sein Erscheinungsbild war das eines allzeit netten, manchmal leicht verwirrten Onkels mit treuherzigem Mondgesicht. Er gab sich bewusst tollpatschig und gehemmt. So einen Menschen mochte man einfach gern, weil er so gar keine Bedrohung darstellte.

Vor allem im Kino (erste Hauptrolle 1957 als Marmeladenfabrikant in „Der müde Theodor“) hat er etlichen Klamauk mitgemacht und dabei zuweilen sein Talent unter Wert verschleudert. Möglicher Grund: Wie es heißt, war er ein Paniker, was seine finanzielle Situation anging. Auch sein Lampenfieber war legendär. Er soll es auch mit dem einen oder anderen Schnaps bekämpft haben.

1971 erlitt der bis dahin so rastlose Erhardt einen Schlaganfall und musste fortan deutlich kürzer treten. Er starb in der Nacht zum 5. Juni 1979. Etwa um 1983 kam es zu einer überraschenden Renaissance. Gerade Jüngere fanden plötzlich Gefallen an alten Erhardt-Filmen, die nun in den Programmkinos liefen. Und heute führt er ein beinahe schon gespenstisches Nachleben in Internet-Portalen wie „YouTube“, wo man viele Szenen mit ihm aufrufen kann. Was dort so flüchtig wirken mag, ist in Wahrheit unvergänglich.

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Infos

  • Filme (Auswahl): „Witwer mit fünf Töchtern“ (1957), „Immer die Radfahrer“ (58), „Natürlich die Autofahrer“ (59), „Der letzte Fußgänger“ (60), „Drei Mann in einem Boot“ (61), „Unser Willi ist der Beste“ (71).
  • Internet-Seite: http://www.heinzerhardt.de (betrieben von Heinz Erhardts Erben). Dort Hinweise auf viele Bücher, CDs und DVDs.

(Der Beitrag stand am 20. Februar 2009 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Abgebrühte Mädchen

Wir wissen’s ja: Brave Mädchen kommen in den Himmel, freche überall hin. Diesem Leitsatz folgt der Film „Die Girls von St. Trinian”.

Schauplatz ist ein britisches Mädchen-Internat mit Horror-Garantie. Alle schrillen Girlie-„Szenen”, besonders die düsteren, scheinen hier Stützpunkte zu haben. Schlimmer: Schnapsbrennen, Drogenmissbrauch und Bombenbasteln beherrschen die Schülerinnen aus dem Effeff. Sie sind clever und abgebrüht.

Nachmittags im Kriminal-Unterricht (Lernziel heute: „Wir komme ich schnell zu ganz viel Geld?”) lobt der Lehrer, ein schmieriger Ganove: „Richtig! Fein! Erpressung ist eine prima Idee.” Man ahnt schon: „Pisa” interessiert hier keinen. Im Lehrerzimmer wird beim Pokern gesoffen, die schräge Direktorin (männlich besetzt mit Rupert Everett, der auch ihren Bruder mimt) kifft, was die Tüte hält.

Die Regisseure Barnaby Thompson und Oliver Parker (zuvor hauptsächlich mit Komödienstoffen von Oscar Wilde befasst) schicken anfangs eine neue Schülerin (Typ „zarte Elfe”) ins sittenlose Inferno. Was die Kleine nicht umwirft, härtet sie ab.

Und so geht’s Runde um Runde durch diese halbwegs flotte, aber auch schon etwas rostige Geisterbahn. Die Provokatiönchen verbrauchen sich rasch. Fast könnte man von heiler Welt der Anarchie sprechen. Hier werden alle Kulte routiniert verwurstet. Mal zaubert’s wie bei „Harry Potter”, mal glitzert’s wie in der „Rocky Horror Picture Show”. Na, und so weiter. Doch die liebevolle Akribie und der tiefschwarze Humor der Cartoon-Vorlage von Ronald Searle („St. Trinian’s” aus den 1940er Jahren) werden nicht annähernd erreicht.

Damit das Ganze nicht nur aus lauter Wiederholungsschleifen besteht, tritt ein neuer Bildungsminister (Colin Firth) auf den Plan, der diese Anstalt auf Vordermann bringen will und dabei ein ums andere Mal scheitert.

Schließlich wird noch eine Rififi-Geschichte um Kunstraub angepappt. Um ihre schräge Schule vor der Pleite zu retten, wollen die Girls in der National Gallery Jan Vermeers berühmtes Gemälde „Das Mädchen mit dem Perlenohrring” an sich bringen. Dass einige Schülerinnen Vermeers Bild für ein Porträt von Scarlett Johansson halten, ist noch einer von den besseren Gags.




Ringelnatz: Witz kann Wunder wirken – zum 125. Geburtstag des Dichters

Wer seine Verlobte „Maulwurf“ und seine Frau „Muschelkalk“ nennt, der muss doch wohl ein lustiger Vogel sein. Stimmt: Der Mann hieß Hans Bötticher und gab sich 1919 den ungleich bekannteren Künstlernamen Joachim Ringelnatz. Doch schierer Witz ist nicht die einzige Zierde des Dichters gewesen, der heute vor 125 Jahren in Würzen bei Leipzig geboren wurde.

Seine berühmtesten Verse sind ins literarische Volksvermögen geflossen. Sie bilden ein unverzichtbares Bindeglied so ungefähr zwischen Wilhelm Busch, Christian Morgenstern, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Heinz Erhardt und Robert Gernhardt. Ringelnatz steht also in der hochkomischen Tradition, welche die Deutschen zuweilen so bitter nötig hatten und die sich immer noch am schönsten in Reime ergießt. Mit der heute gängigen Comedy für eine übersättigte Spaßgesellschaft hat das herzlich wenig zu tun.

Auf so manche skurrilen Ideen, auf so manches kleine „Nebenbei“, das Ringelnatz anflog, muss man erst einmal kommen. Da fuhren Braten und Spiegelei bedeutsame Gespräche in Topf und Pfanne. Da werden Ameisen auf Australienreise geschickt, und eine männliche Briefmarke (ein zackiger „Briefmark“) sehnt sich nach einer Prinzessin. Wie sinnig: Die Deutsche Post bringt dieser Tage eine Sondermarke heraus, die sich auf besagtes Gedicht bezieht.

Ringelnatz selbst, beileibe nicht nur Komiker, sondern auch praktizierender Melancholiker (und Alkoholiker), muss eine groteske Figur gewesen sein. Klein von Wuchs, krumme Beine, ellenlange Nase. „Etwas schief ins Leben gebaut“, so hat er sich selbst gesehen. Noch schräger wurde sein Lebenslauf, nachdem er des Gymnasiums verwiesen wurde. Grund: Er hatte vor dem Lehrer mit einem Pausenausflug zur Völkerschau geprahlt, wo ihn eine Samoanerin tätowiert hatte. Unerhört! In einem späteren Zeugnis stand das Prädikat „Schulrüpel ersten Ranges“.

Die Jobs, mit denen er sich notdürftig am Leben hielt und seinen Schnaps bezahlte, sind zahlreich: Er fuhr unter übelsten Bedingungen als Matrose zur See, liebte jedoch zeitlebens das Meer und schuf die versoffene Seemannsgestalt „Kuttel Daddeldu“. Er war Buchhalter, Privatbibliothekar und betrieb einer Tabakladen, der rasch pleite ging. Zeitweise verdingte er sich als Schaufensterdekorateur, Schlangenbändiger und gar (in Frauenkleidern) als „Wahrsagerin“ im Bordell: Harte, bizarre Schulen des Lebens. In seinen Erzählungen wimmelt es von unglaublichen Zufällen, die ganze Biographien bestimmen.

Viele Jahre zog er als „reisender Artist“ und hintersinniger Vortragskünstler umher. Auch im legendären Schwabinger Künstlerlokal „Simplicissimus“ („Simpl“) trat er auf, von da an leuchtete sein Stern erst richtig hell und grell. Was gäbe man drum, wäre man bei solcher Gelegenheit dabei gewesen.

Milieu zwischen Kneipe und Bordell

Ringelnatz-Zeilen schmecken häufig nach „Milieu“, nach (Hafen)-Kaschemme, Boxbude, Bordstein und Bordell – bevor ein Bert Brecht solche Zutaten mit revoltierendem Gehabe anrichtete.

Doch Ringelnatz war äußerst zartsinnig und sponn feinste Sprachfäden. Folgt man einer Charakterisierung Erich Kästners, so wird bei Ringelnatz noch das Banalaste zum kleinen Wunder. Dieser Mann besaß zwangsläufig Bodenhaftung, doch mit wenigen Worten konnte er auch ganz sanft und federleicht zu herrlichstem Phantasieflug abheben. Das ist nicht zuletzt etwas für Kinder, die mit offenem Munde staunen wollen.

Der ungemein produktive Dichter (20 Bände von 1910 bis 1934) war auch ein sehr begabter Zeichner; ein Doppeltalent, wie es so manchen Großkomiker auszeichnet.

Dass ihn die Nazis verfemten und ihm Auftritte verboten, verwundert nicht. Sie konnten weder seine Wirklichkeit noch seine Leichtigkeit verstehen.

Ringelnatz hat jene finsteren Zeiten nicht lange ertragen müssen. Das „herzbetrunkene Kind“ (Selbstbeschreibung) starb am 17. November 1934 in Berlin an Tuberkulose. Seine Grabplatte ist aus – Muschelkalk.

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  • Ringelnatz-Verse:

„In Hamburg lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaus¬see
Da taten ihnen die Beine weh,
Und da ver¬zichteten sie weise
Denn auf den zweiten Teil der Reise …“

***

„Ein männlicher Briefmark erlebte
Was Schönes, bevor er klebte.
Er war von einer Prinzessin be¬leckt.
Da war die Liebe in ihm erweckt.

Er wollte sie wiederküssen,
Da hat er verreisen müssen.
So liebte er sie vergebens.
Das ist die Tragik des Lebens!“

***

„War einmal ein Bumerang,
War ein weniges zu lang,
Bumerang flog ein Stück,
Aber kam nicht mehr zurück.
Publikum – noch stundenlang –
Wartete auf Bumerang.“

Buch: „Sämtliche Gedichte und Erzählungen“. Zwei Bände. Diogenes Verlag, zus. 1280 Seiten, 29,90 €.

(Der Beitrag stand am 7. August 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Manfred Deix: Explosion der Gemütlichkeit

Oberhausen. Drei Namen, drei Marken: Helnwein – Haderer – und Deix. Österreich hat wahrlich nicht nur einen Zeichner hervorgebracht, der menschliches Treiben mit bitterbösem Blick schildert. Und bei der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen haben sie diese „hundsgemeinen” Kerle ganz besonders ins Herz geschlossen.

Jetzt also Manfred Deix. Er zeigt samt und sonders Typen, vor denen es einen graust. Widerliche Fleischberge, ekelhafte Visagen, geifernde Gier, abgründige Lustbarkeiten. Durch und durch vulgär geht es da zu – ja, es ist ein einziges Vulgarien. Doch Deix behauptet, er übertreibe keineswegs. Augen auf! Solche Herrschaften könnten einem tatsächlich begegnen.

Schwarzeneggers
bizarre Jugend

Der Kurator der umfangreichen Schau, Prof. Peter Pachnicke, sieht bei Deix etwas schwellend „Barockes” am Werke, während dessen Freund und Konkurrent Haderer eher für graziles Rokoko stehe. So findet jeder Cartoonist seine kulturhistorische Nische. Man muss sich abheben; erst recht in einem übersichtlichen Land wie Österreich. Trotzdem werden sie meist in einem Atemzug genannt. Künstlerschicksal.

Man fragt sich, ob Deix auch in ferneren Ländern derartige Aha-Erlebnisse auslöst. Dort dürfte die Wahrnehmung weniger detailscharf sein. Denn thematisch und typologisch quillt vieles ganz tief aus den Innereien der Alpenrepublik. Gerade mal süddeutsche Gefilde können sich direkt mitgemeint fühlen, dann aber lässt es wohl schon nach. Braucht etwa jedes Land seinen eigenen Deix?

Polit-Darsteller Österreichs sind bevorzugte Ziele des Spotts. Allen voran Figuren wie Waldheim und Haider. Doch auch ihre Anhänger, die Rassismus hinter explosiv gefährlicher Gemütlichkeit verbergen, geben geradezu apokalyptische Bilder her. Deix hat sie bis zur Kenntlichkeit entstellt. Kein Soziologe schaut so scharf hin.

Satte 238 Arbeiten summieren sich in Oberhausen zur Werkschau. Fast durchweg sind es Kleinformate. Um den Rundgang optisch zu rhythmisieren, hat man jedoch einige Motive auf nie zuvor gesehene Übergröße aufgeplustert. Namenloser Schauder, wenn die Groteske den Betrachter auch noch in solchen Dimensionen überfällt.

„Special Guest: Arnold Schwarzenegger” hieß es auf den Einladungskarten zur Oberhausener Eröffnung. Manche haben nachgefragt, ob „Arnie” vorbeischauen werde. Nicht doch! Aber Deix hat sich dem Aufstieg seines steirischen Landsmanns zum Gouverneur von Kalifiornien äußerst hartnäckig gewidmet. Er phantasiert sich in eine bizarre Kindheit und Jugend des einstigen Hollywood-Muskelprotzes und „Terminators” hinein und zeigt den Mann später auch schon mal bigott und bitterlich weinend, weil er leider, leider wieder einen Hinrichtungsbefehl unterzeichnen muss.

Abgründig auch jene Bilderreihen, auf denen ungeschlachte Erzspießer sich in unheimlicher Weise an kleinen Kindern belustigen, ja aufgeilen. Pornöse Phantasien dringen da bis in die letzten Hirnwindungen von Hintertupfingen. Fleisches-Lust als Fleisches-Ekel. Erhebt da vielleicht doch ein Moralist seinen Zeigefinger? Nein, da leidet einer am Zustand der Zeit – und spaßt das Schlimmste zornig nieder.

„Deix in the City”. Ludwig Galerie Schloss Oberhausen. Bis 8. Juni. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro. Zwei Kataloge: 14,90 und 17,95 Euro.

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ZUR PERSON:

  • Manfred Deix wurde 1949 in St. Pölten (Niederösterreich) geboren.
  • Im zarten Alter von etwa acht Jahren, so sagt er selbst, habe er für andere Jungs auf deren dringliches Verlangen hin nackte Frauen gezeichnet. Zum Lohn gab’s ein paar Groschen – erste Einnahmen eines Künstlers.
  • 1960 (mit elf Jahren also) brachte Deix wöchentliche Comicstrips bei einer Kirchenzeitung (!) unter.
  • Ab 1968 Kunststudium an der Wiener Akademie.
  • 1972 Erste Beiträge für Magazine. Von nun an ging es steil bergauf.
  • 1980 erstes Cartoon-Buch, dem viele weitere folgten.



Elche!

Um 1963 war F. W. Bernstein (gemeinsam mit Robert Gernhardt und F. K. Waechter) Mit-Urheber der „Neuen Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors. Diese drei Hochbegabten schufen damals die legendäre Beilage des Satiremagazins „Pardon“: „Welt im Spiegel“ (WimS).

Bernstein verdanken wir auch den ewigen Zweizeiler-Klassiker

„Die schärfsten Kritiker der Elche
waren früher selber welche.“

und natürlich so manches andere Kleinod höheren Witzes.

Seine gesammelten Gedichte sind im Verlag Antje Kunstmann erschienen. Eine nachdrückliche Buch-Empfehlung! Daraus, ganz willkürlich gewählt, das

Beziehungslied

Ich und du, Müllers Kuh,
geht’s bei uns nicht friedlich zu?
Ach ich ach ich ach ich glaub,
ich bin stumm und du bist taub.

Ab und zu sagt Müllers Kuh
ganz unheimlich leise:
Mmmmmmann o Mann,
das kann ja kein Schwein
aushalten!

Ich wage zu behaupten: Ohne Bernstein, Gernhardt & Waechter wären manche Entwicklungen in den Bereichen Comedy und Cartoon (Bernd Pfarr, Rattelschneck etc.) so nicht denkbar gewesen. Auch für Kolumnisten wie Max Goldt haben sie erste Breschen geschlagen. Und selbst ein Mann wie Walter Moers dürfte sich ihnen verpflichtet fühlen.




Wilhelm Busch: Lustvolle Zerstörung der Idylle

Gleich hinterm Eingang blickt der Besucher in einen Zerrspiegel. So sieht man sich nicht gern. Doch im Schloss Oberhausen geht’s ja auch um einen Verzerrer der sichtbaren Wirklichkeit: Wilhelm Busch, Urahn vieler späterer Comic- und Cartoon-Künstler.

Der Schöpfer von „Max und Moritz”, „Hans Huckebein” und zahlloser weiterer Bildergeschichten hat klassisches Rüstzeug an Kunstakademien erworben. Wenn er will, kann er etwa im Stile der alten Holländer malen. Doch schon beim anfänglichen Maschinenbau-Studium karikiert er seine Dozenten. Schalkhafte Blätter aus Kollegheften zeugen davon.

Die Ausstellung „Herzenspein und Nasenschmerz” stellt Wilhelm Buschs Werke in Zusammenhänge mit Vorläufern und Nachfahren. Karikierende Tendenzen gab es z. B. schon bei Francisco Goya (Verzerrung durch Schmerz), beim Franzosen Grandville oder beim Engländer William Hogarth, der mit Vorliebe die Folgen von Alkohol und Hurerei drastisch darstellte – moralische Appelle wider den Verfall der Sitten.

Vorbilder waren also da. Kennzeichen: entlarvende Übertreibung typischer Wesensmerkmale, eine vordem ungeahnte Dynamik, gewollt schräge Perspektiven, Mut zum Hässlichen. Bald begnügte man sich nicht mehr mit Einzelbildern, sondern zeichnete Handlungsabläufe.

An solche Traditionen kann Wilhelm Busch anknüpfen. Fotografien oder auch Franz von Lenbachs gemaltes Busch-Porträt zeigen einen selbstgewissen Mann, der sich für den Markt zu inszenieren weiß. Allerdings ist er auch Pessimist und traut keinem bürgerlichen Frieden. Häufig die Szenen, in denen er eine (romantische oder biedermeierliche) Idylle gründlich zerstört.

Theater der Grausamkeit, Schauplatz niederer Instinkte: Wie allerlei Körperteile malträtiert werden, führt Busch mit detailfreudiger Lust am Schaden aus. Dabei spielt er das verfügbare Bildvokabular virtuos durch, erweitert es wohl auch, so etwa mit rasanten Wechseln zwischen Totale und Nahansicht, die bereits Bildstrategien des Kinos vorwegnehmen. Die Original-Zeichnungen lassen einen scharfen, harten Strich erkennen. Man spürt noch, wie Erregung und Aggression darin nachzittern.

Busch ist so populär, dass auch andere Künstler ihn zur Kenntnis nehmen müssen. Diese Einfluss-Linien will die Oberhausener Schau sichtbar machen. Einige Beispiele sollen Wilhelm Buschs Fernwirkung bis hin zum frühen US-Comic belegen. Die Serien entstehen anfangs vielfach mit Blick auf deutsche Einwanderer in den Staaten. Der deutschstämmige Rudolph Dirks erfindet die „Katzenjammer Kids” (publiziert ab 1897), Winsor McCay „Little Nemo in Slumberland” (ab 1905) und Lyonel Feininger die „Kin-der Kids” (1906). Seitenblicke gelten den Disney-Figuren Mickey Mouse und Donald Duck. Auch für sie, so die These, habe Busch das Terrain bereitet. In welcher genauen Hinsicht Busch sie alle inspiriert hat, das wäre reichlich Stoff für Doktorarbeiten. Bemerkenswert jedenfalls, dass August Macke Busch den „ersten Futuristen” nennt.

In Richtung Gegenwart franst die vom Hannoveraner Busch-Museum bestückte Ausstellung etwas aus. Politisierende Karikaturen, Comics und Cartoons von Tomi Ungerer bis F. K. Waechter, von Paul Flora bis Tullio Pericoli lassen just viele Verzweigungen ahnen. Aber man kann Wilhelm Busch nicht jede Vaterschaft andichten.

„Herzenspein und Nasenschmerz. Wilhelm Busch und die Folgen”. Schloss Oberhausen. Konrad-Adenauer-Allee 46. Bis 24. Feb. 2008. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 28 €.

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ZUM LEBENSLAUF:

  • Wilhelm Busch wurde am 15. 4. 1832 in Wiedensahl bei Hannover geboren.
  • 1847-51 Maschinenbau-Studium in Hannover.
  • Kunstakademien: 1851 Düsseldorf, 1852 Antwerpen, 1854 München.
  • Ab 1858 Mitarbeit an den „Fliegenden Blättern”.
  • 1865 erscheint „Max und Moritz”, 1867 „Hans Huckebein”, 1872 „Die fromme Helene”, 1879 „Fipps der Affe”, 1883 „Balduin Bählamm”.
  • Nach 1884 liefert Busch keine Bildergeschichten mehr, sondern verlegt sich ganz auf Malerei. Das aktive künstlerische Schaffen reicht bis etwa 1895.
  • Tod am 9. Januar 1908 in Mechtshausen/Harz.



Funny van Dannen: Einmal fröhliche Anarchie und zurück

Jetzt klampft und schrammelt er wieder: Funny van Dannen bleibt sich auf seiner neuen CD „Trotzdem Danke“ treu. Vielfach klingen seine Lieder spontan und unbehandelt, wie frisch am Lagerfeuer zubereitet.

Doch was mitunter naiv erscheint, ist natürlich ganz schön durchtrieben – und dann eben doch wieder herrlich unbekümmert. Mal so, mal so, oft beides verwoben. Mal scheu, mal keck. Der Mann ist kaum zu fassen.

Nicht weniger als 24 Songs hat der schräge Barde auf seine Einzelscheibe gepresst. In dieser Überfülle verpufft manch‘ nette Miniatur. Und es stellen sich gewisse Abnutzungseffekte ein. Aber insgesamt ist’s ein Vergnügen.

Man ahnt, welchen Vorläufern Funny van Dannen gelauscht hat. Beileibe nicht nur den ewigen Blues-Größen, sondern auch 70er Jahre-Liedermachern à la Hannes Wader und wohl sogar Erscheinungen wie Martin Lauer. Das war jener 110-Meter-Hürden-Weltklasseläufer, der in den frühen 60ern plötzlich grausliche Schlager mit Western-Touch vorgetragen hat. Andererseits reicht das breite Spektrum bis hin zu harschen Heavy Metal-Anklängen oder punktuellen Punk-Attitüden.

Sandra Bullock
einen Korb gegeben

Aus all dem gewinnt Funny van Dannen mit parodistischem Humor sein ganz eigenes Gebräu. Gleich zu Beginn schlüpft er in die Maske eines Hartz-IV-Empfängers, den vor Jahren Sandra Bullock hat heiraten wollen. Doch damals habe er dem noch unbekannten Hollywood-Sternchen einen Korb gegeben. Bei Funny van Dannen wirkt die hanebüchene Story nicht etwa zynisch, sondern (auf raffinierte Weise) unbeholfen.

Überhaupt diese kleinen, peinlichen Liebesdramen, die hier mit unschuldigem Sinn erzählt werden. Einem Kerl brennt die Gespielin mit einem Chinesen durch – „Scheiß-Globalisierung“. Ein penetrant wohlmeinender Freund verpetzt bei ihrem Partner eine gewisse Linda, denn – so der eingängige Refrain – „Linda treibt sich mit Bauarbeitern ‚rum“. Es ist eines der absurden Spitzlichter dieser Platte; allenfalls übertroffen vom „Dicken Ticket“, einer mutwillig selbstgebastelten Fahrkarte, die unversehens zum Zeichen utopischer Freiheit gerät. Bitte einmal fröhliche Anarchie und zurück. Fensterplatz.

Auch das Jammern beherrscht van Dannen: In „Mütter“ klagt der vierfache Vater die unverwüstlichen Glucken an, welche die Kinder allzeit fürs Leben verderben. Im waghalsigen „Kaputt“ werden im Sekundentakt sämtliche Leiden der Welt angehäuft. Wahrlich: Selbst ein Dichter wie Ernst Jandl hätte sich dafür nicht schämen müssen.

Aus solchen Verhältnissen erwächst eine Sehnsucht nach Einfachheit und Ruhe, nach Freiheit von bleischweren Gedanken. „An manchen Tagen geht nichts ohne Prager Gurken“, weiß eine bärige Blues-Zeile. Und überhaupt sollte man einfach mal die Straße runterlaufen wie Hund – so empfiehlt’s weiterer Song. Doppelter Frevel also, wenn einer seinen Fiffi „Gasprom“ nennt und so bei jedem Zuruf an politische Übel erinnert. Stoßseufzer im Lied: Warum denn nicht Hasso oder Purzel?

Immer wieder traut sich van Dannen auch, Momente des kleinen Glücks aufleuchten zu lassen – wie kaum sonst jemand. In „Genug gute Menschen“ spendet er umfassenden Trost: Wo immer man auch ist, es leben überall ein paar warmherzige Wesen. Dies ist gewiss die durchlittene, ungleich intelligentere Variante von „Du bist nicht allein“.

Funny van Dannen: „Trotzdem Danke“. CD bei JKP/Warner Music, ca. 16 Euro

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INFOS

  • Funny van Dannen wurde am 10. März 1958 in Tüddern an den Grenze zu den Niederlanden geboren. Der Ort gehört heute zu Selfkant (Kreis Heinsberg/NRW) und nennt sich „westlichste Gemeinde Deutschlands“.
  • Er ist gelernter Grafikdesigner, hat diesen Beruf aber nie ausgeübt.
  • 1978 siedelte er nach Berlin über. Er ist verheiratet und hat vier Söhne.
  • 1988 war er Mitbegründer der „Lassie Singers“. Deren Frontfrau Christiane Rösinger gründete wiederum 1998 die Gruppe „Britta“.
  • Viele Lieder der „Toten Hosen“ wurden von Fanny van Dannen geschrieben, beispielsweise „Bayern“ oder „Schön sein“. Auch Udo Lindenberg hat gelegentlich auf Funny van Dannens Schöpfungen zurückgegriffen.
  • CD-Auswahl: „Clubsongs“ (1995), „Uruguay“ (1998), „Herzscheiße“ (2003), „Nebelmaschine“ (2005).



Buergelmaschine: Mona Lisa trifft Krümelmonster

Das Problem kennt man nicht nur aus Kassel: Wenn Kunst selbst nicht mehr deutlich „spricht” (weil sie in „Konzepten” erstickt), dann müssen die Interpreten umso weitschweifiger reden. Allen voran der documenta-Chef Roger M. Buergel. Sein mit allerlei intellektuellem Lametta geschmückter Jargon beim Beschreiben der Kunst wird jetzt auf einer Internet-Seite trefflich verulkt.

Dem Manne fällt noch zu jedem Kunstprojekt eine sprachliche Wendung ein, die manchmal auf wolkige Art – so gut wie gar nichts besagt. Das hat auch die Leute des Blattes „Exot” (Zeitschrift für komische Literatur) dermaßen entnervt, dass sie ihre Computer mit den 50 geschwollensten Original-Phrasen gefüttert haben, die immer wieder neu zu irrsinnigen Sätzen komibiniert werden können. Das Resultat? Wohlfeil, aber vielfach auch witzig.

Das Verfahren im Netz ist simpel: Man lädt ein beliebiges Bild hoch, versieht es mit dem wirklichen oder einem Wunschtitel – und fordert per Mausklick die Deutung an. Und schon rattert sie, die zufallsgesteuerte „Buergelmaschine”, die jegliches Kunstwerk gründlich plättet – wie nur je eine Bügelmaschine.

Mehrere Nutzer haben Leonardos berühmte „Mona Lisa” eingestellt. Wir erfahren dazu im typischen Buergel-Sound, dieses Gemälde sei „die Projektion eines Gesellschaftskörpers im Sinne einer Gemeinschaft der Gleichen.” Passt nie und immer. Im zweiten Anlauf heißt es über dasselbe Bild, Leonardo versuche, „die Strukturen der digitalen Informationsgesellschaft zu verstehen.” Dieser Maler war eben weitsichtig.

Ein biedermeierliches Idyll von Carl Spitzweg wird so „erklärt”: „Grundthese der klimaveränderungsgebeutelten Arbeit ,Der Bücherwurm‘ ist die lyrische oder sogar ekstatische Seite der Kunst.” Gut, dass es mal einer sagt. Auch das mit dem Klima.

C. D. Friedrichs romantischer „Wanderer über dem Nebelmeer” bleibt auch nicht ungeschoren: „Trotz der Partydekadenz des Kunstmarktes ermutigt Caspar David Friedrich (dazu), Betroffenheitskitsch zu aktivieren . . .”

Richtig abstrus wird es aber erst, wenn die User keine anerkannten Kunstschöpfungen, sondern populäres Bildwerk hochladen. Ein Porträt des Krümelmonsters etwa, das lauthals „Kekse!” verlangt. Dazu heißt es ganz beherzt: „Das Spannungsfeld von Konvention und Imagination der konsumistischen Arbeit ,Kekse!‘ ist das bloße Leben.” Man hat es doch immer schon geahnt, oder?

Ein Briefmarken-Doppelbildnis der alten Existenzialisten-Haudegen Käpt’n Blaubär und Hein Blöd haben wir bisher freilich nie zu würdigen gewusst – bis wir diese durchtriebene Auslegung gelesen haben: „Im Rahmen von Performances fordert Hein Blöd, die Formentypologie der Moderne zu vernichten (…) Das bestimmende Moment der Irritation der leisen und differenzierten Arbeit ,Käpt’n Blaubär‘ ist Jean-Paul Sartre.”

Maus, Ente und Elefant aus der „Sendung mit der Maus” erfüllen gleichfalls eine Mission: „Das Verhältnis von Unterwerfung und Freiheit auslotend”, will das Trio nämlich den „negativen Raum als Provokationsstrategie” zur Debatte stellen, und das auch noch in der „traumlosen Hölle des Realen”. Mauseken, wie haste dir verändert!

Natürlich können es manche nicht lassen und setzen Bildnisse unbekleideter Damen völlig ungeschützt dem deutenden Zugriff aus. Eines heißt vielsagend „Höhepunkt”. Die Deutung erhebt sich weit übers Fleischliche: „Triviale Erkenntnis der unterkomplexen Arbeit ,Höhepunkt‘ ist das Grundgefühl der Verlorenheit in Kassel.”




Kleiderhaken bürgen für Qualität – Max Goldts Buch „QQ“

Wenn man mal wieder nicht so recht weiter weiß im (Gesellschafts)-Leben, dann ist es an der Zeit, Max Goldt zu lesen. Er weist Wege, er schlägt Schneisen.

Sein neuer Band heißt „QQ”. Das Kürzel steht angeblich für „quiet quality”, also stille Güte. Nun ja. Gewiss. Der begnadete Kolumnist des Satireblattes „Titanic” steuert stets einen Schlingerkurs. Er kommt gedanklich von Hölzchen auf sonstwas, so dass man oft fürchtet: Jetzt trägt es ihn wirklich aus der Kurve, das kriegt er nicht mehr heil über die Runden. Doch man täuscht sich. Über dem assoziativen Gewimmel waltet denn doch sein gesunder Menschenverstand, der sich durch keine herrschende Meinung, keinen Trend und keinen Lifestyle blenden lässt.

Was lernen wir diesmal? Beispielsweise etwas über den Unterschied zwischen dem klugen und dem dusseligen Staunen. Zitat: „ . . . man sollte selbstdisziplinarische Maßnahmen ergreifen, um nicht an jene Grenze zu stoßen, hinter der das Staunen in Gaffen und entfesseltes Plappern übergeht.” Es folgt ein aberwitziges Beispiel: Jemand wird auf einer Party einem Moraltheologen vorgestellt, worauf man eben verschieden reagieren kann. Etwas weniger feinfühlige Variante: „Wow! Ich glaub, ich spinne: ein Moraltheologe! Ich dachte, die gäbe es nur im Fernsehen . . . Darf ich Sie mal fotografieren? Oh Schock, mein Akku ist fast alle . . .”

Mit Goldt sieht und hört man genauer hin: Da lernt man etwa den blasierten TV-Komponisten kennen, der für alle möglichen Sendeformate immerzu Mönchschöre einsetzt. Ferner geht’s um die bestürzend putzige Wesensart jener Frauen, an deren Handtaschen Teddy-Figürchen baumeln. Auch das soziale Prestige von Serien-Schauspielerinnen bei gewissen Privatsendern wird zeitdiagnostisch erörtert, es ist demnach vergleichbar mit dem eines Losverkäufers im Zoo. Wie präriehundsgemein!

Liebevoll geraten hingegen die kleinen Porträts wunderlicher alter Damen, die das Bild wahrer Großstädte laut Goldt mehr bereichern als jede schrille Jugend-Fraktion. Man schlürft dabei Formulierungen wie diese hier: „. . . während die andere mehr dem Typus des glückhaft im Eigenleben versumpften ,alten Mädchens‘ entsprach.”

Zwischendurch zerpflückt Goldt einen ebenso branchenüblichen wie bodenlosen Kritikersatz („Radikale Bestandsaufnahme des Lebensgefühls einer Generation”) in seine dummdreisten Bestandteile. Der Beitrag gehört in künftige Leitfäden für Leute, die über Kultur schreiben.

Ein Ausflug führt sodann in diverse Gaststätten. Als ein Qualitätsmaßstab wird da die Anzahl der Kleiderhaken hinzugezogen. Je mehr davon, umso solider und bodenständiger das Lokal! Sagen wir’s folglich mal so: Dieses Buch von Max Goldt ist ungelogen randvoll mit Kleiderhaken.

Max Goldt: „QQ”. Rowohlt Berlin, 156 Seiten, 17,90 €.




Sons meck Chef

Ob diese Zeilen gelingen? Das wage ich zu bezweifeln. Langsam fürchte ich nämlich, dass ich zu den „Pechvögeln der Woche“ gehöre. Vielleicht sollte ich schnell noch einen Blick ins tägliche WR-Horoskop werfen. Da steht doch tatsächlich unter Steinbock: „Bereits wegen einer Kleinigkeit könnte es Ärger geben.“ Stimmt.

Meine Strähne fing mit einem kostspieligen Auffahrunfall an. Tags darauf gab der Dienst-Computer seinen Geist auf. Wahrscheinlich hat das hundsgemeine Auto ihn dazu angestiftet. Geräte-Verschwörung!

Am Wochenende ging’s unverdrossen zum schwedischen Möbelhaus. Beim Öffnen des Pakets hat mich eine tückische Metallschiene geschnitten. Keine Details. Klar, dass anderntags die EC-Karte nicht mehr am Geldautomaten funktionierte. Wozu braucht man auch den schnöden Mammon? Apropos: Am selben Morgen lag prompt Post vom Finanzamt im Briefkasten. Keine Details. Hauptsache gesund.

Wie geht es jetzt weiter? Bloß nicht geduckt auf den nächsten Vorfall warten! Sondern: Das zerzauste Karma striegeln und dann dem Schicksal froh entgegen blicken.

Wie? Was? Oh je, der Redaktionsschluss naht. Jetzt also erst mal diesen Beitrag fix zum halbwegs guten Ende bri, abschlie und fertig ma … Sons meck Chef.




Helge – der Schamane des Unsinns / Programm „I Brake Together“: Auftakt zur langen Tournee in Paderborn

Von Bernd Berke

Paderborn. „Paaaderboorn – Bi-hie-lefeld – Minden.“ Der Kerl macht sogar aus den Ortsnamen seiner ersten Tournee-Stationen noch einen kleinen Song. Helge Schneider ist wieder unterwegs, und die Reise soll bis ins Jahr 2008 dauern.

Jetzt gab’s den Auftakt just im kreuzbraven Paderborn. Ein Testgelände abseits der kulturellen Hauptrouten. Helge treibt natürlich seine kleinen Scherze mit der Stadt. Mal nennt er sie „Kaff“, mal „kafkaesk“. Alles furchtbar nett gemeint. Daran, dass hier und andernorts nichts los ist, sei ohnehin nur Angela Merkel schuld, bemerkt er feixend.

„I Brake Together“ heißt sein neues Musikprogramm. Das kann man kaum übersetzen. Genau genommen, hieße es nicht „Ich breche zusammen“, sondern etwa „Ich bremse zusammen.“ Aber bei Helge Schneider darf man nicht zum Wortklauber werden. Kichernde Sinn-Zerstäubung ist seit jeher sein Pläsier.

Hauptsächlich besteht der Abend aus exzellent dargebotenen Jazz-Spielarten, Blues und traditionssattem Rock’n’Roll – meist in schön verjaulte Schräglage versetzt, was die Musik oft erst richtig auf den Begriff bringt.

Dass Helge (51) ein Virtuose auf vielen Instrumenten (Klavier, Saxofon, Trompete, E-Gitarre etc.) ist, hat sich herumgesprochen. Und wer einen Pete York in seiner (betagten) Begleitband hat, muss sich erst recht keine Sorgen um den Sound machen. Der seit den frühen 1960er Jahren aktive Drummer (Spencer Davis Group, Hardin & York etc.) bekommt auch bei Helge sein bärenstarkes Solo. Wow!

Vor allem aber lechzt das überwiegend junge Publikum nach Helge Schneiders Liedtexten und Überleitungen. Es giert nach herrlich hirnrissigen Titeln wie „Lady Suppenhuhn“ oder „Telefonmann“, die dieser Schamane des Unsinns schlichtweg gekonnt herunter-eiert. Sein neuer Hit vom „super-sexy Kä-Kä-Käsebrot“ zerrt einen biederen Tonfall („Käsebrot ist ein gutes Brot“ – das klingt wie aus den 50er Jahren) über alle Zwischenzeit hinweg ins Jetzt. Er bringt auch solche halsbreçherischen Sachen halbwegs heil um die Kurve.

Gipfelpunkt ist seine ingeniöse Parodie auf Udo Lindenberg. Da scheint tatsächlich „uns‘ Udo“ zu röhren – im schlingernden Dialog mit einem gewissen Helge Schneider. Der bringt es sogar fertig, beide Singstimmen (fast) auf einmal ertönen zu lassen. Und beim neuen Lied „Trompeten von Mexiko“ („sie laden dich ein“) spielt er dieses Blasinstrument und das Piano zugleich. Solche simultanen Zauberstücke macht ihm so leicht keiner nach.

Man spürt, dass er mittlerweile entspannt in sich ruht. Er muss sich und uns nichts mehr beweisen. Wo er ehedem schon mal etwas krampfhaft witzelte, lässt er’s heute durchweg locker laufen. Und es blitzen sogar Zwischentöne durch – allerhand Sottisen gegen Konsumwahn und TV-Flachsinn inbegriffen. Besser so. Heute ist heute, morgen improvisiert er gewiss wieder ganz anders. Und bei all dem wird dieser Chaot unversehens zum Perfektionisten.

Blöd ist er sowieso nicht. Es springen gar hinterhältige (Anti)-Weisheiten heraus. Etwa diese Erkenntnis über Einsamkeit, die auf Gelegenheiten lauert: Liebe bestehe doch oft darin, dass man jemanden „irgendwo abfängt“. Oder zum Ladenschlussgesetz: „Endlich kann man mal bis 20 Uhr pennen.“ Zur Weihnachtszeit mahnt er als oberstes Ziel „Zufriedenheit“ an. Was man jetzt überhaupt nicht gebrauchen könne, seien Leute, die „ins Tannenbaumzimmer rasen und in die Ecke pinkeln“. Ist doch wahr!

Das Publikum in der ausverkauften Paderhalle ist lachlustig. Die Fans goutieren ja praktisch alles, was Helge so treibt. Doch enthusiastisch steigert sich der Beifall nur stellenweise. Vielleicht liegt’s ander mitunter bedächtigen ostwestfälischen Wesensart?

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HINTERGRUND

Platte, Buch, Kinofilm und Tournee

  • Helge Schneider kommt jetzt in diversen Medien auf uns zu:
  • Die CD zur Tournee „I Brake Together“ kommt am 19. Januar 2007 heraus.
  • Kürzlich ist sein neues Buch „Die Memoiren des Rodriguez Faszanatas“ erschienen.
  • Am 11. Januar 2007 startet Dany Levys Kino-Tragikomödie „Mein Führer“ – mit Helge Schneider in der Rolle Adolf Hitlers…
  • Die langwierige Tournee führt u. a. nach Mülheim (16. und 17. Dez. 2006), Essen (15.2.2007) – und erst im Herbst 2007 nach Gelsenkirchen, Olsberg, Attendorn, Hamm, Dortmund und Hagen.

 




Die ganze Vielfalt des Landes – Mediathek von WAZ-Mediengruppe und WDR startet im September / Bücher, CDs und Filme über NRW

Von Bernd Berke

Essen. „Wir in Nordrhein-Westfalen. Unsere gesammelten Werke“. So heißt eine neue Edition mit allmonatlich erscheinenden Büchern, DVDs und CDs, die Anfang September startet.

Starke Partner sind im Boot: Die WAZ-Mediengruppe, zu der auch die Westfälische Rundschau gehört, arbeitet bei diesem großen Projekt mit dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) zusammen. Dritter im Bunde ist der Essener Klartext-Verlag. Bodo Hombach, Geschäftsführer der WAZ-Gruppe, und WDR-Intendant Fritz Pleitgen stellten die gemeinsame Edition gestern im Design-Zentrum der Essener Zeche Zollverein vor.

Auf vorwiegend unterhaltsame Weise soll die Reihe das Landesbewusstsein in NRW stärken – passend zum bevorstehenden 60. „Geburtstag“ unseres Bindestrich-Bundeslandes. Dabei kommen alle Lebensbereiche in Betracht: Geschichte, Politik, Wirtschaft, Kultur, Natur und Sport, aber auch der ganz normale Alltag in der Region.

Das breite Spektrum der neuen Reihe reicht vom Schimanski-Krimi bis zur Reden-Sammlung des langjährigen NRW-„Landesvaters“ Johannes Rau, vom regional getönten Kabarett auf CD oder DVD bis zum nostalgischen Film über Revier-Fußball. Alle Titel erscheinen zu günstigen Vorzugspreisen. Wer abonniert, genießt Zusatz-Rabatt. Monatlich kommen im Wochenrhythmus vier Titel heraus.

Man kann hier viele Entdeckungen machen, denn einige wichtige Werke waren seit längerer Zeit vergriffen. Sie erleben in der „Mediathek“ eine ersehnte Neuauflage. Andere Bücher, Platten oder Filme sollen eigens entstehen. Über die Qualität wacht ein hochkarätiges Experten-Kuratorium. Im weiteren Verlauf der langfristig angelegten Edition können auch WR-Leser Wunschtitel vorschlagen.

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Seite Das Land und die Region:

Die Bürger des Landes können sich mit den Büchern, Filmen und Platten der neuen „Mediathek“ im Lauf der Zeit eine NRW-Sammlung zulegen, die ihresgleichen sucht. Wenn man allein bedenkt, welche regionalen Filmschätze in den Archiven des WDR schlummern…

WDR-Intendant Fritz Pleitgen zeigte sich gestern in Essen sehr angetan: „Selten hatte ich so wenig Zweifel an einem Projekt wie an diesem.“ Bodo Hombach, Geschäftsführer der WAZ-Gruppe, betonte den wachsenden Wert der Region, die den Geist der Mediathek präge: „In einer Welt der Traditionsbrüche, des schnellen Neuen, eisiger Globalisierung und undurchsichtiger europäischer Anpassungsprozesse hat die Verwurzelung und damit soziale Stabilisierung im Lokalen und Regionalen zunehmend große Bedeutung.“ Das hiesige Landesbewusstsein sei niemals provinziell, sondern stets weltoffen und tolerant.

In diesem Sinne geht’s im September los mit der Mediathek der WAZ-Mediengruppe, zu der auch die WR gehört, und des WDR. Das Leitmotto des ersten Monats heißt „Land in Sicht“: Die DVD-Scheibe „NRW – der Anfang“ führt mit rarem Bildmaterial zurück in die Gründerzeit des Landes. Die Städte an Rhein und Rühr liegen in Kriegstrümmern. Doch schon bald regen sich die Kräfte, die diese Region wieder aufbauen wollen.

Die Chose mit Rheinländern und Westfalen

Lust auf Zukunft weckt sodann das gleichnamige Buch mit den gesammelten Reden des unvergessenen „Landesvaters“ und Bundespräsidenten Johannes Rau. Natürlich spielt auch dabei das „Wir-Gefühl“ in unserem Land eine zentrale Rolle.

Gemeinsames „Wir-Gefühl“? Nun ja. „Der Westfale ist der natürliche Feind des Rheinländers.“ So lautet ein scherzhaftes Credo des Kölner Kabarettisten Jürgen Becker (WDR-„Mitternachtsspitzen“). Auf der September-CD macht er die Probe. Hier trifft er auf einen ganz sturen Westfalen: Rüdiger Hoffmann, den Meister der verbalen Langsamkeit. Das Fazit der beiden so unterschiedlichen Landsleute liegt zwischen Aufstöhnen und Umarmung: „Es ist furchtbar, aber es geht.“ Nämlich die Chose mit Westfalen und Rheinländern. Halbwegs. Irgendwie. Und mit viel Gelächter.

Markante Wiederentdeckungen

„Schönes NRW“ heißt die vierte Neuerscheinung, die das September-Programm abrundet. Dieser Reiseführer zu den historischen Stadt- und Ortskernen macht mit zahlreichen Farbfotos, Karten und Infos Appetit auf Erkundungsreisen durchs Land.

Die vier Starttitel dienen als Einführung ins NRW-Thema, sie sind eine gewichtige Basis der Edition. In den folgenden Monaten geht es vielfach spielerischer zu. Beispiel: der Oktober mit markanten Wiederentdeckungen. Da lock die DVD mit Raubein „Schimanski“ („Tatort: Schwarzes Wochenende“ von 1985). Als literarisches Kleinod folgt Irmgard Keuns Roman-Satire „Nach Mitternacht“, die im Köln der Nazizeit spielt. Die CD „Ruhrtour“ versammelt Hörbilder aus 50 Jahren zu einem akustischen Porträt der industriellen Kernlandschaft von NRW. Außerdem erscheint ein besonderes Geschichtsbuch mit demokratischen Lehrbeispielen. Hier erfährt man, wie die Menschen an Rhein und Ruhr ihre Geschicke erfolgreich selbst in die Hand nehmen.

Später folgen z. B. „Maus“-Geschichten für Kinder, Fußballfilme, Kochbücher, Texte des gebürtigen Düsseldorfers Heinrich Heine, diverse Ruhrgebiets-Romane und die Historie von Unternehmen wie Krupp. Nach und nach also: die ganze Vielfalt des Landes.

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INFO

Leserläden, Buchhandel und Internet

  • Offizieller Starttermin der neuen Mediathek ist Montag, 4, September.
  • Die Edition mit monatlich vier Titeln (jede Woche einer) umfasst im Medienmix literarische Texte, Sachbücher, CDs und DVDs – durchweg mit Bezug zum Land NRW.
  • Es wird mehrere Bezugsquellen geben: Leserläden der WAZ-Mediengruppe (also auch der Westfälischen Rundschau), normaler Buchhandel und Internet. Die Homepage wird in Kürze freigeschaltet.
  • Die Titel der Reihe könneu entweder einzeln oder im besonders günstigen Abo-Paket (monatlich vier Titel für insgesamt 21,90 Euro) erworben werden. Für WR-Abonnenten erfolgt die Lieferung frei Haus.
  • Einzelpreis pro Buch 7,95 Euro, für jede DVD oder CD 8,50 Euro.



Im Lachen liegt die tiefste Weisheit – Klassiker mit Breitenwirkung: Zum Tod des großen Humoristen und Dichters Robert Gernhardt

Von Bernd Berke

Mag sein, dass er dem Schnitter ganz zuletzt noch ins Gesicht gelächelt hat. Doch welche Tröstung man sich auch vorstellt: Die Nachricht vom Tode Robert Gernhardts macht wohl alle seine Leser zutiefst traurig. Mit ihm verlieren wir den vielleicht wirksamsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart Seine Anhängerschaft reicht weit über die üblichen literarischen Gemeinden und Zirkel hinaus.

Es ist überhaupt kein Frevel am klassischen Erbe, wenn man Gernhardt in einem Atemzuge etwa mit Lichtenberg, Jean Paul oder Kurt Tucholsky nennt. Auch er gehörte zu den ganz großen Humoristen und Wortmeistern.

Szene vor Jahren am Schaufenster einer Dortmunder Buchhandlung: Ein paar Leute besahen sich die Auslagen, sie entdeckten Gernhardts Buch „Über alles“ nebst seiner gesammelten Lyrik. Nun ging’s aber hurtig zur Sache. Jeder kannte diverse Gernhardt-Zeilen und gab sie zum besten. Manchmal klang’s derb-lustig („Der Kragenbär, der holt sich munter / einen nach dem anderen ‚runter“), dann wieder äußerst feinsinnig. Und die Gruppe war durch die Verse derart animiert, dass die Fußgängerzone ein klein wenig „vibrierte. Da sage einer, Literatur könne nichts ausrichten.

Zwischen herrlichen Kalauern und lachender Weisheit, Drastik und Feingeist, die er unnachahmlich zu verknüpfen wusste, war Gernhardt nichts Menschliches, Komisches, Sprachliches fremd.

Das Elend mit den Rezensenten

Seine prägnanten Sinnsprüche zieren nicht nur etliche Anthologien, sie sind auch bereichernd ins verbale Volksvermögen eingeflossen. Vor allem ihm verdanken wir es, dass höherer Nonsens ungeahnte Breitenwirkung erzielen konnte. Selbst die Kinofilme eines Otto Waalkes wurden aus Gernhardts solider Ideen- und Wortmanufaktur beliefert.

Bei ihm stimmte stets der Tonfall des Geschriebenen, und viele Menschen haben das gespürt. Dass dieser ungemein sympathische, vielfach begabte Maler, Zeichner, Cartoonist und Dichter 68 Jahre alt war, wollte man irgendwie nicht wahrhaben, so frisch und hell war sein Geist. Und war es denn wirklich schon so lange her, dass Gernhardt (mit F. K. Waechter und F. W. Bernstein) reimend und zeichnend die legendären „Pardon“-Seiten „Welt im Spiegel“ („WimS“) schuf?

Nun ja. Das war tatsächlich zwischen 1964 und 1976, liegt also ein Stück des Weges zurück. Doch es ist noch gegenwärtig. Denn damals wurde der vordem meist biedere deutsche Nachkriegs-Humor auf eine neue Stufe gehoben. Diese Großtat der „Neuen Frankfurter Schule“ fruchtet bis heute. Ohne Loriot, Heinz Erhardt und eben Gernhardt& Co. wären ein Max Goldt oder Harry Rowohlt so nicht denkbar. Ohne den Mitgründer Gernhardt gäb’s wohl auch kein Satireblatt „Titanic“. Die Fackel wird also gottlob weiter getragen.

Tradition als Wegweiser und Widerstand

Schon gegen Ende der 60er Jahre; als der 1937 in Reval (heute Tallinn/Estland) geborene Robert Gernhardt noch unter dem Pseudonym „Lützel Jeman“ (Mittelhochdeutsch für: „Kaum jemand“) arbeitete, hätte man ahnen können, dass er keineswegs nur Scherze machen wollte. Da reifte ein eminent formbewusster Autor heran, der die Tradition als „Wegweiser und Widerstand“ begriff.

Doch die erste (undotierte) Jury-Auszeichnung bekam er erst mit 50 Jahren. Bis die Feuilletons sein Schaffen priesen, dauerte es elend lang. Erst seit Mitte der 80er, als sein Erzählband „Kippfigur“ erschien, gilt er hochmögenden Rezensenten als würdig. Zuletzt umwehte ihn gar eine Aura von Unantastbarkeit. Die erschütternden Gedichte über seine Herz- und Krebskrankheit dürften zu solcher Ehrfurcht beigetragen haben.

Auch als Kritiker war er eine Instanz. Manches gravitätische Werk hat er als puren Humbug entlarvt, doch hat er auch verborgene Pflänzchen ans Licht gezogen. Dichterische Hervorbringungen (etwa von Wolf Biermann) sezierte er so triftig und erhellend, dass ihm bestenfalls ein Enzensberger ebenbürtig war. Wie sonst nur noch Peter Rühmkorf, hat Gernhardt bewiesen, dass Gedicht und Reim sich auch heute nicht „beißen“ müssen. Willkürlich gehackter Zeilen-Salat eines krampfhaften Modernismus war ihm suspekt. In dem Band „Klappaltar“ hat er mit parodistischen Mitteln Goethe, Heine und Brecht auf ihre Substanz überprüft – und zwar „auf Augenhöhe“.

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GERNHARDT-ZITATE

Wie es der Wal treibt

  • Lyrische Kostproben:
  • „Dein Leben ist dir nur geliehn – / du sollst nicht daraus Vorteil ziehn, /Du sollst es ganz dem Andren weihn – / und der kannst nicht du selber sein. / Der Andre, das bin ich, mein Lieber – / nu komm schon mit den Kohlen rüber.“
  • „Paulus schrieb an die Apatschen: / ihr sollt nicht nach der Predigt klatschen.“ (im Gedicht „Weil’s so schön war“ im Band „Wörtersee“).
  • „Wenn einer eine Chemo macht / dann kann er was erzählen / und seine Umwelt Tag und Nacht / mit Selbsterlittnem quälen.“ (im Band „Die K-Gedichte“).
  • „Der Wal vollzieht den Liebesakt / zumeist im Wasser. Und stets nackt“‚ Gedicht“Animalerotica“, Band „Besternte Ernte“.
  • Die Basis sprach zum Überbau: Du bist~ja heut schon wieder blau! /Da sprach der Überbau zur Basis: Was is? (ïm Gedichtband „Besternte Ernte“).



Mit Herzblut für die wahre Freiheit – Einer unserer allergrößten Dichter: Vor 150 Jahren ist Heinrich Heine in Paris gestorben

Von Bernd Berke

Vielleicht treffen sie sich jetzt dort droben: Wolfgang Amadeus Mozart und Heinrich Heine. Falls ja, dann können der Komponist und der Dichter einander Hochachtung, aber auch wechselseitiges Mitleid bekunden. Allenthalben werden sie rituell gefeiert, weil sich biographische Daten „runden“. Heute vor 150 Jahren starb Heine nach langjährigen Leiden in seiner Pariser „Matratzengruft“.

Wie überaus betrüblich: Einer, der dem göttlich guten Leben im Diesseits derart zugetan war, musste so elendiglich enden. Nur zu verständlich, dass Heine zuletzt allen atheistischen Anwandlungen abschwor und um Gottgläubigkeit rang. Nur ahnungslose Schandmäuler können ihm dies verübeln.

Seine Werke gehören unverbrüchlich zur Weltliteratur. In Frankreich zählen die Bücher von „Henri“ ebenso zum ehernen Bestand wie bei uns – und mancher Japaner oder Russe kann wahrscheinlich das „Loreley“-Gedicht im deutschen Original aufsagen.

Sein Witz war kühn und treffsicher

Das berühmte „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ konnten nicht einmal die Nazis verschweigen. Allerdings schrieben sie die Zeilen einem „unbekannten Dichter“ zu.

Heine war Rheinländer jüdischen Glaubens, als junger Mann ließ er sich allerdings christlich taufen, denn: „Der Taufzettel ist das Entréebillet zur europäischen Kultur.“ Antijüdische Vorurteile gegen Heine steigerten sich schon bei einigen seiner Zeitgenossen zu erschreckenden Hasstiraden. Die üblen Klischees des 19. Jahrhunderts führten letztlich auch zur Bücherverbrennung von 1933.

Der Heißsporn Heine hat sich zu seiner Zeit mit nicht lauteren Mitteln gewehrt: Als der Dichter August Graf von Platen ihn mit antisemitischen Untertönen angriff, machte sich Heine öffentlich über dessen Homosexualität lustig – damals ein ungeheurer Skandal und wohl der schlimmste deutsche Dichterstreit überhaupt.

Nachwirkung zwischen Karl Kraus und Nietzsche

Heines Nachwirkung ist stets eine Streitfrage gewesen. Selbst ein ungemein kluger, doch hitziger Kopf wie Karl Kraus hat Heine als Vorläufer eines unverbindlich plaudernden Stils missverstehen wollen. Kraus-Zitat: „Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat.“ Heine habe „der deutschenSprache so sehr das Mieder gelockert (…), dass heute alle (…) an ihren Brüsten fingern können.“ Friedrich Nietzsche bezog die Gegenposition: „Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind …“

Die Vaterstadt Düsseldorf hat sich mit Heine schwer getan. Schier endlos währte das Gezerre darum, ob die Uni seinen Namen tragen sollte 1989 war es so weit. Ehrenbürger ist er bis heute nicht.

Mit Herzblut hat Heine einige der schönsten romantischen Gedichte geschrieben. Doch sein flackernder, treffsicherer Witz und seine oft kühnen Formulierungen (er reimte schon mal „ästhetisch“ auf „Teetisch“) ließen wehe Idyllen und Schauermärchen der Romantik weit, weit hinter sich.

Gemischte Gefühle fürs aufkommende Proletariat

Er hat nicht nur höchst sprach- und formbewusste, sondern aufsässige Texte geschrieben – mit satirischer Stoßrichtung gegen schläfriges Biedermeier, starres Preußentum und aggressiv dumpfen Nationalismus (nationale Einigung ja, aber bitte unter freiheitlichen Vorzeichen). Ach, wüsste man doch, was der Erz-Journalist Heine zum jetzt so akuten Streit um Karikaturen und Pressefreiheit gesagt hätte!

Mit gemischten Gefühlen sah Heine das Proletariat heraufkommen. Er begriff die Notwendigkeit dieser Entwicklung, fürchtete aber auch die Barbarei der neuen Klasse – eine Schreckensvision, die im Realsozialismus grässliche Gestalt annahm. Im Grunde blieb Heine Monarchist, freilich ein aufgeklärtes Königtum, das per Verfassung alle (bürgerlichen) Menschenrechte wahren sollte.

Mit Potentaten und Zensoren in Berlin hatte er ebenso Probleme wie mit kaufmännischen „Pfeffersäcken“ in Hamburg, wo sein reicher Bankiers-Onkel Salomon und sein Verleger Campe lebten – zwei Menschen, mit denen er oft um Geld gestritten hat.

Welch eine Befreiung muss Paris bedeutet haben, damals die konkurrenzlose Weltmetropole mit rauschendem Kultur- und Gesellschaftsleben, an dem Heine ausgiebig teilnahm. Hier traf er prägende Gestalten jener Zeit – von Richard Wagner bis Karl Marx, von Hector Berlioz bis Balzac und George Sand.

„Dicht hinter Hagen ward es Nacht.. .“

Seinen Büchern kann man entnehmen, dass er trotz alledem wehmütig an seiner Heimat gehangen hat. Er hatte „das Vaterland an den Sohlen“ – wären es doch nur befreite Lande gewesen! „Denk ich an Deutschland in der Nacht…“

Der Rheinländer Heine hat die geradlinige westfälische Wesensart sehr geschätzt. In Göttingen sang und trank er mit Studienfreunden aus hiesigen Breiten.

Die Zeilen, die jeden Westfalen rühren, stammen aus der ansonsten eminent politischen Dichtung „Deutschland. Ein Wintermärchen“ und schildern Heines Reise nach Hamburg (1843), die durch Westfalen führte:

„Dicht hinter Hagen ward es Nacht, / Und ich fühlte in den Gedärmen / Ein seltsames Frösteln. Ich konnte mich erst / Zu Unna, im Wirtshaus, erwärmen…/ Den lispelnd westfälischen Akzent / Vernahm ich mit Wollust wieder.“

Und nun kommt’s:

„Ich habe sie Immer so lieb gehabt, / Die lieben, guten Westfalen, / Ein Volk so fest, so sicher, so treu, / Ganz ohne Gleißen und Prahlen (…) / Sie fechten gut, sie trinken gut, / und wenn sie die Hand dir reichen, / Zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie; / Sind sentimentale Eichen.“

Beileibe nicht nur wegen dieser Verse: Der Weltbürger Heine verdient unbedingt auch die westfälische Ehrenbürgerschaft.

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LEBENSDATEN

Kaufmannslehre und Romantik

  • Heinrich Heine (Bild) wird am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf geboren.
  • Er erwirbt kein Reifezeugnis, sondern wechselt zur Handelsschule.
  • Ab 1815 Kaufmännische Lehrzeit in Frankfurt und Hamburg.
  • 1816 Unglückliche Liebe zur Cousine Amalie.
  • 1817 Erste Gedichte unter Pseudonym.
  • Ab 1819 Jura-Studium in Bonn, Göttingen, Berlin. Auch philosophische Vorlesungen, u. a. bei Hegel.
  • 1825 Examen, Promotion, protestantische Taufe.
  • 1826 Erster Teil der „Reisebilder“ (u.a. „Die Harzreise“, „Die Nordsee“).
  • 1827 „Buch der Lieder“ (zu Lebzeiten 13 Auflagen). Reise nach England.
  • 1828Norditalien-Reise
  • 1829 Umzug nach Berlin
  • 1837 Heine zieht nach Paris, berichtet von dort für deutsche Zeitungen.-•1835 Verbot der Schriften Heines im Dt. Bund.
  • 1836 „Die romantische Schule“
  • 1840 Streitschrift gegen Ludwig Börne (Folge: Duell mit einem Börne-Fan).
  • 1 841 Heirat mit der 18 Jahre jüngeren Mathilde, die er 1834 kennen gelernt hatte. Heine schrieb: „Sie hat einen sehr schwachen Kopf, aber ein ganz vortreffliches Herz.“
  • 1843 und 1844 Reisen nach Hamburg.
  • 1844 „Deutschland. Ein Wintermärchen“.
  • 1847 „Atta Troll“
  • 1848 Feb./März: Bürgerliche Revolution in Frankreich und Deutschland. Heine ist ab Mai für den Rest seines Lebens durch Krankheit ans Bett gefesselt („Matratzengruft“).
  • 1851 „Romanzero“
  • 1854 „Geständnisse“
  • 1856 (17. Februar): Heinrich Heine stirbt in Paris.



Bärbeißiger Menschenfreund – zwischen Stadtstreicher und alttestamentarischer Figur: Harry Rowohlt wird 60

Von Bernd Berke

Seine Lesungen, zu denen oft viele hundert Leute kommen; hat er einmal „Schausaufen mit Betonung“ genannt. Zeugenaussagen schwanken allerdings: Manche behaupten, Harry Rowohlt vertilge bei abendlichen Auftritten mühelos eine Flasche Whisky oder mehr. Andere sagen, alles sei halb so wild. Und wir wollen hier keinerlei Tatsachenbehauptung aufstellen.

Denn wer immer über Harry Rowohlt schreibt, muss sich hüten oder notfalls ducken. Der Mann schlägt mitunter verbal ganz scheußlich zurück; wie jetzt auch seine in Buchform gesammelten Briefe (1966 bis Ende 2004) vielfach beweisen. Am Sonntag wird die wohl verwegenste Gestalt der deutschen Kulturszene 60 Jahre alt.

Kongeniale Übersetzung aus dem Englischen

Vor allem als Übersetzer aus dem Englischen hat der Mann ungeheure Verdienste. Das Spektrum seiner kongenialen Übertragungen reicht vom Iren Flann „O’Brien (den er entschieden höher einschätzt als James Joyce) über Frank McCourt („Die Asche meiner

Mutter“) bis hin zu „Pu der Bär“ und zum Comic-Heros Robert Crumb. Wahrscheinlich ist Rowohlt sogar der beste Englisch-Übersetzer, den wir haben. Denn er liebt die deutsche ebenso wie die englische Sprache – und das klingt mit.

Auch als Verfasser herrlich abgedrehter, genialisch abschweifender Kolumnen („Pooh’s Corner“) reicht ihm – außer vielleicht Max Goldt – so schnell keiner den Griffel. Harry Rowohlt wirkt wie eine Mischung aus Stadtstreicher (er spielt ja auch seit Jahren den „Penner“ in der TV-Serie „Lindenstraße“) und alttestamentarischer Figur.

.Vulkanisch sind zuweilen seine Zornesausbrüche. An den Kritiker Fritz J. Raddatz schrieb er laut Buchabdruck äußerst rüde, kaum familienverträglich zitierfähige Zeilen. Grund: Raddatz hatte ausgerechnet die Werke des verehrungswürdigen Robert Gernhardt als stillos abgekanzelt. Harry Rowohlt hatte also nur die edelsten Motive.

Doch der manchmal so unwirsche Brummbär aus Hamburg kann auch ganz anders. Der Sohn des großen Verlegers Ernst Rowohlt schrieb schon als knapp über 20jähriger Lehrling im Frankfurter Suhrkamp-Verlag ebenso einfühlsame wie erfrischend offenherzige Auskunfts-Briefe. Auch später zeugen seine Antworten auf Leserzuschriften von Liebe zur ganzen literarischen Gemeinde. Ruhmreichen Autorenkollegen wie etwa Peter Rühmkorf oder Eckhard Henscheid widmet er ohnehin warmherzige Zeilen.

Die Liebe zum Publikum im Ruhrgebiet

Überdies hat der bärbeißige Menschenfreund Rowohlt, wie ein Briefwechsel belegt, dem WR-Mitarbeiter Tilmann P. Gangloff einst einen heiß ersehnten Leuchtkugelschreiber für Kinokritiken besorgt. Ist das noch steigerungsfähig? Jawohl! Rowohlt nennt das Publikum im Ruhrgebiet sein allerliebstes, und für Unna hat er ein besonderes Faible. Wie der Schlawiner das wohl wieder meint?

Staunenswert ist Rowohlts politische Zähigkeit. Der Band beginnt mit Comics des 11-jährigen Harry, die bereits 1956 die sozialistische Revolution preisen. Bis heute unterzeichnet Rowohlt seine Briefe häufig mit einem ruppigen „Der Kampf geht weiter!“

Eine beharrliche Seele also. doch auch einer, der schon früh erkannt hat, dass die DDR nichts taugt. Ein weltweiser Hippie, kein dümmlich orthodoxer Kommunist. Angewidert von manchen Wegen des Zeitgeistes, zieht Rowohlt unbeirrbar seine Bahn. Auch von geistigen Getränken und filterlosen Zigaretten hat er sich nie abbringen lassen.

Reisen in die USA lehnt er aus gleichem Grund wie Günter Grass ab: Er werde doch kein elendes Nichtraucherland besuchen…

• Harry Rowohlt: „Der Kampf geht weiter! Nicht weggeschmissene Briefe“. Verlag Kein & Aber, Zürich. 464 Seiten, 22,80 Euro.

• Außerdem neu im Handel: Harry Rowohlt „Pooh’s Corner. Complett“. Verlag Zweitausendeins (Versand + eigene Läden). 478 S., 14.90 Euro.




Die Suchmaschine bringt es an den Tag: Durch ein paar Mausklicks kulturelle Streitfragen klären

Von Bernd Berke

Ganz entspannt im Hier und Jetzt wollen wir mal ein paar uralte Kultur-Streitfragen klären. Internet-Suchmaschinen wie etwa Google machen’s möglich. Man gibt den Namen in die Suchmaske ein, und schon weiß man, wie oft er im Netz vorkommt.

Frage eins, von ergrauten Rockfans seit Jahrzehnten diskutiert: Wer ist bedeutender, die Beatles oder die Stones? Also, bitte sehr, kein Problem, das haben wir gleich: Die „Fab Four“ sind mit imponierenden 10,1 Millionen Internet-Fundstellen verzeichnet, die Rolling Stones gerade mal mit der Hälfte: 5,12 Millionen. Und das, obwohl die englische Wort-Kombination für „rollende Steine“ auch anderweitig vorkommen könnte, so vielleicht auf alpinistischen Seiten. Egal. Die Entscheidung ist gefallen.

Zusätzliche Labsal für Beatles-Anhänger: In der Einzelwertung liegt John Lennon (2,1 Mio.) auch noch deutlich vor Mick Jagger (535 000). Yeah, yeah, yeah!

Mozart liegt nur knapp vor Beethoven

Erheblich knapper wird es schon im Bereich der klassischen Musik. Mozart ist in den Weiten und Tiefen des Netzes 6,83 Millionen Mal zu finden, Beethoven kommt auf 5,68 Millionen. Pech. Da hat ihm – bei allem Respekt – auch sein „Ta-ta-ta-taaa“ nichts genützt.

Beim Klicken wachsen (je nach Neigung) das sportliche Vergnügen oder die Lust an der Lotterie (obwohl es hier keinen Jackpot gibt). Also schnell weiter mit zwei Malern: Rembrandt (2,05 Mio.) triumphiert über Michelangelo (1,88 Mio.). Ha! Picasso haben wir übrigens bewusst ausgelassen, denn da kriegen wir alle einschlägigen Parfümsorten oder Automodelle mit auf die Rechnung.

Und wie sieht es bei den großen Dichtern aus? Nun, hier heißt der Champion zweifellos Shakespeare: Schier unglaubliche 12,6 Millionen Nennungen entfallen auf seinen wahrlich berühmten Nachnamen. Dante (5,31 Millionen) und Goethe (3,81Mio.) wirken damit verglichen wie Newcomer.

Apropos neu, und hier wird’s erstaunlich: Bei den deutschen Schauspielern ist der Jungspund Daniel Brühl (236 000) dem Haudegen Götz George (246 000) bereits ganz dicht auf den Fernsen. Wie das wohl zustande kommt? Vielleicht hat die gar nicht so unfehlbare Suchmaschine ja den Stadtnamen Brühl (bei Köln) gelegentlich mitgezählt.mitgezählt, wenn denn auch irgend ein Herr namens Daniel auf der jeweiligen Homepage erscheint.

Wenn Thomas Mann gegen Brecht antritt

Auch kulturhistorische Konfrontationen lassen sich auf diese rabiate Weise nachbereiten. Bert Brecht und Thomas Mann mochten einander bekanntlich nie leiden. Den Ziffernsieg über den Edel-Proletarier trägt nun der großbürgerliche Mann davon: 4,82 Millionen (wobei vielleicht einige Zeitgenossen denselben, wohl nicht gar so seltenen Namen tragen).

Bertolt Brecht kommt unterdessen auf schlappe 640 000. Selbst wenn man die Lesart Bert Brecht (119 000) und die (oft verwendete, aber falsche!) Schreibweise Bertold Brecht (141 000) mitzählt, reicht es hinten und vorne nicht.

Muss man wirklich eigens betonen, dass dieses Verfahren völlig kulturfern, ja geradezu barbarisch ist? Und dass die genannten Zahlen schon heute nicht mehr genau stimmen, weil das Internet sich als höchst veränderlicher „Organismus“ erweist? Muss man nicht, oder? Schließlich entscheidet in kulturellen Fragen nicht allein die „Quote“.

Aber Spaß hat’s eben doch gemacht. Und nun schauen wir uns mal eben die 12,6 Millionen Shakespeare-Fundstellen genauer an. Tschüs denn, bis in ungefähr 500 Jahren…




Der Zorn auf den Zustand der Welt – Der Wiener Chanson- und Liederdichter Georg Kreisler wird 80 Jahre alt

Von Bernd Berke

Sein Charakter ist gewiss felsenfest gegründet, doch seine Stimmungen sind schwankend: Mal klingt Georg Kreislers Gesang melancholisch verhangen oder traumverlo, dann wieder wie von aller Welt nur noch angewidert, morbide und todessüchtig nach Wiener Art. Mitunter aber beginnen seine Lieder zu galoppieren wie wütende Rosse.

Dann hämmert das Piano im aggressiven Stakkato, und die Worte sausen durch abenteuerliche Reim-Kurven („In Bochum / gibt es ooch Um- / Sätze“). Durch all die vielen Jahre seines Schaffens ist Kreisler, der heute 80 Jahre alt wird, ein zorniger Mann mit lustvoll anarchistischen Neigungen geblieben; einer, der sich niemals abgefunden hat mit herrschenden Personen und Zuständen. So manche Rundfunkstation hat ihn, so klagt Kreisler, wegen solcher Beharrlichkeit boykottiert.

Einflüsse des amerikanischen Exils

Der Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts musste seine Heimatstadt Wien 1938 beim Einmarsch der Nazis verlassen, er emigrierte in die USA. Dort setzte er seine gerade begonnene musikalische Ausbildung fort, Swing-Feeling inklusive. In den frühen 50er Jahren war er u. a. Nachtclub-Sänger in New York. Sinatra hat’s gesungen: Wer es dort schafft, schafft es überall.

1955 kehrte Georg Kreisler nach Wien zurück, wo – vielfach im Duett mit seiner Frau Topsy Küppers – seine wohl erfolgreichste Zeit begann. Heute lebt er mit seiner Bühnen- und Lebenspartnerin Barbara Peters in Basel.

Zahllose Platten hat Krelsler eingespielt, einige verkauften sich weit über hunderttausend Mal. Lieder wie „Geimma Taubenvergiften im Park“, „Zwei alte Tanten tanzen Tango“ oder „Wie schön wäre Wien ohne Wiener“ stehen ehern auf der imaginären Langzeit-Bestenliste deutschsprachigen Sangesgutes.

„Lieder gegen fast alles“

Natürlich hat der allzeit unverwechselbare Kreisler auch etliche Tourneen absolviert. Im kommenden Herbst will der Mann, der sich schon öfter „für immer“ von der Bühne verabschiedet hat, eine weitere Rundreise antreten. Eine bewundernswerte Antriebskraft muss ihn leiten, so unermüdlich gegen die Unbill der Welt anzusingen.

„Lieder gegen fast alles“ heißt denn auch seine neue CD, die gerade frisch aus der Presse kommt (kip records, No. 1024). Sie enthält zumeist ältere, jedoch neu arrangierte, hie und da behutsam umgetextete Lieder, die gleichwohl teilweise etwas Patina angesetzt haben. Manche Widerspenstigkeit wird eben irgendwann von selbst historisch – sei sie auch noch so scharf und trefflich formuliert. Beim besten Willen kann man nicht alle gewesenen oder zu befürchtenden Regierungschefs („Bundeskanzler irgendwer“) in einen Sack stecken und draufhauen.

Manchmal wird er ganz makaber

Doch die Stoßrichtung gegen rabiate Machthaber und Geldsäcke („Sie sind so mies“) stimmt in den Grundzügen noch immer. Und Kreislers Alarmrufe gegen alle antisemitischen Umtriebe sind nicht nur biographisch zutiefst beglaubigt, sondern bestürzend aktuell. Gerade in jüngerer Zeit, so bekannte er, seien ihm seine jüdischen Wurzeln erst wieder auf schmerzliche Weise bewusst geworden.

Leider fehlen auf der neuen Scheibe jene makabren Miniaturen, für die Kreisler zu Recht gerühmt wird. Kaum einen anderen gibt’s, der etwa einen so finsteren Blick auf „Die Ehe“ gerichtet hätte. Der ganze böse graue Alltag misslingender Zweisamkeit wird im gleichnamigen Song durchschritten, bis es auf einmal ganz lapidar heißt: „Dann hört man mit dem Hadern auf / und schneidet sich die Adern auf.“ Schwärzer geht’s nimmer.

 




Gernhardt, Waechter, Bernstein – das Dreikönigstreffen des höheren Sinns und Unsinns in Menden

Von Bernd Berke

Menden. Man beachte den Unterschied: Es war kein Event, es war ein Ereignis. Der vor rund dreieinhalb Jahrzehnten geschmiedete Dreierbund des parodistischen Nonsens erneuerte sich am Samstag glorreich im Kinocenter Menden: Robert Gernhardt. F. K. Waechter und F. W. Bernstein waren da – gleichsam das Dreikönigstreffen des feinfühligen Humors.

Die Briten hatten „Monty Python“, unsereins hatte Loriot und diese drei: Zur Mitte der 60er-Jahre war’s, als das unvergleichliche Trio die „Welt im Spiegel“ (WimS) schuf, jene legendären Seiten für höheren Sinn und Unsinn, die dem Satiremagazin „Pardon“ beigeheftet waren. Als so genannte „Neue Frankfurter Schule“ haben sie gewiss den Humor des sensibleren Teils der 68er-Generation mitgeprägt.

Drei einflussreiche Pioniere des geistvollen, oft das Philosophische streifenden Ulks also. Gernhardt gilt längst auch der hochmögenden Literaturkritik als feste Größe, Waechter machte seinen weiteren Weg nicht zuletzt als Kinderbuch- und Theaterautor.

Wie schön, dass ihre Bruderschaft noch besteht. Und wie gut, dass sie ins sauerländische Menden fanden, wo der rührige Verein „Katastrophen Kultur e.V.“ ihnen allerdings weder das Theater Scaramouche (wegen angeblicher Einsturzgefahr geschlossen) noch das Theater am Ziegelbrand anbieten konnte. Also zog man ins Kinocenter. Und der große Saal war derart ausverkauft…

Es geht um „Mann und Maus, Mensch und Frau“

Gernhardt gab die globale Leitlinie vor: Um „Mann und Maus, Mensch und Frau“ werde es in den Texten aus 35 Jahren gehen. Sogar der „Page Herbert“, eine Figur aus den Anfangsjahren, hatte nochmals einen absurd-frechen Auftritt antiautoritären Zuschnitts: Wiederum dürfte er seinem zornigen König den Kauz ins Gesicht werfen und siedende Fettmasse hinterdrein gießen („…und das heiße Schmalz / zischt dir an den Hals^).

Oder dies: Die Viktor-Schlawenz-Gesellschaft will Leben und Werk dieses Mannes fördern. Doch leider gibt es nirgendwo einen, der so heißt. Tja. Die Goethe-Gesellschaft hatte eben unverschämtes Glück: Da lebte einer dieses Namens, der sogar Meisterwerke schrieb. Oder das: Ein selbsternannter Experte behauptet, die Zentralgestalt der Kunstgeschichte sei ja wohl die Bisamratte. Gewiss doch. Etwa bei Rembrandt, dem alten „Bisamratten-Pinsler“.

Oh, ihr tiefen Wonnen der Albernheit! Allerlei hintersinnige Dichtungen und Dramolette wurden mit verteilten Rollen gelesen. Sündiger Sex und seliger Suff bilden das Gerüst, um das sich ausgefeilte Reime ranken. Gar oft ist auch der Tod zu Gast, der alte Sensenmann. Doch selbst ihm wird Hohn und Spott zuteil.

Ältere Texte erklären sich aus der Reibung an überkommener Sexual-„Moral“ der 50er- und frühen 60er-Jahre. Damals waren es befreiende Akte, inzwischen sind sie mit Würde gealtert. Nicht Patina haben sie angesetzt, wohl aber Jahresringe. Ganz so wie F.K. Waechter, der immer noch die gleiche (inzwischen schlohweiße) Freak-Frisur trägt wie „damals“; ganz so wie Bernstein, der vielleicht Skurrilste, Verschrobenste von den Dreien (was einiges heißen will). Mag sein, dass es ihnen ergeht wie Bob Dylan, dem die Fans immer wieder die Songs aus den 60ern abverlangen. Sie lassen sich keinerlei Routine anmerken. Im Gegenteil. Hut ab!




Nächtliche Gespräche mit dem Kühlschrank – Treffen mit Axel Hacke auf der Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Axel Hacke (44) hat mit seinen Büchern und mit Glossen im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ die oft absurden kleinen Katastrophen seines Familienlebens höchst unterhaltsam aufbereitet. Sein „Kleiner Erziehungsberater“ geriet zum heimlichen Bestseller, sein neues Buch heißt: „Ich sag’s euch jetzt zum letzten Mal“.

Hauptfiguren: Ehefrau Paola, Söhnchen Luis (nur die Vornamen hat Hacke erfanden), der Autor selbst und der brummige alte Kühlschrank namens „Bosch“. Die WR traf Axel Hacke am Buchmesse-Stand des Verlages Antje Kunstmann.

Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, einen Kühlschrank auftreten zu lassen?

Axel Hacke: Nun ja, der ist noch’n bisschen melancholischer als ich – und damit ein guter Gesprächspartner für nachts, wenn man allein in der Küche sitzt und noch ein Bier trinkt. Mit dem kann man auch gut über das Bedrohliche an der ganzen modernen Technik reden. Mit der Konstellation Autor, Frau, Kind und Kühlschrank lässt sich fast das ganze Alltagsleben einfangen. Und das hat offenbar einiges mit dem Alltag meiner Leser zu tun. Ich kriege Briefe, in denen sinngemäß steht: „Wie kommen Sie dazu, aus meinem Leben zu berichten?“

Stimmt es eigentlich, dass Ihr kleiner Sohn im Auto unentwegt und möglichst laut den Titel „Sex Bomb“ von Tom Jones hören will?

Hacke: Oh ja, das Problem hatte ich wirklich, als er vier Jahre alt war. Im Moment ist sein Lieblingslied allerdings „Der Anton aus Tirol“. Wenn Sie das hundert Mal hören müssen…

Man merkt Ihren Texten an, dass Sie es wunderbar finden, einen Sohn zu haben – aber auch, dass Sie oft schrecklich genervt sind.

Hacke: Ich finde es im Grunde toll mit Kindern. Und dann wiederum stören sie einen in dem, was man als Erwachsener zu tun hat. Wenn ich meinen Sohn in den Kindergarten bringe, habe ich’s wahnsinnig eilig. Und dann will er diese Musik nochmal hören! Da kocht es in mir…

Ihre Frau wirkt in den Texten viel gelassener als Sie.

Hacke: Ja, in den Texten schon. Eigentlich hat sich da so eine Art Parallel-Universum für mich aufgebaut. Die Wirklichkeit, aber leicht zur Seite verschoben. Inzwischen laufe ich sozusagen mit dem Notizblock durchs Leben. Manchmal dachte ich schon: Ich recherchiere ja immerzu in meiner Familie herum. Das Gute daran: Inzwischen weiß ich, wenn etwas im Alltag schief geht, kann ich immer noch eine Geschichte daraus machen.

Erzählen Sie uns ein Beispiel?

Hacke: In der Elterngruppe vom Kindergarten gab es einen Öko-Fanatiker, der uns dermaßen als „Wurstesser“ denunziert und gemobbt hat, dass wir die Gruppe notgedrungen verlassen haben. Zunächst war ich ungeheuer wütend. Erst nach einem halben Jahr konnte ich eine Geschichte daraus machen. Erst da war es nicht mehr verkrampft und böse, sondern hatte die Leichtigkeit, auf die es mir ankommt. Diese schöne Distanz.

Die Familie gibt jedenfalls mehr Geschichten her als andere Lebensformen?

Hacke: Ich glaube schon. Mann – Frau, Eltern – Kinder. Das ist von vornherein spannungsreich. Da muss man gar nicht mehr viel hinzu erfinden. Und wenn das Kind dann noch so ein Temperamentsbolzen ist wie mein Sohn…




Zorn aufs neue Jahrtausend – Joseph von Westphalens drastischer Roman über die Millenniums-Hysterie

Von Bernd Berke

Hier zitieren wir einen, dem die ganze „Millenniums“-Hysterie mit Zeitzonen-Sonderflügen, Jahrtausend-Babys und maßlos überteuerten Silvester-Feten auf die Nerven geht: „Die Zahl 2000 ekelte mich an. Sie sah aus wie ein häßlicher kurzer Wurm“.

Wenn dieser Mann an den heute anstehenden Jahres-/Jahrtausend-Wechsel denkt, so erfasst ihn „ein seltsamer Schwellenzorn“. Schon der Titel, den Joseph von Westphalen (54) seinem Roman gegeben hat, ist deutlich: „Warum mir das Jahr 2000 am Arsch vorbeigeht“. Auf Seite 129 erklärt er die drastische Wortwahl: „Ich mag den Ausdruck. Es ist ein treffendes Bild berechtigter Interesselosigkeit.“

Aus dem „Trend“ Kapital schlagen

Doch der Ich-Erzähler des Romans weiß aus seiner Wut über das – Zitat – „Wichserdatum“ Kapital zu schlagen – und wie! Dieser Schriftsteller macht es sich zunutze, dass die Buchverlage händeringend nach Millenniums-Texten suchen, um den vermeintlichen Trend zu erhaschen. Der fiktive Autor lässt sich ein Projekt nach dem anderen abschwatzen und kassiert vorab satte Garantiehonorare. Auf die Restzahlungen bei Textlieferung („Unbedingt zur Buchmesse ’99“) kann er alsbald kalt lächelnd verzichten.

Wozu schreiben, wenn man auch so kassieren kann?

Denn im Lauf der Zeit kommen nicht weniger als 37 Verträge zustande, flotte 2000er- Broschüren für Zahnarzt- und Bankiers-Verbände inklusive. Das alles zu schreiben, ist natürlich nicht zu schaffen. Also fängt er erst gar nicht damit an, sondern transferiert die ergatterten Millionen lieber schon mal auf diverse Schweizer und Luxemburger Konten.

Juristisch betrachtet, so verrät ihm ein befreundeter Anwalt, sei ihm das Geld nicht mehr zu nehmen. Nun träumt der bislang arme Poet drauflos: Karibik, Palmen, schöne Frauen. Alles zum Greifen nahe. Und er übt bereits die Wonne praller Liebeslust mit jener freimütigen Kenianerin Nadja, die sich lasziv kleidet und bewegt „wie eine Eidechse“. Diese Beziehung, auf Treue zur Freiheit fußend, hat wahrhaft Zukunft. Sie verweist sozusagen schon ins übernächste Jahrtausend.

Die eigenen Pointen erklären

Die Liebesgeschichte grundiert also eine Satire auf den Literaturbetrieb, dessen Agenten lieblos zusammengefledderte Bücher auf den Markt werfen, die schon morgen keiner mehr lesen mag: Titel wie „Liebe 2000″, „Feinschmecker 2000″, ja sogar „Selbstmord 2000″ geraten da ins Angebot. Wie panisch manche Verlagsmanager durch jede Zeitgeist-Kurve mitfahren, zeigt sich gegen Schluss. Auf einmal wollen alle die „2000er“-Titel  stornieren – wegen akuter Übersättigung. Dem Autor, der eh nichts verfasst hat, kann’s recht sein.

Es ist auch eine stellenweise arg heftige Attacke eine stellenweise arg heftige Attacke auf die Macken unserer „Event“-Gesellschaft. Joseph von Westphalen erregt sich gern, man sieht seine Zornesadern geradezu anschwellen, doch dann neigt er wieder zum Erklären der eigenen Pointen – und nicht immer trifft er den passenden Ton. Als er auf die (allemal fragwürdige) gezielte Zeugung von Jahrtausend-Kindern zu sprechen kommt, schweben ihm gleich biblisch bekundete Untaten des Herodes (Bethlehemitischer Kindermord) vor.

Gefühle, die sich nach dem Stichtag richten

Und jene Kleinkrämer, die immerzu darauf verweisen, dass das neue Jahrtausend rechnerisch erst 2001 beginne, werden kurzum als „Faschisten“ gegeißelt. Hier geht’s weit übers läppische Ziel hinaus.

Vielfach aber spricht einem das Buch aus dem Herzen. Denn dies ist wahr: „Wer seine Stimmung, seine Wünsche, sein Amüsierbedürfnis, seine Gedanken, sein Gedenken, seine Vorsätze an Kalenderdaten bindet, der ist ein Tropf, ein Stichtagssachbearbeiter“. Ganz in diesem Sinne: Prost Neujahr, Potztausend!

Joseph von Westphalen: „Warum mir das Jahr 2000 am Arsch vorbeigeht oder: Das Zeitalter der Eidechse“. Roman. Eichborn-Verlag, 160 Seiten, 24,80 DM.




Wilhelm Busch: Ernste Kunst blieb seine Privatsache – Oberhausen zeigt Gemälde des berühmten Humoristen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Wenn einem der Ruf des Humoristen anhaftet, gibt es hierzulande schwerlich die höheren Weihen der Kunst. Diese Befürchtung hegte auch Wilhelm Busch, der volkstümlich berühmte Urheber von Comic-Vorläufern wie „Max und Moritz“ oder „Hans Huckebein“. Ernsthafte Tafelmalerei betrieb er daher nur ganz privat.

In Oberhausen kann man jetzt eine breite Auswahl seiner Gemälde und Zeichnungen betrachten. Das Wilhelm-Busch-Museum zu Hannover wird umgebaut, daraus ergab sich die solche Chance der umfangreichen Ausleihe.

Zeitlebens ist Wilhelm Busch (1835-1908) mit diesem Teil seines Werkes nicht an die Öffentlichkeit gegangen. Heimlich, still und leise hat er geübt, hat zahllose Bleistift-Skizzen und Ölbilder gefertigt. Man nimmt an, dass es schließlich 2000, vielleicht auch 4000 Arbeiten gewesen sind. die er hortete – in Wiedensahl bei Hannover, weit abseits der Kunstmetropolen.

Die „Dornröschen“-Szenen von 1855 atmen noch den Geist lieblicher Märchen-Romantik. Aber dann! Es ist unverkennbar, dass um 1870 Anstöße von den alten niederländischen Meistern kamen, besonders Frans Hals ist zu nennen. Auf einem Selbstbildnis zeigt sich Busch als Holländer; auch der „Mann in Tracht mit Glas“ gehört in diesen Kontext. Sogar „Prügelszenen“, die man thematisch den humoristischen Bilderbögen zuordnen würde, kommen in altmeisterlicher Manier daher. Die Farbpalette könnte von Rembrandt stammen.

Abgeschottet vom damaligen Kunstbetrieb

Einerseits bekam er in der Provinz kaum Rückmeldung aus der „Szene“, andererseits musste Busch hier keine öffentlichen Ansprüche bedienen (es war die Zeit der monumentalen Historien-„Schinken“), sondern konnte lustvoll experimentieren. So kam es, dass die ungeheure, schon „filmreife“ Dynamik seiner Bildergeschichten sich als moderner Impuls auf die Malerei übertrug. Die Rasanz der Pinselschläge bekam zunehmend Eigenwert, die Farben verselbstständigten sich als Ausdruck von Stimmungen. Eine Landschaftsskizze wie „Durchblick“ (1890/95) gerät bereits an den Saum der Abstraktion.

Freilich wird man in Oberhausen auch durch diverse Übungs-Stadien geführt. Winzige Skizzen (Busch nutzte noch den letzten Rest vom Bleistiftstummel für derlei Etüden) werden in großmächtigen Rahmungen vorgeführt – ein Effekt, den Busch selbst gewiss bizarr gefunden hätte. Natürlich zeigt die Ludwig Galerie auch etliche Bilderbögen, jene dramaturgisch treffsicheren Klassiker boshaften Witzes. Gerade heraus gesagt: Hierin war Busch wirklich ein Genie und seiner Zeit voraus. Als Maler war er gleichfalls gut, jedoch nicht einzigartig.

Ludwig Galerie Schloss Oberhausen (Konrad-Adenauer-Allee 46). 4. Dez. 1999 bis 19. März 2000. Tägl. außer Mo 11-18 Uhr. Eintritt 8 DM, Familie 15DM, Katalog 38 DM.




Komik des Kosakenzipfels – Deutschlands prominentester Humorist Loriot wird heute 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

So feinsinnig, charmant und verbindlich wirkt der distinguierte Herr, daß man kaum merkt, wie rigide seine Komik manchmal ist. Aber ja! Wir reden wirklich von Vicco von Bülow alias Loriot, der heute 75 Jahre alt wird.

Er selbst hat einmal Buster Keaton und W. C. Fields als Vorbilder genannt, denn deren Komik sei „erbarmungslos“. Charlie Chaplin hingegen sei, bei allem Respekt, zu sentimental und moralisch. Bei Loriot „menschelt“ es nicht nur unverbindlich daher, sondern er zielt und trifft. Schon die steifen Posen des deutschen „Wirtschaftswunders“ hat er dem Gelächter preisgegeben. Und dabei wirkten seine Knollennasen-Männchen aus Büchern wie „Der gute Ton“ oder „Der Weg zum Erfolg“ doch so harmlos.

Was wirkliche Haltung und was bloße „Mache“ war, weiß der in Brandenburg geborene Sproß einer alten preußischen Offiziersfamilie gewiß haargenau zu unterscheiden.

„Man muß sich über alles wundem“

Mit solchem Gespür begabt, mußte man in den verdrucksten 50er Jahren nur noch mit offenen Augen durch die Welt gehen, um an jeder Ecke komische Situationen zu entdecken. Wenn sich gewisse Leute im Bewußtsein des „Wir sind wieder wer!“ reckten, so schrie das ja geradezu nach humoristischer Weiterverarbeitung. „Man darf nichts als selbstverständlich hinnehmen und muß sich über alles wundern“, so lautete eine von Loriots Humor-Regeln. So ist es.

Mit Cartoons und Sketchen in Fernseh-Sendereihen wie „Cartoon“ (ab 1967), „Telecabinet (ab 1974) oder „Loriot I bis VI“ (1976) erlangte er unverwüstliche Popularität. Endlich war da mal einer, der nicht die vordem landläufige, eher krachlederne Variante „deutschen Humors bediente! Loriot (französisches Wort für Pirol – der Vogel ist das Wappentier seiner Familie) dürfte Einflüsse ausgeübt haben, die etwa über die „Neue Frankfurter Schule“ (Robert Gernhardt & Co.) bis hin zur Kabarettszene neuester Prägung unterschwellig gewirkt haben.

Unvergeßliches TV-Requisit war jenes Gründerzeit-Sofa, auf dem Loriot mit gekräuselten Lippen seine Beiträge ansagte. Man fängt schon an zu grinsen, wenn man nur an all diese Szenen denkt, die längst zum Standard-Repertoire gehören. Da war z. B. jener Mann, der sich im Restaurant eine glühende Liebeserklärung abquält („Sagen Sie jetzt nichts, Fräulein Hildegard!“) und dabei einen Nudelrest in seinem Gesicht nicht bemerkt, während die Angebetete (Lieblings-Sketchpartnerin Evelyn Hamann) immerzu fassungslos dorthin starren muß.

Von der Gummiente zum Jodeldiplom

Urkomisch auch die Herren Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner, die aus unerfindlichen Gründen in derselben Hotelbadewanne stranden und nun streiten, ob und wie man die Gummiente „zu Wasser lassen“ solle.

Man könnte endlos weiter memorieren: den ausufernden Streit zweier Ehepaare, die sich im Campingurlaub kennengelernt haben. Anlaß: jene Nachtisch-Leckerei namens „Kosakenzipfel“; das „Jodeldiplom“ für die unausgefüllte Hausfrau („Da hat man was Eigenes“); das Ehepaar Hoppenstedt und seine Chaos-Besuche beim Herrenausstatter oder in der Bettenabteilung. Es waren im Grunde kleine Tragödien einer allseits gründlich fehlschlagenden Kommunikation, die einen trübsinnig machen könnten, wenn bitterernste Autoren sie aufbereitet hätten.

Apropos Paare: Nicht nur bei den Hoppenstedts und der ehelichen Groteske ums Vierminuten-Ei erweist sich die tiefe Wahrheit der Loriot-Formel „Frauen und Männer passen eigentlich nicht zusammen“. Sie versuchen’s halt immer wieder, ob’s nicht doch geht…

Daß die von Loriot gezeichneten Maskottchen „Wum und Wendelin“ jahrzehntelang für die „Aktion Sorgenkind“ warben, haben wir bei all dem noch gar nicht erwähnt. Bayreuth-Stammgast Loriot hat zudem gelegentlich Opern inszeniert und zwei der erfolgreichsten deutschen Kinofilme der letzten Jahrzehnte gedreht, „Ödipussi“ und „Pappa ante portas“.

Die Ruhe, die er sich neuerdings antut, sei ihm von Herzen gegönnt. Doch wie schade auch, daß er, sich so zurückhält! Wir vermissen etwas.

Das ARD-Fernsehen bietet heute um 21.45 Uhr viel Prominenz auf, um Loriot gebührend zu gratulieren. Programmänderung: Um 23.45 Uhr schließt sich Theatermann August Everding als Solo-Gratulant an.




Im Theater steckt der Teufel – Grabbes „Scherz, Satire, Ironie…“ als Essener Lokalposse

Von Bernd Berke

Essen. Was kann der Christian Dietrich Grabbe denn dafür, daß zum Saisonende das „Junge Theater Casa Nova“ in Essen geschlossen wird? Selbstverständlich nichts, denn der Mann hat von 1801 bis 1836 gelebt. Und jetzt?

Jetzt läßt das „Casa Nova“ (kleinste Spielstätte der Theater & Philharmonie GmbH) den Dichter aus Detmold flugs antreten, um die kulturpolitische Misere der Stadt Essen erbost zu kommentieren. Man spielt Grabbes Stück „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, und man modelt es – unter Verzicht auf tiefere Bedeutung – streckenweise zur Lokalposse um. Regisseur Peter Siefert hat grobkörnige kommunale Zutaten beigemischt.

Schrubb, schrubb, in der Hölle ist großer Hausputz. Also flüchtet der darob genervte Teufel zur Erde und stiftet hier Verwirrung – nicht nur in Liebesdingen. Die Gesellschaft überhaupt erweist sich unter seiner Fuchtel als Tollhaus der Eitelkeiten, aber auch der zugehörigen Depressionen.

Figuren wie der Dichter „Rattengift“ (Hans-Dieter Heiter), der im komischen Weltschmerz an seiner Feder knabbert, weil ihm partout nichts einfallen will, oder der trunksüchtige Schulmeister (Carlo Lauber) mit seinen ausgeklügelten Sauf-Ritualen (vorher dickes Tuch um die Stirn wickeln, damit der Schädel hernach nicht so hart auf der Tischkante aufschlägt) sind als „Theater-Futter“ derbe Vollwertkost.

Lächerliche Sparkommission

Köstlicher Beginn: Die in grotesken Turbulenzen wie geölt aufeinander reagierenden Ensemble-Mitglieder servieren den ellenlangen Stücktitel als fulminantes Sprechkonzert der zerhackten Worte. Dann dampft es kräftig, und man sieht: Der Teufel ist eine Frau (Christiane Heinicke). Ihm auf dem Pferdefuße folgt eine gravitätisch lächerliche „Struktur-Fusionierungs-Sparkommission“, die just auch dem Theater „Casa Nova“ den Garaus machen will, woraufhin sich ein leider sehr explizites Spott-Gewitter über Stadtspitzen, Kulturdezernent und Kritiker entlädt. Teuflisch, teuflisch? Nein, allzu offenkundig.

Trotzdem wird s noch ein leidlich unterhaltsames Spektakel. Das Stück, ein früher Vorläufer des absurden Theaters, ist eben in seinen Grundzügen unverwüstlich. Der Teufel wird zwischenzeitlich im Käfig eingefangen, als Köder dienen Kondome. Und weil Beelzebub schon einmal im Bühnenreich gewütet hat, wird das diabolischste aller Übel bloßgestellt: das Musical in seiner Essener Spielart. Das Grabbe-Finale besteht in einer bittersüßlichen Joseph“-Parodie. Ein Wink mit dem Zaunpfahl: Seht her, an solch schnöder Unterhaltung geht unser schönes Theater kaputt. Auf den Gedanken wären wir ja nie gekommen!

Termine: 31. Dezember 1997, 7., 9. und 30. Januar 1998. Karten 0201 / 81 22-200.




Von „Pooh’s Corner“ bis zur „Lindenstraße“ – Gespräch mit dem Autor und Übersetzer Harry Rowohlt

Von Bernd Berke

Mit seiner Nonsens-Kolumne „Pooh’s Corner“ in der „Zeit“ hat sich Harry Rowohlt (52) eine treue Fangemeinde erschrieben. Die Beiträge liegen in zwei Büchern gesammelt vor (beide im Haffmans-Verlag). Doch der Sohn des berühmten Verlagsgründers Ernst Rowohlt gilt auch als einer der besten Übersetzer aus dem Englischen. Er war es, der Frank McCourts Bestseller „Die Asche meiner Mutter“ ins Deutsche übertrug. Druckfrisch liegen Padgett Powells „Edisto“-Romane (Berlin-Verlag) vor. Ein Gespräch mit Harry Rowohlt auf der Frankfurter Buchmesse:

Herr Rowohlt, den McCourt-Roman haben die meisten Leser geradezu verschlungen. Was machen Sie besser als andere Übersetzer?

Harry Rowohlt: Tja, ich weiß nicht. Eine gute Voraussetzung ist, daß Autor und Übersetzer wesensverwandt sind. Frank McCourt hab ich mal in New York angerufen, dort war es Vormittags elf Uhr. Und da war er, sehr zu meinem Entzücken, bereits besoffen. Man kann also von einer gewissen Wesensverwandtschaft ausgehen.

Haben Ihnen alle Bücher gefallen, die Sie übersetzt haben?

Rowohlt: Nein. Die ersten 40 waren ziemlicher Mist. Ich bin noch nicht lange in der Lage, mir die Sachen auszusuchen. Ich war mit dem Nachteil des Namens Rowohlt behaftet. Hätte ich früher etwas abgelehnt, hätte es gleich geheißen: Ja, das ist eben der Rowohlt, dieser arrogante Arsch. Vorteile hatte ich von dem Namen nicht. Ich war früher ziemlich arm, aber manche dachten, ich sei Millionenerbe. Von wegen!

Was bringt Ihnen die Frankfurter Buchmesse? Viele neue Aufträge?

Rowohlt: Bei dieser Messe habe ich zwei selbstgeschriebene Bücher, vier Übersetzungen und vier Tonträger mit Lesungen aus A. A. Milnes „Puh, der Bär“ und aus Texten von Flann O’Brien. Wenn also jemand ein Recht hat, sich auf der Messe rumzutreiben, dann doch wohl ich.

Wenn man Ihre Kolumne „Pooh’s Çorner“ liest, könnte man glauben, sie nähmen nichts auf der Welt ernst.

Rowohlt: Naja, wenn man in einem so hehren Umfeld wie der „Zeit“ seinen normalen Quatsch abdröselt, kann es passieren, daß man als etwas unernst verkannt wird. Im übrigen kenne ich keinen Schreibzwang. Ich muß nicht schreiben.

Also ist kein eigener Roman in Arbeit?

Rowohlt: Schon deshalb nicht, weil mein Kollege Eckhart Henscheid mir gedroht hat, wenn ich mit Romanen anfange, bricht er mir den rechten Arm. Und Robert Gerhardt hat den Unterschied zwischen „Ernstlern“ und „Spaßlern“ mal sehr klar gemacht: Die Ernsten brauchen in Deutschland viel weniger zu können als die, die über eine gewisse Leichtfertigkeit verfügen. Die Ernsten kriegen auch sehr viel mehr Geld. Sarah Kirsch liest 40 Minuten und kriegt 4000 Mark. Das krieg ich nicht, dabei les‘ ich viel länger als sie.

Besteht ihr Publikum eher aus jüngeren Leuten?

Rowohlt: Inzwischen ja. Es fing an mit diesen „Pinker-Elsen“, die immer zu Dichterlesungen gehen, aber die habe ich hoffentlich für alle Zeiten vergrault.

Allein schon durch Ihr äußeres Erscheinungsbild?

Rowohlt: Tja. Man tut halt, was man kann.

Stimmt es, daß Sie mal zu Ihren eigenen Lesungen nicht reingelassen wurden?

Rowohlt: Ja, früher mehrfach. Da hieß es: Nee, Sie kommen hier nicht rein, wir haben heute Abend eine Dichterlesung…

Damit wären wir bei Ihren Auftritten als „Penner“ in der „Lindenstraße“.

Rowohlt: Drei neue Folgen mit mir werden demnächst gesendet. Die Rolle habe ich mir übrigens selbst geschrieben. Einen Filialleiter wollte ich halt nicht spielen.




Neugierige Leute in fremden Badezimmern – Max Goldts erzkomische Kolumnen unter dem Buchtitel „Ä“

Von Bernd Berke

Mit eminent komischen Kolumnen im Satireblatt „Titanic“ ergötzt Max Goldt allmonatlich jene Leute, die er gern liebevoll als „Lesefröschchen“ anredet. Das Buch mit dem ergreifenden Titel „Ä“ versammelt Goldts neuere Beiträge.

Mit dem inflationär verwendeten Begriff „Kult“ sollte man vorsichtig sein. Aber Max Goldt wird es sich gefallen lassen müssen, daß man seiner Schreibe dieses Etikett aufpappt. Für solche blitzenden Nebenbei-Beobachtungen, die Goldt hundertfach zufallen, muß man eben wahre Muße und wachen Geist besitzen: daß im deutschen Fernsehen für alles geworben wird, aber nimmer für Salz; daß kein Mensch mal die Courage hat, die übliche Dekorations-Ananas am Frühstücksbüffet im Hotel aufzufuttern; daß ökologisch behauchte Schickis gern zum Edel-Bio-Türken gehen und sich dort mit „Grüß dich, Mehmet“ anbiedern.

Halsbrecherische Überleitungen

Wer, außer eben Max Goldt, wagt es schon, aus den Untiefen des täglichen Leben geschürfte Wahrheiten so gelassen auszusprechen: „Fast jeder, der in einer fremden Wohnung aufs Klo geht, macht das Badezimmerschränkchen auf und guckt, was drin ist.“ Und dann, diskret ins Naßraum-Detail gehend: „Resttröpfchengetränkte Klofußumpuschelungen sind nicht sehr hübsch.“

Goldt, der mit zuweilen halsbrecherischen Überleitungen durchs Gelände seiner Einfälle kurvt, hat ein feines Gespür für verschrobene Alltags-Komik. Von gängigen Meinungen läßt er sich dabei nie beirren. Und er schreibt gleichsam das intime Kollektiv-Tagebuch- seiner Generation mit: Wer, der heute so etwa zwischen 30 und 50 ist, hätte als Schüler denn etwa nicht die wöchentlichen Hitparaden („bis Rang 50″) in seine Schulhefte gepinnt? Aber kaum einer gibt‘s zu. Und bei folgenden Sätzen zu den tiefen Gräben von damals, ja, da weht einen doch das ganze Pennäler-Elend wieder an: „Ich war katholisch-Pelikan-Nesquick. Bei Kindern, die evangelisch-Geha-Kaba waren, roch es anders…“

Das Verhalten von lästigen Fetengästen weiß Goldt so trefflich zu skizzieren wie die gelangweilte Art des Personals in „Szene“-Kneipen. Die „Beschriftung der Bevölkerung“ (Texte auf Jacken und T-Shirts) entgeht ihm ebenso wenig wie der Witz am Warensortiment von Aldi. Wer je im ländlichen Schwaben war, wird vielleicht diese üble Übertreibung genießen: „Aus jedem Fenster blickt eine gute Hutzelantin mit kartoffelverdreckten Händen, die Arme auf ein Sofakissen gelagert. Im Hintergrund…ein Kanarienvogel oder sonst ein Zwitschikus…“

Wie man Deutsche in Paris erkennt

Gerade in Klischees stecken, wenn man sie so umstülpt wie Max Goldt, leuchtende Erkenntnisse. Was schwatzen die Leute denn schon im Internet? Mutmaßlich so etwas: „Was ist deine Levis-Größe? – 32/32 – Toll, ich habe auch 32/32, da können wir uns doch treffen, wenn du mal in Lüdenscheid bist.“

Und woran erkennt man deutsche Touristlnnen in Paris? Meistens „daran, daß sie sich um die Straßenmusikanten am Centre Pompidou scharen, mit dem Kopf wackeln und mit um den Po gebundenenPullovern ekstatisch tanzen… Die Deutschen müssen immer zeigen, wie unverkrampft sie sind, und ihre Ich-bin-die-Desirée-aus-Tübingen-und-habe-soviel-Körpergefühl-wie-der-gesamte-Senegal-Show abziehen.“ Ertappt!

Max Goldt: „Ä“. Kolumnen. 204 Seiten, 32 DM.




Lachend die Zeichen der Zeit erkennen – Dicker Sammelband des vielseitigen Robert Gernhardt

Von Bernd Berke

Welcher deutsche Gegenwartsautor ist vielseitiger als Robert Gernhardt? Der 57jährige hat etliches auf Lager – von der Satire und dem niveauvollen Nonsens bis zum beachtlichen Roman; von der trefflichen Zeitkritik bis zum raffiniert gereimten Gedicht.

Mehr noch: Ohne Gernhardts Texte wäre Otto Waalkes nicht halb so gut gewesen. Und er ist einer der besten Cartoon-Zeichner. Wen wundert’s, daß der Vielfältige jetzt mit einem üppigen Sammelband zum Klassiker erhoben wird. Der Titel („Über alles“) weist schon auf Gernhardts kreative Bandbreite hin.

Seit seinen Anfängen beim Satire-Blatt „Pardon“ (frühe 60er Jahre), wo er mit F. K. Waechter und F. W. Bernstein „Welt im Spiegel“ schuf, jene legendäre Beilage für den  höheren Blödsinn, zählt Gernhardt zu den produktivsten Grenzgängern zwischen Ernst und Scherz, zwischen Sinn und Widersinn. Das ist – gerade in deutschen Landen – ein Vorzug sondergleichen.

Jenseits der gängigen Meinungen

Im Sammelband kann man genußvoll nachlesen, welch ein versierter Stilist dieser Mitbegründer der „Neuen Frankfurter Schule“ ist. Er läßt sich keine wolkigen Formulierungen durchgehen. Gerade indem Gernhardt seine kleinen Künstler-Eitelkeiten offen ausspricht, vermeidet er selbstgerechten Zungenschlag. Derlei stete Wachsamkeit macht auch den Zeitbeobachter aus, der sich schwerlich von gängigen Meinungen beirren läßt.

Im Rückblick ist es frappierend, wie behutsam und differenziert er z. B. 1982 eine Reise in die DDR beschrieben hat. Darin steckt schon das Unbehagen an der innerdeutschen Fremdheit, mit der wir uns heute plagen. Und Prägnanteres ist – zumal in dieser unterhaltsamen Kürze – auch über die deutschen „Fifties“ kaum geschrieben worden als Gernhardts mal eben neun Buchseiten langer Beitrag „Die geile Welt der 50er Jahre“.

Die neue Art der Geistes-Schnüffelei

Gernhardt geißelt nicht nur konservative Widersacher, sondern auch linke Auswüchse: Hinter manchen Spiegel gehören seine Texte über die Stellvertreter-Empörung, die im Namen von Minderheiten alle Geistesprodukte einschließlich Satire auf politische Korrektheit abklopft und dabei jedes Maß verliert. Verständlicher Seufzer: Da sei man mühsam der autoritären Schnüffelei der 50er Jahre entronnen und falle einer neuen, sich fortschrittlich gebenden Inquisition anheim, die einem gar noch die Mülltonnen inspiziert, um nachzusehen, ob man auch ja sortenrein gesondert hat.

Apropos Müll: Auch das ewig „betroffene“ Gewühle im Abraum der Psyche geht Gernhardt auf den Geist: „Daß Beziehungen problematisch waren, lag in ihrer Natur begründet, sie zusätzlich noch zu problematisieren war ungefähr so sinnvoll wie – ach, ihm fiel gar kein Vergleich für diesen Unfug ein … Die Panzerknacker problematisierten ihre Brüche doch auch nicht“.

Straßen, in denen Kanzler Kohl aufwuchs

Aufgelockert durch Zeichnungen und allerlei Gedichte (irgendeine Doktorarbeit wird gewiß mal seine lyrische Verwandtschaft zu Peter Rühmkorf nachweisen), werden mit Leichtigkeit, die bekanntlich so schwer zu erzielen ist, Grundfragen abgehandelt: Die Kapitel heißen „Kunst und Leben“, „Mensch und Tier“, „Mann und Frau“, „Wort und Bild“, „Zeit und Raum“, „Gott und die Welt“, „Spaßmacher und Ernstmacher“.

Gernhardt schlägt Funken aus unscheinbaren Dokumenten. So gewinnt er etwa den Unterwäsche-Seiten von Versandhauskatalogen eine kleine Nonsens-,,Philosophie“ der Geschlechter ab. Beim Gang durch die Straßen, in denen Kanzler Kohl aufwuchs, erspürt Gernhardt mehr vom Gepräge dieses Politikers als mancher Groß-Essayist. Oder er entlarvt Zeitgeist-Hanseln wie den Psycho-Autor Wilfried Wieck („Männer lassen lieben“) durch Vergleich mit dem großen christlichen Bekenner Augustinus. Da sieht Wieck ganz alt aus. Und der Leser hat abermals die doppelte Portion bekommen: Lachen und Erkenntnis auf einen Streich.

Robert Gernhardt: „Über alles“. Ein Lese- und Bilderbuch. Haffmans-Verlag, Zürich. 479 Seiten, 44 DM.




„Tegtmeier“ lebt nicht mehr – Ruhrgebiets-Komiker Jürgen von Manger mit 71 Jahren in Herne gestorben

Von Bernd Berke

Für alle Auswärtigen war er die idealtypische Verkörperung des Ruhrgebiets-Kumpels: Jürgen von Manger, der mit 71 Jahren in Herne gestorben ist, erfand 1962 seine Figur „Adolf Tegtmeier“ – und verschmolz nahezu mit dieser Rolle.

Landauf landab verbinden die Menschen das Revier mit seinen Auftritten und glauben zu wissen, wie die Leute hierzulande reden. Was „Tegtmeier“ von sich gab, war allerdings niemals echtes Revier-Deutsch, sondern ein Kunstdialekt.

Tegtmeier war jener „kleine Mann“ von der Straße, der sich freilich bildungsbeflissen gab, sich möglichst gepflegt ausdrücken wollte – und dabei immer wieder in arge Sprachnöte geriet. Komischer Kontrast: Gerade wenn ihm eigentlich die Worte fehlten, war dieser Tegtmeier höchst mitteilungsfreudig. Und er hätschelte seine gesammelten Vorurteile, als seien es Weltweisheiten.

Mit Schiller trieb er besonders viel Schabernack

Besonders am hohen und pathetischen Ton eines Friedrich Schiller konnte sich dieser Tegtmeier regelrecht aufreiben. Unvergessen sein Bericht von einer „WaIlenstein“-Aufführung („Dat is von dem, der auch Schillers Räuber geschrieben hat“). Ähnliche Wirkung erzielte er mit eigenwilligen Deutungen von „Maria Stuart“ und ..Wilhelm Teil“.

Tegtmeier hatte natürlich auch das Patentrezept gegen jeden Bildungsballast parat: „Bleibense Mensch'“ empfahl er stets. Mit anderen Worten: Nur nicht zu weit abheben, alles halb so hoch hängen. Und das war nun wiederum ganz nach Art des Menschenschlags im Ruhrgebiet.

Jürgen von Manger stammte jedoch gar nicht aus dem Revier, er wurde am 6. März 1923 in Koblenz geboren. Seine Schulzeit erlebte er dann allerdings bereits in Hagen, wo er das Humanistische Gymnasium besuchte und im Jahr 1941 Abitur machte. Der Sohn eines Staatsanwalts studierte von 1954 bis 1958 in Köln und Münster Rechtswissenschaften, hatte aber zuvor schon erste Bühnenerfahrungen gesammelt, zunächst als Statist.

Nach einer soliden Schauspiel- und Gesangsausbildung wirkte er an den Bühnen in Hagen (bis 1947), Bochum (1947 bis 1950) und Gelsenkirchen (1950 bis 1963). Dabei spielte er auch unter dem legendären Bochumer Theaterchef Saladin Schmitt.

Die Markenzeichen gepflegt

Jürgen von Manger bekam im Theater zwar mitunter einige ernste Rollen, war aber schon bald als Spezialist für das Fach „Charakter-Komik“ gefragt.

Wie jeder bekannte Komiker, so pflegte auch Jürgen von Manger seine Markenzeichen. Da waren Schnauzbart und Kappe (die er angeblich wegen seiner „Maläste mitte Ohren“ trug), der immer irgendwie schiefgestellte, die Buchstaben geradezu genüßlich-quälerisch mahlende Mund, der so recht ahnen und mitfühlen ließ, wie Tegtmeier nach Worten rang, wenn er uns Gott und die Welt nach seinem Strickmuster erklären wollte; da war das listige Blinzeln unter den buschigen Augenbrauen, und da waren schließlich die immer wiederkehrenden Formeln und Floskeln wie das berühmte „Also äährlich!“

Hinter der etwas biederen Maskierung entfalteten sich manchmal ganz schön makabre Gedanken, zum Beispiel, wenn Jürgen von Manger einen seiner bekanntesten Sketche zum besten gab: den vom „Schwiegermuttermörder“. Dieser Mörder („Da hab‘ ich se gesäächt“) war weder teuflisch noch reumütig, sondern schilderte ganz beiläufig die Einzelheiten seiner Tat, so als gehe es um das Selbstverständlichste von der Welt. Es war übrigens eines der allerersten „Stücksken“ von Manger, mit dem er eigentlich nur die Wirkung beim Publikum testen wollte. Sie war durchschlagend, und er kam von der Figur nicht mehr los.

Makabre und peinliche Situationen

Manger ließ Tegtmeier fortan in alle möglichen und unmöglichen peinlichen Situationen geraten – von der Fahrschulprüfung („Hier hat die Omma Vorfahrt“) bis ins Eheinstitut (wo er eine Dame „mit dicke Oberaahme“ suchte), von der Delinquentenzelle bis in den Lehrgang für Unteroffiziere: „Womit wäscht sich der Soldat? – Mit Seife, Herr Unteroffizier! – Nein, mit nacktem Oberkörper.“ Tegtmeier geriet jedenfalls immer vom Regen in die Traufe, stolperte von einer Kalamität in die nächste. Doch er wurstelte sich immer irgendwie durch.

Großen Anklang fanden nicht nur Mangers insgesamt zwölf Langspielplatten, sondem auch seine Fernsehreihen wie zum Beispiel „Tegtmeiers Reisen“ mit gelegentlich hintersinnigen Plaudereien an den Orten des Massentourismus, wo er auch schon mal einen besonders schönen Kartoffelsalat und Übernachtungen in Jugendherbergen empfahl.

Im August 1985 erlitt Jürgen von Manger einen schweren Schlaganfall und war seither halbseitig gelähmt. Auch das Sprachzentrum wurde in Mitleidenschaft gezogen. Tapfer kämpfte er gegen die Krankheit an und hatte sogar schon bald wieder Pläne für neue Auftritte. Doch er mußte die Pläne aufgeben. Er hat sich nie wieder ganz erholt. Zuletzt lebte der Opern- und Antiquitäten-Kenner sehr zurückgezogen mit seiner Frau Ruth in Herne.




Lore Lorentz: First Lady des deutschen Kabaretts – „Kom(m)ödchen“-Gründerin starb mit 73 Jahren

Von Bernd Berke

Sie hat auf der Bühne so manche geschliffene Boshaftigkeit von sich gegeben. Doch zwei Dinge milderten noch ihre schärfste Kritik: ihr gespielt naiver Augenaufschlag und das „R“, das sie mit böhmischem Zungenschlag so herrlich rollen lassen konnte. Lore Lorentz, die mit 73 Jahren in Düsseldorf starb. war die First Lady der deutschen Brettlbühnen.

Die Wut aufs mißliche politisehe Getriebe, befeuert durch Zeitungen, die sie stapelweise las, hat sie lange jung gehalten. „Wir dürfen die Demokratie nicht verplempern“, das war ein Leitspruch. Die letzten Jahre waren freilich nicht mehr ihre Zeit. Wer sie im September 1993 auf ihrer Hausbühne, dem Düsseldorfer „Kom(m)ödchen“ in dem Programm „Verfassungslos“ erlebte, sah eine gebrechliche, durch den Tod ihres Mannes gebrochene Frau. Bewegend der Moment, als sie mit großer Würde dennoch ihren kurzen Chanson-Auftritt absolvierte.

Sie kam bis zuletzt noch täglich ins „Kom(m)ödchen“-Büro, um nach dem Rechten zu sehen, doch die Leitung der Bühne hatte sie im letzten Sommer ihrem Sohn Kay Sebastian übertragen. Zuletzt bekundete sie vor allem ihre „ungeheure Angst“ vor einem neuen Nationalismus in Deutschland. Viele Vorgänge nach der deutschen Vereinigung waren ihr nicht recht geheuer. Sie fand, daß manches schlichtweg gar nicht mehr „kabarettabel“ sei.

Besonders in den 50er und 60er Jahren hatte sie noch ein ganz anderes Feld und kernigere Gegner vorgefunden. Da trafen etliche Spitzen gegen tiefschwarze Politiker wie etwa Franz-Josef Strauß. Die kleine Bühne von Lore und Kay Lorentz (er starb im Januar 1993) wurde zu einem Hort unbeugsam-kritischen Geistes in der Adenauer-Ära. Doch man fraß auch nicht den Sozialdemokraten aus der Hand, sondern erinnerte sie vielmehr hartnäckig an ihre „unverwirklichten guten SPD-Grundsätze“.

Zudem gelang eine Verbindung politischer Aussagen mit literarscher Qualität, wie sie in Deutschland sonst kaum zu finden war. Dafür sorgten nicht zuletzt die Stammautoren Martin Morlock und Eckart Hachfeld. Als studierte Germanistin mit Gefühl für die Feinheiten der Sprache hatte Lore Lorentz dabei mehr als ein Wörtchen mitzureden. Und ohne ihre Vortragskunst wären die besten Texte sowieso vergebliche Liebesmüh‘ gewesen.

Wie es so oft geschieht: Lore Lorentz, am 12. September 1920 als Tochter eines Ingenieurs in Mährisch-Ostrau (heute Ostrava/Tschechien) geboren, hatte durch Zufall zum Kabarett gefunden. Mit Ehemann Kay arbeitete sie 1946 für die Brettl-Bühne eines gemeinsamen Freundes – als Kassiererin. Erst als eine Darstellerin ausfiel, sprang Lore Lorentz ein und konnte zeigen, was in ihr steckte. 1947, in der zerbombten Altstadt von Düsseldorf, schlug dann die Geburtsstunde für das „Kom (m)ödchen“. Das erste Programm hieß „Positiv dagegen“. Zahlreiche Auslandsgastspiele machten die Truppe alsbald auch zu Botschaftern eines besseren Deutschland.

Lore Lorentz, die „mit freundlich-dankbarer Entschiedenheit“ das Bundesverdienstkreuz ablehnte, trat mehrfach auch in Produktionen des Düsseldorfer Schauspielhauses auf (z. B. als „Mirandolina“ von Goldoni, als „Jenny“ in Brechts „Dreigroschenoper“) und war ab 1978 zeitweise Professorin an der Folkwang-Hochschule in Essen. Dort unterrichtete sie die Fächer Chanson, Song und Musical. Kabarett brachte sie den Studenten allerdings nicht bei. Denn das, so meinte sie, „kann man nicht lehren.“