Ruhrtriennale: Seltsame Rituale in Harry Partchs Instrumenten-Wunderland

"Zeit des gemeinsamens Vergnügens" heißt diese Szene des Partch-Theaters. Foto:

„Zeit des gemeinsamens Vergnügens“ heißt diese Szene des Partch-Theaters. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Das erste Wort gönnen wir Karl Valentin: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Die Erkenntnis des Münchner Komikers und Sprachkünstlers kommt uns alsbald in den Sinn, wenn wir vor dem Bühnenbild stehen, das vor allem eine Anordnung überwiegend riesiger, seltsamer Instrumente zeigt, das „Orchester“ des amerikanischen Komponisten Harry Partch.

Darin wuseln Solisten herum, die gleichzeitig Musiker, Sänger, Schauspieler und Pantomimen sind. Die bisweilen winzig klein wirken, wie Arbeiterfiguren in einem Baukasten fürs experimentierfreudige Kind.

Zumal sie hauptsächlich in bunter Werktätigenkluft, teils hübsch-hässlich den Prekariatsstandard erfüllend, sich an ihren klingenden „Maschinen“ zu schaffen machen. Auf dass eine wahrhaft un-erhörte, sirrende, flirrende, motorische Musik erklinge. Mit Anlehnungen an asiatische und afrikanische Exotismen. Was alles einem großen Ritual gleichkommt, das Partch „Delusion oft the Fury“ betitelt hat. Integrales Theater heißt diese Mixtur aus Klang, Sprache, Szene und Licht im Fachjargon – Richard Wagner hatte 100 Jahre zuvor vom Gesamtkunstwerk gesprochen.

Und die Ruhrtriennale, Heiner Goebbels’ Experimentallabor des Theatralischen, hat dem Amerikaner nun in Bochums Jahrhunderthalle ein Podium gegeben. Wir staunen, horchen auf ob verquerer Rhythmen und neuer Tonwelten, ergeben uns einem exzessiven Ritual, das indes alsbald tönende Züge der amerikanischen Minimalisten trägt. Kurzum: Die anfängliche Faszination weicht dem Wunsch, nun doch zum Ende zu kommen.

Der amerikanische Komponist Harry Partch. Foto:

Der amerikanische Komponist Harry Partch. Foto: Schott-Archiv/Andersen

Wer war Harry Partch? Einer jener amerikanischen Komponisten, die, fernab der Traditionen des alten Europa, eine eigene musikalische Sprache suchten. Der dabei mindestens so radikal zu Werke ging wie sein Landsmann John Cage. Der das wohltemperierte System, das eine Oktave in fünf schwarze und sieben weiße Tasten unterteilt, scharf ablehnte und eigene Skalen entwickelte. Zugleich tüftelte und baute Partch an einem neuen Instrumentarium. Allem voran ein „Chromelodeon“, ein Harmonium, bei dem eine Oktave 43(!) Tonhöhen zählt. Andere Skurrilitäten heißen „Gourd Tree“, ein baumartiges Gebilde aus Kürbisflaschen, oder „Marimba Eroica“, ein riesiges Marimbaphon mit nur vier wuchtigen Klangplatten.

Schon dies lässt erahnen, dass es sich bei Partch um einen Freak der Musikszene handelte. Wie denn auch die meisten Figuren in seinem zweiteiligen Instrumentaltheaterstück „Delusion oft he Fury“ äußerst freaky daherkommen. Obwohl doch ernste Dinge verhandelt werden, einerseits der reuevolle Bußgang eines Mörders, zum anderen der aus einem Missverständnis herrührende Konflikt, der vor Gericht schiedlich-friedlich gelöst wird – wenn auch von einem nahezu taubblinden Richter.

Triennale-Intendant Heiner Goebbels erlaubt sich hier als Regisseur eine amerikakritische Spitze, indem er den Richter als übergroße „Kentucky Fried Chicken“-Pappfigur zeichnet. Die Anspielung, dass auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten das Fressen vor der Moral kommt, hätte Partch gewiss gefallen. Er selbst, 1901 geboren, erlebte in den USA die „Große Depression“ der 30er Jahre, schlug sich zeitweise als Hobo durch. Solcherart Landstreicher wird im zweiten Teil von „Delusion“ übrigens zur Hauptfigur. Dort mümmelt er, taub und arm, im Wasser sitzend, sein karges Mahl. Im Disput mit einer Ziegenhirtin kommt es zum oben erwähnten Konflikt. Am Ende aber wird der große Versöhnungsgesang angestimmt: „Pray for me“. Ob die rot ausgeleuchtete Bühne (Klaus Grünberg) nebst kleiner Flämmchen eine Art Vorhölle sein soll?

Das Instrumentarium als Werkbank. Foto:

Sonderbares Instrumentarium als Werkbank im hellen Licht. Foto: Wonge Bergmann, Triennale

Manches mag nach geschäftiger Aktion klingen, doch alles geschieht in höchster Strenge. Die Buße und Läuterung eines Mörders lässt Elemente des japanische No-Theaters erkennen – Klangfarben, die Gewandung der Hauptfigur und die rituelle Bedeutung fließenden Wassers deuten darauf hin. Der zweite Teil trägt hingegen afrikanische Züge. So gesehen, hat auch Partch nicht im luftleeren Raum gearbeitet.

Schwer zu tun hat zudem, in vielfältiger Funktion, das Ensemble musikFabrik. Anziehen, umziehen, schreiten, umherhuschen, singen, sprechen, musizieren – ein Mammutprogramm. Damit nicht genug: Partchs Original-Instrumentarium musste Stück für Stück nachgebaut werden – für Thomas Meixner und sein Team eine Herkulesarbeit.

So steht an diesem Abend Bewunderung neben Verstörung. Das letzte Wort geben wir dem Rockmusiker Frank Zappa: „Ich mag den Klang der Instrumente … aber gleichzeitig denke ich, das Zeug läuft und läuft und läuft und läuft und läuft zu lange.“




Krieg im Eigenheim: Rimini Protokoll bei der RuhrTriennale

Wie erleben wir Krieg? Im Autoradio, wenn berichtet wird, dass Obama den Militärschlag gegen Syrien vorbereitet. Im Fernsehen, wenn wir Szenen sehen aus dem Sudan, aus Gaza, aus Afghanistan. Doch wissen wir wirklich etwas von den Menschen, die das Kriegshandwerk betreiben und von ihren persönlichen Lebensumständen? Können wir uns in das Schicksal von Opfern und Flüchtlingen hineinversetzen?

Die Theatergruppe Rimini Protokoll hat jetzt bei der Ruhrtriennale mit „Situation Rooms“ ein Projekt realisiert, das die Organisation des Krieges bis zu einem gewissen Gerade erfahrbar macht. Das die Planspiele, Kalküle, Geschäfte und technischen Voraussetzungen beleuchtet, indem die Biographien von Menschen erlebbar werden, für die Krieg Alltag, Beruf, Schicksal oder die Aussicht auf einen fetten Gewinn ist.

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Zugegeben, ich war ein wenig skeptisch, als ich mich mit den 19 anderen Besuchern des Abends in der Turbinenhalle in Bochum versammelte und auf ein zusammengezimmertes Haus mit vielen nummerierten Türen blickte, das wie ein Bühnenbild der Volksbühne wirkte: Tasche einschließen, Pfand abgeben, Kopfhörer aufsetzen und i-Pad am Stil in die Hand nehmen. Bitte an Tür 6 aufstellen und sobald der Film losgeht, den Anweisungen auf dem Bildschirm folgen, der würde mich dann durch Villa Wahnkrieg führen.

Hilfe, bin ich jetzt Duke Nukem? Muss ich gleich einen Waffenhändler küssen? Schlimmer: Ich werde selbst zum Waffenproduzenten. Zu einem, der im gemütlichen Schweizer Akzent die Vorteile seiner Präzisions(mörder)geräte darlegt und mich im Rundgang durch seine Firma an einer Werkbank vorbeiführt, wo die Familienfotos des Mechanikers hängen.

Doch kurz darauf wechsele ich die virtuelle Rolle, setze den Schutzhelm auf und berichte als dpa-Kriegsfotograf, wie vielleicht jenes maßgefertigte Schweizer Gewehr den Rebellen tötet. Da das Haus der Realität viele Zimmer hat und die Beziehungen ihrer Bewohner verschlungen sind, liege ich eine Viertelstunde später angeschossen (keine Angst, Blut fließt nur auf dem i-Pad) auf einem syrischen Balkon und muss vom Arzt ohne Grenzen im Feldlazarett behandelt werden. Der stuft mich allerdings als minderschweren Fall ein, klebt mir einen gelben Punkt auf die Hand, der bedeutet „Behandlung verschoben“ und schickt mich ein Zimmer weiter. Hier serviere ich einer Flüchtlingsfamilie aus Libyen Tee und lasse mir ihre Geschichte erzählen, während die Kinder herumtoben. Jetzt bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich zuvor als Bankmanager dem Diktator Kredit gegeben habe, damit er Panzer kaufen kann.

Das Konzept von Rimini Protokoll geht gnadenlos auf, denn die Subjektivierung durch das Rollenspiel funktioniert tatsächlich. Sicher ist man sich der Distanz zur jeweiligen virtuellen Rolle, die man einnimmt, immer bewusst. Aber genau das lässt einem den nötigen Raum, den man zur Reflexion braucht: „Ich lebe in einem demokratischen Industriestaat und fahre im Urlaub zum Wandern in die Schweizer Alpen“, könnte ich über mein Leben sagen. Jemand anders hat es nicht so gut getroffen, der krepiert im Häuserkampf. Er ist mir sehr fern; er lebt in einer Parallelwelt, in die ich mich nun einlogge. Nach anderthalb Stunden logge ich mich wieder aus. Er nicht.

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Situation Rooms: Rimini Protokoll, Ruhrtriennale. Foto: Jörg Baumann

Das Setting von „Situation Rooms“ ist eine Kunstwelt, die Biographien der Protagonisten sind real, sie basieren auf dokumentarischem Material, wie die Gruppe Rimini Protokoll es gerne verwendet. So wird Krieg konkret, denn er wird von Menschen gemacht. Keinen bösen Menschen, sondern solchen, die einfach nur ihrem Job nachgehen – ganz banal.

Ich steige auf eine Leiter und schaue den kreisenden Drohnen zu. Ein Mitspieler hisst die Flagge von irgendeinem Krisenstaat, sie klirrt im künstlichen Wind. Ich salutiere – man kann ja nie wissen, vielleicht werde ich gerade beobachtet.

Infos und Termine: www.ruhrtriennale.de




Ruhrtriennale: Letzte Abenteuer auf dem Schlachtfeld des Theaters

Foto: Jörg Bauman

Foto: Jörg Bauman

Menschen lieben Geschichten, und wo ihnen keine angeboten wird, basteln sie sich aus dem, was sie wissen, selbst eine zurecht. Insofern ist jedes Stück postdramatisches Theater, das rein mit Stimmungen, Motiven und Versatzstücken arbeitet, eine Herausforderung für den Wahrnehmungsapparat.

Der Zuschauer muss akzeptieren, dass er höchstens das Thema zu fassen bekommt – und die ewige Suche nach dem Sinn aufgeben. Die britische Künstlergruppe Forced Entertainment unter der Leitung des Regisseurs Tim Etchells hat dieses Prinzip perfektioniert. In der weiten, offenen Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck zeigte sie für die Ruhrtriennale „The Last Adventures“, letzte Abenteuer.

Die Produktion ist eher Performance denn Schauspiel. Sie hat eine Choreografie, aber – für „Forced Entertainment“ durchaus untypisch – fast keinen Text. Sie hat keine Rollen, dafür aber Kostüme und Ton. Ebenso wichtig wie das Spiel der Darsteller, wenn nicht sogar tonangebend, ist die Sound-Collage, die der libanesische Klangkünstler Tarek Atoui mit einem selbst entwickelten Instrument live auf der Bühne erzeugt.

Zu Beginn erklären die 16 Darsteller einander die Naturgesetze und versichern sich im Chor der Welt: „Sterne können nicht vom Himmel genommen werden“, rufen sie aus einem Mund, „Zeit kann man nicht sparen. Ein Gewehr kann nicht denken. Was wir tun, ergibt keinen Sinn.“

Zuletzt sind die Worte kaum mehr zu hören – das Soundgewitter setzt ein, ab jetzt übernehmen Bild und Klang die Regie. Ein Darsteller nach dem anderen verlässt den Chor, nimmt einen Baum aus unbemaltem Sperrholz  und schiebt ihn von rechts nach links über die Bühne. Wer nun an das Motiv des wandernden Waldes bei Macbeth denkt, liegt vielleicht richtig – vielleicht auch nicht. Es ist das erklärte Prinzip von „Forced Entertainment“, Zuschauererwartungen zu unterlaufen. Immer wenn man glaubt, einen erzählerischen Faden gefunden zu haben, wird er durchtrennt.

Aus dem Wald wird ein Schlachtfeld. Mit Kochtopf-Helmen und Besen-Säbeln inszeniert die Gruppe das Gemetzel eines vielleicht napoleonischen Krieges: Man sieht Leiber zucken, Soldaten robben, töten und marschieren, Verletzte werden abtransportiert, weiße Fahnen geschwungen. Eine lineare Handlung ergibt sich jedoch nicht, der Fokus liegt auf den Trash-Effekten, die die Darsteller verstörenderweise mit großer Ernsthaftigkeit produzieren: Rote Bänder simulieren spritzendes Blut und herausquellende Gedärme, die Toten tragen Skelett-Kostüme.

Foto: Jörg Bauman

Foto: Jörg Bauman

Später betritt ein von drei Darstellern geführter Lindwurm die Szenerie, es folgen Roboter in Alufolien-Kartons, Feen in Gardinenstoffen und Könige mit Papp-Krone. Ein Mann mit Axt verfolgt einen Baum, dann verfolgt der Baum die Axt. Wir sind tief in der Fantasy-Welt, die Naturgesetze gelten nicht länger, und die Maschinenhalle wird zur Bühne für ein Genre-Mashup aus Theater- und Film-Effekten.

Documenta-Teilnehmer Tarek Atoui steht derweil hinter seinem Sound-Pult und bietet fast eine One-Man-Show: Seine Hände fahren durch die Luft, beschreiben Kreise und Gesten und produzieren dadurch auf seinem Instrument elektronisch verzerrte, fragmentarische, collagierte Klanggebilde.

Der Abend ist eine Total-Überforderung – für die Augen, die Ohren, die Sinne. Die durchaus vorhandenen komischen Momente retten den Zuschauer nicht über den Abend. Denn letztlich gibt es kein Motiv, das hängenbleibt – weder textlich noch bildlich oder akustisch. Die Sinnsuche aufzugeben, das fällt einfach schwer. Der Applaus blieb verhalten, vereinzelt waren Buh-Rufe zu hören.




RuhrTriennale: Tanz-Skulptur auf der Halde

Levée des conflits / Ruhrtriennale

Levée des conflits / Ruhrtriennale

Das Stück beginnt, und nach wenigen Minuten haben die Zuschauer oben im Amphitheater auf der Halde Haniel in Bottrop alles gesehen. Das können sie zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wissen. Erst mit zunehmender Dauer von Boris Charmatz‘ Choreografie „Levée des conflits“ (Die Aufhebung der Konflikte) erahnt man das Prinzip, begreift die Struktur im vermeintlichen Chaos.

Der französische Tänzer und Choreograf, der schon vor einem Jahr bei der Ruhrtriennale mit seinem Mensch-Maschine-Stück „enfant“ für Aufsehen sorgte, lässt die 24 Tänzer diesmal kein Stück in klassischem Sinne aufführen. Es gibt weder Thema noch Handlung, keine Entwicklung und kaum tänzerische Interaktion. Vielmehr bildet Boris Charmatz eine kinetische Skulptur. Er schafft mit tänzerischen Mitteln ein Stück bildender Kunst auf der Bühne – ein Perpetuum Mobile aus einem festgelegten Bewegungskanon, der von den Tänzern zeitversetzt ausgeführt wird.

Es beginnt mit einer Tänzerin. Sie setzt sich auf das mit Rasen ausgelegte Bühnenrund und streicht weit ausholend übers Gras, als würde sie sich einen Schlafplatz zurechtmachen. Etwa eine Minute später die nächste Figur: Sie streckt den Hintern gen Luft und schiebt ihn nach links und rechts wie eine Katze. Eine Minute später steht sie und schlägt, beide Armen vor- und rückschleudernd, auf Brust und Rücken zugleich. Eine Minute, dann folgt ein maschinenähnliches Hantieren mit unsichtbaren Geräten, das einem nicht zu durchschauenden Ziel folgt.

Minütlich folgen weitere Bewegungsabläufe, und längst sind weitere Tänzer in Straßen- oder Sportkleidung auf die Bühne gekommen. Ohne erkennbar Notiz voneinander zu nehmen, führen sie die gleiche Abfolge aus, jeder in seinem Tempo, jeder in seinem Stil – bis zwei Dutzend Tänzer gleichzeitig auf der Bühne sind. Sie rollen und winden sich über den Boden, hüpfen und springen, drehen sich um die eigene Achse, lassen sich zu Boden werfen und wieder aufhelfen, fließen weich wie eine Welle durch den Bühnenraum und scheinen alle Möglichkeiten auszukosten, ihn mit dem eigenen Körper zu erkunden. Dazu läuft eine Sound-Collage: Mal sind es HipHop-Fetzen, mal avantgardistische Neue Musik, mal industrielle Geräusche, mal alles zugleich.

Irgendwann scheinen sich die Tänzer wie zufällig zu formieren: Es zentriert sich ein strudelartiges Knäuel in der Mitte, dann am Rand. Obwohl jeder für sich arbeitet, bilden sie doch erkennbar ein Ganzes. Es braucht seine Zeit, diesen irgendwann sogar meditativen Rhythmus zu erkennen und es letztlich zu genießen, seine Augen in dem Strudel treiben zu lassen, der ständig wiederkehrende und doch neue Bilder produziert.

Die nötige Muße dazu kam allerdings wetterbedingt nur schwerlich auf. „Das Stück ist sowieso chaotisch, aber heute Nacht ganz sicher“, hatte Charmatz vor Beginn mit Blick auf das Wetter angekündigt. Der leichte Regen wurde im Laufe des Stücks immer heftiger, so dass die Compagnie des „Musée de la Danse“ aus Rennes sich am Ende entschloss, die Aufführung etwas abzukürzen. Dankbarer, dennoch begeisterter Applaus.




Entdecker gesucht: Die Ruhrtriennale 2013 beginnt mit Musik von Harry Partch

Heiner Goebbels, Komponist und Intendant der Ruhrtriennale (Foto: Wonge Bergmann)

Heiner Goebbels, Komponist und Intendant der Ruhrtriennale (Foto: Wonge Bergmann)

Heiner Goebbels hält seine Emotionen zurück. Zehn Tage vor Beginn der diesjährigen Ruhrtriennale, die vom 23. August bis 6. Oktober mehr als 800 international gefragte Künstlerinnen und Künstler und 43 Produktionen präsentiert, zeigt der Festival-Intendant kaum Spuren von Aufregung oder Anspannung. Ganz auf Inhalte konzentriert, berichtet er bei der Auftakt-Pressekonferenz in Bochum von Proben, von letzten Vorbereitungen und vom reichhaltigen Eröffnungsprogramm der ersten zehn Tage.

Aber dann ergreift es den zurückhaltenden 61-Jährigen plötzlich doch. Was er in den letzten Tagen entstehen sah, hat sichtlich tiefen Eindruck hinterlassen. Zum Beispiel der Aufbau einer Installation mit 400 Pendeln im Museum Folkwang, die der Choreograph William Forsythe in „Nowhere and everywhere“ zum Geschicklichkeitsparcours für die Besucher machen will. Und die 100 Meter lange Bodenprojektion des japanischen Künstlers und Komponisten Ryoji Ikeda, der die Besucher in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord über einen gigantischen virtuellen Teppich aus flackernden Barcodes schickt. Dann die explosive Videoinstallation von Douglas Gordon in der Mischanlage der Zeche Zollverein. Und natürlich die Eröffnungspremiere, bei der das Musiktheaterstück „Delusion of the Fury“ des amerikanischen Avantgardisten Harry Partch seine europäische Erstaufführung erlebt.

Eine audiovisuelle Installation ist der 100 Meter lange Barcode, die der Japaner Ryoji Ikeda in der Kraftzentrale des Landschaftsparks-Nord in Duisburg projiziert (Foto: Zan Wemberley)

Eine audiovisuelle Installation ist der 100 Meter lange Barcode, den der Japaner Ryoji Ikeda in der Kraftzentrale des Landschaftsparks-Nord in Duisburg projiziert (Foto: Zan Wemberley)

Als „Riesenabenteuer“ bezeichnet Goebbels die Aufführung dieses Spät- und Schlüsselwerks in zwei Akten, das er an der Schnittstelle von Pop-Musik und Klassik ansiedelt. Die Musiker des Ensembles „musikFabrik“ mussten dafür nicht nur das selbst erfundene Instrumentarium des Amerikaners nachbauen lassen, sondern es auch spielen lernen. „Es ist eine sehr rhythmische, sehr körperliche Musik“, gerät Goebbels ins Schwärmen, der die Regie des Stücks übernimmt. „Alles ist sehr präzise definiert und ergibt sich direkt aus der Partitur.“ Zu erwarten ist eine Art Traumtheater, das von japanischen und afrikanischen Mythen ausgeht und, laut Programmheft, „die Versöhnung der Lebenden mit dem Tod feiert“. Die Produktion wird nach der europäischen Erstaufführung in Bochum auch in Genf und Oslo und New York gezeigt.

47.000 Tickets gibt die diesjährige Ruhrtriennale in den Verkauf, doch sind diverse Installationen und Ausstellungen auch kostenfrei zugänglich. So zum Beispiel die Zeichnungen des Rumänen Dan Perjovschi, der die Wände im Foyer der Jahrhunderthalle mit Kreideskizzen bedeckt. Was auf den ersten Blick kindlich einfach und wie spontan hingekritzelt aussieht, ist auf den zweiten Blick hintersinnig und häufig politisch motiviert. Seine Kunst ist auf Zeit angelegt: Durch Übermalung werden seine Strichfiguren und Wortspiele im Laufe der Wochen verschwinden. Bewusst lädt der Künstler die Festival-Besucher ein, seine neue Installation mit dem Titel „wall window workshop“ zu vervollständigen, zu kommentieren und zu überzeichnen. Die Lichtinstallation „Agora/Arena“ des Düsseldorfer Medienkünstlers Mischa Kuball wird das Gelände vor der Jahrhunderthalle verwandeln.

Wenig greifbar bleibt die Produktion „The last Adventures“, für die sich die Performancegruppe „Forced Entertainment“ aus dem englischen Sheffield mit dem libanesischen Komponisten Tarek Atoui zusammengetan hat. Im Gespräch finden Tim Etchells, Leiter von „Forced Entertainment“, und der libenesische Komponisten keine erhellenden Begriffe für das, was sie in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck auf die Beine stellen. Viel ist von Fragmenten und Collage die Rede, von einer vieldeutigen Live-Performance, medialen Bilderwelten und vom Experiment. „Uns war rasch klar, dass es völlig falsch wäre, den riesigen Raum der Maschinenhalle füllen zu wollen“, sagt Tarek Atoui. Die Künstler entschlossen sich stattdessen, ihn als Stimulans zu nutzen und zum Teil der Aufführung zu machen.

Schlagwerk aus Glas: Der Amerikaner Harry Partch hat das Instrumentarium für "Delusion of the Fury" selbst erfunden (Foto: Jörg Baumann)

In „Delusion of the Fury“ erklingt auch Schlagwerk aus Glas (Foto: Jörg Baumann)

Es wird dies nicht das einzige Abenteuer sein, auf das sich die Besucher der Triennale einstellen müssen. Hinter vorgehaltener Hand murren manche Beobachter über den experimentellen Charakter des aktuellen Programms, über seine angebliche Kopflastigkeit und intellektuelle Abgehobenheit. Indes spricht der Verlauf des Kartenvorverkaufs offenbar eine andere Sprache. Die Festivalmacher zeigen sich zufrieden: „Die Zahlen sind zu diesem Zeitpunkt ein wenig höher als im letzten Jahr“, sagt Lukas Crepaz, Geschäftsführer der Kultur Ruhr GmbH. Die Auslastung liegt nach Angaben der Veranstalter bei rund 70 Prozent. Für das stark gefragte Konzert von „Massive Attack“ und dem Filmemacher Adam Curtis wurde eine Zusatzvorstellung am 1. September eingerichtet.

Ausverkauft sind die Tanzperformance „CRACKz“ von Bruno Beltrão und der Grupo de Rua, das Tanzstück „Partita 2“ mit Boris Charmatz und Anne Teresa de Keersmaker und die Konzerte „Ikon of Light“ mit dem ChorWerk Ruhr und dem Ensemble Resonanz. Zu virtuellen Spielern in der Welt des Waffenhandels werden die Besucher in den 20 penibel rekonstruierten „Situation Rooms“ des „Rimini Protokolls“. Auch hier ist die Nachfrage so stark, dass täglich neue Vorstellungen eröffnet werden.

Mangelnde Aufgeschlossenheit oder Entdeckerfreude lässt sich dem Triennale-Publikum so leicht offenbar nicht nachsagen. Das stumme Forum der Journalisten, das diese Pressekonferenz ohne eine einzige Frage absaß, wirkte hingegen merkwürdig teilnahmslos.

(Informationen: www.ruhrtriennale.de. Ticket-Hotline: 0221/ 280 210)




Festspiel-Passagen IV: Salzburg – Fanatische Kämpferin, zerbrechliches Opfer

Anna Netrebko: umschwärmter Star in „Giovanna d’Arco“ in Salzburg. Foto: Silvia Lelli

Anna Netrebko: umschwärmter Star in „Giovanna d’Arco“ in Salzburg. Foto: Silvia Lelli

Die Jungfrau von Orléans, die heilige Johanna, die kriegerische Maid: Hexe und Heilige, Symbol der Nation, Identifikationsfigur in Zeiten der Unterdrückung, selbstbewusst-selbständige Frau, keusche Verkörperung eines Reinheitsideals, amazonenhafte Kriegerin, radikale Kämpferin, Bild des Edel-Erhabenen, verehrt und verspottet, unantastbar und unverstanden. Die Ikone der 1431 auf dem Scheiterhaufen hingerichteten und 1920 heiliggesprochenen Bauerntochter Johanna aus dem lothringischen Domrémy ist immer wieder neu gemalt und übermalt worden.

Voltaires Spottgedicht „La Pucelle d’Orleans“ zieht den Johanna-Mythos ins Ordinäre, diffamiert das Religiöse durch das Obszöne. Friedrich Schiller wehrt sich in seiner „Jungfrau von Orléans“ vehement gegen die abschätzige Dekonstruktion. Temistocle Solera erkennt als Librettist Giuseppe Verdis für die Oper „Giovanna d’Arco“ einen wichtigen Aspekt der historischen Rolle der Johanna, die im späten Mittelalter Euphorie und Rohheit der Masse gleichermaßen ausgelöst hat. Und in Walter Braunfels‘ „Jeanne d’Arc“ – 1939 bis 1943 in der inneren Emigration entstanden – spiegelt sich die existenzielle Unsicherheit der Zeit, der Verlust aller kultureller Gewissheit und eine entschiedene Zuwendung zum Transzendentalen, das alleine im alle Werte vernichtenden Feuerbrand Bestehen verheißt: Das Herz der Jungfrau bleibt von der Glut des Scheiterhaufens unversehrt.

Die Salzburger Festspiele haben sich mit den beiden Werken des Musiktheaters und mit Schillers „romantischer Tragödie“ einigen Aspekten des Johanna-Mythos genähert. Natürlich hätten noch andere dazu treten können: Arthur Honeggers mystisches Gleichnisspiel „Jeanne d’Arc au Bucher“ hätte dazu gepasst; Tschaikowskys heroische Tragödie „Die Jungfrau von Orléans“ auch. Aber bedauerlicher ist, dass beide Opern nur konzertant zu erleben waren: Die Chance, den Johanna-Mythos szenisch unterschiedlich auszudeuten, blieb so ungenutzt.

Das Landestheater Salzburg: Hier wird Michael Thalheimers Version von Schillers "Jungfrau von Orléans" gespielt. Foto: Häußner

Das Landestheater Salzburg: Hier wird Michael Thalheimers Version von Schillers „Jungfrau von Orléans“ gespielt. Foto: Häußner

Michael Thalheimer will uns die Schiller’sche Heldin in ihrer anachronistischen Mischung aus nationaler Entflammung, dualistischem Reinheitswahn und mystischer Entrückung nicht nahe rücken. In seiner Inszenierung, die ab September am Deutschen Theater in Berlin zu erleben ist, steht Johanna von Anfang an isoliert: Bühnenbildner Olaf Altmann richtet einen einzigen, grellweißen Lichtspot auf sie, einen Strahl aus dem Jenseits, der diese einsame Gestalt im weißen Hemd mit dem Schwert in der Hand erleuchtet. Kathleen Morgeneyer spricht die so zerbrechlich wie verhärtet wirkende Figur mit dröhnendem Überzeugungston, jenseits menschlicher Realität. Sie gehört zu den Reinen, die nicht fühlen, die nicht weinen. Alexander Khuon kotzt als sterbender Montgomery sein Leben blutig über die ungerührte Johanna aus. Liebe, Mitleid, Schuld – das sind Regungen, die im Dienst einer höheren Macht nicht zählen.

Kathleen Morgeneyer als Johanna: Die Jungfrau im Licht. Foto: Arno Declair

Kathleen Morgeneyer als Johanna: Die Jungfrau im Licht. Foto: Arno Declair

Schließlich weint sie doch, die Unberührbare, getroffen vom Blick Lionels – und damit ist ihre Mission gebrochen: Sobald die ungeheuerliche Gotteskriegerin ihre mörderische Isolation verliert, einen Kontakt mit Menschen aufbaut, der ihr Subjekt fordert, ist die Magie dahin, die Kraft gebrochen. Thalheimer lässt die Figur in ihrer Ambivalenz unberührt, erklärt nichts weg von ihrer Problematik: weder ihren glühenden Nationalismus noch ihre geradezu antichristliche Umdeutung Marias von der barmherzigen Mutter zu einer blutgierigen Göttin der Schlachten. Am Ende löst das fahl aufdämmernde Licht (Robert Grauel) die Bühne aus der Schwärze. Sichtbar wird eine gewaltige Wölbung, eine Kirche, ein Mausoleum, eine düstere Himmelskuppel. Von der Jungfrau von Orléans bleibt ein verletzliches Mädchen, das einen riesigen Schatten wirft.

Thalheimers auf zweieinviertel Stunden und 14 Rollen konzentrierte Version der Tragödie funktioniert nur, weil er hervorragende Sprecher in seinem Ensemble hat: Den eindimensional auf den heiser bellenden Krieger festgelegten Andreas Döhler als Dunois. Die Agnes Sorel der Meike Droste, die in einer starken Persönlichkeit die Ideale der Johanna teilt, aber mit menschlichen Regungen verbindet. Den markant charakterisierenden Michael Gerber als Thibaud. Und Christoph Franken als König, der sich von praktischer Vernunft, politischer Resignation und einer halb wehleidigen, halb hedonistischen Vision privaten Lebens leiten lässt: ein Schlappschwanz, dessen winselnde Ohnmacht eine gewisse innere Größe nicht abzusprechen ist.

Expressive Theatersprache: Almut Zilcher als Isabeau. Foto: Arno Declair

Expressive Theatersprache: Almut Zilcher als Isabeau. Foto: Arno Declair

Das ausgefeilteste Rollenporträt spricht allerdings Almut Zilcher als Königinmutter Isabeau: Sie stochert als dürres Gespenst in High Heels über die Bühne, jedes Wort in eine andere Klangfarbe kleidend, jeden Satz nachkomponierend. So wünscht man sich Theatersprache.

Das Sprachliche, in diesem Fall in Verdis beredte Musik gekleidet, dominiert auch die konzertante Aufführung von „Giovanna d’Arco“ in der Felsenreitschule. Vor dem Eingang ein Defilee der Kartensuchenden: Anna Netrebko und Placido Domingo sind eine Besetzung, für die Melomanen wie Adabeis einiges springen lassen.

Die Oper von 1845 gehört nicht zu den bevorzugten Werken aus Verdis mittlerer Schaffensperiode. Zu Unrecht, wie sie herausstellt. Denn Verdi experimentiert mit musikalischen Mitteln, die er später perfektioniert: Die grellen Flöten, die fahlen Farben des tiefen Holzes und die exzessive Rhythmik für das Diabolische führen zu „Macbeth“, die ätherischen Momente zu „Don Carlo“ und „Aida“. Die Emphase der groß angelegten Chöre weisen von Rossinis Finali zu Meyerbeers Tableaux. Daneben gibt es das ausgesponnene Legato Bellinis und die lyrische Intensität der Bariton-Romanzen Donizettis. Doch Verdi setzt diese musikalischen Elemente seiner Gegenwart nicht, wie die ältere Kritik abwertend behauptete, aus kreativer Verlegenheit und Zeitmangel ein. Sondern er verwendet Ausdrucksmittel der Tradition bewusst, um Figuren musikalisch zu profilieren.

Die Reinheit der fragilen Heldin

Temistocle Soleras Libretto nähert sich eher dem Oratorium und der großen Oper an – ein italienischer Reflex auf die neuen Entwicklungen der Pariser Bühne. Giovanna ist bei ihm eher ein junges Mädchen, das demütig eine überirdische Botschaft empfängt und ausführt, als eine fanatisierte Kriegerin. Im ersten Auftritt träumt sie von einer politischen Rolle, von Rüstung und Schwert; später imaginiert sie sich aus dem Fest im Königspalast zurück in ihre ländliche Heimat. Ihre Schwäche ist die unmögliche Liebe, die in diesem Fall nicht ein Engländer, sondern der König selbst von ihr begehrt. Ihre Apotheose gleicht einer Entrückung: Der Himmel entzieht die Jungfrau dem irdischen Treiben und bestätigt ihre Unschuld.

Die Reinheit Johannas ist bei Solera nicht sexuell, sondern transzendental geprägt: Schon im Prolog wird der Widerstreit der bösen Geister und der Engel in den Chören ausführlich exponiert. „Giovanna d’Arco“ verbindet dieses Motiv mit dem Vater Johannas, Giacomo, der sich als treibende Kraft des Dramas entpuppt: Sein Anklage, Johanna habe sich den bösen Geistern – und der „niedrigen irdischen Liebe“ – verschrieben, formuliert er auf dem Höhepunkt des Geschehens, in dem Moment, in dem der König Johanna gegen ihren Willen zur Patronin des Landes und zur Heiligen hochstilisiert, ihr sogar eine Kirche weihen will.

Die Hybris wie die Verleumdung kommen von außerhalb: Johanna ist das Opfer dieser Mächte, die sie in ihrem Inneren nicht berühren. Sie gehört zu den fragilen Mädchen und Frauen der italienischen Oper, denen vom Druck ihrer Umgebung der vitale Lebensatem ausgepresst wird. Mag sein, dass Verdi – wie Roger Parker im Programmheft erklärt – durch die sanfte Lyrik der Stimme der Uraufführungssängerin Erminia Frezzolini zu dieser Lösung angestoßen wurde. Auf jeden Fall fügt sie den Deutungen des Jeanne d’Arc – Stoffes eine originelle Facette hinzu.

Für Anna Netrebko ist die Partie der Einstieg in das dramatischere italienische Fach, der sich bereits mit Donizettis „Anna Bolena“ angekündigt hatte. Die Leonora in Verdis „Trovatore“ und die Lady in „Macbeth“ werden in der kommenden Spielzeit folgen. Pünktlich zur Premiere der „Giovanna d’Arco“ wurde in Salzburg auch die neue Netrebko-CD vorgestellt, auf der das zu erobernde Terrain bereits vorweggenommen ist.

Die dunkler gewordene Stimme der Sängerin hat in der Tat klangliche Fülle gewonnen, ist im Zentrum dunkelgolden üppig, entfaltet sich in der Höhe mit Substanz und Glanz. Dabei ist die gleichmäßige Tonproduktion ebenso bewahrt wie die lyrische Finesse. Im Rezitativ ihrer Auftritts-Kavatina zieht Netrebko den schönen Ton der ausdrucksvollen Gestaltung vor; die träumerische Wehmut der Giovanna, ihre kindlich anmutende Sehnsucht nach einer Rolle im Freiheitskampf wirkt mehr vorgetragen als empfunden. Doch im Duett mit dem König im ersten Akt spielt sie die gestalterischen Trümpfe voll aus: Eine der seltenen Sternstunden technisch sicheren und dramatisch erfüllten Singens, zu dem der Tenor Francesco Meli einen gleichrangigen Part beiträgt.

Mit Meli steht – endlich – wieder einmal ein Sänger auf dem Podium, bei dem man nicht das eine oder andere Ohr zudrücken muss, um ihn in die Traditionslinie überzeugender Verdi-Stimmen einzuordnen. Er hat nicht ganz die Flexibilität und den strahlenden Schmelz eines Carlo Bergonzi, kommt ihm aber sehr, sehr nahe. Druckfrei gebildete Höhe und natürlich anmutendes Legato zeichnen sein Singen aus. Dass manches Piano mit viel Kopfstimme gebildet wird und ein Crescendo nicht bruchlos gelingen kann, ist noch ein Manko. Aber Meli kann sich als Carlo VII. erfreulich positionieren. Bisher hat er vor allem das Repertoire zwischen Nemorino („Der Liebestrank“) und Alfredo („La Traviata“) gesungen – die Partie in „Giovanna d’Arco“ bedeutet also auch für ihn, einen Schritt weiter.

Tendenz zum Spielen, auch auf dem Konzertpodium: Placido Domingo als Vater Giacomo in Verdis "Giovanna d'Arco". Foto: Silivia Lelli

Tendenz zum Spielen, auch auf dem Konzertpodium: Placido Domingo als Vater Giacomo in Verdis „Giovanna d’Arco“. Foto: Silivia Lelli

Mit Jubel wurde der erst im Juli von einer Lungenembolie genesene Placido Domingo begrüßt: Er hatte mit der Rolle des Giacomo eine Partie, die sich würdig in die Reihe der markanten Vätergestalten Verdis einreiht. Verdi baut die Rolle aus, gibt ihr Gewicht und tragische Konturen: dieser Giacomo wirft seiner Tochter vorurteilsbeladen den Pakt mit teuflischen Kräften vor, muss seinen tragischen Irrtum erkennen und tief bereuen.

Domingo hat von seiner gestalterischen Kraft nichts eingebüßt, die sich auch immer wieder in einem unmittelbaren Bedürfnis nach körperlicher Rollendarstellung Bahn bricht. Seine Stimme tendiert eher zum Silber des Tenors als zur warmen Bronze eines echten Baritons. Aber diesen Jahrhundertsänger so präsent, mit dem Hintergrund seiner Erfahrung zu erleben, ist ein Geschenk. Nicht zu vergessen ist Roberto Tagliavini als Talbot, der nur im ersten Akt einige rhythmisch scharf geschnittene Sätze zu singen hat – diese allerdings mit schlankem, gut fundiertem Bass.

Mit der ambivalenten musikalischen Leitung Paolo Carignanis sich anzufreunden fällt nicht leicht: Da herrscht ein schlanker, nerviger Klang im Münchner Rundfunkorchester, prägnante Kontraste in der Ouvertüre zwischen den robusten Tutti und den ätherischen Flöten-Fiorituren und Holzbläser-Kantilenen. Die Musiker des Orchesters treffen auch die unheimliche Sphäre beim Auftritt Giacomos, das geisterhafte Gelächter der Flöte, den spitzen, bewusst banalen Rhythmus für die Dämonensprüche des glanzvoll disponierten Philharmonia Chores Wien (Walter Zeh).

Carignani lässt auch den Donizetti-Rhyhmus „abspringen“, den Verdi der Arie Giacomos („Franco son io“) im ersten Akt unterlegt. Aber er hält den Takt immer wieder unflexibel und steif, gibt zu wenig Freiheit, kann so zum Beispiel den Kontrast der Dämonen- und der Engelschöre im Finale des Prologs nicht ausformen. Das Cantabile Verdis bleibt dann flach, eingespannt in eine missverstandene Präzision, die Verdis Musik genau das unterstellt, was tunlichst zu vermeiden ist: den Leierkasten-Rhythmus der dörflichen Banda. Mit der Frage nach einer idiomatisch zutreffenden Verdi-Interpretation jenseits von preußischer Akkuratesse und traditionalistischer Schlamperei wird man sich – auch nach diesem Verdi-Jahr – noch zu befassen haben.




Tanz mit der Waldfee: artscenico-Projekt im Dortmunder Wald

Foto: dman

Foto: dman

Natürlich ist darstellende Kunst immer flüchtig. Wer an verschiedenen Tagen das gleiche Theaterstück sieht, wird niemals exakt das gleiche sehen. Die Inszenierungen von artscenico allerdings sind besonders flüchtig. Denn die Dortmunder Künstlergruppe um Rolf Dennemann setzt nicht nur Menschen, sondern vor allem Orte in Szene.

Sie macht die Besucherinnen und Besucher zum Teil der Performance. Sie produziert Bilder, die man anhalten möchte, weswegen man hilflos zur Smartphone-Kamera greift. Und sie sorgt für eine fast exklusive Einmaligkeit des Kunst-Erlebnisses: Selten sind artscenico-Produktionen häufiger als vier, fünf Mal zu sehen. Wer dabei war, kann noch lange davon erzählen.

Industrierelikte und Hotelzimmer, Bauernhöfe und Schrebergärten hat artscenico bereits inszeniert. Am vergangenen Wochenende ging es in den Evinger Süggelwald, der, wie die Ankündigung verrät, seinen Namen den Schweinen verdankt, die die Bauern früher in den Wald trieben. „4rest“ ist ein Tanzprojekt in der rauen Natur, ein Spaziergang, der den Besuchern im weichen Licht der Dämmerung eine Ahnung von den Geheimnissen des Waldes vermittelt. Konzept und Choreografie stammen von der Kölner Choreografin und Tänzerin Photini Meletiadis.

Eine Frau im leuchtend Grünen Kapuzenpullover mit einem aus Korb geflochtenen Spiel-Ball lockt die Besucher in den Wald, wirft ihren Ball – und scheucht damit eine Gruppe Waldwesen auf, die blitzschnell davonschwirren. Wer sind sie? Und wohin? Die Spurensuche beginnt, angeleitet von der elfenhaften, milde lächelnden Frau in Grün – eine Vermittlerin zwischen den Welten, die die Aufmerksamkeit bald auf eine Lichtung, bald auf einen besonderen Baumstamm lenkt. Immer wieder hält sie an, horcht in den Wald – und der Zuschauer hört erst den Kuckuck rufen und sieht dann eines dieser scheuen Wesen in sicherer Entfernung im Dickicht hocken. Die eine scheint ihr Baby zu schaukeln. Eine andere ist offenbar auf Nahrungssuche. Eine dritte verfängt sich in einem Netz – oder webt sie es? Die Zuschauer flüstern, das Laub raschelt, die grüne Fee lächelt, der Wald kühlt und tut gut.

Foto: dman

Foto: dman

Mehr und mehr verlieren die Waldwesen ihre Scheu, kommen näher, scheinen neugierig auf die vielen Besucher, die nun zum Teil der Inszenierung werden: Einige bekommen aus Wald-Fundstücken liebevoll gefertigte Puppen geschenkt. Andere werden zu Bäumen geführt, um sie zu berühren und zu umarmen. Dann nehmen sich alle an die Hand, werden von den Wesen weitergeführt und stehen plötzlich vor einem gedeckten Tisch: Es gibt Weintrauben, Kirschen, Kokosnuss und Wasser aus Paprika-Bechern.

Offenbar sind die menschlichen Besucher nun im Wald akzeptierte Gäste, sie werden bewirtet und dürfen die harmonisch fließenden, fast symbiotischen Tänze der vier Frauen (Photini Meletiadis, Susanne Grau, Geraldine Rosteius, Kathrin Wankelmuth) auf offener Wiese anschauen. Es geht noch tiefer ins Gehölz, zu riesigen Pilzen an Baumstämmen oder versteckten, überraschend sonnendurchflutete Lichtungen, in denen plötzlich die gelb gewandtete Waldfee wie ein Engel erscheint und die Zuschauer fast blendet.

Kein Wort wird gesprochen, kein Konflikt aufgebaut und gelöst, keine Geschichte erzählt. Oder doch: Die von der Schönheit und Harmonie des Waldes, der in dieser Inszenierung nicht die Bühne bildet, sondern quasi das Drehbuch, zumindest die Regieanweisungen liefert. Der Spaziergang endet in einem Gehege, aus dem Steeldrum-Klänge kommen. Die Besucher dürfen eintreten und sind dem Tanz der Naturwesen nun ganz nah. Die Choreografin hat eine Tanz-Sprache des Waldes entwickelt, die sie sich bei Feen abgeschaut haben muss: Behutsam, aber auf der Hut, eingebunden in die Gruppe, aber jeder für sich.

Ein traum-hafter, phantastischer und Phantasie anregender Abend – der leider niemals wiederholt werden wird…




Götz George als sein umstrittener Vater Heinrich: Entlastung aus lauter Sohnesliebe

Seit Wochen schreiben die Zeitungen in gehöriger Länge darüber. Jetzt ist das Fernseh-Ereignis erstmals bei arte zu sehen gewesen. In „George“ spielt der große Götz George seinen vielleicht noch größeren Vater Heinrich George. Der hatte sich in der NS-Zeit zutiefst verstrickt und in üblen Propagandafilmen wie „Jud Süß“ oder „Kolberg“ mitgewirkt.

Ein wahrlich heikles, geschichtlich schwer belastetes Thema, das unbedingt eine filmische Aufarbeitung wert ist. Man kann nur zu gut verstehen, dass Götz George sich dem Mythos seines Vaters nähern möchte, der ihn seit jeher umtreibt. Aber es war wohl keine gute Entscheidung, dass er den Altvorderen selbst dargestellt hat. Was da alles mit hineinspielt! Und wie da in nahezu jeder Szene die dringend nötige Distanz fehlt…

Götz George als Heinrich George - in der Rolle des "Götz von Berlichingen". (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – in der Rolle des „Götz von Berlichingen“. (© SWR/Thomas Kost)

Fehlende Distanz

Natürlich läuft der Film also letzten Endes auf eine weitgehende Entlastung des Schauspielers Heinrich George hinaus – allen Brüchen zum Trotz. Wer auch hätte Götz George zum 75. Geburtstag den innigen Wunsch ausschlagen sollen, seinem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Allerdings ist es eben die Gerechtigkeit des liebenden, allzeit bewundernden Sohnes, der seinen Vater ganz am Schluss noch einmal persönlich anspricht: „Du warst halt immer besser. Besessener.“ Sicherlich ist das sehr berührend und geht zu Herzen. Doch man kann Heinrich George auch ungleich kritischer betrachten, als Götz George dies vermag. Dann hätte man wahrscheinlich auch nicht Heinrich Georges „Faust“-Inszenierung im russischen Lager derart breiten Raum gegeben.

Fakten und Fiktion vermischt

In manchmal kaum noch überschaubarer Weise vermischen sich in Joachim Langs Film, der zehn Jahre Recherche erfordert haben soll, Fakten und Fiktion, dokumentarische und gespielte Sequenzen. Eins fließt ins andere, so dass man als Zuschauer bisweilen gar nicht mehr weiß, woran man momentan ist. Da geht der zivil gewandete Götz George mit seinem älteren Bruder Jan durch Schauplätze des Films. Sodann wird er als Heinrich George für große Rollen („Götz von Berlichingen“) geschminkt. Dazwischen sieht man seinen Vater in alten Schwarzweiß-Aufnahmen in derselben Rolle. Und so fort. Stellenweise ist es noch komplizierter, als ich es hier schildern möchte.

Hinterhältige Russen

Dramaturgische Leitlinie ist die hartnäckige Befragung Heinrich Georges durch die russischen Besatzer, die ihm partout nachweisen wollen, er sei ein Faschist gewesen. Die Russen erscheinen anno 1945 als unnachsichtige, durchaus hinterhältige Triumphatoren, die auch schon mal ein entlastendes Dokument verschwinden lassen und ansonsten in altbekannter Manier gerne antreiberisch „Dawai, Dawai“ rufen. Vor einem solchen Tribunal muss Heinrich George (trotz mancher Verfehlungen) wie ein unschuldig Verfolgter aussehen. Erst recht, wenn er seinen kleinen Sohn Götz am Lagerzaun in die Arme schließt und überwältigt „Mein Großer – Kleiner“ ausruft. Dann muss man einfach auf seiner Seite sein. Muss man tatsächlich?

Verstrickung ins NS-Regime

Freilich ist das Ganze auch eine Studie darüber, wie einer, der angeblich nur der hehren Kultur dienen und sich unpolitisch geben will („Ich bin nur Schauspieler, sonst nichts“), den braunen Machthabern umso mehr auf den Leim gehen konnte. Vom NS-Propagandaminister Joseph Goebbels ließ er sich – mehr oder weniger wider Willen – einspannen und zum Intendanten des Berliner Schillertheaters ernennen. Vor lauter Eitelkeit ließ er sich hinreißen, dem Regime zu Diensten zu sein. Andererseits rettete er einige jüdische oder linke Theaterleute vor Tod und Drangsal. Es war eine furchtbare Gratwanderung.

Götz George als Heinrich George - bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Götz George als Heinrich George – bei einer Rundfunkrede im Sinne der NS-Machthaber. (© SWR/Thomas Kost)

Bei aller problematischen Herangehensweise haben wir beachtliche schauspielerische Leistungen gesehen, das Ensemble des Films sucht ja auch Seinesgleichen. Vor allem Martin Wuttke als Goebbels und Muriel Baumeister als Heinrich Georges Frau Berta Drews oder auch Hanns Zischler als Maler Max Beckmann (der ein Familienporträt der Georges für die Villa am Wannsee malte und dann ins Exil ging) ragten heraus – von Götz George selbst gar nicht zu reden, der sich jedoch notgedrungen in der familiären Nähe verheddern musste.

Missbrauchtes Genie

Höchst eindrucksvoll waren auch einige Zeitzeugen, deren teils Jahrzehnte zurück liegende Aussagen zwischendurch eingespielt wurden. Und Heinrich George selbst. Schon die kurzen Filmausschnitte (u. a. aus Puschkins „Der Postmeister“) ließen ahnen, welch ein Genie er gewesen ist. Umso betrüblicher, dass er missbraucht wurde und sich missbrauchen ließ.

Die ARD wird „George“ am Mittwoch, 24. Juli, leider erst ab 21.45 Uhr ausstrahlen. Götz Georges Zorn über den ungünstigen Ferientermin, an dem Millionen Menschen in Urlaub sind, kann man nachvollziehen.

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen.




Hier rätselhaft, dort Leidenschaft: Die Rheinoper würdigt Alexander Zemlinsky

Schwertkampf von hohem Abstraktionsgrad: "Eine florentinische Tragödie" mit Corby Welch, Jana Vuletic, Anoosha Golesorkhi. Foto: Hans-Jörg Michel

Schwertkampf von hohem Abstraktionsgrad: „Eine florentinische Tragödie“ mit Corby Welch, Jana Vuletic, Anoosha Golesorkhi. Foto: Hans Jörg Michel

Wir wissen nicht viel über das Ehepaar B. und S., sehen immerhin, dass sie schon mal ins Kino gehen. Da sitzen die beiden dann, im roten Sessel, erste Reihe. Sie wie in sich selbst gefangen, vom Gatten ein wenig abgerückt, der sich großspurig mit Popkorneimer in den Sessel gedrückt hat. Ein grober Klotz, ein verängstigtes Weibchen? Nun ja.

Es ist auch nicht ohne weiteres ersichtlich, dass die holde Gattin sanft entschlummert und sich dabei träumend in ihre Innenwelt verkriecht, um eine Geschichte zu imaginieren, die da heißt „Eine florentinische Tragödie“. Nur wer lesen kann im Rheinopern-Programm, ist klar im Vorteil.  Der unbedarfte Zuschauer aber blickt in Düsseldorf auf eine surrealistische, bunte, sonderbare Bebilderung eines Stückes, das doch eigentlich einen Psychothriller darstellt. Erdichtet von Oscar Wilde, in exaltierte, rauschhafte Musik gegossen von Alexander Zemlinsky.

Sich dieses Komponisten anzunehmen, ist grundsätzlich ein Verdienst. Seine Opern hatten ihre Zeit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Gefolge des Verismo. Zemlinsky war ein exzellenter Klangfarbenzauberkünstler, liebte das Ornament, bisweilen die expressive Schärfe, nicht zuletzt eine offene Harmonik auf dem Weg zur Abschaffung der Tonalität. Von den Nazis ins New Yorker Exil getrieben, glänzte sein Stern nur kurz. Erst Ende der 70er Jahre begann eine zögerliche Zemlinsky-Renaissance.

Wenn also die Deutsche Oper am Rhein eben jene „Florentinische Tragödie“ auf die Bühne bringt, in Koppelung mit „Der Zwerg“, ist das alle Aufmerksamkeit wert.  Wenn aber die Regisseurin Barbara Klimo die Dreiecksgeschichte zwischen den Eheleuten Bianca (B.) und Simone (S.) sowie dem Liebhaber Guido Bardi kaum als Kammerspiel, vielmehr als belangloses Nebeneinander inszeniert, wächst die Enttäuschung mit jedem Takt. Die Traumsequenzen, das durch einen Harlekin geleitete Spiel im Spiel, wirken so beliebig wie grotesk. Nun, wir kennen zwar skurrile, irreale Träume. Dass wir indes irgendwie verändert, gar geläutert aus solcherart Schlaf erwachen, scheint allzu unsinnig.

„Die Florentinische Tragödie“ mag kein Schocker sein wie Richard Strauss’ Einakter „Salome“, verträgt deshalb gewiss Distanz vom Opulenten. Doch die aufgeladene psychologische Situation – der Gatte kommt nach Haus und findet einen Fremden bei seiner Frau – verdient eben mehr als die zwanghafte Bebilderung fast jedes Wortes, jeder Geste. Selbst die Zweckentfremdung Magrittescher Motive, die sich Ausstatterin Veronika Stemberger leistet, wirkt da nur befremdend. Dass Kaufmann Simone den Unbekannten, der sich als Fürstensohn entpuppt, einlullt, ihn durch allerlei Gerede perfide in den Bann zieht und zu einem scherzhaften Duell treibt, das für den Liebhaber tödlich endet, entbehrt in Düsseldorf jeder Spannung.

Und dies, obwohl doch die Symphoniker unter Jonathan Darlington die Musik überaus exzessiv aufleuchten lassen, ja sie klanglich und dynamisch bisweilen ins Extrem treiben. Die Sänger indes befinden sich in einer Zwickmühle. Sie müssen spielen ohne Entäußerung, aber zumeist forciert singen, um gegen die orchestrale Macht anzukommen. Kein Leichtes für Corby Welch (Guido Bardi), Anooshah Golesorkhi (Simone) und Janja Vuletic (Bianca).

Neugier und Furcht: Der Zwerg (Raymond Very) wird ausgepackt. Foto: Hans-Joerg Michel

Neugier und Furcht: Der Zwerg (Raymond Very) wird ausgepackt. Foto: Hans Jörg Michel

Wie anders hingegen „Der Zwerg“. Wo eben noch Ratlosigkeit herrschte, ist nun Staunen angesagt. Wir rücken an die Stuhlkante, lauschen der in ihrer Textur leichteren, gleichwohl süffigen, schillernden Musik. Wir ergötzen uns an schönen, charakterstarken, wendigen, farbenreichen Stimmen. Und wir werden hineingezogen in Immo Karamans spannende, sinnfällige, psychologisierende Inszenierung. Wenn auch der Schluss ein wenig verwirrt.

Zemlinskys Oper, ebenfalls nach Oscar Wilde („Der Geburtstag der Infantin“) spielt am spanischen Hofe. Wo die Prinzessin Donna Clara ihren 18. Geburtstag feiert. Ihr als Geschenk ein Zwerg zugesandt wird. Der fein singen kann, aber hässlich ist, von seiner Fratzenhaftigkeit allerdings nichts weiß. Weil er keinen Spiegel kennt. Der sich in die Infantin verliebt, ihrer Zuneigung gewiss ist, schließlich aber die Bedeutung eines Spiegels begreift und vor Erschrecken über sich selbst stirbt.

Die Geschichte ist so angelegt, dass die Infantin mit ihrem Geschenk nur spielt. Und am Ende die Schultern zuckt, dass das Spielzeug so schnell kaputt geht. Nicht so bei Karaman. Er verhandelt die Anziehungskraft des Hässlichen. Stellt Donna Clara eine Schar von Freundinnen und Zofen an die Seite, die mit pubertärem Gekicher, frühsexuellem Begehren, mit Neugier und Angst einem seltsamen Wesen, dem Zwerg begegnen. Und schafft mit Claras Vertrauter Ghita eine Figur, die in ihren Sehnsüchten und Träumereien nichts anderes als das alter Ego der Infantin ist.

Des Zwergen Pein und der Infantin Leid: Szene mit Raymond Very und Sylvia Hamvasi. Foto: Hans Jörg Michel

Des Zwergen Pein und der Infantin Leid: Szene mit Raymond Very und Sylvia Hamvasi. Foto: Hans Jörg Michel

Der Zwerg wiederum ist Opfer. Nicht das eines Spiels, sondern das der eigenen Unzulänglichkeit. Er ist verwirrt, verliebt, verzweifelt. Und wenn die vermeintliche Spielerei fast ihr tragisches Ende findet, sitzt Donna Clara ebenso verwirrt, vielleicht ein wenig verliebt, eher ziemlich verstört in einer Ecke. Hat sich gekauert neben einen, mit einem imaginierten, üppigen Spiegel verzierten, schicken Sekretär. Verortet in einem weiten Gewölberaum, den Nicola Reichert erdacht hat.

Dass jedoch aus dem Zwergen ein Priester wird, Regisseur Karamann so offenbar das streng katholische Spanien ins Spiel bringen will, in dem die jungen Damen in Einheitskleidchen von uniformierten Gouvernanten getriezt werden, wirkt ein wenig konstruiert. Gleichwohl allenthalben Faszination. Zumal hier die Düsseldorfer Symphoniker so differenziert wie leidenschaftlich zu Werke gehen. Und mit Sylvia Hamvasi (Infantin), Anke Krabbe (Ghita) sowie Raymond Very (Der Zwerg) ausgefeilte Charaktere auf der Bühne stehen, berührender Gesang inklusive.

Die Rheinoper präsentiert also einen Zemlinsky-Doppelabend, der zwischen Rätselhaftigkeit und Leidenschaft pendelt. Gleichwohl muss er als wichtiges Plädoyer für einen zu Unrecht vernachlässigten Komponisten gelten.




Hose runter, Dax rauf: Der Geist protestantischer Erotik im Bochumer Schauspiel

Ach, was war das früher für eine wunderschöne Zeit: Statt mit Pornos im Internet ließen sich vor 100 Jahren die Männer noch durch eine leicht verrutschte Damenunterhose entflammen. Und zwar eine, die mit einem züchtigen Schleifchen und einer Rüsche am Fußknöchel endet und unter einem bodenlangen Rock getragen wird. Zumindest behauptet das Carl Sternheim in seinem Einakter „Die Hose“, der jetzt gemeinsam mit „Der Snob“ und „2013“ als „Trilogie aus dem bürgerlichen Heldenleben“ Premiere am Bochumer Schauspielhaus feierte.

Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Doch kann man diesen Text auch heute noch so erzählen?, fragte sich der Dramatiker Reto Finger und bearbeitete ihn lieber neu: Das wird vor allem im dritten Teil deutlich, der ursprünglich „1913“ hieß und nun in einem Dax-Konzern spielt, der „too big to fail“ werden will. Dazu muss der Patriarch ausgebootet werden, der die Firma erst groß machte, und das geschieht in König-Lear-hafter Manier, indem seine drei Töchter ihm das Aktienpaket abnehmen. Wer jetzt den Zusammenhang zwischen der rutschenden Hose und spätkapitalistischen Börsenspekulationen nicht begreift, sollte unbedingt weiterlesen. Denn der Geist des Kapitalismus liegt nicht in der protestantischen Ethik, sondern vielmehr in der protestantischen Erotik begründet. Ach, ja: Die Hauptrolle spielt Dietmar Bär, dem Fernsehpublikum bekannt aus dem Kölner Tatort.

Die Rolle des spießigen Beamten Theobald Maske verkörpert Bär mit Spielwitz und Ironie. Überhaupt ist die ganze Geschichte um die heruntergerutschte Hose seiner Frau Luise (Xenia Snagowski) einfach nur komisch: In einem altmodischen Sinne, der einen gewissen Retro-Charme entfaltet und Sommerleichtigkeit atmet. Denn Theobald vergisst seinen Ärger über seine liederliche Gattin schnell, als sie ihm durch ihr Missgeschick zwei verliebte Mieter ins Haus lockt, die seine finanzielle Lage gehörig aufbessern. Derweilen vergnügt er sich mit der Nachbarin (Katharina Linder) und offenbart, dass Moral ihm nur etwas gilt, wenn sie sich bezahlt macht. Auf jeden Fall kann er sich jetzt ein Kind leisten.

Nach demselben Prinzip verfährt sein Sohn in dem zweiten Stück „Der Snob“: Die Bühne wandelt sich von Etagenwohnung mit Perserteppich in ein mondänes Büro eines Firmenchefs und ehrgeizigen Aufsteigers (Felix Rech), dessen oberstes Ziel es ist, in bessere Kreise einzuheiraten. Dafür verleugnet er seine Familie und bietet dem Vater Geld, dass er aus seinem Leben verschwinde. Theobald nimmt’s nicht krumm, hat er diese merkantile Denkungsart seinem Sohn ja vorgelebt. Ihre persönlichen Entscheidungen folgen so einem ökonomischen Kalkül als Grundprinzip einer Gesellschaft, in der Klassenschranken fallen, weil nun der Mammon regiert.

Doch auch Christian als alter Mann und Aktien-Tycoon wird die Geister, die er rief, nicht mehr los und geht in „2013“ seinen machtgierigen Töchtern in die Falle, die sich wie die Heuschrecken von heute gebärden und auch noch stolz darauf sind. Barfuß geistert Bär alias Theobald als Wiedergänger des längst verstorbenen Vaters durch die Szene, die auf der Aktionärsversammlung des Maske-Konzerns spielt. Seine Mahnungen sind selbstverständlich in den Wind gesprochen, denn sein Sohn erntet nur, was er selbst gesät.

Einen seltsamen Zwitter zwischen Boulevard und kapitalismuskritischer Analyse hat Bochums Intendant Anselm Weber da inszeniert: Das Ergebnis ist allerdings witzig und zeigt starken Tobak von anno dunnemals in einer Ästhetik von heute. Leicht und böse zugleich – und kein bisschen langweilig.

http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/aus-dem-buergerlichen-heldenleben/162/




Ruhrfestspiele: Zwei Teufel und ein Weib

Foto: Hans Jörg Michel/Residenztheater

Foto: Hans Jörg Michel/Residenztheater

Wie ein überdimensionales Mikadospiel liegen die Baumstämme kreuz und quer auf der Bühne. Als hätte ein Riese gewütet und dann die Lust verloren oder als sei ein Kyrill durch den Bergwald gefegt. Auf den Stämmen balancieren zwei Männer und eine Frau, schwindelnd, nah am Abgrund, immer kurz vor dem Absturz.

Ein Sinnbild für ihr unheilvolles Dreiecksverhältnis, das von Leidenschaften, Eifersucht und Gier vergiftet ist und schließlich in die Katastrophe führt. Martin Kusej inszenierte „Der Weibsteufel“ 2008 für das Wiener Burgtheater, 2011 nahm er ihn mit ans Münchner Residenztheater, wo der Regisseur inzwischen Intendant ist. Jetzt war die Inszenierung mit Starbesetzung bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen zu sehen.

Birgit Minichmayr (Weib), Werner Wölbern (Mann) und Tobias Moretti (Jäger) entfalten ein hochdramatisches Geflecht, das aus einem emotionalen Bodensatz aus Liebe, Hass, enttäuschten Lebenserwartungen und zu lange gezähmten Begierden gespeist wird, die wie in einem Dampfkochtopf irgendwann explodieren müssen, wenn der Druck zu hoch wird. Dem Kochvorgang zuzusehen, der im volkstümlichen Idiom des Dramatikers Karl Schönherr im knapp Gesagten unendlich viel mehr Gemeintes produziert, lässt einem zuweilen den Atem stocken. Soviel Gemeinheit in der Welt und zugleich so viel Hilflosigkeit zwischen Mann, Frau und Liebhaber.

Apropos Frau oder – mit Schönherr (1867-1943) gesagt – „Weib“: Birgit Minichmayr gibt den Weibsteufel auch als Verteufelte. Als Frau, die in der männlich eingerichteten (Dorf)Welt dauernd nach fremden Regeln spielen muss, als Besitz behandelt wird und als Mittel zum männlichen Zweck. Bei solcherart „Zipfelspielen“ ist zunehmend ihr Herz erkaltet, das eigentlich doch geliebt werden will. Und sie schlägt zurück, in ihrer unnachahmlichen, rotzig-rauen Art, nur manchmal leuchtet durch einen Spalt die Verletzlichkeit. Will sie nicht eigentlich ein Kind, statt in die Schmuggelgeschäfte des Mannes hineingezogen zu werden? Will sie nicht eigentlich die wahre Liebe, statt einen Liebhaber, der sie als Köder benutzt, um den Schmuggler zu überführen und sich einen Jäger-Orden zu verdienen?

Allerdings ist die weibliche Rache als Holzweg in die Emanzipation an Grausamkeit und manipulativem Kalkül kaum zu überbieten: Wie beiläufig schmeichelt das Weib dem Ehemann das soeben erworbene Haus gleich wieder ab, samt Unterschrift auf dem Testament. Der Liebhaber wird in Zorn und Hass hineingetrieben, dass er den lästig gewordenen Ehemann am End ersticht. Doch triumphiert sie jetzt, die Teufelin?

Das weiß man nicht, denn es gehört nicht mehr zum Stück. Denkbar wäre, sie säße alt und grau allein in ihrem schönen Haus am Markt. In einem Kästchen vor sich einen goldenen Knopf von der schmucken Uniform des Jägers und eine blonde Locke vom verblichenen Gemahl. Und weinte still eine kleine, verlogene Träne…

Weitere Infos:
www.ruhrfestspiele.de und www.residenztheater.de




Der Stoff des Verderbens: „Gas“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen

"Aufbruch und Utopie" - das Motto der Ruhrfestspiele Recklinghausen 2013. Foto: Werner Häußner

„Aufbruch und Utopie“ – das Motto der Ruhrfestspiele Recklinghausen 2013. Foto: Werner Häußner

„Gas“! Der Titel hatte am Ende des Ersten Weltkriegs eine alarmierende Brisanz. In den Endkämpfen an festgefahrenen Fronten wurde zum ersten Mal Giftgas eingesetzt. Die europäische Zivilisation stand fassungslos vor den dämonischen Ergebnissen einer Entwicklung, die – wie wir heute erfassen – das Ende des alten Europa bedeutete. Georg Kaiser, der produktive Dramatiker seiner Epoche, hat seinem Sinnspiel um Macht und Vernichtung, Utopie und Humanität, Krieg und Klassenkampf diesen Titel gegeben.

Gas ist in den zwei Teilen dieses Endzeitstücks mehr als ein Energieträger, als ein Schmierstoff für die gesamte technische Zivilisation. Es ist der universale Stoff, der das Verderben begleitet. Das „Gas“ Georg Kaisers hat einen metaphysischen Geruch.

Aus der Rückschau von fast einhundert Jahren bewundert man, wie Kaiser mit damals aktuellen Ideen umgegangen ist, aber auch, mit welchem Instinkt er die Ursachen der Katastrophe analysierte, die in seinem Drama geschieht. Da fliegt eine Fabrik in die Luft – ein Sinnbild für Untergang überhaupt.

Vor der drohenden und nach der eingetretenen Katastrophe lässt Kaiser seine Figuren agieren und argumentieren: den Milliardärssohn mit seinen ideal-sozialen Ideen von der Beteiligung der Arbeiter und dem Verzicht auf Eigentum (Andrej Kaminski); den Ingenieur, der vergeblich vor den Gefahren der sich unheimlich verselbständigenden Technik warnt (Jan Andreesen); den Offizier (Jonas Riemer) als Repräsentant einer Kaste, die nur noch steril die Verhältnisse stabilisiert. Dazu die gesichtslosen schwarzen Vertreter des Kapitals. Und die Tochter des Milliardärssohns (Joanna Kitzl), die den großen, den neuen Menschen gebären will: Nietzsche lässt grüßen, eingehüllt in den sozialen Humanismus Georg Kaisers.

Jan Andreesen (Ingenieur) und Andrej Kaminski (Milliardärssohn) in Kaisers "Gas". Foto: Reiner Kruse

Jan Andreesen (Ingenieur) und Andrej Kaminski (Milliardärssohn) in Kaisers „Gas“. Foto: Reiner Kruse

Im zweiten Teil kann man „Gas“ fast visionäre Qualitäten zuschreiben: Der Krieg eint die von „oben“ und die von „unten“ im pragmatischen Ziel, den Staat zu erhalten, das Gas als Treibstoff der Gesellschaft zu produzieren. Der Großingenieur wird zum Führer der Massen in eine neue Zeit: Triumph der morallosen Technokraten, Sieg der scheinbaren Rationalität der Prozesse, die in den Untergang führen, besiegelt durch die neueste Erfindung: Giftgas.

Hansgünther Heyme, Regie-Altmeister und von 1990 bis 2003 Künstlerischer Leiter der Ruhrfestspiele, ist mit seiner Inszenierung von Kaisers „Gas“ – eine Koproduktion mit dem Staatstheater Karlsruhe – nach Recklinghausen zurückgekehrt. Er hat noch bei Erwin Piscator gelernt, kennt also Zeitzeugen der Epoche Kaisers.

Heyme zeigt sich sensibel gegenüber der Sprache: knapp, manchmal stenografisch, dann wieder mit Pathos erfüllt; knallhart konkret, dann wieder enthoben, sinnbildhaft. Keine leichte Kost, doch den Schauspielern gelingt es, den anachronistischen Duktus der Sätze und Satzfetzen, der Stichworte und Ausrufe ins Heute zu transferieren. Im Zeitalter des Fäkal- und Fernsehsprechs bedeutet dies eine Herausforderung, die auch den einen oder anderen im Publikum ratlos macht.

Nähe zum Sinnspiel und zum Gleichnis

Heyme nähert sich in seinem Stil nicht so sehr dem holzschnittartigen Expressionismus mit seinen kantigen Verkürzungen. Er rückt „Gas“ in die Nähe des Sinnspiels, fast des Symboltheaters – eine Art zu spielen, die heute aus der Zeit gefallen anmutet, aber gerade deshalb ihren Reiz hat: nostalgische Erinnerung und anregender Kontrast zugleich. Das Gleichnishafte des Stücks betont die Regie, wenn sie sein formale Gerüst, seinen symmetrischen Aufbau beachtet, etwa die miteinander korrespondierenden Bilder mit den posierenden Arbeitern im Zentrum der beiden Teile: Sie sprechen für den reduzierten Menschen, beschränkt auf einen produktiven Aspekt seines Daseins.

Sebastian Hannak hat in das kleine Theater im Festspielhaus eine geborstene Halle gebaut, mit auslaufenden Stahl-Galerien, die sich wie die Arme eines „U“ zum Zuschauerraum hin ausstrecken. Dort klinken sich die Akteure mit Sicherheitshaken in Führungsschienen ein, als drohten sie, jederzeit abzustürzen. Gerhard Meier leuchtet dieses Szenario mit expressiven Wirkungen aus; Saskia Bladts Musik operiert oft an der Grenze zum Geräuschhaften, nimmt sich zurück, bis sie kaum mehr hörbar ist, schleicht sich so – etwa in Gestalt eines Klarinettisten – in die Szene ein und wirkt gespenstisch, verstörend, unwirklich.

Das eigentlich Beklemmende an Kaisers „Gas“ ist, dass dieses Schauspiel aus der Hoch-Zeit der Industrialisierung bis heute seine Brisanz nicht verloren hat: Reduktion des Menschen und der Gesellschaft auf die technisch-ökonomisch-politischen Aspekte, Entfremdung und Selbstverlust, die geistige Selbstverstümmelung des Menschen und die Ohnmacht der humanen Utopien sind geblieben. Die „Menschen in Einheit und Fülle … entlassen aus Fron und Gewinn“ lassen weiter auf sich warten.

Aktuelle Welt- und Zeitbeschreibungen

Mit seinem ambitionierten Programm zeigt Festspiel-Intendant Frank Hoffmann, wie die Impulse aus der gärend-spannenden Zeit zwischen dem aufstrebenden deutschen Kaiserreich und dem Absaufen der Republik in der braunen Flut bis heute aktuelle Welt- und Zeitbeschreibungen bleiben. Das gilt für’s große Schauspiel – von Ibsens „Hedda Gabler“ bis Hauptmanns „Rose Bernd“, von Horváths „Geschichten aus dem Wienerwald“ bis zu Falladas Verzweiflungsrevue „Kleiner Mann, was nun“, die in der Regie von Michael Thalheimer ab 12. Juni die Serie abschließt.

Das "EntertainTent". Foto: Ruhrfestspiele

Das „EntertainTent“. Foto: Ruhrfestspiele

Das gilt aber auch für die anderen Spielstätten: Dass eine Kunstgattung wie das Kabarett, dessen Blüte mit dem Ende der Zensur 1919 begann, im Programm ansprechend gewichtet wurde, gibt den Festspielen eine passende Würze und spannt den unmittelbaren Draht zum Heute. Und auch Aspekte der Unterhaltungskultur, die für den Zeitgeist seit jeher geschärfte Sensibilität mitbringt, finden sich im erstmals eingerichteten „EntertainTent“: Schön wäre gewesen, wenn die zwischen bissiger Ironie, heiterer Resignation und zynischer Harmlosigkeit changierenden Chansons, Songs und Schlager jener Zeit zu Wort und Ton gekommen wären: Das Panorama dieser spannenden Zeit wäre noch kompletter beleuchtet worden.

Informationen und Spielplan: www.ruhrfestspiele.de




Zwischen Popularität und Wagnis – der neue Spielplan des Dortmunder Theaters

Theater Dortmund - Gebäude -

Die Oper, die Dortmund verdient. Foto: Theater

Eine Dame und fünf Herren. Das Leitungssextett des Dortmunder Theaters gibt sich die Ehre zur Verkündung des neuen Spielplans. Ein 75 Minuten langer, sechsfach unterteilter Vortrag über Eckdaten, Produktionen, Programmprinzipien, über die Bedeutung des Hauses für die Stadt. Inklusive einiger dürrer Zahlen. Eine Pressekonferenz könnte spannender sein. Doch hinter allen Fakten verbergen sich interessante Details.

Bettina Pesch, geschäftsführende Direktorin des Theaters, ist die Herrin der Bilanzen. „Es geht wieder mal aufwärts“, verrät sie. 350.000 Euro Mehreinnahmen in allen Sparten, ein Auslastungsplus von 1,5 Prozent für die Oper oder plus 7 Prozent fürs Schauspiel seien Belege für solcherart Optimismus. Bezugsgrößen für diese Zahlen nennt sie nicht. Und Pesch muss konstatieren, dass die Stadt zwar die Tariferhöhungen 2013 fürs Personal ausgleicht, zudem aber einen Konsolidierungsbeitrag von 510.000 Euro einfordert. Dies gelte indes nur für die Saison 2013/14. „Weitere Einsparungen sind nicht machbar, sie gingen an die Substanz des Hauses“, sagt Pesch.

Wie die einmalige Konsolidierung aussehen soll, wo also ein Abzwacken noch möglich ist, bleibt offen. „Wir sparen nicht an der Kunst“ ist das Credo und dann verrät Pesch, sie habe auch ihre Tricks. Nun, abseits dieser sonderbaren Aussage bleibt festzuhalten, dass es im Musiktheater zwei Produktionen weniger geben wird: keine konzertante Oper, kein Werk der (klassischen) Moderne. Zwei Linien, die Intendant Jens-Daniel Herzog zu Amtsbeginn vorgegeben hat, sind erst einmal gekappt.

Immerhin: Im Doppeljubiläumsjahr zu Ehren von Richard Wagner und Giuseppe Verdi stehen zwei gewichtige Premieren an. Herzog selbst inszeniert „Don Carlo“ (Übernahme von Mannheim) und Schauspielchef Kay Voges wagt sich an den „Tannhäuser“. Eilig versichert er, es werde keine Nazis auf der Bühne geben. Andererseits wird betont, die Konstellation dokumentiere die gute Zusammenarbeit zwischen den Sparten des Dortmunder Hauses.

Szene aus dem Mannheimer "Don Carlo". Foto: Theater

Szene aus dem Mannheimer „Don Carlo“. Foto: Theater

Insgesamt sei angemerkt, dass der Opernspielplan,  um es dezent auszudrücken, populär ist. „Carmen“ und „La Cenerentola“, „Der Graf von Luxemburg“ und „Anatevka“ – Repertoire-Raritäten suchen wir vergebens. Dass Herzog Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ dramatisiert, sei aber als Besonderheit durchaus erwähnt. Und dass sich die Junge Oper in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendtheater des „Carmen“-Stoffes annimmt, darf ebenfalls als Zeichen guter Nachbarschaft gewertet werden.

Neu im Boot der Nachbarn ist Gabriel Feltz als Chef der Dortmunder Philharmoniker. Er gibt sich sachlich, beschwört keine visionären Ideen, ja bremst sogar die Erwartungen. „Es gab Anfragen, ob die Philharmonischen Konzerte nicht wieder an drei Abenden stattfinden könnten“, sagt Feltz. Doch er wolle erst einmal in Dortmund ankommen. Dort wird er drei Opernpremieren dirigieren, fünf der zehn „Philharmonischen“ sowie diverse Sonder-, Jugend- oder Familienkonzerte. Das klingt nach gehöriger Präsenz, aber sein Vorgänger Jac van Steen war im Grunde nicht weniger fleißig. Gleichwohl hat die Stadt ihn unsanft aus dem Amt gedrängt. Pech gehabt.

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Ein Glücksjunge hingegen ist Ballettdirektor Xin Peng Wang. Die Sparte ist beliebt, die Compagnie wird international beachtet, das Programm zeugt stets von üppiger Fantasie. Dementsprechend launig verkündet er die Premieren der neuen Saison als opulentes, schmackhaftes Mehrgangmenü. Und vor allem die Hauptspeise hat es in sich: Wang selbst setzt Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in Szene. Die Choreographie wolle Menschenschicksale zeigen in der so schönen wie geisterhaften Stadt Wien. Mit Musik von Johann Strauss und Alban Berg, also mit übersprudelnden, prachtvollen wie brüchigen, morbiden Klängen.

Hier der Blick nach draußen, sonst aber stets der Hinweis, dass das Theater als Ganzes sich in der Stadt verorten müsse. Was niemand so konsequent angeht wie  Schauspielchef Kay Voges. Mit „Stadt der Angst“ will die Bühne das Ende der Leistungsgesellschaft einläuten – mit Hilfe einer Lichttherapie. Das klingt so kryptisch wie spannend. Ein Wagnis mit Intensität, denn an drei Tagen werden sechs Premieren, Vorträge und Diskussionen offeriert.

Andere Abgründe kommerzieller Art will wiederum Kristof Magnussons Komödie „Männerhort“ ausloten. Ein Blick auf weiblichen Shoppingwahn und die kleinen Fluchten des Mannes. Ein Spiel, das sich nur wenige Meter von Dortmunds Thier-Galerie ereignen wird, wie Voges eigens betont. Neben dem Premierenreigen – von „Peer Gynt“ bis „Der Elefantenmensch“ – setzt er auf Neues. Auf Stücke in türkischer Sprache (Kooperation mit Mülheim), auf Lesungen aus der Bloggerszene, auf eine Herbstakademie für Jugendliche.

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Erste Adresse für diese Zielgruppe ist das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das Andreas Gruhn nun in die 15. Spielzeit führt. In all den Jahren konnte er einen Publikumszuwachs von fast 26.000 auf 35.000 Besucher verbuchen.  Eine Erfolgsgeschichte, die sich auch nach 2015 fortsetzen soll, wenn die Spielstätte an der Sckellstraße aufgegeben werden muss, wenn möglicherweise ein neues Domizil neben dem Schauspielhaus entsteht. Zunächst aber bietet die neue Saison acht Premieren – Stücke, in denen etwa die Themen Liebe und Sexualität, Mobbing oder virtuelle Kriegsspiele verhandelt werden. Märchenhaftes wird das Programm ergänzen, ein Werk soll in Kooperation mit dem Jugendclub produziert werden.

Ja, die Dortmunder Bühnen haben in der Spielzeit 2013/14 einiges zu bieten. Doch vor allem die musiktheatralische Abteilung ächzt unter den Altlasten schlechter Intendanzen, ringt um jeden Zuschauer. Die Auslastung in der Saison 2011/12 liegt hier bei gut 53 Prozent. Dass Intendant Jens-Daniel Herzog den Satz in die Runde wirft, „Die Stadt hat die Oper, die sie verdient“, ist Ausdruck trotzig-optimistischen Nachvornblickens. Andererseits: Eine Kommune, die Millionen in einen „Kulturleuchtturm“ namens U pumpt, dem Theater aber kalt lächelnd das Geld aus der klammen Kasse zieht, bekommt eben die Oper, die sie verdient.

Alles zum Programm der Spielzeit 2013/14 unter www.theaterdo.de




Von Müttern, Töchtern und jüdischer Identität: 38. Mülheimer Theatertage eröffnet

Als jüdisch gilt, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde – nur so ist sicher, dass einem nicht ein „Kuckucksei“ ins Nest gelegt wird. Konsequent also, das Augenmerk ganz auf die weibliche Linie zu richten: In dem Stück „Muttersprache Mameloschn“ von Marianna Salzmann kommen drei Generationen jüdischer Frauen zu Wort.

Es sind die Kommunistin und Holocaust-Überlebende Lin (Gabriele Heinz), ihre Tochter Clara (Anita Vulesica), die vom Judentum rein gar nichts mehr wissen will und die Enkeltochter Rahel (Natalia Belitski), die im fernen New York ein neues Leben anfangen möchte – bloß weg von zu Hause. Mit der Uraufführung des Deutschen Theater Berlin wurde jetzt das Stücke-Festival in Mülheim an der Ruhr eröffnet, das noch bis zum 29. Mai eine hochkarätige Auswahl deutscher Gegenwartsdramatik zeigt.

Muttersprache Mameloschn, Foto: Arno Declair/Deutsches Theater

Muttersprache Mameloschn, Foto: Arno Declair/Deutsches Theater

Im Focus der Mülheimer Theatertage steht seit jeher der Text; trotzdem macht der Stücke-Wettbewerb auch deswegen Spaß, weil man die neuen Stoffe in vergleichsweise interessanten Inszenierungen bekannter Häuser zu sehen bekommt – und das nun schon im 38. Jahr.

In „Mameloschn“, so das jiddische Wort für Muttersprache, wohnen die drei Frauen in einer Art Möbellager, das sie gelenkig bis akrobatisch bespielen. Besonders Clara, die Mutter, gibt eine beeindruckende Showeinlage auf einem wackeligen Kleiderschrank, um kurz danach wieder depressiv aufs Sofa zu sinken: Denn ihre einzige Tochter will nach New York ziehen und sie verlassen, ebenso wie ihr Sohn, der schon einige Zeit vorher in einen Kibbutz abgehauen ist. Und das, obwohl sie ihre Kinder keineswegs im Geiste der jüdischen Religion erzogen hat, ganz im Gegenteil. Doch auch mit dem real existierenden Sozialismus der DDR, mit dem sich ihre Mutter als Kommunistin der ersten Stunde so gut arrangiert hat, hat sie endgültig abgeschlossen. Was sollen ihr verlogene Ideologien, im Namen derer ihre Liebsten sie im Stich lassen?

Die Tochter wiederum flieht das Erstickende dieser Umarmung und will einfach frei sein, herausfinden, was für sie selbst das Richtige ist – ob jüdisch oder lesbisch, darauf kommt es gar nicht an. Der Generationenkonflikt ist auch deswegen so explosiv, weil er historisch aufgeladen ist. So erhalten die Familienstreitigkeiten zugleich eine weltanschauliche Komponente. Das Private ist politisch – hier trifft die Parole tatsächlich zu.

Nichtsdestotrotz will das Stück eine Komödie sein und schafft das auch: Wunderbar böse und scharfzüngig gehen diese Frauen an die Grenze. Jede weiß, wo sie die andere verletzen kann und bietet dafür die perfidesten Mittel auf, die auch vor dem Briefgeheimnis keineswegs haltmachen. Rahel erzählt mit Vorliebe jüdische Witze, die Oma trällert Liedchen, die sie einst auf großer Ost-Bühne sang.

Schauspielerisch ist der Schlagabtausch (Inszenierung: Brit Bartkowiak) ungeheuer facettenreich, hat Tempo, Witz und viel Gefühl. Je leidenschaftlicher die Wut, desto größer die Liebe. Fast hat man den Eindruck, der fortwährende Streit dieser drei Frauen wäre in Wirklichkeit ihr Lebenselixier. Dazu passt Rahels Witz: „Warum wollen Juden kein Schmerzmittel nehmen? – Weil die Schmerzen dann weggehen…“

Infos, Termine und Karten:
www.stuecke.de und www.deutschestheater.de




Nicht ohne meine Pistolen: Hedda Gabler bei den Ruhrfestspielen

Welch seltsame Bühnenfigur ist doch diese Hedda Gabler: Von Henrik Ibsen 1891 als gelangweilte Gattin konzipiert, die zu ihrer Unterhaltung Intrigen spinnt, in denen sie sich am Ende selber verfängt, reizt sie immer wieder zeitgenössische Regisseure. Zuletzt Stefan Pucher vom Deutschen Theater, dessen Hedda jetzt als Koproduktion bei den Ruhrfestspielen zu sehen war.

Hedda ist ja auch einfach so eine geniale Hauptrolle: Birgit Minichmayr (am Residenztheater in München) oder Nina Hoss haben das Biest im Repertoire; die Tochter des Gewerkschafters Willi Hoss spielte es jetzt in Recklinghausen.

Hedda Gabler. Foto: Arno Declair/Ruhrfestspiele/Deutsches Theater

Hedda Gabler. Foto: Arno Declair/Ruhrfestspiele/Deutsches Theater

Eigentlich ist diese Hedda doch ganz nett, fast ein wenig zu konventionell und einfältig, wie sie blond frisiert und adrett im hautengen Spitzenkleid von der Hochzeitsreise zurückkehrt. Sicher, gleich in der ersten Szene beleidigt sie die gutherzige Tante Jule (Margit Bendokat), weil die einen altmodischen Hut trägt –aber schiebt pflichtgemäß eine Entschuldigung nach.

Seltsam, so artig hatte man sich Nina Hoss in dieser Rolle gar nicht vorgestellt. Wo bleibt da das Böse in Hedda? Doch je weiter die Inszenierung voranschreitet, desto mehr entpuppt sich Hedda als Psychopathin: Unfähig, etwas für ihre Mitmenschen zu empfinden, bleibt sie doch immer neidisch auf deren Gefühlswelt und ihre Leidenschaften. Weil sie selbst keine Passion kennt, nutzt sie jede Gelegenheit, den anderen die ihre zu verleiden, zu zerstören und sie in den Abgrund zu stürzen. Die Verzweiflung ihrer Mitmenschen zieht sie sich dann zur Unterhaltung rein, nach dem Motto „endlich ist hier etwas los.“

Doch diese Rechnung geht nicht auf: Wie ein Vampir will sie ihren Teil vom Leben der anderen aussaugen, doch es befriedigt sie nicht. Denn selbst die gestohlenen Gefühle lösen bei ihr keine Emotionen aus, zurück bleibt nur Leere. Das Problem löst sie dann mit den Pistolen ihres Vaters.

Nina Hoss zeigt Heddas Fassade und gibt die Abgründe erst nach und nach frei. Das ist ein genialer Schachzug, denn so rückt die Figur nicht von vorneherein in die diabolische Ecke. Die ersten Gemeinheiten, kleine fiese Tricks aus Neid, heben menschliche Züge, das kennt jeder. Wie sie Frau Elvsted (Anita Vulesica) geschickt über den Zustand ihrer Ehe aushorcht, wie sie dem ehemaligen Liebhaber Punsch aufnötigt, obwohl sie weiß, dass er nicht trinken darf.

Doch langsam beginnt die Sache zu kippen: Immer verbissener steigert sie sich in ihre gemeinen Taten hinein, die im Verbrennen des Roman-Manuskriptes des Ex-Geliebten gipfeln.

Tatsächlich spielt Nina Hoss das Motiv für ihr Abgleiten in die Gewissenlosigkeit gleich mit: Eigentlich ist Hedda Gabler nämlich feige. Sie würde nie etwas tun, was sie wirklich will, denn sie hat Angst vor der Meinung der Leute. „So etwas tut man doch nicht“, sagt sie dann und versteckt sich hinter hohlen Konventionen. Sie verachtet ihren Stubenhocker von Ehemann (Felix Goeser), aber gehen würde sie nie. Wovon sollte sie auch leben?

Stefan Pucher hat für seine Inszenierung eine Ästhetik der 70er Jahre gewählt: Von der Einrichtung in rot-pink-lila bekommt man regelrecht Kopfschmerzen, von den schwarz-weißen Teppichmustern und Leopardenfellen Sehstörungen. Der geniale Außenseiter und Schriftsteller Eilert Lövborg (Alexander Khuon) ist ausstaffiert wie Rainer Werner Fassbinder in seinen wildesten Zeiten.

Im Hintergrund flimmern Italo-Western auf Videoleinwand, die das Geschehen um Hedda als Cowboy-Duell inszenieren. Auf diese Weise ist Hedda nur der Anlass für ein chauvinistisches Kräftemessen, keineswegs die Ursache für das Desaster. Die 70er Jahre als kommerzialisierte und verkitsche Form des Revoluzzertums in psychodelisch bunt zu deuten, ist ein schlüssiger Regie-Einfall.

Hedda nützt das nichts: Hingebungsvoll widmen sich ihr Mann und ihre Freundin der Nachlassverwaltung des genialen Werks des von Hedda in den Selbstmord getrieben Genies. Und für die Intrigantin interessiert sich niemand mehr. Die weiß, dass sie jetzt verloren hat und nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand, mit General Gablers Pistolen…Peng, das wars.

www.deutschestheater.de




Ewige Kindheit, zähflüssige Fantasie: Robert Wilson inszeniert „Peter Pan“ in Berlin

Peter Pan und Robert Wilson verbindet einiges: die Liebe zur Traumwelt einer grenzenlosen Fantasie, und, noch wichtiger, der niemals endende Versuch, nicht alt zu werden, ewig Kind zu bleiben.

Szene aus "Peter Pan" mit (in der Luft schwebend, von links) Christopher Nell, Sabin Tambrea, Stefan Kurt und Ensemble. (Foto: © Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Szene aus „Peter Pan“ mit (in der Luft schwebend, von links) Christopher Nell, Sabin Tambrea, Stefan Kurt und Ensemble. (Foto: © Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Endlich, mit 71 Jahren und nach unzähligen Inszenierungen, hat der Bühnenmagier und Theaterzauberer aus Waco/Texas in dem von James Matthew Barrie erfundenen Peter Pan jenen störrischen Helden gefunden, der so ist wie er selbst: ein greises Kind, das mit stoischer Gelassenheit seinen eigenen Weg geht und für die Welt der Erwachsenen nur ein müdes Lächeln übrig hat.

An Claus Peymanns Berliner Ensemble fliegt Bob Wilson jetzt mit dem Kindskopf Peter Pan (Sabin Tambrea), der neugierigen Wendy und ihren etwas dumpfen Brüdern, begleitet von der frechen Elfe Tinkerbell, ins Nimmerland. Dort kämpft er mit Käpt´n Hook (Stefan Kurt), trifft Indianer, Nixen, Krokodile. Was für ein großes Abenteuer! Möchte man jedenfalls hoffen. Doch es ist ein zäher und langweiliger Abend, ein in filmischer Zeitlupe erzähltes Kindermärchen, vorgelesen von einem Erwachsenen, dem allmählich die Fantasie ausgeht und der nur noch seine alten Ideen recycelt.

Ob der zwischen Opern- und Theaterbühnen rund um den Globus jettende Wilson in Paris die „Zauberflöte“ oder in New York den „Lohengrin“ inszeniert, in Hamburg den „Black Rider“ oder in Baden-Baden den „Freischütz“ auf die Bühne zaubert: Es sind immer die gleichen Licht- und Soundeffekte, die fragil gestylten Möbel und die leichenblass geschminkten Darsteller, die ihre Hände manieriert spreizen müssen und vorm Mund ein Mikroport haben, damit wir auch jeden Seufzer und jedes Ach und Weh hören. Design statt Sein und sanft dahin schlingernde Musik statt einer spannenden Story mit psychologisch ausgeleuchteten Figuren.

Von der US-Band CocoRosie hat Wilson sich eine bunte Perlenkette neuer Songs schreiben lassen. Sie klingen ein bisschen schräg und schlingernd, als hätte Tom Waits eine Verabredung mit Kurt Weill gehabt. Ganz nett und unterhaltsam, doch auch ein wenig flau und beliebig. Aber das macht nichts, will doch der altersmilde Wilson ohnehin niemanden erschrecken.

Weiteres Tableau aus "Peter Pan". (Foto: © Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Weiteres Tableau aus „Peter Pan“. (Foto: © Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Nur einmal gerät das Ganze fast ein wenig aus dem harmlosen, exakt choreographierten Tritt. Der androgyne Peter Pan und der zauselartige Hook kommen sich nah: Hook geht vor seinem Erzfeind Peter Pan in die Knie, streichelt ihm erotisch Schenkel und Gemächt, entblößt seinen Armstumpf. Hier haben sich zwei schwule Seelen gefunden. Doch schnell ist auch diese Versuchung dahin.

Ein paar schöne surreale Bilder, ein kurioses Bett aus Schafen, ein trauriges Krokodil, das mit blinkenden Augen über die Bühne irrt und lange suchen muss, bis es Hook gefunden und gefressen hat, ein paar kesse Einlagen von Christopher Nell, der als vorwitzige Tinkerbell zum heimlichen Star des Abends wird. Das war´s.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 11., 12. Mai, 1. und 2. Juli. Karten unter 030/28 40 81 55.




Eine Betrachtung des Neuen: Heiner Goebbels‘ 2. Ruhrtriennale-Programm

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale. Foto:

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale, setzt erneut aufs Experiment. Foto: Wonge Bergmann

Teufel: Da hat doch die Kinderjury der Triennale im vergangenen Jahr ihren Preis „Die größte Qual für die Ohren“ ausgerechnet der Lieblingsband des Intendanten Heiner Goebbels zugedacht. Und dann musste er sich von Teilen des Publikums anhören, ein Theaterabend ohne Pause sei arg gewöhnungsbedürftig. So kann es gehen, wenn der Rezipient aus den eigenen (Hör)-Ritualen heraus einem kunstsinnigen Macher begegnet, der das Experiment liebt, das Neue, eben Unerhörte. Das Triennale-Programm dieses Jahres spricht darüber, wieder einmal, Bände.

Goebbels verfasst im Editorial ein Plädoyer für die herrliche Unbefangenheit der Kinderjury, sieht die Vorstellungspause als Störung eines komplexen Wahrnehmungsprozesses. Umgekehrt heißt dies wohl, dass sich der Intendant ein ebenso offenes, dazu höchst neugieriges, intellektuelles Publikum wünscht – für all die Produktionen, die wir hier ganz unbefangen als Theater 2.0, Antitheater oder Metatheater bezeichnen wollen.

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene - wie aus dem Futuristenlabor. Foto:

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene. Foto: Klaus Grünberg

Den Beginn markiert in dieser Saison das Musiktheater des Amerikaners Harry Partch, ein Stück zwischen Traum und Wahn namens „Delusion oft he Fury“. Mit vom Komponisten eigens gebauten Instrumenten und von ihm aufgezeichneten Tonsystemen. Das Bühnenmodell, das im Programmbuch zu sehen ist, wirkt wie aus dem Baukasten eines Futuristen. Das Original gibt’s dann in Bochums Jahrhunderthalle zu bestaunen.

Das Theater 2.0 wiederum findet sich im Tanzgeschehen der Brasilianischen „Grupo de Rua“: Wie zu lesen ist, leitet sich „CRACKz“ aus choreographischem Material ab, das im Internet zu finden ist: „download, remix, share – speichern, neu zusammenfügen, teilen“ ist das Prinzip, zu erleben auf Zollverein in Essen.

Nichts weniger als den Theaterbetrieb ad absurdum führen will „Forced Entertainment“: Altvertraute Figuren und Textfragmente stehen einem Science-Fiction-Sujet gegenüber. Eine Mixtur, „Das letzte Abenteuer“ genannt (Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck). Ähnlich geheimnisvoll, märchenhaft und abenteuerlich geht es in Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zu. Abgesehen davon, dass der Komponist hier die annähernd völlige Dominanz des musikalischen Geräuschs zelebriert, wird Hans-Christian Andersens bekanntes Märchen durch weitere Texte verfremdet. Das Ergebnis kann, wie jüngst in Berlin gesehen, ein unglaubliches Erlebnis werden. Zur Triennale darf nun Robert Wilson seinen Zugang zum wuchtigen Stück, in der Jahrhunderthalle, offerieren.

Beinahe spukig soll es zudem ausschauen in „Stifters Dinge“, einer von Goebbels selbst verantworteten Performance im Duisburger Landschaftspark. Fünf Klaviere erklingen, ohne Hilfe eines Pianisten, es gibt keine Akteure, nur Töne und Bilder. Ein Theater über das Theater: Im Zentrum stehen Bühnenbestandteile (Vorhang), Mittel für szenische Tricks wie Eis oder Nebel.

Die einzige Konstante bei all diesem avantgardistischen Vorpreschen ist das Publikum. Es darf  rätseln, entschlüsseln, sich wundern oder ärgern, debattieren, vielleicht sogar still genießen. Es darf im übrigen auch mitmachen: In William Forsythes großflächigem Labyrinth, einem Raum mit 400 Pendeln, die sich in variablen Tempi bewegen, sollen geneigte Betrachter lustvoll umherschweifen. Oder eher schlangengleich: Denn eine Berührung des Instrumentariums im Essener Museum Folkwang sei zu vermeiden, heißt es im Programm. Ja, wo die Kunst ihre Ordnung hat, ist im Zweifel der Mensch für das Chaos verantwortlich.

„Habt Mut !“ wollen wir den Besucherscharen zurufen. Denn schon manche Theaterrevolution hat sich im Nachhinein als Spiel auf der Bühne vor Publikum entpuppt. Wie in hunderten von Jahren zuvor. Auch Heiner Goebbels und seine Mitstreiter werden das Rad nicht neu erfinden können. Vielleicht sieht’s nur ein bisschen peppiger aus.

Im Internet (www.ruhrtriennale.de) stehen alle weiteren Informationen, im übrigen auch über sämtliche Produktionen der vorherigen Festival-Jahrgänge. Der Vergleich lohnt sich.




Zeitgeist auf der Bühne: „Kinder der Revolution“ in Bochum

logoSie hätten ganz einfach Büchner wählen können. Dantons Tod – auch ein Revolutionsdrama. Aber die Studierenden der Folkwang Universität der Künste wollten für ihren Abend an den Bochumer Kammerspielen selbst ein Stück Revolution schreiben.

Gemeinsam mit dem vielfach ausgezeichneten Regisseur Nuran David Calis suchten sie einen eigenen Zugang dazu, was in der Welt passiert, fanden Kontakt zu jungen Menschen aus neun Ländern und versuchten, ihnen via E-Mail, Skype oder persönliche Treffen nahe genug zu kommen, um sie auf der Bühne zu verkörpern.

Die „Geschichten der Menschen ohne die Medien“ wollten sie, rufen sie im Chor, und kündigen an: „Was jetzt kommt, sind keine Nachrichten, keine Ideologien, keine Theorien.“ Sondern? Ja, was ist „Kinder der Revolution“ geworden? Ein aufwändiges, spannendes Theater-Experiment, das auch von der Schwierigkeit handelt, ein Theater-Experiment auf die Bühne zu bringen.

Denn es ist ein sehr schmaler Grat zwischen einem Theaterexperiment mit authentischem Material und sozialkritischem Betroffenheitstheater. Regisseur Calis hat genau damit Erfahrung, man denke an seine  „Homestories – Geschichten aus der Heimat“ mit Jugendlichen aus Essen-Katernberg am Schauspiel Essen.  Die Schauspielschüler in Bochum versuchen die Balance zu meistern, indem sie immer wieder Brüche einbauen. Niemandem wird gestattet, zu tief in das Schicksal seiner Figur einzutauchen – die Kollegen holen einander dann spielerisch, ironisch oder auch unter Einsatz einer Wasserdusche in die Theater-Gegenwart zurück. Wie sehr lässt man sich auf „seine“ Figur ein, wie nahe soll man ihr kommen – das sind für Schauspieler existenzielle Fragen, auf die die jungen Akteure in diesem Stück ebenfalls Antworten suchen.

Phillip Henry Brehl etwa erzählt von Mohamed genannt „Bibi“, dem Tunesier, der sich aus Perspektivlosigkeit selbst anzündete und damit die arabische Revolution entfachte. Maximilian Schmidt schrieb sich mit der New Yorker Occupy-Aktivistin Cecilie, deren persönliche Krise ähnliche Dimensionen hat wie die Banken-Krise. Sandra Schreiber bringt uns Julia aus Spanien nahe, die durch die al-Qaida-Anschläge in Madrid politisiert wurde, und Mirja Fajfer spielt einen jungen Palästinenser, der noch nie etwas anderes als den Gaza-Streifen sah. Auf der Bühne aus grauen Kuben verwandeln sich die Akteure nie vollständig in ihre „Kontakte“, sie deuten an, wechseln zwischen Erzählen und Spielen.

Es gibt aber auch Geschichten des Scheiterns am selbst gesetzten Anspruch: Raphael Dwinger fand keinen Draht nach Russland, und Leander Gerdes suchte in London-Tottenham erwartbar ergebnislos nach Beteiligten an den Riots. Doch auch diese Geschichten sind spannend erzählt und bildstark inszeniert.

Insgesamt hatte der Abend etwas zu viele Ausrufezeichen, zu viele in die Luft gereckte Arme und Fäuste, letztlich auch zu viele Worte. Der Erkenntnisgewinn bleibt mager, viele bunte Puzzle-Teilchen ergeben zwar Motive, aber noch kein Bild. So ist das vermutlich, wenn man echte Menschen und Krisen auf der Bühne behandelt. Trotzdem: Ein gelungener Ansatz und ein sehenswertes Experiment.

Nähere Informationen: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/11470298

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(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Zweite Chance: „Liliom“ im Bochumer Schauspielhaus

Eine Katze hat sieben Leben, James Bond wird unzählige Male erschossen und steht wieder auf und auch Liliom bekommt eine zweite Chance: Nach 16 Jahren Fegefeuer darf der Titelheld des gleichnamigen Stückes von Franz Molnár nochmal auf die Erde zurück, um sein verpfuschtes Leben gerade zu biegen. Zu den Klängen von „Skyfall“ steigt er auf die Bühne des Bochumer Schauspielhauses herab – und scheitert zum zweiten Mal.

LILIOMFoto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

LILIOM
Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Was zuvor geschah: Techno wummert, der Autoscooter kreist, Liliom (Florian Lange) macht einen auf dicke Hose. Er ist der „junge Mann zum Mitreisen“ im „Ringelspiel“, eine halbseidene Figur wie die anderen zwielichtigen Typen, die auf der Kirmes mit ihren Kunststückchen angeben. Zu diesem Zweck hat die Regisseurin Christina Paulhofer Artisten von Urbanatix engagiert, einem Kulturhauptstadtprojekt, das mit Street Art Shows das Publikum begeisterte. So mischen drei Tänzer und eine Tänzerin die Rummelplatz-Szene mit Flickflacks, halsbrecherischen Autoscooter-Stunts und fingierten Prügel-Szenen auf.

So ganz rund läuft die Choreografie bei der Premiere noch nicht, denn das Timing zwischen Showeinlagen und Stückhandlung muss extrem exakt sein, damit die Szenen nicht aus dem Rhythmus kommen. Aber das kann sich in den nächsten Vorstellungen ja noch zurechtruckeln. Für besonders gelungene Stunts bekommen die Urbanatixe Szenenapplaus, auf jeden Fall sorgt ihr Engagement für eine aktuelle Ästhetik des 1909 uraufgeführten Stückes.

Eigentlich handelt es sich um eine Liebesgeschichte im Armeleutemilieu mit düsterem Ausgang: Liliom, Schläger, Angeber und ein vagabundierendes Temperament, kann dem Mädchen Julie nicht gerecht werden. Weil sie die besseren Argumente hat, prügelt er sie. Einen Hausstand zu gründen, einer geregelten Arbeit nachzugehen, dazu ist er nicht geschaffen. Er bricht immer wieder aus der engen Wohnung aus. Als Julie schwanger wird, sind Freude und Stolz zunächst groß. Doch der Zuschauer ahnt: Das wird ein böses Ende nehmen. Geldmangel lässt ihn ein idiotisches Verbrechen begehen, aus Angst vor dem Gefängnis richtet er sich selbst.

Christina Paulhofer hat aber nicht nur die Charakterstudie des gescheiterten Angebers, sondern auch das Phänomen des weiblichen Masochismus im Blick: Warum lässt sich Julie prügeln? Und warum genießt sie es auch noch? Kristina Peters spielt die Julie als freche Göre in ihrem kurzen Röckchen, für die diese Liebe ein unreifer Mädchentraum ist. Da lässt sie sich lieber schlagen, als diese Illusion aufzugeben – mehr schrill und verstört denn verzweifelt. Ähnlich „Ringelspiel“-Besitzerin Frau Muskat (Julika Jenkins), die Liliom fürs Geschäft braucht – und sich dafür buchstäblich abwatschen lässt, eine gestandene Frau, plötzlich bedürftig nach Zuneigung des Jüngeren.

Doch dass die Weiber ihm verfallen sind, bringt Liliom keineswegs Glück. Bei seiner Wiederkunft auf der Erde begegnet er seiner Tochter (Mascha Schneider) zum ersten Mal und schlägt auch sie. Ihr hat’s ebenfalls nicht weh getan. Na, toll. Hier wird die Angelegenheit ein bisschen gestrig. Statt Liliom als Identifikationsfigur aufzubauen, hätte die Regie ihn lieber zum Teufel schicken sollen. Geschieht ihm doch recht, dem Idioten, soll er in der Hölle schmoren. Und Mädels: Weint ihm keine Träne nach!

Infos/Termine: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/10789286




Der Fremde, im Museumsraum gefangen: Ibsens „Peer Gynt“ in Düsseldorf

Was macht der Zugereiste, der Fremde an schmuddeligen Wintertagen in Düsseldorf? Wenn man nicht über die Rheinpromenade flanieren mag und Shopping auf der Kö zu teuer ist? Genau: Er geht in eines der hochkarätigen Museen der Kunststadt, spaziert in wohltuender Stille zwischen großformatigen Fotos umher, die sich realistisch geben, aber auf eine andere Wahrheit verweisen wollen. Die die Sehnsucht nach fernen Welten wecken und nach einem „höher hinaus“, nach einem Überschreiten der dörflichen Grenzen, nach einem Ende des kunstsinnigen Flüsterns.

Wie ein Fremdköper benimmt sich denn auch „Peer Gynt“ im Norwegerpullover (Olaf Johannessen) in den heiligen Hallen. Denn Staffan Valdemar Holm, der schwedische Ex-Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses, hat Ibsens mythenbeladenem Helden in seiner neuesten Inszenierung ein Museum auf die Bühne gebaut. Lautstark streitet Peer dort mit der Mutter, sein ganzer Körper gespannt vor Aggressivität. Pöbelnd stört er den Hochzeitszug, ein Outlaw, den die Missbilligung der Gesellschaft zu besonders provozierendem Benehmen anstachelt. Doch es kommt noch besser: In ungezügeltem Trieb schändet er die Braut, stößt sie dann von sich. Wie ein reißender Wolf fährt er in die Herde der pietistisch korrekt gekleideten Trachtenmädchen, bespringt eine nach der anderen ohne zu ermüden. Doch auch das reicht ihm nicht. Wem das Menschsein zu eng wird, der sollte vielleicht ein Troll werden?

Staffan Valdemar HolmFoto: Sebastian Hoppe

Staffan Valdemar Holm
Foto: Sebastian Hoppe

Es fällt schwer, als Zuschauer in Holms neuester Inszenierung nicht nach biographischen Anspielungen zu suchen: Aus gesundheitlichen Gründen hatte Holm Ende letzten Jahres seinen Posten als Intendant niedergelegt. Mit großer Offenheit hatte er über sein Burnout gesprochen und ebenso seinen Unmut über Sparmaßnamen und Auslastungsdruck öffentlich gemacht. In seiner Talkreihe „Gebrochen Deutsch“ thematisierte Holm mit feiner Ironie den „ausländischen“ Blick auf Düsseldorf, Merkwürdigkeiten, die Zugereisten auffallen, von den Hiesigen dagegen für selbstverständlich gehalten werden. So hat es „Peer Gynt“ nun in eine nordrhein-westfälische Kunstsammlung verschlagen – doch wie kommt er da bloß wieder raus?

Die Antwort lautet: Gar nicht. Denn ob Peer Gynt Thronfolger bei den Trollen wird oder reicher Sklavenhändler in Übersee, er bleibt doch immer im Museumsraum gefangen, nur die Ausstellungswände verschieben sich und die Bilder wechseln. Seine Geschichte bleibt immer eine vermittelte, eine, die man sich seit langer Zeit erzählt und die wir eher vom Hörensagen kennen. Denn wer von uns hätte schon eine richtige Heldenreise selbst erlebt? Deswegen kommt einem Peer Gynt auch eher vor wie ein Zukurzgekommener mit Borderline-Syndrom. Ihm bei seinen Eskapaden zuzusehen, hat durchaus Unterhaltungswert: Holms Inszenierung beweist Leichtigkeit und subversiven Witz, besonders das Trollvölkchen mit dicken Brillen und langen Plüschschwänzen entlarvt das Spießertum auf skurrile Weise.

Auch wenn der zweite Teil ein paar Längen aufwiest, so zieht die letzte Szene den Zuschauer noch einmal in ihren Bann. In einer verzweifelten Pantomime klammert sich Peer an seine große Liebe Solvejg (Anna Kubin), die er einst verliess. Doch er kann seine früheren Taten nicht ungeschehen machen und steht wieder mit nichts da wie zu Beginn, obwohl er doch alles erringen wollte.

Zum Glück hat wenigstens jemand zwischendurch Fotos gemacht und sie an die Wand gehängt. Wie geronnene Seelenzustände, die wir ein wenig distanziert betrachten. Ein fremdes Schicksal eben.

http://duesseldorfer-schauspielhaus.de/de_DE/Premieren/Peer_Gynt.867709




Die Stimme wie ein Gedicht: Zum Tode von Rosemarie Fendel

Es versetzte mir gestern einen mächtigen Stich, als die Nachricht, dass Rosemarie Fendel 85-jährig gestorben sei, über mich fiel.

Allerdings wollte ich nicht die zahllosen Nachrufe um den meinen erhöhen, weil andere das sicher besser verstehen und einer übergroß anmutenden Künstlerin näher kommen, als ich das kann. Als ich abends auf dem Heimweg allerdings ihre Stimme hörte, wie sie als 80-jährige Jugendliche im „Tischgespräch“ auf WDR 5 über sich und ihre lange Lebenszeit erzählte, beschloss ich, denn doch einige Zeilen zu verfassen – über eine Frau, die das moderne Gesicht der Darstellungskunst in meiner Jugend war, die beinahe jeder bewundernswerten Filmgröße der Welt ihre Synchronstimme gab (Liz Taylor, Jeanne Moreau, Angie Dickinson, Gina Lollobrigida, Simone Signoret), die in Hörspielen (z.B. Paul Temple) fesselte, die mit dem Mann ihrer 27 gemeinsamen Jahre, Johannes Schaaf, quasi eine d e r Lichtgestalten des guten deutschen Kino war.

Diese Stimme! Bis ins hohe Alter stets jugendlich, fast mädchenhaft, von so subtiler Erotik, dass der Hörende lächelnd erschauerte. Auch in diesem wunderbaren Gespräch, das WDR-Mann Volker Schaeffer brilliant durch den Abend lenkte, der sich dabei wohltuend aus dem Vordergrund zog und Rosemarie Fendel im Grunde die Gesprächsleitung überließ, da war sie die verspielte große Frau, die bodenständig unnahbar wirkte. „Ich mag Männer, ich mag vor allem kluge Männer!“ Nach einem solchen Satz weiß jeder, wo er hingehört.

Sie liebte das Darstellen, sie liebte Tiere („Außer Mücken und Blutegel“) und sie liebte Poesie. Gedichte aufzusagen geriet für sie und jeden, der ihr dabei zuhörte, zum Ausnahmegenuss. Typisch, wie sie zu dieser Liebe gekommen war. In kriegswichtigen Zeiten gingen ihr gassenhauernde Sätze nicht aus dem Kopf, wenn sie öde kriegswichtige Arbeiten verrichtete. Da folgte sie dem Rat eines Mannes, der ihr Lektüre und Rezitation von Versen aus Gottfried Benns Feder anempfahl. Das half, und die Leidenschaft für große und gute Gedichte blieb. Und sie verabschiedete sich mit Poesie aus dem „Tischgespräch“ – und sanft in unsere bleibende Erinnerung.

Ich kann Bernd Berkes Facebook-Kommentar zum Tod von Dieter Pfaff und Rosemarie Fendel nur teilen: Kann nicht zur Abwechslung auch mal eine chargierende Knalltüte abtreten?




Zum Tod von Dieter Pfaff: Warum sind wir uns eigentlich nie begegnet?

Warum sind wir uns eigentlich nie über den Weg gelaufen? Er wurde 1947 in Dortmund, der Stadt meiner Jugend, geboren, fast genau ein Jahr, bevor es mich auf dürren Beinen gab. Er besuchte das Aufbaugymnasium (später Ernst-Barlach-Gymnasium) in Unna, wo ich die meiste Zeit meines Arbeitslebens verbrachte.

Er war mit dem Schriftsteller Heinrich Peuckmann in einer Klasse, dem ich freundeskreislich schon lange verbunden bin. Er hatte ein großes Herz für den BVB, und meines schlägt ja auch im Biene-Maja-Takt. Aber wir sind uns nie auf kreuzenden Wegen begegnet, vermutlich war er immer schon an einem anderen Ort, wenn ich irgendwo eintraf. Nun ist Dieter Pfaff nicht mehr, wir werden uns nie begegnen und ich werde nie erfahren, ob er wirklich so liebenswert war, wie ich es annehme. Ich bewahre mir aber diese Überzeugung.

65 Jahre wurde Dieter Pfaff alt –„Der Dicke“ oder „Sperling“ oder „Bloch“ – der Schauspieler zahlloser Rollen, dem aber eines beinahe immer zu eigen war: seine ungewöhnliche Körperfülle, die er zusammenspielen ließ mit einer sonor-ruhigen Stimme, ausgewogener Motorik und einem offenbar haarnadelscharfen Verstand, der seine Äußerungen antrieb. Er erlag dem Lungenkrebsleiden, das er Anfang des Jahres noch als erfolgreich behandelt schilderte.

„Der Dicke“ – das war ein Serientitel, den man landauf landab mit seiner üppigen Körperlichkeit assoziierte. Der Rechtsanwalt, der „kleine“ und „kleinste“ Leute lieber vertritt als solche, die auf seine Klienten herab sehen. Das nahm ihm sein Publikum ab, das war authentisch. Dieter Pfaff war Sohn eines Polizisten, zu dem er ein ebenso „intensives wie schwieriges Verhältnis“ hatte. Er verstand sich als Menschen, der von der 1968-er Bewegung geprägt war, er verstand diese indes aber auch als so mehrschichtig und mangelhaft aufgearbeitet, dass er weder dazu neigte, sie mit einem Glorienschein zu umkränzen noch ihre Auswirkungen als Teufelswerk zu geißeln.

Sein Weg begann in engem Kontakt zu den „normalen Menschen“, sein politisches Dasein blieb in Fühlweite dieser „normalen Menschen“ und er selbst wurde nie jemand, der blitzbelichtert über einen roten Teppich daher kam. Deshalb konnte jeder und jede ihn als so einen „Dicken“ wahrnehmen und sein Rollenverständnis verstehen.

Dieter Pfaff erlernte seinen Beruf als Schauspieler so gut, dass er in Graz jahrelang eine Professur ausübte – nachdem er in seiner Heimatstadt Dortmund, in München, im Theater am Turm in Frankfurt und auf vielen anderen Bühnen bewiesen hatte, dass sehr viel in ihm steckte. Damals war er noch gertenschlank, denn das – wie er sagte – ihn erdende Körpervolumen nahm er erst jenseits des 30. Lebensjahres an.
Dieter Pfaff wurde mit Grimmepreisen bekränzt, schuf Charaktere mit seinen Rollen, die bundesweit und weiter populär waren und es bleiben werden. Und wenn er Muße am Set hatte, zupfte er gedankenverloren die Gitarre oder begleitete sich beim eigenen, allgemein als wohltönend gerühmten Gesang.

Eine Begegnung mit ihm blieb mir versagt, meine Bewunderung für ihn spreche ich gern aus. Und die Erinnerung an seine Charaktere – das fällt mir jetzt auf – ist so stark, dass ich die in ihrer Vielfältigkeit gar nicht mehr als einzelne erkenne, sondern sie als Gesamtbild vor mir sehe.




„ear“ schmeichelt den Ohren!

Manchmal braucht es erst ein paar Umwege und Zufälle, damit man auf etwas Besonderes stößt. Das war so im Falle meiner Ohren und der Band „ear“ – mittlerweile eine Beziehung des zumindest einseitigen Wohlgefallens. Wer seinen Gehörgängen ebenso etwas Schönes bieten möchte, hat jetzt die Chance dazu bei zwei Konzerten in Dortmund.

Die Band ear: Raphael Tschernuth und Günther Harder. Foto: www.ear-theband.com

Die Band ear: Raphael Tschernuth und Günther Harder. Foto: www.ear-theband.com

Günther Harder kannte ich „nur“ als Schauspieler im Dortmunder Ensemble unter Michael Gruner. Als einen, der auf der Bühne nicht nur steht, sondern ganz da ist, mit ausgeprägtem Sinn für Situationskomik, die er in Inszenierungen wie „Kommt ein Mann zur Welt“ von Hermann Schmidt-Rahmer aufs Köstlichste ausleben konnte. Den zutiefst zynischen Zweifler in einem Houellebecq-Best Of hat man ihm ebenso abgenommen, wie den von Schulmädchen mit großen Augen angehimmelten Schiller’schen Räuber. Und dann, eines Pressekonferenzen-Nachmittags, lehnt sich Günther K. Harder an ein Klavier und fängt einfach so an zu singen. Schön und eindringlich, das man sich wunderte, warum diese Facette einem bislang unbekannt war.

Das war allerdings nicht Herrn Harders Schuld. Denn als „ear“ firmiert er schon seit 2002 mit Raphael Tschernuth. Die beiden haben sich in einer bayerischen Kleinstadt musikalisch zusammengetan und sind es geblieben, auch wenn es sie mittlerweile nach Berlin und Leipzig verschlagen hat. Höchst produktiv sind sie auch noch: Gerade ist mit „Out in the open“ ihr sechstes Album erschienen, ganz ohne Label und Management, zu kaufen über ihre Homepage http://www.ear-theband.com

Dort ist auch zu lesen, dass „ear“ mal durchaus mit elektronischen Einflüssen angefangen hat. Diese Klangfarbe der beiden kenne ich nicht – ich habe erst reingelauscht, als sie schon mitten in der Alternative-Pop-Phase angekommen waren. Und ich bin hängen geblieben an diesen klaren, schönen, melancholischen Melodien und Textzeilen, die man mit in den Tag nimmt.

„ear“ macht Musik für die Stunden im Auto, wenn die Sonne auf- oder untergeht und die Fragen kommen. Nachdenklich, aber nicht zerschmetternd. So, wie „Trying to Fall“ von ihrem neuen Album schon mit der Frage „Where did we go with our lives?“ einsteigt. Wer sich also auf Wanderschaft begibt, im Kopf, in die Weite da draußen, der findet in der Musik von „ear“ einen sympathischen Begleiter, der einen durchaus auch mal zum Summen bringen kann.

Also, auf geht’s:

28.02.2013 – Dortmund – Subrosa beim 3Klang Festival ab 19 Uhr

01.03.2013 – Dortmund – Salon Fink, 20.30 Uhr




Passionsspiele in Gelsenkirchen

Jesus von Rotthausen

Jesus von Rotthausen

Um Aufsehen zu erregen, muss sich jeder heutzutage was einfallen lassen, vor allem der Theatermensch. Da gibt’s kaum noch Möglichkeiten zum Skandal und ein Fernsehpromi ist auch nicht jeder Zeit zu bekommen. Und wenn, dann muss er namens- und nicht nur gesichtsbekannt sein.

Was tun? Ganz einfach: Man macht was, was nicht so recht ins Ruhrgebiet passt. Man lädt ein zur „Passion“ und wenn das noch aus Gelsenkirchen kommt, dann werden die Medien aufspringen müssen. So geschehen in dieser Woche. „Passionsspiele in Gelsenkirchen-Rotthausen“ hieß es da. Die „Bühne im Revier“ unter der Leitung von Elmar Rasch kündigt die 1. Gelsenkirchener Passionsspiele an. Die ersten – wohlgemerkt – dahinter verbirgt sich der Anfang einer Traditionsgeschichte.

Oberammergau ist überall

Weltweit kennt man die Passionsspiele von Oberammergau, wo seit 1680 alle zehn Jahre alle Dorfbewohner auf den Beinen sind, die letzten fünf Tage von Jesus Christus auf die Füße zu stellen. Dadurch wollte man damals von der Pest verschont bleiben. Am 22. Februar 1990 wurde durch Gerichtsentscheid den Oberammergauer Frauen die volle Gleichberechtigung bei der Mitwirkung an den Passionsspielen verschafft. Eine halbe Millionen Zuschauer aus aller Welt sehen die ca. 100 Aufführungen zwischen Mai und Oktober. Da kommt so einiges an Umsatz zusammen. Devotionalien aller Art finden reißenden Absatz.

Pilgerort Gelsenkirchen

Sollte eines Tages das Passionsspiel in Rotthausen den Stadtteil Schalke als Touristenziel übertreffen? Aber der 10-Jahreszyklus wäre für die Stadt ein zu visionärer Ansatz. Doch man fängt ja gerade erst an mit immerhin 14 Vorstellungen in der evangelischen Kirche an der Steeler Straße. Pastor Rolf Neuhaus ist zuversichtlich, die Stadt unterstützt die Unternehmung und die Sparkasse lässt sich auch nicht lumpen.

Es ist kalt, die Kirche ist bei der Premiere zu drei Vierteln besetzt. Leise klingt sakrale Musik. Keine Bühnenaufbauten, der Raum wird so genutzt wie er auch zu normalen Gottesdiensten benutzt wird. Der Pfarrer spricht, dann der Bezirksbürgermeister. Er weist auf Oberammergau hin und hofft tatsächlich, dass seine Stadt zu einem Mekka für Passionsfreunde wird. Am Anfang war das Wort. So fängt es dann auch an, das Spiel der Laien, Halb und Vollprofis. Johannes der Täufer ruft zur Taufe und die in „zeitgemäße“ Kostüme gehüllten Damen und Herren stehen an. Skeptiker würden sagen: „Andere taufen auch nur mit Wasser.“ „Seid füreinander da!“ ruft Jesus, gespielt von einem jungen Mann namens Jesse Krauß. Es scheint, als habe er sich auch äußerlich der Rolle verschrieben. Man sieht eine große Schar von Menschen „wie Du und ich“ als Volk. Wir sehen Schergen und Kostüme und kennen die Geschichte, die sich hier aufblättert vor dem Altar. Und natürlich geht Jesus langsamen Schritts die Gänge entlang. Keine Hektik! Der Heiland wirkt hier entschleunigend modern.

Keine Spur von Monty Python

Wer Monthy Python erwartet, wird enttäuscht sein. Es gibt keinen Jux zu vermelden. Eine Frau soll gesteinigt werden. Jesus nimmt einen davon und hält ihn dem Kirchenpublikum entgegen: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“  Auch hier in Gelsenkirchen meldet sich niemand, der von sich behauptet, er sei sündenfrei.  Es gibt also auch nichts Neues zu vermelden, außer, dass es jetzt Passionsspiele in Gelsenkirchen gibt. Holla, die Waldfee. Schade, dass die Kulturhauptstadt schon vorbei ist.

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Gelsenkirchen, Ev. Kirche, Steeler Straße 48. Karten 15 Euro. Die nächsten Vorstellungen im Februar: 15. Feb. (19 Uhr), 17. (17 Uhr), 22. (19 Uhr), 24. (17 Uhr). Weitere Termine im März. Internet-Infos: www.buehneimrevier.de (Tel.: 0209/149 79 866)




Wagnisse erwünscht – das Programm der Ruhrfestspiele 2013

Programmheft RuhrfestspieleAufbruch und Utopie – unter diesem Motto stehen in diesem Jahr die Ruhrfestspiele. Nach ergiebigem Studium des Programmheftes stellt sich allerdings schon die Frage, ob das Motto nicht ein wenig zu gewagt und da eher der Wunsch der Vater des Mottogedankens ist.

Wenig spektakulär, kaum wagemutig mutet das Programm an. Schon quantitativ ist es weniger umfangreich als in den letzten Jahren. Ein Zeichen, dass auch das Programmheft kleiner ist als sonst? Ein Zeichen, dass man in der sonst so umlagerten Kartenstelle sogar in der ersten Woche des Vorverkaufs ohne Wartezeit sofort drankommt? Ich hoffe nicht. Denn eigentlich ist es ja Konsens, dass die Ruhrfestspiele den Machern und dem Publikum gleichermaßen am Herzen liegen.

Geben wir also jener Epoche eine Chance, die gerne die Geburt der Moderne genannt wird. Denn aus dieser Zeit, beginnend mit dem wilhelminischen Zeitalter bis hin zur Machtergreifung der Nationalsozialisten, sind die Werke, die 2013 zur Aufführung auf dem Hügel und umliegender Spielstätten gelangen. Kafka, Hauptmann, Schnitzler, Wedekind, Fallada – um nur wenige zu nennen, deren Werke das gewünschte Spannungsfeld zwischen Realität und Utopie zeigen sollen.

Hedda Gabler wird die Ruhrfestspiele eröffnen, eine Premiere in Ko-Produktion mit dem Deutschen Theater, Berlin. Auch im weiteren Verlauf setzt man auf bewährte Ko-Produktionen, so mit dem Théâtre National du Luxembourg. Das St.Pauli Theater Hamburg, welches in den letzten Jahren vielleicht nicht immer für Highlights, aber zuverlässig für Kontroversen sorgte, ist diesmal leider nur mit einer, eher brav anmutenden Ko-Produktion dabei.

Internationale Stars glänzen eher durch Abwesenheit, auf dem Hügel bereits bekannte Akteure wie Angela Winkler oder Christian Brückner geben sich aber wieder die Ehre. Auch auf einige Stars der Theaterszene, wie die wunderbare Birgit Minichmayr, für die der schöne Festspielort auf dem Recklinghäuser Hügel Neuland ist, darf man sich freuen. Mit der Halle des alten Bergwerks König Ludwig wird zudem ein neuer, traditionsträchtiger Spielort präsentiert.

Ein umjubeltes Highlight war im letzten Jahr das Ballett Onegin in der Choreographie von Boris Eifman. Eifman und seine St.Petersburger werden auch dieses Jahr wieder da sein, diesmal mit Red Giselle, eine der wenigen Produktionen, für die es bereits jetzt nur noch wenige Karten gibt. Ein besonderes Event erwartet man sich dieses Jahr vom Abschlusskonzert. Keine Geringeren als die Fantastischen Vier dürfen den Hügel rocken und wohl wie ihre Vorgänger von der einzigartigen Location begeistert sein.

Allerdings wird gerade beim Abschlusskonzert mit einer langjährigen Tradition gebrochen. Bonuskarten waren einmal. In diesem Jahr gibt es gerade mal 5 Euro Nachlass für die ersten 1500 Ticketkäufer, die mehr als 6 Karten für die Ruhrfestspiele erwerben. Bei 40 Euro pro Karte für das Abschlusskonzert ein mehr als mageres Goodie. Keine Frage, 40 Euro ist ein fairer Preis für Konzerte dieser Art, den Fanta4 sicher auch angemessen. Das soll hier auch gar nicht bezweifelt werden. Dennoch – die Ruhrfestspiele sollten immer auch ein Festival auch für die sogenannten kleinen Leute sein und ihnen den Zugang zu solchen Veranstaltungen ermöglichen. Zudem bleibt zu bedenken, dass man auf dem Open-Air-Hügel nicht überall wirklich gut sehen kann, zudem hat dort um 22:00 Uhr Schluss zu sein.

Bleibt die Frage, ob diese neue Praxis den Fanta4 geschuldet oder ob es einfach nur folgerichtig für eine Stadt ist, die gerade erst die Grundbesitzabgaben und die Gewerbesteuern deutlich erhöhte, dafür sogar extra in einem Brief um Verständnis warb und es sich nun wohl kaum mehr leisten kann, Karten zu verschenken.

Ausführliche Infos zu den Veranstaltungen finden sich auf der Internetseite der Ruhrfestspiele Recklinghausen.




Klassenkampf light: Schauspielhaus Bochum zeigt Brechts „Im Dickicht der Städte“

Am Schönsten ist das Bühnenbild: Aus tausenden bunten LED-Leuchten zusammengesetzt, glitzert auf schwarzem Bühnenhintergrund das nächtliche Chicago. Auch in seiner Zerstörung funkelt es noch verführerisch, wenn sich die die kleinen Lämpchen schon längst über den Bühnenboden verteilt haben. Am zweitschönsten ist die Musik: Nadja Robiné im Amy Winehouse-Outfit bereichert die Szenerie mit coolen Songs und jazzig angehauchten Rhythmen, arrangiert hat das Daniel Murena für das Schauspielhaus Bochum.

Ansonsten führt Roger Vontobels Inszenierung von Bertolts Brechts „Im Dickicht der Städte“ vor, was aus dem guten alten Klassenkampf geworden wäre, gäbe es ihn heute noch. Statt in einer Leihbücherei würde George Garga (Florian Lange) in einer Videothek arbeiten, was der Zuschauer dann auch großformatig im Video zu sehen bekommt. Die armen Leute, in diesem Falle seine Eltern, säßen unförmig verfettet und chipsfressend auf dem Sofa und glotzten Unterschichtsfernsehen. Seine Schwester Marie ginge lieber mit dem trashigen Brutalo-Rapper, Typ nervöser Irak-Veteran, als sich mit einem „Schlitzauge“ einzulassen.

Foto: Arno Declair

Foto: Arno Declair

Obwohl das „Schlitzauge“ namens Shlink schweinereich und folglich von einer Gang halbseidener Mafia-Typen umgeben wäre. Aus reiner Willkür und um des Kampfes willen, hat der Holzhändler die Absicht, den armen George Garga in den Abgrund zu stoßen und ihm seine Überzeugungen gleich mit abzukaufen.

Doch warum Holzhandel? Hier hätte Vontobel in seinem Brecht 2.0 eigentlich so einen Internetfritzen mit Allmachtsfantasien entwerfen müssen – wie beispielsweise WikiLeaks-Gründer Julian Assange oder so. Aber bei genauem Hinsehen: Ähnelt Matthias Redlhammer mit seinem silbergrauen Haar und seinem schwarzen Anzug dem nicht sogar ein bisschen?

Im Grunde also hat der Relaunch von Brechts Frühwerk (Uraufführung 1923) ganz gut geklappt. Die Frage ist nun, warum die Inszenierung trotzdem nicht so recht zündet. Ist uns der Klassenkampf einfach zu fern? Kapieren wir nicht mehr seine existenzielle Schärfe, weil unser Unglück (teilweise) sozial abgefedert wird? Ist die Vereinzelung schuld, das Phlegma, sich zusammenzutun und zu engagieren? Oder das resignierte Gefühl, gegen einen übermächtigen Gegner, der einfach mal so die WR-Redaktionsstelle oder den Opel-Arbeitsplatz abschafft, sowieso nichts ausrichten zu können?

Dabei sagt doch Shlink: „Wenn ihr ein Schiff vollstopft mit Menschenleibern, dass es birst, wird eine solche Einsamkeit in ihm sein, dass sie alle gefrieren. Ja, so groß ist die Vereinzelung, dass es nicht einmal einen Kampf gibt.“

Vielleicht haben wir unseren Brecht ja inzwischen eingeholt oder er uns: Die Krieger sind müde, Kämpfe finden nur noch als Scheininszenierungen in der Glotze und im Videospiel statt. Und natürlich in Weltgegenden, die uns nichts angehen. Und zwei Kämpfern zuzusehen, die selbst gar keine Lust haben zu gewinnen, ist naturgemäß öde. Ach, zapp das mal weg und gib lieber die Chipstüte rüber. Ich trink noch einen Bubble Tea.

Informationen: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/11204749




Endzeitstimmung in der Tanzschule: „Skin Deep Song“ in Essen uraufgeführt

Kann es einen trostloseren Ort geben als eine ehemalige Tanzschule? Eine vergessene Disco-Kugel hängt zwischen kaputten Deckenplatten, aus denen lose Kabel baumeln. Eine verstaubte Theke, ein Klavier, ein Glittervorhang. Das Arrangement gehört freilich zum Bühnenbild (Andreas Jander) – doch für die Uraufführung von „Skin Deep Song“ hätte das Theater Essen trotzdem keinen passenderen Ort finden können als diese ehemalige Tanzschule hinterm Bahnhof, die vom Theater eigentlich nur als Probebühne genutzt wird.

Floriane Kleinpaß, Heiner Stadelmann. Foto: Thilo Beu

Floriane Kleinpaß, Heiner Stadelmann. Foto: Thilo Beu

Passend deshalb, weil das Stück des US-Dramatikers Noah Haidle in einem Tanzsaal spielt. Thomas Krupa übertrug es ins Deutsche und setzte es in Essen zum ersten Mal überhaupt in Szene.

Als „Endzeit-Stück“ wurde es vorab bezeichnet, es wurden Verbindungen zu den Stücken Becketts und zu Cormac McCarthys „Die Straße“ nahe gelegt – dieser Vergleich ist bis auf das Katastrophen-Motiv jedoch weit hergeholt.

Floriane Kleinpaß, Silvia Weiskopf (Foto: Tilo Beu)

Floriane Kleinpaß, Silvia Weiskopf (Foto: Thilo Beu)

„Skin Deep Song“ erzählt vordergründig vom Trauma zweier Schwestern, die das Attentat auf ihre Eltern, ein Königspaar, mit Rollenspielen und Witze-Erzählen zu verarbeiten versuchen. Haltlos irren sie in Kriegszeiten durch einen unbestimmten Raum, schleppen ihre toten, in Säcke verschnürten Eltern mühsam hinter sich her und ergehen sich in Erinnerungen, die sie mal zum Lachen, mal zum Weinen bringen.

In Rückblicken erfährt der Zuschauer mehr über die Familie, die da zerstört wurde: Eine furchtbar unsympathische Bande mit einem ordinären, despotischen Vater (Tom Gerber), einer hysterischen Mutter (Bettina Schmidt) und zwei albernen, kichernden Prinzessinnen. Mitten im vom König selbst angezettelten Krieg wollen sie ein rauschendes Fest feiern. Bis der Attentäter kommt und die Eltern hinrichtet – vor den Augen der Schwestern, von denen eine soeben zum ersten Mal mit einem Jungen getanzt und ihn geküsst hat.

Hintergründig ist dies also eine Geschichte vom Erwachsenwerden, vom mitunter brutalen Abschiednehmen – Abschied von der Kindheit, von den Eltern, von der exklusiven Innigkeit der Beziehung zur Schwester, die durch neue Beziehungen abgelöst werden wird. Das Attentat markiert jenen Punkt im Leben der Mädchen, an dem sich einfach alles ändert, irgendwo zwischen Pubertät und Erwachsensein. Die Vergangenheit? War zwar mit dieser Familie auch eine ziemliche Katastrophe, aber immerhin vertraut und berechenbar. Die Zukunft? Höchst unsicher, weshalb die Mädchen sich in ihren Rollenspielen lieber eigene verbindliche Regeln geben.

Silvia Weiskopf und Floriane Kleinpaß spielen diese gestörten, verstörten Schwestern höchst anrührend und überzeugen ebenso in den Rückblenden als niedlich-naive, behütete Dummchen mit wallendem Langhaar wie als glatzköpfige, in eine neue Welt gespuckte Girlie-Frauen.

Am Ende schenkt das Stück dem Zuschauer ein tröstliches Ende, wie es typisch ist für die Absolventen amerikanischer Schreibschulen: Die Schwestern begraben endlich ihre Eltern und erklimmen so eine nächste Stufe der Trauer. In ihrem dementen Opa (Heiner Stadelmann) haben sie zudem ein versöhnendes Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefunden.

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Nähere Infomationen hier

(Der Beitrag erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Nichts als Gespenster: „Out of body“ tanzt in Bochum

„Ohne Wahnsinn kein Verstand“: Die Gummizelle hat eine Panoramascheibe, durch die das Publikum die entfesselten Tänzer beobachten kann. In wildem Furor werfen sie sich gegen die Wände, übereinander, auf den Fußboden. Sie sind völlig außer sich, als versuchten sie, mit den Grenzen ihres Körpers auch die der Vernunft zu überschreiten und sich in eine neue Dimension zu katapultieren. „Out of body“ heißt der im Schauspielhaus Bochum uraufgeführte Abend der Herner Tanzgruppe Renegade, die damit ihre dritte Koproduktion mit dem Bochumer Schauspiel zeigt.

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer aus uns allen“ – auch das ein Satz, der während der mehrsprachigen Aufführung als Übertitel eingeblendet wird. Zugleich ein Motto, denn der blassgeschminkte Conférencier kündigt im Halbdunkel ein schauriges Zombietheater an.

Da gibt es den Wissenschaftler, der sich der „Gefühlologie“ verschrieben hat und deswegen mit einem Dutzend leerer Plastikflaschen jongliert. Diese Leere fühlt er auch in sich. Seine Tochter musste darunter leiden: Den Kopf in eine Plastiktüte gewickelt, erzählt sie kurz vor dem Ersticken über die Schrecknisse ihrer Kindheit. Wie die Schmetterlingssammlung ihres Vaters ihr Angst machte; wie die Insekten sie in ihren Bann zogen, auf ihr herumkrochen, sie schließlich angriffen.

Doch der Spuk hat Methode: Atmosphärisch lehnt sich Julio César Iglesias Ungos Choreografie an Horrorvideos an, in denen es von Zombies, Untoten oder Vampiren wimmelt. So stoßen die Tänzer in einen Bereich vor, der jenseits des Materiellen liegt. Was passiert, wenn die Seele den Körper verlässt? „Am Ende aller Straßen wartet der Tod“, lautet der beruhigende Begleittext auf dem Spruchband.

Mit den Mitteln des Tanzes die Überschreitung des Körperlichen zu erreichen und in das Reich der Gespenster vorzustoßen: Keine leichte Aufgabe, die der kubanische Choreograph, der u.a. für Wim Vandekeybus und Samir Akika getanzt hat, sich da vorgenommen hat. Die Tänzer erfüllen sie mit Humor, großer Gelenkigkeit und einem Schuss Akrobatik. Allen voran der Junge mit den Dreadlocks, der in einem unfassbaren Slapstick einen Besuch in der Spielhölle vortanzt. Dabei scheint er eher dem Comicheft als dem Ballettsaal entsprungen zu sein. So kommt dieses Tanztheater ziemlich unverbraucht und überraschend daher; es zelebriert den Geist der Subkultur und zieht daraus seine Energie. Die Kooperation mit der freien Szene funktioniert als eine Art Bluttransfusion fürs Stadttheater, mit der auch jugendliche Publikumsschichten angesprochen werden.

Nach einer Stunde und 15 Minuten ist der Spuk vorbei. Die Zombies sinken zurück in ihre Gräber. Wann sie wieder tanzen, erfahren alle Untoten und andere Nachtschattengewächse unter:

www.schauspielhausbochum.de




Schurke und Biedermann: Ausstellung zum 100. Geburtstag des Schauspielers Gert Fröbe

Gert Fröbe in "Es geschah am hellichten Tag". Foto: Filmmuseum Düsseldorf

Gert Fröbe in „Es geschah am hellichten Tag“. Foto: Filmmuseum Düsseldorf

Den irren Blick wird so schnell niemand vergessen. Dieses gehetzte Angesicht, gezeichnet von Gier und Angst zugleich. Brutal und erbarmungswürdig, boshaft und hilflos. Die Studie über einen Kinderschänder wurde zu Legende: „Es geschah am hellichten Tag“ mit Heinz Rühmann als Kommissar, 1958 erschienen, war einer der viel beachteten deutschsprachigen Filme der Fünfziger Jahre.

Die Rolle des Mörders übernahm ein Schauspieler, der damals schon seit zehn Jahren aus dem deutschen Film nicht mehr wegzudenken war: Gert Fröbe. Ihm schien die Rolle der Bösewichter auf den fülligen Leib geschneidert zu sein. In dem Skandalfilm „Das Mädchen Rosemarie“ (1958) hatte er den Generaldirektor Bruster verkörpert, einen skrupellosen Wirtschaftskapitän der Nachkriegszeit. Und schon 1957 war er als menschenverachtender Mr. Gillis im prominent besetzten Film „Robinson soll nicht sterben“ (mit Horst Buchholz und Romy Schneider) aufgetaucht.

Aus Anlass des 100. Geburtstags des gewichtigen Sachsen (genaues Datum: 25. Februar 1913) zeigt das Filmmuseum Düsseldorf noch bis 28. Februar eine Studio-Ausstellung. Sie entstand gemeinsam mit dem Sammler Markus Grieb aus Dortmund. Zu sehen sind zahlreiche, wenig bekannte Fotos aus Fröbes Jugend und von seinen Bühnenauftritten. Präsentiert werden auch Original-Drehbücher, etwa von „Goldfinger“ – Fröbes größter internationaler Erfolg – und von „Es geschah am hellichten Tag“; außerdem sind Briefe und Reproduktionen von Gemälden des Hobbymalers zu sehen.

Kaum bekannt ist, dass Fröbe 1937 seine Schauspielerkarriere am Stadttheater in Wuppertal begonnen hat. Zuvor hatte er sich 1933 bis 1935 als Bühnenmaler in Dresden ausbilden lassen und Schauspielunterricht bei Erich Ponto, Paul Günther und Lothar Müthel in Berlin genommen. Nach Wuppertal folgten Engagements in Frankfurt und Wien. Er selbst sagt zu dieser Zeit: „Ich habe mehr als zwanzig Jahre Theater gespielt. Habe in der Provinz angefangen – was viele Kollegen heute als unwürdig bezeichnen. Es muss eben nicht gleich München oder Berlin sein … Als Schauspieler muss man sowas wie eine Persönlichkeit werden. Wenn man auf die Bühne kommt, müssen die Leute sagen: Ah da kommt jemand! – Dazu muss aber in einem etwas gewachsen sein. Und dazu trägt alles bei: die Liebe, die Trauer, der Schmerz, die Hoffnung und auch das Unglücklichsein. Das alles trägt dazu bei, die Persönlichkeit zu formen, von der man eines Tages sagen kann: das war ein vernünftiger Schauspieler.“

Fröbe hat sich schon in jungen Jahren als Künstler, wenn auch nicht unbedingt als Filmschauspieler gesehen. Geboren und aufgewachsen ist er in Zwickau-Planitz. Mit der Welt des Theaters kam er im Stadttheater seiner Heimat in Berührung, wo er kleine Handlangerdienste leistete. Nebenbei verdiente er sich als Stehgeiger sein Geld. Der 1,85 Meter große Mann war damals noch spindeldürr und wurde wegen seines rötlichen Haares „Der rote Geiger“ genannt.

Fröbe liebte es, Anekdoten aus seinem Leben zu erzählen. Seine Rezitationsabende waren legendär; von Kleinkunst fühlte er sich ein Leben lang angezogen. Bei seinen Besuchen in der DDR gab er heimlich Vorleseabende. Aber er galt auch als der „Mann mit den tausend Gesichtern“ – für einen Schauspieler durchaus ein Kompliment. Seine darstellerischen Facetten reichten vom abgründig Bösen („Via Mala“, 1961) über banal brutale Typen und Kriminelle bis hin zu gemütvollen Knallchargen („Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“ 1965 oder „Der Raub der Sabinerinnen“ 1982). Fröbe konnte auch auf der Seite des Gesetzes mit seiner Charakterkunst brillieren, so als Kommissar in drei Dr. Mabuse-Filmen anfangs der sechziger Jahre.

Fröbe noch spindeldürr in seinem Debütfilm "Berliner Ballade" als sprichwörtlich gewordener Otto Normalverbraucher. Foto: Filmmuseum Düsseldorf

Fröbe noch spindeldürr in seinem Debütfilm „Berliner Ballade“ als sprichwörtlich gewordener Otto Normalverbraucher. Foto: Filmmuseum Düsseldorf

Eine seiner Rollen sollte sprichwörtlich werden: Als „Otto Normalverbraucher“ begründete Fröbe seine Filmkarriere in „Berliner Ballade“ von 1948. Vier Jahre später tauchte er als deutscher Offizier in dem Kriegsfilm „Entscheidung vor Morgengrauen“ auf. Unter den vielen Tagesproduktionen der folgenden Jahre fällt seine Rolle als Detektiv in „Herr Satan persönlich“ auf. Und kurz vor dem Aufsehen erregenden Kindsmörder-Drama von 1958 war er ebenfalls mit Heinz Rühmann in der Halbstarken-Moralgeschichte „Der Pauker“ als geistig einfach gestrickter Catcher mit goldenem Herzen zu erleben. Für seine Darstellung des kleinen Gauners Paul Wittkowski, der sich als falscher Pfarrer ausgibt, erhielt Fröbe 1961 den Ernst-Lubitsch-Preis für die beste komödiantische Leistung im deutschen Film. „Der Gauner und der liebe Gott“ zeigt ihn von einer liebenswert durchtriebenen Seite. Zahlreiche weitere Auszeichnungen folgten.

„Es geschah am hellichten Tag“, dessen Drehbuch Friedrich Dürrenmatt erstellt hatte, war für Fröbe ein entscheidender Meilenstein, der ihm die wohl größte Rolle seiner Schauspielerkarriere bescherte: In „James Bond 007 – Goldfinger“ (1964) besetzte Regisseur Guy Hamilton den Widersacher Bonds, Auric Goldfinger, mit dem deutschen Mimen. Bond-Darsteller Sean Connery soll später Fröbe als seinen einzigen echten Gegenspieler gewürdigt haben. Wie vielseitig dieser Mann war, zeigt ein Film wie „Der Räuber Hotzenplotz“ (1974). Fröbe einmal nicht als finsterer, dämonischer Typ, sondern als verschmitzter Kinderliebling.

Am Ende seiner Karriere fand er zur Kleinkunst zurück, zu der ihn einst kein Geringerer als Karl Valentin ermutigt hatte. Dass sein Abschied im Fernsehen stattfand, dass seine letzten Auftritte in den Serien „Der kleine Vampir“ und „Die Schwarzwaldklinik“ stattfanden, war so nicht geplant: Fröbe starb am 5. September 1988 unerwartet an einem Herzinfarkt. In einem Nachruf fasst der „Spiegel“ die Lebensleistung des Schauspielers zusammen: „Kein Zweifel, Fröbe hatte Format. Er füllte Bühne und Leinwand, in jeder Hinsicht. Aber noch wichtiger ist: Er hatte die schauspielerische Intelligenz, dieses Format, diese raumgreifende Fülle in Frage stellen zu können. Er spielte nie so ganz sich selbst, sondern kommentierte mit Skepsis und Schlauheit menschliche Ungetüme. Vielleicht blieb deshalb die Sympathie auf seiner Seite.“




Bauer sucht Frau: Shakespeares „Wie es euch gefällt“ im Düsseldorfer Schauspielhaus

Im Düsseldorfer Schauspielhaus riecht es nach Kuhstall. Die Bühne ist weit in der Zuschauerraum hineingebaut, der Boden mit Stroh und Mist bedeckt. Wenn die Schauspieler auftreten, zieht eine nach Landleben duftende Staubwolke über die Köpfe des Publikums. Die 29jährige Hausregisseurin Nora Schlocker kehrt in ihrer Inszenierung von „Wie es euch gefällt“ die archaische Seite von Shakespeare hervor und nimmt seinen Text zugleich betont wörtlich.

Wie zu Shakespeares Zeiten sind alle Rollen ausschließlich mit Männern besetzt. Das Verwirrspiel der Geschlechter erhält dadurch aus heutiger Sicht eine zusätzlich irritierende Note, die aber umso tiefer in das Stück hineinführt. Tatsächlich entfalten hier die Leidenschaften der menschlichen Seele wie unerfüllte Liebe, quälende Eifersucht, Habgier, Neid und Edelmut eine Art überzeitliche Dimension. Ob nun Mann oder Weib, als Mann verkleidetes Weib oder als Weib verkleideter Mann leiden, lieben, quälen oder fliehen, das ändert an der Heftigkeit der Gefühle nichts. Doch zugleich bietet diese Grundentscheidung der Regie ein großes Reservoir an kreativer Energie für die Schauspieler: Mit Facettenreichtum, Witz und Liebe zum Detail agiert das Ensemble, dass es eine Lust ist, ihm zuzusehen. Damit trifft Nora Schlocker einen Nerv, denn wie heißt es so schön in „Wie es euch gefällt“: „Die ganze Welt ist eine Bühne und Fraun wie Männer nichts als Spieler.“

Viele Doppelbesetzungen geben den Schauspielern Gelegenheit, ihre Verwandlungsfähigkeit zu beweisen. Allen voran Sven Walser, der als Adame, Herzog und als Schäfer Silvius eine je eigene Körpersprache entwickelt. Arrogantes Lächeln und Winken, heute würde man sagen albernes Promi-Getue, charakterisiert den Herzog, der kaltblütig Verbannungsurteile ausspricht, während er scheinheilig-heiter Bussis ins Publikum wirft. Der liebeskranke Schäfer Silvius dagegen könnte der Fernsehserie „Bauer sucht Frau“ entsprungen sein: Er ist auf derart linkische Weise der abweisenden Phoebe verfallen, dass man dazu neigt, sich für ihn fremd zu schämen. Auch Jonas Anders als Hirsch mimt schwitzend und mit vollem Körpereinsatz das sterbende Tier. Theaterblut für die Jagdszenen steht in Plastikeimern bereit und wird reichlich vergossen.

Den Narren Touchstone (Dirk Ossig) hat Schlocker in ein rheinisches Karnevalskostüm gesteckt und sein Witz kommt ebenso ritualisiert daher, wie die Posen des verordneten Frohsinns in der fünften Jahreszeit. Damit gelingt der Regisseurin ein interessanter Kunstgriff: Sie übersetzt den aus heutiger Sicht etwas altmodischen Witz Shakespeares in eine uns bekannte, ebenso verstaubte Form des Frohsinns. So nimmt sie zwar der Komödie die Heiterkeit, verleiht ihr aber gleichzeitig den Charme einer ungelenken Melancholie, der darin besteht, dass all das schöne Träumen und Sehnen irgendwie im Profanen endet. Statt einer Utopie des Landlebens, wo alle Verbannten, Liebeskranken, Verstoßenen und Transvestiten ihr Glück im Gegenentwurf zur Zivilisation finden, zeigt sie Stall, Wald und Schäferwesen, so blöd, wie sie eben sind. Es stinkt, staubt und das nächste Schlammloch zum Einsauen ist auch nicht weit.

Die Idee scheint der ersten Szene entnommen, in der Orlando (Aleksandar Radenkovic) seinen Bruder anklagt: „Er zieht mich bäurisch zu Hause auf wie seine Tiere auf dem Mist.“ Als kräftiger Stallbursche gewinnt er im Ringkampf, dadurch Rosalinds (Florian Jahr) Herz und leider auch die Verbannung im Wald von Arden. In dem wird in den nächsten zwei Stunden getobt und geliebt, gesungen und gekämpft, gefressen und verraten. Bis am Ende jeder den zu ihm passenden Partner gefunden hat. Doch so richtig glücklich sehen alle Beteiligten dabei nicht aus, eher müde. Der Kampf gegen die Verwicklungen des Schicksals hat sie stumpf gemacht.

Der Applaus im Düsseldorfer Schauspielhaus blieb ein wenig verhalten. Anscheinend ist dieser Shakespeare den Premierenzuschauern olfaktorisch zu sehr auf die Pelle gerückt. Buchstäblich steht Düsseldorf nach Erkrankung des Intendanten Holm, der sein Amt abgegeben hat, vor der Frage, was für ein Theater hier denn nun eigentlich gefällt – solange die Antwort noch gesucht wird, scheint das Beste zu sein: Einfach weiterspielen…

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Hagen: Mit immer weniger Geld doch noch Theater machen

Die Stadt Hagen geht finanziell am Stock, und entsprechend will sie ihrem Theater an den Kragen. Aber auch im neuen Jahr wird dennoch weiter Programm gemacht, wie die Vorschau auf den Januar zeigt. Natürlich beginnt alles wieder mit dem Neujahrskonzert des Philharmonischen Orchesters in der Stadthalle – unter dem Motto „Wien –Moskau“. Solistin ist Maria Klier (Sopran), zu hören sind Werle von Strauss, Tschaikowsky, Glinka und anderen.

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Szene aus dem „Nussknacker“
(Foto: Theater Hagen)

Im Kinder- und Jugendtheater wird am 7. Januar „Superzahn und die Karieshexe“ wieder aufgenommen, und am 27. Januar folgt die Uraufführung des Stücks „Lucy und der Hungerbauch“. Am 13. Januar gibt es im Großen Haus die Operetten-Premiere von „Die Großherzogin von Gerolstein“, ein weniger oft gezeigtes Werk von Jacques Offenbach. Wer Lust hat, kann bei freiem Eintritt am 5. Januar ab 17 Uhr in der Reihe „Werkstatt“ an einem „Produktionsgespräch“ teilnehmen. Außerdem bietet das Theater dazu am 10. Januar einen „Lehrertisch“ an. Den bisher begeistert aufgenommenen Swing-Abend „Fly me to the Moon“ können Musikfreunde am 4., 16. und 20. Januar wieder erleben.

 

Am 19. Januar ist Götz Alsmann mit seinem „Paris“-Programm zu Gast, und wer den Don Giovanni noch mitbekommen möchte, der hat nur noch am 31. Januar die Chance – „zum letzten Mal“ gibt man diese Inszenierung der Mozart-Oper. Das gilt auch für die letzte Aufführung des Tschaikowsky-Balletts „Der Nussknacker“ am 17. Januar. Weiter im Programm bleiben Verdis „Don Carlo“ (23. Januar) und „Tue Rocky Horror Show“ mit Guildo Horn am 29. Januar.

 

 

 




Traumhaus, später: Lutz Hübners „Richtfest“ am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt

Szene mit Henrik Schubert (Mick), Roland Riebeling (Frank) (Bild: Thomas Aurin, Schauspielhaus Bochum)

Szene mit Henrik Schubert (Mick), Roland Riebeling (Frank) (Bild: Thomas Aurin, Schauspielhaus Bochum)

Wohnst du noch oder lebst du schon zusammen? Die Baugemeinschaft als soziales Experiment eignet sich perfekt als Stoff für die Bühne.

Von sozialbewegt über großbürgerlich bis yuppiehaft reichen die unterschiedlichen Lebensstile der sechs Parteien, die sich unter dem Dach ihres neuen Traumhauses harmonisch vereinen wollen. Das Desaster ist selbstredend programmiert, denn zum „Richtfest“, so der Titel des neuesten Stückes von Lutz Hübner, kommt es nicht. Vorher haben sich die Mitglieder der Eigentümergemeinschaft unter der Regie von Anselm Weber am Schauspielhaus Bochum längst heillos zerstritten.

Dabei hätte alles so schön sein können: Der aufstrebende Architekt Philipp (Felix Rech) hat sein Traumhaus geplant, das Professorenpaar (Anke Zillich und Bernd Rademacher) strebt nach kultivierter Gemeinschaft mit Gleichgesinnten wie den sympathischen homosexuellen Musikern Frank (Roland Riebeling) und Mick (Henrik Schubert). Schon nicht so ganz ins Bild passen Birgit (Katharina Linder) und Holger (Michael Schütz), sie Leiterin einer Jugendhilfe, er spießiger Finanzbeamter, dem es zu Hause zu langweilig ist und der jetzt eine Spur zu aufdringlich Anschluss an neue Kreise sucht. Gestraft sind beide mit einer pubertierenden Tochter (Zenzi Huber), die sich gleich beim ersten Treffen an den Architekten ranschmeißt und mit schlechtem Geschmack: Statt großzügige Glasfassaden zu goutieren, wollen sie sich vor den Blicken der Welt lieber hinter Klinkern einkuscheln.

Den ersten handfesten Streit aber lösen die Kleinkindmutter Mila (Kristina-Maria Peters) und der junge Assistenzarzt Christian (Marco Massafra) aus. Ihre Finanzierung mit höchst geringer Eigenbeteiligung von 12 % steht ohnehin auf wackligen Beinen, da stellt das Paar fest, dass wieder Nachwuchs unterwegs ist. Und haut die übrigen Mitbewohner um Geld an. So lodern in der Baugemeinschaft die gesellschaftlichen Konflikte wie unter einem Brennglas auf: Familien mit Kindern werfen arrivierten Gutverdienern Egoismus vor, freiheitsliebende Kreative wollen sich ihren ästhetisch perfekten Lebenstraum nicht durch Hüpfburgen im Hinterhof verschandeln lassen. Die lebenslustige Rentnerin will nicht als günstige Betreuungsomi missbraucht werden. Sie hat ein ganz anderes Problem: Charlotte (Henriette Thimig) ist Messie und keiner soll es merken, doch das schwule Pärchen ist ihr schon längst auf den Trichter gekommen. Die Lage spitzt sich zu, als die alte Dame einen Schlaganfall erleidet und die Gemeinschaft mit einem Pflegefall konfrontiert ist. Jetzt erweist sich, dass ein Zusammenleben, das über die bloße Zweckgemeinschaft hinausgeht, bedeutend mehr Solidarität erfordert als anfangs vermutet. Will ich wirklich für alte Menschen oder die Kinder anderer Leute die Verantwortung übernehmen?

Kommt die Anfangsszene noch etwas hölzern über die Rampe, gewinnt die Aufführung mit zunehmender Konfliktschärfe deutlich an Tempo. Hinter den Rollen treten Charaktere hervor. Am überzeugendsten agiert Henriette Thimig als ehemalige Kneipenwirtin Charlotte, die sich von der netten Omi von nebenan erst in einen abgründigen Messie und dann in eine hilflosen Pflegfall verwandelt.

Doch warum ist diese Uraufführung so betont karg ausgestattet? Sicher, das Traumhaus ist vorläufig nur eine Vision, realisiert wird es nie. Hübners Stück ist als satirische Milieustudie konzipiert, aber die leere Bühne und einige auf eine weißgraue Plane gekritzelte Grundrisse bieten dem Zuschauer wenig Anknüpfungspunkte.

Etwas abstrus gerät auch die Schlussszene: Vom Text behauptet wird eine Gartenparty auf der Terrasse. Dass sich alle im letzten großen Streit mit dem Gartenschlauch nassspritzen, mag noch angehen. Auch, dass sie die Bauplanen herunterreißen und sich vor einsetzendem Regen schützen. Doch warum fängt es zu allem Überfluss an zu schneien? Dann pustet auch noch die Nebelmaschine Rauchschwaden auf die Bühne. Das ist wohl philosophisch gemeint: Ohne Haus ist der Mensch eben allen Elementen hilflos ausgesetzt. Und da er sich mit seinem Nachbarn nicht vertragen will, kann er sich auch kein neues Haus mehr bauen. Er ist allein und wird es lange bleiben…

Infos: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/10789227




Wer heiratet, darf gratis ins Theater

Schauspielhäuser, Opern und Tageszeitungen haben oft ein ähnliches Problem: Junge Menschen wenden sich ab, das Publikum oder die Abonnenten werden immer älter und sterben dann natürlicherweise aus. Im Theater Hagen will man ein Verjüngungsmittel gefunden haben.

Schön ist es ja, das Hagener Haus. (Foto: Stadt Hagen)

Die architektonisch so schöne Spielstätte leidet besonders unter der Annähernd-Pleite ihrer Mutter, der Stadt Hagen. Aber es gibt einen rührigen Theater-Förderverein, und der geht nun mit einer neuen Idee ans Werk: Ab Januar des nächsten Jahres erhalten alle Paare, die sich vor einer Hagener Standesbeamtin oder einem -beamten das Ja-Wort geben, einen Gutschein für den Besuch einer Aufführung ihrer Wahl im Theater Hagen. „Sie trauen sich – wir laden sie ein“ heißt der eher wenig originelle Leitspruch der Aktion. Und der Förderverein schickt in der Pressemitteilung seine eigenen Bedenken gleich hinterher: „Bleibt zu hoffen, dass die Wahl der Aufführung nicht gleich zu einer ersten Ehekrise führt.“

Man denke nur an „Die Hochzeit des Figaro“ oder die „Geschichten aus dem Wienerwald“, und bei Romeo und Julia sind am Ende sogar alle tot, von Wagners Ring ganz zu schweigen. Nun wird der Ring in Hagen eher selten gespielt, und ob die Ehepaare jung sind, ist ja auch nicht gesagt. Mancher heiratet zum zweiten oder dritten Mal und ist in einem Alter, in dem er schon die Silbernadel für 25 Jahre Theaterabo trägt. Dann kann er oder sie den Gutschein immer noch verschenken, an die Enkel aus der früheren Eheschließung, als es noch nicht solche Prämien gab.




Johnny Cash und seine Freunde rocken das Theater in Bochum

So bekommen die Bochumer ihr Schauspielhaus garantiert voll, und das ist auch gut so: Johnny Cash und seine Freunde musizieren fast so, wie es in Cashs legendären Fernseh-Shows Ende der 60-er Jahre in den USA zu erleben war.

Das Theater als Konzerthaus. (Foto: Stadt Bochum)

„Well, you’re my Friend“ heißt die Nachfolge-Inszenierung der erfolgreichen Musikschau „A Tribute to Johnny Cash“, die seit längerem in Bochum die Menschen begeistert. Diesmal wird auf zwei Ebenen nachgespielt, was damals in den Studos des Fernsehsenders entstand und jeden Samstag ausgestrahlt wurde. Zum einen singen und tanzen die Darsteller und das Orchester ungefähr so, wie man es seinerzeit sehen und hören konnte, zum anderen werden in den gespielten Aufnahmepausen „Backstage“ die Konflikte deutlich gemacht, die Cash, seine Frau June Carter und seine Freunde mit den Produzenten und einem Teil der Zuschauer durchzustehen hatten – zum Beispiel beim ersten schwarz-weißen Duett mit Louis Armstrong oder bei den deutlichen Texten über Drogen und Sex.

Für die Theaterbesucher ist nicht immer klar, welcher Star der damaligen Szene gerade imitiert wird – Bob Dylan oder Dennis Hopper oder Liza Minelli oder einer der anderen amerikanischen Künstler aus den verschiedensten Musikrichtungen – Jazz und Rock, Blue-Grass, Folk und Country.

In Bochum kann man in dieser Show exzellente Musiker erleben, sowohl in der Band als auch unter den Solisten. In erster Linie ist das Thomas Anzenhofer, dessen Stimme dem Timbre des älteren Johnny Cash so nahe kommt, dass man ihn bei geschlossenen Augen selbst zu hören meint. Aus der Solistengruppe muss man unbedingt die zierliche Gastsängerin Linda Bockholt mit ihrer großen Soulstimme und Veronika Nickls hohen Sopran hervorheben. Thorsten Kindermanns musikalische Leitung und seine eigenen Einlagen sind natürlich wesentlich für den Erfolg. Inzwischen gab es schon vier Vorstellungen, in denen als Besucher offensichtlich auch „Wiederholungstäter“ saßen, die mit Kreischen und Johlen die Atmosphäre eines echten Konzerts schufen. Warum auch nicht: Es ist ein echtes Konzerterlebnis besonderer Güte. Der nächste Termin ist am 7. Dezember.




Eine Bühne für den Spitzentanz: Ballett am Rhein mit b.13

Nach zahlreichen Performances auf Industriehalden, in Fabrikhallen oder genreüberschreitend im Museum ist es tatsächlich wieder einmal eine interessante Erfahrung, ein klassisches Ballett zu sehen: Virtuoser Spitzentanz im weißen Röckchen, Tänzerinnen leicht wie Pusteblumen, ihre Bewegungen akkurat, perfekt und hochmusikalisch.

Und die Musik kommt nicht vom Band. Auf allerhöchstem Niveau bietet der dreiteilige Ballettabend b.13 des Balletts am Rhein Düsseldorf Duisburg, ausgehend von George Balanchines „Concerto Barocco“, über Hans van Manens „Kleines Requiem“ bis hin zu Martin Schläpfers „Ungarischen Tänzen“, einen kurzen Gang durch die Tanzgeschichte.

Dabei ist Balanchines Choreographie zu Bachs Musik von 1941 strenggenommen natürlich „neoklassisch“ zu nennen, auch weil er die klassische Formensprache behutsam zu variieren beginnt. Trotzdem: Die Tänzerinnen im Eröffnungsstück bewegen sich als homogene Einheit, die auch der einzige hinzukommende Tänzer nicht zu stören vermag. Der Bühnenhintergrund ist lichtblau, ansonsten zählen nur Musik und Bewegung, andere Ablenkungen sind nicht zugelassen. Erstaunt stellt man fest: Das genügt vollkommen, zumal auch das Zusammenspiel mit den beiden Violinen perfekt funktioniert.

Zeitsprung: In Hans van Manens Choreographie von 1996 sind Beziehungen das Thema. In einer Art Reigen stört immer ein hinzukommender Tänzer den innigen Pas de deux des tanzenden Paares. Eifersucht, Zorn und Leidenschaft sorgen für eine emotionale Hochspannung, die die Tänzer in eine vibrierende Körpersprache übersetzen. Dabei entwickeln sich auch unvorhergesehene Konstellationen: Finden zwei Männer zusammen, muss die Frau alleine bleiben. Für einen unglücklichen Ausgang spricht, dass van Manen das Stück für eine ungerade Zahl von sieben Tänzern konzipiert hat. Einer wird schließlich einsam sein – doch wer weiß, vielleicht kann er so zu neuen Ufern aufbrechen?

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b13 Ungarische Taenze, FOTO: Gert Weigelt

Als erwarteter Höhepunkt des Abends springt Martin Schläpfer mit seiner Uraufführung von Brahms‘ ungarischen Tänzen einen Schritt weiter in die Gegenwart. Energie, Lebensfreude und süffige „Zigeunermusik“, schwungvoll dargeboten von den Düsseldorfer Symphonikern, zeigen Temperament und Spielfreude der Compagnie. Aufbauend auf dem klassischen Repertoire eines Balanchine sowie den Errungenschaften des modernen Tanzes eines Hans van Manen, zeigt Schläpfer hier wieder seine ganz eigene, wunderbar ironische Tanzsprache. Da wedeln die Tänzer mit ungarischen Fähnchen, nur eine hat sich die europäische Flagge umgehängt, darunter bleibt sie nackt, um dann verschämt von der Bühne zu schleichen.

Auch das Zigeunerleben hat mit idyllischen Vorstellungen wenig zu tun. So lustig die Tänze, so hitzig bricht das Temperament auf – bis hin zur angedeuteten Vergewaltigung am Bühnenrand. Die halbstarken Männer tragen Schlagstöcke und das alte Bauernpaar in Tracht wird zum Schluss kalt und steif von der Bühne getragen. Man braucht die alten Leutchen nicht mehr, die Zukunft gehört den Individualisten. Das ist allerdings eine Steilvorlage für die großartigen Tänzer des Balletts am Rhein, ihrer Lust an der Improvisation und an der kreativen Ausgestaltung der Charaktere. So wird der (politische) Kommentar zu Ungarn zugleich durchdrungen vom Lebensgefühl der Tänzer heute, das sie heraustreten lässt aus dem tänzerischen Kollektiv.

Auf diese Weise stellt der Tanzabend eine innere Verbindung her zwischen seinen drei Choreographien, die auch zu einem tieferen Verständnis dessen führen, was wir heute auf Tanzbühnen sehen – ebenso wie in Fabrikhallen.

www.ballettamrhein.de




Vom Hauen und Stechen im Theater: Kampftrainer Klaus Figge im Porträt

Foto: Markus Feger

Foto: Markus Feger

Der Essener Klaus Figge war Geschichtslehrer, jetzt schreibt er selbst Geschichte – am Theater. Als Choreograph für Kampf- und Fechtszenen ist er im deutschsprachigen Theaterraum die erste Wahl. Auch noch mit 70 Jahren.

Peter Zadek und Peter Stein. Dieter Dorn und David Bösch. Karin Beier und Karin Henkel. Jürgen Kruse und Jürgen Hartmann. Regisseure, die, von ihrer Bekanntheit einmal abgesehen, nicht viel gemein haben. In einem jedoch gleichen sie sich: Sie alle setz(t)en auf Klaus Figge.

So sieht er also aus: der Mann, der mindestens 30 finale Kämpfe zwischen Hamlet und Laertes ersann, der Tybalt mit allen denkbaren Waffen auf Mercutio hetzte. Der Mann, dessen Name kaum je im Programmheft fehlt, wenn auf einer größeren deutschen Bühne gekämpft wird und der seit vier Jahrzehnten Schauspielschülern an der Folkwang Hochschule das Kämpfen lehrt – seit 41 geschlagenen Jahren, sozusagen: Überraschend klein ist er, sehr weiß seine Haare. Klaus Figge trägt Cowboystiefel und graue Cargo-Hosen. Sein verwaschener Kapuzenpulli ist weit und schlabberig, doch darunter erahnt man die Körperspannung, die den ehemaligen Sportler ausweist.

Figges stahlblaue Augen saugen sich gerade an dem Kampf fest, der auf einer schiefen, nur etwa sechs Quadratmeter großen Ebene ausgefochten wird. In der Mitte der kleinen Spielfläche steht auch noch ein Pfeiler, an den eine Schauspielerin gefesselt ist. Die schiefe Ebene wird später zum Schiff, der Pfeiler zum Mast, die Akteurin zu Wendy. Und die Kämpfenden, sie werden sich in Kapitän Hook und Peter Pan verwandeln. „Tak. Tak. Hoch. Und rum. Die müsste schneller sein, die Drehung“, murmelt er. Dann laut: „Stop! Bitte noch mal!“

Jeder Ausfallschritt muss stimmen

Andreas Grothgar lässt Haken und Degen sinken, Silvia Weiskopf dreht sich herum. Es ist der Schlusskampf, in dem Peter Pan den Hook besiegt und Wendy befreit. Bis zur Premiere ist es noch ein Monat. Die Schritte sitzen, doch erst seit drei Tagen proben die Schauspieler auf der Schräge. Für Improvisation ist kein Platz, jeder Ausfallschritt, jede Gewichtsverlagerung muss exakt sitzen, bevor das Tempo angezogen werden kann. Klaus Figge klettert etwas umständlich auf die Bühne – die Knie! – und nimmt den Degen, um die Drehung vorzumachen. Der nächste Durchgang. „Gut! Gut!“, ruft er. „Mal’n bisschen loben“, brummt er dann.

In seinem ersten Leben war Klaus Figge Sport- und Geschichtslehrer an einem Gymnasium in Essen: Referendar, Studienrat, Oberstudienrat. Doch die Schule hatte ihn nie ganz. Schon 1971, kurz nach seinem Examen, nimmt Figge auch einen Lehrauftrag der Folkwang Hochschule an. Dort wird ein Lehrer für Bühnenkampf gesucht. Zufällig erfährt Figge von der Stelle und bewirbt sich, denn zufällig kann er fechten, sehr gut sogar – schon als Gymnasiast hatte er damit begonnen und das Fach an der Sporthochschule Köln sogar studiert. Der Fecht- und Kampf-Unterricht macht ihm Spaß, und schon bald kommt die erste Anfrage des Essener Schauspiels für eine Kampf-Choreografie. Mit dem Theater hat er bis dato kaum Berührung. Figge und das Theater, es war keine Liebe auf den ersten Blick.

Entscheidung gegen die Beamtenlaufbahn

Doch jede Produktion band ihn stärker an diese kleine verschworene Gemeinde, jedes Engagement zog weitere nach sich: Wer einmal mit ihm gearbeitet hatte, wurde zum Fürsprecher. Figges Schulleiter liebte das Theater, er ermöglichte die Seitensprünge seines Lehrers, der immer weiter Stunden reduzierte – und sich schließlich komplett gegen die Beamtenlaufbahn und für die Bühne entschied. Theater, das geht auf die Dauer nur ganz oder gar nicht.

Der Start in die große Bühnenwelt ist mit Uwe Ochsenknecht und Peter Simonischek verbunden. Klaus Figge hatte in Wuppertal die Fechtszenen für „Romeo und Julia“ choreografiert. In der Rolle des Romeo: der junge Uwe Ochsenknecht. „Er war gerade dabei, bekannt zu werden, deswegen saßen wohl Leute von der Schaubühne im Publikum. Sie fanden die Fechtszenen gut und luden mich nach Berlin ein, wo ebenfalls ,Romeo und Julia’ anstand“, erzählt Figge. „Den Tybalt sollte Peter Simonischek geben. Mit ihm hatte ich bereits in Düsseldorf gearbeitet, und als er hörte, dass ich engagiert werden sollte, empfahl er mich zusätzlich bei der Regie“, erzählt Figge. Kleine Anekdoten mit großen Namen – Figge könnte hunderte davon erzählen.

Heute hat Klaus Figge einen Luxus-Job. Wenn eine Theater-Produktion gut wird, dann ist der Erfolg auch sein Erfolg. Wenn sie scheitert, wird er – manchmal als einziger – lobend erwähnt. Zuletzt in Bochum, als die Kritik Katharina Thalbachs „Cyrano de Bergerac“ in seltener Einmütigkeit verriss. Über Klaus Figge hingegen hieß es, er habe „mit den Schauspielern wie immer Beachtliches erarbeitet“. Zu David Böschs „Romeo und Julia“ in Wien schrieb der „Standard“, die Fechtszenen seien „mustergültig choreografiert“ – ansonsten war der Rezensent wenig begeistert. Und über die Stockkämpfe in Sebastian Nüblings Ruhrtriennale-Produktion „Next Level Parzival“ hieß es, sie seien „von einer Präzision und Heftigkeit, wie man sie auf dem Theater selten sieht.“ Man kann sagen, Klaus Figge ist ein Liebling der Kritik. „Kampfchoreograph Nummer eins des deutschsprachigen Theaters“ nennt ihn das Deutschlandradio, die Mitteldeutsche Zeitung verstieg sich sogar zu der Formulierung, er sei der „renommierteste Meister der Kampfchoreografie“. Bühnenkampf-Legende ist die gängige Beschreibung.

Was macht diesen Mann zur Legende? Diesen 70-Jährigen, der zwar noch immer aus dem Stand vorwärts über die Schulter abrollen kann, dessen kaputte Knie ihn jedoch inzwischen daran hindern, die Bühnenrampe schwungvoll zu nehmen? Bühnenkampf-Lehrer gibt es schließlich an jeder Schauspielschule. Doch viele Regisseure wollen eben nur Figge. Christina Paulhofer etwa engagierte ihn zeitweise für fast jede Produktion. „Sie fühlte sich einfach sicherer, wenn er dabei war“, sagt ihr langjähriger Assistent Henner Kallmeyer.

Kallmeyer ist der Regisseur des Essener „Peter Pan“, und auch für ihn stand außer Frage, dass er für die Kämpfe Figge holt. „Er holt aus den Schauspielern einfach mehr raus. Und es sieht am Ende geil aus“, sagt er, „ich kann eine Menge Figge-Kämpfe nacherzählen. Der Tollste war der Schlusskampf in Jürgen Kruses ,Trying Macbeth’. Die Schwerter wurden immer größer, bis zu zwei Meter lang.“

Auf seinem Gebiet einfach der Beste

Foto: Markus Feger

Foto: Markus Feger

Man kann noch so viele Theaterleute fragen, die Antwort lautet stets ähnlich: Figge ist einfach der Beste. Und das hat nicht nur mit Techniken zu tun, und auch nicht nur mit der Ruhe und Souveränität, die er während der Proben ausstrahlt. Figge hat offenbar das Theater-Gen – szenische Phantasie, kombiniert mit einem Gespür für starke Bilder und dem Talent, mit wenig Aufwand große Wirkung zu erzielen. Er hat nicht nur Ahnung von Ring- oder Box-, von Karate-, Kung Fu- oder Schwerterkämpfen – er weiß auch, wie man sie auf die Bühne bringt. Und zwar so, dass die Zuschauer den Atem anhalten, die Schauspieler sich nicht verletzen und auch im dritten Rang noch etwas zu sehen ist. Figge weiß, aus welcher Perspektive man den tödlichen Stich zeigt. Er weiß, wie man zur Musik boxt und wie man Kampfgeschehen akustisch untermalt. Er weiß, dass ausgespuckte weiße Bohnen am besten Zahnverlust simulieren. Er weiß, dass Tybalt laut Shakespeare die Doppelte Finte und den Punto Reverso wie aus dem Lehrbuch beherrscht, während Mercutio eher der unkonventionelle Fechter ist.

Als Peter Zadek Angela Winkler als Hamlet wollte, brachte Klaus Figge ihr das Fechten bei, und als jüngst beim „Cyrano de Bergerac“ in Bochum ein Schauspieler kurzfristig ausfiel, da duellierte sich Klaus Figge höchstselbst mit Armin Rohde. „Den Ablauf kannte ich ja“, sagt er trocken. Das Publikum dankte mit mehrfachem Szenenapplaus.

Das Geheimnis des Klaus Figge ist vielleicht, dass er sich jeder Produktion, an der er mitarbeitet, mit Haut und Haar verschreibt. Er wird Teil des Ganzen, so wie alle am Theater. „Was machen Sie, wenn Sie mit einem Regiekonzept mal nicht einverstanden sind?“ – diese Frage kann Figge nicht beantworten, sie stellt sich einfach nicht. „Manchmal denke ich schon, so würde ich es nicht machen“, antwortet er dann vorsichtig. Aber wenn der Regisseur es so entscheidet, dann übt er mit zwei Schauspielerinnen auch das Fechten im Minirock und auf High Heels ein – obwohl in T.S. Eliots „Die Cocktailparty“ gar keine Fechtszene vorkommt. Dann choreographiert er in Bochum einen Kampf mit brennenden Äxten oder setzt in Hannover einen Ringkampf halbnackter Frauen im Sand in Szene.

Als Peter Zadek es sich anders überlegte

Oder er wirft das Ergebnis von vier Wochen Arbeit einfach weg, weil der Regisseur es sich anders überlegt hat. Noch so eine Anekdote: „Am Burgtheater inszenierte Zadek ,Der Jude von Malta’ mit August Diehl. Wir probten vier Wochen lang mit Offizierssäbeln. Die Szene war quasi perfekt, Zadek hatte sie aber noch nicht gesehen. Eines Tages sagte der Regisseur: Ich habe mir überlegt, wir machen den Kampf lieber mit Messern.“ Nicht einmal anschauen wollte Zadek die fertige Szene. „So etwas ist mir gottseidank nur ein Mal passiert“, sagt Figge, er lacht darüber.

Ein untypisches Erlebnis. Meist kennt Figge das Regiekonzept, dann erarbeitet der Bühnenkampf-Experte „seine“ Szenen autonom. So auch beim Essener „Peter Pan“: Wenn’s ums Hauen und Stechen geht, gibt Regisseur Kallmeyer die Hoheit an Figge ab und hält sich raus. Der Rahmen ist klar: Ein Stück für Kinder ab 6 Jahren – da braucht es actionreiche Szenen mit Witz und Pfiff, die nicht zu brutal werden. Klaus Figge kombiniert einen Fechtkampf mit einem Backpfeifen-Duell à la Bud Spencer, er lässt einen Piraten über Bord kitzeln und ersinnt Kaugummi-Blasen als Ablenkungsmanöver. Ein großer Kampf-Spaß, hinter dem wochenlange Arbeit an winzigen Stellungsdetails steckt.

Auf die Frage, mit welchen großen Regisseuren er noch nicht zusammengearbeitet hat, muss Figge lange überlegen. „Frank Castorf“, sagt er schließlich, „und Roger Vontobel.“ Allerdings: Es sind nicht die große Namen, die ihn an seiner Arbeit interessieren. „Klaus macht keinen Unterschied zwischen Burgtheater und freier Bühne“, weiß Regisseur Kallmeyer. Und erzählt, dass Klaus Figge neulich einen Stockkampf am Rottstraße 5 Theater einstudiert habe, einer kleinen freien Bühne in Bochum. „Es war zufällig eine Woche, in der ich Zeit hatte“, sagt Figge, „ich wollte eigentlich nur ein Mal hingehen, aber es hat mir Spaß gemacht.“ Er hätte es eigentlich vorher wissen müssen: Theater, das geht nur ganz oder gar nicht.

(Das Porträt wurde zuerst in der November-Ausgabe des Kulturmagazins K.West veröffentlicht).




Derrick trifft Grönemeyer – Klamauk mit Niveau im Essener Theater Courage

Plakat des Essener Theater Courage, aufgenommen an der Theater eigenen Wall of Fame Wer kennt ihn nicht? Wen hat er nicht durch das halbe Leben begleitet? Oberinspektor Stephan Derrick und seinen Harry-hol-schon-mal-den-Wagen-Hi-Wi. Drängende Fragen blieben aber immer unbeantwortet. Kann Derrick singen und wenn ja, in wie vielen Tonlagen? Ist Harry wirklich so dumm oder ist das nur ein Teil unzähliger Maskeraden? Hat Derrick eine Frau oder ist er schwul? Mehr noch – sind „Steeeephan“ und Harry vielleicht sogar ein Paar?

Das Essener Theater Courage hatte ein Einsehen und hat sich der Beantwortung dieser drängenden, dräuenden Fragen angenommen. Gerade noch rechtzeitig, denn Derrick steht kurz vor der Pensionierung und sein letzter Fall fordert ihm alles ab. Bis nach Kölle muss er, seine bajuwarische Kompetenz ist dort gefragt. Der Veranstalter eines Doppelgänger-Contest zur Wahl der Super-Niete von Nippes wurde ermordet, justamente während ein Elvis-Double als Heulboje agierte.

Aus dieser Vorlage machen die Schauspieler Stephan Tillmans und Falk Hagen ein Singspiel für zwei Personen. Mit einfachen Mitteln bieten sie Klamauk auf hohem Niveau. Die meisten Pointen sitzen gut, andere hat man sich wohl eher vom Stammtisch mitgebracht. Dafür überzeugen die musikalischen und parodistischen Qualitäten zwischen Rammstein und „Kein bißchen Frieden“ durchgehend. Mit Gitarre, Xylophon und dem guten alten Pömpel unternehmen sie eine musikalische Zeitreise durch die Jahre, in denen der Fernseh-Derrick Freitagsabends eine feste Größe nicht nur in deutschen Wohnzimmern war. Spaß macht schon zu Beginn die Adaption des Fanta4-Klassikers „Sie ist weg“, mein persönliches Highlight war aber Falk Hagens Grönemeyer-Parodie. Hätte ich mir einen ganzen Abend lang angucken können.

Nicht nur die beiden Darsteller haben erkennbar Freude an dem, was sie da tun, auch das Publikum kann gut und gerne als begeistert bezeichnet werden. Dabei zeigen Tillmanns und Hagen auch durchaus Talent für schnelle Improvisation. Wenn im engen Kellertheater einer hustet, versteht der Rest halt nichts mehr und eine Wiederholung wird geschickt eingebaut. Und wenn im Vorraum die Theaterkatze kläglich maunzt, können die Darsteller sich eben nicht konzentrieren und bauen eine kleine Katzen-Verscheuchung-Nummer mal eben so geschickt in ihr Programm ein, dass es Szenenapplaus gibt.

Ich war nach längerer Zeit wieder im kleinen Essener Theater Courage und habe mich gefreut, dass dieses sich so wacker hält und gut angenommen wird. „Harry, hol schon mal den Wagen“ wird zwar wohl erst im nächsten Jahr wieder auf dem Spielplan stehen, aber die Essener bieten eine bunte Palette von Eigen-Inszenierungen an.

Homepage des Theaters: Theatercourage.de




Die spinnen, die Bonner: Theater um „Norma“

Was wäre auf einer Opernbühne zu sehen, wenn das mit der Sparpolitik im Kulturbetrieb so weiter ginge? Nichts! Brandmauer, kalte Scheinwerfer, schwarze Bühnenbretter. Florian Lutz‘ Inszenierung von Bellinis „Norma“ in Bonn thematisiert ein solches Schreckensszenario, dessen Realisierung mancherorts gar nicht mehr so fern liegt.

Man denke nur an die neuesten Nachrichten zur Schließung des Schauspielhauses in Wuppertal oder die Fusionsphantasien, die die Bonner Kulturpolitik selbst nach Köln schielen lässt. Vom Drama um den geschassten Kölner Opernintendanten Uwe Eric Laufenberg ganz zu schweigen, der wegen Etatstreitigkeiten buchstäblich vom Hof gejagt wurde. Das Bonner Publikum allerdings goutiert den Einbruch der Realität in die schöne heile Opernwelt keineswegs. Es möchte seine Belcanto-Arien unter keinen Umständen durch eine hinzuerfundene Sprechrolle (Roland Silbernagl) unterbrochen sehen, die in der „Norma“ für eine Art reflexive Ebene steht: Das Schicksal der Druiden-Priesterin unter römischer Besatzung wird hier gelesen als Kampf der Künstlerpersönlichkeit mit dem Intendanten, der Nebenbuhlerin, dem untreuem Liebhaber aus B-Promi-Kreisen und den Bedingungen unter denen heute eine Norma-Produktion auf einer Opernbühne entstehen könnte – einschließlich drohendem Sparzwangs.

THEATER BONN: NORMA/Foto:Thilo Beu

THEATER BONN: NORMA/Foto:Thilo Beu

So interessant diese Regie-Idee, so heikel die Umsetzung: Tatsächlich gehen die teilweise etwas hölzern getexteten Einwürfe des fiktiven „Intendanten“ an die Schmerzgrenzen des Musikliebhabers. Gnadenlos quatscht der Impresario als Fremdkörper ins Orchesterspiel, unterbricht Handlungsfluss und manche schwelgerische Melodie. Mit einem Wort: Er nervt ungeheuer. Das Publikum, bis auf äußerste gereizt, brüllt ihn regelrecht nieder, kurz davor, den armen Mimen von der Bühne zu zerren und ihn aus seinem eigenen Saal zu werfen. Gleichzeitig befindet sich diese Inszenierung gerade hier an ihrem neuralgischen Punkt. Denn schließlich: Wo kann man ungestört eine „Norma“ sehen, wenn es kein Opernhaus mehr gibt, das es sich leisten kann, sie auf die Bühne zu bringen?

Glücklicherweise ist es in Bonn (noch) nicht ganz soweit und deswegen gibt es nach anfänglicher Kargheit eine Kulisse aus hereingerollten Bäumen und eine Menge Gallier, die als Asterix-Figuren kostümiert sind. Außerdem eine Norma (Miriam Clark), die ihre Partie mit großer Meisterschaft singt und eine Adalgisa (Nadja Stefanoff), deren Stimme ebenfalls eine Entdeckung ist. George Oniani als Pollione und Ramaz Chikviladze als Oroveso meistern ihre Partien souverän und mit der nötigen Leidenschaft. Die vielzitierte Arie „Casta Diva“ gab dann auch zu Schwärmereien Anlass – egal ob im Abendkleid oder im Comic-Kostüm gesungen. Dank der großartigen Besetzung und dem engagierten Spiel des Beethovenorchesters kamen die Opernfreunde doch noch auf ihre Kosten und sparten auch nicht mit Applaus für die (wahren) Künstler.

www.theater-bonn.de/production.asp?ProductionID=668




Malocherhölle Ruhrgebiet: „Rote Erde“ im Grillo-Theater

Freizeitpark Ruhrgebiet 2012: 20 Jungmänner lümmeln auf Liegestühlen und beklagen ihr Schicksal. Nach Hauptschulabschluss keinen Job gekriegt, nach zehn unbezahlten Praktika immer noch arbeitslos. 20 Euro mehr im Monat für Arbeit als wie für Hartz IV – wie doof ist das denn?

Rote Erde/Schauspiel Essen

Rote Erde/Schauspiel Essen

Malocherhölle Ruhrgebiet, rund hundert Jahre zuvor: Schweiß, 15-Stunden-Schichten, Dreck, Vorgesetzen-Brutalität und Staublunge. Unter dem Titel „Rote Erde“ verschränkt Regisseur Volker Lösch im Essener Grillo die Schicksale von Jungmännern im Revier gestern und heute für die Bühne.

Wer Klaus Emmerichs Fernsehserie „Rote Erde“ von 1984 kennt, muss allerdings mit einer abgespeckten Version vorliebnehmen: Statt in epischer Breite werden hier die Schicksale des Sozialisten Karl (Urs Peter Halter), seiner Eltern, seiner Schwester (Laura Kiehne), des polnischen Arbeiters Bruno (Krunoslav Šebrek) und des hitzköpfigen Otto (Glenn Goltz) in kurzen Szenen und mit spartanischen Mitteln erzählt. Die historische Ebene kündigt sich jeweils mit Bühnennebel an, Unfälle unter Tage werden mit aufgehäuften Briketts simuliert. Ansonsten haben die Schauspieler und der Laien(Chor), der allerdings geschickt ins Geschehen integriert ist, nur ihren Bizeps und ihre kohlegeschwärzte Haut zu Markte zu tragen, die sich im Laufe der Inszenierung und mit fortschreitender Politisierung rot färbt. Ach ja, und eine Spitzhacke trägt jeder bei sich, die auch mal drohend in Richtung Bergwerksdirektor geschwenkt wird.

So plakativ, so gut: Tatsächlich hat der Geschichtsunterricht live einige positive Lerneffekte. Er motiviert, sich einmal mehr der Historie zuzuwenden und sich so als Ruhrgebietsmensch seiner selbst zu vergewissern. Und es gibt endlich Helden. Was waren das damals für Kerle, die ihren Vätern trotzten, die sich jeden Tag der Schinderei und der Gefahr aussetzten, die für ihre Rechte kämpften und manchmal auch dabei draufgingen anstatt den ganzen Tag Unterschichtsfernsehen zu glotzen und herumzujammern wie heutzutage. Die Politik machten und streikten, die ausgesperrt wurden und nichts zu fressen hatten. Die ihren Stolz als Arbeiter entdeckten und ihn als Funktionär im roten Seidenanzug in Berlin auch wieder verloren.

Sozialromantik in Reinkultur, bis an die Schmerzgrenze. Doch wenigstens sind am Schluss die Liegestühle weggeräumt und die Jungmänner zeigen Muskeln und Kante. Ob wirklich alle zu Helden taugen, ist noch nicht raus, aber Vorbilder hat Volker Lösch jetzt schon mal geschaffen. Eine Etage höher, zwei Stunden später gibt es dann Heldenpop in der Heldenbar. Auf der Tanzfläche nur Mädchen mit Handtaschen – schrecklich. Alles Weicheier.

Infos: www.schauspiel-essen.de




„Reise durch die Nacht“: Saisonauftakt im Schauspiel Köln

Es ist nicht einfach, mit einer Dichterin zusammenzuleben. Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen und viel zerknülltes Papier. Und auf engstem Raum wird die Beziehung noch komplizierter: Zum Beispiel in einem Zugabteil auf einer „Reise durch die Nacht“ nach der Erzählung von Friederike Mayröcker, bearbeitet und inszeniert von Katie Mitchell für das Schauspiel Köln.

 DURCH DIE NACHT (NIGHT TRAIN) / SCHAUSPIEL KOLN 2012/© Stephen Cummiskey

REISE DURCH DIE NACHT (NIGHT TRAIN) / SCHAUSPIEL KOLN 2012/© Stephen Cummiskey

Nach „Wunschkonzert“ von Kroetz, „Die Wellen“ von Virginia Woolf und „Ringe des Saturn“ von W.G. Sebald ist dies nun eine weitere Inszenierung im Katie-Mitchell-Stil und zugleich der Saisonauftakt von Karin Beiers letzter Spielzeit in Köln. Diesmal ist ein Eisenbahnwaggon aus den 80er Jahren auf die Bühne der Halle Kalk gebaut, in deren Abteilen der Live-Dreh der Szenen beobachtet werden kann, die zeitgleich auf der großen Leinwand über dem Zug zu sehen sind. Auch diesmal funktioniert das Arrangement grandios, entfaltet sich die Geschichte der verzweifelten Schriftstellerin und ihrem stumm-gequälten Partner in einer Vielschichtigkeit, Simultanität und Abgründigkeit, die den im letzten Abteil eingesprochenen Mayröcker-Text zum (Er)leben erweckt.

Der Zug fährt von Paris nach Wien, doch unsere Autorin (Julia Wieninger) scheint nicht glücklich darüber: Die Schatten der Vergangenheit holen sie ein und produzieren quälende Szenen in ihrem Kopf. Von ihrem Vater, der gegen die Mutter gewalttätig war, von zerbrochenem Spielzeug, Angst und Schmerz. Gedreht werden diese Szenen im Abteil links, inklusive Weihnachtsmusik, fallendem Schnee und trügerischem Kerzenschein. Die Kamera ahmt in Froschperspektive den Blickwinkel des Kindes nach; auch hier zeigt sich wieder die ungeheure Sorgfalt, mit der Katie Mitchel und ihr Team ihre Methode inzwischen perfektioniert haben. Tatsächlich tritt in „Reise durch die Nacht“ die Offenlegung des Produktionsprozesses gegenüber den vorherigen Inszenierungen etwas zugunsten der dramatischen Entwicklung der Handlung zurück, was aber durchaus stimmig ist.

Wer seine nächtlichen Interrail-Fahrten in den achtziger Jahren nicht vergessen hat, kann das rastlose Umherwälzen der Autorin in der Bahnpritsche nachfühlen. Drei Uhr nachts zeigt der Reisewecker, „schon seit langem leide ich an schweren Schlafstörungen.“ Ruhelos, getrieben streunt sie durch den schwankenden Zug und stolpert in einen Quickie mit dem smarten Schaffner hinein, hungrige wahllose Leidenschaft, kalt ausgeleuchtet aufm Bahnhofsklo. Während der mitreisende Mann (Daniel Betts) im Pyjama und Schlafmaske in der unteren Pritsche im Tiefschlaf liegt. Rache der Schlaflosen an dem, der die Fähigkeit hat, vor den eigenen Gespenstern in den Traum zu flüchten? Am Morgen dann muss sie dem Lebensgefährten ausführlich beim Zähneputzen und Bartschneiden zusehen. „Dieser Einheitsmensch, dieser Einspurmensch“, klingt es in ihrem Kopf – Hass kann auch subtil sein.

Doch der Pedant geht noch aus sich heraus, als er nämlich seine Frau beim Knutschen mit dem Schaffner erwischt: Plötzlich prügelt der kalte Gefährte sich hitzig, der Zug schwankt und draußen zieht verregnetes Österreich vorbei. Die Frau schreibt, die Frau zerreißt das Geschriebene, vom realen Geschehen eher befremdet, denn berührt. Am Schluss fährt der Zug unter monotoner Ansage in Wien Westbahnhof ein. Die Autorin steigt aus, im Blick nur ein wenig mehr Einsamkeit als beim Einsteigen. Das Manuskript wird von der Putzfrau entsorgt. Endstation.