Ein Bär mit Verstand: „Pooh’s Corner“, Harry Rowohlts gesammelte Kolumnen

Von Bernd Berke

Es gibt sie – jene höhere Weisheit. die sich hinter trudelndem Unsinn verbirgt. Zu ihren Großmeistern zählt Harry Rowohlt. Das ist einer, der spürbar immer viel, viel mehr weiß, als er hinschreibt. Und eben das verleiht seinen Sätzen einen ganz besonderen Drall.

In seiner Kolumne „Pooh’s Corner – Meinungen eines Bären von geringem Verstand“, hat Rowohlt einen scheinbar nonchalanten, ja gelegentlich regelrecht „besoffenen“ Stil in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zur Reife gebracht. Diese sprachlichen Aus- und Abschweifungen liegen jetzt, ergänzt um einige Essays und Filmkritiken, gesammelt vor. Das wurde aber auch mächtig Zeit!

Harry Rowohlt, namentlich erkennbar ein Sproß der berühmten Verleger-Familie, ist ein Querschädel und Originalkopf, der seine kleinen und großen Besessenheiten pflegt: vor allem die Liebe zum Trinker-Paradies Irland und zu dessen größtem Autor neben James Joyce, Flann O’Brien (den Rowohlt kongenial übersetzt hat); sodann sein Kultbuch von Kindheit an, „Pu der Bär“ („Winnie the Pooh“ von A. A. Milne, 1926), das der Kolumne den Titel gab.

Rowohlts Texte sind von schönster Gelassenheit, geschrieben mit feinem Ohr für jene Neben- und Zwischentöne, auf die es ankommt, doch jeder sich aufblähenden Schwerdenkerei abhold. Sie können mit Leichtigkeit hierhin und dorthin schlingern und allerlei Hintersinn am Wegesrand aufsammeln.

Der Fuchs und das Trinkerlied

Herrlich die überraschende Kombinatorik, mit der Rowohlt das Entlegenste zusammenholt und miteinander zünden läßt. Pröbchen gefällig? „Wenn wir zum Beispiel eine Flasche öffnen und zügig einschenken, hören wir—.“ Es folgt ein Notenbild, das sogar stimmt (selber testen!) und das wiederum genau den Anfangstakten von „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ entspricht. Rowohlts souveräne Schlußfolgemng: Das sei also nachweislich kein Jägerlied, sondern ein Trinklied…

Und wie war das noch mit Alzheimer? „Früher, wenn man sich keinen Namen merken konnte, hieß das vergeßlich. Inzwischen heißt das Alzheimer. Und wieder muß man sich einen Namen merken.“ Prägnanter kann man es nicht sagen.

Ähnlich gut wie „Pooh’s Corner“ sind übrigens die Filmkritiken, was sich gerade in der Zusammenschau erweist. Rowohlt schreibt ganz, ganz knappe Rezensionen. Ach, was! Es sind eben gar keine Rezensionen im üblichen Sinne, sondern Plaudereien haarscharf am Inhalt der Filme entlang oder gar daran vorbei. Und trotzdem, o Wunder, trifft er das (Un-)Wesen der jeweiligen Filme bis ins Herz. Das schaffen die meisten mit der zehnfachen Zeilenzahl nicht!

Und wer hat sich schon mal so schön flapsig aus einem Text und vom Leser verabschiedet wie Harry Rowohlt? Zitat: „Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die bis hierher gelesen haben. Ich weiß, was in Ihnen vorgeht. Ich habe es auch satt.“

Harry Rowohlt: „Pooh’s Corner“. Haffmans Verlag, Zürich. 272 Seiten. 28,50 DM.




Im Bett mit Karl Marx – „Die Verkündigung oder: Friedrich, du bist ein Engel“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Der olle Karl Marx räkelt sich im Ehebett. Neben ihm liegt seine liebe Frau. Sie erdrückt ihn mit ihrer Fürsorge, sie hält ihn dauernd vom Schreiben und – na, sowas! – vom Fremdgehen ab. Und wenn seine Feder doch mal kratzt, ruft sie gleich; .„Was schreibst du da?“ Bedauernswerter Marx? Im Gegenteil.

„Die Verkündigung oder: Friedrich, du bist ein Engel“, jetzt in Wuppertal als deutsche Erstaufführung zu sehen (Regie: Hans-Christian Seeger), zeigt uns Karl Marx zwei, Stunden lang im Nachtgewand, doch nicht im Büßerhemd: Dieser Mann ist, ganz ungebrochen, ein Patriarch, der mit Frau und Geliebter nach männlichem Belieben umspringt.

Autor Milan Uhde ist, politisch besehen, kein Geringer. Er ist tschechischer Parlamentspräsident. Die Handlung seines Stückes fußt auf einer durch die Forschung weitgehend verbürgten Episode: Marx (der im Stück – Scherz, laß nach! – „Karl-Max“ heißt) schwängerte anno 1850 im Londoner Exil seine Haushälterin Helene Demuth (im Stück: Leni), während sein Eheweib, die kränkelnde dreifache Mutter Jenny (hier: Beni), im Nebenzimmer schlief. Genosse und „Geldesel“ Friedrich Engels übernahm offiziell die Verantwortung für das Malheur – nicht aber für das Kind, das flugs weggegeben wurde, sprich: Außen hui mit Befreiung der Arbeiterklasse, drinnen pfui mit sexistischer Unterdrückung. Sozialisten als bürgerliche Unholde. Merke: Das konnte ja nichts werden mit der Utopie, wenn sie schon so begonnen hat.

Traumspiel mit schauriger Komik

Milan Uhde ist zu klug, um diese mißliche Geschichte einfach nachzuerzählen. Er hat ein Traum- und Schauerspiel mit komödiantischen Zwischentönen geschrieben, bei dem sich Leni verzweifelt in der Themse ertränkt und später als Wiedergängerin in Marx‘ verstaubter Armutsbude herumgeistert. Auch erwürgt Marx seine Frau, weil sie einige Manuskripte verbrannt hat. Diese Tat wird ebenfalls von Engels bemäntelt und bleibt folgenlos. Die herzlichste Umarmung des ganzen Abends ist denn auch keine zwischen Mann und Frau, sondern jene männerbündische zwischen Marx und Engels, als die frohe Botschaft vom Generalstreik in der Zeitung steht.

Marx, durch die jüngste Geschichte eh schon ausgezogen bis aufs Hemd, wird noch einmal ganz intim bloßgestellt, einmal schwenkt er gar wie ein Dorftrottel den Nachttopf. Hier und da ist das halbwegs komisch. Aber: War das denn wirklich noch nötig?

Immerhin gibt’s recht schmackhaftes Rollenfutter, angesiedelt irgendwo zwischen Hauptmannschem Ernst und Loriot-verwandter Komik. Viel mehr als die Wuppertaler wird man aus dem Stück wohl nicht herausholen können. Denn sie machen das allesamt recht gut: Gerd Mayen als väterlich sich gebender Märchenerzähler und Lügenbold Marx, mit gelegentlichen Vulgär-Ausbrüchen; Rena Liebenow als praktisch-lebenskluge Ehefrau, aber auch Nervensäge, die sein Theoriegebäude im Nu zerbröseln läßt; Franz Trager als nicht nur vom Rationalismus trunkener Engels und schließlich Andrea Witt als das Liebesgespenst Leni.




Zwischen Duschvorhängen und Ententüchern – Max Goldts Glossen aus dem schrägen bundesdeutschen Alltag

Von Bernd Berke

„Seltsam, daß er nie mit diesen knochigen, verbiesterten Squash-Spieler-Typen mit ihrem Ringelpiez-Humor und ihren Kater-Garfield-Duschvorhängen konfrontiert wurde, die (…) ihre solariumsverkokelten Hände falteten und altjüngferlich flöteten: Also, ich kann auch ohne Alkohol fröhlich sein …“ – Jawohl. Man sieht sie leibhaftig vor sich, diese Leutchen!

Derlei Beobachtungen gelingen Max Goldt in seinen Glossen häufig. Der Mann ist Kolumnist des Satireblattes „Titanic“ und hat sich mit „Onkel Max‘ Kulturtagebuch“ seine Fangemeinde erschrieben. Kennzeichen an der Oberfläche: fröhlich-kreatives Chaos. Doch Goldt kann erzkomisch und ernsthaft sein, manchmal im raschen Wechsel, manchmal gar beides zugleich. Hinter jeder Satzbiegung kann es wieder um was ganz anderes gehen. Das macht die Sprache geschmeidig. Dabei denkt und schreibt er wohltuend unaufgeregt, jedem Getue abhold. Und sehr oft, besonders, wenn er sich mit „Szene“-Moden befaßt, denkt man: „Da sagt’s mal einer!“

Man lese und genieße: Wie er die allgegenwärtigen „Kulturschnorrer“ erledigt; was er über die Polit-Plänkeleien von Kabarettisten oder über die in Talkshows herumgereichten „Meinungsnutten“ denkt; wie er nervtötende Selbstdarstellungs-Rituale schwuler „Subkultur“ brandmarkt, was er z. B. von englischen Rocktexten, Silvesterfeiern, Rauchern, Volksfesten, Quittenfrüchten, schwatzhaften Kinobesuchern oder gar von „Ententuch-Matronen“ hält…

Und dann jene kleinen Pfennigs-Wahrheiten. Zitat: „Wer hat nicht schon mal in einer fremden Stadt im öden Hotelzimmer gelangweilt im Telefonbuch geblättert, um nachzuschauen, ob da vielleicht Leute mit unanständigen Nachnamen wohnen? Natürlich nur, um anschließend entrüstet zu sein über diese Bürger, die keine Anstalten machen, das behördlich ändern zu lassen.“

Auch viele Splitter ergeben ein Bild, es herrscht hier nicht das schiere Chaos. Ja, Max Goldt erscheint gar als Mann von früher Weisheit und von Grundsätzen. Er ist nicht der total „abgedrehte“ Freak, für den man ihn beim monatlichen Überfliegen seiner „Titanic“-Kolumne halten könnte.

Er läßt öfter mal durchblicken, daß er sich alles ein bißchen ruhiger, höflicher, gelassener wünscht auf der Welt. Wenn es auf dieser befriedeten Erde so kurzweilig zuginge wie in seinen Glossen, dann wäre es mächtig in Ordnung.

Max Goldt: „Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau“. Haffmans-Veriag, 302 Seiten, 28.50 DM.




Literatur im Zeichen der Zahlenmystik – ein großer Roman dieser Zeit

Dieser Roman kommt mit enzyklopädischem Anspruch daher: Von Aach (Allgäu) bis Zyfflich (Niederrhein) will er Sein und Wesen der deutschen Nation faßbar machen. Das Titelbild – ein fast fertiges Puzzle dieses Landes – signalisiert ein spielerisches Element, doch enthält es auch einen subtilen Verweis auf Grübelzwang.

Das Leitmotiv einer anderen deutschen (Un-)Tugend wird hier auch schon früh angeschlagen: „alphabetisch geordnet“, heißt es da. Nur: Im Laufe der Lektüre wird klar, daß auch labyrinthisches Chaos in diesem Kosmos Platz hat. Der Autor, von dem wir hier den ersehnten Roman unserer Generation haben, bleibt ungenannt. Wie viele der ganz Großen {Shakespeare, Thomas Pynchon) tritt er hinter sein Oeuvre zurück und bleibt selbst eine Rätselfigur. Er geht mitunter sehr behutsam vor. Zitat Seite 395, aus dem furiosen Kapitel „Dortmund“: „Am Ostheck 44309 – Am Ostpark 44143 – Am Overhagen 44319″.

Die Wahrheit wird umschmeichelt

Also nicht gleich „Im“, sonder „Am“, später manchmal auch „Zum“. Keine faustische Suche nach der Weltformel, sondern vorsichtige Annäherung an die Gegenstände. Literatur der kleinen Schritte. Bewußtsein, daß nicht alles sagbar ist. Wahrheit wird nicht im Sturm erobert, sondern umschmeichelt.

Fast im selben Atemzug bezieht sich der Autor (oder: die Autorin?) auf eine machtvolle Tradition aus Bibel und Mittelalter: Zahlenmystik! Symbolkräftig die fünfstelligen Ziffern – scheinbar präzise und doch abstrakt, losgelöst von allem Wirklichen. Wann hat man zuletzt so sparsame und lakonische Prosa genießen dürfen?

Ganz im Sinne der Post-Moderne

„Das Postleitzahlenbuch“ (Verlag Postdienst — Deutsche Bundespost, 986 Seiten) ist in der deutschen Nachkriegsliteratur bestenfalls mit Monumentalwerken wie Arno Schmidts „Zettels Traum“ zu vergleichen. Ganz im Sinne der Post-Moderne sammelt es, scheinbar unterschiedslos, historische Bestände aus allen Epochen ein – von der Luthergasse über die Goethestraße bis zum Adenauerplatz.

Zugleich will der Autor Kunst und Leben innig verbinden. Kein Rückzug in den Elfenbeinturm, sondern festes Vertrauen auf alltägliche Anwendbarkeit von Literatur. Man kann dieses Buch auch in froher Runde nutzen, für Ratespiele etwa. Besonders Teil zwei — weit ausgreifender historischer Exkurs im Gewand eines Straßenverzeichnisses von 209 Gemeinden — bietet hierfür unschätzbare Materialien. Wo existiert noch eine Karl-Marx-Straße? Gibt es mehr Goethe- oder mehr Schillerstraßen? Und dann das „Ortsteileverzeichnis“. Zitat: „Kreuzberg — Schöneberg — Tiergarten“. Welche Fülle von Assoziationen in diesem Dreiklang!

Durchweg herrscht zeitgemäßes Verständnis von Literatur: Der Text ist nur ein Angebot, der Rezipient (sprich: Leser) muß es bei der Lektüre vollenden. Konsequent wird dies hier durchgehalten —bis zum Schluß, wo man unter der Überschrift „Ihr persönliches Postleitzahlenbuch“ Raum für eigene Kreativität findet.

                                                                                                                Bernd Berke




Boshaftes aus dem Sauerland – Bildsatiren von Jochen Geilen in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Manchmal, so sagt er, schnüre sie ihm schon morgens beim Aufstehen den Hals zu – diese „Unser-Dorf-soll-schöner-werden“-Mentalität im Sauerland. Dabei ist der Künstler Jochen Geilen ein Kind dieses Landstrichs. Geboren in Olsberg, lebt er seit langem in Winterberg. Es scheint, als habe er auch aus Haßliebe zur Region einen Hang zu Spott und Satire entwickelt. Jetzt widmet ihm das Westfälische Landesmuseum in Münster eine Ausstellung mit rund 230 Arbeiten.

Größtenteils arbeitet Geilen in geradezu altmeisterlicher Manier als Kupferstecher. Er brauche diesen beinahe erotischen Widerstand der Kupferplatte, in die er „sich“ und seine Ideen kraftvoll eingraben könne. Doch dann liebe er auch wieder jene Ausbrüche, die er im Medium der Zeichnung ausleben könne.

Ein Mann mit gemischtem Temperament also. Mal diszipliniert und gediegen, mal spontan und beinahe wild. Und ein Mann mit Qualitätsschwankungen: Bewegt sich Geilen unmittelbar auf politischen Pfaden, so sind sie oft schon etwas ausgetreten. Seine Politikerportrats übertreffen wohl technisch, aber kaum inhaltlich die Standards der Tageskarikatur: Graf Lambsdorff erscheint da als Herrenreiter, Friedrich Zimmermann hebt die berüchtigte „Schwurhand“, Helmut Kohl wird gekrallt und fortgetragen von einem Adler namens Adenauer, Theo Waigel bleckt als Löwe mit buschigen Augenbrauen die Zähne. Nun ja. Man hat schon Boshafteres gesehen.

Auch zur Stadt Münster fällt Geilen in einer weiteren Bildserie nur Nächstliegendes ein. Da zwingt er etwa Fahrradfahrer und Nonne auf einem Bild zueinander. Wenn das kein Klischee ist. Aber es soll ja Klischees geben, in denen Wahrheit liegt. Doch dies sind Ausrutscher. Geilens Schaffen ist vielfältiger und hat durchaus beachtliche Qualitäten. Eine Serie mit Todesbildern zeigt eine allmähliche, gleichsam organisch wachsende „Politisierung“. Zunächst scheinen diese Blätter allgemein auf Vergänglichkeit abzuzielen, doch plötzlich ist da der totenköpfige „Meister aus D.“, jener NS-Folterknecht nach Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ („Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“).

Bemerkenswert auch Geilens Beobachtungen an Haltestellen und Plätzen, wo die Leute beziehungslos herumstehen und achtlos einander verfehlen. In derlei vermeintlich banalen Alltagsszenen lauert bitterer Hintersinn. Schließlich seine Tier-Bilder: Katzen, Mäuse und Maulwürfe in allzu menschlichen Situationen. Da zeigt sich Geilen als inspirierter Fabeldichter mit dem Stichel.

Jochen Geilen – Bildsatiren (Zeichnungen und Druckgraphik). Westfälisches Landesmuseum, Münster (Domplatz). Ab Sonntag, 30. August. Bis 25. Oktober. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 20 DM.




Zorn und Gelächter – Feuilletons von Eckhard Henscheid

„Die Wolken ziehn dahin, sie ziehn auch wieder her.“ Grandios einfach und irgendwie tröstlich, diese kleine Zeile. Sie war das Prägemuster für den Titel von Eckhard Henscheids neuem Buch. Es ist eine Sammlung seiner Zeitschriftenbeiträge aus den 70er, 80er und beginnenden 90er Jahren.

Die meisten Sachen sind im Satiremagazin „Titanic“ erschienen. Präzise Erscheinungsdaten muß man sich leider mühsam im Anhang zusammensuchen, warum stehen sie nicht direkt beim jeweiligen Artikel? Solche Details tun dem Inhalt keinen Abbruch, erschweren aber die Handhabung ganz unnötig.

Es ist ein Mißverständnis oder gröbliche Vereinfachung zu behaupten, daß Henscheid („Der Mann, der Böll beleidigte“) lediglich Deutschlands Chef-Zyniker sei, der politische und kulturelle Peinlichkeiten gnadenlos geißele, zuweilen auch persönlich beleidigend, unter der Gürtellinie.

Vom ästhetischen Fußball bis zur SPD-Humorkultur 

Das alles kann er auch – den laufenden Schwachsinn entlarven wie kaum ein Zweiter. Doch oft wird sein Zorn, wie diese Zusammenstellung zeigt, schlicht und einfach von Enthusiasmus und Zuneigung befeuert – etwa für den ästhetischen Fußball (das Höchste für ihn: Eintracht Frankfurt zu Grabowskis Zeiten), dessen Zusammenhänge mit literarischer Kultur er in einem herrlichen Aufsatz darlegt, oder für die Oper, die er flammend gegen Mätzchen des Regietheaters verteidigt.

Henscheid .„beackert“ ein großes Themenspektrum: Über die (ihm zufolge kaum vorhandene) „SPD-Humorkultur“ äußert er sich ebenso pointiert wie über pseudo-linke „Betroffenheits“-Duseleien, das Gebaren von Fernsehpfarrern, Sedlmayrs Leben und Tod, sprachlichen Nonsens wie „Disco-Deutsch“, die erbärmliche Unfähigkeit praktisch aller deutschen Literaturkritiker (geschenkt!) usw., usw.

Ob Lotti Huber, Herbert Wehner oder Herbert von Karajan – in der manchmal auch bewußt ungerechten Personenbeschreibung (sein Dauer-Feldzug gegen Hanns-Dieter Hüsch) ist Henscheid Meister so ziemlich aller Klassen. Geradezu maßstabsetzend sind seine knappen „Humorkritiken“, die mancherlei vermeintlichen Lach-Stoff sezieren und erlesene Empfehlungen (Dostojewski als einer der größten Humoristen) geben.

Eckhard Henscheid: ..Die Wolken ziehn dahin“. Feuilletons. Haffmans Verlag. 393 Seiten, 39 DM.




Gallige Spielart der Satire – „Scheibenwischer“ zur Raketenstationierung

Von Bernd Berke

Harte Zeiten für Satire. Das Grauen, das derRaketenstationierung folgen könnte, übersteigt die Phantasie. So blieb auch der „Scheibenwischer“ (Traumbesetzung Hildebrandt, Polt, Schneeberger) über weite Strecken nur der Rückgriff auf „Real-Satire“, etwa auf echte Zitate, die in ihrer Hirnrissigkeit für sich sprechen müßten, ohne daß zusätzliche Pointierung vonnöten wäre. Beispiel: Verteidigungsminister Wörners denkwürdige Einlassung, bundesdeutsche Christen würden „das Überleben verabsolutieren“, es also zu wichtig nehmen.

Feingesponnene Satire ist dem drohenden atomaren Holocaust nicht angemessen. Die gallig-makabre Spielart der Entlarvung stand daher diesmal im Vordergrund. Verbitterung über die Zeitläufte ließ wenig Raum für ausgesprochen „brillante“ Passagen. Hildebrandts Start-Solo machte denn auch eher seine Betroffenheit sichtbar. Gelöster wirkte er nur, als es um die Person des Kanzlers ging, welcher sich seit einem Jahr über denselben Witz freue – nämlich über seine Kanzlerschaft. Der tiefere Sinn und Zweck des von Gisela Schneeberger arrangierten „Essens für den Frieden“ mußte schon mächtig hervorgekitzelt werden.

Dennoch zwei Höhepunkte gegen Schluß der Live-Sendung: Hildebrandts „vertraulicher“ Appell an den DDR-Minister für Staatssicherheit, Otto Mielke, eine deutsch-deutsche Verbrüderung zuzulassen, auf daß die Supermächte nicht mehr wüßten, wohin zielen mit ihren Raketen. Nochmals eine Steigerung Gerhard Polts „auf-intensive Langzeitbeobachtung“ gestützter Vortrag darüber, wes Geistes denn nun eigentlich „der Russe“ sei. Fazit: Ein Mensch wie du und ich, der im Winter (man denke!) einen Mantel überstreift und sich selig über den Kinderwagen beugt, um dem Nachwuchs zuzulächeln.




Die Logik der Kernkraft-Freunde – Hildebrandts „Scheibenwischer“ zur Atomenergie

Von Bernd Berke

Dieter Hildebrandt läßt sich nicht beirren. Allen Anfeindngen zum Trotz, hat er mit der neuesten Ausgabe von „Scheibenwischer“ (ARD) in die gleiche Kerbe gehauen wie mit seiner schon legendären Sendung über den Rhein-Main-Donau-Kanal. Diesmal ging es um Kemkraftwerke, und siehe da: Die Namen einiger bayerischer Politiker, die schon in der Kanal-Sendung in wenig schmeichelhaften Zusammenhang aufgetaucht waren, standen erneut im Mittelpunkt. Unnachahmlich Gerhard Polt, der durch die simple mehrfache Nennung des bayerischen Sozialministers die Lachmuskeln reizte.

Hildebrandt sagte eingangs, er habe sich ganz fest vorgenommen, endlich mal „hemmungslos positiv“ über Atomkraft zu sprechen. Polt und Gisela Schneeberger sollten – als Werbekolonne der Stromerzeuger – dabei Hilfestellung leisten. Klar, daß ihnen die hinrissigsten „Argumente“ in den Mund gelegt wurden, die Hildebrandts gute Vorsätze mitunter ins Wanken brachten.

Kein echter Vertreter der Pro-Kernkraft-Linie würde zwar so ohne Umschweife und zynisch seine Meinung vertreten, doch wurde durch satirische Übertreibung manches deutlich, was sonst im beschönigenden Wortgeklingel untergeht. Absurder Gipfel der vermeintlichen Atomstrom-Propaganda: Berechnungen, die darauf hinausliefen, daß der Stromverbrauch zwar sinke, der Bedarf aber steige. Ein logischer Bruch, fürwahr! Er entstand daraus, daß die Bedarfsprognosen der Stromproduzenten als über jeden Zweifel erhaben dargestellt wurden.

Schade, ewig schade, daß Hildebrandt und seine Mitstreiter nicht ausführlicher auf die jüngsten Ereignisse in Bonn eingingen. Bereits die Titulierung des wechselfreudigen FDP-Vorsitzenden Genscher als „Doppelstecker“ und das Wortspiel mit der „Wandelhalle des Bundestags“ ließen ahnen, welches Bravourstück daraus hätte werden können. Gerade durch die Bonner Wechselspiele hat jedoch auch das gewählte Thema „Energiepolitik“ neue Aktualität erlangt.




„Blödeln Sie doch mal wieder!“ – Narr Herbert Bonewitz kritisiert den Karneval

Von Bernd Berke

Der Fernsehkarneval ist tot. Seit -zig Jahren: immer dieselben Gesichter, immer dieselben Gags. So düster sieht es ein Mann, der sich seit einiger Zeit gegen den trocken durchorganisierten Fasching wehrt. Herbert Bonewitz (40) ist selbst ein erfahrener „Narr“. Seit 22 Jahren schon läßt er seine Stimme für die Mainzer „Gonsbach-Lerchen“ erschallen.

Aufsehen erregten er und seine Sangestruppe nicht nur auf der Bühne, sondern auch hinter den Kulissen. Es begann damit, daß seine „Lerchen“ sich 1968 vom Mainzer Karnevalsverein MCV lossagten. Heute ist Bonewitz als Kritiker des Karnevalstreibens bekannter als je zuvor. In Dietmar Schönherrs Talk-Show „Je später der Abend“ sprach er Sätze wie diesen: „Karneval wird heute beherrscht und reglementiert von ein paar Riesenvereinen, die alles tierisch ernst nehmen. Karneval ist heute kein Volksfest mehr.“

Vorläufig letzter Höhepunkt seiner Kampagne: Gestern durfte Bonewitz in der Sendung „Mainz bleibt Mainz, wie es singt lacht“ auf humorvolle Weise gegen den organisierten Karneval „meckern“.

Seine Offenheit bringt manchen Ärger ein: „Die wollten mich hinterrücks abschießen. Wie? „Naja, immerhin habe ja noch einen bürgerlichen Beruf. Ich mache die Werbung für eine Papierfabrik“, deutet Bonewitz an.

Besonders schlecht zu sprechen ist Bonewitz auf die Karnevalskomitees. Die hätten – vor allem in früheren Jahren – die Aktiven, also Büttenredner, Sänger und so weiter „regelrecht diskriminiert. Wenn wir einen gemeinsamen Ausflug machten, dann fuhren die in der ersten Klasse und wir in der zweiten.“

Bonewitz‘ Pläne, wie man den Karneval gesunden lassen kannte, klingen simpel: „Wir müssen uns wieder auf die lokale Ebene verlegen. Karnevalswitz besteht zum großen Teil aus lokalen Anspielungen, die nur Eingeweihte verstehen. Es ist Unsinn, so etwas im Fernsehen zu bringen. Was im Fernsehen kommt, ist zwangsläufig nur ein Verschnitt aus Kalauern.“

Sein lokaler, volksnaher Karneval scheint sich auch in der Praxis zu bewähren. Seit dem spektakulären Austritt der Gonsbach-Lerchen aus dem MCV bringen die 12 Sänger im Mainzer Vorort Gonsenheim alljährlich so viele „Jecken“ auf die Beine, daß man Karten schon im November kaufen muß, um in den Genuß des „neuen Karnevalsgefühls“ zu kommen. Wenn es nach Herbert Bonewitz ginge, sähe es jedenfalls an den drei „tollen“ Tagen etwas anders aus in deutschen Landen: „Den Karneval im Fernsehen würde ich sofort wegfallen lassen.“ Konsequent, wie er ist, plant Bonewitz, „in zwei, drei Jahren“ sich mit den Gonsbach-Lerchen nicht mehr auf der Mattscheibe zu zeigen.

„Damals, als ich als junger Spund bei den Gonsbach-Lerchen anfing, hatte ich noch Idealismus“, erinnert er sich. „Aber heute weiß ich Bescheid. Beim Fernsehkarneval gibt es nur Zwist und Streit. Außerdem kriegen wir für die monatelange Probenarbeit keinen Pfennig.“ Durchschnittliches Probenpensum der Gonsbach-Lerchen für einen Gesangsauftritt: 85 Stunden. „Das Geld bekommen die großen Vereine.“

Wie soll man Karneval feiern? Bonewitz – von vielen Berufskarnevalisten als „Nestbeschmutzer“ beschimpft: „Wie man Lust hat: Man könnte sich mit Freunden treffen und einen Blödelabend veranstalten, bei dem Ernstsein verboten ist. Und dieser Blödelabend braucht nicht in der Karnevalszeit zu liegen. Er findet statt, wann man will.“

Und welche Rolle spielt dabei der Alkohol? „Leider brauchen ihn die Leute oft, um ihre Hemmungen zu überwinden. Besser wäre, es ginge ohne.“ Karneval sei nicht dazu da, den Getränkeumsatz zu heben, sondern müsse „einem gesunden Bedürfnis nach Fröhlichkeit“ (Bonewitz) entgegenkommen. Auf jeden Fall: „Raus aus der Passivität. Weg vom Fernsehschirm und unter andere Leute. Karneval ist viel schöner, wenn man ihn selbst im vollen Saal erlebt, denn das Lachen der anderen reizt zum Mitlachen.“

Worin unterscheiden sich die „tollen Tage“ von den anderen, wenn man an jedem Tag in Karnevalslaune kommen kann? ,,Dadurch, daß man auf der Straße eine Pappnase tragen darf, ohne für verrückt gehalten zu werden.“

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Rundschau-Wochenendbeilage