Im Trauerhaus: Uraufführung nach Thomas Hürlimann am Theater Oberhausen

Foto: Tanja Dorendorf/T+T Fotografie

Foto: Tanja Dorendorf/T+T Fotografie

„Das Gartenhaus“ – der Titel klingt eher nach einem beschwingten Sommerabend oder nach einem Tête-à-Tête im Grünen. Tatsächlich geht es in der gleichnamigen Uraufführung nach einer Novelle des Schweizer Autors Thomas Hürlimann am Theater Oberhausen um ein gewichtigeres Thema: Tod und Trauer.

Ein älteres Ehepaar hat den Sohn verloren, nun stellt sich die Frage: Rosenstrauch oder Grabstein? Lucienne (Margot Gödrös) setzt sich durch und lässt einen künstlerisch ansprechenden Gedenkstein anfertigen, aber sie brüskiert damit ihren Ehemann (Hartmut Stanke). Das führt zum ersten Zerwürfnis zwischen den Eheleuten, im Laufe der Inszenierung von Oberhausens Intendant Peter Carp vertieft sich dieser Graben. Eingekapselt in die je eigene Trauer verlieren die beiden Alten beinahe den Kontakt zueinander. Und schlimmer: Sie belauern sich, sie misstrauen sich, sie fügen sich Gemeinheiten zu.

Carp trifft genau den Ton und die Atmosphäre in diesem Seniorenhaushalt. Den Starrsinn, die Sturheit, das Verlieren in Erinnerungen, aber auch die Hilflosigkeit und die Unfähigkeit, mit dem Schmerz um den zu früh Dahingeschiedenen umzugehen. Doch die deprimierende Szenerie lässt auch komische Momente zu: Wie Hartmut Stanke in der Rolle des Oberst sich hinter dem Rücken seiner Frau um eine herrenlose Friedhofskatze kümmert und dazu Fleischbrocken im Kleiderschrank aufbewahrt, die leider angeschimmelt aufgefunden werden, weil er die Bevorratung vergessen hat. Wie der Militär a.D. die heimliche Versorgung der Katze wie einen Feldzug plant und sich dabei keine Geringeren zum Vorbild nimmt als Napoleon oder den Vietkong.

Nicht zuletzt überzeugt Hürlimanns präzise hochliterarische Sprache. Die Tatsache, dass es sich nicht um einen dramatischen, sondern um einen Prosa-Text handelt, kommt der Aufführung sogar zugute: So sprechen die Akteure in der dritten Person übereinander statt miteinander. Dies ruft eine eigentümliche Distanz hervor, die genau den Nerv dieser Beziehung trifft. Längst haben Lucienne und der Oberst aufgehört miteinander zu reden. In ihrer Hilflosigkeit wenden sie sich an Tochter (Susanne Burkhard) und Schwiegersohn (Klaus Zwick), doch Antworten bekommen sie hier nicht. Eher werden ihre Schrullen belächelt, ihre Problemchen nicht für voll genommen. So zeigt das Stück auch etwas über den Umgang mit dem Alter heute. Passend dazu bedeckt Herbstlaub das Bühnenbild von Kaspar Zwimpfer.

Margot Gödrös und Hartmut Stanke – beide selbst in vorgerücktem Alter – verkörpern Hürlimanns Paar extrem überzeugend und äußerst charmant. Und so macht sich auch im Publikum Erleichterung breit, als sie sich am Schluss doch wieder versöhnen. Ausgerechnet im Gartenhaus, wo noch die Modelleisenbahn das verstorbenen Sohnes aufgestellt ist, finden sie wieder zueinander. Indem sie sich mit der Miniaturwelt beschäftigen, schrumpft auch die Trauer auf ein erträgliches Maß. Die Züge rattern wieder durch die Schweizer Berge, das Leben geht (noch eine Weile) weiter.

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Es gibt etwas zu lachen – „Der nackte Wahnsinn“ in Dortmund

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Vicki (Merle Wasmuth) und Tramplemain (Frank Genser) haben Streß auf der Treppe (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nein, dass das Dortmunder Theater in der Intendanz von Kay Voges eine besonders trübselige Veranstaltung wäre, kann man wirklich nicht behaupten. Glücklicherweise gibt es hier immer wieder was zu lachen. Und jetzt erst recht!

„Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn, der hier am Samstag seine Premiere erlebte, ist ein Spaßstück erster Güte, ein Komödienstoff nach allen Regeln der Kunst, den ein hellwaches Ensemble mit Tempo und großem Körpereinsatz zum ungetrübten Vergnügen macht. Damit wäre fast schon alles gesagt. Aber warum sollte eine Bewertung erst am Schluß der Besprechung stehen, wenn sich der Rezensent so gut amüsiert hat?

„Der nackte Wahnsinn“ ist der Form nach eine klassische Türenkomödie, folgerichtig hat die Kulisse derer zehn, auf mehreren Ebenen (Bühne: Pia Maria Mackert). Außerdem dient das Fenster dem Einbrecher als Bühnenzugang. Allerdings beschränkt sich das Stück nicht auf die Mechanik der exakt gespielten Auf- und Abtritte durch die diversen Türen, sondern ist zudem ein „Theater auf dem Theater“ – in drei Akten.

Im ersten Akt erleben wir, wie eine eher unbekannte Theatertruppe das Stück „Spaß muß sein“ des (fiktiven) Stückeschreibers Robin Housemonger für die Premierentournee probt, im zweiten – der Drehbühne sei Dank – erleben wir staunend, daß die Vorstellung für uns fast unsichtbar irgendwie weiterläuft, während sich hinter den Kulissen die Mimen zanken und prügeln, Eifersuchtsgeschichten, Sinnkrisen und Alkoholismus den Fortgang der Tournee gefährden. Doch die Show muß bekanntlich weitergehen. Das dritte Bild schließlich zeigt die Bühne wider von vorn. Die Tournee ist fast zu Ende, Kulisse und Mimen sind verschlissen, die Hauptdarstellerin ist betrunken und außerdem ist ihr das auch völlig egal. Running Gag bei alledem ist von Beginn an ein Teller mit Sardinen, der mal da ist und mal nicht, was für Verwirrung sorgt.

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Das Ehepaar Brent (Ekkehard Freye und Eva Verena Müller) weilt inkognito im eigenen Hause (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Der Plot schließlich, um auch ihn kurz zu erwähnen, kreist wesentlich um zwei Liebespaare, die sich heimlich in das Haus schleichen, um es dort miteinander zu treiben. Das eine sind (mit ihren Rollennamen des Stücks im Stück) der Häusermakler Tramplemain (Frank Genser) und das blonde Dummchen Vicky (Merle Wasmuth) sowie der Dramatiker Philip Brent (Ekkehard Freye) und seine Gattin Falvia (Eva Verena Müller). Alle wähnten Haushälterin Clackett (Friederike Tiefenbacher) abwesend, doch die ist noch da, weil sie irgendeine Promi-Hochzeit im Farbfernseher sehen möchte, während sie selbst zu Haus nur Schwarzweiß hat. Und einen Teller mit Sardinen hat sie sich fertig gemacht. Den Brents gehört das Haus tatsächlich, doch sind sie inkognito hier. Die Steuerfahndung darf nicht wissen, daß sie in England weilen.

Schließlich gibt es noch einen Einbrecher, der von Uwe Schmieder gespielt wird. Er ist dem Whisky sehr zugetan, weshalb man nie weiß, ob er seinen Einsatz schafft. Und da das Stück ja im Stück spielt, sind auch noch drei Personen sozusagen ohne Rolle dabei: der fette Regisseur Lloyd Dallas (Andreas Beck), der schwule Regieassistent Poppy (Peer Oscar Musinowski) und der Bühnenmeister Tim (Sebastian Graf).

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Vicki und Tramplemain mit ihrem Regisseur Lloyd Dallas (Andreas Beck, rechts) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

So viel zur Handlung, die, man ahnt es vielleicht schon, natürlich zu keinem glücklichen oder auch weniger glücklichen Ende führt, sondern sich im atemlosen Kampf gegen das Unheil in der Welt im allgemeinen und das Entdecktwerden im Besonderen, aber auch um verlorene und nicht wieder aufgefundene Kleider, Bettlaken, Kisten und Taschen dreht. Und natürlich um Teller mit Sardinen. Das Stück im Stück hat auch deshalb kein Ende, weil ja nie bis zum Ende gespielt wird. Wie aber sollte so ein Plot schon enden, wenn nicht im Chaos?

Urkomisch sind viele Handlungsdetails – wie Brents absehbar aussichtsloser Kampf gegen den Sekundenkleber, mit dem er sich unlösbar einen Mahnschreiben vom Finanzamt und einen Sardinenteller an die Hände klebt, weshalb er im Weiteren nicht mehr in der Lage ist, die Hose hochzuziehen und panisch durch das Bühnenbild hüpft, treppauf, treppab. Poppy wechselt jedes Mal Hemd und Hose, wenn er aus der Szene verschwinden darf, Regisseur Lloyd Dalls stiftet mit Blumengeschenken, die Inspizient Tim zuverlässig an die falschen Adressen leitet, Chaos und Haß. Ausgesprochen spaßig auch sind im dritten Akt die Kostüm-Tauschaktionen, um schnell Ensemblemitglieder zu ersetzen, die gerade irgendwie abhanden gekommen sind. Schließlich stehen gleich drei Einbrecher auf der Bühne, was den Regisseur nur noch „Vorhang“ flehen läßt.

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Mrs. Clackett (Friederike Tiefenbacher) findet sich zwischen der Doppelbesetzung für den Einbrecher wieder (Uwe Schmieder li., Sebastian Graf re.) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Entscheidender aber als die Vielzahl gelungener Einzelgags ist das rasende Tempo, das diese immerhin dreistündige Produktion von Anfang bis Ende durchhält. Peter Jordan und Leonhard Koppelmann, die gemeinsam für die Regie zeichnen, verdeutlichen das durch einen Moment der Verlangsamung: Wenn dem Regisseur im ganzen Bachstage-Durcheinander ein Kaktus in den Allerwertesten gerammt wird, reduziert sich die Geschwindigkeit des Bühnengeschehens plötzlich wie in einer Zeitlupe. Die Töne dehnen sich, das Licht flackert wie bei einem langsam laufenden Filmprojektor, Schmerzverzerrt verzieht sich das Gesicht des fülligen Regisseurs im Schneckentempo, und ganz langsam beginnt Poppy, ihm die Nadeln einzeln wieder herauszuziehen. Und dann ist die Zeitlupe zu Ende und es geht so flott weiter wie vorher.

Die Damen nuttig, die Herren hasenfüßig, der Regisseur zynisch, der Schwule schwul: Natürlich ist das hier reinstes Chargenkino. Doch diese Überzeichnungen wirken nicht wirklich diskriminierend, weil ausnahmslos alle Personen auf der Bühne einen Schuß haben.

Und jetzt müßten noch ein paar wertende Zeilen folgen. Doch die stehen ja schon am Anfang. Das Publikum applaudierte erwartungsgemäß begeistert.

Termine: 9., 19., 25., 27. April, 8., 23. Mai, 1. Juni. www.theaterdo.de




Die Katastrophen sah sie kommen – „Kassandra“ in Dortmund

Die Rückwand eine Spiegelfläche, einige Scheinwerfer – mehr Bühnenbild braucht es nicht, um Kassandras Denken sinnfällig zu machen: Reflexion und Erhellung (vielleicht auch Erleuchtung) kennzeichnen es, ein Verstandesmensch ist sie, eine Analytikerin, ein Intellektuelle. Und eine Leidende unter eigener Erkenntnis.

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Bettina Lieder als Kassandra (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Im Studio des Dortmunder Theaters gibt die jugendliche Bettina Lieder Kassandra Gesicht und Stimme. In einem kräftezehrenden 80-Minuten-Monolog erzählt sie ihre – Kassandras – Lebensgeschichte, und sie wirft sich so bedingungslos in die Rolle, daß ein Schwächeanfall nach etwa einer Stunde den Fortgang der Aufführung für kurze Zeit fraglich macht. Doch nach wenigen Minuten ist Bettina Lieder wieder vorne. Und sie ist wieder Kassandra, die zornige Frau, die die Gabe der Weissagung haben soll und die darunter körperlich leidet.

Tochter von König Priamos und seiner Frau Hekabe ist sie, doch die hohe Herkunft erspart ihr nicht das entwürdigende Deflorationsritual, das sie ganz selbstverständlich erkennt als Teil der politisch gewollten Frauendiskriminierung. Sie will Abstand halten zu den Widrigkeiten dieser Welt, strebt das Amt der Priesterin an und wird in der Folgezeit eine mehr oder weniger involvierte Beobachterin der Verhältnisse, insbesondere der Kriegstreiberei gegen die Griechen.

Den Trojanischen Krieg sieht sie ebenso kommen wie sie späterhin auch früh die List der Griechen erkennt, die den Trojanern ein viel zu großes Holzpferd zur Opfergabe machen. Und sie weiß auch, dass das Trojanische Pferd Symbol für ein besonders grausames Gemetzel und den Untergang Trojas sein wird. So viel Inhalt im Kurzdurchlauf. Der Text, den Bettina Lieder vorträgt, berichtet natürlich ungleich mehr. Und man kann ihm recht gut folgen, wenngleich auch er mit vielen Namen und langen Sätzen gewisse Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Publikums stellt.

Der Text nun stammt in seiner angewandten Form von Dirk Baumann und Lena Biresch und entstand „nach Christa Wolf“. Christa Wolf starb 2011 und kann sicherlich die bedeutendste Schriftstellerin der DDR genannt werden, hoch geschätzt und viel gelesen auf beiden Seiten der deutschen Grenze. Ihre „Erzählung“ (Untertitel) „Kassandra“ kam in Westdeutschland 1983 heraus, ein mit nicht einmal 160 Seiten recht schmales, also wichtiges Buch, in dem die Schriftstellerin eine antike Heldin frauenbewegt, soziologisch und mit kühlem Intellekt erforscht.

Wenn Christa Wolfs Kassandra im Rückblick ihr Leben erzählte, so vermeinte man bei der Lektüre immer auch die Schriftstellerin selbst zu vernehmen, seelisch und methodisch mit ihrer Heldin nahezu verschmolzen. Auch vom Alter her war der Rückblick eine plausible Form des Erzählens. Somit ist der Vortrag des Textes durch eine junge Frau zunächst einmal irritierend. Was Bettina Lieders Kassandra im Dortmunder Schauspiel zornig, traurig, aufgewühlt erzählt, kann sie ja noch gar nicht erlebt haben.

Doch andererseits ist alles schon angelegt, es gehört zur Menschheitstragik, daß man vieles kommen sehen könnte, wenn man es denn wollte. Und nicht den letztlich wohlfeilen Zorn der Götter zur Ursache allen Übels erklärte. So gesehen ist eine jugendliche Kassandra eine stimmige Besetzung, denn es war ja ihr Los, vorher schon Bescheid zu wissen. Und nicht gehört zu werden. Und so zum Sonderling zu werden.

Auf unerwartete Weise lädt die Einrichtung des Stoffes von Dirk Baumann und Lena Biresch (auch Regie) dazu ein, über göttliche Fügung, Tragödie, Erkenntnis oder auch Verantwortung nachzudenken, wie es das Bühnenbild (Ausstattung: Mareike Richter, Licht: Rolf Giese) beizeiten schon nahelegte. Und die Sympathie des Abends gehörte selbstverständlich der kämpferischen Darstellerin.

Die nächsten Termine: 9., 25. April, 23. Mai. www.theaterdo.de




Knochenstaub für die Ruhrtriennale

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Szene aus dem Musiktheaterstück „Neither“ von Morton Feldman und Samuel Beckett (Foto: Ruhrtriennale)

Das Ballett „Le sacre du printemps“ von Igor Strawinsky ist ja eigentlich ein etabliertes Stück Bühnenkunst. Deshalb erstaunt es auf den ersten Blick, daß sich der Titel unter den insgesamt vier Musiktheater-Produktionen findet, die Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels  für das Festival im Spätsommer ankündigt. 

Doch keine Angst! Dies ist keineswegs die reumütige Rückkehr zum Mainstream, wie immer der auch beschaffen sein mag. Vielmehr ist der italienische Theatermacher Romeo Castellucci, der diese Produktion zu verantworten hat, eines Tages zu der Erkenntnis gelangt, daß bei Strawinsky zweifelsfrei ein Tier geopfert werde und das Tieropfer somit auch den Kern der Handlung bilden müsse.

Über einige weitere gedankliche Kaskadensprünge gelangte Castellucci schließlich zu seiner inszenatorischen Idee: Nicht Menschen bevölkern die Bühne, sondern fein gemahlener tierischer Knochenstaub rieselt von der Decke herab, rhythmisch und motorisch ausgestoßen, herausgeblasen von einer machtvollen Maschinerie, die, wie Proben-Videos zeigten, auch dann noch in ihrer präzisen Verrichtung sichtbar bleibt, wenn der Rest des Bühnenraums im Knochenstaub versinkt. Kein Scherz, der 1. April ist schon durch. Zum Trost der zahlreichen Asthmatiker und Allergiker konnte Heiner Goebbels wenigstens verkünden, daß das Staubopfer hinter einer dichten Folie stattfinden wird, die den Bühnen- vom Zuschauerraum abtrennt. Willkommen bei der Ruhrtriennale!

Keiner seiner Vorgänger hat den Grenzbereichen der Kunst in seiner Arbeit, um es einmal mit einem letztlich unzulänglichen Begriff zu bezeichnen, so radikal und beharrlich nachgespürt wie Heiner Goebbels. Während sein Vorgänger Willy Decker sich drei Jahre lang an letzten Fragen der Religionen abarbeitete, inszeniert er die Werke vergessener Zeitgenossen, holt freakige Instrumentenbauer auf die Bühne, weitet mit beträchtlichem technischen Aufwand die Möglichkeiten der Rezeption. Feste Abgrenzungen der Bühne zur Bildenden Kunst ignoriert Goebbels, und was in den letzten beiden Jahren unter seiner Intendanz entstand, war mal atemberaubend und mal banal, manchmal auch beides. Und oft war man sich da gar nicht sicher. So mag es jetzt auch dem Tierknochenmehl ergehen. Vielleicht kommt es ja ganz groß raus, und die Menschen werden davon noch in Jahrzehnten reden, vielleicht aber auch wird es einfach weggefegt.

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Der Niederländer Louis Andriessen schrieb die monumentale Oper „De Materie“, die Heiner Goebbels jetzt für die Ruhrtriennale inszeniert hat (Foto: Ruhrtriennale)

Zu den vergleichsweise „sicheren Bänken“ des neuen Programms gehört sicherlich die Inszenierung der Oper „De Materie“ des Holländers Louis Andriessen (75) durch den Hausherrn selbst. Das Werk wurde zuvor nur ein einziges Mal auf die Bühne gebracht, Ende der 80er Jahre von Robert Wilson in Amsterdam. Somit erlebt Duisburg in der Kraftzentrale Duisburg Nord eine veritable deutsche Erstaufführung, in der es, der Titel deutet Grundlegendes ja bereits an, um Zusammenhänge von Materie, Geist und Gesellschaft gehen soll. Die niederländische Unabhängigkeitserklärung von 1581 ist ein Topos dieses Werks, religiös-erotische Visionen einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert ein anderer. Aber ebenso findet die Kunst Piet Mondrians Erwähnung, schließlich auch eine öffentliche Rede von Marie Curie. Die Musik zu dieser bunten philosophischen Mischung immerhin macht das renommierte Frankfurter Ensemble Modern.

Bei „Surrogate Cities Ruhr“ machen die Bochumer Symphoniker die Musik, Steven Sloane schwingt den Taktstock. Das Stück, erläutert Goebbels, sei eine „Bewegungsrecherche“ mit Menschen des Ruhrgebiets, mit Kindern wie auch mit Teilnehmern der Gruppe „50 plus“. Hier wird nicht Pas-de-deux gedrillt, hier lernen und integrieren Künstler die Bewegungsabläufe normaler Menschen. Für diese Produktion schrieb Goebbels die Musik, für den Fortgang des Bühnengeschehens mit seinen rund 250 Akteuren sorgt die Choreographin Mathilde Monnier.

Die Produktion „Neither“ (deutsch: weder) ist die Frucht einer gemeinsamen Antihaltung zur Oper, die Morton Feldman und Samuel Beckett pflegten. Diese hielt sie, nachdem sie sich 1976 in Berlin zum ersten Mal getroffen hatten, nicht davon ab, ein Werk zu verfassen. Beckett schrieb einen zehnzeiligen 87-Wörter-Text, den er – eben – „Neither“ nannte, Feldman die Musik dazu. Dieses Musiktheater, das sich angeblich an den „psychologischen Patterns des amerikanischen Film noir“ orientiert, hat zur Musik der Duisburger Philharmoniker wiederum Romeo Castellucci inszeniert – der mit dem Knochenmehl.

Viel schöne Musik steht auf dem Programm, auch ganz klassisch. Und natürlich bleibt vieles kryptisch, bis man es wirklich gesehen und gehört hat. Was beispielsweise tun Sarah Nicolls und Sam Beste mit den „20 Pianos“ von Matthew Herbert? „Konzert/Performance“ ist die Show überschrieben, das macht einen nicht automatisch klüger. Wer auf Nummer sicher gehen will, schaut nach bekannten Namen und findet sie auch. Es konzertieren das unvermeidliche ChorWerk Ruhr, das Royal Concertgebouw Orchestra und das hr-Sinfonieorchester, das im Vorjahr auch das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ auf seinem schweren Weg begleitete.

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Immer etwas beängstigend: Installation von Gregor Schneider, der das Lehmbruck-Museum mit „Totlast“ ausstatten wird (Foto: Ruhrtriennale)

In der Abteilung Bildende Kunst/Film/Installation schließlich springt ein bekannter Name ins Auge: Gregor Schneider aus Rheydt, der ab etwa 1985 sein Elternhaus zum schauerlich beengenden, klaustrophobische Neigungen bestens befriedigenden „Toten Haus u r“ umbaute, der mit einer Art Kopie dieser Arbeit 2001 an der Biennale in Venedig teilnahm und dort auch prompt den Goldenen Löwen gewann. Er wird im Duisburger Lehmbruck-Museum das begehbare, teilweise unterirdische Röhrensystem „Totlast“ errichten, mit wie man sicher annehmen darf starken sinnlichen Valeurs.

Eine weitere Arbeit, die ganz bestimmt zum Publikumsliebling wird, haben die Urbanen Künste Ruhr für die eigentlich eher schlichte Straße unter den Hochöfen auf dem Duisburger Gelände geplant. „Melt“ ist 70 Meter lang, besteht aus 55 glänzenden Aluminiumplatten und kann begangen werden. Die Spiegelungen ändern sich durch das Nachgeben des Materials beständig, ein „Hingucker“ im wahrsten Sinn des Wortes.

Noch viel mehr könnte (und müßte!) man aufzählen aus dem Programm der Ruhrtriennale. Tanz bei PACT Zollverein und in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck, das Jugendprogramm „No Education“ die Diskussionen „tumbletalks“ und „freitagsküche“. Genauere Programmrecherchen sind natürlich auf den Netzseiten der Ruhrtriennale möglich.

Auffällig an Heiner Goebbels’ letzter Spielzeit ist eine gewisse Verlagerung des Schwerpunkts nach Duisburg-Nord. Hier werden große Sachen wie „De Materie“ und „Le sacre du printemps“ gegeben, im Lehmbruck-Museum wühlt Gregor Schneider seine „Totlast“ ins Gelände. Bochum mit seiner Jahrhunderthalle, früher geradezu der zentrale Aufführungsort der Triennale, bleibt die Nummer zwei. In Essen findet einiges statt – so die klassische Kammermusikreihe in der Zeche Carl -, doch lediglich das Kino Lichtburg, in dem „River of Fundament – Ein sinfonischer Film von Matthew Barney und Jonathan Bepler“ gezeigt wird, ist nicht den kleineren Spielorten zuzurechen. Und Dortmund, überhaupt das östliche Revier ist gänzlich außen vor. Nun gut. Es gibt ja die B 1.

Man sollte die feingeistige Grenzgängerschaft des Heiner Goebbels noch ein letztes Mal genießen, auch wenn sie nicht immer – oder nicht sofort – ihren Zugang zu den Herzen der Menschen findet. Ab 2015 regiert Johan Siemons die Ruhrtriennale, hier seit seiner Produktion „Sentimenti“ ein alter Bekannter. Dann wird es laut und lustig und vielleicht auch etwas flach (das wissen wir natürlich nicht). Auf jeden Fall jedoch ganz anders.

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Die Duisburger Gebläsehalle ist einer der Spielorte der Ruhrtriennale (Foto: rp)

Informationen und Eintrittskarten www.ruhrtriennale.de

Karten-Telefon

+49 (0)221 / 280210)




Der Menschenfeind und das wahre Leben: „Molière auf dem Fahrrad“

Einst war Serge Tanneur (Fabrice Luchini) ein ebenso begnadeter wie berühmter Schauspieler. Doch dann hat er der Welt Lebewohl gesagt und sich auf eine Insel im Atlantik zurückgezogen.

Aus dem einstigen Liebling der Medien ist ein muffeliger Mann geworden, der Schmeichelei und Heuchelei hasst und nach Wahrheit und Aufrichtigkeit strebt. Er ist der lebendig gewordene „Menschenfeind“ und könnte aus Molière altem Stück direkt in die Gegenwart geschmuggelt worden sein. Wenn Serge noch einmal auf die Bühne zurückkehren würde, müsste es – wen wundert´s – allein die Rolle des Menschenfeindes Alceste sein.

Filmszene mit Fabrice Luchini (li.) und Lambert Wilson. (Bild: Alamode Film)

Filmszene mit Fabrice Luchini (li.) und Lambert Wilson. (Bild: Alamode Film)

Doch als sein alter Kollege Gauthier Valence (Lambert Wilson) Serge in seiner Einsiedelei besucht und ihn zu einer Theater-Tournee mit Molières Klassiker überreden will, bietet der dem Eigenbrötler nicht den Alceste, sondern die Rolle des menschenfreundlichen Gegenspielers Philinte an. Was für ein Affront! Also genau der richtige Anlass für eine aberwitzig komische und zugleich tieftraurige Hommage an die Schauspielkunst.

In „Molière auf dem Fahrrad“ lässt Regisseur Philippe Le Guay zwei Schauspieler der Extraklasse aufeinanderprallen. Denn natürlich verhaken sich Serge und Gauthier ineinander, jeder will der bessere Schauspieler und der einzig wahre Menschenfeind sein. Doch je öfter sie bei ihren Sprechproben die Rollen tauschen und mal in die Rolle des Alceste und mal in die des Philinte schlüpfen, desto häufiger kommt ihnen das wahre Leben dazwischen.

Um Liebe und Hass geht es dabei, um Eifersucht und Zukunftsangst, um praktische Vernunft und menschliche Schwächen. Während die beiden Mimen mit Molières Versen auf den Lippen über die Insel radeln und sich manche rhetorische Schlacht liefern, zeigt ihnen die hübsche Francesca (Maya Sansa), wie schön und rätselhaft das Leben ist. Am Ende dieser Reise ins Innere der Kunst des Sprechens und Spielens bekommen alle etwas, aber eigentlich keiner das, was er gern hätte.

(Kinostart am 3. April)




Tanztheater Cordula Nolte: Verstörendes aus der neuen Konsumwelt

In der Legebatterie. Foto: Jochen Riese

In der Legebatterie. Foto: Jochen Riese

Ich bin, also konsumiere ich. Ich konsumiere, also bin ich. Aber was wird aus all dem Konsum – und was macht er mit mir, aus uns? Verstörende, schockierende, auch komische Antworten darauf sind nun im Tanztheater Cordula Nolte in Dortmund zu sehen. „Auf der Kippe“ heißt das jüngste sozialkritische Stück der freien Tanzbühne. Am Samstagabend feierte es umjubelte Premiere an der Rheinischen Straße/Ecke Paulinenstraße.

Es gab schon Abende, an denen man mehr gelacht hat in der charmantesten und vielleicht unbekanntesten Bühne der Stadt. Doch obwohl die Bilder, die das zehnköpfige Ensemble um Choreografin Cordula Nolte produziert, Schock-Momente und Gänsehaut produzieren – parallel muss man einfach staunen über die Kraft der Bilder, die tänzerische Ausdrucksstärke und den Ideenreichtum, mit dem das Ensemble die Konsequenzen des Kauf-Wahns in Szene setzt. Dieser Kommentar auf die Konsumgesellschaft macht sicher mehr Spaß und bewirkt womöglich mehr als die aktuelle Titelgeschichte des Spiegel, der mit dem Aufmacher „Konsumverzicht“ an den Kiosk kommt.

Die Waage halten inmitten des Konsums - das ist schwierig. Foto: Jochen Riese

Die Waage halten inmitten des Konsums – das ist schwierig. Foto: Jochen Riese

Zu Beginn hängen sie mit ausdruckslosen Gesichtern an der Stange, Stirn an Stirn, nackter Schenkel an nacktem Schenkel, dazu im Hintergrund monotones Gegacker: eine Legebatterie. Wie sediert vegetieren die Hühner-Menschen dahin, schaukeln autistisch, wimmern und keuchen, bis der Wagen kommt, um sie abzuholen und, Keule an Keule, in Folie zu verpacken. Dann rollen die Einkaufswagen auf die Bühne. In Schnäppchen-Laune balgen sich Frauen in Blümchenkleidern um die Wagen und hüpfen hinein – der Kampf beginnt. Indem der Mensch konsumiert, wird er selbst zur Ware – ein Gedanke, der sich durch den ganzen Abend zieht.

Und schon verwandelt sich die ganze Bühne in eine Müllhalde. Immer und immer mehr Plastikabfälle schleppen die Tänzerinnen und Tänzer in Einkaufstaschen auf die Bühne und werfen sie auf den Boden – shoppen im Rückwärtsgang. Bald ist der ganze Boden bedeckt mit leeren Milchtüten, Chipsdosen, Folie und Pappkartons. Auf diesem Boden bewegen sich die Darsteller – zwanghaft, gehetzt und freudlos. Mit gequälten Gesichtern, wie am Fließband absolvieren sie fast automatisiert Bewegungsmuster, bewegen sich von A nach B. Olaf Nowodworskis monotone, rhythmische Musik-Samples dazu verstärken den Eindruck der Getriebenheit.

Konsum produziert Opfer - das nimmt man in Kauf. Bild: Jochen Riese

Konsum produziert Opfer – das nimmt man in Kauf. Bild: Jochen Riese

Doch dann: süße Geigenklänge. Eine Frau im luftigen Kleid (Sabine Siegmund) scheint über den Abfall zu schweben, etwas zu suchen. Erwartungsvoll reckt und streckt sie sich bald hierhin, bald dorthin, bis sich die Erfüllung endlich einstellt: Das richtige Produkt ist gefunden. Selig hält sie es in die Höhe – eine Szene wie aus der Werbung.

Doch die Schatzsuche schien mehr Befriedigung verschafft zu haben als der Besitz, das Glück währt nur kurz. Mehr und mehr Produkte grabscht sie aus dem Haufen, stopft sie unters Kleid. Das Lächeln verschwindet, es folgt die Ernüchterung nach dem (Kauf-)Rausch. Die Frau kratzt sich, fühlt sich sichtlich unwohl im eigenen Körper – und fällt schließlich einfach um.

Die Frau mit Kinderwagen (Alexandra Grothe), die als nächste die Bühne betritt, nimmt die leblose Figur inmitten der Waren durchaus wahr. Sie versucht, einen Bogen um sie zu machen, sie zu ignorieren – erfolglos. Schließlich packt sie die Frau einfach mit in den Korb. Konsum produziert eben Opfer, die man kaufend in Kauf nimmt.

Her mit den Waren... Foto Jochen Riese

Her mit den Waren… Foto Jochen Riese

In einer starken Ensembleszene demonstrieren die Tänzerinnen in synchroner Monotonie die Gleichförmigkeit des Arbeits- und Alltagslebens: Sie stecken in grauen Anzügen, nur ein farbiger Schal sorgt vermeintlich für Individualität. Marionettenhaft, wie fern gesteuert kreisen sie zugleich die Schultern, reiben die Nase, werfen den Oberkörper nach vorn, eine perfekt laufende Maschine.

Doch es gibt einen Störfaktor: Einer der Tänzer (Holger Quiering) versucht, die anderen zum Innehalten zu bewegen, sie aufzurütteln. Doch egal, ob er seine Kolleginnen in die Luft hebt, ihre Bewegungen grotesk übertreibt oder sie gar von der Bühne trägt – nichts kann das Funktionieren des Systems stoppen. Dann fällt die erste einfach um – was ein kurzes, aber ebenfalls wenig nachhaltiges Innehalten bewirkt.

Die ewige Wiedergeburt des Mülls. Foto: Jochen Riese

Die ewige Wiedergeburt des Mülls. Foto: Jochen Riese

Der Abend gerät nach der Pause sogar noch bilderstärker – und verlangt den Tänzerinnen und Tänzern einiges ab, verbringen sie doch den Großteil des zweiten Teils in festgebundenen Müllsäcken. Das Publikum erlebt die endlose Wiedergeburt des Mülls: Aus dem Loch einer bühnenfüllenden Plane quillen immer neue Müllsäcke und führen ein Eigenleben auf der Kippe – komisch-verstörende Bilder, die in einem Vulkanausbruch gipfeln: Der Plastikberg auf der Bühne spuckt hunderte bunte Plastiktüten. Ein heiteres Bild, ein Bild von Schönheit und Überfluss – ja, Konsum macht auch Spaß! Doch dann der Schluss: Eine riesige Müllwelle rollt direkt auf die Zuschauer zu. Vorhang.

Nächste Termine: Sa., 10. Mai 2014, 20 Uhr / So., 25. Mai 2014, 19 Uhr.




Drama in Damaskus: „Kuss“ am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt

Aktuelle politische Konflikte auf die Bühne zu bringen, ist immer ein Risiko: Kann man dem Schrecken des Krieges und dem Leid der Opfer im fiktionalen Raum wirklich gerecht werden? Kann man den jeweiligen Konflikt überhaupt verstehen, wenn er sich in einem völlig anderen Kulturkreis und Machtgefüge abspielt? Wie entgeht man der Gefahr des herablassenden europäischen Blickes, der den betroffenen Gesellschaften zuerst mangelndes Demokratieverständnis attestiert und sich dann ratlos abwendet?

Die Uraufführung „Kuss“ von Guillermo Calderón am Schauspielhaus Düsseldorf entgeht dieser Gefahr auf bestmöglichem Wege, indem sie sokratisch zugesteht: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Diese Erkenntnis verknüpft sie zudem mit einem Überraschungseffekt, der aus einer klugen Dramaturgie erwächst: Denn zunächst wirkt das Kammerspiel zwischen zwei befreundeten Paaren in Damaskus wie eine konventionelle Soap-Opera. Sie ist angesiedelt in dem naturalistisch nachgebautem Wohnzimmer von Hadeel (Simin Soraya) mit Perserteppichen, Sofas und Couchtisch. Hadeel wartet auf ihre Freunde, um gemeinsam Fernsehen zu schauen. Denn, und darauf fußt laut Programmheft das Konzept von „Kuss“, in Syrien erfreuen sich eben jene Fernseh-Soaps großer Beliebtheit. Sie sind Kult und jeder fiebert mit den Helden mit.

Doch zum gemütlichen Fernsehabend kommt es diesmal nicht, weil sich die Protagonisten so sehr in ihre eigenen Liebes- und Beziehungsprobleme verstricken, dass die Freundschaft am Ende zerbricht. Es beginnt schon damit, dass Youssif (Marian Kindermann) viel zu früh auftaucht und Hadeel seine Liebe gesteht. Das Problem: Sie ist eigentlich mit Ahmed (Gregor Löbel) verlobt und er mit Bana (Anna Kubin) zusammen, die wiederum die beste Freundin von Hadeel ist. Trotzdem wird Hadeel beinahe schwach, doch da betritt ihr Verlobter Ahmed die Szene und verkompliziert die Angelegenheit, indem er ihr einen Heiratsantrag macht. Bana, die als zuletzt dazu stößt, wird als erste eifersüchtig und klagt Liebesverrat und Betrug durch die beste Freundin an.

Gerade als sich die Zuschauer fragen, wo denn nun die politische Relevanz eines Stückes liegen soll, in dem es hauptsächlich um gebrochene Herzen geht und der Spielort Damaskus offensichtlich überhaupt keine Bedeutung hat, dreht sich der Plot. Hadeel fällt um und liegt tot auf dem Teppich. Bana fällt aus der Rolle, entpuppt sich als Regisseurin des Spiels im Spiel und will nun per Skype Kontakt mit der angeblichen Autorin des Stückes aufnehmen, die in den Libanon geflohen sein soll.

Der sich nun entspinnende Skype-Dialog (über eine Leinwand auf die Bühne projiziert) ist derart von Missverständnissen durchsetzt und zeigt die Diskrepanz des Lebens hier und des Lebens als Kriegsflüchtling mit solcher Deutlichkeit, dass dies die eigentlich Botschaft transportiert: Wir haben trotz medialer Berichterstattung einfach keine Ahnung, was Menschen im syrischen Krieg wirklich widerfährt und welche Konsequenzen das für ihr Leben hat.

Als Beispiel genügt schon die Diskussion um die Todesursache von Hadeel: Während die Schauspieler der festen Überzeugung sind, Hadeel sei an gebrochenem Herzen gestorben, stellt die syrische Autorin klar: „Habt ihr denn nicht die Regieanweisung gelesen, dass Hadeel die ganze Zeit hustet?“ – „Ja, natürlich, sie hustet ja auch ab und zu, aber wo ist das Problem?“ – „Hadeel ist Opfer eines Giftgasangriffs in Damaskus geworden, daran stirbt sie. Ihr Geist ist verwirrt und benebelt, deswegen kommt sie mit ihren Liebhabern durcheinander.“

Nicht zuletzt entpuppt sich die vermeintliche Autorin als Hadeels Schwester. Die Schöpferin des Stückes ist bereits tot. Auch der titelgebende Kuss bezeichnet keinen Austausch von Zärtlichkeiten, sondern einen Kontakt mit dem Geheimdienst, erfährt man. Betroffen inszeniert die Schauspielertruppe einige Szenen noch einmal neu: Kitschig sind sie nun nicht mehr.

Infos: http://duesseldorfer-schauspielhaus.de/de_DE/Premieren/Kuss.954851




Von der Ruhr nach Wien: Karin Bergmann am Burgtheater, Tomáš Netopil an der Staatsoper

Das Wiener Burgtheater hat sich in den letzten Wochen über einen Mangel an Schlagzeilen nicht beklagen können – wohl aber über ihren Inhalt: ein weitreichender Finanzskandal, dubiose Praktiken in der Geschäftsführung, der Rausschmiss von Direktor Matthias Hartmann, das Bekanntwerden üppiger Zusatzgagen und Produktionskosten, drohende Steuernachzahlungen in Millionenhöhe, ebenso ein deftiges Minus in der Bilanz. Nun soll es eine Frau aus dem Revier richten: Karin Bergmann leitet das größte Ensembletheater der Welt interimistisch bis 2016. Die 60jährige, die sich selbst als „Theaternarr seit Jugendtagen“ beschreibt, stammt aus Recklinghausen. Zum ersten Mal steht mit Bergmann eine Frau an der Spitze des Burgtheaters.

Aus Recklinghausen nach Wien: Karin Bergmann. Foto: Reinhard Werner, Burgtheater

Aus Recklinghausen nach Wien: Karin Bergmann. Foto: Reinhard Werner, Burgtheater

Das Ensemble habe sie mit tosendem Applaus begrüßt, hieß es in der österreichischen Presse. An der Burg ist Bergmann keine Unbekannte: Sie kam schon 1986 mit Claus Peymann als Pressesprecherin ans Haus. 1993 holte sie Intendant Rudi Klausnitzer als Pressesprecherin und Direktionsmitglied an die Vereinigten Bühnen Wien, bis sie 1996 in den gleichen Funktionen zu Klaus Bachler an die Volksoper Wien wechselte.

Als Bachler 1999 an das Burgtheater berufen wurde, nahm er Karin Bergmann als stellvertretende Direktorin mit. 2008 übernahm er parallel zum Burgtheater die Münchner Staatsoper; Bergmann führte für ihn in Wien die Geschäfte und organisierte den Übergang zur Matthias Hartmann, bei dem sie als seine Stellvertreterin noch in der ersten Spielzeit 2009/10 blieb. Bergmanns Theaterlaufbahn hatte 1979 unter Peymann am Schauspielhaus Bochum begonnen.

Für die Interims-Direktorin geht es nun darum, das wirtschaftlich schlingernde Haus zu stabilisieren und die Spielzeit 2014/15 zu planen. Ob sie sich für die Zeit nach 2016 auf die Burgtheater-Direktion bewerben wird, ließ Bergmann im Interview noch offen.

Tomás Netopil dirigiert in Wien und Dresden. Foto: TUP

Tomás Netopil dirigiert in Wien und Dresden. Foto: TUP

Auch für Tomáš Netopil zeigen die Wegweiser nach Wien: Der Essener Generalmusikdirektor debütiert an der Wiener Staatsoper. Am 5., 10. und 13. September leitet er drei Aufführungen von Antonín Dvořáks „Rusalka“ mit Kristine Opolais als Rusalka und Piotr Beczala als Prinz. Auch die Dresdner Semperoper hat eine Neuproduktion mit Netopil am Pult angekündigt: Am 18. Oktober hat an der Elbe Leoš Janáčeks „Das schlaue Füchslein“ in einer Regie von Frank Hilbrich Premiere, bis 9. Dezember folgen sechs weitere Aufführungen.

Man wird sehen, ob Netopil die „Rusalka“ auch nach Essen bringen wird – in seine Linie slawischer Opern würde das Werk passen. Freilich war „Rusalka“ erst 2012 in Gelsenkirchen zu sehen: Aus dem breiten slawischen Repertoire gäbe es durchaus Werke, die seit Jahren nicht – oder noch nie – im Ruhrgebiet zu erleben waren.




Kleists „Amphitryon“ in Bochum: Von Göttern und Gatten

Ach, was für ein Schluss: Alkmenes bedeutungsvoller Seufzer am Ende des „Amphitryon“. Auf dieses letzte „Ach“ läuft alles hinaus, es ist der Höhe- und Wendepunkt – und für Alkmene der Beginn eines neuen Lebens mit einer bitteren Erkenntnis:  Der vergötterte Gatte ist in Wirklichkeit auch nur ein Mensch, der dem Idealbild selten gerecht wird. In den Bochumer Kammerspielen inszenierte Lisa Nielebock Kleists „Amphitryon“ ganz pur, klug komprimiert und temporeich auf seinen komischen Kern fokussiert.

Sascha Gross‘ Bühne macht dem Publikum schon zu Beginn klar, worum es geht: Um die Frage nach dem wahren Gesicht, dem wahren Wesen der Menschen – und Dinge. Eine riesige Spiegelwand dominiert den Bühnenraum. Sie steht auf Rollen, bald wird sie sich drehen und drehen, bis den handelnden Figuren und den Zuschauern alle Sinne verwirren. Auf der Rückseite der Spiegelwand sieht man ein stabiles, hölzernes Gerüst. Welche Seite die richtige ist, lässt sich nicht beantworten – Spiegel und Gerüst funktionieren nur zusammen.

Bei Amphitryon liegen die Dinge da schon komplizierter. Als der Feldherr der Thebaner von einer siegreichen Schlacht zurückkehrt, muss er erkennen, dass offenbar ein Doppelgänger ihm den Triumph des Sieges genommen und bereits am Vorabend mit Frau und Hof gefeiert hat. Gattin Alkmene, noch ganz berauscht von der Liebesnacht, kann und will nicht akzeptieren, dass sie den eigenen Gatten nicht erkannt haben soll, erfüllte er nach langer Abwesenheit doch genau ihre Sehnsüchte und Erwartungen.

Der Doppelgänger heißt Jupiter, gemeinsam mit seinem Götterkollegen Merkur ist er gekommen, um in Theben Herzen zu brechen und Verwirrung zu stiften. Oder kam er etwa, um den in Identitätsfragen etwas einfältigen Menschen eine Lektion zu erteilen: Du bist nicht nur, was du glaubst, sondern auch, was die anderen in dir sehen? Jupiters wahre Motive werden nicht ganz klar in der Inszenierung, die darauf abhebt, die Handlung – das Verwechslungsspiel – der Auflösung entgegen zu treiben, ohne sich von ihr treiben zu lassen.

In kurzweiligen, sogar fesselnden anderthalb Stunden kosten die Akteure jede Gelegenheit zum Witz aus: Während Alkmene und Jupiter in Amphitryon-Gestalt im Hintergrund Versöhnung feiern, wackelt und rumpelt die ganze Spiegelwand – und im Vordergrund pfeift Merkur  „Großer Gott, wir loben dich“,  sicher zur Erheiterung vieler Schüler, die diese Inszenierung hoffentlich erleben werden. Sie werden staunen, wie lebendig und modern fünfhebige Jamben klingen können.

Und die Schauspieler ziehen nicht nur sprechend alle Register. Marco Massafra als Amphitryon und Nicola Mastroberardino als Jupiter spielen die Kontraste zwischen ihren Figuren deutlich aus: Dieser eher ein pflichtbewusster, ernster Langweiler, jener ein draufgängerischer Charmebolzen. Therese Dörr zeigt, wie ihre Alkmene zwischen existenziellen Gefühlen hin und her geworfen wird: Wut und Glückseligkeit, Unsicherheit und Überzeugung, Liebe und Hass.

Extra-lauten Applaus erhielt in der Premiere Roland Riebeling als Amphitryons Diener Sosias. Seine komisch angelegte Figur bringt eine weitere Ebene in das Spiel mit Identitäten. Sosias erkennt als erster, dass die Götter Identitätsklau begehen und reagiert darauf höchst menschlich – als Wendehals, der blitzschnell bereit ist, die Seiten zu wechseln, und das sogar zu Recht: Schließlich dient er weniger einer Person als einem Funktionsträger.

Doch Menschen, sogar Götter wollen nun einmal um ihrer selbst willen geliebt werden. Ein klassischer Konflikt, der seit Kleists Zeiten nichts an Dramatik verloren hat.




Uraufführung in Bochum: Aus der neuen Arbeitswelt

Es ist die vielleicht banalste und zugleich wichtigste Frage: Wie soll ich leben? Banal, weil man das doch eigentlich wissen sollte. Und wichtig, weil es viele Menschen gibt, die sich diese Frage niemals stellen. Laura Naumann hat ein Stück über die Suche nach Antworten geschrieben. „Raus aus dem Swimmingpool, rein in mein Haifischbecken“ erlebte nun im „Theater Unten“ am Bochumer Schauspielhaus seine Uraufführung – es geht um Menschen, die suchen und um solche, die noch nicht wissen, dass sie auf der Suche sind.

Die junge Autorin, Förderpreisträgerin und Absolventin eines Studiengangs für kreatives Schreiben, mixt in ihrem fünften Stück Dialoge voller Schärfe und pointierten Spitzen mit Erzähl-Passagen, in denen die Figuren ihr Erleben aus der Ich-Perspektive schildern. Das gibt dem Stück Witz und Tiefe zugleich. Die temporeiche Inszenierung von Malte C. Lachmann wurde dem Text vollauf gerecht.

Auf der Bühne prallen Lebensentwürfe aufeinander, dass es funkt: Moana (Sarah Grunert) hat gerade ihren stressigen Job als Unternehmensberaterin begonnen und will alles richtig machen, um im Team für Paris zu landen: „Ich weiß, ich tauge zur Leadership.“ Ihre Mutter Christiane (Nicola Thomas) möchte auch alles richtig machen – allerdings nicht im Hinblick auf ihre Karriere als Nachrichtensprecherin, sondern auf eine bessere Welt. Dank der Nachrichten, die sie liest, könnten sich die Menschen schließlich ein Bild von der Welt machen und entsprechend handeln. Nur: Warum bleibt trotzdem immer alles beim Alten?

Höchst unterhaltsam streiten sich Mutter und Tochter um die Zukunft des Planeten, das richtige Business-Kostüm und die Badewasser-Temperatur. Moanas Freund, der Flugbegleiter Boris (Matthias Eberle), schneit zwischen seinen Flügen herein und vermittelt – er selbst ist familiär belastet und führt ein Leben wie auf der Flucht.

Unweigerlich steuert die Konstellation auf eine Katastrophe zu: Mutter und Tochter katapultieren sich selbst mehr oder weniger unbewusst aus der Bahn. Moana bricht sich bei einem Verkehrsunfall beide Arme, und ihre Mutter beschimpft das Nachrichten-Publikum live als passiv und verantwortungslos: „Ich werde Ihnen diese Scheiße nicht mehr vorlesen.“

Mit diesem Wendepunkt tritt Nikita (Torsten Flassig) in das Leben der drei. Nikita hat Moana beim Verkehrsunfall gerettet und zieht vorübergehend bei den Frauen ein. Ob Nikita Mann ist oder Frau, ob er oder sie einen Beruf hat, Familie oder einen Plan fürs Leben – nichts von alledem bekommen sie aus Nikita heraus. Nikita will sich nicht festlegen, sondern lebt vollkommen im Hier und Jetzt. Mit buddhahafter Gleichmütigkeit ist er einfach nur präsent – und schon projizieren die drei bedürftigen Mitbewohner ihre Sehnsüchte auf ihn.

Als Nikita plötzlich wieder verschwindet, wird allen dreien die große Leere in ihrem Leben erst richtig bewusst.

Im Gedächtnis bleibt unter anderem Moanas Monolog eines Anti-Gutmenschen: Boshaft engagiert, gänzlich unironisch und dabei sehr traurig erklärt Sarah Grunert als Moana, wie geil sie es findet, wenn auf Flügen viel CO2 in die Luft geblasen wird. Wie sie ohne schlechtes Gewissen Plastikflaschen ins Meer wirft. „Mir ist vor allem wichtig, möglichst viel kaputt zu machen“, sagt sie.

Man mag das Stück als Kommentar auf die moderne Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf den Menschen von der Anlage her etwas platt finden – es funktioniert jedoch allemal, es unterhält, und es führt unweigerlich zu der Frage: Wo stehen wir eigentlich selbst?

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(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger)




Der kleine kluge Mann – Erinnerung an Gerard Mortier

Wir beklagen den Tod von Gerard Mortier. In den meisten Nachrufen wird davon gesprochen, dass er die Oper zu neuem Erwachen geführt habe,  die Salzburger Festspiele nachhaltig geprägt habe. Alles richtig. Nur – sein Wirken als erster Intendant der RuhrTriennale hat zumindest hier eine viel umfassendere Bedeutung. Leider sind und waren die Entscheidungsträger für das Festival nicht auf seiner Erkenntnisstufe. Sie hatten nicht mit seiner Widerspenstigkeit gerechnet und waren am Ende froh, dass er weg war. Welch ein grandioser Fehler!

Als ich ihn 2001 in einem Szenecafé im Dortmunder Norden kennenlernte, traf ich auf einen offenen, charmanten und witzigen Mann, mit dem ich über die Eigenart der Belgier diskutiert habe, über das Publikum im Ruhrgebiet und die Unterschätzung desselben.  Später – bei einem Besuch in Salzburg – sprachen wir über die Dekadenz des dortigen Publikums und die Sehnsucht nach dem Einfachen im scheinbar Komplizierten. Die zahlreichen Gespräche mit ihm – vor allem während seiner Zeit im Ruhrgebiet – gehören zu den prägendsten meines Lebens.

Der Jurist Dr. Mortier, dessen Namen manche flämisch, andere französisch aussprachen, war allzeit auskunftsbereit, sprach und warb für die erste RuhrTriennale an jedem nur denkbaren Ort. Seine Gespräche mit Politikern oder Vertretern der Wirtschaft kosteten ihn Nerven. Er sei „oft von Dummheit“ umgeben gewesen,  sagte er. Nach einer Anlaufzeit mochten ihn die Menschen hier, so wie er die Ruhrgebietler ins Herz schloss. Er machte aus dem Stand das Festival zu einem Highlight, indem er Kreationen entwerfen ließ, die unvergesslich sind, allen voran vielleicht das Werk „Sentimenti“, dass damals vom zukünftigen Triennale-Intendanten Johan Simons in Sezen gesetzt wurde.

Damals in Salzburg engagierte er Markus Hinterhäuser und Thomas Zierhofer, um für kleines Geld ein erstes „Festival im Festival“ zu etablieren, genannt „Zeitfluss“, für ein junges, neues Publikum. So förderte er das Festival „Off limits“, dessen Leiter ich habe sein dürfen, als Off-Triennale, eine bis dato einmalige Kooperation. Wiederstände gab es auch damals, aber  er setzte es durch.

Er sah sich nie als Künstler, sondern als Ermöglicher und Vermittler. Er überredete u.a. Alain Platel, für die RuhrTriennale ein Werk zu Mozart zu inszenieren, das danach weltweit Erfolge feierte: „Wolf, oder wie Mozart auf den Hund kam“.  Er verstand es, Menschen zu überzeugen, Publikum wie Künstler.

Als der agile Intendant ging, folgte der joviale Jürgen Flimm und die RuhrTriennale setzte umgehend Staub an, der sich erst wieder mit Heiner Goebbels zart auflöste. Als Mortier sich später anbot, noch einmal eine Intendanz zu übernehmen, winkte man ab. Der kleine Mann ging den Politikern offenbar auf die Nerven.

Überall, wo er war, hat er Eindruck und Nachhaltigkeit hinterlassen. Viele seiner Weggefährten folgten seinen Ideen und sind erfolgreiche Intendanten oder Vermittler. Leider hat das Wirken hier im Revier nur wenig hinterlassen – außer Erinnerung. Man müsste ihm ein Denkmal schaffen.  Ich werde ihn trauernd weiter schätzen.




„Vorhofflattern“: Ein erregender Theaterabend

Foto: dman

Foto: dman

Was könnte man sich wieder aufregen: Über die miese Qualität von Taschentüchern heutzutage. Über die Scheiß-Tölen in der Stadt. Über Menschen auf Rolltreppen. Über die Erderwärmung und das trotzdem schlechte Wetter.

Wenn der Wutbürger sein eigenes Genörgel dann nicht mehr ertragen kann, besucht er einen Wut-Workshop. Dort sitzt er, probiert Modellbau als Substitution und versucht, konstruktiv mit seiner Wut umzugehen, was so einfach nicht ist: „Ich hasse Menschen, Tiere und Pflanzen. Aber Steine sind okay.“

„Vorhofflattern“ heißt das Stück von „artscenico performing arts“, das in Kooperation mit dem Dortmunder Theater im Depot und dem Theater Rottstraße in Bochum entstand. Die Gruppe um Rolf Dennemann, eigentlich Spezialist für ortsspezifische Inszenierungen, spielt diesmal nicht im Freien, nicht im Hotel oder auf dem Fried- oder Bauernhof, sondern ganz profan auf der Theaterbühne. Wut rauslassen lässt sich schließlich überall.

Wie ein überdimensionierter Stammtisch wirkt der schwarze lange Tisch, an dem die Darsteller (Karin Moog, Maximilian Strestik, Matthias Hecht, Manuela Stüßer) sitzen und Dampf ablassen. Was er seinen Darstellern in den Mund legt, hat Dennemann (Autor und Regisseur des Stücks) collagiert: Es sind Sätze aus Kommentaren in Sozialen Netzwerken und Internet-Foren, aufgeschnappt in Kneipen, gelesen in Leserbriefen. Es ist die vielleicht verzerrte, aber ungeschminkte öffentliche Meinung, die hier wütet: schreiend, zeternd, motzend, nörgelnd.

Um diesen Zustand der Dauer-Erregung auf der Bühne zu visualisieren, hat Dennemann starke Bilder gefunden. Schon vom Ankündigungsflyer glotzt schweinsäugig ein Pitbull in Lauerstellung. Im Stück taucht der Hund als Wackel-Dackel auf: Der Mensch (der Deutsche?) als ängstlich-angepasster Ja-Sager, dessen aufgestaute negative Energien sich an Nichtigkeiten entzünden und explodieren. Die vier Darsteller kommen und verschwinden wie Handpuppen im Puppentheater hinter ihrem schwarzen Podest und regen sich künstlich auf: Gegeben wird ein großartiges Wut-Theater der großen Posen.

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Foto: dman

Doch dann, plötzlich, bewegt sich ein Wesen auf dem Tisch. Es kriecht und schlängelt sich wie ein Wurm, und es ist zu groß, um es zu ignorieren. Die Workshop-Teilnehmer versuchen es, aber es wird nicht gelingen. Ist es etwa das hässliche, ungeliebte und bedürftige Selbst der Wütenden? Diese beginnen damit, das Wesen zu bandagieren wie eine Mumie. Die kümmerliche Kreatur muss gebändigt werden.

In einer eingespielten Simultan-Übersetzung der Rede eines schwedischen Arztes lernt der Zuschauer dann: Das Wesen steht für das Opfer eines Bombenanschlags. Trotz schlimmster Verletzungen kämpfe die Frau jeden Tag um eine bessere Zukunft im eigenen Körper. „Wir Menschen sind Wesen, die mit Narben gesund weiterleben können“, heißt es leider etwas aufdringlich, während sich die Bandagierte oben auf dem Podest sinnfällig ihrer Fesseln entledigt. Photini Meletiadis heißt die Tänzerin unter den Bandagen. Ihr Aufbegehren ist existenziell, ihre pure Körperlichkeit steht in krassem Gegensatz zum nun umso sinnloser scheinenden Aufbegehren der Unversehrten.

Diese, die vier Wut-Bürger, kauern am Ende unterm Tisch in vier kleinen Kabinen, gefangen im eigenen Unvermögen, mit der Welt und vor allem sich selbst klarzukommen.




Spinxen erlaubt: das Dortmunder Ballett probt „G’schichten aus dem Wiener Wald“

Morbide Szene im Wiener Wald: Mark Radjapov als "Der Tod". Foto: Bettina Stöß

Morbide Szene im Wiener Wald: Mark Radjapov als „Der Tod“, mit Untoten. Foto: Bettina Stöß

Theaterproben anschauen, das Unfertige also beäugen, um daraus möglicherweise zu schließen, wie denn die komplett erarbeitete Produktion einmal aussehen wird, hat etwas von der Eigenart, dem Koch in die Töpfe zu gucken. Da brodelt oder brutzelt etwas, und vielleicht wird’s ja eine gute Suppe oder ein saftiges Steak.

Das Lupfen des Vorhangs, um Einblick zu gewähren, was denn passiert, bevor sich zur Premiere eben jener Vorhang hebt, hat manches Opern- oder Schauspielhaus zu seiner Maxime erhoben. Gewissermaßen als geschickter dramaturgischer Akt, das Publikum ans Theater zu binden. Und siehe: Neugierige gibt es genug. Sie wollen mehr als nur konsumieren, wissen, was dahinter steckt.

Gleichwohl existiert nach wie vor der andere Zuschauertypus, der den Premierenzauber genießen will, ohne sich in der Werkstatt bereits umgesehen zu haben. Der sich der Überraschung hingibt und der Hoffnung auf grenzenlose Faszination. Dann geht der Vorhang auf und alles ist neu. Und mancher mag sich fragen: Wie haben die das bloß gemacht?

Wie dem auch sei: Das Dortmunder Ballett hat nun einen Vorgeschmack geliefert auf die „G’schichten aus dem Wiener Wald“. Hat uns teilhaben lassen an ersten Szenenfolgen in kärglicher Kulisse, mit Musik von Johann Strauß und Alban Berg, die noch elektronisch zugespielt wird, mit der Umsetzung eines einstudierten Bewegungsvokabulars auf der großen Bühne. Das alles sieht noch derart nach Arbeitsprozess aus, dass eine Einschätzung, wie es denn wohl wird, nur eine Frage der Spekulation sein kann.

(Marianne) Monica Fotescu-Uta verliebt sich in Alfred (Dmitry Semionov). Foto: Bettina Stöß

(Marianne) Monica Fotescu-Uta verliebt sich in Alfred (Dmitry Semionov). Foto: Bettina Stöß

Andererseits, erste Gestaltungslinien werden erkennbar. Die Choreographie des Dortmunder Ballettchefs Xin Peng Wang setzt zunächst einmal auf Reduktion. Denn Ödön von Horváths Volksstück, die „G’schichten“ über die kleinen Leute des 8. Wiener Bezirks, bietet eigentlich ein üppiges Personaltableau von einsamen, unglücklichen, einfältigen, aufbegehrenden oder sich in Nostalgie flüchtenden Menschen in der Zeit des aufkeimenden Faschismus. Wang aber fokussiert sich auf nur vier Charaktere, nutzt das Corps de Ballet als eine Art kommentierenden Chor, und führt zwei neue Figuren ins Geschehen ein: den Tod und das Mädchen.

Morbide also wird’s, wenn die Geschichte Mariannes, die den gediegenen, aber langweiligen Fleischermeister Oscar heiraten soll, die sich aber dem Hallodri Alfred an den Hals wirft, der dafür seine Geliebte, die etwas derangierte Valerie sausen lässt, in Form eines großen Totentanzes aufgerollt wird. Einer alten Wiener Legende folgend, dass einmal im Jahr die Toten eine Chance haben, alles besser zu machen als im einstigen Leben. Die daran natürlich scheitern. Wie eben auch Horváths Figuren. Wie denn auch Mariannes uneheliches Kind sterben muss.

Dortmunds Ballettdirektor Xin Peng Wang choreographiert die "G'schichten". Foto: Philip Lethen

Dortmunds Ballettdirektor Xin Peng Wang choreographiert die „G’schichten“. Foto: Philip Lethen

Dabei wird die Frage zu beantworten sein, ob Horváths Sozialstudien, inklusive psychologischer Ausleuchtung, ihre Entsprechung in Bewegung, Gestik und Mimik finden können. Oder anders gefragt: „Sind Tanz und Musik (Strauß’ Walzer und Bergs Zwölftonklangfarbenwucht reiben sich bisweilen aufs Heftigste) in der Lage, die Atmosphäre des Horváthschen Wien einzufangen?

Das Lupfen des Vorhangs hat uns Probenatmosphäre schnuppern lassen, mehr ist kaum zu sagen. Andererseits hat die bewährte Kooperation von Ballett und Dortmunder Harenberg-Haus den Weg gewiesen zu Horváth und seiner Welt. Mit einer wunderbaren Lesung von Eva Dité (Klavierbegleitung: Ursula Schwarz), die Veza Canetti („Die gelbe Straße“) zu Wort kommen lässt – Schilderungen aus dem Wiener Arbeitermilieu, treffliche Typenzeichnungen. Und die Hertha Pauli zitiert, aus deren Buch „Der Riss der Zeit geht durch mein Herz“ liest, speziell vom Begräbnis Ödön von Horváths. Der Schriftsteller war 1938 im Pariser Exil durch einen herabfallenden Ast erschlagen worden. „Gemütliche Bestialitäten“ heißt das Programm, und damit ist vieles gesagt.

Xing Peng Wang und seine Compagnie haben sich einiges vorgenommen. Weltliteratur in Tanz umzusetzen ist nicht neu, doch stets eine Herausforderung. Egal, ob Probenbesuch oder nicht, spannend wird’s allemal.

 

„G’schichten aus dem Wiener Wald“ erlebt seine Premiere im Dortmunder Opernhaus am 22. Februar, 19.30 Uhr. Am 22. März lädt Chefdramaturg Christian Baier im Harenberg-Haus zu einem literarischen Spaziergang durch Wien und will einiges berichten, „was die Reiseführer der Stadt (wohlweislich) verschweigen“.




„Republik der Wölfe“ – wie das Schauspiel Dortmund Grimm’sche Märchen massakriert

Angstvoller Blick: Der Jäger (Sebastian Kuschmann) bedrängt Schneewittchen (Eva Verena Müller). Foto: Hupfeld

Angstvoller Blick: Der Jäger (Sebastian Kuschmann) bedrängt Schneewittchen (Eva Verena Müller). Foto: Hupfeld

Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Männer, die sich oder anderen Eingeweide herausreißen, Gliedmaßen verstümmeln. Dazu heulen die Wölfe. Ein Höllentrip ist das. Unterlegt mit teils psychedelischer oder traumverlorener, teils illustrativer, geräuschträchtiger und die Ohren malträtierender Musik. Willkommen im fiesen Brutalo-Kosmos der Grimm’schen Märchen, das Massaker ist angerichtet. Serviert im Schauspielhaus Dortmund.

Seitdem dort Kay Voges das Intendantenruder in die Hand genommen hat, darf sich das Publikum immer wieder auf allerlei Experimentelles, Skurriles, Grelles und Verstörendes einlassen. Da fügt sich die Regisseurin Claudia Bauer, die nun also Hand anlegt an ein deutsches Heiligtum, an die märchenhafte Romantik im Dunstkreis eines Mythos namens Wald, aufs Schönste ein. In dieser Mixtur aus Splatter-Movie, Spießbürger-Ambiente, sanfter Traumerzählung oder geschriener Suada bleibt kein Auge trocken.

Schneewittchen, Dornröschen, Rotkäppchen, Rapunzel – wer kennt sie nicht, die „Heldinnen“ von Jacob und Wilhelm Grimm, die gewiss allerlei Gemeinheiten, Eifersuchtsszenen, Bedrohungen oder Anschläge aufs Leben erleiden und erdulden müssen, die am Ende aber doch ihren Prinzen finden, glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben … „und wenn sie nicht gestorben sind…“. Wer aber weiß die Gedichte zu benennen, die die amerikanische Autorin Anne Sexton unter dem Titel „Transformation“ geschrieben hat, als Adaption eben jener Märchen? Die Wert legt auf die kriminelle Energie der Figuren, auf drastische Schilderung von Verhältnissen und auf das von Pessimismus durchtränkte Fazit, dass Happy Ends gänzlich unangebracht sind?

Jacob und Wilhelm Grimm (Sebastian Kuschmann, Ekkehard Freye) ringen. Foto: Hupfeld

Jacob und Wilhelm Grimm (Sebastian Kuschmann, Ekkehard Freye) ringen. Foto: Hupfeld

Nun, in Dortmund ist’s zu erleben. Vor allem mit Hilfe der Macht der Bilder. Mit überdrehten, überzeichneten Figuren, sich teils gruselig, dann wieder sanft bewegend. So sind Traum und Trauma im romantisch-modernen Textgemenge nah beieinander. Wer aber die Hintergründe nicht kennt – Anne Sextons Psychosen, ihre Versuche, Lyrik als Therapie einzusetzen, letzthin der Selbstmord (nach zwei Suizidversuchen) –, dürfte wohl etwas ratlos das Theater verlassen.

„Hüte Dich“ wird oftmals geraunt. „Mehr Raum“ schreit’s am Beginn von „Hänsel und Gretel“. Ein Blick auf die altbacken eingerichteten, miefigen, hübsch hässlichen Zimmerchen,  die Ausstatter Andreas Auerbach als zweigeschossigen Loft auf die Drehbühne gewuchtet hat, reicht, um verständnisvoll zu nicken. An diesen Orten des Grauens vergeht sich der Froschkönig an der Prinzessin, verblutet das Rumpelstilzchen, müssen sich die Stiefschwestern Aschenputtels die Füße abtrennen lassen.

Rotkäppchen (Julia Schubert) und Wolf (Uwe Schmieder) im Clinch. Foto: Hupfeld

Rotkäppchen (Julia Schubert) und Wolf (Uwe Schmieder) im Clinch. Foto: Hupfeld

„Republik der Wölfe“ ist diese Abfolge von Schändlichkeiten übertitelt. Jaja, der Wolf ist in die Deutschen Wälder zurückgekehrt. Und dass der Mensch in gewisser Hinsicht des Menschen Wolf sei, propagierte schon Thomas Hobbes. Daran scheint Regisseurin Claudia Bauer anzuknüpfen. Wenn auch manche drastische Szene im zirkulierenden Horrorhaus einen Hauch von Geisterbahnatmosphäre ausstrahlt, zeigt doch die dunkle Seite der Romantik wirkmächtig ihr grausiges Gesicht. Wenn aber ausgerechnet der böse Wolf, nachdem er die Großmutter gemeuchelt hat und in ihre Kleider geschlüpft ist, von Rotkäppchen aufs Schärfste verführt wird, dann scheint die Regie einem Augenzwinkern nicht widerstehen zu wollen.

Doch im Grunde sind die Dinge, die hier verhandelt werden, von ernster Art, das Böse lauert immer und überall, es gibt kein Entrinnen. Sinnbildlich dafür steht das Ringen der Grimm-Brüder um den rechten Verlauf jeder Geschichte. Wie siamesische Zwillinge kleben die beiden aneinander. Wilhelm sagt: „Jacob, Du kannst nicht alle Märchen gut ausgehen lassen“ (ganz im Sinne von Anne Sexton). Der Angesprochene aber will sich lösen, der Wald soll ihn das wirkliche Leben lehren.

Am Ende des gut 100-minütigen Spektakels aber ist der Fokus ganz auf die somnambul wirkende Schauspielerin Eva Verena Müller gerichtet. Die anfangs mit großen, ängstlichen Augen uns anblickt, als Schneewittchen in anmutigen Todesschlaf sinkt, als Dornröschen aufwacht, nicht weiß, ob sie in der Wirklichkeit angekommen ist. „Ich würde so gerne etwas erleben“, sagt sie, begleitet von sanften, melancholischen Klängen.

Das macht die Band, die sich passend zum Stück „The Ministry of Wolves“ nennt, ganz vorzüglich. Paul Wallfisch, Alexander Hacke, Danielle de Picciotto und Mick Harvey sind in großer Virtuosität daran beteiligt, aus der Szenenfolge ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Eines, das indes schmerzlich bewusst macht, dass die alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, schon lange vorbei sind.




Ungeheuerlich und ganz natürlich – „Der Prozess“ nach Franz Kafka in Dortmund

Wie inszeniert man Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ für die Bühne? Ganz offensichtlich reizt der Stoff die Theaterleute, in den vergangenen Jahren hat es in der Region etliche Versuche gegeben, abgründige, kryptische, pompöse: 2010 in Wuppertal, 2012 in Düsseldorf, 2013 in Essen, und die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit. Keine dieser Inszenierungen aber geriet so minimalistisch wie die von Thorsten Bihegue und Carlos Manuel auf der Studiobühne des Dortmunder Schauspielhauses.

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Der Angeklagte und seine Wärter: Josef K. (Björn Gabriel, Mitte), Willem (Andreas Beck, Links) und Franz (Uwe Rohbeck, rechts) (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

„Nach dem gleichnamigen Roman von Franz Kafka“ (Untertitel) agieren dort, unmittelbar vor den Füßen der Zuschauer in der ersten Reihe, drei Männer und eine Frau in wechselnden Rollen. Nur der vierte Mann bleibt immer Josef K., gegeben wird er von Björn Gabriel. Und die Frage, die schnell sich über den Köpfen des geneigten Publikums nebelgleich erhebt, ist natürlich: Geht das? Funktioniert dieser geheimnisvolle, psychologisch aufgeladene, beengende und bedrückende Stoff noch, wenn man ihn ähnlich inszeniert wie ein naturalistisches, schmutziges, kleines englisches Theaterstück à la Dennis Kellys „Waisen“ ,das ebenfalls auf dem Spielplan des Dortmunder Schauspiels steht?

Sagen wir es mal so: Das, was hier von der Vorlage an „Kafkaeskem“ übrigbleibt, ist sicherlich nur ein kleiner Teil. Doch in der Einrichtung des verantwortlich zeichnenden Regie-Duos entsteht gleichwohl ein passables, schlüssig ablaufendes Bühnenstück, das in seinem linearen Aufbau stellenweise den Charakter einer Nummernrevue hat. Es erzählt, stark gerafft und vereinfacht ausgedrückt, wie die völlig absurde alptraumhafte Situation des Verhaftetseins aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet schnell eine Qualität des Normalen entwickelt. Für die Wärter ist der Umgang mit Verhafteten etwas Normales, Repression und Großherzigkeit im Kontakt mit Josef K. sind ihre üblichen Umgangsformen; Fräulein Bürstner aus dem Büro weiß – wie vermutlich das gesamte Büro – schon von der Verhaftung des Prokuristen K., der ja weiterhin arbeiten gehen darf, der Onkel will helfen, der Maler vermitteln, der Advokat schließlich, seinerseits mit großer Machtfülle ausgestattet, dem Angeklagten sein Ohr leihen. Und bald schon scheint es hauptsächlich darum zu gehen, wie man aus der Sache herauskommt, ohne daß die Sache, eine Straftat demnach, je erkennbar geworden wäre. Es gibt, erfährt das Publikum, wirklich Freisprüche, scheinbare Freisprechungen und die Verschleppung des Prozesses. Sollte man sich also auf einen „Deal“ einlassen?

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Frau Bürstner (Merle Wasmuth) und Josef K. (Björn Gabriel) (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Für die jugendlich-karge Dortmunder Inszenierung nimmt ein, daß sie scheinbar anstrengungslos immer wieder Bezüge zum realen Justizgeschehen unserer Tage schafft, zur vielfach üblich gewordenen Trennung von Tat und Urteil beispielsweise, die eher der Bequemlichkeit und der allseitigen Zufriedenstellung huldigt als dem Streben nach Gerechtigkeit und Sühne. Sehr viel mehr allerdings sollte man nicht erwarten. Wenn Merle Wasmuth uns in verschiedenen Frauenrollen auf die eine oder andere Art sexuelle Verführung und Obsession vorspielt, dann ist das möglicherweise zwar der Versuch, einen Hinweis auf (unterdrückte) sexuelle Anteile in der Verursachung der einen oder anderen Irritation des Josef K. zu geben, mehr aber nicht. Auch hält sich diese Inszenierung nicht damit auf, den Romantitel in seiner zweifachen Bedeutung auszuschmecken, nach der „Prozess“ ja nicht zwingend einen solchen vor Gericht bedeutet, sondern auch als Synonym für eine undurchschaubare innere Entwicklung stehen kann. Sonderbare Entwicklungen sind, man denke nur an den armen Käfermann Samsa, ja geradezu ein Markenzeichen für Franz Kafkas Werk. Aber das wäre dann Psychologie, vielleicht gar Psychoanalyse, wie sie in etwa zeitgleich zur Entstehung des Romans von Siegmund Freud in Wien formuliert wurde. So etwas bleibt hier außen vor.

Den Schauspielern ist es zu danken, daß dieser Theaterabend anregend und streckenweise durchaus auch unterhaltsam gerät. Der massige Andreas Beck und der zierliche Uwe Rohbeck geben schon rein äußerlich ein komisches Aufseherpaar ab, Sebastian Graf weiß den obrigkeitlichen Anteil seiner verschiedenen Rollen überzeugend auszuspielen. Björn Gabriel in der Titelrolle schließlich kommt dem literarischen Vorbild eines Dreißigjährigen sehr nahe. Mit seinem leichtem Unterspielen akzentuiert er geradezu die ungeheuerliche Situation, in der er sich plötzlich befindet.

Dem Personal auf der Bühne galt am Premierenabend der größte Applaus.

Die nächsten Termine 23. Februar und 8. März sind ausverkauft. Weitere Termine werden noch bekanntgegeben. Theaterkasse: 0231 / 50 27 222

www.theaterdo.de




Neue Familienopern statt „Hänsel und Gretel“ – Intendanten kooperieren für junges Publikum

Szene aus der neuen Familienoper "Vom Mädchen, das nicht schlafen wollte". Foto: Hans-Jörg Michel

Szene aus der neuen Familienoper „Vom Mädchen, das nicht schlafen wollte“, mit Alma Sadé und Florian Simson. Foto: Hans Jörg Michel

Nun soll „Hänsel und Gretel“ endlich in die Asservatenkammer verbannt werden. Jahrzehntelang hat Engelbert Humperdincks musikdramatisches Stück als Märchen- und damit Kinderoper auf großen Bühnen herhalten müssen. Das hat jetzt ein Ende – zumindest wenn es nach dem Willen von Christoph Meyer, Bernhard Helmich und Jens-Daniel Herzog geht. Denn die drei Intendanten haben für ihre Häuser (die Rheinoper Düsseldorf/Duisburg, die Oper Bonn und die Oper Dortmund) eine intensive, auf mehrere Spielzeiten angelegte Kooperation mit dem Ziel beschlossen, neue Produktionen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu fördern.

Der erste Schritt in Richtung „Familienoper“ ist bereits getan. Mit der Uraufführung von Marius Felix Langes „Vom Mädchen, das nicht schlafen wollte“ am 14. Februar 2014 im Theater Duisburg. Düsseldorf übernimmt die Produktion am 25. Juni. Die Häuser in Bonn und Dortmund ziehen in den kommenden beiden Spielzeiten nach. Die Kosten für das Projekt werden gedrittelt. Eine Bühne allein könnte es kaum schultern, erklärten die Intendanten einmütig, die ihr Vorhaben jetzt erläuterten.

Wiederum ist es die Rheinoper, die für Februar 2015 die zweite Produktion erarbeitet (Uraufführung in Duisburg). Jörn Arnecke wird die Musik zu „Ronja Räubertochter“ schreiben, nach der Erzählung von Astrid Lindgren. Intendant Christoph Meyer: „Nur unserer Kooperation ist es zu danken, dass wir die Rechte an diesem Stück erwerben konnten“. Einen Monat später wird diese Familienoper in Düsseldorf zu sehen sein, später dann in Bonn und Dortmund.

„Den Zauber der (großen) Oper entfalten“, das ist für den Bonner Intendanten Bernhard Helmich Sinn und Zweck des gemeinsamen Vorgehens. Doch auf keinen Fall sollen diesen hoch aufwändigen, neuen Werken kleinere Produktionen (in Zusammenarbeit mit Schulen) zum Opfer fallen. „Wir wollen etwas zusätzliches schaffen“, betonte Helmich. Und Christoph Meyer sagte: „Es geht nicht ums Sparen“.

Alma Sadé und Dmitri Vargin in Marius Felix Langes neuer Oper. Foto: Hans Jörg Michel

Alma Sadé und Dmitri Vargin in Marius Felix Langes neuer Oper. Foto: Hans Jörg Michel

Das sieht auch der Dortmunder Opernchef Jens-Daniel Herzog so, der für ein breites Repertoire für alle Altersstufen plädierte. Aus seinem Haus (und das gilt auch für Bonn) wird indes eine neue, große Familienopernproduktion wohl erst zur Saison 2016/17 kommen. Das Bild ist auch noch diffus, fällt der Blick in Dortmund aufs klassische Kinderoperngeschehen in der nächsten Spielzeit. Sicher ist bisher nur, dass „Der kleine Barbier“ wieder aufgenommen wird. Das eine oder andere soll noch hinzukommen, heißt es. Darauf sind wir gespannt.

Bei der Vorstellung des Drei-Städte-Projektes kam der interessanteste Satz im übrigen vom Komponisten Marius Felix Lange: „Wir wollen die Kinder nicht irgendwo abholen, sondern sie für etwas begeistern, was uns selbst begeistert“. Lange weiß eben, dass die Nachwuchshörer Voreingenommenheit gegenüber dem Neuen nicht kennen. Und so wünschte sich Christoph Meyer, dass mit den Kindern auch die Eltern erreicht werden. Auf dass sich die Familie eben nicht nur auf das ewige „Hänsel und Gretel“ zurückziehe.

 




Beschädigte Welten: Uraufführung am Schauspiel Köln

Die Zutaten sind gut, das Rezept ist originell, trotzdem schmeckt das Chili ein wenig langweilig. Woran liegt das bloß? An den Schauspielern jedenfalls nicht: Sie schlüpfen in der Uraufführung „Die Welt mein Herz“ von Mario Salazar am Schauspiel Köln in zahlreiche unterschiedliche Rollen und beweisen ihre extreme Wandlungsfähigkeit.

Dabei verfährt Regisseur Rafael Sanchez nach dem Prinzip des cross-gender-acting: Männer spielen Frauen, Frauen spielen Männer, aber manchmal bleiben sie auch, was sie sind.

Liegt es an der Story? Sie ist tatsächlich etwas verwickelt, springt von von einem Diner in New York, in dem sich junge mexikanische Einwanderer treffen und von einem besseren Leben träumen, in eine argentinische Favela, wo diese Hoffnung noch ein wenig unwahrscheinlicher erscheint. Hier bleiben nur Prostitution, Gewalt und das gegenseitige Belauern von Hure und Zuhälter, Mutter und Kindern, Mann und Frau.

Einen weiteren Handlungsstrang bildet die Welt von Steve und Janine in Stendal und anderswo bzw. im Netz, ihre Mails kann man per Video-Projektion mitlesen. Sie haben ihr Kind umgebracht und können das nicht verkraften, deswegen fliehen sie voreinander in alle möglichen Länder, wo sie dann den Mexikanern begegnen. Aber nur kurz.

Tatsächlich sind die mäandernden Handlungsstränge nicht wirklich ein Problem, denn sie geben dem Stück so eine „globale“ Atmosphäre, ein Empfinden eines gleichzeitigen Geschehens in verschiedenen Zeitzonen und unterschiedlichen prekären Milieus. Denn beschädigt sind diese Welten alle, in die wir hineinblicken.

Vom Lebenskampf und ökonomischen Sorgen zermürbt, verroht auch die Innenwelt dieser Figuren; die Enttäuschung macht sie bitter und resigniert, hart gegen sich und andere, die Hoffnung nimmt ab wie der Mond und dann wird es dunkler. Es flimmern nur noch geisterhafte Figuren (oder ist es das tote Kind?) durch die Tiefen des Netzes, projiziert an die Bühnenwände.

Als verbindende Idee hat Salazar die Phantasie entwickelt, dass die Mexikaner in der Wüste von Nevada in ein Loch durch den Mittelpunkt der Erde hindurch fallen und in Stendal wieder rauskommen und dort auf Steve und Janine treffen und dann – passiert eigentlich nix. Müsste jetzt was passieren?

Jedenfalls ist die Szene lustig gespielt in einer Art kindlichem Impro-Stil. Witzig sind auch die Szenen, (den Handlungsstrang hatte ich fast vergessen) in denen sich die beiden alten dementen Damen aus ihrem Leben erzählen: Erinnerungsmäßig geht da allerdings einiges durcheinander. Auf jeden Fall ist die eine Omi die Geliebte vom Ehemann der anderen gewesen: Erfrischend zu sehen, dass Alter nicht vor Zickigkeit, Sex, Bosheit und Humor schützt. Vergessen hilft dabei, die Dinge von der leichten Seite zu nehmen.

Also: Warum ist das Chili nicht so ganz scharf? Ich weiß es nicht, seht selbst…

Tickets und Termine:

www.schauspielkoeln.de

 




Afrikanischer Immigrant im mörderischen Dauerstress – „Call Shop“ beim WLT uraufgeführt

Noch ein Stück über afrikanische Immigranten? Wieder die bis zum Überdruss vernommene Klage über das Unrecht in der Welt und die Ignoranz der reichen Europäer?

Die Ankündigung des Stückes „Call Shop“ von Jubril Sulaimon, das jetzt beim Westfälischen Landestheater seine Uraufführung erlebte, weckt solche Erwartungen, geht es doch in der Tat um einen afrikanischen Studenten und seine „typischen“ Probleme, die immer deutlicher werden, je länger wir ihm beim Telefonieren zusehen. Doch was Sulaimon als Autor wie auch als Hauptdarsteller erzählt, ist weitaus komplexer als erwartet. Und beschämt, wie könnte es anders sein, all jene, die vorher schon alles ganz genau wussten.

Im Gepäck vieler Menschen aus ärmeren Teilen der Welt, die in den reichen Norden kommen, stecken riesengroß auch die Erwartungen der Daheimgebliebenen. Man rechnet mit Geldüberweisungen, mit Hilfe vor Ort für Nachzügler. Außerdem, das Telefon macht die Erde zum globalen Dorf, erwartet die Verwandtschaft, dass sich die jungen Emigranten weiter um die Probleme zu Hause kümmern, um den kaputten Stromgenerator, um Großmutters Verdauungsprobleme, um die Ziege, die einem Nachbarn angeblich eine Glasscheibe zerstört hat, wofür dieser Schadensersatz haben will. Nicht im geringsten können sich die eigenen Leute vorstellen, dass ihr Sonnyboy Lamidi in Europa ganz andere, riesengroße Probleme hat, dass sein Visum erloschen ist und ihm die Abschiebung droht. Im Call Shop, in dem einige Telefone gar nicht und manche nicht richtig funktionieren, kämpft Lamidi einen aussichtslosen Kampf gegen übermächtige Widerstände. Er muss einem leid tun.

Die andere Figur in diesem Zweipersonenstück ist Damika (Julia Gutjahr), die mit mäßiger Motivation im Call Shop an der Kasse sitzt und für die Dauerklagen des gestressten Dauertelefonierers den entspannten Dialogpartner abgibt. Heirat verhieße Bleiberecht – man spricht über Paare, über alte Europäerinnen und ihre jungen afrikanischen Männer, über subtile Formen der Ausbeutung.

Späterhin verändert sich Damikas Rolle grundlegend, die Maske der Coolness fällt von ihr ab. Sie berichtet, dass ihre osteuropäische Familie sie schon als Kind zur Prostitution zwang, dass sie nach Deutschland floh und keinen Kontakt mehr zu ihren Leuten hält. Das ist ihre Überlebensstrategie, die sie auch Lamidi beschwörend nahelegt: Wenn er in der Fremde überleben will, muss er sich von den Problemen der alten Heimat abnabeln. Aber das ist nicht leicht.

So, wie Christian Scholze es in Castrop-Rauxel inszeniert hat, ist Jubril Sulaimons aufgeregtes, rastloses Einstundenstück eher Statement als Erzählung. Doch sicherlich hätte man auch die Geschichte im Stück stärker betonen können. Denn wenn Damika und Lamidi einander näherkommen und der Call Shop sich als ihrer beider verzweifelter Sehnsuchtsort entpuppt, als kümmerlicher Treffpunkt der fortgejagten, einsamen Kinder, dann ist das eine Liebesgeschichte, wenngleich ohne Happy End. „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll“, sagt Lamidi gegen Ende des Stücks, „Ich brauche die Stimmen von zu Hause“. Und dann geht er doch.

Seit 1992 lebt und arbeitet der Nigerianer Jubril Sulaimon (Jahrgang 1968) in Deutschland, spielte in Essen, Bochum, Bremen, Wuppertal, Düsseldorf und Hamburg Theater, ist aktuell mit seinem Tanz- und Theaterensemble „Jubril Sulaimon und aipo“ auf Tournee, macht Soloprogramme. Er ist ein Märchenerzähler und ein Komödiant, meistens. Wenn in diesem bedrückenden „Call Shop“ keine Heiterkeit aufkommen konnte, so lag dies sicherlich nicht an ihm.

Die nächsten Termine sind in Essen: 26. u. 27. Februar, 20 Uhr, Einführung 19.30 Uhr. Maschinenhaus Essen. www.maschinenhaus-essen.de, Tel. 0201 / 83 78 424.
Weitere Infos: http://westfaelisches-landestheater.de/repertoire/++/produktion_id/400/

(Der Text ist zuerst im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen)




Programm vorgestellt: Ruhrfestspiele 2014 entdecken die Inselreiche

Shakespeares „Sturm“ wird die Ruhrfestspiele 2014 eröffnen, Pirandellos „Heinrich IV“, Sean O’Caseys „Purpurstaub“ und Becketts „Warten auf Godot“ werden auf der Bühne des Großen Hauses folgen. Auch andere Spielstätten wie das Kleine Theater im Festspielhaus, das Theater Marl oder das Theaterzelt werden Leben zeigen. Intendant Frank Hoffmann hat den Spielplan der diesjährigen Ruhrfestspiele bekanntgegeben.

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Szene aus Shakespeares „Sturm“, mit dem die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eröffnet werden (Foto: Andreas Pohlmann/Ruhrfestspiele)

„Inselreiche. Land in Sicht – Entdeckungen“ lautet das diesjährige Motto, wie wir jetzt wissen, und da ist ein Eröffnungsstück wie „Der Sturm“ natürlich naheliegend, bläst der Namentliche doch in Shakespeares spätem Meisterwerk eine illustre Gesellschaft auf eine unbewohnte Insel, wo sie sich sozial neu sortieren muß und das auch recht lustvoll tut. In Gisli Örn Gardarssons Einrichtung für Ruhrfestspiele und Residenztheater München allerdings ist die urwüchsige Vegetation des Eilands einem gefängnishaften Gebilde aus Gitterstäben gewichen, wie erste Probenvideos zeigen. Nun gut, es gibt ja auch Gefängnisinseln, man bleibt gespannt, wohin die Irrfahrt ging. Jedenfalls spielt Manfred Zapatka den Prospero.

Irische Kaltgetränke in der frühen Pause

„Inselreiche“ ist natürlich ein Allerweltsmotiv mit universaler Tauglichkeit. Und wenn die Stoffe es nicht spontan hergeben, dann muß wenigstens der Autor von einer Insel stammen, einer britischen oder der irischen bevorzugt. An solchen war im Heer der Stückeschreiber bekanntlich nie ein Mangel, und auch in Recklinghausen finden sie sich, wenn man einmal so sagen darf, reichlich ein: Samuel Beckett of course, von dem neben „Warten auf Godot“ ein mit Wolfram Koch und Ulrich Matthes exzellent besetztes „Endspiel“ (Regie: Jan Bosse) ebenso zu sehen sein wird wie der extrem kompakte Zweiteiler „Eh Joe/I’ll Go On“, in dem ein Sterbender mit Namen Malone Abschied von Muttern und der Welt nimmt. Erste Pause ist nach 29 Minuten, Intendant Hoffmann verspricht für die Pause die Bereitstellung irischer Kaltgetränke. „Eh Joe…“ ist ein Gastspiel des Gate Theatres Dublin mit Barry McGovern und anderen.

Weitere Autoren von westlichen Inselreichen sind Owen Mc Cafferty mit „Quietly“, Brian Friel mit „Molly Sweeney“, Harold Pinter mit „Verrat“, James Joyce mit „Penelope“.

Angesichts der Fülle von höchst passablen Theaterproduktionen könnte man sich sowieso auf einer Insel der Seligen wähnen. Doch da geht es dem Publikum deutlich besser als dem Personal auf der Bühne, das sich hin und wieder intensiv mit den Unerfreulichkeiten dieser Welt beschäftigen muß, mit Gewalt und Terror zumal. So erzählt Owen McCaffertys Stück „Quietly“ von der Begegnung eines Attentäters mit einem Überlebenden, der bei dem Attentat einen Angehörigen verlor. Und in Dennis Kellys „Waisen“ entpuppt sich ein desolates Familienmitglied als übler Rassist, der einen Moslem gefangenhält und foltert. Das Stück steht übrigens auch in Dortmund auf dem Spielplan, wo es oben im Harenberg Citycenter gezeigt wird, von wo aus man mit großer Geste auf die Nordstadt zeigen kann, wo es Probleme dieser Art (vermeintlich) ganz bestimmt gibt. Übrigens führt bei der Produktion des Hamburger St. Pauli Theaters der Altmeister Wilfried Minks Regie, und auf der Bühne stehen Uwe Bohm, Judith Rosmair und Johann von Bülow.

Prominente Namen zuhauf

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„Das letzte Band“ in Recklinghausen war eine seiner letzten Rollen. Ein Themenabend mit Meret und Ben Becker erinnert an den großen Otto Sander (Foto: Momme Röhrbein/Ruhrfestspiele)

Bekannten Künstlern wie Hannelore Elsner, Katja Riemann, Thomas Thieme oder auch Sophie Rois traut man zu, daß sie mit Lesungen das Große Haus füllen werden. Im Theaterzelt gibt sich die Nomenklatura des deutschen Comedy- und Kabarettwesens – wer kann das immer so genau unterscheiden – ein Stelldichein, von Tina Teubner über Ingo Oschmann und Georg Ringswandl bis Wigald Boning. Meret Becker singt Lieder in Begleitung von Buddy Sacher, Jasmin Tabatabai tut Gleiches in Begleitung des Quartetts David Klein. Es gibt Tanz, Jazz, Zirkus und Artistik, Straßenkunst (was nichts Schlechtes ist!) unter der Überschrift „Fringe“ für ein jüngeres Publikum – 192 Aufführungen, 78 Produktionen, 20 Koproduktionen, wie wir dem Waschzettel entnehmen können.

Unmöglich ist es, alles aufzuzählen. Ab Donnerstag, 23. Januar, findet sich das komplette Programm auch im Netz. Besondere Erwähnung muss auf jeden Fall aber noch der Bochumer Komponist Stefan Heucke finden. Er hat „Iokaste“ komponiert, ein Musikdrama nach Motiven von Homer und Sophokles, das mit einer einzigen Person auskommt, die alle Personen der Tragödie spielt resp. singt. „Sie werden große Oper erleben“, kündigt Heucke freudig an.

Nach Zeiten der Irritation ist auch die Recklinghäuser Kunsthalle wider mit von der Partie. In dem von Ferdinand Ullrich geleiteten Haus ist Kunst aus Island zu sehen, die nicht Vulkane noch Bankenkrisen ausschließt, wie man hört.

Also alles paletti? Eigentlich schon, in den Jahren seiner Intendanz hat Frank Hoffmann die Ruhrfestspiele perfektioniert, hat sie zu einer ersten Adresse für deutsches Theater und darüber hinaus ganz generell für deutsche und internationale Bühnenkunst gemacht. Vielleicht täte dem Programm etwas mehr Reibung, Provokation, Polarisierung gut, doch dürfte sich solches nicht in Mätzchen erschöpfen. Wie auch immer. Die Ruhrfestspiele geben auch in diesem Jahr wieder einen guten Grund, sich auf den Mai zu freuen.

www.ruhrfestspiele.de

 




Othello im globalen Krieg: Premiere am Bochumer Schauspielhaus

v.l. Jago (Felix Rech) und Othello (Matthias Redlhammer). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

v.l. Jago (Felix Rech) und Othello (Matthias Redlhammer). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

„Vergesst Romeo & Julia, das neue Traumpaar heißt Othello & Desdemona“, der Popsong auf der Bühne des Schauspielhaus Bochum macht sogleich klar, dass man es mit einer typischen Inszenierung von David Bösch zu tun hat.

Doch die Othello-Light-Version funktioniert gut, denn aus heiterem Liebesgeplänkel wird schnell Ernst. Jagos Intrige und die zunehmende Verrohung durch immer beiläufigeres Morden verleiht dem Stück Tiefenschärfe und zieht die Zuschauer in Bann.

Bösch und sein Bühnenbildner Falko Herold haben die Handlung in einer Art zerschossener Fabrikhalle angesiedelt. Ein Kriegsschauplatz irgendwo in der Welt, den General Othello befehligt und wohin ihm sowohl sein militärischer Stab als auch seine geliebte Desdemona folgen. Ausstaffiert in Backpacker-Outfit (Friederike Becht als Desdemona) bzw. Cocktailkleidchen (Xenia Snagowski als Emilia, Jagos Frau) finden sich die Familienangehörigen in der Fremde wieder und zeigen die Attitüde von Amerikanerinnen, die es in irgendeine Bananenrepublik verschlagen hat – Balkan? Vietnam? Irak? Zumindest die Jukebox spielt heimatliche Klänge und die Hochzeit wird mit viel buntem Konfetti gefeiert.

Doch der Honeymoon währt kurz, denn Jagos Intrige vergiftet die Atmosphäre, in seinem Netz verfangen sich nach und nach alle. Desdemona untreu? Es ist nichts daran und doch scheinen die Beweise sie zu überführen. Felix Rech gibt den Jago als gefühlskalten Machtmenschen, für den Töten eine alltägliche Angelegenheit bedeutet, die nebenbei erledigt wird. Obwohl es ihm natürlich lieber ist, wenn andere dabei Hand anlegen und er sie nur anstiftet. Nach so einer Exekution macht er sich erst mal in aller Ruhe ein Bier auf. Irgendetwas hat das Kriegshandwerk wohl mit ihm angerichtet, so dass er zur Empathie nicht fähig ist. Oder liegt es ihm deswegen, weil Mitleid ihm nicht im Wege steht? Eine Folterszene, in der Leutnant Cassio (Florian Lange) mit der Plastiktüte über dem Kopf geschlagen und gedemütigt wird, erinnert stark an die Bilder aus dem Abu Ghraib-Gefängnis und an den Folterskandal der US-Armee im Irak.

Othellos Hochzeit mit Desdemona (Friederike Becht). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Othellos Hochzeit mit Desdemona (Friederike Becht). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Doch auch Matthias Redlhammer als Othello, der von seiner militärischen Mission aus einigermaßen edlen Motiven überzeugt ist, wird zum Berserker: Zwar hat Jagos Lüge ihn vergiftet und die Eifersucht lässt ihn rasen, doch ist auch bei ihm der Firnis der Zivilisation dünn. Er mordet im Rausch der Leidenschaft, vielleicht weil er an zivile Gesetze nicht mehr gewöhnt ist. So exekutiert er die eigene Frau, Desdemona, die er doch über alles liebt. Ein Mann des Kriegsrechts, der mit Streitigkeiten im Frieden gar nicht adäquat umgehen kann.

Diese Lesart verleiht dem ansonsten kurzweilig dargebotenen Shakespeareschen Drama, das wie immer auch witzige Szenen kennt, eine gesellschaftliche Reflexionsebene. „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt“, der Satz von Napoleon Bonaparte trifft hier auf erschreckende Weise zu.

Karten und Termine:
www.schauspielhausbochum.de




Rien ne va plus: „Der Spieler“ am Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Herbert Käfer/pixelio

Foto: Herbert Käfer/pixelio

Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler“ – das Zitat aus Shakespeares „Wie es euch gefällt“ beschreibt mit einem Satz das Grundkonzept von Martin Laberenz Inszenierung von Fjodor Dostojewskijs Roman „Der Spieler“, die jetzt im Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere feierte. Leider bleibt dies so ziemlich die einzige (tiefsinnigere) Idee, die in der dreistündigen Dramatisierung des Stoffes aufscheint. Und besonders neu ist sie auch nicht.

In einer übergroßen Roulette-Schüssel (oder ist es doch bloß eine Wäschetrommel, wie die Akteure selbst sie nennen?) bewegen sich die Figuren wie in einem Hamsterrad. Schnelles, fieberhaftes Sprechen zeigt die Nervosität der Spielsüchtigen an, die Spannung, unter der sie stehen und die Rastlosigkeit, mit der sie durch ihre Tage rasen, getrieben von der krankhaften Gier nach Geld, Geld, Geld. Allen voran Edgar Eckert als Alexej, der von zweierlei Sucht befallen ist: der nach dem Roulette und der nach Polina (Anna Blomeier), die aus finanziellen Erwägungen sich aber lieber dem Marquis des Grieux (Florian Jahr) zuwendet.

In einer Art Wortkaskaden produzierenden Improvisation eignen sich die Schauspieler nun Dostojewskijs Text an, indem sie uns, dem Publikum oder den „Gästen“, wie sie uns nennen, die Geschichte des „Spielers“ erzählen und markieren. Sie sind gleichsam Akteure in einem Drama, dessen Ausgang sie selbst noch nicht kennen, durch Zufall geworfen auf diese Bühne und vor Situationen gestellt, in denen sie plötzlich entscheiden müssen, ohne zu wissen, was das für Konsequenzen hat.

Eine Schlüsselszene dabei ist der Koffer voller Geld, der plötzlich auf der Bühne auftaucht und Alexej und seinen Freund, den Engländer Mister Astley (Sebastian Grünewald) in Panik versetzt: „Ist da eine Bombe drin? Sollen wir den wirklich aufmachen?“ Die Parallelen zu modernen Phänomen auf Flughäfen oder Bahnhöfen sind witzig ausgespielt und bergen eine gewisse Komik. Ebenso lässt das Konzept ironische Seitenhiebe auf die Situation des Düsseldorfer Schauspielhauses zu: Von plötzlich verschwundenen 5,4 Millionen Euro ist da die Rede, von einem „leergespielten Haus“ und davon, dass „wir eine Leitung brauchen“ – „Aber es findet sich ja keiner.“ Die Anspielungen auf das jüngst zutage getretene Finanzloch und die Tatsache, dass immer noch kein neuer Intendant unter Vertrag genommen wurde, nimmt das Düsseldorfer Publikum amüsiert auf. Das ist geschickt gemacht und holt die Realität rein. Nur leider gehen die originellen Ansätze zu sehr im ausufernden Ganzen unter – vielleicht würde ein wenig Straffung helfen?

Foto: Thomas Siepmann/pixelio

Foto: Thomas Siepmann/pixelio

Ein Lichtblick ist der Auftritt von Karin Pfammatter als Erbtante Antonida Wassiljewna, denn der Besuch der alten Dame bringt die Dramaturgie voran: Wie die mondän-zickige Millionärin vom Virus des Spiels infiziert wird, wie diese Sucht sie in Raserei und Verderben treibt, das zeigt Pfammatter mit großer Intensität und hohem körperlichen Einsatz. Buchstäblich das letzte Hemd reisst sie sich vom Leibe und liefert sich nackt und bloß den voyeuristischen Blicken der „Gäste“ aus. Zugleich gelingen die Szenen am Roulettetisch und damit im Herzen Roulettenburgs, wie Dostojewskij den Ort der Handlung genannt hat, in einer schwebenden, rauchigen und zugleich fieberhaften Atmosphäre. Manchmal können die Spieler nicht hinsehen, sobald die Kugel ihren Lauf beginnt, dann wieder starren sie ins Leere, die unterdrückte Spannung wird im Raum greifbar. Das ist gut beobachtet, so lebt ein Roman im Hier und Jetzt weiter.

Leider flacht der Spannungsbogen danach wieder ab: Die Erbtante, in die die verarmte Familie ihre ganzen Hoffnungen gesetzt hatte, verspielt alles und zieht nach Moskau ab. Die Hinterbliebenen such ihr Glück in Paris oder sonstwo, doch das vermag nicht mehr recht zu fesseln. Oder anders gesagt: „Rien ne va plus“.

Infos und Karten:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




[FI’LO:TAS] leidet im Bochumer Schauspielhaus

Ein Mensch hockt bewegungslos auf der Bühne, schreibt dann mit den Händen hektisch Zeichen in den Sand, verwischt sie wieder, erstarrt. Er wechselt die Position, seine Handlungen wiederholen sich. Schon diese ersten Minuten in Roger Vontobels Einpersonenstück „Filotas“ im Kleinen Haus des Bochumer Schauspiels lassen erkennen, dass dies ein Gefangener ist, gefangen von Feinden ebenso wie in zwanghaften Vorstellungswelten, deren Sinnlosigkeit er ahnt und erleidet, ohne sie jedoch überwinden zu können.

Foto: Jana Schulz als gequälte Kreatur in Roger Vontobels Lessing-Adaption "Filotas". (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Foto: Jana Schulz als gequälte Kreatur in Roger Vontobels Lessing-Adaption „Filotas“. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Der Mensch ist die Schauspielerin Jana Schulz, das Stück die Bochumer Wieder-Inszenierung jener Arbeit, mit der der junge Schweizer Regisseur Roger Vontobel (Jahrgang 1977) im Jahr 2002, damals in Hamburg noch, unter Verwendung von Motiven aus Gotthold Ephraim Lessings Drama „Philotas“ seine Karriere begann. Den Stücktitel schreibt das Theater in einer Art Lautschrift: „[FI’LO:TAS]“, was möglicherweise den Charakter der Interpretation betonen soll.

Lessing erzählt in seinem Stück die Geschichte des Königssohnes Philotas, der sich in der Kriegsgefangenschaft entleibt, um nicht vom gegnerischen König Aridäus als Druckmittel gegen den eigenen Vater eingesetzt werden zu können. Im Sterben erst muss er erkennen, dass die Tat sinnlos ist, weil, kurz gesagt, auf gegnerischer Seite ebenso viel Heldentum zu finden ist, sich kriegerisches Töten und Sterben zum Nullsummenspiel verrechnen. Eine klare, friedliche Botschaft, wie vom großen Menschenfreund Lessing nicht anders zu erwarten.

Das tragische antike Geschehen nun, so ist allerdings eher im Programmheft zu lesen als auf der Bühne wahrzunehmen, verbindet Vontobel mit der Geschichte des jungen US-Amerikaners John Walker Lindh, der in Afghanistan auf Seiten der Taliban kämpfte und 2001 20-jährig in Kriegsgefangenschaft geriet. Bei den jungen Männern, so die These, gibt es Parallelen.

Der Menschen auf der Bühne ist sicherlich eher gefangener Taliban als Königssohn. Lessing kommt nur mit wenigen Sätzen ins Spiel, die angesichts der starken Erregung des Helden ebenso auch persönliche Beruhigungsmantras sein könnten, seelische Positionierungsversuche im traumatischen Geschehen. Das zwanghafte Memorieren diverser Zahnbürstengrößen aus vergangenen amerikanischen Jugendzeiten verfolgt den selben Zweck.

Satzfragmente sind zu vernehmen, Wörter wie König, Vater und Sohn, die an ein ödipales Problem denken lassen, ohne dass dies indes Kontur gewönne. Das Spiel mit einem Stuhl, dessen Beine zum Schwert werden, nimmt breiten Raum ein. Doch alles in allem geschieht wenig. Zu sehen sind 55 Minuten im Leben eines Gefangenen, der mit seiner Situation überfordert ist und am Ende gar noch – piff! – eine Sprengladung zündet. Möglich, dass der „amerikanische Taliban“ Lindh irgendwie ein Seelenverwandter des Königssohns Philotas ist, zumindest jugendliche Radikalität mag beiden eigen sein.

Doch damit hat es schon sein Bewenden. Keine radikalisierenden Ohnmachtserfahrungen deuten sich an, keine psychischen Krisen in früheren Zeiten und auch nichts anderes aus dem Bereich Motivforschung. Man wundert sich, wie wenig Energie dieses Bühnenprodukt für ein intellektuelles Durchdringen des vermeintlich Ungeheuerlichen aufwendet. Hätte es sich nicht aufgedrängt, jetzt, in der Bochumer Neuauflage nach immerhin zehn Jahren, etwas mehr in die Tiefe zu gehen? Doch nach wie vor herrscht dort, wo es wirklich spannend werden könnte, geradezu unverständliche Gleichgültigkeit.

Wenn diese Momentaufnahme aus einem Kriegsgefangenenlager unbefriedigend bleibt, ist das sicherlich nicht der Schauspielerin Jana Schulz (Jahrgang 1977) anzulasten. Sie, die diese Rolle vor über 10 Jahren auch in Hamburg spielte, formt den Titelhelden mit androgyner Kreatürlichkeit berührend aus, verkörpert seine existentiellen Dimensionen überzeugend. Ihr galt in Bochum der größte Applaus.

 

Nächster Termin: 15. Januar. Karten Tel.: 0234 / 33 33 55 55 

tickets@schauspielhausbochum.de

 




Heilsbringer in der Waschmaschine – Michael Thalheimer inszeniert „Tartuffe“ an der Schaubühne

Endlich haben alle begriffen, dass der als Heilsbringer verehrte Herr Tartuffe nur ein Heuchler ist. Ein Scharlatan, der sich in religiöser Verzückung kurios verbiegen kann und sich in leidender Jesus-Pose gefällt.

All die auf die Haut tätowierten Bibelverse und das Gerede von Schuld und Erlösung können irgendwann nicht mehr vertuschen, dass Tartuffe nur ein geldgieriger Raffzahn und notgeiler Lüstling ist, der die Familie Orgon in den Ruin treiben und es mit der Frau des Hauses treiben möchte. Plötzlich beginnt die kleine Welt der Orgons ins Rutschen zu kommen. Und die Bühne, eben noch eine mit Blattgold verzierte Mönchszelle, rotiert wie eine enthemmte Waschmaschine.

Orgon (Ingo Hülsmann, li.) und Tartuffe (Lars Eidinger). (Bild: Katrin Ribbe/Schaubühne)

Orgon (Ingo Hülsmann, li.) und Tartuffe (Lars Eidinger). (Bild: Katrin Ribbe/Schaubühne)

Das Unterste wird nach oben gekehrt, die Menschen fliegen durcheinander. Nichts und niemand gibt ihnen mehr Halt. Schon gar nicht jener feist grinsende Herr Tartuffe, der – so will es Regisseur Michael Thalheimer – zum bitterbösen Ende hin nicht verhaftet wird, sondern die Familie Orgon einfach vor die Tür setzen lässt.

Michael Thalheimer, offenbar vom interneren Machtkampf mit Platzhirsch Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater entnervt, ist als Hausregisseur an die Berliner Schaubühne gewechselt. Dort inszeniert er jetzt Molières „Tartuffe“ als, ja, als was eigentlich? Eine ausgelassene Komödie jedenfalls ist es nicht geworden. Eher eine streng formalisierte Groteske. Ein moralinsaurer Abgesang auf die Blindheit der Menschen, die sehenden Auges in ihr Unglück rennen.

Thalheimer bleibt sich, auch am neuen Theater, treu und macht das, was er immer macht: Er entkernt den Text, bis nur noch ein ein dürres Handlungsgerippe übrig bleibt, reduziert die Menschen auf stilisiert wirkende Macken und Marotten, sperrt die Figuren – mit Hilfe seines Bühnenbildners Olaf Altmann – in ein enges Gefängnis. Ob der von allen guten Geistern und jeder Vernunft verlassene Orgon (Ingo Hülsmann), ob seine um Haus und Hof fürchtende, aber einem Seitensprung nicht abgeneigte Frau Emire (Regine Zimmermann) oder der sich mit ausgeleierten Phrasen und billiger Anmache einschleimende Tartuffe (Lars Eidinger): Sie alle müssen sich durch einen kleinen Spalt in den karg möblierten Bühnen-Schrein zwängen.

Lustig ist das nicht. Genauso wenig wie die seltsamen Grimassen, Verrenkungen und Schreiattacken, von denen Tochter Marian (Luise Wolfram), ihr Verlobter Valère (Tilman Strauß) und der Gerichtsvollzieher (Urs Jucker) heimgesucht werden. Einzig Judith Engel als gelangweiltes Hausmädchen Dorine verbreitet als Unheil verkündende Kassandra eine Komik des Schreckens.

Längst bevor die falsche Fassade einstürzt, liegen alle Lügen und alle Wahrheiten offen zutage. Atmosphärische Verdichtung erzeugt allein noch die enervierende Musik: eine schauderhaft-schöne Collage aus schwer dröhnenden sakralen Orgelklängen und metallisch klirrenden Gitarrenriffs. Das bleibt noch lange im Ohr. So wie die zur rotierenden Waschmaschine werdende Bühne sich ins Theater-Gedächtnis einschreiben wird. Aber sonst? Viel Lärm um nichts.

Berlin, Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153. Nächste Aufführungen am 9. und 10. Januar 2014. Karten unter 030/890023 oder ticket@schaubuehne.de




Spaß macht Spaß – „Drama Queens“ und „Das goldene Zeitalter“ in Dortmund

Da sitzt man gut gelaunt im Theater und weiß: Unterhaltung ist angesagt.

Es gibt einen Abend der Cover-Versionen aus der Geschichte der Popmusik, eingepackt in ein Bühnenbild, das einer Theaterkantine nachempfunden ist, in eine Handlung gepresst, die eigentlich keine ist. Da kann es schon mal im Tanzbein jucken. Da soll das Publikum doch kräftig Anteil nehmen, auch wenn keine Tanzfläche vorhanden ist. Und eine Nachbarin in meiner Sitzreihe stößt mich an und beschwert sich darüber, dass mein Sprechen sie stören würde.

Drama Queens

„Drama Queens“ (Foto: Birgit Hupfeld)

Dabei hatte ich meiner Begleitung nur schlaumeierisch mitgeteilt, von wem die Originalversion des Songs ist, dem wir gerade lauschten. Ich blieb danach ruhig, konnte aber nicht verhindern, dass ich die Sitzreihe ab und an zum wackeln brachte, immer, wenn es mich rhythmisch gepackt hatte. Einer weiteren Beschwerde wäre ich massiv entgegengetreten, indem ich laut mitgesungen hätte. Es kam nicht dazu.

„Drama Queens“ im Schauspielhaus ist ein Abend, der den Mitwirkenden offenbar Spaß macht. Und das steckt im besten Falle an. Da kann man schon mal über sinnfreie Gänge und stolpernde inhaltliche Vernetzungen hinwegsehen. Da wird gesungen und gewitzelt, als sei es die Kopie eines tatsächlich stattgefundenen Jekami-Abends. Inspizient „Ralle“ ist mit seiner Echtstimme der Zwischenmoderator des Abends auf dem Off. Er ruft zur Probe und weiß „Alles wird gut.“

Da hört man Abba und eine ganze Reihe Evergreens von Simon and Garfunkel. Es geht nicht um Sangeskunst, sondern um einen erholsamen Abend für Sprechtheaterhöchstleister, die hier mal die Hose runter lassen dürfen. Und es gab diese fünf Minuten, in denen ich in meinem Sitz dahin schmolz. Eva Verena Müller, auf einem Tisch sitzend, hat mich umgehauen. Sie sang sich in die Seele, hindurch durch den Abstand eines sachverständigen Zuschauers.  „Neue Songs aus der Kantine“ – eingerichtet von Andreas Beck, unterstützt durch die Kantinenmusik von Paul Wallfisch, weicht nicht von der Ankündigung ab: „Ein Liederabend mit Live-Musik“.

Vergebliche Welterkärung

Eine ganz andere Art der Unterhaltung beinhaltet „Das goldene Zeitalter“, die bestandene Reifeprüfung zur Überwindung der Realität. Alexander Kerlin und Kay Voges kreieren etwas, das – umstritten und gefeiert – im Gedächtnis bleiben wird.  Treppauf, treppab geht es durch die Kopfwelt: Blonde Figuren in blauen Röckchen, Computerstimmen, Fahrstühle ins oben und unten. Die Showtreppe des Absurden wird zum Hauptspielort der seriellen Wiederholung.

Das goldene Zeitalter

„Das goldene Zeitalter“ (Bild: Birgit Hupfeld)

Nach kurzer Zeit nervt das, aber dann scheint es wie ein genialer Kunstgriff. Es zieht uns hinein in einen Abend, der uns eine Fließbandunterhaltung serviert, an der wir uns abarbeiten können. Kurz vor Weihnachten dominieren hier das westliche Fest und seine Wiederholungen. „Alle Jahre wieder“  – immer wieder. Das insgesamt musikalische Stück in zig Akten verfertigt etwas, das nicht fassbar ist. Zwischenrufe aus dem Off suggerieren „live im Hier und Jetzt“, Videobilder aus  dem Draußen und Drinnen ziehen uns heraus aus dem Bühnenmuff. Die roboterhaften Bewegungen der menschlichen Maschinen – man kann sie bald liebhaben.  Und Zeit vergeht, bis der Klokäfer ins Spiel kommt, ein Spielverderber. Und auch der süße Wurm ist ein Störenfried, der vor dem Schmetterlingsdasein, sich mühsam die Treppe hoch robbt, um „The winner takes it all“ zu singen. Köstlich  – wie für den Wurm der frische Salat aus der Vitrine.

Trotzdem hat es dieses Werk nicht nötig, so lang zu sein, dass man nach 150 Minuten meinen könnte, man könne jetzt gehen. Was Neues wird es nicht mehr zu sehen geben. 37 Minuten weniger und es wäre Provokation genug für die einen, Genuss, der nach mehr ruft, für die anderen – und eine Nominierung zu den Berliner Theatertagen wert. Aber vielleicht war es auch richtig, den Abgang offen zu lassen. Fröhliche Weihnachten.

Infos: http://www.theaterdo.de/startseite/

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Zum Vergleich: Auch Anke Demirsoy hat „Das goldene Zeitalter“ bei den Revierpassagen besprochen: http://www.revierpassagen.de/21271/im-aufzug-zur-ewigkeit-kai-voges-beschwort-in-dortmund-das-goldene-zeitalter/20131103_1918″




Dem Himmel ganz nah: Martin Heckmanns` „Es wird einmal“ in Bochum uraufgeführt

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Wer sich schon einmal an einem Theater beworben hat, fühlt sich sofort erinnert: Kurze Begrüßung durch eine hektische Assistentin, dann stundenlanges Warten in der Kantine. Danach eine Referentin knapp vor dem Burn-Out, die einem das gleiche Schicksal in Aussicht stellt, falls „Er“ sich für einen entscheiden sollte.

Dann wieder Kantine, drei Cola, erster Weißwein, weiter warten, Schauspieler in Maske kommen rein, Vorstellung fängt gleich an. Chefdramaturgin: „Er“ sei manchmal sehr schwierig, ob man da gute Nerven habe? „Er“ wolle einen vielleicht später noch kennenlernen, ob man nochmal kurz in der Kantine? Zweiter Weißwein, dritter Weißwein, Anruf: Heute werde es leider nichts mehr mit „Ihm“, vielleicht morgen…Schauspieler kommen rein, Vorstellung ist aus, Absacker, Vorhang.

Nein, die Szene stammt nicht aus Martin Heckmanns neuem Stück „Es wird einmal“, das jetzt am Bochumer Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Sie ist selbst erlebt, doch das Anfangsszenario auf der Bühne ist ähnlich und die Satire geht in die gleiche Richtung: Zwei Schauspieler haben eine Einladung zum Vorsprechen bei „Obermann“ bekommen und begegnen sich auf einer leeren Probebühne. Sie treffen die namenlose Hospitantin (Kristina Peters), sie werden kujoniert von einer übermotivierten Assistentin (Minna Wündrich), sie treten in Konkurrenz mit einer Schauspiel-Kollegin (Therese Dörr) und verlieben sich in sie, sie zeigen viel Seele und geben alles: Doch „Obermann“ treffen sie nie.

Das ist fein und böse beobachtet, sprachlich brillant und doch erschöpft sich Heckmanns Text in der Inszenierung des Bochumer Intendanten Anselm Weber keineswegs in einer Satire über den Theaterbetrieb. Denn „Es wird einmal“ ist zugleich eine moderne Fassung des „Jedermann“. Die Bewerbung um eine unbekannte Rolle in einem unbekannten Stück ist zugleich eine Allegorie auf das Leben. Der Text muss erst noch geschrieben werden, die Konsequenzen des Handelns sind nicht immer klar.

Gott, falls es ihn gibt, lässt sich nicht blicken, nur manchmal hat man das Gefühl, er schaue von oben zu – wie Obermann. „Zufall ist das Pseudonym Gottes, wenn er nicht unterschreiben will“, heißt das in der Sprache Heckmanns und die namenlose Hospitantin schlüpft mit umgeschnallten Engelsflügelchen in die Rolle des Zufalls. Ansonsten sind sie und die intendantenhörige Assistentin Dora als balletttanzende Skelette zu sehen, ein Memento Mori für den älteren Schauspieler Hermann Schwinder (Günter Alt) und den Jüngeren Martin Neumann (Matthias Kelle), der sich mit der Rolle des Jedermann noch nicht anfreunden kann.

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Denn eigentlich schimpft Neumann/Jedermann sich Performancekünstler und als solcher möchte er dem Theater wieder gesellschaftliche Bedeutung verleihen: „Wir thematisieren den Raum und die Institutionen, die Abhängigkeitsverhältnisse, in denen wir uns bewegen, auch wenn wir uns jetzt hier bewerben, um Anerkennung von Unbekannten.“ Statt dessen wird er als nackter Mann über die Bühne gejagt (was Matthias Kelle so großartig verletzlich absolviert, dass man fast Mitleid mit ihm hat) und bekommt am Schluss eine Plastiktüte von Sinn&Leffers als Unterhose verpasst.

„Das Problem mit nackten Männerkörpern auf der Bühne ist allerdings, dass sich die Aufmerksamkeit des Betrachters meist auf einen Punkt fokussiert“, dichtet Heckmanns und der Punkt geht an ihn, denn der Satz hat nichts Banales, entlarvt er doch die Blickrichtung der Zuschauer in den letzten zehn Minuten. Ein Beweis dafür, dass „Es wird einmal“ klug und vielschichtig gebaut ist und mit Leichtigkeit zwischen den letzten und den oberflächlichsten Dingen oszilliert.

Es entsteht tatsächlich ein „kleines Bochumer Welttheater“, das die Figuren mit existenziellen Fragen von Leben und Tod konfrontiert. Es entlarvt die theaterbetriebseigene Hybris, die Bühne für das Leben zu nehmen und bekräftigt sie zugleich. Denn was sind wir sonst, als Spieler auf einer Lebensbühne? Die nicht wissen, wann und wie sie abtreten müssen? Die nicht wissen, ob ihnen die große Liebe bevorsteht oder die große Verletzung? Die nicht merken, ob Ihnen jemand zusieht oder ob das eigene Schicksal Leuten wie „Obermann“ nicht völlig gleichgültig ist. „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ – das gewichtige Luther-Zitat fungiert als Motto, aber drückt das Dramolett nicht nieder; es verleiht ihm eine Tiefendimension und lässt Raum für Ironie. Denn auf dem Theater sollte man das Leben leicht nehmen, sonst kann man nicht mitspielen.

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Unbedingt lobenswert daher die Schauspieler: Günter Alt gibt den älteren Mimen koboldhaft und traurig zugleich. Er hat viel gesehen, viel ertragen und er braucht verdammt nochmal diesen Job. Bei Obermann spielte er auch den dritten Engel von links oder Helmut Kohl, egal. Er muckt nicht mal auf, als am Ende offen bleibt, ob er jetzt stirbt oder engagiert wird – aber vielleicht kommt das ja auch auf dasselbe raus. Minna Wündrich spielt die Assistentin Dora so zickenhaft-intellektuell-überheblich, dass es eine wahre Freude ist und ihre Neigung zum Sadismus gegenüber der namenlosen Hospitantin, die in einer Ohrfeige mündet, wurde auch schon öfter am Stadttheater beobachtet. Kristina Peters wiederrum verleiht diesem bedauernswerten Geschöpf eine charmante Note und viel Spielwitz. Naiv und poetisch legt Therese Dörr die Sophie Sikora an, eine Darstellerin aus der Fußgängerzone, die natürlich auch zaubern kann. Der verkopfte Neumann, gespielt von Matthias Kelle, zeigt zum Schluss Herz und ansonsten nackte Haut (s.o.). Und der Regisseur? Schwierig, jetzt so einen „Obermann“ zu loben, nur soviel: Er vertraut auf dezente Weise dem Text und stülpt ihm nicht allzu viel über, was der Sache gut tut.

Zuletzt eine Frage an den Ausstatter Hermann Feuchter: Das Bühnenbild ist dem „Meeting“–Room des Land-Art Künstlers-James Turrell nachempfunden, zu sehen im MoMA PS1 in Brooklyn, NYC. An den Wänden des leeren Raums verläuft eine durchgehende Sitzbank, durch ein rechteckiges Loch in der Decke kann man den freien Himmel sehen. Fast eine halbe Stunde saß ich letzten Sommer dort und ruhte meine Füße aus, es war sehr friedlich. In Bochum ist dieses Loch allerdings rund und der Himmel eine Projektion. Also doch alles nur Illusion im Theater? Warum nicht gleich die Decke der Kammerspiele durchstoßen und dem Himmel ein wenig näher kommen? Doch was sollen die doofen Fragen, meint Heckmanns: „Kann das Theater nicht einmal aufhören Fragen zu stellen und stattdessen eine Antwort geben?“

Infos und Karten:
www.schauspielhausbochum.de




Herr K. in der Puppenkiste: „Amerika“ am Schauspiel Köln

Foto: Sandra Then

Foto: Sandra Then

„Bienvenue, willkommen, welcome“ ruft der Conférencier. Aber er begrüßt nicht die Zuschauer im Kabarett, sondern im „großen Theater von Oklahoma“. Und das steht in Amerika, genauer gesagt in Kafkas „Amerika“, dem unvollendeten Roman, den jetzt das Schauspiel Köln auf die Bühne brachte.

Das Werk wurde postum 1927 veröffentlicht. Kafka schrieb zwischen 1911 und 1914 an dem „road movie“ über Karl Roßmann, der in die USA auswandert, aber nicht sein Glück macht, sondern von Menschen, Umständen und dem Schicksal herumgeschubst wird und schließlich – heute würde man sagen – Praktikant im Theater von Oklahoma wird, das „jeden gebrauchen kann“.

Das Bezaubernde an Moritz Sostmanns Inszenierung ist nun, dass sein Karl von einer Puppe dargestellt wird: Fragil, mit traurigem Gesichtsausdruck, Intellektuellenbrille und Matrosenanzug tragen die Schauspieler dem kleinen Karl auf der Bühne umher, leihen ihm ihre Stimmen und steuern seine Bewegungen. So wird die Macht der anderen über den armen Auswanderer sofort augenfällig, er ist ihr Spielzeug, ihr Werk. Seine Zartheit weckt Beschützerinstinkte, aber verführt auch dazu, ihm übel mitzuspielen, weil er so wehrlos wirkt.

Puppen- und Menschenspiel greifen dabei ineinander über, verschränken sich und geraten zu einer Einheit, die eine äußerst poetische Atmosphäre hervorruft. Man spürt, dass das Ensemble ein harmonisches Team ist: Johannes Benecke, Bruno Cathomas, Philipp Plessmann und Magda Lena Schlott tragen und treiben Karl durch die Handlung, verwandeln sich fortwährend in verschiedene Figuren, die ihm begegnen und die „neue Welt“ erzählen, in die es den Europäer verschlagen hat.

Die Beschleunigung und Technisierung des modernen Lebens wird durch Videoprojektionen (Hannes Hesse) sinnfällig, in den sozialen Beziehungen herrscht ein vom Kapitalismus geprägtes Nützlichkeitsdenken, eine freundliche und zugleich oberflächliche Brutalität. Sostmann betont diesen Zug durch einen überbordenden Humor, der jedem Schauspieler Gelegenheit gibt, die Rampensau rauszulassen, was teilweise in slapstickartigen Szenen mündet. Dabei ist dieses Lachen auch ein Lachen über Karl: Eines, das seine moralischen Prinzipien hinwegwischt und verhöhnt, eines, das deutlich macht, dass Karls Tempo und die Uhren der neuen Zeit ganz und gar nicht synchron laufen.

So kippt das Gelächter um in Traurigkeit und Melancholie, in ein Entsetzen über Menschen, die andere wie Puppen (Hagen Tilp) herumschubsen. Herr K. ist leider eine davon.

Infos, Karten und Termine:
http://www.schauspielkoeln.de/spielplan/premieren/amerika/




Thema „Lügen“ – Theatergegensätze zwischen norwegischer Saga und nahöstlicher Realität

Das Dortmunder Schauspielhaus, längst überregional „auf der Liste“, bietet fürwahr ein abwechslungsreiches Programm auf seinen Bühnen.

Die Abonnenten können aus dem Vollen schöpfen. Da kann man sich die Gegensätze um die Ohren und Augen fliegen lassen. Das ist sicher ein Paket, das nicht leicht zu handeln ist und die SchauspielerInnen haben zahlreiche schwierige Aufgaben zu bewältigen.  Zwei gegensätzliche Stücke werden im Folgenden als Beispiele herangezogen. Beide handeln vom Lügen.

Nawals Schicksal  – brutal und real

Foto: Theater Dortmund

Foto: „Verbrennungen“ Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Gewalt und Krieg sind Themen, die das Theater von jeher bearbeitet. Je näher sie am Jetzt und Hier sind, desto schwieriger scheint der theatrale Weg, das Publikum aufzurütteln, es zu bewegen. Der kanadische Autor Wajdi Mouawad – im Libanon geboren – hat ein viel gespieltes Stück verfasst, das eigentlich ein Erzählstoff ist. Basis ist eine Lebenslüge, die im Angesicht des Todes aufgelöst werden soll. „Verbrennungen“ heißt das Schauspiel auf der weiß ausgeschlagenen Bühne, einem Labor, das immer wieder wechselnde Spielorte hervorbringt. Die Orte werden nie klar benannt.

Irgendwo im Nahen Osten herrscht Krieg – für uns inzwischen ein Normalzustand. Fast täglich hören wir nur noch halb hin, wenn derartige Meldungen durch die Nachrichten rauschen. Es gibt Vergewaltigung und Folter. So auch in diesem Stück – als szenische Erzählung. Das tragische Geschehen: Die Kinder der gestorbenen Mutter erfahren von der Wahrheit ihrer Identität über Umwege. Das ist furchtbar und dennoch will uns das kaum nahe gehen, da die Figuren nur angerissen werden. Konflikte werden auf die Bühne verteilt und in 90 Minuten erzählt. Es ist schwer, ein derartiges Stück „zu verpacken“, auch für die niederländische Regisseurin Liesbeth Coltof.

Peer Gynts Leben – weltfremd und verblendet

Auf der Suche nach allem und nichts, der Seelenlügner und notorische Verdränger Peer Gynt, Bühnenfigur des Welttheaters, wird gedoppelt und vervielfacht. Er ist die Hauptfigur, der mit Lügengeschichten versucht, der Realität zu entfliehen.

Foto: Theater Dortmund

Foto: „Peer Gynt“ Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

In Dortmund wälzen sich die Figuren im Wasser, wechseln ihre Farbe wie die Personenhüllen. Das ist anschaulich, gar etwas wild und vor allem interpretierend. Der Zuschauer erhält eine Deutung des Stoffes. Wer das Original kennt, wird sich anschließen oder auch nicht. Die Inszenierung ist eine kompakte Show ohne großes Tableau mit ausgezeichneter Ensembleleistung.  Die große Musik, die zu dieser Figur von Edvard Grieg geschrieben wurde, findet hier nur als kurzes Zitat statt. Ansonsten wird das Ganze beherrscht von der Musik des Thomas Truax zwischen schleppenden und scheppernden Sounds. Ein guter Griff, nicht nur auf den Gitarrensaiten. Henrik Ibsen hätte die Musik mutmaßlich gefallen.




Stimmungsmache, Skandalgerede, Voraburteile: Dortmund und die „Tannhäuser“-Premiere

Kay Voges inszeniert in Dortmund den "Tannhäuser". Foto: TheaterDortmund/Birgit Hupfeld

Kay Voges inszeniert in Dortmund den „Tannhäuser“. Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Skandal! Das Wort ist ausgesprochen, ist nachzulesen schwarz auf weiß. Der Vorgang, den es bezeichnet, wird herbeigeredet, -geschrieben, von manchem vielleicht auch ersehnt. Stimmungsmache, Beschwichtigungen, Erklärungen und Voraburteile schwirren durch den Raum. Eine Debatte ist zu verfolgen, deren Gegenstand bisher nur fragmentarisch sich darstellt. Es ist so, als würde ein Schmetterlingsbein sich aus der Raupe herausschälen, und einer ruft: „Ist das Tier aber hässlich“.

Worum geht es? In nüchternen Worten formuliert, um die bevorstehende Premiere von Richard Wagners großer romantischer Oper in drei Akten „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ am Theater Dortmund. Regie führt Kay Voges, der erfolgreiche, längst über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Chef des Schauspielhauses. Es ist seine erste Arbeit im musikdramatischen Fach. Voges wird, über das Bühnengeschehen hinaus, multimediale Effekte einsetzen. Eigentlich ist solcherart Inszenierungsbeigabe ein nicht mehr ganz neuer Hut. Doch mancher Bedenkenträger fragt schon jetzt beklommen, ob das nicht zu viel des Illustrierens sei.

Wagners „Tannhäuser“ – da war doch was. Genau: etwa die tumultuöse Aufführung 1861 in Paris, als organisierte Gruppen mit aller Macht (und Trillerpfeifen) das Werk des Deutschen akustisch zerstören wollten. Ein Vorgang, der bis heute zu den größten Eklats der Musikgeschichte zählt. Und jüngst, im Mai, der Skandal um die Inszenierung von Burkhard C. Kosminski an der Rheinoper in Düsseldorf. Die Premiere war die erste und letzte szenische Vorstellung, hernach blieb der Vorhang zu, der „Tannhäuser“ mutierte zu einem rein konzertanten Erlebnis. Freilich, der Regisseur hatte das Werk teils in der Nazi-Zeit verortet und pantomimisch gezeigt, wie eine ganze Familie exekutiert wird. Einige aus dem Publikum gaben an, sie hätten ob der Zumutung einen Arzt aufsuchen müssen.

Wenige Tage später stellte Dortmunds Opernchef Jens-Daniel Herzog den neuen Spielplan vor, mit eben jener Nachricht, dass Kay Voges den „Tannhäuser“ inszenieren werde. Um eiligst hinzuzufügen, Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Dann ging die Zeit ins Land und die Welt war in Ordnung. Nun aber, nach einigen Überlegungen des Regisseurs, abgedruckt in der Theaterzeitung, nach Einführungsmatinee und öffentlicher Probe, herrscht plötzlich jede Menge Aufgeregtheit. Der Knackpunkt vor allem: die Videoprojektionen.

Tischbein_-_Tannhäuser_1845

Joseph Tichatschek als Tannhäuser und Wilhelmine Schröder-Devrient als Venus in der Dresdner Uraufführung 1845. Zeichnung: F. Tischbein

Voges setzt sie im Schauspiel regelmäßig ein, etwa in seiner Inszenierung nach Thomas Vinterbergs „Das Fest“. Die Gesichter der Figuren werden groß auf eine Leinwand projiziert, auf dass das Publikum jede emotionale Regung und deren mimische Entsprechung mitbekomme. Das war immerhin eine Nominierung für den Theaterpreis „Faust“ wert. Ähnliches hat Voges im „Tannhäuser“ vor. Hinzu kommt der Versuch, in dieser Figur, taumelnd zwischen Venusberglust und hehrer Minne, Christus zu sehen; in Anlehnung an Martin Scorseses so umstrittenen wie glänzenden Film „Die letzte Versuchung Christi“.

Ob das gelingt, werden wir sehen. Voges sagt, Wagner, der Verfechter des Gesamtkunstwerks, hätte den Film als Gestaltungsmittel eingesetzt. Jens-Daniel Herzog hat das in einem Interview ähnlich formuliert. Ein Teil der veröffentlichten Meinung hingegen zerrt den wohlbekannten Satz mancher Wagnerianer hervor, der Komponist habe das so sicher nicht gewollt. Nun gut, Spekulationen sind das eine, teils polemische Urteile über einen Probenausschnitt aber sind von anderem Gewicht. Vom Skandal ist vorsorglich auch schon Mal die Rede.

„Kinder, schafft Neues!“ ist ein vielzitiertes Wagner-Wort. Ist der Einsatz der Video-Technik zu neu? Das Dortmunder Publikum werde durch die Bilder zu sehr von der Musik und den Figuren abgelenkt, unkt es im Blätterwald, das Seelenheil der Zuschauer könnte leiden. Solcherart Fürsorge ex cathedra wirkt geradezu putzig. Doch Filmsequenzen zur Oper sind den Musikfreunden der Stadt durchaus bekannt, zuletzt gesehen in hochgelobten Konzerthaus-Aufführungen von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und, man staune, in Richard Wagners „Tristan und Isolde“.

Voges hat unterdessen auf die Vorab-Urteile höchst originell reagiert. Bei aller Verärgerung stichelte er in einer Mischung aus Ernst und Ironie zurück. Inmitten seiner tiefsinnigen, urkomischen, so erfrischend albernen wie entlarvend verstörenden Revue „Das goldene Zeitalter“, in der uns das Leben als Endlosschleife offenbart wird, mit mehr oder weniger gelungenen Versuchen, daraus auszubrechen. Da dröhnt die „Tannhäuser“-Ouvertüre aus den Lautsprechern, und ein blondes Barbiepuppenwesen hämmert manisch in die Schreibmaschine „Volle Konzentration auf die Musik“.  Konsequent fällt der Vorhang, das Theater wird zum kollektiven Wohnzimmer mit Stereoanlage, Rezeption zur behaglichen Routine, wie der alltägliche Konsum der Tagesschau. Touché!

Gut nur, dass nun, kommenden Sonntag (1. Dezember), endlich Premiere ist, in annähernd ausverkauftem Haus. Erst dann ist die Stunde ernsthafter, kundiger Analyse und ästhetischer Beurteilung gekommen. Stimmungsmache aber vernebelt die Gedanken.

Informationen zur Inszenierung: http://www.theaterdo.de/detail/event/513/?not=1




Mensch-Maschine: „Metropolis“ am Schauspiel Bonn

„Wir sind die Roboter, tam, tam, tam, tam“: Der Song der legendären Band Kraftwerk schwebt stilbildend über Jan-Christoph Gockels Inszenierung von „Metropolis“, die nun in der frisch renovierten Halle Beuel am Schauspiel Bonn Premiere hatte.

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

Zurückgegelte Haare, schwarze Anzüge, kombiniert mit einer grellen Farbe und das Kling-Klang des Elektropops bilden den atmosphärischen Soundtrack in der Maschinenhalle der Megacity „Metropolis“, berühmt geworden durch Fritz Langs epochalen Film von 1927. Dabei werden die Arbeitssklaven verdoppelt durch kleine skelettartige Wesen, die den Menschen zur Maschine verlängern, regiert von Industriebaronen im Faltenrock. Das Bühnenbild ist angelehnt an die Ästhetik der Industriekultur, die man sonst eher aus dem Ruhrgebiet kennt. Doch war auch die Halle Beuel eine Jutespinnerei, die im „Dritten Reich“ Zwangsarbeiter ausbeutete, die „Sackleinen für die Front“ weben mussten.

Was ist nun interessant daran, einen ollen, gleichwohl kultigen Stummfilm auf die Bühne zu bringen? Die Eingangssequenz gibt einen Hinweis auf die Antwort: „Guten Tag, wie kann ich Dir behilflich sein?“, sagt Telefonstimme Siri, die jeder iPhone-Nutzer kennt und wartet die Replik kaum ab: „Tut mir leid, ich habe Dich leider nicht verstanden.“ Die Abhängigkeit des Menschen von Maschinen ist im Internetzeitalter schon längst eingetreten, aber anders, als sich die düstere Utopie von Fritz Lang oder George Orwell sich das vorstellten.

Diese Macht der Computer über unser Leben kommt viel bunter, witziger und vordergründig harmloser daher und umspannt doch nicht nur eine Metropole, sondern agiert global. Sie weiß alles über uns und wir zeigen uns auch gerne her. Sie will uns kaufen und wir verkaufen uns. Wie die Arbeiter in Metropolis sind wir nicht nur geknechtet von unseren kleinen Maschinen, nein, wir lieben sie und geraten ohne sie sofort in Panik. Heroisch ist, wer zwei Wochen ohne Internet und Smartphone auskommt und anschließend seine Gefühle darüber postet.

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

All das reißt die Inszenierung an, verfolgt es aber nicht weiter, sondern erzählt die Liebesgeschichte von Freder Fredersen (Hajo Tuschy) und Maria (Mareike Hein): Der verwöhnte Spross aus Metropolis Elite verknüpft die Auflehnung gegen seinen Vater und Industriebaron Joh Fredersen (Wolfgang Rüter) mit den revolutionären Ideen der Geliebten. Er will Arbeiter sein, nicht mehr Kapitalist, er will Freiheit für alle, statt Macht für sich.

Doch die neue Untergrundbewegung wird selbstredend abgefilmt und verraten, die Arbeiter, die er retten wollte, können mit ihrer neuen Freiheit nicht umgehen und lassen sich kaufen. Maria wird von einem Dr. Frankenstein namens Rotwang als Puppe geklont, die niemand mehr von der echten Frau unterscheiden kann. Michael Pietsch, der Puppenbauer, hat sich dabei ins Zeug gelegt und der Umgang mit dem diabolischen Spielzeug meistert das Ensemble so charmant, dass es alle Zuschauer angemessen gruselt.

Eine Psychologie dagegen entwickeln die (Film-)Figuren nicht, teilweise interagieren sie merkwürdig brüllend – scheinbar um längst nicht mehr vorhandenen Maschinenlärm zu übertönen. Die Szene schließlich, in der Fritz Lang, Sigfried Kracauer, Romanautorin Thea von Harbou etc. mit Namensschildchen auf dem Klemmbrett die Thesen ihrer Filmproduktion verhandeln, wirkt seltsam zusammengegoogelt und kann das Verhältnis von Vorlage zu Bühnenstoff, von damals zu heute nicht wirklich klären.

Kein Wunder, dass Metropolis untergehen muss. Die Rückwand der Fabrik stürzt ein und öffnet den Blick in eine Schaltzentrale des Computerzeitalters. Doch auch diese unsere gegenwärtige Epoche währt nur kurz. Schon geht das Rolltor hoch, die Überlebenden von Metropolis werfen sich den Affenpelz über und tanzen draußen um einen mickrigen Baum auf Rädern. Fortsetzung folgt? Vielleicht auf dem „Planet der Affen“…

Karten und Termine: www.theater-bonn.de




„Nach dem Applaus“ – ein Krimi aus dem Theatermilieu in Berlin und Wien

Es ist bitterkalt. Schnee und Eis haben die Mitte Europas fest im Griff. Eigentlich möchte man sich es sich nur noch mit einem heißen Getränk und einem guten Buch in der gut geheizten Wohnung gemütlich machen. Doch dann müssen der Berliner Kommissar Thomas Bernhardt und seine Wiener Kollegin Anna Habel doch vor die Tür und hinaus ins Frostige.

In den Hauptstädten Deutschlands und Österreichs geschehen Morde, die offensichtlich enger zusammenhängen, als es auf den ersten Blick scheint. In Berlin wird eine junge Schauspielerin grausam zerstückelt, die noch vor gar nicht langer Zeit in Wien große Bühnentriumphe feierte. Und war sie nicht mit jener Frau näher befreundet, deren kopflose Leiche man in Wien auf den Gleisen eines Rangierbahnhofs findet?

978-3-257-60344-6

„Nach dem Applaus“ heißt der neue, nunmehr dritte „Fall für Berlin und Wien“, den das Autoren-Duo Bielefeld & Hartlieb mit liebevoll-zynischer Lust geschrieben hat. Nachdem der Berliner Literaturkritiker Claus-Ulrich Bielefeld und die Wiener Buchhändlerin Petra Hartlieb ihr unterhaltsames Spiel mit den blutigen Machenschaften unter Schriftstellern und Verlegern („Auf der Strecke“) und mit den politischen Irrungen und Wirkungen unter ehemaligen RAF-Terroristen („Bis zur Neige“) geführt haben, wagen sie diesmal einen Ausflug ins Theatermilieu. Das ist schon deshalb nicht ohne Hintersinn und Humor, weil Berlin und Wien seit jeher um die Theaterkrone im deutschsprachigen Raum kämpfen.

Natürlich war die in Berlin ermordete Schauspielerin eine Lieblings-Diva von Claus Peymann, dem ehemaligen Chef des Wiener Burgtheaters, der seit einigen Jahren das Berliner Ensemble leitet und immer wieder vollmundig verkündet, sein Theater solle Reißzahn im Hinterteil der Herrschenden sein. Peymann wird im Krimi zwar nicht direkt beim Namen genannt, aber auch so ist jedem Leser klar, wer da seine aufbrausenden Bühnenweisheiten und arroganten Kunstsentenzen von sich gibt.

Dass der Theaterdirektor ausgerechnet von einem Kommissar namens Thomas Bernhardt (mit „dt“) verhört wird, raubt dem ehemaligen Weggefährten des (fast) gleichnamigen österreichischen Schriftstellers (mit „d“) beinahe den Verstand. Auch als Kommissar Bernhardt in eine Schauspielprobe platzt, bei der „Peymann“ sich an einer Bühnenversion von Georg Büchners „Lenz“-Erzählung abarbeitet und sich – ausgerechnet! – vom prolligen Volksbühnen-Kollegen Frank Castorf ein paar Ratschläge erbittet, ist der Humorfaktor groß.

Aber bei allen komischen Seitenhieben auf die Theaterszene kommt das bizarre mörderische Treiben nicht zu kurz. Ein zum Eisklotz gefroren toter Schriftsteller im See, ein in luftiger Höhe an die Flügel eines Windrades gebundener Schauspieler, ein Kunst-Mäzen, der gern Gutes tut, aber selbst nicht ohne Makel ist: Es wird Zeit, dass Bernhardt und Habel, die nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander können, gemeinsam am komplizierte Fall bosseln.

Ob die beiden bei ihren Recherchen in Szene-Cafés oder Theater-Kantinen Station machen, immer spürt man, dass jedes Detail stimmt und jede Anspielung bis aufs I-Tüpfelchen durchdacht ist. Zwar versichern Bielfeld&Hartlieb, dass alle Personen und Ereignisse frei erfunden sind. Trotzdem ist es ein kriminalistischer Spaß, die Fantasie mit der Realität abzugleichen.

Bielefeld & Hartlieb: „Nach dem Applaus“. Kriminalroman. Diogenes Verlag, Zürich. 390 Seiten, 14,90 Euro.




Im Aufzug zur Ewigkeit: Kay Voges beschwört in Dortmund „Das goldene Zeitalter“

Und ewig trommelt der Duracell-Hase: Szene aus „Das goldene Zeitalter“ von Kay Voges und Alexander Kerlin (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Eine monotone Automatenstimme zählt bis Neunundneunzig. Gleichförmig, unerbittlich. Elektronische Instrumente simulieren das Schrittgeräusch der Schauspieler. Einundzwanzig. Tack tack. Zweiundzwanzig. Tack tack.

Alle tragen den gleichen Minirock, die gleichen Riemchenschuhe, die gleiche wasserstoffblonde Lockenperücke. Wie ferngesteuerte Barbiepuppen treten sie einzeln aus einem Aufzug, schreiten roboterhaft zwei Treppen hinab. Unten angekommen, streifen sie die Schuhe mechanisch an einer Fußmatte ab, bevor sie wieder in den Aufzug steigen, diesmal auf dem Weg nach oben.

So geht das hoch und runter, auf und ab, wieder und wieder, wie im Traum oder wie in Trance. So setzen Dortmunds Schauspielintendant Kay Voges und sein Dramaturg Alexander Kerlin das Rad der Zeit in Gang, ziehen uns hinein in den Kreislauf der ewigen Wiederkehr. „Das goldene Zeitalter – 100 Wege, dem Schicksal die Show zu stehlen“ heißt ihr Stück, das die Routinen des Alltags in immer neuen Schleifen zelebriert, persifliert und schließlich transzendiert. Aus öden Obligationen des Lebens wie der täglichen Körperpflege und dem Einkauf im Supermarkt haben sie eine genial-verrückte Revue entwickelt, die das Endlos-Entertainment des 21. Jahrhunderts kommentiert. Sechs Schauspieler strampeln sich ab im Strom der Fließbandunterhaltung, suchen nach Wahrheit, nach Glück, nach Erlösung.

Für etwa acht Stunden halb improvisiertes Theater reichen die Szenen, Figuren, Videos und Musikstücke insgesamt. Zu sehen bekommt das Publikum stets nur einen Teil davon: welchen, das wissen weder die Mitwirkenden noch Kay Voges und Alexander Kerlin vorher genau. Beide sitzen mitten im Publikum und greifen per Funk und Mikrophon nach Lust und Laune in das Geschehen ein. „Bitte jetzt Heinrich Heine“, sagt Voges zum Beispiel in Richtung Bühne, und schon rezitiert ein Schauspieler einen Text, in dem der Dichter das „Goldene Zeitalter“ beschwört, einen gottähnlichen Zustand des Menschengeschlechts.

Der deutsche Michel (Uwe Schmieder), hier einmal nicht verschnarcht, sondern angsterstarrt im Kreis der ewigen Wiederkehr (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Der deutsche Michel (Uwe Schmieder), hier einmal nicht verschnarcht, sondern angsterstarrt im Kreis der ewigen Wiederkehr (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Abrupt wird Heines schöne Vision vom Tagesschau-Gong unterbrochen. Wir stolpern in die nächste Schlaufe: Die Voges-Familie versammelt sich für die 20-Uhr-Nachrichten am Esstisch. Schlagworte flimmern vorüber, Lampedusa, Merkel, Uli Hoeneß. Die Moderatoren wechseln, Eva Herman, Steffen Seibert, Tom Buhrow, egal. Alles neu und doch bis zum Überdruss bekannt. Langeweilesoße. Manche Parodie ist zum Schreien komisch. Manchmal passiert auf der Bühne quälend wenig. Dann wieder bricht ein geregeltes Chaos aus, in dem uns aus allen Ecken große Ratlosigkeit anblickt. Was jetzt? Wohin? Und vor allem: warum?

Das ist eine Zumutung, und nicht jeder ist bereit, sie auszuhalten. Zuschauer verlassen den Saal, um sich etwas zu trinken zu holen. Das ist in dieser Aufführung ausdrücklich erwünscht. Aber nicht alle kehren zurück. Sollten sie überdrüssig geworden sein, dann sind sie an diesem Abend nicht alleine. Wütend empört sich ein Schauspieler über die Monotonie, über die ewige Wiederkehr des längst Bekannten. Er rebelliert, versucht auszubrechen, ist aber trotzdem weiter Teil des Spiels. Und Peng, schon läuft wieder der Werbespot für Zott-Sahnejoghurt, „hinein ins Weekend-Feeling“.

Die Videokunst von Daniel Hengst bleibt dem Verrinnen der Zeit auf den Fersen. Jeder Augenblick, gerade noch live erlebt, gerinnt in seinen Bildern zur Vergangenheit. Die Sekunde wird zur Erinnerung, die von uns fort gleitet. Bilder splitten sich auf, optische und akustische Echos entstehen. Zeitschleifen überlappen sich, bilden Schichten. Dahinter beginnt etwas aufzuleuchten, was sich zunächst nur erahnen lässt. Ein ferner Schimmer, der Gewissheit wird, sobald die Worte großer Schriftsteller und Philosophen ins Spiel kommen.

Das sind die Protagonisten: ferngesteuert, videoüberwacht, auf der Suche nach dem Glück (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das sind die Protagonisten: ferngesteuert, videoüberwacht, auf der Suche nach dem Glück (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein paar Zeilen von Tschechow, ein Bruchstück von Beckett genügen, um uns endlich sehen zu lassen. Wie aus dem Nichts flammt das Licht der Erkenntnis auf, hinterlässt eine schillernde Spur, und alles wird plötzlich transparent. Wir sehen ihn zappeln und pulsen, den heißen Herzschlag des Lebens, das so toll und trostlos ist, voller Schönheit und Stumpfsinn, extrem im Wunderbaren wie im Vulgären. Irgendwann, wir verdrängen das gerne, gibt es für alles ein letztes Mal. Ein letzter Spaziergang, ein letzter Morgen, ein letzter Blick aus dem Fenster. Das Leben aber wird weiter schreiten, gleichförmig, gleichgültig. Vorhang. Fortsetzung folgt.

Wir gehen nach Hause, mit hundert Bildern im Kopf und manchem Zweifel im Herzen. Wir legen uns schlafen, und am nächsten Morgen stehen wir auf. Gehen unter die Dusche, putzen die Zähne und ziehen uns an, zuerst das Hemd, dann die Hose. Einundzwanzig. Tack tack. Zweiundzwanzig. Tack tack.

(Informationen und Termine: http://www.theaterdo.de/detail/event/4017)




Im Zeichen der immerwährenden Krise: Die Theaterwelt traf sich unter der Akropolis

Ausgerechnet in Athen fand das jährliche Treffen des IETM (International network for contemporary performing arts), des größten Theaternetzwerkes Europas mit Sitz in Brüssel, statt.

Rund 500 Delegierte aus allen Bereichen der darstellenden Kunst orakelten über die Zukunft des Theaters in Europa – Künstler, Manager, Festivalleiter, Kulturpolitiker.  Drei Tage lang wurde diskutiert, verhandelt und geforscht. Die Tagungsorte waren ehemalige Orte des Business: eine stillgelegte Gasfabrik und die alte Börse, beides nun (ähnlich wie an vielen Orten Europas) kulturell genutzte Räume, die nach Aufbruch riechen.

Aber der Geruch täuscht. Geld für freie Kunst gibt es in Athen so gut wie keines. Man sucht europäische Partner und kulturpolitische Unterstützung. Naturgemäß wurden die Fragen nach Zukunft der Kunst und Kultur nicht endgültig beantwortet. Und es gab auch keinen Ausflug nach Delphi, um das Orakel zu befragen.

Die Unterschiede sind zu groß. In jedem Land gibt es unterschiedliche Bedingungen. Für die zahlreich teilnehmenden Griechen stellt sich die Lage sehr anders dar als zum Beispiel in Deutschland oder Frankreich. Das Programm des Kongresses wurde ausschließlich ehrenamtlich zusammengestellt.

Die Vorstellungen, die einen Überblick über die griechische, bzw. Athener Theater- und Tanzszene geben sollten, waren auf Eintrittsgelder angewiesen. Und hier spürte man einen Aufbruch, den es in Griechenland Jahrzehnte nicht so gegeben hatte. Es gibt zwar kein Geld, aber die Aktivitäten sind groß. Fast alle Produktionen versuchen, sich an der Krise abzuarbeiten.

Es gab „Lecture-Demonstrations“, die dokumentarisch und per Spaziergang dem restlichen Europa klarzumachen versuchten, wie es derzeit im Lande aussieht und das ist nicht vielversprechend. Aber diese Sichtweisen und theatralen Befindlichkeitswerke finden in den Medien keine Beachtung. Trotzdem gab es kein allgemeines Klagen, sondern Aufklärung und Austausch. So beschrieb der Künstler Alexandros Mistriotis in seiner Rede zur Eröffnung des Kongresses Athen als eine „unsichtbare Stadt“ und Griechenland als ein Land mit einer seit 200 Jahren andauernden Krise. Die Krise sei das Unverzichtbare in der Tragödie und diese dauere an und sie sei immer noch Leitbild für alle Theater der Welt.

Letztlich war das Treffen ein wichtiges Moment in der neuen griechischen freien Szene und hat viele neue Kontakte geschaffen. Aus Deutschland waren 16 VertreterInnen aus der Kulturszene in Athen, unter anderem der Autor dieser Zeilen.




Altes Lied ganz neu: Die Nibelungen am Schauspielhaus Bochum

Die Männer sitzen ums Feuer und singen ein altes Lied in einer fremden Sprache, einer spielt Gitarre dazu. Hin und wieder versteht man sogar ein Wort: Denn die Sprache ist Mittelhochdeutsch und die Geschichte, über die sie singen, erzählt von Siegfrieds Heldentaten und Kriemhilds Rache. Regisseur Roger Vontobel hat für das Schauspielhaus Bochum Hebbels „Die Nibelungen“ inszeniert und das Stück buchstäblich als „Nibelungenlied“ kongenial an seine Ursprünge zurückgeführt.

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Die Gesangseinlagen beschwören den mittelalterlichen Mythos herauf und legen die archaischen Grundzüge der Heldengeschichte frei, so dass sie uns heute wieder etwas sagt. Überhaupt: Wie Vontobel es schafft, die Nibelungen-Sage als packende Sex-and-Crime-Story zu erzählen, so dass der Theaterabend trotz fünfeinhalbstündiger Spieldauer keine Sekunde langweilig, sondern extrem kurzweilig und spannend daherkommt, das ist wirklich eine großartige Regieleistung.

Dabei wirkt Vontobels Erzählweise, die mit einer großen Rückblende arbeitet, in der Siegfried und Kriemhilds Vorgeschichte inklusive Drachentötung und Mord entfaltet werden, keineswegs verflachend. Sehr genau erlebt man die Psychologie der Figuren, erkennt ihre Motive, ihre Schuld-, Eifersuchts- und Rachegefühle und kann verfolgen, wie diese Emotionen letztlich in grausame und tödliche Verstrickung führen.

Im Zentrum des Geschehens steht Kriemhild: Jana Schulz legt diese Figur als ein burschikos-naives Mädchen an, das erleben muss, wie ihre reine, große Liebe zu Siegfried durch Gier und Machtkalkül ihrer Brüder und Hagen funktionalisiert und letztlich zerstört wird. Kriemhilds Rache folgt aus gebrochenem Herzen und der Erfahrung, dass ihre engste Familie sie verraten hat. Darum ist sie umso grausamer und gibt sich erst zufrieden, nachdem sie alle in den Tod getrieben hat.

Diese Charakterentwicklung nimmt man der großartigen Schauspielerin jede Sekunde ab, ebenso wie man ihre sinnliche Bühnenpräsenz nur bewundern kann. Die lange Szene, in der sich Kriemhild die Asche Siegfrieds mit Schwamm und Waschkrug vom Körper reibt markiert sinnfällig die Zäsur. Hier wird aus der Trauernden die eiskalte Rächerin, die im Diven-Outfit ihre Erotik gezielt dazu einsetzt, den zweiten Ehemann Etzel (Matthias Redlhammer) ins Mordkomplott einzuspannen.

Doch auch die Handlungsmotive der übrigen Figuren sind klug herausgearbeitet: Hagen (Werner Wölbern) ist mitnichten nur der Bösewicht, der Siegfried aus Mordlust tötet. Als treuer Gefolgsmann und Berater König Gunthers geht es ihm um Machtpolitik: Er will das Haus Burgund in die Zukunft führen und scheut dabei vor keiner List zurück. Siegfried dagegen ist Mitwisser und Störenfried für ihn, denn er setzt Gerechtigkeit über Treue. In Hagens Welt muss er dafür sterben.

Nun der Held selbst, im Drachenlederanzug: Fast blass und verkopft kommt dieser Siegfried (Felix Rech) daher. Seine Macht von Zauberschwert und Tarnkappe ist ihm eher unheimlich, er wollte lieber für sich und Kriemhild ein kleines Glück, statt ein großer Held zu sein. Doch das Heldentum legt ihm Pflichten auf, die er scheut und das wird ihm zum Verhängnis. König Gunther (Florian Lange) dagegen will mehr, als seine Fähigkeiten erlauben: Er ist scharf auf Brunhild (Minna Wündrich), aber sie ist eindeutig eine Nummer zu groß für ihn, das bringt dieser Ehe nur Verdruss. Richtig komisch sind die Szenen, in denen das Vollweib Brunhild den armen Pantoffelhelden mit Verlaub „zusammenscheißt“ – ach hätte er doch ein nettes Mädchen von nebenan geheiratet anstatt dieser kraftstrotzenden Walküre, deren Wildheit niemand bändigen kann, weil sie aus eisigeren Gefilden stammt und das ganze Rheinland ihr einfach zu lieblich ist.

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Die politisch heikle Rezeptionsgeschichte des Nibelungenstoffes hat Vontobel sehr dezent integriert: In Ausstattung und Kostüm sind Anklänge an die Mode und Frisuren der vierziger Jahre zu finden, ohne allzu sehr die abgegriffene 3.-Reich-Symbolik zu bemühen. (Kostüme: Tina Kloempken). Auch die Idee, den berüchtigten Hunnenkönig Etzel als kultivierten Klavierspieler im weißen Anzug zu zeigen, hat Charme. So ist nicht von vorneherein klar, wer eigentlich hier die Barbaren sind und die Deutung gerät offener.

Selbst mit der Gewalt im Stück findet Vontobel einen klugen Umgang: Sicher, es fließt Blut, aber die schlimmsten Szenen lässt er hinter dem geschlossenen eisernen Vorhang spielen. So entstehen die Bilder des Schreckens durch bloße Geräuschkulisse im Kopf des Zuschauers – was sie umso eindringlicher macht (Bühne: Claudia Rohner).

Zeit nehmen, unbedingt hingehen: Wenn draußen vor dem Schauspielhaus Bochum ein Lagerfeuer brennt, gibt’s drinnen die Nibelungen zu sehen.

Weitere Infos und Karten:
http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/die-nibelungen/




Martin Kippenberger ist nicht tot: Premiere am Schauspiel Köln

Ein U-Bahnschacht auf einer griechischen Insel, der nicht zum Zug führt. Doch vielleicht ist der Metro-Bahnhof ja gar keine Attrappe, sondern symbolisiert die Idee eines weltumspannenden Streckennetzes? Ein Dorf braucht eine U-Bahn eigentlich auch viel nötiger als die Großstadt, wo ohnehin immer etwas los ist. Ist Köln ein Dorf? Weil alle sich kennen und dauernd übereinander reden? Und die Griechen möchten auch mal weg, eine U-Bahn-Fahrkarte können sie sich vielleicht noch leisten. Direkt am Dom steigen sie aus und kaufen Döner. „Du Assi, das heißt Gyros“, sagt der Türke.

Foto: Sandra Then/Schauspiel Köln

Foto: Sandra Then/Schauspiel Köln

Sieh da, es funktioniert. Der Künstler Martin Kippenberger inspiriert zur Imitation, zur Parodie und zu einem Diskurs über Kunst, der weniger Nonsens ist, als es scheint. In der Nachahmung Kippenbergers steckt immer auch ein wenig echter Kippenberger, wie schon der Katalog, also das Programmheft zum Stück „Kippenberger“ von Angela Richter zeigt, das jetzt am Schauspiel Köln Premiere hatte. Ein Readymade als Hommage an den in Dortmund geborenen Künstler, der mit 44 Jahren starb und zum Mythos wurde. Ein Frosch, über den sich der Papst ärgerte.

Leute aus der Kunstszene, die Kippenberger kannten, erzählen in einer Art Doku-Fiktion on stage, wie es so mit ihm war – und es war wild. Aber es war auch lustig, es war traurig, es war verrückt. Es war Punk und man war bei etwas Wichtigem dabei.

Große Leinwände rollen herum, darauf die Paris Bar, wo Kippenberger in Berlin logierte oder das Hotel Chelsea, wo man ihn in Köln traf. Die Schauspieler tragen 80er-Jahre-Klamotten und feiern mit entsprechendem Sound die große Kunstparty von damals nach. Das ist nicht nur witzig, sondern erweist sich als angemessene Methode, einen Künstler mitsamt Lebensgefühl zu begreifen. Oder anders ausgedrückt: Kippenbergers Geist war plötzlich da. Gerade weil die Weggefährten nicht nur ihre Bewunderung zelebrieren, sondern ebenso ihren Ärger und ihren Schmerz. „Er hat es immer geschafft, dass alle irgendwie für ihn arbeiteten“, sind solcherart Sätze oder: „Oh Gott, bloß nicht mit dem Kippenberger ein Projekt machen, der ist völlig unberechenbar, das wird Chaos.“

Es geht um sein Trinken, seine Liebe, sein Kind und es geht um seinen frühen Tod. Es geht um Maßlosigkeit und Genie und darum, wie der Künstler im sozialen Biotop Köln agiert und wahrgenommen wird. Es geht um die Spuren, die er mit, in und durch andere Menschen hinterlassen hat. Textquellen für die Theaterproduktion stammen aus Gesprächen u.a. mit Ben Becker, Diedrich Diederichsen, Inga Humpe, Walther König, Elfi Semotan oder Helge Malchow.

Die Schauspieler Yuri Englert, Marek Harloff, Melissa Logan, Judith Rosmair und Malte Sundermann genießen auf Basis dieses Textmaterials die Freiheit, je ihren eigenen Kippenberger zu zeigen – ob sie nun Lust haben, seine blöden Witze in Endlosschleife zu erzählen (Achtung: Auch das ein Zitat aus dem Künstlerleben) oder ein bisschen wie Michael Jackson zu tanzen.

Manchmal spielen sie auch einfach Kippenberger selbst. Aber möchten wir nicht alle ein bisschen Kippenberger sein? Komm los, sei kein Frosch.

Karten und Termine:

www.schauspielkoeln.de




Theater Oberhausen: Im Bett mit Brecht

Ist Theater wie Sex: Die Schauspieler stimulieren die Zuschauer? Oder ist Theater ein Hospiz, in dem man der Kultur beim Sterben zuschauen kann? Das Theater Oberhausen lädt sein Publikum ein zum Nachdenken über Theater. „Brecht“ ist ein Mixed-Media-Abend auf der Meta-Ebene – eine Mischung aus Puppenspiel und Schauspiel, Improvisation und Quatsch.

Im Zentrum steht Brecht, eine wundervoll gestaltete Puppe der renommierten Puppenspielerin Suse Wächter, die an diesem Abend auch Regie führt. Ihr Brecht misst etwa einen Meter und hat einen sensationell gönnerhaft-selbstgefälligen Gesichtsausdruck: Wenn er mit halb geschlossenen Lidern pastoral um sich blickt, an seiner kalten Zigarre saugt und mit Augsburger Zungenschlag krächzt: „Nach uns wird kommen – nichts Nennenswertes“ – dann tut das eigentlich seine Schöpferin Suse Wächter neben ihm. Doch das hat der Zuschauer schnell vergessen.

Brecht liegt in einem riesigen Bett mit allerlei technischem Schnickschnack (Bühne: Constanze Kümmel), inmitten hübscher Schauspielerinnen. Sie kommen aus dem Hier und Jetzt, surfen nebenbei im Internet, telefonieren via Skype – und wollen mit Brecht proben, weshalb sie ihm in einer Prüfung demonstrieren, dass sie sein Konzept des epischen Theaters samt Verfremdungseffekt verstanden haben. Mit Wisch-Bewegungen zaubern sie übereifrig immer neue Infografiken auf die Leinwand und präsentieren ihre Lektionen: Der Einfühlungsakt muss unterbunden werden! Jede Geste muss als theatralisch erkennbar sein!

Foto: Brigitte Kraemer

Foto: Brigitte Kraemer

So richtig warm werden die Akteure mit dieser Spiel-Art jedoch nicht, das wird schnell klar: Brechts Theaterkonzept ist Schulstoff, ist Geschichte und weit weg von dem Theater-Verständnis der Schauspieler (Susanne Burkhard, Angela Falkenhan, Puppenspielerin Tine Hagemann und Publikumsliebling Torsten Bauer in Frauenrolle).

Der Fortgang der Proben wird auch dadurch erschwert, dass ein Text fehlt: Brecht muss zugeben, dass er leider „die Rechte nicht hat“ – eine Anspielung auf das Gebaren der Erben des Dichters, die nur werkgetreue Inszenierungen zulassen.

Im Laufe des Abends emanzipiert sich das Ensemble vom Übervater,  und Brecht katapultiert sich mit einem Videospiel selbst auf den Mond, während die Schauspieler unter Einsatz von Theaternebel und Drehbühne ins von Brecht so verhasste Reich der Illusionen entschwinden.

Die Frage, die über dem Abend schwebt – was hat Brechts Theater uns heute noch zu sagen? – bleibt offen, was nicht weiter schlimm ist. Ärgerlich ist, dass eine Antwort gar nicht ernsthaft gesucht wird. Es bleibt bei der Versuchsanordnung, den alten Brecht auf die moderne Welt treffen zu lassen. Und was da passiert, ist allzu banal: Brecht findet den via Skype zugeschalteten Helge Schneider als Bruder im Geiste „phantastisch“; wundert sich über Spock und versagt beim virtuellen Autorennen auf ganzer Linie.

Was würde Brecht dazu sagen, dass das heutige Publikum Theater nicht mehr braucht, um aus der Realität zu flüchten, weil man dies mit jedem Fernseher und Computer kann? Ist Brechts Technik der Verfremdung heute endgültig sinnlos – oder wird sie im Gegenteil wieder wichtig? Man hätte vom alten Brecht gerne mehr gehört, streckenweise wurde er von seinem Ensemble in den Hintergrund gespielt bzw. in einer an René Pollesch erinnernden Szene zusammengeschrien: Schauspieler Bauer rechnet darin mit den Bedingungen für Schauspieler am Theater ab.

„Brecht“ hat viele unterhaltsame, mitunter alberne Momente; etwa, wenn Klassiker verulkt werden: „Edel sei der Mensch, Milchreis schmeckt gut“. Insgesamt wirkt die Produktion noch ein wenig unfertig, gut einstudierte Szenen wechseln ab mit arg improvisiert wirkenden. Auch für ein Theaterlaboratorium fehlt es an Stringenz.




Ruhrtriennale: Heiner Goebbels zeigt in „Stifters Dinge“ Kunst als Ablauf mechanischer Vorgänge

Friedhof der Klaviere: die zentrale Installation für "Stifters Dinge". Foto:

Friedhof der Klaviere: die zentrale Installation für „Stifters Dinge“. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Nun hat Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels selbst Hand angelegt. Als Konzeptkünstler, Regisseur und Komponist hat er dem Festival seinen ureigenen Stempel aufgedrückt. Auf dem zu lesen ist: „Stifters Dinge“. Angekündigt als Klavierstück ohne Pianisten, Theaterstück ohne Schauspieler und als Performance ohne Performer.

Goebbels misstraut offenbar dem Menschen auf der Bühne, setzt stattdessen auf die Macht der Elektronik, des Maschinellen. Zu sehen ist eine Installation, die wirkt wie das Ergebnis von jungenhafter Begeisterung an der Bastelei – mitsamt der hellen Freude, dass alles prächtig funktioniert.

Das Stück, wenn wir es so nennen wollen, passt also prima in die Duisburger Kraftzentrale, einst das energiespendende Herz für die Herstellung von Stahl. Denn auf der „Bühne“ laufen vielschichtige Arbeitsprozesse ab. Diesmal allerdings zur Erzeugung von Lauten, Klängen, bildlichen Illustrationen, Textauszügen. Die allesamt offenbar eine herbe Zivilisationskritik ausdrücken wollen: Der Mensch zerstöre mehr und mehr die schöne Natur. Goebbels erweist sich damit als Anwalt des französischen Philosophen und Ethnologen Claude Lévi-Strauss.

Aber zunächst wird eben jene Schönheit beschrieben, ertönt aus dem Lautsprecher „Die Eisgeschichte“ Adalbert Stifters, eine literarische Verneigung vor den Geheimnissen eines winterlichen Waldes, einer Terra incognita. Doch Lévi-Strauss verneint kurz darauf in einem eingespielten Interview, dass es auf der Welt noch unberührte Orte gebe. Und Vertrauen in die Menschheit, nein, das habe er nicht.

Natur - das ist nur noch eine Frage der Projektion. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Natur – das ist nur noch eine Frage der Projektion. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Solcherart Pessimismus spiegelt sich nicht zuletzt im zentralen Bühnenaufbau wieder. Fünf (präparierte) Klaviere – zum Teil sind es nur noch deren Torsi – hat Ausstatter Klaus Grünberg an einer Wand aufgeschichtet, dazwischen blattlose Baumkrüppel gesetzt. Wie ein Instrumentenfriedhof wirkt das (oder doch wie ein Altar mechanischer Kunsterzeugung?), dementsprechend wird ein musikalisches Aufzucken inszeniert, das sich in pochenden, knarzenden Geräuschen ausdrückt oder in fragmentierten Läufen, wilden Figurationen. Nur einmal erreicht uns ein Hort der Ruhe: wenn plötzlich der langsame Satz aus Bachs „Italienischem Konzert“ erklingt und aus drei großen Wasserbecken sanftes Plätschern zu vernehmen ist.

Ähnlich mag Jacob van Ruisdaels Waldbild, als Illustration von Stifters Erzählung, unser Gespür von Ästhetik erfreuen. Doch die farblichen Veränderungen, die das projizierte Gemälde alsbald ereilen, machen alles Wohlgefühl zunichte. Sodass uns Goebbels einerseits verstört zurücklässt. Verhindern aber kann er nicht, dass diese besondere, rätselhafte Art politischen Theaters für manche lediglich ein technisches Faszinosum darstellt. Gleichwohl – der Applaus ist höflich.

Weitere Vorstellungstermine sowie Informationen über eine „Unguided Tour“ unter www.ruhrtriennale.de

 

(Der Text ist in ähnlicher Form zunächst in der WAZ erschienen.)




Ruhrtriennale: Körper-Studie mit allen Mitteln

Foto: Eva Würdinger

Foto: Eva Würdinger

Mann und Frau begegnen sich – man sollte meinen, dass zu dieser Konstellation auf der Bühne kaum mehr Neues erzählt werden kann. Von wegen!

Im Choreographischen Zentrum PACT Zollverein trafen Meg Stuart und Philipp Gehmacher aufeinander. Die renommierte US-amerikanische Choreografin und ihr Kollege aus Österreich arbeiten inzwischen seit Jahren fruchtbar zusammen; diesmal banden sie außerdem den Video- und Installationskünstler Vladimir Miller ein. Das Ergebnis heißt „The fault lines“ – übersetzt etwa „Bruchlinien“, jene Störungslinien, die zum Beispiel nach Erdbeben im Gestein sichtbar werden. „The fault lines“ auf der Bühne ist das Zusammenspiel zweier Systeme, die nicht kompatibel sind.

Zu Beginn stehen Mann und Frau sich gegenüber, gehen aufeinander zu – ganz neutral, ohne erkennbar freundliche oder feindliche Absicht. Doch kaum, dass sie einander zu nahe kommen, reagieren die beiden Systeme unwillkürlich und autonom. Was auch immer der eine Körper macht – dem anderen scheint es unmöglich, sich der Bewegung des Gegenübers anzupassen, darauf einzugehen. Sie klammert sich an ihn – er versucht, sie abzusetzen. Sie flieht – er versucht, sie einzufangen. Er streckt die Arme aus – sie entwindet sich. Stuart und Gehmacher zeigen Dutzende solcher kurzer, heftiger Kontakt-Reaktionen, perfekt choreographiert wie ein Wrestling-Kampf, die meist in einem erschöpften Aufeinander-Liegen am Boden enden – bevor ein neuer Versuch beginnt.

Was da auf der Bühne stattfindet, ist kein Kampf der Geschlechter und auch nicht das ewige Spiel des Anziehens und Abstoßens. Wenn Philipp Gehmacher seinen Armen und Händen fast hilflos und erstaunt dabei zusieht, wie sie autonom, scheinbar ohne sein Zutun agieren, wird deutlich: Auf dieser kargen, einem Schuhkarton ähnlichen Spielfläche werden Körper-Studien betrieben.

Vladimir Miller filmt die beiden bei ihren Studien, fokussiert, filtert Details und definiert die Beziehung der Körper mit Hilfe seiner Kamera neu: Auf der Leinwand hält der Mann plötzlich den Kopf der Frau zwischen seinen Händen – tatsächlich aber steht er einige Meter von ihr entfernt.

Am Ende verschmelzen Performance und Video-Projektion: Er hält sie fest auf dem Boden, umklammert sie; sie ragt suchend die Arme in die Luft, und Miller zeichnet auf die Projektion ihrer Körper. Er zeichnet vorsichtig erkundend feine, zitternde Linien auf die beiden Körper. Es sind Störungslinien. Ein starker Moment, eine überzeugende Studie mit den Mitteln darstellender und bildender Kunst.

„The fault lines“ ist noch einmal am 21. September zu sehen.




Jung sein war für sie keine Frage des Alters: Zum Tod der Schauspielerin Helga Uthmann

Für viele war sie der „Inbegriff von einer Schauspielerin“ und so mancher schaute sich ein Stück nur an, um sie zu erleben: Die Kammerschauspielerin Helga Uthmann ist gestorben.

Als Journalistin hat man Termine, auf die man sich freut und solche, zu denen man sich schleppt. Helga Uthmann zu treffen, war jedes Mal wie ein Lichtstrahl. Stets sorgsam gekleidet, die Haare hoch gesteckt, so zuvorkommend, so freundlich, so lebensfroh und interessiert an ihrer Umwelt, an ihrem Gegenüber. Und so aufgeregt.

Das Theater Dortmund trauert um Helga Uthmann. (Screenshot www.theaterdo.de)

Das Theater Dortmund trauert um Helga Uthmann. (Screenshot www.theaterdo.de)

Jahrzehnte auf der Bühne waren wie weggewischt, wenn Helga Uthmann plötzlich selbst im Zentrum des Interesses stand. Kein Regisseur, kein Text, keine Vorgaben. „So privat zu sein! Grauenhaft! Ich möchte weglaufen“, rief sie einmal an einem Theaterabend, der ihr gewidmet war. Und das von einer Frau, die allein am Schauspiel Dortmund 30 Jahre lang zum Ensemble gehörte.

Niemals eine Diva

Doch Helga Uthmann wollte nie Diva oder Grande Dame sein. „Theatermama“ nannten sie manch jüngere Kollegen liebevoll. Sie selbst sprach gern von sich als der „komischen Alten“. Und komisch sein, das konnte Helga Uthmann. Wenn sie lachte, dann mit dem ganzen Gesicht, dem ganzen Körper, der ganzen Seele. Ein Lachen, dem sich keiner entziehen konnte.

Es passte zu ihr, diesem so sympathischen Menschen, dass ihr Werdegang buchstäblich auf der Straße anfing, beim Theaterspiel unter Freunden. „Ich war die böse Schwiegermutter. Die Prinzessin fand ich ungeheuer langweilig“, erzählte sie mir einmal in einem Interview. Glamour, Allüren – Fremdworte für sie.

„Ich komm‘ schon noch“

Helga Uthmann legte keine aalglatte Karriere hin. Nach der Folkwangschule blieben viele ihrer Kollegen in Essen – sie ging an das Kleine Theater in Mülheim. Und erlebte eine anstrengende, eine prägende Zeit, in der vom Soufflieren bis zum Wände anmalen alles dazu gehörte – fast wie in einer freien Gruppe. Selbst die ersten Auftritte vor dem Publikum fand sie abschreckend: so fremd, so ausgeliefert. Und doch dachte sie bei sich: „Ich komm‘ schon noch“.

Bemerkenswert an Helga Uthmanns Weg ist, dass er immer auch einer jenseits der Zeit war: Am Anfang lagen ihr die jungen Rollen nicht und sie freute sich über jedes Jahr des Älterwerdens – später ab schien sich ihre Lebensspirale andersherum zu drehen. „Ich werde innerlich immer jünger. Ich bin noch 30″, sagte sie mir, als sie vom Papier her 75 war.

Diese unbändige Spiellust

Wer sie in Mathias Franks Inszenierung von Peter Turrinis „Josef und Maria” mit Claus Dieter Clausnitzer erlebt hat, weiß, was das für die Bühne bedeutete: so voller Lebenslust, so kraftvoll und bezaubernd das Sein umarmend war sie da zu sehen, dass die Zuschauer nur so in das Stück pilgerten. Sie wollten erleben, wie diese beiden vermeintlich Alten plötzlich Tango tanzten, Wange an Wange, jede Widrigkeit des Lebens verlachend. Jung sein ist keine Frage des Alters.

Man konnte sich regelrecht vorstellen, dass Helga Uthmann auch schon mal vor einer Vorstellungen laut brüllte: „Ich hab‘ Lust! Ich hab‘ Lust!“

Und doch sagte Helga Uthmann vor fünf Jahren, ihre Kraft lasse nach, sie wolle kürzer treten. Jürgen Kruses Ruf ans Schauspiel Köln ist sie trotzdem noch einmal gefolgt, als der sie anbrüllte: „Und wenn Du 130 wärst – Du spielst!”

Sie ist leider nicht 130 geworden.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen Menschen, der so wundervoll warmherzig war, so groß im Leben und auf der Bühne. Für Helga Uthmann war es ein Kompliment, wenn jemand sie bodenständig nannte. Oder, wie sie es sagte: „Ich muss auch mal dreckige Hände haben und in der Erde wühlen.“




„Der Parasit“: Komödie zum Saisonauftakt am Düsseldorfer Schauspielhaus

Die Büromöbel stehen noch halbausgepackt auf Plastikfolie, das Vorzimmer des Ministers sieht in prekärer Pressspanoptik aus wie die neuen Räumlichkeiten eines IT-Startups: Ach, und da wird auch schon der erste gefeuert. Buchstäblich auf die Straße geworfen wird der arme Teufel mit der Nerd-Brille, weil sein Kindheitsfreund Selicour (Florian Jahr) ihn ganz übel ausgebootet hat. Doch La Roche (Christian Ehrich) ist nicht das einzige Opfer des „Parasiten“, im Laufe der nächsten anderthalb Stunden bringt der eiskalte Karrierist Selicour noch einige Kollegen zu Fall – bis er selber stürzt.

Foto: Kurt Michel/pixelio

Foto: Kurt Michel/pixelio

Zum Saisonauftakt zeigt das Düsseldorfer Schauspielhaus die von Friedrich Schiller übersetzte französische Komödie „Der Parasit“ im kleinen Haus. Regisseur Nurkan Erpulat hat die Schillersche Bearbeitung von 1803 in die Gegenwart geholt und inszeniert Bürotypen von heute beim Mobben und Gemobbtwerden. Das allerdings mit pointensicherem Rhythmusgefühl, exzellenten Schauspielern und treffendem Witz, so dass ein fluffiger Abend von leichter Hand dabei herauskommt. Als wäre noch Sommer.

Der smarte Selicour im feingestreiften Anzug mit rosa Innenfutter ist zunächst einmal ein Kommunikationsgenie und verkörpert das Klischee eines Marketing-Fritzen, wie sie heutzutage in Wirtschaft, Kultur und Politik sphärenübergreifend herumhampeln. Er quatscht mit jedem, kann mit der Mutter des Ministers (Verena Reichhardt) ebensogut wie mit jenem selbst und empfindet das durchaus als seinen Verdienst: Networking muss man eben beherrschen, wenn man Karriere machen will und wer die richtige Performance nicht drauf hat, bleibt halt auf der Strecke, das ist ja nicht sein Problem.

Außerdem ist der Parasit ziemlich gut im Delegieren, auch das muss ein Manager können. So luchst er dem braven, langgedienten Beamten Firmin (Dirk Ossig) das Memorandum ab, das er abends abliefern muss und gibt es als seines aus. Mal ehrlich, machen Chefs das nicht immer? Da ihm fürs Songschreiben das Gefühl fehlt, bequatscht er den scheuen Retro-Hippie Karl (Marian Kindermann), sein Liedchen abzutreten, mit dem die Tochter des Ministers (Patrizia Wapinska) bezirzt werden soll. Na, und? Er bringt ihn ja auch groß raus auf der Party und Copyright ist sowieso passé.

In dieser Lesart wird die Rache, auf die die Betrogenen sinnen, fast schon unverständlich, da das ganze System das Parasitentum ohnehin zur Norm erhoben hat. Wer soll sich noch moralisch über Schleimerei und üble Tricks entrüsten, wenn das sowieso alle machen (sollen)? Zumal auch der Bling Bling-Minister Narbonne (Moritz Führmann), mal im Tennis-Dress, mal in Reiterkluft, mehr an sportlichen Events als an irgendwelchen Regierungsgeschäften interessiert ist. Klar, hat er lieber Leute um sich, die seinen Lebensstil kopieren als solche Aktenfresser, die ihn an die eigene Pflichtvergessenheit gemahnen. Da stinkt der Fisch vom Kopfe her.

Foto: Sassi/pixelio

Foto: Sassi/pixelio

Für alle Sozialromantiker, die die Gesetze des Marktes und ihrer (verantwortungslosen) Akteure noch nicht begriffen haben, gibt’s aber im Schauspielhaus den guten alten Schiller-Schluss. Mittels List der rechtschaffenen Leute wird der Parasit überführt und der gerechten Strafe zugeführt. Die Welt hat einen Smartie weniger. Blöd nur, dass die immer so bunt nachwachsen.

Infos und Karten:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Gedanken zum Tod von Otto Sander

Otto Sander ist tot. Ein Schlag in die Magengrube, als ich das gelesen habe. Otto Sander, dieses Gesicht, diese Stimme.

Otto Sander hat mir bewiesen, dass man sich auch in eine Stimme verlieben kann. Als ich damals Oscar Wildes „Das Gespenst von Canterville“ hörte, da wusste ich zunächst nicht, dass ich Otto Sander lauschte. Ich war einfach verzaubert, von dem Kratzen, der Tiefe, diesem einzigartigen Klang, der die Geschichte zu Bildern formte. Otto Sander war schon mit seiner Stimme ein Schauspieler. „Das Gespenst von Canterville“ gehört seitdem für mich zu den Klängen, die Weihnachten einläuten.

Wirkung

Ich will hier nichts schreiben von Otto Sanders Biographie, seinen vielen Auftritten, mit wem und wann er gearbeitet hat – das können andere viel besser, das wäre anmaßend von mir. Ich kann nur schreiben über die Wirkung, die Otto Sander auf mich hatte.

Da gibt es zwei Worte, die für mich unbedingt zu ihm gehören: Tiefe und Authentizität. Otto Sander konnte selbst den kleinsten Dingen Bedeutung geben, nichts an ihm erschien banal oder oberflächlich. Das Gesicht, so voller Furchen, jede einzelne die Verheißung einer Geschichte, die Augen, so bodenlos. Das ist es, was ich nicht vergessen werde, die Stimme, das Gesicht.

An der Bar

Dann gab es noch diesen Abend, eine Lesung mit Benjamin von Stuckrad-Barre im Schauspielhaus Bochum. Er habe, erzählte der Autor, Otto Sander gerade an der Bar gesehen – vielleicht käme er ja später noch dazu. Immer wieder an diesem Abend erwähnte Stuckrad-Barre Otto Sander. Ich weiß gar nicht, ob er schlussendlich wirklich in den Saal, auf die Bühne kam, so lange ist das schon her. Aber im Grunde war das auch unnötig. Es war einfach dieses Bild, das blieb: Otto Sander, an der Bar, vielleicht rauchend, vielleicht ein Glas vor sich, vielleicht allein.

Danke für viele unvergessliche Momente.