Zum Tod von Dirk Bach: Nun sind viele Bühnen ärmer

Sein adipöses Äußeres – 110 Kilogramm auf 168 Zentimeter Körperhöhe verteilt – nährte schon lange die Befürchtung, dass es um die Gesundheit des Dirk Bach ergänzungsbedürftig bestellt sein muss. Im Laufe der Jahre mehrte sich die Zahl seiner Doppelkinne bedenklich, hätte er eine Halskette getragen, wäre ein Lesezeichen praktisch gewesen, um diese wiederzufinden. Er nahm fröhlich jede sich anbahnende Anspielung auf sein umspannendes Gewicht vorweg („Ich bin dick im Geschäft“) und verkörperte im wahren Wortsinne die verschmitzt hintersinnige gute Laune eines wahrhaft knuddeligen Typen. Dirk Bach starb mit nur 51 Jahren, sein Tod macht die Gilde der deutschen Komiker ärmer und nimmt der Schauspielerei einen außergewöhnlichen Künstler.

Dirk Bach begann seinen Berufsweg, den er leidenschaftlich angriff, 1980 mit einer Rolle im „Prometheus“ von Heiner Müller, die er in verklärender Erinnerung als „erhaben“ gefühlt hat. Klar, und das war Dirk Bach, er musste unter anderem auf einem zwei Meter hohen Stahlstuhl sitzen. Er, der nie Schauspielerei an Instituten gelernt hatte, spielte in London, Amsterdam, Brüssel und sogar in New York. Dirk Bach nahm den Max Ophüls-Preis entgegen und wurde 1992 festes Ensemble-Mitglied am Kölner Schauspielhaus. Er sprach Kafka ebenso grandios wie „Urmel aus dem Eis“ und konnte mit seiner „Dirk Bach-Show“ selbst Gottschalks Late-Night-Quoten übertreffen. Er genoss die ungeteilte Förderung durch Alfred Biolek, wurde von Franz Xaver Kroetz als Darsteller gewünscht und für den bereits zitierten „Prometheus“ hatte ihn Hansgünther Heyme erkoren.

Was indes in Erinnerung bleibt, sozusagen der assoziative Schnellschuss zur Namensnennung, das ist die künstliche Hochebene über dem australischen Dschungel, auf der das grellbunte Würfelchen (assistiert von Sonja Zietlow) kongenial aufgeschriebene Läster-Dialoge über C-Promis mit dahinscheidendem Ruhm kübelt und liebenswert-hämisch den finalen Rettungsruf „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ skandiert. Nur diese beiden und ihre teils ätzenden Gespräche über die Schar würdearmer Selbstdarsteller/innen im grünen Basement machte die merkwürdige Show so attraktiv. Vermutlich wird sie nun „dermaßen an Bach“ verloren haben, dass sie als wahres TV-Leichtgewicht verkümmern dürfte.

Seine privaten Engagements bei „Amnesty international“, im Tierschutz oder sein hartnäckiges Ringen um die gleichberechtigte Anerkennung homosexueller Paare gehören ebenso zu dieser kleinen, aber wesentlich (ge)wichtigeren Person als gemeinhin angenommen wird. Dirk Bach – daheim im Millowitsch-Theater ebenso wie im Dschungelcamp – hat alle seine Bühnen zu früh verlassen. Und er war auf jeder (wie es das Fachorgan „Die Deutsche Bühne“ schrieb) „mit sich selbst identisch“.

Heute morgen schlug ein WDR5-Hörer vor, Dirk Bach möge posthum mit dem diesjährigen Fernsehpreis geehrt werden, dessen Gala heute Abend stattfindet. Ich schließe mich diesem Hörerwunsch an.




Klangwuchtiger Wahn – Die Rheinoper zeigt „Elektra“ als stetes seelisches Dahinwelken

Elektra, das Racheweib (Linda Watson), die Axt umschlingend. Foto: Matthias Jung

Plötzlich geht ein Ruck durch die Reihen. Ein paar Herrschaften schicken sich an, das Theater zu verlassen. Mitten im Stück. Ohne offensichtlichen Grund. Denn auf der Bühne wird weder bildmächtig gefoltert, noch blutig gemordet. Keine Orgien im Müll, keine Schändungen, nichts. Was also geschieht hier?

Positiv betrachtet, aus der Sicht der Kunst, in diesem Falle der Musik, spült die fantastische Kraft und Wucht der Klänge, die Wahn, Obsession und Deformation artikulieren, diese Menschen aus dem Düsseldorfer Opernhaus. Kein Wunder, wenn „Elektra“ gegeben wird, Richard Strauss’ revolutionär exzessiver Einakter mit all seinen dynamischen Extremen – hier sensibel, aber schon bedrohlich, dort immer noch lauter, brachialer, schockierender. Ins Negative gewendet aber heißt dies: Wer’s nicht aushält, der muss fliehen. Daraus einen Vorwurf zu stricken, ist indes Unsinn. Strauss hat sich in „Elektra“ einem dionysisch-pathologischen Rausch (auch der Orchesterfarben, bis hin zum Geräusch) ergeben, der im Grunde die Neurose auf die Bühne bringt. Kranke zu betrachten, wie sie seelisch dahinwelken, ist nicht jedermanns Sache.

Andere mögen diesen Abend im Düsseldorfer Opernhaus als Katharsis erkennen. Wer dieses tönende Stahlbad der Ekstasen durchschritten hat, sieht manch Nervositäten des Alltags mit einem milden Lächeln. Dass dies ein Werk leisten kann, das vor immerhin mehr als 100 Jahren uraufgeführt wurde, ist beachtlich. Dass Richard Strauss es mit „Salome“ und „Elektra“ bei seinem Ausflug in den wild-wuchernden Jugendstil und den harschen Expressionismus bewenden ließ, darf umso bedauerlicher registriert werden.

Es ist hier nicht zuletzt deshalb soviel von der Musik die Rede, weil die Düsseldorfer Neuproduktion der „Elektra“ ihre nervöse Spannung zuallererst aus der brodelnden Energie gewinnt, die aus dem Orchestergraben steigt. Dann muss von einer starken bis phänomenalen Sängerleistung die Rede sein. Zum Schluss von einer Regie, die, wie angedeutet, keinen Grund für reflexhafte Flucht liefert. Die sich mitunter gar der exaltierten Interaktion verweigert. Die andererseits ein wuchtiges Bühnenkonstrukt gewissermaßen mitsprechen lässt.

Grau, verwinkelt, unheimlich: Das Haus der Elektra. Foto: Matthias Jung

Roland Aeschlimann hat dies in Form eines gewaltigen Hauses erbaut und auf die Spielfläche gewuchtet. Flackernde Lichter. Fensterlose Löcher, aus denen bisweilen Tote herausbaumeln, graue Mauern, die das Innere weitgehend verbergen. Erst am Ende, wenn Elektras Bruder Orest aus Rache die Mutter und deren Liebhaber gemeuchelt hat, bekommen wir Einblick. In ein Eingeweide, das so deformiert ist wie die Seelen der Menschen.

Elektra also, gefangen in der Beschwörung ihres erschlagenen Vaters Agamemnon und ihrer Gier nach Vergeltung. Gefesselt vom eigenen Wahn und daraus resultierender Einsamkeit. Doch ach: So sehr Linda Watson die Partie betörend, verstörend, aufbegehrend singt, in leuchtenden Farben und in größter Kraft, so wenig körperliche Exaltation lässt Regisseur Christof Nel zu. Das Racheweib wirkt kalt, mitunter wie unbeteiligt. Selbst die große Mutter-Tochter-Szene, mit Renée Morloc als Klytämnestra, die ihre Stimme bis in die Überzeichnung treibt, bleibt ein eher zahmes Duell.

Immerhin darf sich Morloc wie eine Besessene, von Träumen Geplagte austoben, so wie Elektras Schwester Chrysothemis (Morenike Fadayomi, mit einigen Problemen bei der Stimmfokussierung), dauererregt an einem Brautkleid herumnestelt. Pure Statik hingegen umgibt den totgeglaubten Bruder Orest. Doch in seiner steifen Würde wirkt der Mann eminent bedrohlich, weil Hans-Peter Königs Bass noch das größte, stärkste orchestrale Wirbeln trefflich übertönt.

So soll erneut von den Düsseldorfer Symphonikern die Rede sein. Die Dirigent Axel Kober anfangs zügelt, um ihnen alsbald freien Lauf zu lassen. Und die doch, trotz aller Klangwucht, stets die Balance halten zu den Solisten, die ungemein textverständlich singen. Damit wird diese Rheinopernproduktion zu einem singulären Ereignis.

Wohl dem, der bis zu den letzten brutalen Schlägen des Orchesters ausgehalten hat. Sehr sehr schade allerdings, dass es nur noch eine Vorstellung gibt, am 7. Oktober.

Karten unter Tel.: 0211/8925-211

www.operamrhein.de

 




Ruhrtriennale: Die jungen Mädchen und der Traum von einer anderen Zeit

Anfangs gehen die 39 Mädchen wie in Zeitlupe quer über die Bühne. Ihr unentwegt gemurmeltes Mantra lautet „Alles wird gut“ („Everything’s going to be alright“). Sie schreiten in Trance. Woher und wohin?

Nur manchmal stößt die eine oder andere sacht an einen der verstreut stehenden Stühle. Doch plötzlich ein metallisches Kreischen! Die Stühle werden hart über den Bühnenboden geschoben, auch vernimmt man dabei schabende, knirschende, kratzende Geräusche. Es sind ungeahnte Stimmen, die da ertönen. Singende Stühle. Mythische Traumzeit in männerloser Welt.

Recht unscheinbar und verhalten hat der Abend begonnen, doch wenn man in den ersten Minuten gedacht haben sollte, hier wabere nur etwas im Ungefähren, so hat man sich gewiss geirrt. Diese Aufführung kann jederzeit in gläserne Poesie entschweben oder auch in schneidende Schärfe umschlagen. Sie kann naiv und durchtrieben sein. Schon kurz nach dem schlafwandlerischen Beginn setzen sich alle Mädchen in einer Phalanx auf die Stühle, den Zuschauern konfrontiert, für Minuten in Schweigen verharrend. Da baut sich eine Anspannung bis zur Alarmgrenze auf, die sich dann allerdings unversehens ins Federleichte löst.

Frontal zum Publikum: das Ensemble von "When the mountain changed its clothing" (Bild: Ruhrtriennale)

Frontal zum Publikum: das Ensemble von "When the mountain changed its clothing" (Bild: Ruhrtriennale)

Das Ruhrtriennale-Projekt „When the mountain changed its clothing“ (Als der Berg sein Kleid wechselte), vom Intendanten Heiner Goebbels mit dem famosen Vocal Theatre Carmina Slovenica in Szene gesetzt, ist wahrhaftig ein besonderes Ereignis aus Musik, Choreographie und literarischen Spiegelungen.

Glauben wir mal dem Programmheft und nehmen an, dass es hierbei vornehmlich um den Abschied von der (weiblichen) Kindheit geht. Tatsächlich werden ja Kuscheltiere rituell beigesetzt, wie im Kindergarten ziehen die Mädchen kollektiv Windjacken und Gummistiefel an und tollen herum. Altes wird abgelegt, Neues dämmert herauf. Unschuld und angemaßte Erfahrung halten einander die Waage. Einige Grundthemen des Seins werden fragend durchgespielt. Manche Passagen wirken, als könne alles, alles noch einmal ganz von vorn anfangen. Doch ach! Jegliche Zukunftshoffnung trägt das Weh doch wohl schon in sich. Und schon werden die Lügen des Lebens eingeübt.

(Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale)

(Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale)

Es ist streckenweise kaum zu fassen, welche Klangwelten diese zwischen 11 und 20 Jahre jungen Mädchen aus Maribor (unter der musikalischen Leitung von Karmina Šilec) herbeizaubern. Der streng präzise, unglaublich fugenlos gefügte, jedoch unangestrengt dargebotene Chorgesang umfasst staunenswert viele Register bis hin zur Obertontechnik; mal hört sich das an wie ein wundersamer Nachhall auf Gregorianik oder erinnert von fern her ans legendäre „Mystère des voix Bulgares“, das vor etlichen Jahren im Westen als Folkpop-Phänomen Furore machte. Mitunter steigert es sich bis zur rhythmischen Ekstase, so etwa beim indischen Traditional „Taka Din“. Sind diese Mädchen etwa auf Höchstleistung gedrillt worden – oder sind sie allesamt einfach phänomenal begabt? Jedenfalls können sie sich in einer nahezu kirchenähnlichen Akustik in der Bochumer Jahrhunderthalle angemessen entfalten.

Das musikalische Material (weit gespannt zwischen Schönberg, Brahms, slowenischer Folklore und Partisanenlied) ist ebenso vielfältig wie die Textbausteine. Der durch Klang und Bewegung geschaffene Kontext verwandelt die verwendeten Texte, macht sie gleichsam durchlässig, transparent: Wer hätte ohne weiteres gedacht, dass ein ungemein modern anmutendes, zyklisches Frage-Exerzitium über Jugend, Alter und Tod aus Jean-Jacques Rousseaus „Émile oder über die Erziehung“ stammt? Ein eigenwilliger Exkurs zum Geld wird dem Werk von Gertrude Stein entnommen, weitere Wortschwingungen kommen von Joseph von Eichendorff, Alain Robbe-Grillet („Wovon träumen die jungen Mädchen? – „Vom Messer und vom Blut.“), Adalbert Stifter oder Marlen Haushofer. Sie lösen auch im Spiel magische Momente aus: Ein Brot tragen. Mit einem Ball spielen. Wie innig das sein kann!

Alles besteht gleichwertig nebeneinander, entkoppelt und befreit vom herkömmlichen Sinn. Altgewohnte Zusammenhänge werden durch ebenso zwingende wie beiläufige Wiederholungs-Zyklen (geleitet und begleitet vom Kreislauf der Jahreszeiten, in deren Verlauf eben auch der titelgebende Berg sein Kleid wechselt) geführt, auf dass ein reiner Anfangszustand leuchten möge. Vielleicht sogar angstlos und frei.

Großer Beifall für große Kunst.

Weitere Aufführungen (mehrsprachig mit deutschen Übertiteln) nur noch am 28. Und 29. September, jeweils 19.30 Uhr, in der Jahrhunderthalle Bochum




Im dunklen Bauch der Sprache: Orffs „Prometheus“ bei der Ruhrtriennale

Selten ist man einer fremden Sprache so ausgesetzt wie an diesem Abend: Vielleicht kennen einige das Gefühl, wie schwierig es auf Reisen sein kann, sich in einem unbekannten Zeichensystem zurechtzufinden. Doch die Erfahrung, im dunklen Bauch einer ehemaligen Industriehalle zu sitzen und zwei Stunden mit der fremdartigen Melodie des Altgriechischen von Carl Orffs „Prometheus“ konfrontiert zu werden, ist relativ einzigartig. Die Ruhrtriennale ermöglicht den eigentümlichen Selbstversuch noch bis zum 27. September in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord.

Carl Orff/Lemi Ponifasio: Prometheus © Paul Leclaire

Carl Orff/Lemi Ponifasio: Prometheus © Paul Leclaire

Doch wie geht man nun damit um? Abwehr ist kein probates Mittel, denn wer ohne die Bedeutung der Worte zu verstehen nicht leben kann, der wird sich langweilen. Eher empfiehlt es sich, zumal vom Komponisten so intendiert, die Sprache als eine Art Musik, als rhythmisches Element auf sich wirken zu lassen. Denn tatsächlich entfaltet sie gerade im Zusammenspiel mit Orffs wuchtiger Musik (Musikalische Leitung: Peter Rundel) eine vibrierende Kraft und transportiert all die archaischen Emotionen wie Wut, Hass, Grausamkeit und Schmerz in einer stilisierten Form.

Überhaupt zeichnet sich die Inszenierung des samoaischen Regisseurs Lemi Ponifasio durch hohes Stilbewusstsein aus: Der Boden ist mit indirekt beleuchteten Glasplatten ausgelegt unter denen grünlich das Wasser schimmert. Der gewaltige Raum der Kraftzentrale wird bis zur hintersten Wand bespielt, so dass die Tänzer der MAU Company aus Neuseeland dort hinten verschwindend klein erscheinen. Prometheus selbst (Wolfgang Newerla) ist mitnichten an einen Felsen gefesselt: Er sitzt im Vordergrund auf einer schlichten Holzbank und deklamiert während sein Alter Ego (Ioanne Papalii/MAU) in der Mitte des Raumes auf einer Art beleuchtetem Operationstisch der Qualen harrt, die da kommen mögen. Das weitere Personal von Hephaistos bis Hermes ist in martialische dunkle Kostüme geschnürt, die Frauen wirken wie Amazonen. Die Okeaniden tragen hellblonde Perücken und durchsichtige Gewänder und sind die nahezu einzigen, die wirklich singen dürfen.

Die eigentümlich stillen Tänze der MAU Company tragen leise Gesten in den von lauten Tönen wiederhallenden Saal, meist bleibt der Blick an ihren bloßen Füßen hängen, auf denen sie über das Glas mehr schleichen als gehen.

Das nimmt sich so ganz anders aus als bei der Uraufführung des Orffschen Werks 1968, von der der Kritiker Werner Oehlmann seinerzeit im Tagesspiegel schrieb: „Der Regisseur Gustav Rudolf Sellner und der Bühnenbildner Teo Otto überrennen den Zuschauer geradezu mit einer Fülle vitalen Theaters, mit einem Überfluss an Formen und Farben, Kostümen und Masken“. Hier dagegen: Kein Hephaistos, der Ketten schmiedet und Keile durch Prometheus Brust treibt. Keine Flügelrösser, nirgends. Stattdessen gibt es kaum Interaktion zwischen den Figuren, sie deklamieren den Text, aber sie beziehen sich nicht aufeinander. Doch hier geht es auch nicht um Menschen, sondern um Götter. Trotzdem: Der Freiheitskampf des Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte und nun von Zeus dafür bestraft werden soll, sein Aufbegehren, sein Stolz, seine Unbeugsamkeit und auch seine Siegesgewissheit, dass er eines Tages von seinen Qualen gerettet werde: Für all das hat Wolfgang Newerla nur ein Ausdrucksmittel zur Verfügung: Altgriechisch! Verdammt dazu, auf seiner Bank zu sitzen, kann er sich nur ab und zu die Kehle befeuchten, was aussieht, als trinke er einen – Ouzo…

Das dramatische Element dagegen übernehmen Raum, Licht, Musik und die Füße der Tänzer. Und ein Publikum, von dem Hingabe gefordert ist. Gewähren wir die Gnade? Das muss jeder selbst entscheiden…

18., 21., 23., 25. und 27. September
Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord
www.ruhrtriennale.de




Wir sind alle Kafka: Saisonauftakt im Düsseldorfer Schauspielhaus

70 „Kafka“-Figuren im charakteristischen schwarzen Anzug, Hut und Mantel strömen aus den ersten Sitzreihen des Zuschauerraums auf die Bühne und nehmen an der Rampe Aufstellung. Unter ihnen Josef K. „Ich bin Josef K., Prokurist“, sagt er – diesen Satz wird man in den nächsten drei Stunden noch öfter von ihm hören. Denn viel mehr weiß er nicht über sein Leben…

Zum Auftakt der Saison zeigt das Düsseldorfer Schauspielhaus eine Adaption von Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ in der Inszenierung des russischen Regisseurs Andrej Mogutschi, der sich offenbar in Dreh- und Hebebühne verliebt hat. In einem wilden Reigen wirbeln die Kafka-Statisten (im Programmheft ausgewiesen als Chor) herum, fahren hinauf und hinab, wobei Josef K. (weltentrückt gespielt von Carl Alm) gleichzeitig noch das Kunststück zu bewältigen hat, sich mehrmals umzukleiden. Das erzeugt Stress, das erzeugt Zeitdruck. „Zu spät“, ruft Josef K., „ich komme zu spät.“ Das stimmt: Denn seine Verhaftung ist schon erfolgt, die Gerichtsbarkeit hat ihn in den Klauen. Doch was ihm vorgeworfen wird, weiß er nicht.

Dafür finden Mogutschi und seine Bühnenbildnerin Maria Tregubova seltsame, beinahe surrealistische Bilder: Auf schiefer Ebene ist Josef K.s Kammer mit in den Proportionen verzerrtem Mobiliar aufgebaut, es könnte auch das Zimmer von Gregor Samsa sein. Verzweifelt klammern sich die Schauspieler an die spärlichen Möbel, doch es hilft nichts: Sie stürzen buchstäblich in den Abgrund. In einer anderen Szene sitzt Josef K. leblos, gestützt von seinen Wächtern (Moritz Löwe und Jonas Anders), in einem schwarzen Oldtimer, die Statisten streuen rote Rosen und unversehens wird die Szenerie zum Leichenzug. Am Bühnenhimmel hängen Wattewölkchen und zum Advokaten (Sven Walser) rudert man im weißen Bötchen durch im Raum schwebende Türen. Die Musik (Alexander Monotskov) verstärkt die varietéhafte Anmutung des Ganzen. So bebildert die Inszenierung zwar ausführlich, manchmal witzig und leider auch etwas langatmig den Alptraum, in dem sich Josef K. befindet. Doch ihr Zentrum findet sie nicht. Sie kreiert eher ein Kafka-Abziehbild.

„Zum letztenmal Psychologie“ skandiert der Chor, obwohl am ehesten noch eine psychologische Deutung angeboten wird: Besteht Josef Ks. Schuld etwa in uneingestandener sexueller Begierde? Der nackte Advokat und seine Gespielin Leni (Betty Freudenberg) im monströsen Ganzkörpernacktanzug sowie die hohen Herren der Gerichtsbarkeit allesamt unten ohne sprächen dafür. Ebenso Fräulein Bürstners (Patrizia Wapinska) durcheinandergewirbelte Blusen. Doch nimmt man dem somnabulen Josef K. den Tausendsassa gar nicht ab. Soll er etwa das Riesenbaby gezeugt haben, das plötzlich über die Bühne geistert? Am Ende gar mit seiner Mutter?

Antworten gibt es naturgemäß nicht. Im Grunde ist Josef K. gesamtes Leben ein Prozess, den er nicht gewinnen kann, denn der unglückliche Ausgang ist vorprogrammiert. Da kann er sich noch so viele Advokaten auf dieser Lebensreise nehmen, irgendwann endet sie. In diesem Sinne sind wir wohl alle ein bisschen Kafka.

„Der Prozess“ nach Franz Kafka
Karten und Termine: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Einmal Hochkultur und zurück – die Kinderjury der Ruhrtriennale

Kunst zum Kichern bei der Ausstellung "12 Rooms" im Essener Folkwang Museum.

Kunst zum Kichern bei der Ausstellung "12 Rooms" im Essener Folkwang Museum.

Eine Kinder-Jury begleitet die Ruhrtriennale und verleiht zum Ende des Festivals jeder Produktion einen Preis – die Awards heißen „Die beste Hose“, „Die beste Pose“ oder „Das verrückteste Stück“. Sie werden Abend für Abend wie Superstars behandelt: Chauffeur, roter Teppich, Blitzlichtgewitter. Über die Künstler, die Stücke, die Hintergründe wissen die Kinder – nichts. Was soll das sein: Kulturvermittlung? Oder tatsächlich die angekündigte „kritische Prüfung zeitgenössischer Kunst“ durch eine „unverbildete Jury“? Und: Kann das gut gehen?

Bochum, 17. August, kurz vor 20 Uhr. Internationales Stimmengewirr im Foyer der Jahrhunderthalle. Aus ganz Deutschland und dem Ausland sind Opernliebhaber angereist, um „Europeras 1 & 2“  zu erleben. Die Gelegenheit ist selten, seit der Uraufführung 1987 war John Cages Opern-Dekonstruktion kaum mehr zu sehen. Vom Parkplatz bis zur Halle stehen Verzweifelte auf der Suche nach Karten – alle Termine sind ausverkauft. Es wird eine Wahnsinns-Produktion, die den Sängern und Musikern alles abverlangt.

Zwei Vans fahren vor; selbstmalte Glitzer-Schilder weisen sie als „VIP“-Fahrzeuge aus. Kaum sind die Mitglieder der Kinderjury, heute Abend alles Mädchen, aus den Autos geklettert und unter dem Applaus der Umstehenden verlegen über den roten Teppich in die Jahrhunderthalle gegangen, werden ihnen Mikrofone unter die Nase gehalten. „Was erwartest du dir heute Abend?“, will eine Radio-Reporterin wissen. „Viel! Dass es nicht langweilig wird. Und dass es … spannend wird“, antwortet ein Mädchen. Kurz vor Beginn der Vorstellung macht Jana Eiting von „Mammalian Diving Reflex“ letzte Ansagen. Die kanadische Künstlergruppe wurde von der Ruhrtriennale für das Kinderjury-Projekt engagiert. „Also, wenn es langweilig wird, und das kann passieren, dann beschäftigen wir uns irgendwie, ihr könnt ja was malen“, sagt sie. Als der Zuschauerraum schon bis auf den letzten Platz gefüllt ist, nehmen die Mädchen unter wohlwollendem Applaus des Publikums in der ersten Reihe Platz.

Gelsenkirchen, 27. Juni, 8.30 Uhr. „Wir wollen mal ein bisschen über Kunst reden“, sagt Jana Eiting. Sie steht in einem Projektraum der Gesamtschule Ückendorf in Gelsenkirchen, um sie herum 21 Schülerinnen und Schüler, die sich für das Kinderjury-Projekt gemeldet haben. Die Gelsenkirchener Schule ist eine von dreien, die am „Children’s Choice Award“ teilnehmen; auch in Bochum und Duisburg wird es noch Treffen geben. Insgesamt sind um die 60 Kinder dabei; jedes wird sich ein paar Produktionen der Ruhrtriennale anschauen. Jury-Sitzungen gibt es nicht, die Preisträger werden anhand der Evaluationsbögen ausgezählt, die jedes Kind am Ende einer Show ausfüllen wird. Doch das wissen die Kinder noch nicht, der Workshop heute ist der erste.

In die 5. oder 6. Klasse gehen die Kinder, die im Stuhlkreis sitzen und sich immer wieder vom Kameramann der Ruhrtriennale ablenken lassen. Vom Alter her sei für das Jury-Projekt „alles zwischen Milchzähnen und Schamhaaren“ okay, hatte Darren O’Donnel, der künstlerische Direktor der Gruppe, gesagt. Das hat in diesem Fall nicht ganz geklappt. Einige stecken schon schwer in der Pubertät, offenbar mussten sie die eine oder andere Klasse wiederholen. Die Gesamtschule Ückendorf hat trotz guter Ausstattung und eines engagierten Kollegiums keinen besonders guten Ruf bei bildungsorientierten Eltern, was vermutlich allein daran liegt, dass Kinder deutscher Eltern dort seit langem in der Minderheit sind. So auch im Jury-Workshop. „Wir machen soziale Kunst“, sagt Jana Eiting und fragt, was das wohl bedeutet: sozial. „Mit Geld irgendwas?“, schlägt ein Schüler vor. „Sozialamt!“, fällt einem anderen ein. Was eine Jury ist, das muss den Kindern niemand erklären. „Deutschland sucht den Superstar“ kennen nun wirklich alle. „Sehen wir auch Stars?“, will ein Mädchen wissen. Als eine Mitarbeiterin des Mammalian Diving Reflex erzählt, dass sie in Kanada aufgewachsen sei, nicht allzu weit entfernt von Teenie-Schwarm Justin Bieber, da weichen zwei Mädchen nicht mehr von ihrer Seite. In der Pause muss sie Autogramme geben.

Roter Teppich für die Youngster-Jury der Ruhrtriennale.

Roter Teppich für die Youngster-Jury der Ruhrtriennale.

Essen, 17. August, 12 Uhr. Die Ruhrtriennale eröffnet mit der Performance-Ausstellung „12 rooms“ im Museum Folkwang. Damien Hirst, Marina Abramivic, Jon Baldessari sind mit ihren Arbeiten vertreten – doch die Stars der Eröffnung sind die Kinder. Vorfahrt mit dem Van, roter Teppich, Applaus – das volle Aufmerksamkeitsprogramm. Auch Darren O’Donnel, der künstlerische Leiter von „Mammalian Diving Reflex“, ist dabei. Er hat „The Children’s Choice Awards“ auf Festivals in vielen Städten auf der Welt initiiert und begleitet, und er ahnt wohl, wie die Kinder sich fühlen, wenn sie plötzlich in einer fremden Stadt vor einem Kulturpalast inmitten fein gekleideter Menschen stehen. Mit sicherem Blick geht er auf die schüchternsten Schüler zu, steckt ihnen eine Löwenzahn-Blume hinters Ohr, stellt seine Kaffeetasse auf ihren Köpfen ab, bringt sie mit Faxen zum Lachen. Schnell ist die Scheu dahin, nur ein Mädchen klammert sich an den Arm ihres Lehrers. Schon bald bewegen sich die Kinder alleine und sicher durch die Schau, öffnen Türen, machen sich Notizen.

Während die erwachsenen Vernissage-Besucher zumeist zurückhaltend an den Turen der zwölf Kunst-Kojen stehen bleiben und erst einmal beobachten, sehen die Schüler die Live Art als eine Art Streichelzoo: Sie gehen nah ran an die Statisten, fassen sie an, stellen ihnen Fragen, lachen. Zögerlich treten nun auch die erwachsenen Besucher näher, einige machen es den Kindern nach.

Diese Schüler waren noch nie in einem Kunstmuseum; was denken sie, wenn das Kunstwerk aus einem Mann in KFOR-Uniform besteht, der in der Ecke steht und die Wand anstarrt? „Cool“, sagt Hasan, „der Soldat hat mir am besten gefallen.“ Warum? „Ich mag Krieg.“ Später in seiner Pause erzählt der Soldat-Darsteller den Kindern, dass er tatsächlich ein Kriegsveteran ist. Der Künstler Santiago Sierra wolle, erklärt er, mit der Performance darauf aufmerksam machen, dass Kriegseinsätze für die Soldaten oft psychische Folgen haben. Dann dürfen die Kinder Fragen stellen. „Sind die Waffen schwer?“, fragen sie, und „Haben Sie schon mal jemanden erschossen?“

Bochum, 17. August, 20.05 Uhr. „Puh, geschafft“, sagt Samira, als sie endlich in der ersten Reihe Platz nimmt und ihre 1,5-Liter-Wasserflasche aus der Tasche packt, „das Schlimmste hab’ ich überstanden.“ Das Schlimmste: Der Walk über den roten Teppich, die Interviews, der Gang vor der Augen hunderter Zuschauer zum Sitzplatz. Jetzt heißt es nur noch, die Oper zu überstehen, zweieinviertel Stunde Neue Musik. Samira war noch nie im Theater. Sie hat sich schön gemacht und erwartet, schöne Dinge zu sehen. Sie wird nicht enttäuscht werden: Heiner Goebbels Inszenierung ist eine Materialschlacht, eine Show der Effekte, es gibt Tier-Masken, Rokoko-Kleider und Männer in Frauenkleidern, es brennt und schneit auf der Bühne, Kulissen werden hineingerollt oder von oben herabgelassen. „Bor!“ entfährt es Samira, als ein schwerer roter Samtvorhang unvermittelt vor einer Sängerin auf den Boden donnert. Nach einer Stunde kramt Samira ihr Notizheft hervor, beginnt zu schreiben – und hört nicht mehr auf. „Wie hat es mir gefallen“, schreibt sie als Überschrift oben aufs Blatt, und notiert: „Dass Männer und Frauen zusammen singen. Dass viele verschiedene Orte gezeigt werden. Dass man sieht, wie sie auf der Bühne arbeiten und aufbauen.“ Am Ende klatscht sie, bis ihre Hände weh tun. Anstrengend war es, langweilig, aber auch ein einzigartiges Erlebnis.

Nach der Vorstellung dürfen die Kinder noch Mezzosopranistin Karolina Gumos treffen. „Wir haben mehr als hundert Arien gesungen, habt ihr eine erkannt?“, fragt die Sängerin in ahnungslose Gesichter: Was bitte ist eine Arie? Dennoch hängen die Mädchen an den Lippen der Künstlerin, die mit Turm-Frisur und ausladendem Reifrock direkt vom Schlussapplaus zu ihnen geeilt ist.

Wenn die Jury-Kinder am 30. September auf großer Bühne ihre Awards vergeben, dann haben sie auf den teuersten Plätzen und unter exklusiven Bedingungen Kulturveranstaltungen erlebt. Sie wurden aus ihrem Klassenzimmer einmal ins große Kulturleben geschubst. Dass sie aber keine Erklärungen bekamen, dass es kein Lern-Ziel gab, dass Vor- und Nachbereitung komplett fehlten – das muss man erst einmal verdauen. „No education“ heißt die Programmlinie der Ruhrtriennale für junge Leute, keine Erziehung, keine Bildung. Das Konzept dahinter: Man kann Kultur nicht vermitteln, man muss sie einfach erleben. „Komplett informiert zu sein, hilft auch nicht immer“, sagt Darren O’Donnel, „manchmal bringt es einen vielleicht weiter, verwirrt zu werden.“ Wichtig sei, dass die Kinder ins Zentrum rücken. Dass sie dabei sind, anstatt in kindgerechte Veranstaltungen abgeschoben zu werden.

Samira wird also nach wie vor mit dem Namen „John Cage“ nichts anfangen können, und Hasan ist vielleicht enttäuscht, wenn beim nächsten Besuch in einem Kunstmuseum nur Plastiken und keine Soldaten in der Ecke stehen. Vielleicht, wahrscheinlich sogar war es auch ihr erster und einziger Ausflug in die Hochkultur. Kulturvermittlung ist „The Children’s Choice“ also nicht. Eine kritische Prüfung zeitgenössischer Kunst sicher auch nicht. Letztlich waren die Schüler Teil eines Kunstprojekts: So wie der Kriegsveteran für Santiago Sierra im Museum Folkwang die Wand anstarrt, so schaut Hasan für die Ruhrtriennale den Veteranen an. Sie werden ihre Erlebnisse vermutlich beide so schnell nicht vergessen.

Der Text erschien in der September-Ausgabe des Kulturmagazins K.WEST.




„Nach mir die Sintflut“ – Mitreißender erster Spieltag 2012/13 im Prinz-Regent-Theater

Nach mir die Sintflut Prinz-Regent-Theater

Theaterrezension in exakt 150 Wörtern – Teil Ach-was-weiß-denn-ich

„Nach mir die Sintflut“ – Prinz-Regent-Theater Bochum

Premiere: 5.9.2012

 

Demokratische Republik Kongo? Bitte – muss das sein? Selbst im Theater? Der Name allein schon. „Zaire“ hieß das. Bis ’97. Seitdem: Krieg. Vergewaltigungen. Kindersoldaten. Malaria. Gold. Diamanten. Afrika halt. Kann man sich dran bereichern als Europäer. Aber da leben?

 

„Nach mir die Sintflut.“ Hat Diktator Mobutu gesagt vor seiner Flucht. Und die Leute? Ertrinken seitdem – In der Korruption und Gewalt des eigenen Volkes, in der Gier und Skrupellosigkeit der Fremden.

 

Im Stück: Ein todkranker Afrikaner. Ein Geschäftsmann aus Europa. Eine Übersetzerin. Drei, die verhandeln über die Zukunft eines jungen Kongolesen. Wessen Fassade bröckelt? Welche bittere Wahrheit lauert da wie das Krokodil auf die Beute?

 

Süßer Traum Europa? Nein: eine bittere Wahrheit. Die die Figuren ebenso bewegt zurücklässt wie den Zuschauer.

Nach mir die Sintflut Prinz-Regent-Theater Bochum

BÜHNENBILD Drei Sessel. Projizierte Portraits. Mehr braucht’s nicht.

MUSIK Am Anfang und am Ende. Gleich. Und doch ganz anders.

SCHAUSPIELER Undurchschaubar. Dann fassadenbröckelnd. Deshalb grandios.

TIEFGANG Hui. *schüttel* #europaschaem

 

weitere Termine




Michel Houellebecq: „Karte und Gebiet“ – Schauplatzbesichtigungen

Wird sich Michel Houellebecq auf seine alten Tage zu einem Autor von Frankreich-Reiseführern entwickeln? Unwahrscheinlich. Dennoch laden die detaillierten Ortsangaben in seinem zuletzt erschienenen Roman Karte und Gebiet zu Schauplatzbesichtigungen ein. Und mit dem Fotografen, Maler und zuletzt auch Videokünstler Jed Martin hat Houellebecq einen Protagonisten gewählt, der französische Städte, Dörfer und Landschaften mit distanzierter Neugier beobachtet – „dieses Land, das unbestreitbar das seine war.“

Jed Martin wohnt in einem Dachgeschoss-Atelier im 13. Arrondissement. Durch die Fenster sieht er hinter der Place des Alpes die „in den Siebzigern erbauten viereckigen Festungen, die in totalem Gegensatz zur Ästhetik der restlichen Pariser Landschaft standen und die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog.“

Obwohl sozusagen intra muros gelegen, also innerhalb des Boulevard Périphérique und nicht in der berüchtigten Banlieue, würde ein durchschnittlicher Paris-Tourist diese mit „Sehenswürdigkeiten“ eher dünn bestückte Gegend nicht bei seinem ersten Besuch der Stadt ablaufen, und wenn es keinen besonderen Anlass gibt, auch noch nicht beim zwanzigsten. Jeds bevorzugtes Bistro, in dem er sich mehrfach mit seinem Galeristen Franz verabredet, liegt in der Rue du Château des Rentiers. Ein wohlklingender Name. Aber die Straße in unmittelbarer Nachbarschaft vieler Betonbauten ist nicht für ihre Restaurants berühmt. Ein Stadtbewohner mit konventionelleren ästhetischen Erwartungen an französische Gastronomie würde, von Jeds Atelierwohnung gleichweit entfernt, zum Beispiel die Butte-aux-cailles nahe der Avenue Tolbiac mit ihrer Kneipenvielfalt entdecken. Es ist, als lenke der Autor den Blick absichtlich auf die unspektakulären, „langweiligeren“ Straßenzüge neben den charmanteren. Als wolle er zu einer hellwachen Reise durch vermeintliche Belanglosigkeiten einladen.

Obwohl durch seine Kunst zu unverhofftem Reichtum gelangt, orientiert sich der Maler nicht am Guide Michelin, sondern holt sich seine Pringles-Chips (der Autor kennt keine Zurückhaltung bei Produktnamen) an der Shell-Tankstelle und schließt sich damit zu Hause ein.

Viereckige Festungen, die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog

 

Eine Selbstpersiflage des Autors

Als nicht unwichtig für Jed Martins – nur mit der Irrationalität des Kunstmarkts erklärbaren – exorbitanten Geschäftserfolg erweist es sich, dass er auf Anregung seines Galeristen eine Romanfigur namens Michel Houellebecq, die unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem Autor Michel Houellebecq aufweist, dafür gewinnt, ein Vorwort zum Ausstellungskatalog seiner „Serie einfacher Berufe“ zu verfassen. Diese Spiegelung als Figur in seinem Roman gibt dem Autor die Möglichkeit zur Selbstpersiflage als menschenscheuen Alkoholiker. Wintertage, an denen es um vier Uhr dunkel wird, sind dem zur Depressivität Neigenden weit erträglicher als die endlosen Sommertage. Die EDV-Experten der Polizei, die später Houellebecqs Festplatte untersuchen werden, stellen fest: „Selten jemanden gesehen, der ein so beschissenes Leben führte.“

Jeds Vater, als Architekt im Ruhestand, hat aus der Bibliothek seines Altenheims zwei Romane von Michel Houellebecq gelesen und zeigt sich informiert, als Jed ihm von dem beabsichtigten Vorwort berichtet: „Das ist ein guter Autor, wie mir scheint. Liest sich sehr angenehm, und er zeichnet ein ziemlich zutreffendes Bild unserer Gesellschaft.“ So liefert Houellebecq eine – gar nicht einmal beschönigende – Rezension seines Buchs gleich mit.

Den Kontakt zu dem cleveren Skandalautor vermittelt dem Maler Houellebecqs Schriftsteller-Freund Frédéric Beigbeder, der – ebenso wie die Flammarion-Verlegerin Teresa Cremisi – im Roman mehrere Cameo-Auftritte hat; zuerst während einer Literaturpreisverleihung, als Beigbeder lebhaftes Interesse an der Frage zeigt, welcher Mann die attraktive Olga für sich gewonnen hat. Beigbeders Ort ist das Café de Flore am Boulevard Saint-Germain, für das der wirkliche Frédéric Beigbeder den Literaturpreis Prix de Flore begründet hat, zu dessen Preisträgern Houellebecq gehörte.

Über die gutaussehende und erfolgreiche Russin Olga Sheremoyova – PR-Frau bei Michelin France, die zunächst berufsbedingt auf den jungen Künstler aufmerksam wird – bringt der Autor seine Leser mit einem anderen Paris, dem Paris der Partys und gesellschaftlichen Empfänge, der Sterne-Restaurants und „Romantikhotels“ in Kontakt. Olga bewohnt eine komfortable Zweizimmerwohnung mit Fenstern zum Jardin de Luxembourg.

Im Verlauf der Handlung kommt es zu drei persönlichen Begegnungen zwischen Jed Martin und Michel Houellebecq. Das erste Mal in Houellebecqs Haus in Irland, als Jed dem Schriftsteller Fotos seiner Gemälde zeigt. Das zweite Mal, ebenfalls in Irland, nachdem Jed sein Doppelporträt „Jeff Koons und Damien Hirst teilen den Kunstmarkt unter sich auf“ verworfen hat und stattdessen die Serie mit einem Bild „Michel Houellebecq, Schriftsteller“ abschließen möchte. Das Gemälde, das nach der Ausstellungseröffnung einen Marktwert von ca. 750.000 Euro erreicht, überbringt er dem Schriftsteller als Geschenk, der seinen Wohnort nach Souppes, ca. fünfundachtzig Kilometer südlich von Paris, verlegt hat. Von Freundschaft zu sprechen wäre bei den beiden egozentrischen Künstlernaturen verfehlt. Jed respektiert das Recht des zwanzig Jahre Älteren, in Frieden gelassen zu werden, doch seine Phantasie malt sich aus, wie sie beide, die eine Vorliebe für große Verbrauchermärkte teilen, durch das Warenangebot schlendern. „Wie schön wäre es doch gewesen, gemeinsam diesen frisch renovierten Casino-Supermarkt zu besuchen, sich gegenseitig mit dem Ellbogen anzustoßen, um den anderen auf das Auftauchen neuer Produktsegmente oder eine besonders ausführliche, klare Nährwertkennzeichnung auf einem Etikett hinzuweisen!“ Auch sonst sind sich die beiden Sonderlinge ziemlich ähnlich. Bei ihrer letzten Begegnungen sprechen sie über die Sozialutopisten des frühen und späteren 19. Jahrhunderts, Charles Fourier, Étienne Cabet, vor allem aber über William Morris, der ein wesentlicher Bezugspunkt für Jeds Vater gewesen war.

Heimlicher Protagonist

Jeds Vater, Jean-Pierre Martin, der im Umfeld der Bewegung Figuration Libre gegen die tonangebende Schule Mies van der Rohes und Le Corbusiers polemisierte und unter unorthodoxen Intellektuellen wie Gilles Deleuze Beachtung fand, ist vielleicht der heimliche Protagonist des Romans. Um seine Familie zu ernähren – in seiner erfolgreichsten Zeit beschäftigt sein Büro bis zu fünfzig Mitarbeiter – baut er jedoch gegen seine ästhetische Überzeugung vor allem „idiotische Strandhotels für blöde Touristen“. Für seine Familie und sich (Jeds Mutter begeht Selbstmord) hat er im damals noblen Vorort Le Raincy eine Villa gekauft, an der er trotz aller sozialen Veränderungen festhält. Zur Zeit des Romanbeginns ist Le Raincy bereits zu einer No-go-Area mutiert, für die kein Taxichauffeur einen Fahrauftrag annimmt. Nach dem Tod des an Darmkrebs leidenden Vaters, der sich in die Hände einer Züricher Sterbehilfeklinik begeben hat – ein „mustergültig banaler Betonklotz“ im Stil Le Corbusiers – entdeckt Jed dreißig Mappen mit minutiösen, teilweise utopisch anmutenden Architekturzeichnungen, die sein Vater angefertigt hat – „ohne jede Rücksicht auf Durchführbarkeit und Budget“.

„Die Karte ist interessanter als das Gebiet“ hieß Jeds erste, vom Reifen- und Kartenhersteller Michelin gesponserte Einzelausstellung – ein Gedanke, der in dem vielschichtigen Roman variiert wird und auch das phantastische Werk von Jeds Vater kommentiert. Grob vereinfacht und von dem kunstfertigen Autor so direkt nicht ausgesprochen, könnte eine Deutung des Ausstellungsmottos auch lauten: Die Literatur ist interessanter als die Wirklichkeit.

Die literarische Figur Michel Houellebecq – das sei verraten – ist im dritten Teil des Roman auf eine Weise geschlachtet worden, die selbst die sadistischsten Phantasien eines jeden Houellebecq-Hassers übertreffen würde. Die Köpfe des Schriftstellers und seines Hundes, jeweils sauber abgetrennt, liegen auf Sofa und Sessel einander gegenüber. Das Fleisch ist mit einem chirurgischen Präzisionsinstrument von den Knochen geschält worden, die abgeschabten Knochen im Kamin aufgehäuft. Während der Hauptkommissar der „schwer zu entziffernden Logik“ des methodisch ausgeführten Gemetzels nachgrübelt, erinnert das Arrangement aus Fleischbrocken, Hautfetzen und Blutflecken auf dem Wohnzimmerboden den zum Verbrechensschauplatz geführten Künstler Jed Martin spontan an Jackson Pollocks Action Painting, jedoch ohne dessen Leidenschaftlichkeit. Das gesamte grausame Ritual, wie nach Jeds wertvollem Hinweis gefolgert wird, hat der Mörder offenbar allein auf sich genommen, um von einem Kunstraub abzulenken. Das Houellebecq-Porträt, dessen Wert Jed der Polizei gegenüber zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf neunhunderttausend Euro schätzt, ist aus dem Haus gestohlen worden. Als es schließlich nach dreijähriger Suche wieder auftaucht und wegen einer testamentarischen Verfügung Houellebecqs in Jed Martins Besitz zurück gelangt, kann sein Galerist es an einen indischen Mobiltelefonanbieter für zwölf Millionen Euro verkaufen.

Die Figuren und ihre bevorzugten Orte

Mit dem Schauplatz des Mords, dem zwischen Nemours und Montargis gelegenen Provinzstädtchen Souppes, wird ein Ort beschrieben, dessen „strukturbedingte Leere“ Jed an den Zustand nach der intergalaktischen Explosion einer Neutronenbombe erinnert. Außerirdische Wesen könnten sich „an dessen gemäßigter Schönheit erfreuen“ und „rasch die Notwendigkeit der Instandhaltung begreifen.“ Mag sein. Sollte es sich bei den Aliens jedoch um Wesen mit der ästhetischen Intelligenz vieler Terraner handeln, fände ihre konservatorische Fürsorge zwischen Paris und der Creuse erhaltenswertere Ortschaften als das mit „gemäßigter Schönheit“ freundlich bewertete Souppes sur Loing.

„Strukturbedingte Leere“. In Souppes sur Loing wird die Romanfigur Michel Houellebecq auf grausamste Weise ermordet.

 

Die detaillierten, teils gut beobachteten, teils in die nahe Zukunft phantasierten Ortsdarstellungen wären für einen Literaturkritiker oder -wissenschaftler vernachlässigbar, dienten sie dem Autor nicht als ein Mittel, seine Romanfiguren auf eine vergleichbare Art zu porträtieren wie auch Jed Martin in seiner „Serie einfacher Berufe“ den Bildhintergrund jeweils sehr sorgsam arrangiert. Hier wie dort ist die Umgebung Bestandteil des jeweiligen Porträts.

Polizei-Hauptkommissar Jasselin, der den Mord an Houellebecq aufzuklären hat und aus dessen Perspektive mit dem Beginn des dritten Teils erzählt wird, ist ein anderer Typ als der Maler und der Schriftsteller. Er wohnt nicht weit von Jed entfernt, etwas näher an der Seine, im 5. Arrondissement, scheint aber in einer völlig anderen Welt zu verkehren. Sonntagsmorgens begleitet er seine Frau gern beim Einkauf über die Marktstraße Rue Mouffetard mit dem Platz vor der Saint-Médard-Kirche, eine Ecke, die ihn jedes Mal bezaubert. Manchmal schlendert er auf dem Weg zur Pariser Kriminaldirektion am Quai des Orfèvres den Fluss entlang und teilt vom Pont de l’Archevêché mit Paristouristen einen Blick auf Notre-Dame. Er wählt kein Restaurant zwischen zweckdienlichen Betonkästen, sondern eines an der Place Dauphine, einem Platz an der Spitze der Île de la Cité, auf dem Boule gespielt wird. Und doch gibt es, etwa in ihren handwerklichen Methoden, auch Gemeinsamkeiten zwischen dem Schriftsteller und dem Polizisten.

Hauptkommissar Jasselin liebt es, am Sonntagmorgen seine Frau beim Einkaufen in der Rue Mouffetard zu begleiten.

 

Die Entdeckung der Provinz

Karte und Gebiet breitet verschiedene Facetten von Paris und seiner Vororte aus. Die Besonderheit des alternden (pardon, er stellt sich selbst so dar) Houellebecq aber ist die Entdeckung der Provinz.

Die Romanhandlung – und auch Jed Martins Leben – endet in einem Gebiet, das als Karte schon früh Jeds künstlerische Laufbahn bestimmt hat. Als er damals mit seinem Vater zur Beerdigung der Großmutter ins Limousin fuhr, machte er an einer Raststätte auf der A 20 „eine große ästhetische Erfahrung“, die ihn beim Auseinanderfalten der Michelin-Département-Karte 325 zittern ließ. „Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen.“

Einen von ihm fotografierten und mit technischen Mitteln veränderten Ausschnitt dieser Karte der Départements Creuse und Haute-Vienne präsentiert er als einziges vergrößertes Foto in einer von der Ricard-Stiftung gesponserten Sammelausstellung und beeindruckt damit unter anderem die schöne Olga, mit der ihn zeitweise eine Liebschaft verbindet und die als PR-Frau bei Michelin seine weitere künstlerische Karriere begleitet. Genauer gesagt, sie liebt ihn, während er nur für seine Kunst lebt.

Das Haus seiner Großmutter und die vom reich gewordenen Jed Martin aufgekauften angrenzenden Grundstücke dienen ihm in den letzten dreißig Jahren seines Lebens als Rückzugsort und als Material seiner späten künstlerischen Großprojekte.

Auch dieses Gebiet grenzt der Autor scheinbar überaus präzise ein: Das vordere Tor des 700 Hektar großen Geländes liegt an der D50; nur drei Kilometer sind es bis zur Auffahrt auf die A20 nach Limoges; in seinem rückwärtigen Teil geht das Grundstück in den Wald von Grandmont über. Das ist sowohl auf der Karte als auch im Gelände nachvollziehbar. Zugleich lokalisiert Houellebecq das Dorf Châtelus-le-Marcheix unmittelbar hinter der Rückfront des umzäunten Gebiets. Wo es aber in Wirklichkeit nicht liegt, sondern Luftlinie mindestens fünfzehn, über die kurvenreichen Straßen aber rund dreißig Kilometer weiter östlich. Eine Ungenauigkeit des sonst in allem so präzisen Autors? Oder aber Houellebecq möchte uns zeigen, dass die imaginären, künstlerisch geformten Landkarten der Literatur etwas noch anderes sind als die maßstabgetreue Umsetzung von Karte und Gebiet.

Denn auch Jed fotografierte nicht einfach nur die Michelin-Karten ab. „Er hatte eine stark geneigte optische Achse gewählt, einen Winkel von dreißig Grad zur Horizontalen, und die Filmstandarte für größtmögliche Tiefenschärfe maximal gekippt. Anschließend hatte er mit Hilfe von Photoshop-Filtern eine Entfernungsunschärfe und einen bläulichen Effekt am Horizont erzielt.“

Obwohl Houellebecq die Instrumente des Künstlers mit einem ähnlichen „enzyklopädischen Ehrgeiz“ beschreibt, mit dem Jed zu Beginn seiner Laufbahn „Gegenständen menschlicher Fertigung im industriellen Zeitalter“ fotografierte, klingen die Resultate der Kunst nie rein technisch und manchmal geradezu poetisch. Auf dem Foto führen gewundene Straßen „durch die Wälder, die wie eine unantastbare, feenhafte Traumlandschaft wirkten.“

Gehen wir davon aus, dass auch der Autor bei allem augenscheinlichen Realismus einen Unschärfefilter über gewisse Entfernungsangaben legt, ebenso wie er umgekehrt manche Details oder entfernt Gelegenes besonders scharf einstellt. Die „Creuse“ des Romans ist gewissermaßen die Anwendung der Scheimpflugschen Regel auf die Literatur. Auch in der zeitlichen Ausdehnung.

Der Maler Jed Martin kauft zwischen der D50 und Grandmont ein 700 ha großes Waldgebiet.

 

Selbst gewählte Isolation eines Sonderlings

Das verschlafene Châtelus-le-Marcheix wird im Roman zu einem Stückchen Science Fiction. Als Jed nach einem Jahrzehnt selbst gewählter Isolation das Dorf am Hinterausgang seines Grundstücks wieder betritt, findet er ein völlig verwandeltes Ambiente vor. Gleich drei Internet-Cafés auf hundert Metern, auf denen zuvor technologische und gastronomische Ödnis waltete. Die der Belle Époque nachempfundenen Bistro-Tischchen haben schmiedeeiserne Füße, und neben ihnen stehen Jugendstillampen, ihre Edelholzplatten sind aber allesamt mit Dockingstationen für Laptops, 21-Zoll-Bildschirmen und Steckdosen nach europäischer und amerikanischer Norm ausgerüstet. Die in Traditionen verwurzelte Landbevölkerung hat einer unternehmerischen, urbanen und weltoffenen Generation mit „bisweilen auch gemäßigten ökologischen Überzeugungen, die sich mitunter vermarkten ließen,“ Platz gemacht.

Châtelus-le-Marcheix – auf hundert Metern drei Internet-Cafés

Zu den letzten im Roman erzählten Ereignissen gehört der Tod von Frédéric Beigbeder, den Houellebecq im Alter von einundsiebzig sterben lässt. So kann man errechnen, dass sich die Handlung inzwischen im Jahr 2036 bewegt. Was Jed dreißig Jahre lang gemacht hat, erzählt er kurz vor seinem Tod einer eher unerfahrenen Journalistin der Art Press (zum Ärger des Kollegen von Le Monde). Er hat mit Video-Aufnahmen Verfallsprozesse dokumentiert. Jedoch nicht in automatisierter Zeitraffer-Einstellung. Vielmehr montiert er sorgsam ausgesuchte Einzelaufnahmen und überlagert sie in Mehrfachbelichtung mit anderen. Sein riesiges Grundstück lässt er verwildern, fährt jedoch fast täglich die einzige Straße entlang und – in der Absicht, „die pflanzliche Sichtweise der Welt wiederzugeben“ – nimmt er auf, wie die Vegetation jedes Menschenwerk überdeckt. Fotos der wenigen Personen, die zeitweise sein Leben begleitet haben, setzt er auf einer metallgerahmten Leinwand dem Sonnenlicht und der Witterung aus und filmt ihre Zersetzung. In Landschaften aus Tastaturen, Hauptplatinen und anderen elektronischen Bauteilen kopiert er kleine Spielzeugfiguren und hilft dem Verfall des Plastiks nach, indem er es mit verdünnter Schwefelsäure übergießt. Das Nachsinnen über das Ende des industriellen Zeitalters in Europa, heißt es gegen Ende des Romans, könne jedoch nicht das Unbehagen oder das Gefühl der Verzweiflung erklären, „das uns beim Betrachten dieser kleinen, ergreifenden Playmobilfiguren befällt, die sich inmitten einer riesigen futuristischen Stadt verlieren, einer Stadt, die ihrerseits zerfällt, sich auflöst und nach und nach in der pflanzlichen, sich bis ins Endlose hinziehenden Weite unterzugehen scheint.“

Das Ruhrgebiet als Quelle der Inspiration

Vor dem Beginn des rund dreißigjährigen Rückzugs und gewissermaßen als Quelle der Inspiration stand eine Reise ins Ruhrgebiet. „Von Duisburg bis Dortmund und von Bochum bis Gelsenkirchen waren die meisten ehemaligen Stahlwerke in Freizeitzentren verwandelt worden, in denen Ausstellungen, Theatervorführungen und Konzerte veranstaltet wurden.“ Unter anderem auch eine große Jed-Martin-Retrospektive. Aber nicht bei allen Anlagen ist es gelungen, sie in das Konzept eines industriellen Tourismus einzubeziehen. „Diese industriellen Kolosse, in denen sich früher der Großteil der deutschen Produktionskapazität konzentriert hatte, waren inzwischen verrostet oder halb eingestürzt, Pflanzen nahmen von den ehemaligen Werkstätten Besitz, überwucherten die Ruinen und verwandelten das Ganze nach und nach in einen undurchdringlichen Dschungel.“

Houellebecqs Prognosen über Frankreichs Zukunft

Als Jed nach jahrzehntelangem Rückzug in die Welt zurückkehrt, stellt er sich als Künstler die Frage, welches Bild aus seiner „Serie einfacher Berufe“ noch Gültigkeit haben mag. Der Beruf der Fernwartungstechnikerin existiert in Frankreich nicht mehr, diese Stellen wurden von Kolleginnen in Brasilien und Indonesien übernommen. Sein Porträt „Aimée, Escort Girl“ jedoch ist nach wie vor aktuell.

In den letzten Jahren waren wirtschaftliche Krisen fast unablässig aufeinander gefolgt. „Diese Krisen waren immer heftiger und derart unvorhersehbar geworden, dass es geradezu burlesk war – zumindest vom Standpunkt eines spöttischen Gottes, der sich wahrscheinlich hemmungslos über die finanziellen Zuckungen lustig gemacht hätte, die quasi über Nacht ganze Erdteile von der Größe Indonesiens, Russlands oder Brasiliens mit Reichtum überhäuften, ehe diese ebenso plötzlich von Hungersnöten heimgesucht wurden, was jeweils Bevölkerungen von Hunderten Millionen Menschen betraf.“

Frankreich hat alle globalen Höhenflüge und Tiefschläge fast unbeschadet überstanden. Seine Krisenfestigkeit verdankt es nicht den französischen Autos, nicht dem Airbus, nicht den Waffenexporten, sondern seinem nicht totzukriegenden Image, das Land der Lebenskunst zu sein. Es vermarktet einfach das Savoir-vivre mit Wein, Käseherstellung, „Romantikhotels“ und Parfüm. Wo immer sich das Kapital gerade befindet, in China, Russland, Dubai, Indonesien oder Brasilien – die Touristen kommen aus aller Welt und suchen die französischen Dörfer auf. Und erstmals seit dem frühen 19. Jahrhundert blüht in Frankreich auch wieder Sextourismus auf – ein Thema, zu welchem Houellebecq seine Expertise zuvor unter Beweis gestellt hat (Plattform, 2001).

Houellebecq prognostiziert für Frankreich einen Anstieg des Sextourismus.

Die meisten Franzosen aber können sich in naher Zukunft einen Urlaub in ihrem Heimatland nicht mehr leisten – was sich nach der Darstellung der Michelin-Insiderin Olga Sheremoyova bereits ab etwa 2010 abzeichnete. Also: Hin! Bevor Frankreichs gute Art zu leben für uns krisengeplagte Industrieländer unbezahlbar geworden sein wird.

Houellebecq, der in Karte und Gebiet mehrfach als „der Autor der Elementarteilchen“ auftaucht, könnte vielleicht mit mindestens gleicher Berechtigung als „Autor von Karte und Gebiet“ in die Literaturgeschichte eingehen. Wenn dabei solche Bücher entstehen, dürfen wir im eigenen Interesse dem Autor weiterhin ein beschissenes Leben wünschen.

Aktuell:

Der Autor und Theaterregisseur Falk Richter hat den 2010 in Frankreich und 2011 in der deutschen Übersetzung von Uli Wittmann erschienenen Roman Karte und Gebiet für die Bühne bearbeitet und führt in seiner sehr gelungenen Theaterfassung selbst Regie. Im Düsseldorfer Schauspielhaus (Kleines Haus) finden die nächsten Aufführungen am 30. September und am 6. Oktober 2012 statt.

Düsseldorfer Schauspielhaus:
Karte und Gebiet. Nach dem Roman von Michel Houellebecq. Aus dem Französischen von Uli Wittmann / Für die Bühne bearbeitet von Falk Richter. Repertoire, Deutschsprachige Erstaufführung, Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten – 1 Pause.
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf; Karten: Telefon 0211.36 99 11; Fax 0211.85 23 439, karten@duesseldorfer-schauspielhaus.de

Roman:
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont Buchverlag, Köln. 416 Seiten.
Gebundene Ausgabe, 2011: ISBN-13: 9783832196394, 22,99 Euro,
Broschierte Ausgabe, 2012, DuMont Taschenbücher Nr.6186: ISBN-13: 9783832161866, 9,99 Euro.




Im Oktober gibt es wieder Mozarts „Don Giovanni“ in Hagen

Bald ist die Sommerpause nicht nur in der 1. Fußball-Bundesliga, sondern auch in den Stadt- und sonstigen Theatern vorbei. Aus Hagen liegt bereits das Programm für September vor. Mit „Cabaret“ geht es gleich am 1.9. los. Hier soll es nun einen kurzen Vorgeschmack über die weiteren Aufführungen geben.

Mit "Cabaret" geht es im Theater Hagen wieder los . (Foto Stadt Hagen)

Eigentlich beginnt die Hagener Saison ja schon am 25. August, aber nicht im Haus selbst, sondern davor: Bei Beginn der Dämmerung zeigt das Haus bei freiem Eintritt auf dem „FilmSchauPlatz“  den Streifen „Moulin Rouge“ mit Nicole Kidman und Ewan McGregor.

„Cabaret“ wird dann ab 1. September an vier Tagen aufeinander gegeben, es folgt am 8. September die Premiere des Kinder-Musicals „Zorro jagt den Carmen-Schatz“.. Danach am Abend und am Folgeabend wieder  „Cabaret“, am 11. und 12. Zorro,  abends „Cabaret“, am 16. September morgens das 1. Kammerkonzert, am 25 das 1. Sinfoniekonzert und dazwischen immer wieder „Cabaret“. Die zweite Premiere ist wieder ein Kinderstück: „Nur ein Tag“ am 30. September.

Man sieht, dass man wenig sieht im ersten Monat, zumindest wenig Unterschiedliches. Freuen kann man sich aber auf den 7. Oktober: Da wird der sehr positiv besprochene „Don Giovanni“ von Mozart wieder aufgenommen, und ab 25. Oktober tritt Guildo Horn wieder in „The Rocky Horro Picture Show“ auf.




Der Handlungsreisende versus König Fußball – in Recklinghausen gewannen beide

Leerer als sonst war es an diesem Abend im Festspielhaus Recklinghausen. Es war der Abend des Länderspiel-Klassikers Deutschland gegen die Niederlande. Ungewöhnlich viele, die noch eine Karte verkaufen wollten, harren draußen aus. Drinnen dann geht es um das, was auch – seien wir ehrlich – den Fußball unserer Tage bestimmt: Geld, Ansehen, Popularität.

Das St.Pauli Theater Hamburg, Stammgast bei den Ruhrfestspielen, zeigte in der Schlusswoche der Ruhrfestspiele Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ in der Inszenierung von Wilfried Minks.

Im Mittelpunkt steht Willy Loman, der mit Mitte 60 ein müder und demoralisierter Handelsvertreter ist und seine besten Zeiten hinter sich hat. Seine Abschlüsse erreichen nicht die Zielvorgaben, seine Ausgaben übersteigen seine Einnahmen, die Existenzen seiner zwei erwachsenen Söhne sind schlicht gescheitert. Seine Säule ist seine ebenso tapfere wie leichtgläubige Frau Linda. Doch diese betrügt er genau wie sich selbst. Der Wahrheit blickt er nur selten ins Auge, schon den kleinsten Erfolg bläht er auf zum sagenhaften Fortschritt. Seine halbherzigen Hilferufe verhallen ungehört. Linda und die Söhne erkennen durchaus, wie schlecht es ihm geht, doch sind sie zu nicht mehr als schalen Durchhalteparolen fähig.

Belegt mit dem Fluch des Vertrieblers flüchtet Loman sich in falschen Stolz. Nicht um’s Überleben geht es ihm, sondern um die Sicherung seines Ansehens. Loman rettet sich mal in eine verklärte Vergangenheit, mal in Träume von einer glanzvollen Zukunft, die seine Söhne richten sollen. Doch diese richten gar nichts, eher werden sie gerichtet. Zugrunde gerichtet durch Willy Lomans Träume und übersteigerte Erwartungen.

Der als genialer Bühnenbildner Peter Zadeks bekannt gewordene Wilfried Minks inszenierte den „Handlungsreisenden“ mit sparsamen Mitteln werkgetreu und erlag nicht der Versuchung, das Stück in die Jetztzeit zu übertragen. Gerade deshalb entfaltet es durch die unwillkürlich beim Zuschauer aufkommenden Fragen eine bestechenden Sog. Hat sich etwas geändert? Ist es nicht gar noch immer schlimmer geworden? Sind wir nicht alle ein bißchen Loman?

Arthur Millers Intention war es nicht, die Realität zu spiegeln, sondern tief in die Psyche seiner Schlüsselfiguren einzudringen. Wie lebt man weiter, wenn man die Vergeblichkeit eines lebenslangen Tuns erkannt hat? Bei Miller ist die Antwort der Tod und so legen auch Minks‘ Darsteller ihr Spiel an. Burghart Klaußner zeigt Willy Loman eindringlich in seiner Zerrissenheit, sein Loman steuert vom ersten Moment an auf den Abgrund zu. Deutlich zeigt er, selbstübersteigernde Reden schwingend, den verzweifelten Versuch, das Abrutschen zu verhindern. Klaußners Loman glaubt schon lange nicht mehr, was er lügt. Er erwartet allerdings durchaus, dass andere ihm glauben. Nicht um sein Selbstbild geht es ihm, sondern um sein Spiegelbild in den Augen anderer. Wichtig ist nicht, was man kann. Wichtig ist, wie man auf andere wirkt.

Auch Margarita Broich in der Rolle der Linda Loman zeigt eine starke Leistung. Überzeugend gibt sie die Frau, auf der das Schicksal der Familie lastet, die Frau, die im Zweifelsfall ihren Willy über alles stellt, auch über ihre Söhne. Klaglos stopft sie ihre Strümpfe, während ihr Mann seiner halbseidenen Geliebten vollseidene Strümpfe kauft.

Das übrige Ensemble passt sich den beiden herausragenden Hauptdarstellern mutig an und versucht ebenfalls, sein Spiel aus der Psyche ihrer Figuren heraus zu erklären. Nicht allen gelingt dieses Tun und so wirkt das Stück manchmal holprig und desorientiert, wenn mehrere Ensemble Mitglieder auf der Bühne stehen und nicht recht zu wissen scheinen, wie sie eine Interaktion untereinander stimmig anlegen sollen. Tiefpunkt des Abends ist die Szene, in der die Söhne mit einem Marilyn-Monroe-Verschnitt anbändeln, einer Blondine im schlecht sitzenden weißen Plissee-Kleid, welches zu allem Überfluss auch noch klischeehaft hochgewirbelt wird. Dieser Gag im einem Stück des Monroe-Liebhabers Arthur Miller wirkt billig und bewirkt auch nicht mehr als ein paar vereinzelte Lacher. Das hätte man sich sehr gut sparen können.

Dennoch gelingt es dem St.Pauli Theater, die universelle und Zeiten überdauernde Gültigkeit von Millers systemkritischem Stück zu vermitteln. Der Handlungsreisende, der ewige Opportunist zerbricht, weil er sich der Demokratie des Anpassens unterordnet. Loman verabschiedet sich selbst aus diesem Leben, die Familie kassiert die Versicherungsprämie. Linda wundert sich, aber die fälligen Rechnungen bezahlt sie dennoch und kommt zum Schlußsatz „Wir sind frei“. Er klingt eher gefangen denn erleichtert.

Erleichtert sind hingegen die Zuschauer, die den Abend an der Bar des Hauses ausklingen lassen. Die letzte Viertelstunde des Fußballspiels können sie dort noch verfolgen. Deutschlands Kicker gewinnen.

Die Ruhrfestspiele befinden sich auf der Zielgeraden. Am morgigen Samstag, den 16. Juni, gibt es auf dem Recklinghäuser Hügel das große Open-Air Abschlusskonzert, bereits zum zweiten Mal mit BAP.




Ich bin dann mal weg: Heiner Goebbels‘ „Ästhetik der Abwesenheit“

Prof. Heiner Goebbels © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale

Prof. Heiner Goebbels © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale

Der Intendant als sein eigener Theoretiker: Im Gegensatz zu den meisten Künstlern, die die Deutung ihrer Werke gerne mit dem Hinweis verweigern, das Geschaffene solle für sich sprechen, liefert Heiner Goebbels die Dramentheorie zu seinen Musiktheaterinszenierungen gleich mit.

Mehr noch: Die ästhetische Theorie entwickelt sich scheinbar organisch aus seinen Kompositionen und aus der Art, wie er glaubt, sie in Szene setzen zu müssen. Das ist ebenso originell wie überzeugend. Doch Heiner Goebbels ist eben nicht nur Komponist, neuer Intendant der Ruhrtriennale und Musiktheaterregisseur, sondern auch Professor für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Seit 2009 ist er außerdem Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Düsseldorf, wo er kürzlich in einem Vortrag seine „Ästhetik der Abwesenheit“ erläuterte.

Mal ehrlich: Wer stört bei einem Konzert am meisten? Tut eigentlich nichts und verstellt nur den Blick auf die Musiker? Genau: der Dirigent. So sieht man denn auch in der Aufführung „Eislermaterial“ mit dem Ensemble Modern (die am 13. Oktober nochmals in der Philharmonie Köln zu erleben ist) die Musiker im Karree um einen leeren Raum herumsitzen, in dem auf den zweiten Blick eine winzige Tonfigur auf einem Podest den Stab in die Höhe reckt – die Karikatur eines Dirigenten. Für Goebbels ist der Dirigent nicht nur verzichtbar, sondern er maßt sich sogar eine Führungsposition an, die Publikum und Musiker in ein bestimmtes Rezeptionsverhalten hineinzwängt und so die freie künstlerische Erfahrung verhindert.

Ausgeweitet auf das Drama bzw. die Oper bedeutet dieser Ansatz einen Verzicht auf Sänger bzw. Schauspieler, eigentlich auf alle, die durch ihre Präsenz auf der Bühne den Fokus des Publikums auf ihre Figur richten. Was radikal anmutet, ist tatsächlich Ergebnis einer ästhetischen Entwicklung, die Goebbels mithilfe von Videoeinspielungen erklärt. In „Eraritjaritjaka“ (2004) geht der Schauspieler nach einem langen Monolog von der Bühne und fährt, von der Videokamera begleitet, mit dem Auto nach Hause. Dort liest er Briefe, macht die Wäsche und brät sich ein Spiegelei währenddessen er Texte von Canetti rezitiert. Die Zuschauer erleben das auf der Leinwand mit und gerade durch die Abwesenheit entstehe eine ungeheure Spannung: Kommt der Schauspieler noch einmal wieder? Sollen wir auf ihn warten oder auch nach Hause gehen und uns selbst vielleicht ein Ei braten? Haben wir Hunger oder möchten wir lieber Musik hören?

In „Stifters Dinge“ von 2007, die bei der Ruhrtriennale wieder zu sehen sein werden, vollendet sich die „Ästhetik der Abwesenheit“ in einer Art fremdartiger Anwesenheit von klingender Materie. Ein Versuch, so Goebbels, komplett auf Darsteller zu verzichten und nur die Dinge sprechen zu lassen, die sich auf der Bühne befinden: Wasser, Eis, vom Wind bewegte Vorhänge, Licht. Dazu hört der Zuschauer eingespielte Aufnahmen von menschlichen Stimmen in fremden Sprachen. Kann das gelingen, kann man so das Publikum fesseln und eine ästhetische Erfahrung jenseits der üblichen Sehgewohnheiten ermöglichen? Für Heiner Goebbels ist das Experiment gelungen, die Abwesenheit mündet nicht in der Leere, sondern dialektisch gesprochen in der Anwesenheit von etwas ganz anderem, bisher noch nicht in den Blick geratenem, dem Fremden. Etwas, das sich Freiheit der Kunst nennt? Oder wie eine Zuschauerin es ausdrückte: „Endlich steht niemand mehr auf der Bühne, der mir sagt, was ich denken soll.“

Ende Juli erscheint Heiner Goebbels „Ästhetik der Abwesenheit – Texte zum Theater“ als Buch im Verlag Theater der Zeit.

 




Die Ästhetik des Widerstands – Peter Weiss‘ Jahrhundertroman auf der Bühne

Immer häufiger bereichern Roman-Bearbeitungen die Spielpläne der Theater, auch die dicksten Wälzer finden ihren Weg auf die Bühnen. Denn freilich: Der Stoff lässt sich schon verdichten, wenn es nur gelingt, mit den Mitteln des Theaters eine eigene, vielleicht gar neue Sicht aufs Werk zu bekommen. Regisseur Thomas Krupa und Dramaturg Tilman Neuffer formulieren noch einen anderen Anspruch: Sie wollen Peter Weiss’ in den 1980er Jahren viel diskutiertes Hauptwerk „Die Ästhetik des Widerstands“, den „deutschen Ulysses“, erst einmal schlicht vor dem Vergessen bewahren. Denn, so die These: Das dreibändige Werk, das die Strömungen, Entwicklungen und Widersprüche des antifaschistischen Widerstands am Vorabend des Zweiten Weltkriegs reflektiert, hat uns noch etwas zu sagen. Die dreieinhalbstündige Uraufführung im Essener Grillo-Theater hinterließ ein nachdenkliches Publikum.

Im Roman wie im Stück führt ein junger Arbeiter als Erzähler durch die Erfahrungen und Gedankenwelt der Widerstandskämpfer; Stationen seiner Reise sind Berlin, Spanien, Paris und das schwedische Exil. Nicht nur der Umfang des Werkes erschwert eine Dramatisierung: Der Erzähler ist kein klassischer Held, er bekommt nicht einmal einen Namen und kaum eine Geschichte. Die Entwicklung fokussiert mehr auf die Zeitgeschichte denn auf einzelne Figuren. Charakteristisch für den Roman sind außerdem lange, essayistische Kunstbetrachtungen – Peter Weiss ließ seine Figuren große Hoffnung in die Wirkung der Kunst setzen und Kraft aus ihr schöpfen. Die Besprechung von Werken wie Picassos „Guernica“ oder Géricaults „Das Floß der Medusa“ nehmen im Roman viel Raum ein.

Gleich zu Beginn steht eine Schilderung des Pergamonaltars – im Roman ebenso wie im Stück. Auf der mit weißem Plastik verkleideten, wie ein Gefängnis-Innenhof anmutenden Bühne verrenken sich die Museumsbesucher, um den Altar zu betrachten; später diskutiert der Erzähler mit seinen kommunistischen Freunden. „Wir müssen solche Werke wie den Pergamonaltar immer wieder neu auslegen, bis wir eine Umkehrung gewinnen“, resümiert Heilmann (Jannik Nowak). Ein Schlüsselsatz, in dem sich auch der Wunsch des Autorenteams verbirgt: So wie die uralte, in Stein gemeißelte Darstellung des Götter-Sieges über die Giganten die Berliner Kommunisten inspirierte, so möge sich das Essener Publikum von der „Ästhetik des Widerstands“ gefangen nehmen lassen und herausholen, was es für brauchbar hält.

Doch das ist ein schwieriges Unterfangen. Auch nach dem vermutlich gigantischem Kraftakt des Kürzens und Verdichtens wird aus der Vorlage kein fesselndes Bühnenstück, dazu fehlen schlicht Spannungsbogen und Identifikationsfiguren. Krupa, Neuffer und das Bühnen-, Kostüm- und Videoteam (Jana Findeklee, Joki Tewes, Andreas Jander) haben gleichwohl einige starke, eindringliche Bilder geschaffen – etwa, wenn des Erzählers Mutter langsam zuschneit, während sie unbewegt von einem Alptraum berichtet, in dem sie traumatischen Erfahrungen auf der Flucht verarbeitet (bleibt in Erinnerung: Melanie Lünighöner). Oder wenn die Spannungen zwischen Arbeitern und Intellektuellen sichtbar werden, indem sich die Widerstandskämpfer bürgerlicher Herkunft unters Publikum mischen. In Tempo und Dynamik gibt es wohltuende Wechsel.

Dennoch: Es dominiert die Rede, nicht die Handlung oder Aktion; es gibt mehr zu hören als zu sehen; es gibt viel zu denken und wenig zu fühlen. Elf Darsteller spielen 22 Personen – eine enorme Herausforderung nicht nur für das Ensemble, sondern auch für den Geist der Zuschauer. Nicht umsonst beschreibt das Programmheft unter der Überschrift „Erste Hilfe“ in ungewohnter Direktheit und Ausführlichkeit Inhalt, Regieansatz, Personen und Schlüsselbegriffe. Wer unvorbereitet in das Stück ginge, zöge kaum Gewinn daraus.

Die Produktion leistet Großartiges, indem sie das Werk überhaupt neu zugänglich macht – wenn auch in der Art eines lebendigen Geschichtsbuchs. Peter Weiss erzählte in seinem Roman die Geschichte des Scheiterns und setzte den gescheiterten, teils ermordeten Widerstandskämpfern ein Denkmal. Das und nicht mehr gelingt der Bühnenfassung auch.

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Winterreise im Mai – Katja Riemann und Arne Jansen bei den Ruhrfestspielen

Das Thermometer in Recklinghausen zeigte gut 25 Grad, auf dem Festspielhügel herrschte gepflegte Festival-Atmosphäre. Die Gastronomie gut besucht, das Publikum eigentlich sommerlich heiter gestimmt. Auf dem Programm aber steht eine Winterreise, im Festspielhaus rieseln die Schneeflocken.

Mit einer Schneekugel beginnt die Uraufführung von „Winter – ein Roadmovie“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Die Schneekugel – das unscharfe Symbol einer verkitschten, heilen Welt. Im Laufe der Jahre geliebt, verpönt, belächelt, derzeit Kult. Auf einer großen Leinwand sind sowohl Heinrich Heine als auch Franz Schubert in solch einer Kugel zu sehen. Die künstlichen Flocken rieseln zu den Klängen der Black Eyed Peas.

Erst dann beginnt die eigentliche Reise, auf die Schauspielerin und Sängerin Katja Riemann und der virtuose Jazz-Gitarrist Arne Jansen das Publikum in diesem Jahr mitnehmen. In ihrem Roadmovie verbinden sie den Liederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert mit Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“. Wie derWesten berichtet, ist die Idee zu diesem ambitionierten Projekt im letzten Jahr beim Brunch im Festspielhaus entstanden. 2011 waren Katja Riemann und Arne Jansen erstmals gemeinsam mit einem Projekt auf der Bühne. „Doitschlandlied“ war der Titel ihrer ersten gemeinsamen Konzeption, die so großen Anklang fand, dass die Frage nach einer Fortführung der erfolgreichenen Zusammenarbeit einfach im Raume stand.

„Winter – ein Roadmovie“ ist anders als das „Doitschlandlied“. Es ist elegischer, melancholischer, leiser. Das Thema Deutschland bleibt, weitet sich aber auf Europa aus. Die Werke Heines als auch Schuberts spiegeln nicht nur deutsche Geschichte wider, sie zeigen auch eine früh entstandene Sehnsucht nach einem geeinten Europa. In Zeiten der Eurokrise sind beide Werke aktueller denn je. Riemann und Jansen zeigen dies akzentuiert und punktgenau. Bearbeitet haben die beiden ihr Roadmovie mit akribischer Sorgfalt, spürbarer Hingabe, aber auch mit Respekt und Demut für die zugrunde liegenden Werke. Und so ist auch die diesjährige konzertante Vorlesung des Duos trotz des frostigen Themas mitten im Sommer wieder ein Erfolg.

Arne Jansen ist ein Ausnahme-Gitarrist. Selbst wenn er sich zurücknimmt wie an diesem Abend, sein großes Talent trägt die konzertante Begleitung und begeistert durchgehend. Die Riemann zeigt sich vielseitig. Dass sie eine gute Sängerin ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen – bei dieser Aufführung traut sie sich auch an instrumentale Ergänzung mit Blockflöte und Melodica. Die Texte fordern ihr ganzes schauspielerisches und gesangliches Können, sie ist eine Schauspielerin, die noch Mut zum Drama und zum Deklamieren hat. Souverän steht sie diese sicher anstrengende Reise durch, schafft es dabei nonchalant, das Publikum einzubeziehen und mit diesem in einen angenehm unaufgeregten Dialog zu treten. Unaufdringlich unterstützend wirken kleine Film-Einspieler auf der Leinwand, jeder für sich ein kleines Kunstwerk.

Die Ruhrfestspiele dümpeln in diesem Jahr zwar gewohnt erfolgreich, aber auch unspektalulär vor sich hin. Wie schon im letzten Jahr sind es die Aufführungen im kleinen Haus, die Mut und Kreativität zeigen, so wie jetzt die Winterreise im Mai. Intendant Frank Hoffmann verbindet die Ruhrfestspiele gerne mit dem Anspruch, sie seien ein Ort der Kreativität, deren dort uraufgeführte Werke von Recklinghausen aus einen erfolgreichen Weg durch die Theater und Bühnen der Republik finden. Zumindest „Winter- Ein Roadmovie“ dürfte diesen Anspruch erfüllen.

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen zeigen noch bis zum 16. Juni ein breitgefächertes Programm.




„Das Leben der Bohème“ in Bochum – Freundschaft in Zeiten der Krise

Logo des Bochumer Schauspielhauses

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Das kann nur das Theater: Eine Duschkabine wird zum Hauseingang und dann zur Pariser Metro, aus einem Schauspieler werden fünf Charaktere, aus dem Lachen der Zuschauer wird Nachdenklichkeit und Staunen. Melancholisch, witzig, phantastisch, chaotisch, dramatisch, traurig, all das ist „Das Leben der Bohème“. Das Stück feierte Premiere im „Theater Unten“ des Bochumer Schauspiels.

Ein bemerkenswertes Werk: Die junge Regisseurin Barbara Hauck inszenierte es nach einem 20 Jahre alten Film des Finnen Aki Kaurismäki, der in jedem seiner Filme lakonisch vom großen Scheitern der kleinen Leute erzählt. Kaurismäkis „Leben der Bohème“ bezieht sich mehr auf die Romanvorlage von Henri Murger als auf die Oper „La Bohème“. Erst durch Pucchini jedoch wurden die Szenen des Künstlerlebens und der Lebenskunst im Paris des 19. Jahrhunderts bekannt – und kleben seitdem als Klischees in den Köpfen.

In Bochum kommt eine schräge Mischung aus Pucchini/Murger und Kaurismäki auf die Bühne: Klischees ja, aber gern ironisch gebrochen. Die Künstler-WG ist weniger eine romantisch-ärmliche Mansardenwohnung denn veritable Messi-Bude, statt am Klavier klimpert der Komponist auf einem Papier-Instrument.

Was Barbara Hauck eigentlich inszeniert, ist neben dem prekären Künstlerleben der große Wert der Freundschaft. In Zeiten der Not – und in einer solchen befinden sich die ebenso engagierten wie erfolglosen Künstler – lebt und leidet es sich doch besser im Kollektiv. Wer hat, der gibt aus; ansonsten schmeißen die Besitzlosen zusammen. Maler Rodolfo, Schriftsteller Marcel Marx und Komponist Schaunard feiern und frieren, saufen und träumen miteinander. Die Liebesgeschichte zwischen Rodolfo und der schließlich sterbenden Mimi nimmt zwar einen großen Teil der Handlung ein, doch das Schlüsselwort auch dieser Liebesgeschichte lautet letztlich Treue – in guten wie in schlechten Zeiten.

Die Figuren sind herrlich angelegt, die Schauspieler herrlich anzusehen: Manfred Böll als charmant-unverschämter Schriftsteller, der sein Jahrhundert-Drama in 21 Teilen am Ende in einer Modezeitschrift abdruckt. Daniel Stock als krankhaft schüchterner, ebenso liebenswerter wie liebeskranker Maler Rodolfo. Roland Riebling, der es als Schaunard versteht, den Leuten das Geld aus der Tasche zu quatschen: „Es ist zwar etwas teurer im Restaurant, aber wir holen das Geld ja wieder rein, indem wir Zeit zum Kochen sparen.“ Katharina Bach, die als gar nicht so naive Mimi die Wahl hat – und sich aus vollem Herzen für die Liebe und die Armut entscheidet. Und Klaus Weiss, der teils im Minutentakt in neue Nebenrollen schlüpft. Mal wird dialogisch gespielt, mal wird die Handlung zeitraffend von einem der Protagonisten erzählt. Am Ende verzichtet die Inszenierung auf ein versöhnliches Abschlussbild: Mimi ist tot, Rodolfo weist seine Freunde zurück: Er will allein bleiben. Ein nicht ganz runder Abschluss eines gelungenen Abends.

(Der Artikel erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Zuerst die Musik, dann die Worte – das neue Programm der Ruhrtriennale

Heiner Goebbels, neuer Intendant der Ruhrtriennale. Foto: Triennale

Wenn der Intendant eines internationalen Festivals von Haus aus Komponist ist, kann es kaum verwundern, dass die Musik eine Hauptrolle im Programm spielt. Wie bei der Ruhrtriennale, deren Leitung Heiner Goebbels für die nächsten drei Jahre übernommen hat. Die Vorstellung seiner ersten Spielzeit hat nun beredtes Zeugnis davon gegeben. Oper, Konzert und Tanz stehen im Mittelpunkt. Und selbst die Theaterproduktionen entbehren kaum des Tönenden.

Goebbels ist im Ruhrgebiet kein Unbekannter, vielmehr – indirekt zumindest – ein Pionier all dessen, was sich die Triennale auf die Fahnen geschrieben hat. Denn seine Musik wurde von den Bochumer Symphonikern schon in der Jahrhunderthalle, also einer einst industriell genutzten Spielstätte, aufgeführt, als noch niemand an ein Festival mit ungewöhnlichen Aufführungsorten und Programmen jenseits des Mainstreams dachte.

Inzwischen hat sich die Triennale etabliert, wechselt alle drei Jahre der Intendant, und mit ihm ändern sich die Schwerpunkte. Goebbels sagt: „Uns geht es um die radikale Erneuerung des Musiktheaters. Dem Publikum wird Unerhörtes geboten, nicht das Repertoire der regionalen Bühnen. Wir wollen eine Kultur von allen für alle. Deshalb werden viele Mitwirkende aus dem Ruhrgebiet kommen.“

Begonnen wird mit einem Revolutionär unter den Komponisten, John Cage. Dessen „Europeras I/II“ sind in Goebbels Regie zu sehen. Ein musikalisches Konglomerat aus 64 Arien der europäischen Operngeschichte, geordnet nach dem Zufallsprinzip. Die Inszenierung in Bochums Jahrhunderthalle arbeitet mit 32 verschiedenen Bühnenbildern.

Carl Orffs „Prometheus“ folgt, in der Duisburger Kraftzentrale; ebenfalls ein Werk, das man auf gängigen Spielplänen vergeblich sucht. Ein „Sprach-Musik-Drama“ nennt Goebbels die Oper, deren Archaik sich schon durch die Besetzung mit einem 20köpfigen Schlagwerkensemble erschließt. Ähnlich perkussiv dürfte es auf der Halde Haniel in Bottrop zugehen – einer neuen Spielstätte –, wenn dort die japanische Gruppe Boredoms, verstärkt um Drummer aus der Region, Klangekstasen in die Nachtluft senden.

Der Blick auf den Tanz führt etwa zur Produktion „enfant“ für drei Maschinen, neun Tänzer und eine Gruppe Kinder in der Jahrhunderthalle oder zur Uraufführung der Performance „Le Sacre du Printemps“ des Choreographen Laurent Chétouane (Spielort PACT Zollverein).

Die Veranstaltungen, die unter der Rubrik Theater subsumiert sind, lassen nur selten die Musik außen vor. So ist „Life and Times – Episode 2“ eigentlich eine Musicalperformance des „Nature Theater of Oklahoma“ (PACT Zollverein). Romeo Castelluccis „Folk“ wiederum, zwischenmenschliche Formen wie Gemeinschaft, Trennung und Isolation diskutierend, arbeitet mit Bewegungsritualen und will die Grenzen zwischen Akteuren und Publikum aushebeln. Doch auch hier geht es nicht ohne Musik (von Scott Gibbons; zu sehen in der Gebläsehalle Duisburg).

Hinzu kommen klassische (Kammer)-Konzerte, Publikumsgespräche und Symposien. Das Thema „No education“ bezieht Kinder auf witzig-verspielte Art ins Programm ein. Sie werden sich alle Produktionen ansehen und am Schluss Preise vergeben – in selbst gewählten Kategorien. Tatkräftige Hilfe erhalten sie von der kanadischen Forschungsgruppe „Mammalian Diving Reflex“.

Dem Urteil der Jury dürfen wir ebenso gespannt entgegensehen wie dem Gesamtprogramm. Intendant Heiner Goebbels hat zwar auf ein übergeordnetes Thema verzichtet, doch trifft der Titel eines Opernlibrettos des 18. Jahrhunderts wohl den Kern: „Prima la Musica, poi le parole“. Zuerst die Musik also. Goebbels, darauf angesprochen, denkt nach und verweist auf den russischen Regisseurs Wsewolod Meyerhold.  Dessen Credo war: „Das Wichtigste … wofür ich kämpfe, ist die Untermauerung des Schauspiels mit einem musikalischen Fundament“.

 

Alle Einzelheiten zum Programm finden sich unter http://www.ruhrtriennale.de




Die Gespenster, die Lessing rief

Das Stück Lessings Gespenster im Schauspiel Dortmund, inszeniert vom kainkollektiv. Foto: Birgit Hupfeld

Das Stück Lessings Gespenster im Schauspiel Dortmund, inszeniert vom kainkollektiv. Foto: Birgit Hupfeld

Lessings Nathan der Weise ist ein Klassiker, gefeiert als Versöhnungsdrama der Toleranz zwischen den Weltreligionen. Die Künstlergruppe „kainkollektiv“ sperrt sich allerdings gegen diese Lesart – und sucht in „Lessings Gespenster – Eine Heimsuchung nach Nathan der Weise“ die anarchistische Seite des Aufklärers. Die Stückentwicklung feierte jetzt ihre Uraufführung im Dortmunder Schauspiel als On Stage Produktion.

Die Zuschauer stehen in langer Schlange am Hintereingang des Schauspiels, laufen durch die Katakomben des Theaters, lesen ein Schild mit den Worten „Lessings Gespenster. Rumlaufen erforderlich“, um dann mitten auf der Bühne zu landen, ohne Stühle, nur mit Raum, der erobert werden will. Alles anders als gewohnt. Ein sinnstiftender Einstieg, wenn es darum geht, einen Klassiker deutscher Literatur gegen den Strich zu bürsten oder ihm zumindest Geheimnisse zu entlocken.

Die Bühne ist zweigeteilt durch eine riesige Holzwand. Auf der einen Seite sitzt eine junge Frau (Merle Wasmuth) im barocken Kostüm in einem Glaskasten, auf der anderen liegt schlafend der fast 60köpfige Dortmunder Sprechchor in Tüllröcken (Ausstattung Oliver Helf). Ein Bär mit Deutschlandbinde umarmt die Zuschauer, drei Musiker spielen Haydn. Ein Hauch von Spannung, auch von Melancholie liegt in der Luft. Das Tor zu einem Traum, einem Zauberschloss, einer seltsam schönen Reise.

Es gibt keine Handlung, keine Geschichte, sondern nur den Sturz in Gedanken und Emotionen. Das „kainkollektiv“, bestehend aus Mirjam Schmuck, Alexander Kerlin und Fabian Lettow, verweigert sich der Eindeutigkeit. Den Weg, den der Zuschauer an diesem Abend einschlägt, muss er selbst wählen. Der Flyer immerhin verrät: Lessings Frauenfiguren stehen im Zentrum, die jung, schön und am Ende doch immer Opfer sind. So wird Merle Wasmuth mal zu Emilia Galotti, mal zu Sara Sampson und immer wieder zu Recha, der Tochter von Nathan, die am Ende, wenn alle sich in den Armen liegen, alles verloren haben wird: ihren Liebhaber, ihren Vater, ihren Glauben. Die junge Frau, egal in welcher Gestalt, ist gefangen in der Rolle, die die Gesellschaft ihr auferlegt hat, erdrückt von Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann – das gilt für die Figuren, aber auch für die Schauspielerin, für den heutigen Menschen. Verzweiflung und die Sehnsucht nach Freiheit und Ausbruch sprechen aus ihren Worten. „Das ist nicht zu verkraften, dass da immer schon Etwas im Raum ist, wenn wir erscheinen.“

Diesen Konflikt von Bild und Ich setzt das kainkollektiv beeindruckend um: Immer wieder treffen die Schauspielerin und ihre riesige Videoprojektion aufeinander, ist sie plötzlich umringt von dem auf sie einredenden Sprechchor oder erschlagen von dem riesenhaften Bild ihres Erziehers Nathan. Die Künstlergruppe greift aber auch das Paradoxon von Lessing selbst auf: Gefeiert als Vater der Toleranz und Versöhnung, hat er gelebt als saufender, spielsüchtiger Sozialfall.

Das Publikum kann sich mit diebischer Freude auf das Gebräu von Zitaten (von Joseph Beuys über Walter Benjamin bis zu Richard Wagner) stürzen. Oder aber es lässt sich fallen in den Sog dieses Abends, in die rauschhaften Bilder, Klänge und Emotionen – der vor allem getragen wird durch die großartige, charismatisch und zwingend spielende Merle Wasmuth, die in jeder Minute Zentrum der Inszenierung ist. Ein Stück, das mal heiter, mal verzweifelt und traurig, die Zuschauer mit vielen Fragen entlässt.

Die nächsten Termine: 22. April (18 Uhr), 6. Mai (18 Uhr)

P.S.: Kurzer Nachtrag zu dieser Besprechung (die so auch in der Westfälischen Rundschau erschienen ist): Während ich die Offenheit des Stücks durchaus mochte, habe ich im Nachhinhein gehört, dass es bei der Premiere auch Zuschauer gab, die von der Bühne geflüchtet sind.




Der Werther in uns oder: Goethes Worte brennen heute noch

Die Leiden des jungen Werther im Schauspielstudio Dortmund. Foto: Birgit Hupfeld

Die Leiden des jungen Werther im Schauspielstudio Dortmund. Foto: Birgit Hupfeld

Wie wollen wir unser Leben führen? Angepasst, ohne anzuecken, aber auch ohne Tiefe – oder voller Leidenschaft, Emotion, vielleicht auch Einsamkeit? Regisseur Björn Gabriel hat für seine Inszenierung im Dortmunder Studio eine generationsübergreifende, nie endende Frage aus Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ herausgeschält.

Jüngst wetterte Richard David Precht gegen Werther: Unglaublicher Kitsch sei der Text, „verlogene Sozialromantik“, die aus dem Deutschunterricht verbannt werden müsse. Regisseur Björn Gabriel zitiert den Bestsellerautoren – übrigens herrlich gespielt von Schauspieldirektor Kay Voges – und tritt den doppelten Gegenbeweis an: In Videointerviews lässt er den Dortmunder Kulturdezernenten Jörg Stüdemann und Filmregisseur Adolf Winkelmann humorig von der Notwendigkeit des Auf- und Ausbruchs, von Revolte und Freiheit reden. Um dann auf der Bühne zu zeigen, dass Goethes Worte auch heute noch brennen.

Gabriel stellt denn auch weniger allein die unglückliche Liebe von Werther (Sebastian Graf) zu der mit dem angepassten Albert (Ekkehard Freye) verlobten Lotte (Bettina Lieder) in den Vordergrund – und setzt folgerichtig Werthers Selbstmord an den Anfang.

Werther ist verzweifelt an der Welt: Er will, er kann sich nicht anpassen, würgt an der Verlogenheit und Gleichgültigkeit der Menschen um ihn herum und ist voll ungezügelter Wut und Leidenschaft – von Sebastian Graf ungestüm und voller Ungeduld gespielt. Werther will leben, mit all seinen Sinnen – Mittelmaß und Mäßigung sind für ihn erniedrigend. Er ist ein Außenseiter – bis plötzlich Lotte ihn versteht.

Es wäre ein Leichtes, den angepassten Albert nun zur reinen Karikatur verkommen zu lassen. Ekkehard Freye aber spielt ihn als einen Gebrochenen, Verletzten, der in Schönfärberei und Harmonie sein Heil sucht. So lässt Regisseur Gabriel die Möglichkeit offen, Albert und Werther als „zwei Seelen in einer Brust“ zu sehen, Idealismus versus Konformismus – und Lotte hin- und hergerissen zwischen beiden (überzeugend zwiespältig von Bettina Lieder gespielt).

Sicher ist nicht immer subtil, was auf der Bühne geschieht: Es wird geschrien und gekocht, Reis und Champagner fliegen durch den Raum, riesige Projektionen (Daniel Hengst) sind mal überstilisiertes Idealbild, dann Videotagebuch für die Innenschau. Schade auch, dass es bei der Premiere teils Ton-Probleme gab. Der Grundkonflikt aber berührt. Sind wir nicht alle ein bisschen Werther?




Schauspielhaus Bochum: Folkwang-Schüler präsentieren sich im „Spiel des Lebens“

 

Theaterrezension in exakt 150 Wörtern, Teil III:

„Spiel des Lebens“, Schauspielhaus Bochum, von Schauspielschülern der Folkwang-Universität der Künste

Text: Lutz Hübner, Uraufführung: 16.3.2012

 

Jeder hat 9 Minuten. Für Zauberei, Rampentricks oder den großen dramatischen Monolog. Für Tragik, Komik, tragische Komik. Und die Frage: Was – verdammt noch mal – wollen die Zuschauer eigentlich im Theater sehen?

Die Abschlussklasse der Folkwang-Universität spielt 2012 keinen Klassiker im Bochumer Schauspielhaus. Sie hat sich vom Star-Dramaturgen Lutz Hübner etwas auf die Leiber schreiben lassen.

 

Über der Bühne tickt die Uhr. Von „1:30:00“ bis zum Nullpunkt. Die Schauspielschüler spielen Schauspielschüler. Sind nervös, neidisch, notorisch übersehen oder auf der Suche nach sich selbst.

Wer sind sie heute? Wer in 20, 30 Jahren? Wer macht den Anfang, wenn das Kollektiv stockt und haspelt?

 

Und dann doch Antworten: Alles, was Theater ausmacht, auf vier Szenen reduziert. Coming of age. Boy meets girl. Who dunnit? Achievement.

Jeder präsentiert sich. Genial.

BÜHNENBILD Showtreppe. Nachbildung der Schauspielhaus-Kantine. Weniger = mehr.

SCHAUSPIELER Zehn. Zwischen herausragend und hinterdenohrennochetwasgrün.

KOSTÜME Charakterisieren die Typen. Karikieren die Klassiker.

TEXT Entlarvend. Humorvoll.

 

weitere Termine




Kultur im Revier: Jetzt geht es ans Eingemachte

Man muss diese Nachrichten nur sammeln und bündeln, um die Zeichen der Zeit zu erkennen: Ganz offenkundig geht es in Sachen Ruhrgebiets-Kultur ans Eingemachte.

Die Schamfrist nach dem Kulturhauptstadt-Jahr 2010 ist längst vorüber. Schon damals haben manche prophezeit, dass „danach“ die Sense kreisen werde.

Vor einigen Wochen hieß es, das Museum Bochum werde mutmaßlich im Jahr 2022 geschlossen. Komplett. Unwiederbringlich. Unglaublich. Dieses Menetekel sorgte immerhin für vernehmlichen Aufruhr, vor allem im Kreise der übrigen Kunstmuseen des Reviers.

Schon allein die Frage, was in einem solche Falle mit den gesammelten Beständen geschehen soll, lässt einem nicht nur in juristische Abgründe blicken. Der Image-Schaden für die gesamte Region wäre kaum zu ermessen. Dabei war doch 2010 ausposaunt worden, man wolle sich mit Kultur gleichsam neu erfinden. Was ist davon geblieben? Vor allem diffuse Erwartungen an eine „Kreativwirtschaft“, zu der alles und jedes und nichts gehört. Und der zwanghaft unbeirrbare Glaube an „Leuchttürme“ wie das „Dortmunder U“, deren Folgekosten ins Monströse zu wachsen drohen.

"Leuchtturm" mit immensen Folgekosten: Kulturzentrum "Dortmunder U". (Foto: Bernd Berke)

"Leuchtturm" mit immensen Folgekosten: Kulturzentrum "Dortmunder U". (Foto: Bernd Berke)

Durch Sparmaßnahmen gefährdet ist derweil auch das Mülheimer Museum Alte Post. In Hagen wird unterdessen allen Ernstes erwogen, ein Gemälde von Ferdinand Hodler zu veräußern, um den Haushalt zu sanieren, ach was: um dem maroden Etat ein winziges Pflästerchen aufzukleben. Allerorten kann man leicht ausrechnen, dass selbst radikaler Kulturabbau im Gesamthaushalt kaum als wesentliche Ersparnis spürbar wäre.

Ein weiteres Phänomen ist aus etlichen Spardebatten sattsam bekannt: Zunächst wird die ganz große Keule geschwungen (völlige Schließung etc.), damit die Betroffenen hernach eine heftige Budgetkürzung fast schon als Wohltat und Rettung begrüßen.

Öffentliche Zuschüsse für Kultur gelten leider immer noch als „freiwillige Aufgaben“ und werden – so hat es den Anschein – oftmals von oben herab gnädig gewährt. Üblicher Begleitumstand ist das Geschrei derer, die Kindergärten, Schwimmbäder und die Verfüllung von Schlaglöchern gegen kulturelle Belange ausspielen.

Alles nur Alarmismus, gegenstandslose Kahlschlag-Ängste? Wohl kaum!

Allein heute sind drei knappe Meldungen (!) erschienen, die in die gleiche Richtung weisen, nämlich abwärts.

1) Theater- und Konzert-Gastspiele im Wittener Saalbau stehen samt und sonders auf der Streichliste, weil die Stadt sich derzeit nicht in der Lage sieht, konkrete Förderzusagen zu geben. Selbst die bundesweit renommierten Wittener Tage für Neue Kammermusik wären vom befürchteten Kahlschlag betroffen. Geld gibt’s, wenn überhaupt, nur kurzfristig, Veranstaltungen müssen hingegen von langer Hand geplant werden.

2) Das vom Westfälischen Literaturbüro (Unna) organisierte Krimifestival „Mord am Hellweg“ muss deutlich abspecken. Der „schlankere“ Auftritt könnte die Werbewirksamkeit schmälern.

3) Unsanftes Erwachen aus der „Traumzeit“: Die Finanzierung des gleichnamigen Duisburger Festivals ist nicht gesichert, wahrscheinlich muss man zumindest einen Programmtag opfern. Auch gibt es Gedankenspiele, künftig nur noch alle zwei Jahre – im Wechsel mit dem „Akzente“-Festival – eine „Traumzeit“ auszurufen.

Um nur ein weiteres Beispiel zu nennen: Nicht auszuschließen, dass demnächst beunruhigende Botschaften aus Schwerte kommen, wo der Bestand der örtlichen Festivals (Kleinkunstwochen und Welttheater der Straße) nach dem Ausscheiden des langjährigen Kulturamtsleiters Herbert Hermes erstritten sein will. Aber wir wollen das Übel nicht herbeireden, sondern im Gegenteil an die Stadt appellieren, hierbei größte Umsicht walten zu lassen. Viel gibt es sonst nicht, was den Ruf dieser 50000-Einwohner-Gemeinde hinaus trägt.




„Bunbury“ in Bochum: Vom großen Spaß, (nicht) Ernst zu sein

Der Vorhang öffnet sich – und gibt einen weiteren Vorhang frei, hinter dem sich wiederum eine dritte Bühne mit Vorhang befindet – ein überdimensioniertes Kasperltheater. Die Bühne der Bochumer Kammerspiele verkleinert sich für einen Großteil des Abends auf die Maße der Puppenbühne (Daniel Angermayr). Damit wäre Jan Neumanns Regiekonzept bereits beschrieben: Sein „Bunbury“ (oder: Wie wichtig es ist, Ernst zu sein) wird als Theater im Theater gegeben. Die Körpersprache der Darsteller und auch die Kostüme (Nini von Selzam) orientieren sich an ungelenkem Puppenspiel und am Overacting, wie man es von Boulevardkomödien kennt.

Die anfängliche Skepsis (Und das soll nun den ganzen Abend so weitergehen?) legt sich schnell, denn: Das Regie-Konzept geht auf. Slapstick und Farce-Elemente der Inszenierung passen bestens zu Dialoglastigkeit, Wortwitz und dem rasanten Tempo der Oscar Wilde-Komödie. Schließlich stehen Witz und Brillanz der Dialoge bei Oscar Wilde im Vordergrund, nicht die Entwicklung der Figuren. Nicht zuletzt korrespondiert die Künstlichkeit, die auch durch Pappmaché, gemalte Kulissen und Billig-Requisiten entsteht, mit den aufgesetzten Umgangsformen und der gesellschaftlichen Etikette. Kurz: Der Abend ist ein großer Spaß.

Die befreundeten Dandys Jack (Roland Riebeling) und Algernon (Daniel Stock) spielen ganz privat gerne Theater, um verschiedene Rollen ausleben zu können: Jack, der auf dem Lande als Vormund der jungen Cecily (Friederike Becht als Dirndl mit Blumenkranz) ein seriöses Bild abgeben muss, erfindet einen Bruder Ernest, als der er sich in der Stadt ausgibt und dort um das glitzer-rosa Girlie Gwendolen (Xenia Snagowski) wirbt. Algernon wiederum hat einen imaginären Freund Bunbury, um möglichst häufig seiner Tante Lady Bracknell (Anke Zillich mit matronenhafter Statur und Turm-Frisur) zu entfliehen. Nach vielen Verwechslungen und Verwicklungen bekommt am Ende jeder, was er will.

Der verengte Bewegungsraum und das Ping-Pong der Konversation fordern den Schauspielern perfektes Timing und ein gut choreographiertes und einstudiertes Zusammenspiel ab, das sie mit großer Spiellust meistern. Eine Figur gibt es dann doch, die im Stück eine Entwicklung durchmacht: Meister-Dandy Algernon erkennt die fehlende Tiefe seines Lebens und sehnt sich nach etwas Echtem – und sei es echter Schmerz beim Einschlagen auf die Bühnenbretter. Auf den Vorwurf „Du redest nichts als Unsinn“ wird er plötzlich ganz still. „Ja“, sagt er traurig, „das tut doch jeder.“ Algernon ist der einzige, der ab und zu die Maske fallen lässt, und der erste, der den geschützten Raum des Puppentheaters verlässt, um den kargen Boden der Realität auszuprobieren. Die anderen folgen ihm und zertrümmern ihre Marionettenbühne, doch auch außerhalb finden sie – wen wundert’s – nur eine Bühne vor, auf der sie eine Rolle zu spielen haben. Das ganze Leben ist ein Spiel – bei Oscar Wilde immerhin ein ausgesprochen kurzweiliges, und eines mit Happy End für alle Beteiligten.

Infos/Termine: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/9342163

(Der Artikel erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Getanztes Leben zwischen Abstraktion und praller Illustration

Tanz der Spitzhüte in Christian Spucks "Sleepers Chamber". Foto: Bettina Stöß/Stage Picture

Bilder, die sich gar nicht gleichen. Zu Beginn schneit es dunkle Erde im graugetünchten Raum, in dem riesenhafte Heuschrecken ihr Dasein fristen. Menschen, teils am Boden dahingekrümmt, lösen sich langsam aus einer Art Schockstarre, versuchen in zackigen, wie geometrisch wirkenden Bewegungen ihren Gliedern Leben einzuhauchen. Wir sehen „Sleepers Chamber“, also tänzerisches Erwachen in einer Schlafkammer – der erste Teil des neuen Doppelabends mit der Dortmunder Ballett-Compagnie.

Danach – welch völlig anderes Bild – die leere Bühne, durch Licht- und Farbspiele ein wenig aufgepeppt. Podium für überbordende Lebensfreude, die sich aus Bewegungsformen entwickelt, die Wut bis hin zur Gewalt, Enttäuschung und Einsamkeit illustrieren wollen. „Cantata“ ist der schlichte Titel dieser Choreographie, in der sich südländisches Temperament im Arte-Povera-Ambiente ausdrückt, garniert mit einer kleinen Commedia-dell’Arte-Episode.

So prallt das symbolträchtige Tanztheater Christian Spucks (Sleepers) auf wirkmächtiges Dolce-vita-Empfinden bei Mauro Bigonzetti (Cantata). Was dieser als überwiegend pralle, bodenständige Lebensszenerie auflegt, zeigt jener als geheimnisvolle, verwunschene, gleichwohl klare Parabel vom irdischen Werden und Vergehen.

Spucks menschliches Erwachen ist orientiert am Verhalten von Insekten, die mitunter erst nach monatelangem Schlaf aus der Erde krabbeln. Riesige Spitzhüte lassen Zauberstimmung assoziieren, manchmal aber wirken sie auf den Köpfen der roboterhaft agierenden Tänzer geradezu bizarr. Es ist ein Aufrappeln, Leben und Dahinsinken in hoch disziplinierter Aktion, immer eng am Puls der zugespielten, klangfarbenreichen elektronischen Musik Martin Donners.

Die Töne wiederum, die in der „Cantata“ ans Ohr gelangen, sind süditalienischem Brauchtum entnommen, tänzeln auf dem schmalen Grat zwischen originärer Volksmusik und publikumskompatibler Folklore. Eingespielt vom vierköpfigen Frauengesangsquartett „Gruppo musicale assurd“, das mit Kastagnetten, Tambourin und Akkordeon musiziert, sind diese Töne so melancholisch wie berstend vital.

Tanz als pralles Leben bei Mauro Bigonzetti. Foto: Bettina Stöß/Stage Picture

Doch Bigonzetti kann mit seiner Choreographie kaum einlösen, was als „Handlung“ vorgegeben ist. Wenn die Frauen aus dem Häuschen sind, Tarantella tanzen, entlädt sich dies in berauschten, lustvollen, heidnischen „Frühlingopfer“-Bewegungsformen. Doch die Zeichnung der italienischen Form des Machismo kommt oft unklar daher, wird belächelt. Das Stück, zyklisch gedacht als Folge von Ruhe in der Enge – Leben in der Weite – Ruhe wird konterkariert mit einem lauten Finale, das sich als klatschmarschträchtig entpuppt.

So ist dieser zweiteilige Ballettabend, der den etwas rätselhaften Titel „Träumer.Tanzen.Lieder“ trägt, stark am Beginn, schwach am Schluss. Alles indes getanzt auf hohem Niveau.

 




Radikale Rebellin

Tische und Stühle sind von einer Staubschicht bedeckt, die vor Beginn abgefegt wird – merke: ein Klassiker wird entstaubt. Das Arrangement der kargen, mit Plastikblumen geschmückten Tische erinnert an eine Podiumsdiskussion (Bühne: Kathrine von Hellermann). Merke: Hier wird etwas verhandelt. Charlotte Zilm bringt im Dortmunder Studio Sophokles’ Antigone auf die Bühne. Sie zeigt ein Stück mit einigen Knall-Effekten – spannend, kurzweilig, bilderstark. Ein wenig auf der Strecke bleibt dabei die psychologische Feinzeichnung.

Antigone (Uta Holst-Ziegeler) beweint den Bruder (Sebastian Graf). Foto: Birgit Hupfeld

Der tote Ödipus-Sohn Polyneikes darf nach dem Willen seines Onkels Kreon nicht bestattet werden. Halbnackt und blutig liegt er auf der Bühne, und mit blutigen Händen setzt sich Kreon (Uwe Schmieder) als neuer König von Theben die Krone auf. Antigone (Uta Holst-Ziegeler) leistet als einzige Widerstand: Sie bestattet den Bruder und nimmt dafür den Tod in Kauf. Diese Antigone ist eine Rebellin voller Wut und Aggression. Als sie das Bestattungsverbot vernimmt, ballt sie die Faust und zerdrückt dabei die Flasche in ihrer Hand wie ein Blatt Papier – diese Frau steht unter Strom. Nicht einen Moment der Schwäche erleben wir bei ihr: Aufrecht und angstfrei ist ihre Haltung bis zum Schluss, unbeugsam blickt sie ihrem Onkel und ihrem Tod ins Gesicht. „Nicht zu hassen, zu lieben bin ich da“ – ihre berühmten Worte spricht sie langsam und voller Zorn, mit dem Zeigefinger gegen Kreon gerichtet. Der Monolog vor ihrem Selbstmord – Antigone schießt sich in den Kopf – ist dann auch kein Klagelied, sondern eine brüllend vorgetragene Anklage, aufrührerisch und aggressiv. Eine Gotteskriegerin, deren Haltung weniger auf eine gefestigte innere Moral denn auf militanten Fundamentalismus schließen lässt.

Kreon (Uwe Schmieder) setzt sich vor Antigone (Uta Holst-Ziegeler) die Krone auf. Foto: Birgit Hupfeld

Kreon ist ihr machtbesoffener, leicht sadistischer Widerpart. Was ihm im Vergleich zu Antigone an Körpergröße fehlt, kompensiert er durch sein übergroßes Ego. In breitbeiniger Macho-Pose sitzt er auf dem Thron, leer sein Bier auf Ex und sucht vergeblich Männerbünde gegen „diese Weiber, die man in Fesseln legen muss“. Mit Auftritt des Sehers, der Kreon warnen will, wird des Königs Wahn offenbar. In der Dortmunder Inszenierung ist der tote Polyneikes (Sebastian Graf) der Seher: Die Leiche wird in Kreons Armen lebendig, nimmt den König auf den Arm und scheint als Über-Ich zu Kreon zu sprechen. Das Ende bleibt offen: Während bei Sophokles der Tod seines Sohnes und seiner Frau Kreon zum Umdenken bewegen, gibt es in Dortmund nach Antigone keine weiteren Toten. Am Ende steht Kreon vor einer Entscheidung.

Der Diktator mit Realitätsverlust und die radikale Rebellin – zwei gut gespielte Figuren, deren Zeichnung zwar keineswegs abwegig, jedoch etwas eindimensional ist. Ein Überraschungscoup gelingt der Inszenierung mit dem neuen, 30-köpfigen Dortmunder Sprechchor, der sich plötzlich aus den Reihen des Publikums erhebt und dem Volk eine gut einstudierte Stimme gibt (Christoph Jöde, Mirjam Schmuck). Ein Überraschungscoup gelingt der Inszenierung mit dem neuen, 30-köpfigen Dortmunder Sprechchor, der sich plötzlich aus den Reihen des Publikums erhebt und dem Volk eine gut einstudierte Stimme gibt (Christoph Jöde, Mirjam Schmuck).

Weitere Termine: 10. Februar, 22. Februar, 10. März

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Der grüne Bademantel – über Probleme, die Dortmunder in die Oper zu locken

Stein des Anstoßes: Der grüne Bademantel der Norma (Miriam Clark). Foto: Stage Picture

Es ist schon verrückt: Da kann ein grüner Bademantel über das Wohl und Wehe einer Operninszenierung entscheiden. Es mag noch so exquisit gesungen werden, das Orchester noch so beherzt aufspielen, das Stück selbst melodienselig dahinfließen: Wenn die Optik einem Großteil des Publikums nicht gefällt, gibt’s Mecker und Verweigerung. 

So geschehen in Dortmund: Vincenzo Bellinis Belcanto-Hit „Norma“, zur Premiere gut besucht, wurde in den Folgevorstellungen abgestraft – leere Ränge allenthalben. Weil Normas Outfit nicht dem Geschmack entsprach: Knallige Farben, eine Corsage, die angeblich einer Dame des liegenden Gewerbes zur Ehre gereicht hätte: zuviel für manchen Zuschauer.

Nun, der Vorgang liegt schon eine Weile zurück, doch Jens-Daniel Herzog, neuer Opernintendant in Dortmund, musste sich der Debatte erneut stellen. Er hatte zur Halbzeitbilanz seiner ersten Saison eingeladen, zu einem Publikumsgespräch über Stärken und Schwächen der bisherigen Produktionen, das der Musikjournalist Holger Noltze moderierte.

So entzündete sich eine Debatte an einem kostümbildnerischen Detail, die sich schnell Grundsätzlichem zuwandte. Wieviel darf das Theater von seinem Publikum verlangen. Sollten die Zuschauer mehr mitbringen als den Wunsch nach Unterhaltung? Wieviel Aktualität verträgt ein Stück, das sich etwa vor dem historischen Hintergrund des 18. Jahrhunderts bewegt?

Norma - eine Priesterin in Unterwäsche. Foto: Stage Picture

Herzog, der nicht gerade zu den Regieberserkern oder Stückezertrümmerern zählt, hält gleichwohl die Freiheit der Kunst für unantastbar. Mit Freude zitierte er aus dem Mailwechsel mit einer Zuschauerin, die sich eben über die Kleidung der Norma echauffierte. Bei aller gegensätzlichen Auffassung sei es zu einem intensiven Dialog gekommen, der für das Theater ungemein wichtig sei.

Publikums Stimme forderte geradezu diesen Dialog: „Wie wollen die Absichten des Regisseurs verstehen, sie muss uns erklärt werden“, rief eine leidenschaftliche Opernbesucherin. Und Herzog wiederum gab zu: „Wir müssen dahin kommen, dass Sie die Augen öffnen, nicht vor einer vermeintlich unbequemen Ästhetik verschließen. Wenn aber die Zeichen auf der Bühne, die für eine bestimmte Interpretation stehen, nicht erkannt werden, ist das jämmerlich“.

So alt diese Diskussion eigentlich ist, so gewichtig ist die aktuelle Situation, in der die Debatte geführt wird.  Denn nach den Intendanzen von John Dew und Christine Mielitz hat Jens-Daniel Herzog ein Haus übernommen, dem viele Zuschauer längst den Rücken gekehrt hatten. Wiederaufbau ist also angesagt. „Wir brauchen gegenseitiges Vertrauen“, wies Chefdramaturg Georg Holzer einen Weg. Das Theater müsse zeigen, dass ihm ernsthafte Arbeit und Qualität am Herzen lägen. Das Publikum wiederum solle die Bereitschaft signalisieren, sich mit neuen Ideen auseinanderzusetzen.

Und so schlecht sieht es in Dortmund angeblich nicht aus. Der Abwärtstrend sei gestoppt, das Betriebsklima verbessert, so Herzog. Natürlich weiß er, dass noch ein weiter Weg vor ihm liegt, doch seine Programmlinien will er konsequent durchziehen. Also jede Saison etwa eine Wagner-, Mozart-, oder Belcanto-Oper bieten, ein Musical, eine Operette, zudem Musiktheater des 20. Jahrhunderts, das sich aus der Spätromantik ableite. „Norma“ mag nicht gelaufen sein, die „Lustige Witwe“ etwa oder „Cosi fan tutte“ aber sind gefragt.

„Eigentlich gibt es hier für jedes Genre ein eigenes Publikum. Wir müssen daraus ein Opernpublikum schaffen“, ist Georg Holzers Überzeugung. Im übrigen sehe man sich vor, in den kommenden Inszenierungen wieder soetwas wie einen „grünen Bademantel“ zu präsentieren. Derart gewichtige Symbolik klingt nach einem Alleinstellungsmerkmal – so schräg ist nur Dortmund.




Flache Kost aus der Burger-Bude

Vor 250 Jahren verfasste der Vielschreiber Carlo Goldoni seine Komödie „Streit in Chiozza“, in der der venezianische Theater-Neuerer Kabale und Liebe in einem Fischerdorf zelebriert. In Bochum zeigt nun Nuran David Calis das Stück in seiner eigenen Neubearbeitung: „Zoff in Chioggia“. Der 35-Jährige arbeitet dabei wie häufig auch mit jungen Laien zusammen. Auch Tänzerinnen und Tänzer des Herner Tanztheaters Pottporus/Renegade sind eingebunden.

Was sieht Calis, der als Experte für die Befindlichkeiten der Jugend gilt, in diesem für heutige Verhältnisse konventionellen Lustspiel? Die Antwort wird im Laufe des zweieinhalbstündigen Abends recht schnell deutlich: Er sieht eine Gesellschaft im Aufbruch, eine Jugend, die sich entscheiden muss: abhauen, bleiben und zugrunde gehen – oder bleiben und es besser machen. Wer dabei nicht freiwillig an den arabischen Frühling denkt, dem hilft das Bühnenbild (Irina Schicketanz) später am Abend nach: „Tunis“ und „Kairo“ sind als Parolen an die Wand geschmiert. Doch der Reihe nach.

Nuran David Calis’ Version spielt in einer kurz vor der Pleite stehenden Burger-Bude am Hafen von Chioggia. Besitzer Isodoro (Jürgen Hartmann) nimmt einen letzten Anlauf: Werbefilme im Internet und Social Media-Präsenz sollen dem Laden neue Gäste bescheren, außerdem hält er eine Brandrede vor seinen Angestellten: Binnen zwei Tagen sollen sie neue Ideen präsentieren, sonst gehe man zusammen unter. Allerdings ist die Belegschaft hoffnungslos zerstritten: Für Lucietta (Constanze Wächter) ist Chioggia ein Sumpf, aus dem sie nichts wie weg will, für ihren Freund Titta Nane (Krunoslav Šebrek) ist es der „Schoß, der dich auffängt“. Beppo (Matthias Eberle) will Checca (Barbara Hirt) heiraten, doch die hört ihn nicht einmal an.

Die Generation der Eltern ist nicht besser: Die zänkische Pasqa (Bettina Engelhard) streitet abwechselnd mit ihrem Mann Toni (Werner Strenger) und seiner Geliebten (Veronika Nickl), hat aber zugleich eine Affäre mit Isidoro. Der neue Barrista (Ismail Deniz), sorgt für weitere Eifersüchteleien. Nahezu jede Zusammenkunft führt in jeder Konstellation unweigerlich zur Eskalation, bis schließlich das Mobiliar des Bistros und die Beziehungen ein Trümmerhaufen sind – aus dem im Dämmerlicht des nächsten Tages Neues erwachsen kann. Und zwar, indem der zerstrittene Haufen die Kraft der Gemeinsamkeit erkennt. Merke: Wer Rücken an Rücken steht, der kann nicht fallen. Gemeinsam beseitigt man das Chaos, zieht neuen Teamgeist aus einem Rap-Song, und siehe da: Das virale Marketing hat gewirkt, die Gäste stehen vor der Tür.

Das klingt allzu platt? Das ist es auch, und zwar auf beinah jeder Ebene. Die Texte bestehen aus sträflich vielen Gemeinplätzen („Liebe ist doch nicht nur ein Wort!“) und sind häufig, nach Art der Vorlage, ans Publikum adressierte Monologe am Bühnenrand. Sie verbalisieren, was gespielt werden könnte. Die Kostüme zeigen Typen-Klischees (die Rocker-Lady in Leder, die blondierte Bauchfrei-Tussi, der bärtige Philosoph, der rassige Italiener). Und die Moral von der Geschicht’ besteht tatsächlich aus nicht viel mehr als „Zusammen sind wir stark“. Zurück bleibt das Gefühl, lange 180 Minuten einem mit großem Aufwand produzierten Nichts zugeschaut zu haben.

Schöne Momente bieten die Szenen, in denen das Ensemble wie von unsichtbarer Hand choreographiert agiert – in solchen Momenten blitzen schon von Anfang an die Möglichkeiten der Gemeinschaft auf. Die Atmosphäre des bevorstehenden Aus- und Zusammenbruchs transportieren trefflich die Renegade-Tänzer, die sich zwischen einzelnen Szenen wie Schatten in einer Zwischenwelt winden, auszubrechen versuchen, aber seltsam gefesselt scheinen.

Termine: 2., 10., 16. Februar 2012




„Heimat ist auch keine Lösung“ – das Schauspielhaus Bochum hat Recht

Karte Schauspielhaus BO Heimat

Theater-Rezension in exakt 150 Wörtern, Teil II:

Schauspielhaus Bochum „Heimat ist auch keine Lösung“, musikalischer Abend, Premiere 21.1.2012

Nebel wabert. Zieht ins Publikum. Fließt um die Schultern und in die Lungen.

Auf der Bühne: ein Vollmond. Ein Mann, der vom Leierkastenmann singt.

Ein Hafen ist das also. Ein Ort des Aufbruchs. Des Verlassens. Der Hoffnung. Der Wehmut. Des Fernwehs. Ein Ort, an dem die alten Lieder von daheim plötzlich wichtig werden.

„Heimat ist auch keine Lösung“, so hat Thomas Anzenhofer den musikalischen Abend genannt. Recht hat er. Die erste Szene zeigt schon, wohin der Abend führt.

In aller Herren Länder. In alle Gefühle. In schwermütigen kubanischen Jazz, in afrikanische Trommelfreude, in dröhnenden New Wave. Zu Nietzsche, Udo Jürgens, Ton Steine Scherben. Zu Idylle, Fremdsein und Schnaps.

Italienische Mandolinen-Sehnsucht trifft auf jiddische Fiddel-Wut, türkisches Wehklagen auf Hans Albers. Und in „Sweet Home Alabama“ wird gejodelt.

karte schauspiel bo heimat rückseite

SOUND Wispernd. Dröhnend. Verständlich. Je nachdem.

BÜHNENBILD Roh. Video-Leinwand, Bühne, Theke.

VIDEO Live. Abwechslungsreich.

KOSTÜME Tramp-inspiriert. Neuzeit-Stereotypen.

SCHAUSPIELER Alle drei grandios.

HUMOR Aber holla!




„Der Gott des Gemetzels“: Pas de quatre im offenen Labor

Es gibt allerlei Gründe, ins Theater zu gehen, immer noch. Gott sei Dank, welchem auch immer! Man möchte bekannter Literatur nachspüren, man liebt das Spiel der Schauspieler oder will einen oder eine bestimmte sehen, egal in welchem Stück. Man hat das Gefühl, man müsse was über die Menschen erfahren oder über sich oder seine Partner, man ist mit jemandem auf oder hinter der Bühne verwandt oder hat ein Abonnement.

Im heutigen Fall bittet „Der Gott des Gemetzels“ zur Aufführung in das Dortmunder Schauspiel. Ihm ist also zu danken, dass wir uns ansehen und anhören, wie wir uns gegenseitig verbal metzeln. Die 1959 in Paris geborene Autorin des Stückes, Yasmina Reza, berühmt geworden durch das Stück „Kunst“, weist darauf hin, man möge keinen Realismus verwenden. „Pas du realisme“ heißt es also auf dem T-Shirt des einen Hauptdarstellers in Dortmund, Axel Holst. „Pas du tout“ (überhaupt nicht) füge ich hinzu.

Streit-Schlichtung ohne Gemetzel (Foto:Birgit Hupfeld)

Was macht man also als Regisseur (in diesem Fall: Marcus Lobbes)? Wie sieht Realismus auf der Bühne aus, wenn man diesen vermeiden will oder soll? Zwei Ehepaare streiten
sich. Anlass sind ihre nicht anwesenden Kinder, die einen handfesten Streit hatten. Also: ein verfremdetes Wohnzimmer, eine Wohnung auf einer Schräge mit fliegenden Tassen? Lobbes (Jahrgang 1966) entscheidet sich, zusammen mit Ausstatter Christoph Ernst, für die totale Verfremdung und lässt die Protagonisten auf weißen Stufen agieren, links und rechts flankiert durch übergroße Plüschtiere (Hase und Bär). Es könnte der Eingang zu einem „Museum für triviale Angelegenheiten“ sein. Desweiteren: Styropor, hängende Gärten aus Klopapier, von einer Art Maibaum herabbaumelnd, c’est tout. Weiter entscheidet sich die Regie dafür, die Männer in Röcken und mit Pumps umherlaufen zu lassen. Die Damen (Eva Verena Müller, Friederieke Tiefenbacher) tragen Dreiviertelhosen. Man wickelt sich in weiße Tücher, verklebt sich mit Gaffa-Tape, stolpert, posiert,  Alain (Ekkehard Freye) telefoniert, ohne zu telefonieren. Wenn all das zusammen keine Verfremdung ist, was dann? Regieanweisung also exekutiert.

Die Realität ist eine misslungene Verfremdung

Im Publikum wie auf der Bühne ist es neonhell. Man sieht sich, aber man kommt sich nicht näher. Die Vorlage erlaubt Tiefe und menschliche Begegnung mit sich und der Gesellschaft. Es geht uns also was an und spielt im Hier und Heute der westlichen Welt. Man sitzt aber vor der weißen Welt der Verfremdung und versucht, mitzuhalten. Die Schauspieler spielen sich teils die Seele aus dem Leib. Axel Holst wuchtet die Figur des Gastgebers ohne Peinlichkeiten, die dem Kostüm geschuldet wären, in spielerische Höhen. Wir – die Betrachter – geben uns dem hin und sitzen dennoch unbeschadet bis zum Ende in den Reihen. Der Gott des Gemetzels war milde und hat sich mit Gaffa-Tapes und Klopapier zufrieden gegeben. In einer Inszenierung im realistischen Stil würden wir uns den Tränen erwehren müssen oder kopfschüttelnd das Leben geißeln, das die Kreatur mit selbstzerstörerischen Füßen tritt – ohne Pumps.




Der Geierabend: Klamauk in Ruhrdistan

Geierabend - Screenshot der Homepage www.geierabend.de

Geierabend - Screenshot der Homepage www.geierabend.de

Erdig, ungestüm, ein bisschen verrückt – wer sich mit dem „Geierabend“ in der Regie von Günter Rückert auf einen Ritt „Durch das wilde Ruhrdistan“ aufmacht, kann sich auf humoreske Abenteuer gefasst machen.

Von der bissigen Dortmunder Lokalsatire bis zu bundespolitischen Ausrutschern fegen die Geier in der 21. Session ihres alternativen Ruhrgebiets-Karnevals auf Zeche Zollern hinweg. Die Tour d’humour bietet echte Höhen – aber auch tiefe Tiefen.

Karneval im Ruhrgebiet ist anders, vor allem beim Geierabend. Kaum jemand ist verkleidet, außer den Gestalten auf der Bühne, es wird wenig bis gar nicht geschunkelt und Gefühlsausbrüche drücken die Zuschauer durch Trampeln und Geiern aus.

Und doch: Ob im Rheinland oder im Ruhrgebiet, die Giftpfeile schießen auf diejenigen, die über das Jahr die peinlichsten Vorlagen geliefert haben. Und das tagesaktuell, fragt doch der „Steiger“ (Martin Kaysh) den Präsidenten (Roman Henri Marczewski) aus, ob er standesgemäß Urlaub auf Kosten von Freunden gemacht habe.

Bissig ohne Scheu

In seinen besten Momenten ist das eingespielte Ensemble bissig ohne Scheu: „Wissen macht aua“ wird da zum Motto der Mitglieder der Piratenpartei, deren Ehrenvorsitzender ein kopfloser Klaus Störtebeker ist, während der Migrationsexperte gerade seinen Ausstand bei der NPD gibt. Die Geier erlauben sich, auch bei den ernstesten Themen herrlich rumzuspinnen – und bieten zum Beispiel bei „Kuh-VC“ den ultimativen Euro-Rettungsschirm feil, Modell „Titanic“ mit patentierter EZB-Schutzschicht.

Eine der besten Nummern nimmt das Phänomen „Facebook“ aufs Korn: Während zwei schüchterne Jugendliche sich zum „privaten Weichteil-Flashmob“ verabreden, tanzen „Gefällt mir Buttons“ über die Bühne und eine Dietrich-Diva sind „Frag nicht wo die Daten sind“.

Strukturwandel als Klischee

Auch viele Dortmunder Spezialitäten nehmen die Geier aufs Korn. Gut, dass den Panneköppen dank des Steigers, dem „Julian Assange des Geierabends“, schon die ersten Drehbücher für den Dortmunder Tatort vorliegen. Die aber erweisen sich bei näherem Hinschauen als höchst komplex. Schließlich gilt es, Klischees zu vermeiden – da gilt es eine Leiche auf der Lore dringend zu vermeiden. „Ja, soll ich die jetzt in den Technologiepark ziehen, oder watt?“, fragt ein verzweifelter Ermittler. „Bloß nicht. Das wäre Strukturwandel und auch ein Klischee“ ist die niederschmetternde Antwort. Ohne Klischees also keine Leiche, kein Mörder, keine Geschichte – das könnte auch das Motto des Geierabends in diesem Jahr sein.

Ulli Durau

Stark ist, wenn das Ensemble das lokale Geschehen zu aberwitzig bösen Geschichten strickt: Für das Dortmunder U, das selbst trotz „Skandalmarketings“ mit der Kunstwerke wegschrubbenden Putzfrau an zweistelligen Besucherzahlen „arbeitet“, hat Tourismus 21 eine simple Idee. Warum nicht einfach die Dortmunder Nazis dort unterbringen, wo sie unter sich sind? „Da könnt ihr euch ein bisschen fühlen wie in Albert Speers Germania-Halle“ säuselt die Tourismusleiterin (Sandra Schmitz) dem Nazi-Kevin (Benedikt Hahn) zu. Da muss man bei dem Werbespruch schon ein bisschen schlucken: „Dortmund – wo Faschos zu Hause sind“.

Andere Szenen wie „Der Schatz im Phoenixsee“ klingen und beginnen zwar vielversprechend, werden aber nicht konsequent durchgezogen und versanden.

Verve zeigt allerdings der Steiger: Auch wenn er bei der Premiere noch nicht ganz ‘witzwarm’ wirkte, ließ er sich von der anwesenden Lokalprominenz nicht irritieren – baute OB Ullrich Sierau („Wir duzen uns, ich darf Ulli Durau sagen“) ein Fahrrad zum Telefonieren auf der Bühne auf und spottete über die umstrittenen Spenden von Kölbl und Kruse. Und auch einen treffenden Vorschlag für einen Ortszusatz hatte er parat: „Dortmund – die immer-wieder-Wahl-Stadt“…

Ab und zu daneben gegriffen

Und doch greifen die Geier auch manches Mal daneben: Ob nun Kakerlaken einen wenig erhellenden Choral zum Weltuntergang singen, allein der Name des Kfz-Mechanikers Boskop („Keine Äpfel!“) als Witz tragen soll oder Spielerfrauen angesichts von homosexuellen Fußballern plötzlich Spielermänner neben sich stehen haben – all das könnte man sich sparen und so das fast vierstündige Programm kürzen.

Da feiert das Publikum schon lieber die albernen, grellen Kostüme, die starke Musik der Geierabend-Band und die Kultfiguren wie die Bandscheibe (Franziska Mense-Moritz) oder die Zwei vonne Südtribüne (Mense-Moritz und Hans Martin Eickmann). Bei Joachim Schlendersack (Martin F. Risse) wird sogar ein Schweinetransport nach Brasilien zur Gaudi – was den Geierabend eben auch ausmacht, ist die Lust am reinen Klamauk.




Peymann inszeniert „Dantons Tod“: Posen mit Standbein und Spielbein

Rebellion – so weit das Auge reicht. In den arabischen Ländern werden Diktaturen hinweg gefegt. In den kapitalistischen Metropolen besetzen Aktivisten Banken und Börsen. Das Gespenst der Revolution geht um, und während sich Marx im Grab die Hände reibt, meckert der olle Brecht, dass ein Gespräch über Bäume derzeit schon fast ein Verbrechen ist. Wer in dieser Situation Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“ aus dem Theaterfundus holt, hat Großes, auf jeden Fall Politisches im Sinn. Sollte man meinen. Vor allem wenn der Regisseur Claus Peymann heißt. Schließlich will er doch mit seinem Berliner Ensemble zeitgenössisch brisantes Theater liefern, das zum „Reißzahn im Hinterteil der Herrschenden“ werden soll.

So die Theorie. In der Praxis unternimmt Peymann zusammen mit seinem langjährigen Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann einen nächtlichen Ausflug ins Kunstmuseum und fuchtelt ein bisschen mit der Theatertaschenlampe im Dunkeln herum. Infiziert vom artifiziellen Bühnendesign eines Robert Wilson und der expressionistischen Stummfilmästhetik eines Friedrich Wilhelm Murnau, agieren die französischen Revolutionshelden in manieristischen Standbein-Spielbein-Posen auf einer halsbrecherischen Schräge. Die kargen Stühle und Tische wirken mit ihren schief abgesägten Beinen wie Zeichenstriche in einer fragilen Kunstlandschaft.

Danton (Ulrich Brandhoff, links) und Robespierre (Veit Schubert). (Foto: BE / Monika Rittershaus)

Danton (Ulrich Brandhoff, links) und Robespierre (Veit Schubert). (Foto: BE / Monika Rittershaus)

Ob der tugendhafte Robespierre (Veit Schubert) mit schneidender Stimme Schrecken und Tod verbreitet oder der von Lebensekel erfasste Danton (Ulrich Brandhoff) der Revolution überdrüssig ist und sich in den Untergang fügt, alles geschieht im Lichtkegel scharf geschnittener Lichtbahnen und in grellem Schwarz-Weiß. Die Gesichter der revolutionären Massen clownesk geschminkt, die Gebärden ein stiller Schrei. Robespierre und seine verbiesterten Anhänger tragen tödlich-schwarze, Danton und seine genussfreudigen Freunde weiße Kleidung. Alles ist hübsch übersichtlich, jede Geste vorausschaubar und jedes Wort ein offenes Geheimnis. Und wenn im Konvent die Abgeordneten den Revolutionshymnen Robespierres ergeben lauschen, rühren sie ihre weiß behandschuhten Hände zum nur angedeuteten, stummen Applaus.

Die Revolution frisst ihre Kinder. Das tut weh. Und wir erleben es gerade wieder aufs Neue in Ägypten und anderswo. Doch was Peymann an diesem blutigen Abgesang auf die Entgleisungen der Revolution und die Lügen der Weltverbesserer interessiert haben könnte, bleibt unklar. Alles nur Theater, garniert mit sanfter, leer laufender Ironie. Doch dann gibt es doch noch ein, zwei berührende Momente. Der von Todesangst gepeinigte Danton kuschelt sich wie ein kleines Kind in den Schoß seiner Gattin Julie (Katharina Susewind) und lässt sich trösten. Und wenn Angela Winkler sich in die schlampige Hure Marion verwandelt und den Revolutionskitsch einfach verlacht und vernuschelt, wird man Zeuge eines kleinen Schauspielwunders. Es ist allerdingsz zu wenig für einen fast dreistündigen Abend.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 16., 21. Januar, Karten unter 030/28408155.




Winkelmanns Theaterreise ins Dortmunder U

Sebastian Graf, Luise Heyer und Axel Holst in Winkelmanns Reise ins U. Foto: Birgit HupfeldDie Geschichte des Dortmunder U als Kreativzentrum ist bislang keine ruhmreiche: Erst das ewige Hin und Her um das Konzept, bevor die Fördergelder überhaupt flossen, dann zahlreiche Teileröffnungen, steigende Baukosten, Verzögerungen und das Gefühl, es noch immer mit einer Baustelle zu tun zu haben.

Regisseur Adolf Winkelmann („Contergan“) steckte dank seiner „Fliegenden Bilder“, die nun direkt unter dem goldenen U leuchten, mittendrin im Chaos – und hat seine schrägen Erfahrungen nicht nur in ein Buch, sondern auch in sein erstes Theaterstück gegossen. „Winkelmanns Reise ins U“ feierte im Dortmunder Schauspiel Uraufführung.

Nach den vielen Skandalen um das Dortmunder U wäre vieles möglich gewesen: Ein trockener Einblick in die Wirklichkeit, eine bitterböse Abrechnung, auch eine Selbststilisierung. Es spricht für Adolf Winkelmanns Humor, dass er selbst von einem „erfundenen Tatsachenbericht“ spricht, der sich irgendwo zwischen realen und fiktiven Absurditäten aufhält.

Die Satire tropft nur so aus jeder Szene, als der Künstler Winkelmann (großartig naiv gespielt von Axel Holst) und sein Filmteam ihrer Heimatstadt für den neuen Kreativturm ein filmisches Kunstwerk schenken wollen, das über den Dächern der Stadt leuchten soll. So viel arbeitsame Kreativität ist der Stadtverwaltung und ihrem Senator (Andreas Beck) unheimlich, die vor allem eines will: Finanzkräftige Investoren mit inhaltsleeren Wortwolken („Europäischer Kreativwirtschaftspott“) ködern und den Ruhm dafür einstreichen. Während also Winkelmann ein immer fantastischer werdendes Abenteuer erlebt, mit goldenen Filmstreifen und einer Unterstadt, in der Dortmund gegen seinen Untergang kämpft, baut die Stadt seine Kunst mit einem Krankenkassengebäude zu.

Regisseur Winkelmann macht nicht den Fehler, nur schwarz-weiß zu (über)zeichnen: Den grauen Stadtverwaltern, die jeden Vorgang genehmigt wissen wollen und ihren Lieblingssatz („Das kommt jetzt nicht ins Protokoll“) vor sich hertragen, steht ein chaotisches, überfordertes, konzeptloses Filmteam gegenüber. Seiner Sozialisation trägt Winkelmann durch starke Bilder, die gelungene Verschränkung von Video und Spiel und die filmisch kurzen Szenen Rechnung.

„Winkelmanns Reise ins U“ funktioniert auf mehreren Ebenen: Für jene, die die Protagonisten rund um den U-Turm kennen, sind ihre Bühnenkarikaturen ein herrlich amüsantes Fressen (vor allem, weil einige im Publikum sitzen) – auch deutlich zugespitzter als in seinem Buch. Das Stück aber ist auch eine liebevoll-kritische Bespiegelung des Ruhrgebiets und seiner Selbstzweifel. Und es bietet sich an als satirische Parabel auf das Gipfeltreffen von Kultur und Verwaltung, Kreativität und Bürokratie, wie es sich überall ereignen könnte.

Die Vision für das U ist am Ende grausig: Wegen zu hoher Betriebskosten wird es für die Öffentlichkeit gesperrt und von dem sich mit klugen Dienstplänen befassenden „Amt für Angelegenheiten des Dortmunder U“ besetzt.

(Dieser Text ist zuerst in der Westfälischen Rundschau erschienen).

Foto: Birgit Hupfeld




„Naked Lenz“ frei nach Büchner: Nackte Jungs im Badezuber

Ich bin fast verzweifelt. Mehr mit mir selbst als durch das Erlebnis im Theater am Abend. Ich hadere mit mir selbst und doch bin ich gleichzeitig aufgeregt – inwendig Getös‘. Das wird sich legen. Bin ich der einzige, der da flau hinausgeht? Bin ich zu alt? Habe ich einen schlechten Tag erwischt?

Okay, man muss im Theaterraum stehen, muss manchmal gehen, um am Ort des Geschehens zu sein oder zu bleiben. Das ist nicht bequem. Aber der Mensch soll gefordert werden angesichts der Kunst.

Naked Lenz. Studio Schauspiel Dortmund. Lenz? Das ist doch Büchner. Ja, aber egal. Wir sehen René Pollesch für Dramaturgen. Sorry, das ist mir so rausgerutscht. In der Mitte der Bühne, umgeben von festgeschnallten Birkenzweigen und –stämmen – eine kleine Bude, schmal, weiß und eng, aus der die Schauspieler flitzen und wieder hinein und wieder hinaus. Text wird verabreicht, reichlich und schnell. Was? Okay, das nächste! Ein muskulöser Schauspieler im Kleidchen auf Pumps, eine Blondine in silbrigem Einteiler aus Mars-Produktion. Es geht ums Schreiben. „Schreibst Du für Geld?“. Gleißendes Licht. Man trinkt Cuba libre und braucht Schirmchen, die in rasantem Hin und Her von einem Schauspieler herangeschleppt werden. Slapstick? Nein, Speedy Gonzales. Runter gepitschte Sounds, dumpf und bedrohlich, nicht erkennbare Videobilder.

Break. Der erste nackte im Birkenwald. Es wird geschrien, was der Verständlichkeit des Textes nur hilft, wenn man weiter weg steht und nichts sieht. „Ein merkwürdiges Netz aus Sexualität, Spionage, Drogen und Literatur“, heißt es im Programm. Cronenberg und Büchner, wild gemixt, Realitäten oder Illusionen? Ich weiß es auch nicht. Ich stehe in der Nähe des Plastikbadezubers, umringt von Handtüchern auf dem Boden. Im Raum steht das Warndreieck „Achtung! Rutschgefahr!“. Der Bademeister steigt auf die Leiter und brüllt in ein Megaphon. Fünf oder sechs Personen im knietiefen Wasser. Und dann soll alles synchron laufen! Megaphongebrüll und Spaß im Bad. „Die haben mal richtig auf die Kacke gehauen“, sagt ein Zuschauer hinterher. Wem es Spaß macht, bitte. Es passiert noch so allerlei. Es wird geraucht in einer kleinen Stehpartyrunde. Rauchen – politisch unkorrekt. Dart im Nebenraum per Video – Pfeile treffen Goethe ohne Gesicht.

Video. Zweimal Dichter solo – George B. mit seinem „Lenz“  und William Lee mit seinem „Naked Lunch“. Die beteiligten des Hauses drumherum haben Freude. Insider- und Probenerfahrungslacher. Und dann sind die Jungs endlich alle nackt und hauen auf die Kacke, sind zusammen im Stehpool, sonnen sich breitbeinig auf dem Boden. „Bald melde ich mich bei „Wetten, dass“ sagt eine Zuschauerin, „Ich erkenne die Schauspieler in Dortmund an ihren Pimmeln.“

Die nackten Jungs machen Jux, sondern Texte ab, die weder ablenken, noch illustrieren, sind aber doch sicher wichtig, oder? Aber da so, so viel los ist, kommt man mit dem Zuhören nicht recht nach. Und es darf nicht fehlen, dass verbal gefickt wird. Nichts Deftiges darf fehlen. So ist sie, die Gesellschaft. Die junge Frau im Silbereinteiler wechselt in ein klassisches Theaterkleid, setzt sich auf die Bar und hält ein kleines Eiscremeschirmchen hoch. Der nackte Dichter sitzt neben ihr und raucht. Und dann das Büchner-Zitat aus „Leonce und Lena“: „Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile und – und alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken warum.“  Dunkelheit. Applaus. Stehende Ovationen – man steht ja ohnehin.

Der Großteil des Publikums ist offenbar sehr zufrieden. Ja, es wurde viel gearbeitet auf der Bühne. Schweiß, Tomatenblut am Arsch, Gebrüll, gebadet, gerannt, gefilmt. Ich fühle mich eher traurig. Wo ist mein Platz in der Gesellschaft? Muss ich den in meinem Alter noch finden, habe ich ihn längst verloren? Zu Hause wartet nicht einmal ein Hund, dem ich mein Leid klagen kann. Ich hab nicht verstanden, was man von mir will? Habe, ach, keine Theaterwissenschaft studiert. Bin auch vom vielen Schauen der letzten Jahrzehnte ausgeleiert. In „Leonce und Lena“ produziert König Peters ‚Denken‘ fortwährend Unsinn. Ich versuche hingegen, mein Hirn zu reinigen, schenke mir ein Glas Rotwein ein und schaue minutenlang auf einen Punkt.




Dortmunder Weihnachtsmärchen: Schrille Hexe, schönes Mädchen

Eine schrille Hexe auf knatterndem Moped, ein schönes Mädchen mit magischer Stimme und ein Held, der vom faulen Nichtsnutz zum glänzenden Retter wird – das sind die Zutaten, aus denen Regisseur und Autor Andreas Gruhn das Weihnachtsmärchen „Die schöne Wassilissa“ gebraut hat, mit dem das Dortmunder Kinder- und Jugendtheater seine jungen Zuschauer in diesem Winter im Schauspiel bezaubern will.

Am Anfang ist der Tod. Zu schwermütigem Gesang verabschiedet sich die kranke Mutter von ihrer geliebten Tochter Wassilissa (Désirée von Delft) und gibt ihr ein Püppchen, das sie fortan beschützen soll. Ein Geschenk, das das Mädchen bitter nötig hat: Denn die böse Stiefmutter (Johanna Weißert) und ihre verzogene Tochter (Jessica Maria Garbe) machen Wassilissa die Heimat zur Hölle.

Aschenputtel lässt grüßen – und auch andere berühmte Geschichten wie die von Hänsel und Gretel schwingen im Laufe des Abends mit. Schließlich gilt Alexander N. Afanassjew, dessen Märchen Andreas Gruhn als Inspiration dienten, als „russischer Grimm“, auch wenn er erst 40 Jahre nach den berühmten Gebrüdern geboren wurde.

Doch der Regisseur sorgt auch dafür, dass seine jungen Zuschauer in die spezifisch russische Fantasiewelt eintauchen: Neben der armen Wassilissa muss sich nämlich auch Ilja (Gabriel Rodriguez) bewähren, der sein ganzes Leben im Bett verbracht hat und sich für schwach und nutzlos hält – bis ein alter Mann (Sebastian Ennen) ihn aus den Federn wirft, weil er der Auserkorene ist, um die Welt von dem bösen Räuber Nachtigall (Andreas Ksienzyk) zu befreien. Logisch, dass sich Ilja auf seinem Weg Hals über Kopf in die schöne Wassilissa und ihren Gesang verliebt, die aber aus den Klauen der bösen Hexe Baba Jaga befreit werden muss…

Die Inszenierung braucht ein wenig Anlauf, um sich aus der erdigen Schwermütigkeit zu lösen, die zu Beginn dominiert. Dass dem Stück teils anzumerken ist, dass es aus verschiedenen Bausteinen besteht, mindert ein wenig den Fluss der Geschichte. Das aber gleichen andere Faktoren aus: Sowohl Musiker Michael Kessler mit seinen folkloristischen Liedern als auch die von Oliver Kostecka bis ins Detail stimmig ausgestatteten Figuren – mit Rüschenröcken, Flechtfrisuren, Pumphosen – und die herrliche Bühne mit Birkenwald sorgen für eine exotisch-spannende Atmosphäre. Die wird von dem beseelt spielenden Ensemble aufrecht erhalten: „Die Kämpfe waren toll“, sind sich Aaron (5) und Lennard (6) hinterher einig. Und Leonie (5) ist froh, dass die Bösen „alle eingefangen worden sind.“

Umwerfend ist allerdings allen voran Rainer Kleinespel: In seinem Kostüm zwischen Biker, Nina Hagen und Campino wirft er sich schrill quiekend mit solcher Lust in den Irrsinn der Baba Jaga, dass die Figur am Ende nicht nur bei Julia (7) bestens angekommen ist: „Die war so toll“ ist ein Kompliment, das Hexen sicher nicht allzu oft hören.




Café zur Sehnsucht – Dortmund zeigt Francesco Cavallis Oper „L’Eliogabalo“

Eliogabalo (Christoph Strehl, M.) lässt sich von den Intriganten Zotico (Hannes Brock) und Lenia (Elzbieta Ardam) beraten. Foto: Jauk

Es war kein Geringerer als Claudio Monteverdi, der den 14jährigen Francesco Cavalli 1616 als Sänger an den Markusdom von Venedig holte. Und dieser junge Eleve wurde im Laufe des Jahrhunderts zum wohl berühmtesten venezianischen Opernkomponisten. „La Calisto“ oder „La Didone“ entpuppten sich als Glanzlichter der Spätrenaissance, mit Wirkung weit über Italien hinaus.

Cavalli hatte indes auch das Glück des Tüchtigen. Denn sein Aufstieg in Venedig ging einher mit einem Boom an Theatergründungen. 1637 eröffnete das Teatro San Cassiano, bald gab es bis zu sieben Spielstätten. Die Gattung Oper, ganz jung noch, gewann an Statur. Und Cavalli war einer ihrer wichtigsten Baumeister. Sein spätes Bühnenwerk allerdings, „L’Eliogabalo“, 1667 entstanden, sollte nicht mehr gefallen. Der Geschmack des Publikums wechselte schnell, das Werk geriet in Vergessenheit.

Es ist den Streitern für die „Historische Aufführungspraxis“ zu danken, dass uns Cavallis Opern erneut ins Bewusstsein gerückt sind. „L’Eliogabalo“ etwa brachte René Jacobs 2004 in Innsbruck heraus. Und nun hat sich das Theater Dortmund des Dreiakters um den dekadenten, lüsternen römischen Imperator Marcus Aurelius Antoninus (Heliogabal) angenommen. Frisch musiziert, in einer wunderbar unaufgeregten, bisweilen komödiantischen Inszenierung.

Die Geschichte über diesen Kaiser, der sich als Jugendlicher noch an die Macht putschte und mit 18 schon seine Mörder fand, hat Cavalli nicht als blutrünstiges Drama vertont, sondern als sorgsam gestaltete Abfolge von Gefühlsschwankungen und seelischen Nöten. Die Personen und Paare, die um den Sonnengleichen tanzen wie Gestirne, schwanken zwischen Liebe und Eifersucht, Loyalität und Abscheu.

Mit der Einführung eines Intrigantenpaars, eines buffonesken darstellerischen Elements also, begründete der Komponist zudem eine Tradition, die sich noch in Richard Strauss’ „Rosenkavalier“ wiederfindet. Als Buffo-Charakter mit philosophischen Anwandlungen ist darüber hinaus die Figur des Dieners Nerbulone zu sehen (den der Bassist Christian Sist herzerfrischend spielt und nuancenreich singt) – ein Typus, der seine Hoch-Zeit vor allem in den Opern Rossinis fand.

Gleichwohl hat Cavalli die kleinen Dramen der Hauptpersonen in den Vordergrund gestellt, die Regisseurin Katharina Thoma eindringlich nachzeichnet. Moderne Kostüme (Irina Bartels) symbolisieren dabei, dass die im Stück verhandelten Themen allgemeingültig sind. Und wenn auf der eigentlich spärlich möblierten Bühne, mit vielen hohen Portalen höfische Größe darstellend, eine Drehtür in eine kärglich bestuhlte Gaststätte führt (Ausstattung: Stefan Hageneier), dann entsteht vor unseren Augen das Café zur großen Sehnsucht.

Liebe und Lamento: Giuliano (Ileana Mateescu, l.) und Eritea (Tamara Weimerich). Foto: Jauk

Es ist in dieser leisen, dennoch berührenden Inszenierung wohl nur konsequent, dass Eliogabalo (markant gesungen von Christoph Strehl) sich nicht wie ein Tier, sondern eher in Don-Giovanni-Manier den Frauen (bisweilen auch den jungen Knaben) zuwendet. Beraten von den Intriganten Lenia/Zotico (Elzbieta Ardam und Hannes Brock als Urkomödianten) setzt er auf List und Tücke. Ein bisschen kläglich wirkt er dabei, alles andere als souverän.

Die Frauen, Eritea (Tamara Weimerich) zunächst, dann auch Flavia Gemmira (Eleonore Marguerre), wanken dennoch zwischen Hingabe an den Herrscher (mit der Aussicht, Kaiserin zu werden) und Treue zu ihren Liebsten. In der Mischung von rezitativischen Ausbrüchen, zweifelndem Lamentoso sowie inniger Liebeserklärung singen beide betörend schön und differenziert, wie auch ihre Partner John Zuckerman (des Kaisers Cousin Alessandro, Flavias Verlobter) und Ileana Mateescu (des Herrschers 1. Prätorianer, mit Eritea verlobt).

Dass selbst eine relativ kleine Rolle wie die der Atilia (unglücklich verliebt in Alessandro) mit Anke Briegel vorzüglich besetzt ist, gibt dem Dortmunder Intendanten, Jens-Daniel Herzog, in einem Punkt schon jetzt recht: Das beinahe durchweg neu verpflichtete Ensemble hat erhebliche Qualität. Die Dortmunder Philharmoniker wiederum, in kammermusikalischer Besetzung, um Cembalo/Organum (Andreas Küppers) und Theorbe/Barockguitarre (Johannes Vogt) klangfarblich bereichert, liefern unter der Leitung des Alte-Musik-Experten Fausto Nardi ein großartiges Beispiel feiner Gestaltung und rhythmischer Frische.

Eine durchweg gelungene Produktion also, deren Premiere aber leider vor halbvollem Haus stattfindet. Schon jetzt dürfte dem neuen Intendanten klar sein, wie viel es zur Publikumsbindung noch bedarf.

Infos zur Aufführung/Termine/Karten:

http://www.theaterdo.de/event.php?evt_id=1314&sid=4c1beb1c05cfcb34a811d02f849ce3de

 

 

 




„Merlin“ – Isaac Albéniz‘ wirrer Opernschinken in Gelsenkirchen

König Arthur (Lars-Oliver Rühl) hält das Schwert des Mächtigen. Foto:MiR/Beu

Endlich mal keine „Carmen“, „Traviata“ oder „Zauberflöte“ – allesamt Opernhits, die landauf, landab heruntergenudelt werden. Dafür bekommen wir „Merlin“. Das ist der Zauberer aus der Artus-Sage. Das ist hehrer Stoff, große Oper, ja großes Kino. Da hat sich schon Richard Wagner prächtig bedient, haben sich unzählige Literaten, später Filmemacher inspirieren lassen.

„Merlin“ also. Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) lädt zur Deutschen Erstaufführung einer Oper, die indes schon über 100 Jahre alt ist. Sie stammt von dem Spanier Isaac Albéniz. Geschrieben auf das Libretto eines reichen Briten namens Francis Burdett Money Coutts. Ein exzentrischer Kauz und glühender Wagnerianer, der sich im wahnhaften Wetteifern mit dem Bayreuther Meister an einer Artus-Trilogie abarbeitete.

Albéniz wiederum, als meisterlicher Pianist in Europa eine Größe, als Komponist vor allem mit Klavierwerken glänzend, wollte in den 1890er Jahren die Oper für sich entdecken. Vielleicht war auch da ein wenig Geltungsbedürfnis im Spiel, der unbedingte Wille, als Spanier im Konzert des mitteleuropäischen Musikdramas mitzumischen. In London jedenfalls fanden Albéniz  und der „Literat“ zusammen. Leider: Denn dieser Begegnung bedurfte es in der Musikgeschichte nun wirklich nicht.

Das Ergebnis nämlich war „Merlin“: schrecklich unbeholfen im dramaturgischen Verlauf, unsäglich das Libretto, krude und wüst in der musikalischen Gestaltung. Albéniz serviert uns Wagner light in Verbindung mit übersteigertem Verismo. Eine Melange, die oft in pur Plakativem mündet. Offenbar hatte der Komponist wenig Gespür dafür, die Szenerie klanglich differenziert zu zeichnen. „Merlin“ ist ein wirrer „Schinken“, der an Richard Strauss’ wenig später erschienene „Salome“ nicht mal kratzen kann.

Trotz allem hat sich das MiR an die Ausgrabung gewagt, acht Jahre nach der Uraufführung in Madrid. Hat das Werk mutig eingekürzt auf drei konzentriert gefasste Akte. Und hat sich an diesem „Schatz“ gehörig verhoben. Regisseur Roland Schwab präsentiert Archetypen, keine Charaktere. Ausstatter Frank Fellmann zeigt im wabernden Nebel oder mystischen Blau eine Straße ins Nirgendwo, einen gestrandeten Wagen. Merke: Die Sehnsucht nach dem Sagenhaften ist auch der Moderne nicht fremd.

Blonder Racheengel: Nivian (Petra Schmidt) tötet Merlin (Björn Waag). Foto: MiR/Beu

Die Ritter kommen hingegen ritterlich daher (Kostüme: Renée Listerdal), wenn Artus, wie ein tumber Siegfried, das Schwert aus dem Stein zieht und König wird. Nach dem Krieg mit den Anhängern der grundbösen, verräterischen Morgan sehen wir aufgespießte Köpfe. Im Schlussakt plötzlich Merlins Ende, blutig gerichtet von seiner Sklavin Nivian.

Wahn, überall Wahn. Die Regie hat den Figuren vor allem aufgesetzte, exaltierte Posen verordnet. Bjørn Waag (Merlin), Lars-Oliver Rühl (Arthur) und Majken Bjerno (Morgan) singen überwiegend am oberen Ende der Ausdrucksskala, was den Stimmen nicht bekommt.  Einzig Petra Schmidt (Nivian) verströmt bisweilen lyrische Wärme in differenzierter Dynamik. Dirigent Heiko Mathias Förster wiederum führt Chor und Neue Philharmonie Westfalen einigermaßen unfallfrei durch die wüste Partitur.

Am Ende haben wir gegen zehn Uhr die Oper verlassen und wähnen uns um die Mitternacht. Wir hören „Iberia“ – wunderbarer Albéniz.

 




Theater auf Feldforschung und im Verschnittversuch

Zwei kleine Theatererscheinungen der letzte Tage, ein „Stück“ und ein „Tanzstück“, in Dortmund und in Köln gezeigt, drängen zum Nachdenken über den Nachwuchs.

Beginnen wir in Köln. Auf der „Bühne der Kulturen“ sieht man „Aus Drei mach Eins“, ein Versuch, drei kleine Tanzstücke zu einem abendfüllenden zu verknoten. Es ist ein Versuch und als solcher wird er auch vermittelt. Die Reihe „Next Generation“ sagt uns, hier sieht man was, was noch Zeit braucht, aber kommen wird. Aus dem Solo „Kehrseite“ von und mit Annekatrin Kiesel, dem Duo „Human inside“ mit Cornelia Trümper und Arthur Schopa und dem Musik/Tanz-Duo „Subcontinenscious“ mit Photini Meletiadis und Laurenz Gemmer wurde ein Abend zusammengesetzt. Muss nicht sein, aber einen Versuch war es wert.

Die einzelnen Konzepte passen nur scheinbar zusammen, behindern sich aber eher, werfen Fragen auf, die nicht aufkommen sollten. Im Zentrum steht das fast autistische Verhältnis des Tänzers zu seiner Musik und dem Klavier, das eine zwanghafte Liaison mit der Bewegungskünstlerin eingeht. Da sieht man, welch ein minimalistischer, aber starker Abend es hätte sein können. So war es ein Tanzabend mit konventionellen Intermezzi. Immerhin.

In Dortmund zeigte das 99-Cent-Theater aus Bochum ein Gastspiel, das sich – in veränderten Konstellationen und Inhalten – durch das Ruhrgebiet zieht, mal erarbeitet nach Beobachtungen in Essen, mal in Duisburg. Hier im Theater im Depot bietet die junge Truppe ihre „Eintagsfliegen“, einer von ihnen so genannten Feldforschung folgend. Diese Feldforschungsserien sind eine Modeerscheinung. Man hat sich am Dortmunder Flughafen aufgehalten. Die Beobachtungen dort sind nun als Konzentrat auf der Bühne zu besichtigen. Da  sieht man Stuhlsitzgruppen, einen Koffer, eine Erdkugel, die von der Decke hängt. Drei Akteure kommen und gehen, dann wird Text abgesondert, nicht viel, aber passgenau. Zugegeben, die Texte von Elisa Müller (über das Fliegen an sich) haben eine naiv-schöne Färbung.

Ansonsten ist das alles sehr dünn. Knappe 40 Minuten dauert der Abend. Inhalt für gerade mal fünf Minuten kann man nicht länger ziehen. Das war schon hörgerecht. Warum man Mikros für die kleinen Ergebnisse großer Forschung benutzt, könnte dem Verfremdungseffekt geschuldet sein, ist aber eher befremdlich. Auch hier ein Versuch, der allerdings die Bühnengröße von ca. 12 mal 8 Metern nicht schafft, nicht in 40 Minuten, nicht so dünn angewärmt.




Das Sexmonster greift an

Ob eine Dreiecksbeziehung mit Leiche, Blutorgien oder das kampfbereite Hirn von Hitler – der als Trash-Papst gefeierte Arthouse-Horrorfilmregisseur Jörg Buttgereit hat eine Vorliebe für Themen, die unsere Gesellschaft lieber verdrängen würde. Der Dortmunder Schauspieldirektor Kay Voges hat diesen Grenzgänger engagiert, mit dem Double-Feature „Green Frankenstein“ und „Sexmonster“ die Studio-Saison zu eröffnen. Mut, der sich gelohnt hat.

Haltet die Moral hoch! Foto: Birgit Hupfeld

Haltet die Moral hoch! Foto: Birgit Hupfeld

Jörg Buttgereit hat eigentlich Unmögliches möglich gemacht: Trash-Kultur im Theater, Film auf der Bühne, japanischer Monsterfilm ohne Monster, schmieriges Zitat der Sexploitation-Filme aus den 70ern ohne Nacktheit – der Regisseur bricht in jeder Hinsicht mit Erwartungen und Konventionen. Und hat stattdessen ein Konzept entwickelt, das so folgerichtig wie unterhaltsam ist, dass es sich auf weitere Theaterabende übertragen ließe:

Ausgangspunkt für die beiden Stücke „Green Frankenstein“ und „Sexmonster“ sind von Buttgereit geschriebene Hörspiele. Die Idee des „Kopfkinos“ setzt er konsequent um, indem er die Schauspieler in einem schmuddeligen Bahnhofskino agieren lässt, ständig wechselnd zwischen Zuschauer und Figur, mit Mikrofonen in der Hand und Text, der auf der Leinwand mitläuft.

So spiegelt Buttgereit nicht nur Zuschauer mit Zuschauern. Er sorgt auch dafür, dass das, was wir sehen, hauptsächlich aus uns selbst kommt.

Und das ist bei den verhandelten Themen eine starke Grundsituation: „Green Frankenstein“ erzählt von einem wütenden Monster in Hiroshima, das die Menschen vernichten will, weil sie das ökologische Gleichgewicht gefährden. „Sexmonster“ entführt in das zwielichtige New York, wo der Außenseiter Adam seine Chance wittert, als ihm der riesige Penis seines verstorbenen Freundes transplantiert wird. Doch anstelle eines erfolgreichen Liebhabers wird er zum triebgesteuerten Sexmonster.

Köstlich, wie die Schauspieler – Sebastian Graf, Bettina Lieder, Uwe Schmieder und Annika Meier, Christoph Jöde– sich in diese Abenteuer stürzen, die schrägsten mimischen Varianten testend, musikalisch brillierend, zur Beatbox mutierend, jede Situationskomik auskostend. Der Clou ist die Live-Performance des Geräuschemachers Dieter Hebben: Als er bei der Penistransplantation eine Porreestange ansägt, winden sich die männlichen Zuschauer.

So schräg, witzig, ungewöhnlich ist dieses dennoch cineastische Erlebnis, dass sich das Publikum schier ausschüttet vor Lachen. Unter all dem Trash und der Komik aber versteckt Buttgereit einen überraschend moralischen Subtext: Der Mensch, der sich gegen die Natur stellt und als Gott aufspielt, ist schließlich ein altes (Film)-Thema.

(Der Artikel stand zuerst in der Westfälischen Rundschau)

Teaserfoto: Birgit Hupfeld




Rosel Zech ist tot – Große Schauspielkunst ohne Eitelkeit

69 Jahre wurde sie alt – Rosel Zech lebt nicht mehr. Ich kann meinen Eindruck von ihr nur so zusammenfassen: Diese Frau war so ungemein gut, dass sie die branchentypischen Eitelkeiten völlig missachten konnte – so etwa wie Michael Degen als männliches Gegenstück.

Rainer Werner Fassbinder war in ihrer Bewertung das einzige Genie, dem sie in ihrem Berufsleben begegnete. Irgendwie typisch für sie, dass sie ausgerechnet diesen drallen Typen dergestalt hochhob, war sie doch beruflich unter anderem auch auf Peter Zadek oder Luc Bondy und ähnliche Größen getroffen.

Zwei Sprachen – außer bestem Theatersprech – nannte sich auf ihrer Homepage: Sie sei des Englischen mächtig und beherrsche als Dialekt den der Berliner, den ihrer Heimat. Dort wurde sie als Roselie Helga Lina Zech, Kind eines Binnenschifferpaares geboren. In Hoya bei Bremen wuchs sie auf, beschloss mit 16 Lenzen Schauspielerin zu werden. Sie ging an die Max-Reinhardt-Schauspielschule und begann bald darauf eine beispiellose, wenn auch im Wesentlichen leise Karriere. Rosel Zech war eben besonders gut in ihrem Beruf.

So war es keineswegs ein Ausrutscher, wenn sie beispielsweise mit Dieter Hallervorden – heute würde man sagen – Comedy machte. Oder als würdige Oberin in beliebten Fernsehserien zu sehen war. Das machte sie ebenso professionell wie Theater oder bei Fassbinder die Veronika Voss zu geben.

Roselie Helga Lina Zech wird fehlen.




Der Dirigent im kalten Bachwasser

Zum Thema Sergiu Celibidache läuft in der Westfälischen Rundschau derzeit eine interessante Sonderseite „Kultur extra“. Dazu hier eine erweiternde Anekdote:

Sergiu Celibidache

Als nach dem Ende des Krieges 1945 in den Großstädten des Rhein-Ruhrgebietes die Opern und Konzertstätten durch Bomben und Brände zerstört waren, mussten Theaterensemble und Orchester auf umliegende Kleinstädte ausweichen.

So kam es, dass in der Industriegemeinde Milspe (gehört seit 1949 zu Ennepetal) das ehemalige „Gefolgschaftshaus“ der Firma ABC („Spax“-Schrauben) unter dem neuen Namen „Haus der Kunst“ ein vielbesuchter Veranstaltungsort wurde. Mehr als 40 000 Besucher kamen in den ersten beiden Nachkriegsjahren, um Schauspieler aus Wuppertal, Düsseldorf oder Essen zu sehen.

Zu den „Gastspielern“ gehörten mehrfach auch die Berliner Philharmoniker. Ihr Dirigent war Sergiu Celibidache, der vor seinem ersten Auftritt an einem warmen Sommerabend den Wunsch nach einem erfrischenden Bad im Freien äußerte. Man führte ihn zu einem nahen Hammerteich, den auch die Kinder und Jugendlichen des Dorfes zum Schwimmen nutzten. Natürlich war das Bachwasser ziemlich kalt, aber Celibidache war zufrieden und schritt am Abend erfrischt zum Dirigat.




Ein Blick in den Bochumer Herbst

Im Schauspielhaus Bochum herrscht jetzt Ruhe, doch man kann schon eine Vorschau auf den Herbst bekommen.

Deshalb hier eine ganz sachliche und nicht vollständige Aufstellung dessen, was auf uns zukommt:

Ab 8. September Vorverkauf für Oktober
16. September Nachtflohmarkt
24. September Spielzeit-Eröffnungsfest
6. Oktober Premiere „Drei Schwestern“ (Tschechov), auch am 12., 20. und 29. Oktober
8. Oktober „Die Dreigroschenoper“ (Brecht/Weill), auch am 16. und 22. Oktober
9. Oktober „A Tribute to Johnny Cash“
13. und 14. Oktober Bochumer Symphoniker
15. Oktober Premiere Tanztheater „Der verlorene Drache“ (Airaudo), auch am 20. und 30. Oktober
15. Oktober „Amerika“ (Kafka)
16. Oktober „Die Jungfrau von Orleans“ (Schiller)
21. Oktober „Haus am See“ (Finger)
23. Oktober „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (Brecht)
28. Oktober „Woyzeck“ (Büchner) und Leseabend Tschechov mit Rolf Boysen
30. Oktober „Faust“ (Goethe)
1. November „Die Ratten“ Hauptmann.

Ich hoffe, dass ich einige Mitmenschen neugierig machen konnte.




Tretet ein, denn auch hier sind Götter!

Götterverdämlichung in alter Fabrik

Im Freistaat Köln gibt’s was Neues, eine Fabrik, in der gespielt wird. Es ist angerichtet. Sekt, Wein, Chic. Freundliche Schönheiten überall. Premierenatmosphäre. Viele Zuschauer kommen per Taxi über den Rhein nach Deutz in die Deutz-Mülheimer Straße. Und was ich dann sehe, ist eine Beschreibung wert, mehr nicht. Aber zunächst stehe ich vor dem Eingang und rauche wie früher die Schornsteine der Industrie.

„raum 13“ nennt sich das, was sich hier in einer alten Maschinenfabrik, derzeit einrichtet. Raum für Kunst in industriellem Ambiente, das, was man sich nur wünschen kann als kreativer Schaffender von flüchtigen Werken der darstellenden Kunst. Erstaunlich, dass es im Ruhrgebiet, einer Region mit hunderten aufgelassener Industriegebäude, kaum Orte gibt, die genau diesem Zweck dienen (von PACT Zollverein mal abgesehen) und entsprechende Großräume haben.

In Köln wird schon seit Jahren nach geeigneten Tanzräumen gesucht. Immer wieder wird was ausprobiert. Der Wunsch ist verständlich, denn es gibt kaum irgendwo in der Republik so viele Bewegungskünstler wie eben im Zentrum der Medien, Colonia.
Am Samstag (18. Juni) fand die Uraufführung von „Ich bin ihr“ statt – mit dem inhaltsgebenden Untertitel: „Tretet ein, denn auch hier sind Götter!“ (Oder umgekehrt?) Man will ja nicht ohne Anspruch in die Zukunft wandeln.
Alles ist neu im Alten. Die Website ist demnach noch unvollständig, weist auf wilde Zeiten hin: Es gibt also bald den „Polilog“ mit Polisbox, Suppenküche, Tischgesellschaft und – vor allem – subversiven konspirativen Treffen. Die „junge Szene“, „Alles was tanzt“ (als Marke und Veranstaltung schon vorhanden und mit Recht hochgelobt) und eben raum 13.

Der Versuch, für Köln ein Tanzhaus zu errichten, stieß 2009 auf konkretes Interesse bei der Politik: „Die Stadt Köln beschloss 2009, ein Tanzhaus zu etablieren und zu unterhalten. Die Tanzszene sollte einen festen Ort erhalten, der als Spielstätte, Proberaum, Unterrichtsmöglichkeit und als Treff- und Agitationspunkt eine Heimat für den Tanz in Köln sein sollte. Mit der Anmietung von zwei Hallen auf dem E-Werksgelände in Köln-Mülheim, hat das Kulturamt im Mai 2009 die Räumlichkeiten festgelegt. Nach einem Ideenwettbewerb übertrug das Kulturamt die Federführung für die Interimsnutzung an raum13 Theater Fraktion Köln. Am 30.07. 2010 wurde die Interims-Nutzung des Tanzhauses wie vereinbart aber wieder beendet. Mit der Entscheidung des Rates der Stadt Köln vom 7. Oktober 2010, für den Doppelhaushalt 2010/2011 keine Haushaltsmittel mehr für ein Tanzhaus in Köln einzuplanen, ist die Einstellung des Spielbetriebes nun auch endgültig.“

Foyer

Das „Deutzer Zentralwerk der schönen Künste“ hat nun seine Pforten geöffnet. Der Foyerbereich ist herausgeputzt und leuchtet. Man meint, man beträte die Dependance des Radial Systems in Berlin. Es wirkt ein wenig überchic. Man erhält weiße Überzieher, damit man nicht mit Straßenschuhen über den Tanzteppich latscht. Im Hausflur trifft man auf Monitore mit sprechenden Köpfen, die man aber nicht versteht. Im 2. Stock dann Sequenz 1 des Stückes, das die Jungfernhaut der Unternehmung öffnen soll.

Es geht also um Rituale, um Religion, um Götter, um Sinnsuche. Tänzerinnen und Tänzer reden durcheinander in ihren Sprachen. Babylonien also. War da nicht was in den 90ern? Aber gut, alles kommt wieder. Dann wird gesungen: Schlaflieder und anderes. Ich höre das Wort „Lalelu“ und weiß: Hier muss ich durch. Hier ist Ambition angesagt. Die Kostüme der Tanzmenschen sind wie das Foyer: chic, eine Mischung aus Poesie und Erotik, Unterwäsche mit Applikationen, rot, weiß, Kostüme eben. Man lockt das Publikum in einen Flur. Wir marschieren durch ein Treppenhaus, hinaus ins Freie. Dort: Eine Bühne. Am Boden liegende Trommlerinnen und Trommler, in der Mitte eine Frau mit Brautanmutung. Unschuld also. Ein schönes Bild, aber es beginnt wieder, sich zu bewegen. Es wird Text abgesondert. Es wird getrommelt. Wir – die Zuschauer – ziehen mit, enden dann auf Sitzplätzen in einer Halle mit sehr tiefer Bühne. Wunderbar. „Was man da machen könnte.“ Ich erwische mich beim Denken. Live-Musik dann zu verschiedenen Bildern, die serviert werden. Schlagwerk, Gitarre, Computer, Geige.

Götterbraut

Ich kann mich anlehnen. Gott sei Dank. Die Band singt und spielt „My sweet Lord“ von George Harrison. Ich stöhne laut auf. Peinlich. Auf der Bühne reißen die Tänzerinnen ihre Münder auf, starren religiös an die Decke. Ich will fliehen, aber es geht nicht. Ich müsste über die Bühne, will die Ästhetik nicht zerstören, aus dem das Ganze besteht. Dann überfällt mich wieder Text. Chorisch wird bekundet, dass man zum Beispiel alle –ismen anerkennt. „Wir anerkennen Kommunismus, Hinduismus, Kapitalismus….“ Sie anerkennen auch Marilyn Monroe und Charles Manson. Was? Ohlala. Sehr brisant. Den Mörder von Sharon Tate, den bärtigen Sektenführer und Vielfachmörder. Nun gut. Dann stehen alle da und rauchen. Auf der Bühne. Alle. Ich bin schockiert und fühle mich provoziert. Tatsächlich folgt dann eine Folge von Tanzszenen ohne Text. Werde ich doch noch mitgenommen in die Welt der Emotionen und körperlicher Eindringlichkeit? Ich sende eine SMS, um mich etwas zu befreien. Das Ende naht und ich denke an das Wort „Erlösung“. Hat es doch Wirkung? Kann sein, dass ich auf dem falschen Fuß erwischt wurde, der immer noch in Beetmull eingewickelt ist, um nichts zu verschmutzen.

Aber vielleicht war dies doch die Abschlusspräsentation einer Themenwoche der örtlichen Waldorfschule oder eines Internats? Vielleicht haben sich alle aber auch inhaltlich überfrachtet, sodass das Resultat der innerlichen Auseinandersetzung äußerlich keine Entsprechung mehr finden konnte? Die Tänzerinnen und Tänzer haben ihre Sache so gut gemacht, wie es geplant war, wie es die dafür Verantwortlichen in Szene setzen wollte. Sie sind in die Falle getappt. Und ich bin erlöst, werde der Sekte nicht beitreten. Ist mir zu chic.

Ich brause über die A1 zurück, ins immer noch schmutz-behaftete Ruhrgebiet, schmeiße eine Heavy-Metal CD in den Player, singe laut mit und suche Gott am dunklen Himmel, der mir zuzwinkert.

Der Erste Tag:
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.
Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war; Gott schied das Licht von der Finsternis, und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend, und es wurde Morgen: der erste Tag.

Erst danach, also nach dem Anfang, kam der Rest und das macht Hoffnung auf die Zukunft, auch von raum13




Ruhrfestspiele 2011 – ein Rückblick

Noch bevor die Abschlusskonzerte auf dem Recklinghäuser Hügel gespielt waren, verkündete Intendant Frank Hoffmann die frohe Pfingstbotschaft: Die Ruhrfestspiele haben sich selbst und ihren eigenen Besucherrekord von 2009 übertroffen. 212 Aufführungen, mehr als 81.000 Besucher und eine Auslastung von über 91 % zählte das diesjährige Festival. Einmal mehr bewies der Luxemburger Hoffmann damit, dass er der Tradition und dem Anspruch der Ruhrfestpsiele gerecht wird und ihm gelingt, was auf dem Hügel nicht immer selbstverständlich war: Mit einem anspruchsvollen Programm auch in der Breite erfolgreich zu sein. Folgerichtig wurde auch bereits am vergangenen Donnerstag bekannt gegeben: der Vertrag des Luxemburgers Hoffmann ist bis 2015 verlängert.

Was bleibt aus diesem Jahr, Jahr eins nach der Kulturhauptstadt? Stürmische Begeisterung ebenso wie kontroverse Diskussion. Große Namen neben unbekannteren Ensembles, Experimente von provokant gelungen bis arrogant daneben. Der erbrachte Beweis, dass das Werk Schillers – diesjährig im Mittelpunkt stehend – „Brücken in unsere Zeit schlägt“ und Schillers „Nachdenken über die Zunkunft…auch unsere Gegenwart erschließt“. Die Schiller-Adaptionen – u.a. Don Carlos, Kabale und Liebe und als würdiges Finale der radikal gekürzte Klassiker Maria Stuart – wurden durchweg mit Begeisterung aufgenommen. Einzig die Räuber stellten so manchen Zuschauer vor die Frage, ob die Inszenierung eher drastisch oder doch genial furios zu nennen war. Leserbriefschlachten in der Lokalzeitung gaben davon beredte Kunde. Worauf blicken wir noch zurück?

Auf einen grandiosen John Malkovich in einer eher behäbigen Inszenierung der Giacomo Variations. Auf einen experimentellen Ben Becker, der die vor Jahren mit Endstation Sehnsucht geschlagene Scharte auswetzte und düster melancholisch sein Publikum mit dem Todesduell von John Donne und den Elegien von Joseph Brodsky bannte und begeisterte. Becker, der nur eine Woche später gemeinsam mit David Bennent und der großartigen Angela Schmid in „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ einen weiteren Erfolg verbuchte. Nicht wenige feierten diese Inszenierung als die beste der Festspiele.

Kontroversen und Ablehnung dagegen bei „Paris, Texas“. Eine sehr frei assozierte Adaption nach dem Film von Wim Wenders. Comics und Pin-Ups auf der Bühne, schrill, laut und disharmonisch. Bis heute fragt sich so mancher, ob er nun eine Parodie verkannt oder doch einer Aneinanderreihung der Untugenden modernen Regietheaters beigewohnt habe.

Nicht unerwähnt bleiben sollten kleinere Juwelen wie der Chansonabend von Angela Winkler, die sich als Bühne für die Premiere ihres ersten Studio-Albums ausdrücklich die Recklinghäuser gewünscht hatte. Sowie die Lesungen, welche eine eigene, gute neue Tradition bilden. Weniger Resonanz hatte diesjährig das Fringe Festival. Je mehr es sich zum eigenständigen Festival entwickelt, desto mehr gerät es aber auch zum Nischenprogramm als zur gewünschten Einrahmung.

Fest steht, die Recklinghäuser lieben ihr Festival. Zu Recht sind sie nicht nur stolz auf das Programm, sondern auch auf die einzigartige Stimmung auf und um den Hügel. Die mit den Jahren sehr stimmungsvoll entwickelte Gastronomie trägt das Ihrige dazu bei, die rechte „A world stage“ Festival-Atmosphäre zu entwickeln.

Es war Frank Hoffmanns Anspruch, die Ruhrfestspiele 2011 mögen „in die Zeit gefallen“ wie „Schiller der Wirklichkeit ins Gesicht sehen“. Er selber sprach in abschließenden Worten leicht euphemistisch von „der neuen Recklinghäuser Diskussionskultur“, die Resonanz und die Kritiken gleichwohl gaben ihm Recht: Hoffmann ist seinem Anspruch gerecht geworden. Recklinghausen freut sich auf die Festspiele 2012.

( Zitate aus Frank Hoffmanns Vorwort im Booklet zu den Festspielen )