Man fühlt schon, wie der Winter naht – Tschechows „Kirschgarten“ im Theater Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. „Unser Leben ist verdammt dumm“, denn: „Wir spielen uns voreinander auf.“ Anton Tschechows Drama „Der Kirschgarten“ enthält Sätze, von denen sich mancher ertappt fühlen müßte. In Oberhausen hat sich nun Thomas Goritzki (Regie) dem modernen Klassiker genähert.

Die Gutsbesitzerin Ranevskaja (Elenor Holder) kehrt, von Leben und Liebe enttäuscht, nach langen Jahren aus Frankreich ins ach so rückständige Rußland zurück. Doch auch dort ist nichts mehr so, wie es war. Ihr Verwalter Lopachin (Andrea Bettini), aufgewachsen noch als Sohn eines Leibeigenen, zieht inzwischen die geschäftlichen Fäden. Er stellt die Dame von Welt vor die Wahl: Entweder, die Ranevskaja lasse ihre überschuldeten Güter freiwillig parzellieren und stückweise an Sommerfrischler verkaufen, oder das Ganze müsse in einem Rutsch zwangsversteigert werden. Jedenfalls habe man den ökonomisch nutzlosen Kirschgarten in Kürze abzuholzen. Geld kommt, Schönheit stirbt. Und mit ihr die Erinnerung an glücklichere Zeiten im Garten.

Die langen Momente des Stillstands

Das Stück zeigt die langen Momente des Stillstands vor dem Vergehen. Die Zeit zieht vorüber, aber sie will nicht wirklich voran. Die bittere Wahrheit wollen diese Leute nicht wissen. Sie warten, aber worauf denn eigentlich noch? Man redet, ißt, trinkt, träumt und tanzt ein wenig und – spielt sich voreinander auf.

In der Oberhausener Inszenierung äußert sich die Hilflosigkeit der Menschen angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen nicht zuletzt in Umstandskrämerei bis zum Slapstick. Anfangs scheint es, als werde hier das Stück verjuxt, wenn etwa einer um den Tisch herumgeht und ungeschickt alle Stühle umwirft. Doch dabei bleibt es nicht: Es ist mehr zum Weinen. Denn derlei Komik ist nur vordergründig, dahinter lauert ersichtlich das Menschenweh, lauern Melancholie, Überdruß und ein Hauch von Hysterie. Den Nuancen und Zwischentönen derart gemischter Gefühle spürt man in Oberhausen mit staunenswerter Trennschärfe nach.

Die Regie bleibt variabel in der Staffelung der zahlreichen Gruppenszenen (kein leichtes Handwerk, fürwahr). Darsteller, die gerade keinen Text sprechen, stehen also nicht einfach abwartend herum, sondern spielen mimisch und gestisch weiter. Immer wieder gelingen Augenblicke von solcher Eindringlichkeit, daß man die Lebenswege der Figuren – gleichsam verlängert in die imaginäre Zeit vor und nach dem Stück – plastisch vor sich sieht.

Man glaubt zu wissen, was aus ihnen wird: aus dem ewigen, dem Selbstmord zugeneigten Pechvogel Epichodov (Jeffrey R. Zach); aus der zwitschernd munteren Tochter Anja (Simone Kabst); aus der altjüngferlichen, streng gewissenhaften Pflegetochter Varja (Kornelia Lüdorf); aus dem nervösen Zimmermädchen Dunjasa (Sabine Maria Reiß); aus dem Studenten Trofimov (Mark Oliver Bögel), der von Menschenstolz palavert und hochmütig „über der Liebe stehen“ will – und worauf es mit all den anderen hinauslaufen könnte.

Jahreszeiten, Seelenstimmungen: Das Stück, das im Frühling beginnt, endet im Herbst. Und man spürt schon, wie der Winter naht…

Nächste Termine: 15., 25., 29. Oktober (jeweils 19.30 Uhr). Karten: 0208 / 85 780.




Gar hübsch schnurrt die Mechanik ab – Molières „Der eingebildet(e) Kranke“ am Westfälischen Landestheater

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Neue Stufe der Gesundheitsreform: Einfach nicht mehr zu den Ärzten gehen, sondern auf die Selbstheilungskräfte der Natur vertrauen. Behandlungen und Medikamente richten sowieso nur Schaden an.

Nein, nein, das ist kein neuer Sparvorschlag voll Minister Seehofer, sondern so legt es uns bereits der Dramatiker Jean Baptiste Molière (1622-1673) nahe. Sein Stück „Der eingebildet(e) Kranke“ hatte jetzt zum Saisonauftakt am Westfälisehen Landestheater (WLT) Premiere.

Man spielt die moderne Übersetzung von Tankred Dorst, und die setzt mit den Verbesserungen just schon beim Titel an: „Le malade imaginaire“ heißt nun auf Deutsch nicht mehr „Der eingebildete Kranke“, sondern „Der eingebildet Kranke“. Kein Arroganter also, der krank ist, sondern ein Mensch, der sich lediglich einbildet, krank zu sein.

Genug der Spitzfindigkeiten. Unverwüstlich ist das Drama jenes allzeit jammerndenArgan (Hubert Schedlbauer), der seine Tochter partout mit dem lachhaft steifen Nachwuchsmediziner Thomas Diafoirus (Guido Thurk) verheiraten will, nur damit Papa stets über einen Leibmedikus für seine tausend Zipperlein verfügt. Am Ende bringt das schlaue Dienstmädchen Toinette (Vesna Buljevic) alles ins rechte Liebeslot.

Die erprobte Ansammlung „dankbarer“ Rollen läßt sich selbst mit gebremsten Kräften halbwegs unterhaltsam auf die Bühne bringen. Hypochonder, Geizhälse und scheinheilige Erbschleicherinnen wird s halt immer geben.

In Castrop-Rauxel ist die winzige, fast puppenhafte Szenerie mit goldenem Rahmen eingefaßt wie ein kostbares, schier unantastbares Gemälde. Und tatsächlich: So recht beherzt traut man sich – unter der Regie von Lothar Maninger – nicht an diesen Klassiker der Typenkomödie heran. Es sieht so aus, als habe man uns jegliche Überraschung ersparen wollen. Und so schnurrt das Ganze sehr brav mit der hübschen Mechanik einer Spieluhr ab. Gerafftes Röckchen hier, gravitätisches Staksen da. Die zwischenmenschlichen Beziehungen als höchst berechenbares Räderwerk.

Auf Tiefenschärfe wird nahezu ganz verzichtet, man hat den Figuren lediglich ein paar Attribute beigegeben, mit denen sie sich in wohlfeilen Slapstick flüchten können. Der Notar wankt als Balancekünstler mit meterhohem Bücherturm herein, der als Gesangslehrer verkleidete Liebhaber Cléante (Ulrich Mayer) trägt eine Note auf dem Jackett und darf immer mal wieder einen Opernarien-Kiekser von sich geben. Argan selbst tapert – Söckchen aus, Söckchen an – deppenhaft zwischen medizinischen Fußbädern, Fläschchen, Bettpfannen und Klistieren herum. Der Komik entbehrt all das nicht, doch es ist nur der halbe Spaß. Und ein kurzer: Nach eindreiviertel Stunden (Pause eingerechnet) ist’s vorüber. Keine abendfüllende Sache, weder zeitlich noch sonst.

Termine: 14. September (Castrop-Rauxel), 25. Sept. (Mülheim), 21. Okt. (Hamm). Karten: 02305/1617.




Auch das Theater braucht einen Libero – Gespräch mit dem WLT-Intendanten Harald F. Petermichl

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Das Westfälische Landestheater (WLT) behält seinen Sitz auf absehbare Zeit in Castrop-Rauxel. Von einem Umzug nach Iserlohn ist derzeit nicht mehr die Rede. Das – und einiges mehr – erfuhr die WR im Gespräch mit dem WLT-lntendanten Harald F. Petermichl (40).

Der gebürtige Bayer und bekennende Fußballfan arbeitet seit 1991 am WLT. Er ist nach dem Weggang seines Ko-Direktors Norbert Kronisch (der Intendant in Osnabrück wurde) alleiniger Leiter der Bühne. Petermichl steckt mitten in den Vorbereitungen zur Saison, die am 6. September mit „Der eingebildete Kranke“ beginnt.

Was ändert sich beim WLT, nachdem Sie Solo-Intendant geworden sind?

Harald F. Petermichl: Ich würde meine ganze bisherige, Arbeit in Frage stellen, wenn ich sagen würde: „Ab jetzt machen wir alles ganz anders.“ Wir haben offenbar eine recht gute Mischung gefunden – zunehmend auch für jüngere Zuschauer. Wir sind beim WLT ein eingespieltes Team – wie eine Fußballmannschaft.

Und Sie sind der Mittelstürmer?

Petermichl: Eigentlich sollte ich Libero sein. Immer da stehen, wo’s brennt.

Apropos brennen. Wie steht s mit den Finanzen?

Petermichl: Die Zuschüsse sind seit 1994 nicht mehr erhöht worden. Vom Land gibt es 4.2 Millionen Maik, vom Landschaftsverband um die 800.000, von der Stadt Castrop-Rauxel 325.000 und von den 16 Mitgliedsstädten unseres Trägervereins insgesamt rund 90.000 Mark. Die bekommen dann auch Rabatt, wenn sie unsere Stücke buchen.

Wie wirkt sich das Einfrieren der Subventionen aus?

Petermichl: Die Preise steigen, und wir müssen rundum sparen. Aber jetzt sind wirklich alle Reserven aufgebraucht. Schon ein Prozent Tariferhöhung bedeutet: Wir haben 50.000 Mark im Jahr weniger. Um so betrüblicher, daß manche Kommunen gleichfalls sparen und ihre Gastspiel-Buchungen reduzieren. Manche buchen nur noch unsere Revue. Da bekommen die Zuschauer ein ganz falsches Bild von unserer Arbeit. Als ob wir ein Revuetheater wären!

Eine Versuchung, nur noch gängige Stücke anzubieten?

Petermichl: Es ist halt eine Mischkalkulation. Zwei bis drei Stucke müssen sich gut verkaufen, dann kann man sich auch ein paar riskantere leisten, zum Beispiel diesmal George Taboris „Weisman und Rotgesicht“. Wenn man nur noch auf die Kasse schielt, geht auch der Spaß flöten.

Sie gastieren häufig in Südwestfalen. Was ist denn eigentlich aus dem Plan worden, daß Ihre Bühne dort einen neuen Standort bekommt und ins Parktheater Iserlohn umzieht?

Petermichl: Im Moment liegt das auf Eis. Es wird seit fast zwei Jahren zwar irrsinnig viel drüber gesprochen, doch es gab immer nur unverbindliche Absichtserklärungen. Es liegt bis heute kein konkretes Angebot aus Iserlohn vor, dem man entnehmen kann: Wenn wir da hingehen würden, dann hätten wir die und die Vorteile. Außerdem herrscht bei uns keine große Begeisterung über einen eventuellen Umzug. Die Schauspieler sind es ja gewohnt, alle zwei bis drei Jahre woanders hinzuziehen. Doch die Leute aus Technik und Verwaltung fühlen sich an Castrop-Rauxel gebunden; Es ist ja auch ein guter Standort für uns, das Verhältnis zur Stadtverwaltung ist bestens. Wir bespielen Orte im ganzen Land, und da liegen wir hier ziemlich zentral.

Was steht auf dem neuen Spielplan?

Petermichl: Zwei markante Beispiele: Als klassisches Stück haben wir Schillers ..Kabale und Liebe“ im Programm, als musikalische Produktion die „Urlaubsrevue“, eine unterhaltsame Geschichte des Reisens von der Kutsche bis zum Flugzeug, garniert mit vielen populären Liedern.

Sie selbst proben zur Zeit Michael Endes „Jim Knopf“. Ist Kindertheater bei Ihnen Chefsache?

Petermichl: Nun, das hat auch mit meiner Biographie zu tun. Ich komme vom Kinder- und Jugendtheater her, und ich halte es einfach für eine wichtige Sparte. Es ist die einzige Theaterform, mit der man noch alle sozialen Schichten erreicht. Wenn der Intendant das Kinderstück macht, ist das auch ein Zeichen.




Theater kann ein schönes Abenteuer sein – Zum 60. von Claus Peymann

Von Bernd Berke

Es war die „Publikumsbeschimpfung“, mit der Claus Peymann erstmals weithin Aufsehen erregte. Doch der Regisseur, der 1966 Peter Handkes Stück im Frankfurter Theater am Turm uraufführte, hat sich eigentlich nie mit den Zuschauern, sondern viel lieber mit Politikern angelegt. Morgen wird Peymann, noch Intendant der Wiener „Burg“, ab 1999 dann Chef des Berliner Ensembles, 60 Jahre alt.

Theaterkundige Revierbewohner trauern natürlich besonders Peymanns Bochumer Ära (1979 bis 1986) nach. Als er nach Wien wechselte, gab es sogar Leute, die für seine Premieren bis an die Donau pilgerten – ganz ähnlich, wie ihm Anhänger aus Stuttgart (wo er von 1974 bis 1979 als Schauspieldirektor arbeitete) nach Bochum nachgereist waren.

Peymann hat vermeintlich staubtrockenen Klassikern wie Goethes „Iphigenie“ frisches Leben eingehaucht. Stücke, die man für gar nicht mehr spielbar hielt, etwa Kleists „Hermannsschlacht“, gerieten unter seiner Ägide zu aufregenden Abenteuern. Doch das Theater verdankt Peymann auch wegweisende Uraufführungen, zumal der Stücke von Thomas Bernhard („Vor dem Ruhestand“, „Minetti“ , „Ritter, Dene, Voss“) und Peter Handke („Der Ritt über den Bodensee“, „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“).

Trunken vor lauter Spielfreude

Ohne grandiose Schauspieler wie Gert Voss, Kirsten Dene, Traugott Buhre oder Martin Schwab, wäre Peymann wohl nicht erklärter Favorit der Feuilletons geworden. Doch eine seiner größten Leistungen besteht ja just darin, hochkarätige Ensembles zusammengeführt, inspiriert und lange beieinander gehalten zu haben. Peymanns oft herrlich spieltrunkener Inszenierungsstil war nie „Regietheater“ in dem Sinne, daß die Darstellet durch starre Konzepte an den Rand gedrängt worden wären.

Feinde hat er sich auch gemacht. Als er in Stuttgart Spenden für die zahnärztliche Behandlung der inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin sammelte, kam es zum politischen Eklat. Mißtrauisch empfing man ihn später auch in Wien. Österreichs Kulturkonservative fürchteten, der „Piefke“ Peymann (Sohn eines Bremer Studienrats) werde die Traditionen am Burgtheater gefährden.

Immerhin: Er hob die Preise für bessere Plätze drastisch an und verbilligte die anderen. Das galt besonders der giftigen Wiener Presse schon als sozialistische Untat. Doch als Peymann das Publikum mit grandiosen Inszenierungen wie „Richard III.“ von Shakespeare auf seine Seite zog, konnte man ihm nicht mehr so viel anhaben. Nun wagte er es auch, im November 1988 (zum 100jährigen Bestehen des Burgtheaters) Thomas Bernhards „Heldenplatz“ auf die Bühne zu bringen, jenes Stück, in dem die NS-lastige Historie des Hauses bohrend zur Sprache kam.

Im „Heldenplatz“-Umfeld kam es gar zu einer Art Regierungskrise in Wien. So etwas gibt es eben nur in Österreich, wo Theater und Oper eine geradezu staatsbildende Rolle spielen wie sonst wohl nirgendwo auf der Welt. Vielleicht wird Peymann einen Hauch dieser Atmosphäre im nüchternen Berlin vermissen.




Zimmerschlacht nach Lust und Laune – Jürgen Kruse inszeniert Andreas Marbers „Rimbaud in Eisenhüttenstadt“

Von Bernd Berke

Bochum. „Blöööd ist es auf der Welt zu sein / Sagt die Biene zu dem Stachelschwein.“ Welch eine Gaudi, wenn diese Schläger-Verballhornung auf der Bochumer Kammerspiel-Bühne gegrölt wird. Mittendrin ruft Intendant Leander Haußmann, der sich als „Rimbaud in Eisenhüttenstadt“ (Regie: Jürgen Kruse) diesmal auch Titeldarsteller-Ehren gönnt, ins Publikum: „Und nun alle! Auch die Kritiker, die sollen ihre Stifte mal loslassen!“ Von wegen.

Rimbaud also. Dieser „wilde“ französische Dichter (1854-1891), dem schon früh die Lyrik nicht mehr genügte und den es hinaustrieb ins Unbedingte. Sodann ausgerechnet Eisenhüttenstadt, aus dem Boden gestampfte Industrieansiedlung der früheren DDR, Inbegriff genormter Enge zwischen Plattenbauten. Mit solch gegensätzlichen Gewürzen hat Andreas Marber (Jahrgang 61, Hausdramaturg in Bochum) sein Stück abgeschmeckt. Jürgen Kruse setzt den Text mit allen erreichbaren Mitteln und im wegwerfenden Gestus aggressiven Angewidertseins unter Dampf.

Es wird – zumal vor der Pause – im Publikum oft gelacht, freilich vielfach kopfschüttelnd, wenn sich etwa Rimbaud Kokain via Staubsaugerrohr in die Nase zieht oder das Überraschungsei einen Präser enthält. Sachen gibt’s…

Stilsicher versiffte Behausung

Die gut dreistündige Zimmerschlacht (hoher Sudelfaktor mit Bier- und Blutspritzern) spielt sich in der stilsicher versifften Einraum-Behausung Rimbauds ab. Dieser ostdeutsche Anarcho-Rebell der Nach-Wendezeit, der auf die reichen Westler schimpft und „vergossene Worte“ des Ostens bewahren will, lebt an seiner Endstation. Mit allen hat er Streit: Die „Süddeutsche Zeitung“ mochte seine zynische Hymne auf Michael Jacksons Kinderschändungen nicht abdrucken. Und in der Stadtbücherei hat man ihm Hausverbot erteilt, als er dort entnervt das „Kochbuch der Anne Frank“ verlangte…

Nun tänzelt auch noch sein schwuler Gespiele Dr. Martin Wolf (Komödiant von Gnaden: Torsten Ranft) aus dem evangelischen Predigerseminar zu Wittenberg herbei, um sich im lachhaften Jargon der Selbsterfahrung von Rimbaud zu trennen – vage Reminiszenz an die historische Dichter-Liebe zwischen Rimbaud und Paul Verlaine, außerdem Gelegenheit zu derben Antiklerikal-Scherzchen („Sinn-Hode“ statt „Synode“).

Derweil irrt Rimbauds hirnkranke Frau mit Namen Vera Vernunft (Annika Kuhl) umher und produziert kleine Sprechopern der Vergeßlichkeit: „Oh, oh, oh – Weil, weil, weil…“ Ihre weitgehend stumm-verzweifelte Rolle wird in Erinnerung bleiben.

Zwischen Aufwallung und Achselzucken

Später gesellt sich eine Kammerjägerin (Henriette Thimig) hinzu, früher bei der Stasi, die auf anderer Ebene mit der „Schädlingsbekämpfung“ fortfährt. Auch wankt hin und wieder eine Riesen-Ratte über die Bühne. Schließlich erscheint ein Mann im weißen Kittel (Marquard Bohm), den man angesichts all dessen erwarten durfte. Als Vera kurzerhand aus dem Fenster springt, brüllt Rimbaud wie am Spieß, doch plötzlich verstummt er und holt sich ein Pils aus dem Kühlschrank.

Derlei willkürliche Abfolge von Aufwallung und Achselzucken bildet ein Grundmuster. Theater nach dem schieren Lustprinzip: Wo Jürgen Kruse „Bock“ hatte, hat er rotzig etwas hin-inszeniert. Zuweilen hat das gleichsam dreckigen Charme.

Leander Haußmann muß wenig Filigranarbeit leisten, er kann sich just austoben mit gehörigem Talent zur Raserei. Die gesamte Darbietung folgt quasi der Rimbaud’sehen Chaos-Regel. Sie könnte jederzeit enden, aber auch immer so weitergehen.

Natürlich öffnet Jürgen Kruse wieder den Plattenschrank. Er beweist exzellenten Spürsinn für starke Rock-Titel und absolut schräge Schläger. Das ganz andere Musiktheater im Revier.

Im nicht frenetischen Beifall ertönten auch Buhrufe.

Termine: 29. Mai, 18. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Vom Königsthron hinab ins Schulungshotel – Peter Handke und Susanne Schneider bei den Mülheimer Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. „Heute ein König!“ schallt es uns aus einer Pils-Werbung entgegen. „Künftig ein König!“ rufen uns die Dramatiker Botho Strauß und Peter Handke zu. Ihre neuen Stücke sorgten für den wahrhaft majestätischen Auftakt der Theatertage in Mülheim. Dann freilich ging’s steil hinab in die Niederungen des ökonomischen Alltags. Susanne Schneiders „Wir Verkäufer“ war der dritte von acht Beiträgen im Wettbewerb.

Nachdem in Botho Strauß „Ithaka“ der alte Odysseus sein Königtum blutrünstig zurückerobert hatte, bekamen es die Zuschauer mit Handkes monarchischen Phantasien zu tun: Das Frankfurter Schauspiel gastierte mit „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“. Schon der Titel läßt ahnen, daß Handkes Sprache gleichsam wallt wie ein Königsgewand. Wohltönend und vielschichtig ist Handkes Sage aus der abgelegenen Enklave, der ein neuer König ein ewig währendes Gesetz allumfassenden Friedens (darunter tut man’s nicht mehr) geben soll. Claus Peymann hatte seine Darsteller bei der Wiener Uraufführung durch eine Art Feenmärchen tändeln lassen. Die Figuren der Frankfurter Fassung (Regie: Hans Hollmann) staksen indes stocksteif einher.

Den Vorhang zu und alle Fragen offen

Im Mittelgrund der stets düsteren Bühne baumelt geometrisch geordnetes Gestänge. Ästhetische Avantgarde der 50er Jahre. Dies gilt auch für die maßvoll neutönerische Musik, die immer wieder erklingt. In dieser Inszenierung mit ihren stur-schematischen Auf- und Abgängen wenig inspirierter Darsteller hat man nicht einmal den Umgang mit dem Vorhang rationell gelöst: Zuweilen wird für eine Fünfzehn-Sekunden-Szene eigens langwierig zu- und dann wieder aufgezogen. Warten ist das halbe Leben.

„Verstanden?“ fragte Handkes Wander-Erzählerin mehrmals textgemäß in die Publikumsrunde. „No!“ schallte es in Mülheim aus vielen Mündem zurück. Tatsächlich ist es schwer, in diesem Drama den Faden zu finden. Anhand der Frankfurter Darbietung scheint es sogar aussichtlos.

Schneeberg soll soziale Kälte anzeigen

Den roten Faden sah man in „Wir Verkäufer“ um so schneller. Denn die Stuttgarter Autorin Susanne Schneider, die in der Gast-Inszenierung (Badisches Staatstheater Karlsruhe) auch Regie führt, gibt über weite Strecken mit biederem Realismus den Ablauf einer Verkaufsschulung wieder, die eine Westfirma arbeitslos gewordenen Ostdeutschen angedeihen läßt. Schmerzlich beigebracht werden den „Ossis“ in diesem kapitalistischen Fegefeuer die Psychotricks des Verhökerns. In den Schulungspausen gibt’s Kummersuff, Karaoke-Singsang und natürlich Fragmente aus beschädigten Ost-Biographien.

Video-Aufnahmen von echten Schulungen dienten der Autorin als Anregung. Wie Fertigteile baut sie aus der DDR überkommene Redewendungen („Fakt ist.. ..“, „…hat Weltniveau“) ein. Auch sonst kommt einem vieles reichlich bekannt vor. Und es hätte schon um 1990 exakt so geschrieben werden können. Heute wirkt es abgestanden. Daß gar ein immer höher werdender Schneeberg rund ums Schulungshotel als Sinnbild für wachsende soziale Kälte herhalten muß, ist kläglich. Rar sind die Szenen-Momente, in denen das deutsch-deutsche Elend sich wenigstens halbwegs verdichtet.

Dank der großartigen Münchner Inszenierung muß derzeit Botho Strauß „Ithaka“-Text favorisiert werden. Man darf aber wohl die Prognose riskieren: Strauß wird den Preis trotzdem partout nicht bekommen, und zwar wegen politischer Bedenken. Außerdem folgen bis zum 6. Juni ja noch fünf konkurrierende Stück, darunter die von Elfriede Jelinek und Urs Widmer.




Die guten Götter werden schon für Frieden sorgen – Botho Strauß‘ „Ithaka“ als Auftakt zu den Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Nein, ein Festival im üblichen Sinne sind die Mülheimer Theatertage diesmal nicht. Der Wettbewerb neuer deutschsprachiger Stücke zieht sich – als eher lose Folge von acht Gastspielen – über fast vier Wochen bis zum 6. Juni hin. Von gewisser Dauer war schon der Auftakt am Sonntag Abend. Die Münchner Kammerspiele gingen mit Botho Strauß‘ Antiken-Anverwandlung „Ithaka“ (Regie: Dieter Dom) an die Startlinie. Und das hieß: viereinhalb Spielstunden mit Odysseus. Doch es war nicht die berühmte Irrfahrt.

Odysseus (Bruno Ganz) ist bei Strauß, der sich in vielen mythologischen Details an die Vorlage von Homer hält, bereits nach Ithaka heimgekehrt. Eine üble Rotte von Freiern belagert Odysseus‘ Gattin Penelope (Gisela Stein), die mächtige Kummerspeck-Schwarten angesetzt hat und sich auch damit die Zudringlichen vom Leibe zu halten sucht.

Genußsucht, Sport und Prahlerei

Unterdessen ist das gesamte Gemeinwesen verkommen. Es fehlt eben der Herrscher, einer, der – salopp gesprochen – in diesem Saustall aufräumt. Statt dessen regieren, wie es einmal bündig heißt, „Genußsucht, Sport, Prahlerei“. Scheinbar gelassen, doch innerlich zornbebend, hört sich der als Bettler verkleidete Odysseus all die Schreckensbotschaften an. Und dann handelt er…

Zu diesem Sachverhalt hat Botho Strauß ein geradezu klassisch-formbewußtes Stück gedrechselt. Es kommt einem so vor. als habe er – wie so viele Autoren vor ihm – just bei den „Alten“, sprich in der Antike anknüpfen wollen, um dort Halt und Heilsamkeit zu finden, die nach seinem Empfinden der heillosen Gegenwart abhanden gekommen sind. Man hat aus dem Text überdies herauslesen wollen, daß sich der Autor nach einer Führer-Figur sehne. Unsinn!

Denn nachdem Odysseus die versammelten Freier im Bogenschießen gedemütigt (Wetten, daß der Held zwölf Äxte auf einen Streich mit dem Pfeile trifft?) und sodann samt lüsternen Mägden niedergemetzelt hat, erhebt sich ja erst die eigentliche Frage: Was kommt nach solch blutigem Sieg? Eine fundamentalistische Diktatur? In diesem Falle müssen es die allerhöchsten Mächte richten: Zeus und Pallas Athene („Girlie“ aus dem Götterhimmel: Sibylle Canonica) sorgen für Frieden im Lande – und dafür, daß das Volk alle vorherigen Untaten vergißt. Wortwörtliches Resultat: „Herrscher und Untertanen lieben einander wie früher. Daraus erwachsen Wohlstand und Fülle des Friedens den Menschen.“ Naiv anmutende und etwas prekäre Gründungslegende, fürwahr.

Die Großtat des Bruno Ganz

In Dieter Dorns Inszenierung wirkt all das jedoch so, wie es ja wohl auch gemeint sein dürfte: human und manchmal gar von heiterer (Selbst)-Ironie beseelt. Zumal der wunderbare Bruno Ganz als Odysseus nimmt Strauß‘ Sprache alles Gravitätische, läßt ihr gleichwohl den edlen Klang – und macht sie zugleich faßbar. Eine Großtat sondergleichen. Im Zentrum der dramatischen Aufmerksamkeit steht außerdem das Paar Odysseus-Penelope, das einander endlos zu verfehlen droht. Ein altes Strauß-Motiv.

Zu sehen war ein Spitzenprodukt deutschen Qualitäts-Theaters, ästhetisch völlig auf der Höhe, S-Klasse sozusagen. Und damit ein verheißungsvoller Auftakt für die Stücketage, die mit ihren Blicken über den regionalen Tellerrand alljährlich das vielleicht sachkundigste Publikum im Revier versammeln.

Der Beitrag des nächsten Edel-Dichters folgt am kommenden Samstag: Dann wird das Frankfurter Schauspiel mit Peter Handkes „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ auftreten. Die Zuschauer sind gewappnet und gerüstet.




Marilyn Monroe und die Liaison mit dem Unglück – Neuer Deutungsversuch über ihre Ehe mit Arthur Miller

Von Bernd Berke

Es gibt diese exorbitanten Beziehungen, in denen Gefühlslagen ihrer Zeit in Liebesdingen zum Ausdruck kommen und dann von vielen, vielen Menschen nachgeträumt werden. Auch dann, wenn es eigentlich Alpträume sind. Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, John Lennon und Yoko Ono hatten solch beispielhafte Verhältnisse – oder auch Marilyn Monroe und Arthur Miller.

Aus exemplarischen Verbindungen zwischen berühmten Männern und Frauen bestreitet Rowohlt Berlin eine ganze Buchreihe. Jetzt ist Christa Maerkers Band zur Liaison Monroe/Miller erschienen.

Schon die Zeitgenossen, allen voran die Presse, sehen in der Verbindung zwischen dem Hollywood-Star und dem Dramatiker („Tod eines Handlungsreisenden“, „Hexenjagd“) eine geradezu mythische Qualität und bringen es auf die gemeine Formel: „Kopf heiratet Körper“. Die Autorin Christa Maerker sucht dies (wie so manche Biographen vor ihr) zu entkräften, wo sie nur kann. Sie schildert Marilyn Monroe als hypersensible junge Frau, die als Kind zwischen wechselnden Pflegeeltern und Heimen hin und her geschubst wurde.

Rilke-Lektüre in den Drehpausen

Ihr Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, die Mutter war dauerhaft psychisch krank. Sarkastisch gesagt: Allerbeste Voraussetzungen für eine negative Muster-Biographie, für fortwährendes Unglück, das sich in der Ehe mit dem etwas unterbelichteten Ex-Baseballstar Joe DiMaggio Bahn bricht.

Die darstellerisch überaus begabte Marilyn (bürgerlich: Norma Jeane Mortenson), die sich völlig verwandelt, sobald sie nur in ein Kameraauge blickt, liest in den Drehpausen z. B. Rilke-Gedichte und straft damit das Klischee vom blonden Dummchen offenbar Lügen. Oder ist es nur ein Fall von verzweifelter Ambition, gar von Persönlichkeits-Spaltung? Im Gefolge der Psychologin Alice Miller entdeckt Christa Maerker in Marilyns Lebenslauf jedenfalls das „Drama des begabten Kindes“.

In Hollywood zählt vor allem Marilyns leiblich-weibliche Erscheinung. Dabei will sie eben kein Kurvenstar sein, sondern unbedingt ernsthafte Rollen spielen. Welch eine Schmach, daß ausgerechnet der sonst so stockseriöse Laurence Olivier sie beim ersten Augenschein ein „süßes kleines Ding“ nennt und sich sofort verknallt. Auch er also…

Der ideale Ersatzvater?

Sie sehnt sich danach, das Star-Gehabe abzulegen und – es sind die 50er Jahre – endlich für einen Mann kochen, putzen und waschen zu dürfen. All den Rollen-Zwiespalt bekämpft sie mit Alkohol, Tabletten, flüchtigen Liebschaften.

Geradezu magnetisch bewegen sich alsdann die Lebenslinien von Marilyn und Arthur Miller aufeinander zu. Miller schien, so befindet Christa Maerker, der ideale Ersatzvater für Marilyn zu sein, sie habe ihn „Daddy“ genannt. Freilich wird das frische Eheglück schon 1956 getrübt, weil (so die Deutung) beide „zu hoch geträumt“, weil sie zuviel Erlösung voneinander erwartet hätten. Bis 1962 quälen sich die zwei dahin, Marilyn tröstete sich mehr schlecht als recht mit Yves Montand, mit John F. Kennedy und anderen.

Vor lauter Liebe das Atmen vergessen

Christa Maerker kann gar nicht umhin, sich aus vorhandenem Material zu bedienen, zumal aus Millers Autobiographie „Zeitkurven“ und Donald Spotos Marilyn-Biographie. Man kann es ihr kaum verübeln, daß sie parteilich aus Frauenperspektive schreibt (im Zweifel immer für Marilyn) und Arthur Miller jede klitzekleine Verfehlung vorrechnet.

Gelegentlich stochert Frau Maerker etwas ratlos in den Quellen herum und kramt diverse psychologische Erklärungsmuster hervor, dann wieder gibt sie sich allwissend, als sei sie stets dabei gewesen. Über Marilyns erste Begegnung mit Miller schreibt sie: „Als Marilyn seine Hand berührt, vergißt sie zu atmen… Marilyn Monroe hält die Luft an, schüchtern, ängstlich, hoffnungsvoll und beseelt, und Arthur Miller stößt sie in einem Erleichterungsseufzer aus.“

Trotz Solcher Schwächen versteht es Christa Maerker, das Interesse an ihrer Darstellung wachzuhalten. Kein Wunder. Von vielfältig schillernden Phänomenen wie Marilyn Monroe wird man noch sehr lange reden und raunen.

Christa Maerker: Marilyn Monroe / Arthur Miller (Reihe „Paare“). Illustriert mit Schwarzweiß-Fotos. Rowohlt Berlin. 186 Seiten, 34 DM.




Zum Geist des Theaters gehört auch der Streit – Bochumer Ausstellung über Bühnenbilder von Gunilla Palmstierna-Weiss

Von Bernd Berke

Bochum. Schon mit 14 Jahren hat sie literarische Texte von Felix Timmermans aus dem Flämischen ins Schwedische übersetzt und als Buch publiziert. Zur gleichen Zeit betätigte sie sich als beachtliche Bildhauerin. Von der doppelten Liebe zur Literatur und zum Bildnerischen, die sich alsbald im Theater bündelte, ist diese Frau bis heute beseelt. Gunilla Palmstierna-Weiss, Witwe des berühmten Autors Peter Weiss, müßte es gar nicht betonen: „Ich bin keine Berufs-Witwe. Ich bin berufstätig.“

Jetzt stellt die Schwedin im Museum Bochum ihre bühnenbildnerischen Arbeiten aus. Zu sehen sind vor allem exakte Modelle – im Puppenstubenformat, freilich auf staunenswertem Kunstniveau. Frau Palmstierna-Weiss (Jahrgang 1928) ist selbstbewußt genug, um sich als Ko-Regisseurin solcher Größen wie Ingmar Bergman oder Peter Brook zu begreifen. Auch mit Fritz Kortner, Hans Lietzau und vielen anderen hat sie zusammengearbeitet.

Bestechende formale Klarheit

Wenn sie vom Werden gewisser Inszenierungen erzählt, begreift man, daß Theater nicht zuletzt aus Streit-Prozessen hervorgeht. Ohne Krach hinter den Kulissen ist wahre Produktivität kaum zu haben. Zumal mit Ingmar Bergman hat sich Frau Palmstierna-Weiss besonders gern auseinandergesetzt. Oft mußte nicht sie nachgeben, sondern er.

Die Bühnenbilder, Theaterplakate und Kostüm-Figurinen füllen in Bochum eine weitläufige Etage. Die Arbeiten bestechen sogleich durch entschiedene formale Reduktion und Klarheit. Nichts wuchert hier ohne Sinn, alle Elemente verweisen auf den Geist des Stückes. Gerade deshalb haften solche Schöpfungen mehr im Gedächtnis als jeder aufdringliche Firlefanz, weil sie dem ästhetischen Ganzen dienen und zuinnerst mit dem jeweiligen Stück verknüpft sind. Das ist heutzutage schon eine bemerkenswerte Qualität.

Bertolt Brechts Kreidekreis auf dem Fußballfeld

Auf bestimmte Stücke ist Gunilla Palmstierna immer wieder zurückgekommen: Fünfmal hat sie Strindbergs „Fräulein Julie“ bildnerisch gedeutet, gleichfalls fünfmal auch seinen „Totentanz“. Natürlich hat sie auch die Werke ihres Mannes („Trotzki im Exil“, „Die Ermittlung“, „Gesang vom Lusitanischen Popanz“ usw.) des öfteren ausgestattet.

Ihre Einfälle sind nicht weit hergeholt, sondern zwingend: Mozarts „Figaro“ rückt Frau Palmstierna-Weiss mit strenger Bauhaus-Ästhetik zuleibe, Lorcas „Bluthochzeit“ begeht sie mit Anspielungen auf Francisco Goya, für Shakespeares „Was ihr wollt“ stellt sie ein elisabethanisches Theater auf die Szenerie, Brechts „Kaukasischer Kreidekreis“ wird zum Anstoßkreis eines Fußballfeldes – und für Peter Weiss‘ „Der neue Prozeß“ collagiert sie Tafeln aus Reportagefotos mit Ausschnitten aus Gemälden von Hieronymus Bosch – Sinnbilder der Hölle auf Erden.

Farbiger Abglanz des einstigen Bühnenlebens

Die Bochumer Ausstellung wirkt so durchdacht und stimmig, daß sie (unerfüllbare) Lust auf die zugehörigen Inszenierungen weckt. Wie schade, daß es die höchstens noch als Filmaufzeichnungen gibt, daß Theater so flüchtig ist: „ Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze…“

Immerhin haben wir in Bochum einen farbigen Abglanz des einstigen Bühnenlebens. Und wir erfahren sehr sinnlich, welch enorme Bedeutung Farbskala und Lichtführung für die Stimmungswerte einer Regiearbeit haben. Gunilla Palmstierna stuft alle Bühnen- und Kostümelemente genau aufeinander ab. Farbtabellen, die an komplizierte Stundenpläne erinnern, zeugen von dieser Feinarbeit. Und wie grundlegend sich ein Bühnenbild durch wechselnde Beleuchtung verändert, das kann man als Besucher mit dem Dimmer-Schalter an einem Modell selbst ausprobieren. Es werde Licht…

Gunilla Palmstierna-Weiss. Bis 6. April im Museum Bochum, Kortumstraße 147. Di/Do/Fr/Sa 11-17, Mi 11-20 Uhr, So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Katalog 18 DM.




Kultur muß bohrende Fragen stellen – August Everding in Dortmund: Musicals sind nur „Amüsemang“

Von Bernd Berke

Dortmund. Die dichte Bühnen-Landschaft des Reviers findet er einfach großartig. Daß man hier gelegentlich zwei Varianten derselben Oper in zwei benachbarten Städten sehen könne, sei doch eine Gnade. Dies sagt einer, der es wohl wissen muß: August Everding, Generalintendant der Bayerischen Staatstheater, Präsident des Deutschen Bühnenvereins und Inhaber vieler anderer ehrenvoller Kulturämter. Gestern weilte der gebürtige Bottroper – „erstmals seit 30 Jahren“ – in Dortmund.

Bei einer Pressekonferenz im Dortmunder Harenberg City-Center, wo er am Abend aus seinem Buch „Zur Sache, wenn’s beliebt“ las. machte sich der ungebrochen vitale und redegewandte Everding (nächtliche Schlafzeit: vier Stunden) abermals für öffentlich geförderte Kultur stark. Er verstehe gut das Unterhaltungsbedürfnis und den Run aufs Musical, er selbst inszeniere hin und wieder ein solches. Aber wirkliche „Kultur“ sei das alles nicht – und auch kein echtes Amüsement, sondern, wie der Berliner schnoddrig sage, bestenfalls „Amüsemang“. Nach einem Musicalabend „sind alle Fragen gelöst und alles ist befriedet“. Kultur müsse hingegen bohrende Fragen stellen, müsse eine Art Unfrieden stiften. Dies werde eine Produktion, die ohne öffentliches Geld wirtschaften müsse, niemals riskieren.

Mit einem halben Liter Wasser durch die ganze Wüste

Subventionen tun also not. Everding kennt die Zahlen, kennt die Verhältnisse genau: „Private Sponsoren geben jährlich 550 Mio. DM für Kultur. Bund, Länder und Gemeinden wenden pro Jahr 15 Millarden DM dafür auf – ungleich mehr also, aber nur „gerade mal ein Prozent des Bruttosozialprodukts.“ Sollte dieser Betrag gekappt werden, dürfe sich Deutschland nicht mehr Kulturnation nennen.

Irreführend sei schon die landesübliche Wortwahl. Everding: „Es ist ganz falsch, wenn man sagt, die Theater sollten „sparen“. Sparen könne im Grunde nur, wer zuviel Geld habe. Beim Theater komme man sich aber inzwischen so vor, als müsse man „mit einem halben Liter Wasser durch die ganze Wüste gehen.“ Und wie soll es dann richtig heißen? Everding: „Wir können nicht sparen, sondern uns höchstens noch mehr einschränken.“

Berliner Größenwahn? – „Ich bleibe in München!“

Einschränken? Ja, beispielsweise durch Theaterfusionen, wie es sie landauf landab immer häufiger gibt. Everding sieht darin freilich kein Allheilmittel. Eine Kooperation wie bei der Rheinoper Düsseldorf / Duisburg habe sich bewährt, beim neu gebildeten „Schillertheater“ (Wuppertal und Gelsenkirchen) müsse man die Entwicklung abwarten. Grundsätzlich gelte: „Jedes Stadttheater ist erhaltenswert, der Vielfalt wegen.“

Everding nahm in Dortmund auch zu neuesten Gerüchten Stellung, die Wiens Burgtheater-Intendant Claus Peymann – wie berichtet – in einem „Spiegel^-Gespräch aufgebracht hatte. Everding, so hatte Peymann lanciert, sei weit und breit der einzige Mann, der ein gigantisches Berliner „National-Theater“ der Zukunft leiten könne und der (im Verein mit Berlins Kultursenator Radunski) auch gezielt darauf hin arbeite.

August Everding stellte gestern klar: „Ich bleibe in München!“ Eine Zusammenfassung der Berliner Bühnen unter dem Dach eines National-Theaters wäre nach seiner Meinung sowieso Größenwahn. Everding allergisch: „Wenn ich schon das Wort ,national‘ höre…“




Wo man fürs Theater den roten Teppich ausrollt – „Helios“-Truppe zieht von Köln nach Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Ein kultureller Vorgang von Seltenheitswert: Da siedelt eine Bühne aus der Metropole Köln an den östlichen Rand des Reviers um und wird im bisher theaterlosen Hamm bald über eine eigene Spielstätte verfügen.

Die Rede ist vom „Helios“-Theater, benannt nach dem altgriechischen Sonnengott. In Köln hielt es die 14köpfige Truppe nicht mehr, weil sie inmitten der kulturellen Fülle am Rhein nicht mehr sonderlich auffiel und weil, so findet „Helios“-Chefin Barbara Kölling, die dortige Kommunalpolitik den freien Theatern kein gutes Pflaster bereite.

Ganz anders in der Provinz. In Hamm, wo bislang nur Tourneebühnen Station machten, rollt man den „Helios‘-Leuten, allesamt ausgebildete Profis, den roten Teppich aus und behandelt sie fast wie ein Stadttheater. Durch Umschichtungen im Etat gelang das Kunststück: 100.000 DM pro Jahr, etwa ein Viertel des Gesamtbedarfs, erhält die Gruppe von der Kommune, die zudem den VHS-Bürgersaal theatertauglich umbaut. Hinzu kommen Landeszuschüsse und Sponsorengeld.

„Helios“ soll in Hamm pro Jahr zwei bis drei Premieren herausbringen und künftig von hier aus Gastspiel-Tourneen starten. Enge Kooperation ist mit den Städten Unna, Kamen und Lünen vorgesehen, aber auch Arnsberg zählt zur Dauerkundschaft. Mit derlei Regionalbezug sieht man sich selbst gar als „Modellfall (Kölling), was auch die Geldgeber beim Land zur Großzügigkeit bewogen habe. Dazu beigetragen hat wohl auch der Ruf der Gruppe, die bei etlichen Festivals (wie etwa dem Dortmunder „Theaterzwang“) aufgetreten ist.

Weil die „Helios“-Produktionen landes- und bundesweit offeriert werden, konkurriert die Gruppe direkt mit dem Westfälischen Landestheater (WLT), das seine Fäden von Castrop-Rauxel aus zieht. Und was wird bei „Helios“ gespielt? Vorzugsweise eine eigenwillige Mischung aus (zumeist selbstverfaßten) Texten, Tanz und Musik. Für Kinder hat man stets etwas im Angebot. Doch die neueste Eigenschöpfung handelt von einer „starken Frau“ der Historie, der Nobelpreisträgerin Marie Curie. Die Hammer Premiere am 1. März ist bereits ausverkauft. Ein gutes Omen.

Infos/Karten: Kulturamt Hamm 02381 / 17 55 55.

 




Handke im Sonnenschein – Claus Peymann inszeniert „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ am Wiener Burgtheater

Von Bernd Berke

Wien. Auf der Bühne des Burgtheaters war am Samstag viel von Vorfrühlings-Hoffnung die Rede. Und als die Uraufführung von Peter Handkes „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ nach vier Stunden vorüber war, funkelte eitel Sonnenschein: Der Dichter, sonst allen Auftritten vor der Menge abhold, kobolzte – nach kurzer Verlegenheitsfrist – mit Regisseur Claus Peymann vor dem frenetisch jubelnden Publikum.

Zwei Herren, die schon einige Kapitel Theatergeschichte geschrieben haben, benahmen sich für ein paar Sekunden wie zwei fröhliche kleine Knaben.

Kein Gegenwartsautor, ausgenommen Botho Strauß, hat sich so sehr dem weihevollen Ton verschrieben wie Handke. Auch im neuen Stück spricht er oftmals wie ein Seher oder Prediger. Dies wird wieder Scharen von Spottdrosseln auf den Marktplatz rufen. Doch nach Peymanns Uraufführung werden sie’s nicht leicht haben.

Schwere Passagen wirken federleicht

Denn der hat vorgebaut. Er hat mit seinem Ensemble diesem hie und da zum monologischen Vortrag neigenden Text wundersames Bühnenleben eingehaucht. Ohne ironisch zu denunzieren oder die Sache herabzustufen, läßt er selbst schwerste Passagen federleicht und gelöst erscheinen.

Schutt- und Aschelandschaft, schräg zum Zuschauerraum hin gekippt (Bühnenbild: Achim Freyer): Dies ist die namenlose, lang isolierte, dann von fremder Macht kriegerisch unterworfene Enklave. Man hat schon gerätselt, welche Ländereien Handke meint. Österreich, von Deutschland beherrscht? Anspielungen auf Ex-Jugoslawien? Halten wir’s mit Goethe: Wer den Dichter will verstehen, muß in Dichters Lande gehen.

Verheißungsvolle Augenblicke sammeln

In der Enklave, die später aufblüht, lebt ein Volk, das in seine Niederlagen immer vertieft und vernarrt war, das nie einen Helden oder nennenswerte Historie hervorgebracht hat. Fruchtbarer, gleichsam jungfräulicher Humus also für völligen Neubeginn. Und damit ein Nährboden für das fortwährende Projekt des Peter Handke: Durchs wahrhafte, gänzlich unvoreingenommene Anschauen der Dinge Raum, Ziel und Maß zu gewinnen für ein würdigeres Erdendasein. Dies sind denn auch „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“: beständiges Ansammeln verheißungsvoller Dinge und Augenblicke, um, wenn schon nicht gleich zum Sinn, so doch vorderhand zum „Nicht-Unsinn des Lebens“ (Stückzitat) vorzudringen.

Zwei merkwürdige Helden, die in der Enklave geboren werden, sollen die neue Ära ins Werk setzen: die Vettern Pablo (Gert Voss), stets drangvoll kampf- und siegbereit, und Felipe (Johann Adam Oest), ein ewig fröhlicher Versager. Jeder hat seinen Teil der Wahrheit. Der eine pulvert auf, der andere besänftigt. Grandios, wie Voss und Oest diese eher als Prinzipien entworfenen Wesen als Charaktere von Fleisch und Blut gestalten.

Das weitere Personal wirkt wie ein fernes Nachglühen praller Shakespeare-Welten: Die Erzählerin (Anne Bennent), als holde Elfe im regenbogenfarbenen Röckchen, mit taubeglänzter Sprache und träumerischen Gesten alle beschwingend; ein Idiot (Urs Hefti) als gelegentlich weiser Narr; das durch eine einzige Figur dargestellte Volk (Martin Schwab), allergisch gegen Botschaften, mit bescheidenem Wohlstand zufrieden…

Zwischen Drachen und Fabeltieren

Sprachmächtiges Künden, aber auch Clownerie wechseln mit Passagen wortloser Begebenheiten, bei denen das „ganz Andere“ als Möglichkeit aufscheint. In der herrlich wandelbaren Szenerie, in der Drachen aufsteigen, Vögel fleuchen oder Fabeltiere einherziehen, entfaltet sich ein kaum erschöpfliches Denk- und Sinn-Spiel, ein eigentümlicher Sagen- und Legendenstoff von neuem, unerhörtem Königtum und Gesetzgebung zum ewigen Frieden.

Lauscht man genau, hat freilich schon Handke selbst dem Pathos immer wieder die Spitze geknickt. Das „Königsdrama“ (Untertitel) handelt weniger von Gekrönten als vom Königsweg zur befriedeten Menschlichkeit. Es ist von hier und jetzt, auch wenn es entschieden übers „Heute“ hinaus will. Und jene allzeit die Enklavenbewohner bedrohende „Raumverdränger-Rotte“, die mit „1-D-Brillen“ und Echo-Saugern alle räumlichen oder zeitlichen Staffelungen (und damit jede Sehnsucht) von der Erde tilgen will, kann man sich gut als Vorhut einer entseelten, technisch-virtuellen Zukunft vorstellen.




Ein braver Willy Loman – „Tod eines Handlungsreisenden“ in einer wenig aufregenden Inszenierung

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Wohnung der Lomans wirkt in Hans Winklers Dortmunder Bühnenbild ungeheuer aufgeräumt, alles ist schrecklich fein an seinem Platz. Wie in einer Puppenstube. Wenn der Handlungsreisende Willy Loman nach Hause kommt, hilft ihm seine Frau Linda eilfertig in die Pantoffeln. Hier scheint die Welt noch in alter Ordnung zu sein – ganz im Sinne der 50er Jahre.

Damals ist sie ja auch entstanden, Arthur Millers dramatische Elegie vom „Tod eines Handlungsreisenden“ – und sie ward zum mehr oder weniger qualvollen Lernstoff zahlloser Englischstunden, freilich auch zum Glanzstoff für berühmte Schauspieler von Heinz Rühmann bis Dustin Hoffman.

Andreas Weißert sieht aus wie eine fatale Kreuzung aus Andy Warhol und Loriot, wenn er mißmutig die Szene betritt. „Pappa ante portas“, wie es bei Loriot hieß, sprich: Der Vater wird von nun an oft daheim sein und den Seinen auf die Nerven gehen, denn in seinem Job gilt er nur noch als Niete.

Doch so komisch wie bei Vicco von Bülow geht es hier beileibe nicht zu, auch wenn sich die Regie (Clemens Bechtel) müht, den einen oder anderen Lacher herauszukitzeln. Die Lebenslüge, mit der Willy Loman sich vormacht, er oder seine verbummelten Söhne Biff (Joachim Meyerhoff) und Happy (Jörg Ratjen) würden eines Tages das ganz große Los des amerikanischen Traumspiels ziehen, mündet in Wahn und Fieber, ist letztlich selbstmörderisch. Gern nähme Loman das Leben wie einen Sport. Nur allseits beliebt müsse man sein, dann finde sich schon das weitere. Dabei sind in Wahrheit schon die nächsten Raten fällig…

Seltsam schlingernder Weg durch das Stück

Seltsam schlingernd führt der Weg in Dortmund durch das Stück. Mal treten die Personen recht polterig und maulend auf, dann wieder etwas steifbeinig, zögerlich und verdruckst. Daran ändern auch die gelegentlich vollführten Revueschritte, Sinnbild der Leichtfertigkeit, wenig: Überblick, Formsinn und Eleganz sind nicht gerade die Tugenden dieser Inszenierung, wohl aber im einzelnen eine sympathische Engelsgeduld mit den Figuren, die Platz und Zeit bekommen, sich zu entfalten, wenngleich der Ertrag an Zwischentönen diesem liebevollen Zuwarten nicht durchweg entspricht.

In jenenTraumszenen, in die Loman unversehens hineingleitet und in denen seine Söhne plötzlich wieder als Kinder in kurzen Hosen hemmtollen, wird ziemlich hohl und haltlos gealbert. Da wird etwas zuschanden, was zuvor sensibel errichtet wurde.

Die Tragik als Familiensyndrom

Andere Passagen wiederum, so etwa Lomans hoffnungsloser Besuch beim Chef Howard (Thomas Gumpert), besitzen starke Binnenspannung, da sitzt jedes Wort wie ein Pfeil. Auch das Schweigen ist dann kein bloßes Stummsein, sondern beredt und schmerzlich aufgeladen mit Bedeutung. Und Felicitas Wolff als Lomans Ehefrau Linda hat intensive Momente als Ikone der Duldsamkeit. Überhaupt wird klar ausgeleuchtet, daß sich die Tragik nicht auf Willy Loman beschränkt, sondern als Familiensyndrom alle erfaßt.

Ein paar sentimentale Weitschweifigkeiten hat man dem Text (hier in der Kino-Übersetzung von Volker Schlöndorff) ausgebtrieben. Dennoch bleibt das Unterfangen insgesamt zu brav und behutsam. Vielleicht hat der junge Regisseur denn doch zuviel Respekt. Produktiv zergliedert oder gestülpt hat er das Stück an keiner Stelle. So bleibt in Dortmund abermals der Eindruck einer soliden, aber nicht wirklich aufregenden Theaterarbeit.

Termine: 29. Jan., 13. und 14. Feb.




Nur ein kleinbürgerliches Ferkel – Uraufführung von Franz Xaver Kroetz‘ „Der Dichter als Schwein“

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Man stelle sich vor, jemand ließe immerzu ein Tonbandgerät etwa in seiner Wohnküche mitlaufen. Alle Worte und auch jeder Mist, den man schwätzt, würden aufgezeichnet und sodann schriftlich für Mit- und Nachwelt festgehalten. Schrecklicher Gedanke. Und schon eine schnurgerade Hinleitung zu Franz Xaver Kroetz‘ Stück „Der Dichter als Schwein“, das jetzt in Düsseldorf zur Uraufführung gelangte.

Bereits zwischen 1986 und 1988 hat Kroetz diesen ungefügen Text aus seiner Feder rinnen lassen. Mit guten Gründen hat sich seither niemand heranwagen wollen an dieses allseits ausufernde, so gut wie unverdichtete Geplapper, das – je nach Durchgangstempo – ungekürzt wohl für vier bis fünf Stunden Spieldauer gut wäre, von der Substanz her aber auf einige gedrechselte Aphorismen zusammenschnurren müßte.

In Düsseldorf, wo derzeit offenbar auch das Telefonbuch eine reelle Bühnenchance hätte, erlebt man nun die vorweihnachtliehe Bescherung, eine seltsame Mixtur aus Kraftmeierei und Weinerlichkeit.

Gipfelsturm zum fäkalischen Frohsinn

Rund um den Dichter Toni Keck (Jörg Pose) hat Kroetz all das aufgehäuft, was für unbürgerlich gilt. Dieser Keck ist ein Säufer, er treibt’s heftig bisexueil mit Inge (Veronika Bayer) und dem Schauspieler Max (Marcus Kiepe), die er ansonsten beide wie Sklaven behandelt, und er hat sich bei den Eskapaden wohl einen Tripper eingefangen.

Trotz all der Bemühungen bringt’s der Mann aber nicht zum wirklichen Schwein, sondern bloß zum kleinbürgerlichen Ferkel. Er wirkt wie ein reichlich unseriöser Verkäufer in eigener Sache.

So beginnt das Stück: Gerade hat Keck wegen eines Vorabendsuffs eine Lesereise nach Kairo platzen lassen (Ach, wäre er doch abgeflogen!), da klingeln auch schon seine drei Telefone: Regiegrößen wie Zadek und Peymann oder das Goethe-Institut wollen ihn unbedingt sprechen. Anhand dieser Telefonate serviert Kroetz klägliche Bruchstücke einer „Dramentheorie“. Wir erfahren beispielsweise, daß Gentechnik schwer fürs Theater umzusetzen sei, da man ja die Gene nicht sehen und zeigen könne. Potzblitz!

Hernach ist manchmal von der Nichtigkeit der Welt und oft von Sperma oder Exkrementen die ungebremste Rede. Als Keck seine bäuerlichen Bekannten in Bayern aufsucht, darf sich jeder mal so richtig vollsudeln, indem er/sie auf dicken Haufen von Hundescheiße ausgleitet und sich die stinkenden Schuhe sogleich am TV-Gerät abstreift. Welch ein Gipfelsturm fäkalischen Frohsinns!

Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen

Genug. Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen, man kann ihm nur ein paar Applikationen aufnähen – oder besser gleich: auf einen Schelmen anderthalbe setzen. Die Dramaturgie und die tapfere Regisseurin Thirza Bruncken haben zu mindest ein Drittel der Textmasse gekürzt. Dafür Dank.

Kroetz‘ Figuren werden wie Genre-Marionetten behandelt, und das läßt sich mit den versierten Darstellern auch passabel an. Mal agieren sie gravitätisch mit gepuderten Perücken, sozusagen in Opernkluft, dann wieder verfallen sie gezielt in dumpfes Bauerntheater oder hampeln in Revue- und Slapstick-Manier herum. Vermutlich sind derlei Wechselspiele ja auch postmodern – oder so ähnlich.

Man verbirgt zudem keineswegs, daß man über eine Drehbühne verfügt. Die saust in einem Akt ohne Unterlaß wie ein Karussell umher. Dabei bekommt man doch schon vom bloßen Text einen Drehwurm.

Das Stück konnte also nicht gerettet werden. Die Schauspieler hatten halt was zu spielen. Der Betrieb geht weiter. Fragt sich nur, wie: Bei dieser Uraufführung klafften enorme Lücken im Parkett, der Beifall war begrenzt. Erosionserscheinungen?

Termine: 27., 30. Dezember 1996 – 3. und 10. Januar 1997.




Leiden am falschen Leben – Anna Badora inszeniert Tschechows „Iwanow“ in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Kaum ist der Bühnenvorhang beiseite gezogen, da läßt Iwanow einen kleinen weißen Flugdrachen quer über die karge Szenerie segeln. Das gibt schon den ersten Beifall. Nimm’s leicht – nimm Tschechow.

Doch eigentlich ist dieser Iwanow (Artus-Maria Matthiessen), eine frühe Schöpfung des russischen Dichters, von namenloser Melancholie befallen. Erschöpft hat sich Iwanows Liebe zu seiner Frau Anna (Anke Schubert). Überhaupt hat sich seine Lebensenergie verflüchtigt. Alles ist ihm zur Neige gegangen. Um diesen bedauernswerten Menschen kreist und trudelt das Stück wie um eine leere Mitte.

Regisseurin Anna Badora, bislang von der Kritik nicht eben verwöhnte Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, will sich offenbar nicht nachsagen lassen, sie habe das Rätsel von Iwanows „Krankheit zum Tode“ nicht gelöst. Als süßsaure Typenkomödie führt sie das Bestiarium einer versoffenen und geldgierigen, vor allem aber zutiefst gelangweilten Gesellschaft vor, die nur noch in gelegentlichen Zornesausbrüchen Reste von Lebendigkeit verspürt.

Selbstgerechter Tugendbold als Gegenpol

Als moralischer Gegenpol geriert sich Annas Arzt Lwow (Thomas Schendel), der Iwanow als betrügerischen Mitgiftjäger entlarven will. Doch dieser penetrant selbstgerechte Tugendbold ist kaum weniger widerwärtig als die latenten Rassisten, die Intriganten, Zinswucherer und Zyniker, die dieses Drama bevölkern.

Das Leiden an solcher Umgebung läßt Iwanow also verzagen. Zudem krankt er am Utopie-Verlust. Sein Studienfreund Pavel Lebedew (Wolfgang Reinbacher) münzt einen verräterischen Satz auf Iwanows Jugendträume: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Die Sentenz stammt nicht von Tschechow, sondern von Theodor W. Adorno, dem Vordenker der 68er-Studentenrevolte. Iwanow, einst leidenschaftlicher Verfechter der Landreform und des alternativen Wirtschaftens, gleicht einem gescheiterten „68er“. Auch eine Deutung.

Sie hilft freilich nicht weiter, wenn sich die Geschlechterfrage stellt. Iwanow verläßt allabendlich seine unheilbar schwindsüchtige Frau Anna (die einst seinetwegen ihren jüdischen Glauben aufgab und von ihren Eltern verstoßen wurde) und treibt sich im Salon seiner Gläubiger, der Lebedews, herum. Könnte er deren blutjunge Tochter Sascha (Bibiana Beglau) heiraten, wäre er aller Schulden ledig. Ein Schuft, aber mehr noch ein Schmerzensmann: Sein Gefühl allseitiger Sinnlosigkeit vergiftet jegliches Kalkül.

Untiefen des Textes kaum ausgelotet

Für derlei Verwehen und Vergehen, ja für jederlei Hinfälligkeit findet die Inszenierung keinen Ton. Meist steht sie zu fest auf dem Boden des vermeintlich gesunden Menschenverstandes, sie verfehlt den grassierenden Wahn, gerät nicht ins melancholische Schweben.

Stattdessen kommen die Akteure vielfach stampfend, dampfend oder gar schenkelschlagend daher. So können, trotz guter Ansätze in psychologischer Feinzeichnung, die Untiefen des Textes nicht ausgelotet werden. Selbst Iwanow und Anna wirken nicht wirklich versehrt, sondern so, als simulierten sie.

Nicht jene Fassung wird gespielt, in der Iwanow am Ende einfach tot niedersinkt, sonder jene, in der er sich erschießt. Ein Knalleffekt, nach dem die Schlußszene zum Tableau erstarrt.

Das Gefühl, recht ordentlich unterhalten worden zu sein, und ein gewisses Unbehagen halten sich die Waage. Das Premierenpublikum war angetan. Aber vom Geiste Tschechows war dieser Abend nicht.

Termine: 12., 13., 16., 22. und 25. Dez. – Karten: 0211/36 99 11.




Schaubude des Unglücks – Nicky Silvers „Zwillingsbrut“ als deutsche Erstaufführung in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Was kommt heraus, wenn man bitterernste psychologische Fälle in die Form einer Seifenoper gießt? Nun, zum Beispiel so etwas wie Nicky Silvers US-Stück „Zwillingsbrut“, das jetzt als deutsche Erstaufführung (Regie: Harald Demmer) im Dortmunder Schauspielstudio gegeben wird. Das populäre Genre wird boshaft-lustvoll bedient und zugleich entlarvt.

Bernadette ist eine hysterische Schreckschraube, quasselsüchtig zum Steinerweichen, als nahezu niedliche Neurotikerin gespielt von Wiebke Mauss. Ihr Zwillingsbruder Sebastian (wie von Woody Allen erdacht: Michael Fuchs) betritt als erfolgloser und hochverschuldeter Ostküsten-Intellektueller die bonbonbunte Bühne der Beschädigten.

Bei Mutters Begräbnis, der ein von der Brause katapultierter Duschkopf den Garaus gemacht hat, begegnen sich die Geschwister. Im nervösen Pingpong der Fix-und-Fertig-Dialoge à la TV-Comedy zeigt sich hartnäckiger Hang zum Unglück. Bloß kein beschauliches Leben führen, es wäre ja wohl nicht zum Aushalten, oder?

Ausbruch zwecklos: Bernadettes Mann Kip (Thomas Gumpert), der nicht mehr Zahnarzt, sondern Maler sein und nackend-naturnah in Afrika leben will, ist eine hüftsteife Lachnummer. Für Sebastian hat der ganze Wahn beim Kindergeburtstag mit dem tristen Frohsinnsterror seines Miet-Clowns begonnen; damals, als sich Bernadette die Haare anzündete, weil sie den sengenden Geruch mochte. Jetzt, seit dem elf Jahre zurückliegenden Aids-Tod seines Freundes Simon, hat der schwule Sebastian keinen Menschen mehr richtig berührt. Nur der Briefwechsel mit einem Mörder im Knast (Christoph Schlemmer) hält sein Interesse am Leben halbwegs wach. Lockung des Abgrunds.

Verstorbene Mutter erscheint in Engelsgestalt

Sodann blitzen die Messer: Sebastians erbärmlich einsame Psychologin (Ines Burkhardt) sticht sich in einem Anfall von Gottsuchertum die Augen aus und vegetiert als zerlumpte Büßerin dahin. Ein geldgieriger Stricher schneidet Sebastian beim Oralsex beinahe das Kostbarste ab. Prompt erscheint die verstorbene Mutter in Engelsgestalt dem verwundeten Sohn und enthüllt: Sebastian ist bei einer Vergewaltigung gezeugt worden. Grelle Effekte in dichter Staffelung.

Ein Panoptikum von Schuld, Sühne und Selbstverstümmelung. Schaubude monströsen Unglücks, Verzweiflungs-Comic. Ganz recht also, wenn man das rasierklingenscharfe Stück in Dortmund auch mit den Mitteln der Schmiere ins Schrille schraubt. Beachtliche Schauspieler, die dies vollbringen, ohne daß es peinlich wird.

Und dann gibt es noch jene Traumspiel-Einschübe, in denen die Phantome eines besseren Daseins herumgeistern. Wenn sich Bernadette am Ende von ihrem Mann lossagt, um mit ihrem Baby und Sebastian eine Dreifaltigkeit zu bilden, kann man sich dies freilich nur als minimalen Glücks-Rest vorstellen: als endgültige Flucht in die Regression, in den seelischen Embryonalzustand. Solches Weh erfaßt keine handelsübliche Seifenoper.

Termine: 30. Nov., 1., 5. und 6. Dez., Karten: 0231/16 30 41.




Sprachphilosophie aus der Bauernstube – Brian Friels Stück „Translations“ zum englisch-irischen Konflikt in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Anno 1833 in einem irischen Dorfe. So weltfremd sind die Leute, daß sie nur Gälisch reden und als Erwachsene lieber lateinische und griechische Brocken hinzulernen, als sich die Sprache der englischen Kolonisatoren anzueignen. Oder ist dies schlaue Verweigerung?

Brian Friel hat seinem Stück „Translations“ (Übersetzungen) auch eine quasi politische Dimension gegeben. Doch darüber hinaus entwirft der Text eine staunenswert vielschichtige Reflexion über Sprache – und dies anhand von Dialogen in einer bäuerlichen Stube. Leider müssen wohl etliche Nuancen des englisch-irischen (Sprach-)Konflikts im Deutschen verlorengehen.

1991 spielte man in Freiburg den Text des irischen Autors unter dem interpretierenden Titel „Sprachstörungen“. In Essen (Regie: Katharina Kreuzhage) bleibt es beim Original „Translations“. Ort der Handlung ist besagte Dorfschule, in der der versoffene Hugh (liebenswert knorrig und knarzig: Berthold Toetzke) auch Knechten und Mägden die antiken Sprachen beizubiegen sucht. Hei, wie quietschen da die Griffel auf den Schiefertafeln!

Verbale Vorzeichen der Gewalt

Doch das seltsame, eigentlich schon verstörte Idyll der rückständigen Verschrobenheit wird bedroht, wenn zwei Engländer als Landvermesser auftauchen. Sie machen sich, als militärischer Vortrupp, die Gegend nicht nur kartographisch untertan, sondern erobern sie auch sprachlich, indem sie die urtümlichen gälischen Kehllaute der Orts- oder Flurnamen durch hier eher platt und geschäftlich klingende englische Neuschöpfungen ersetzen. Sprache als Enteignung, als „Entsorgung“ von Geschichte und Herkunft, als Vorbotin künftiger Gewalt.

Während der englische Leutnant Yolland (Michael Schütz) dabei gelinde Skrupel verspürt, hat sich der Ire Owen (Axel Holst) dem Zeitenwandel anbequemt. Der Mann, der den Engländern als Übersetzer assistiert, bleibt freilich wortkarg, wenn das Eigentliche gesagt werden müßte. Er täuscht seine Landsleute über ihre desolate Lage hinweg. Sprache als Lüge.

Eine unsagbare Liebe

Schon eingangs hat man gesehen, wie die junge Irin Sarah (Katrin Brockmann) ihren Namen hersagen soll und sich jeden einzelnen Laut abringen muß. Schmerzlich erfährt sie die Sprache als Zwang. Und als sich zwischen Yolland und Maire (Marie Therese Futterknecht), die einer des anderen Sprache nicht reden, eine englisch-irische Liebe anbahnt, sind sie ganz auf ihre hilflosen Gesten zurückgeworfen. Buchstäblich unsagbar ist diese Liebe – in der quälenden Szene mischen sich Komik und Verzweiflung.

Am Ende wird die Sprache in wahnhaftes Gebrabbel ausufern. Sie ist nun gleichsam geisterhaft allgegenwärtig, doch ihre herkömmliche Bedeutung ist zerstört, denn inzwischen haben die Engländer mit soldatischer Gewalt gedroht. Im Bühnenhintergrund lodert schon das Feuer.

Gottlob hat die Regie der Versuchung widerstanden, die sprachliche Kolonisation etwa auf west-ostdeutsche Verhältnisse umzumünzen. Überhaupt enthält sich die konzentriert zu Werke gehende Inszenierung aller Mätzchen. In einem schlichten, just spieltauglichen Bühnenbild (Wolf Münzner schuf einen grünlich schimmernden Raum mit himmelwärts weisender Leiter) stellt sich das homogene Ensemble ganz in den Dienst des Textes. Beachtliche Vergegenwärtigung einer lohnenden Vorlage.




„Die Ermittlung“: Eine Form für das Ungeheuerliche

Von Bernd Berke

Wuppertal. Aus dem blauen Bühnenhorizont schälen sich Dia-Projektionen heraus: ein Berg von Brillen, der Weg zu einem Lagertor, Blechdosen mit der Aufschrift „Zyklon B“. Man kann die unbegreiflichen Leiden im KZ nicht wirklich abbilden, man kann aber darauf hinweisen, Zeichen setzen. Man kann? Nein, man muss! Peter Weiss‘ „Die Ermittlung“, uraufgeführt 1965, bleibt nicht nur ein wichtiges, sondern ein notwendiges Stück.

Weiss (1916-1982) verhandelte in dem dokumentarischen Drama das ungeheuerlichste Verbrechen der Geschichte, den Massenmord in Auschwitz. Hauptsächliche Quelle war der Frankfurter Auschwitz-Prozeß (1963-65), ein literarisches Muster gaben Dantes Gesänge aus dem „Inferno“ der „Göttlichen Komödie“ vor. Eine Form für das Formloseste, was sich denken läßt. Und ein Inhalt, der es sehr schwer macht, überhaupt von theatralischer Umsetzung zu reden.

In Wuppertal, wo man zur Premiere vor beschämend halbleerem Hause spielte, liegen anfangs Dutzende von leeren Stühlen auf der Bühne. Sie werden im Verlauf der zwei pausenlosen Stunden nach und nach aufgestellt und am Schluß wie zu einem Scheiterhaufen geschichtet. Ein Vorgang, der nicht eben zwingend erscheint.

Regisseur Holk Freytag löst den gerichtlichen Zusammenhang des Stückes auf. Alle zwölf Beteiligten (sechs Männer, sechs Frauen) erscheinen in hellen Uniformen, sie gleiten ständig von Rolle zu Rolle: Jeder ist abwechselnd Angeklagter, Verteidiger, Richter oder Zeuge.

Einmal steht auf diese Weise einem Zeugen ein auf vier Sprecher verteilter Lageraufseher Kaduk entgegen, der zudem noch von chronischem Gelächter unterstützt wird. Übermacht der NS-Schergen, auch noch beim Prozeß? Schmerzhaft deutlich wird jedenfalls, auf welcher furchtbar fühllosen Sach- und Detailebene die Schrecken von Auschwitz vor Gericht abgehandelt werden mußten. Das Eigentliche war den weltlichen Richtern der Justiz und ihren Gesetzen nicht zugänglich.

Der Verzicht auf die Tribunal-Situation und die Rollenwechsel lassen freilich eine gewisse Undeutlichkeit aufkommen. Möglich, daß eine allseitige Kumpanei der Verleugnung gemeint ist oder gar der oftmals beschworene „Hitler in uns allen“. Aber Unkundige (speziell jüngere Zuschauer) könnten den fatal falschen Schluß ziehen, Täter und Opfer seien letztlich austauschbar.

Vielfach, besonders zu Beginn, wird im atemlosen Stakkato geredet. Das bringt nicht nur etliche Sprechfehler mit sich, sondern raubt manchem Satz die nötige Wirkungs-Zeit. Der Atem stockt einem allerdings immer dann, wenn die Inszenierung das Tempo verlangsamt, wenn sie auf dem Festhalten von Einzelheiten besteht, die jede noch so monströse Lager-,,Statistik“ übersteigen. Es werden ja in diesem Stück Untaten geschildert, die einem das Bewußtsein zerspalten müßten.

Es ist daher völlig richtig, daß das Ensemble sich am Schluß nicht zum Beifall verbeugt, sondern uns mit dem Schlußbild allein läßt. Hilflos sitzt man da. Und man versteht vielleicht, warum sich auch das Theater diesem Text nur hilflos nähern kann.

Die nächsten Termine erst wieder im Januar: 4., 5.. 8. und 10. Januar 1997.




Im Dschungelkampf der Liebe – Leander Haußmann inszeniert Shakespeares „Sommernachtstraum“ in Salzburg

Aus Salzburg berichtet Bernd Be r k e

Lysander liebt Hermia und schenkt ihr ein Paar Schuhe, womöglich aus dem Schlußverkauf. Hernach, wenn der Puck im Walde Lysanders Blick mit einem Kräutlein behext hat, glaubt dieser plötzlich Helena zu lieben. Da entreißt er Hermia die Schuhe und überreicht sie der neuen Angebeteten.

Die freilich ist ein rubenshaftes Mädchen und hat viel zu große Füße. Sieht trotzdem so aus, als äußere sich Zuneigung zumal in materieller Transaktion, als sei sie ein heilloses Geschäft.

Bochums Intendant Leander Haußmann hat Shakespeares unverwüstliche Liebesverwirrung „Ein Sommernachtstraum“ für die Salzburger Festspiele in Szene gesetzt. Und er hat doch hoffentlich mehr im Sinn als vorschnelle Denunzierung geschlechtlicher Umgangsformen? Mal sehen.

Ein roter Vorhang wogt und wallt über die ganze imposante Bühnenbreite der Felsenreitschule. Schon bevor das Tuch vom Sturme beiseite geblasen wird, erscheint dahinter in leuchtenden Reklame-Lettern der Schriftzug „The Wood“. Der Zauberwald lockt mit den Mitteln einer Imbißkette.

Im Hintergrund rauscht die Toilette

Wenn die wechselhaft Liebenden einander hier in Lust und Streit begegnen, verfallen sie rasch in Sprech-Übertreibungen wie aus dem ComicHeft. Poesie wird dann hechelnde und geifernde Gier im Nu, es quieken und knarren die Stimmchen. Und im Hintergrund rauscht gelegentlich eine Toilettenspülung. Geht denn alles den Bach hinunter?

Hermia (Steffi Kühnert), Helena (Sabine Orleans), Lysander (Oliver Stokowski) und Demetrius (Jan Gregor Kremp) entstammen der achtlosen Konsumwelt und somit einer Pop-Fraktion: „Hello, I love you, won’t you tell me your name?“ schmachten die Männer mit einer „Doors“-Titelzeile.

Sowieso geht’s bei Haußmann wieder mal enorm sangesfroh zu; auch Trompete, Mundharmonika und Laute kommen zum Einsatz. Manch ist’s stimmige Klangmalerei, manchmal nur Trallala. Wie denn überhaupt die ganze Inszenierung einige allerliebste Einfälle mobilisiert und zuweilen wundersam kindlich geraten ist, aber dann wieder nur töricht-kindisch vor sich hin kräht. Auch das hält dieses unvergleichliche Stück aus.

Nur Rest-Grün mit Single-Bäumchen

„Natürlich“ besteht der Forst hier lediglich aus Restgrün mit einem Single-Bäumchen. Ansonsten ähnelt die Szenerie einem schwierigen Parcours: Ringsum lauter Gestellen als Stolperfallen, in der Mitte ein vielseitig verwendbarer Holzkasten-Aufbau mit Drehscheibe. Wär’s Plastik, käm’s wohl aus Legoland.

Gottlob beschränkt man das Spiel vor allem auf dieses Zentrum, denn das ungeheure Breitwandformat der gesamten Bühne hat schon so manches Unterfangen in die lautstarke Deklamation gedrängt und damit ästhetisch erstickt.

Im Waldbezirk, den nachts der zauberische Oberon (Christian Grashof) und Titania (Almut Zilcher) mit ihren Elfen regieren, treffen die Menschen-Paare in olivgrüner Tarnkleidung aufeinander. Fertig machen zum Dschungelkampf der Liebe! Doch keine Angst! Es blitzt zwar Gewaltsamkeit auf, doch eher nach Art von slapstickhaften Videospielen, Game-Boys oder eben Comics. Ein Getümmel der ungereiften Liebesdinge. Von tieferem Weh weiß man in diesem Waldstück wenig.

Muss man bestimmte Darsteller besonders hervorheben? O ja! Zum einen André Eisermann als „Puck“, der mit irrwitzigem Gesten-Vokabular kobolzt und alles auf Trab bringt. Tatsächlich ein Wesen aus einer anderen Welt.

Sechs grandiose Darsteller treten zum „Klamauk“ an

Vor allem aber mutet es wie eine der großartigsten „Verschwendungen“ der jüngeren Theatergeschichte an, die Handwerkertruppe um Zettel und Squenz mit diesen sechs Größen zu besetzen: Michael Maertens, Peter Fitz, Otto Sander, Ignaz Kirchner, Hans-Michael Rehberg und Ulrich Wildgruber. Diese grandiosen Darsteller müssen also ausgerechnet jene grottenschlechten Hobby-Schauspieler mimen, die Shakespeare zum Klamauk antreten läßt. Doch wieviel mehr als bloßer Unsinn steckt darin, man sieht es nun. So herrlich sinnzerstäubend agiert das Sextett, daß in beinahe Beckett’scher Manier die Anfangs- und Endgründe des Theaters aufwirbeln.

Am Schluß packt Hermia ihren Koffer und emigriert aus der allseitig hergestellten Zufriedenheit mit dem öden Mittelmaß der Beziehungen. Aufbruch ins Land der wahren Empfindung. Just in diesem Moment sehen wir ein weißes Einhorn vorüberschreiten, Aha! Es gibt sie also, die unfaßlichen Dinge. Hätte uns Leander Haußmann nur noch mehr davon gezeigt und sich nicht so sehr im Heutigen verloren.




„Jedermann“ will alles – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes in einer Bochumer Variante

Von Bernd Berke

Bochum. Dröhnender hat der Tod den reichen „Jedermann“ wohl selten gerufen. In der Bochumer Jahrhunderthalle, einem gigantischen früheren Werksgebäude von Krupp, hallt das Echo des Namens sekundenlang schaurig nach. Überhaupt ist beim Sterben des reichen Mannes in Bochum beinahe alles anders als in Salzburg, wo Hugo von Hofmannsthals Version alljährlich als christliches Mahn-Spiel vor dem Dom gegeben wird.

Der „Bochumer Jedermann“ (offizieller Titel) ist ein Investor, der just das aufgegebene Krupp-Areal rings um die imposante Jahrhunderthalle aufkaufen und die Industriebrache zum lukrativen Konsum- und Freizeitparadies ausbauen will. So etwas soll’s ja geben.

Mit dem Cabrio durch die Jahrhunderthalle

Spielort gleich Handlungsort. Das hat einen gewissen Reiz; gibt es doch dem reichen Jedermann (Thomas Rech) Gelegenheit, mit einem Cabrio bayerischer Marke samt zickiger Buhlschaft (sprich: Geliebte; Vesna Buljevic) durch die Halle zu rasen und das Objekt seiner Begierde gleich in Augenschein zu nehmen.

„Jedermann“ will alles. Gott ist hier nicht mehr der große Weltenherrscher, sondern nur eine ferne, etwas brüchig gewordene Stimme. Und der Teufel (Axel Walter), ein Abklatsch des Mephisto, treibt nur miesen Schacher: Gibst du mir deine Seele, bekommst du die Immobilie gratis…

Zwischen Aufblähung und Kleinkunst

Das Theaterkollektiv „stahlhausen enterprises“ (Bochums freie Thealozzi-Truppe, verstärkt um Darsteller verschiedenster Provenienz) müht sich, die weiträumige Spielfläche weidlich zu nutzen. Schon der Bote, der zu Beginn Aufmerksamkeit vom werten Publikum fordert, kommt auf modischen Rollschuhen (Inline-Skater) angedüst. Alsbald hinkt der Teufel unter wabernden Dampfwolken herbei, wird aber sofort von einem Hausmeister im Revier-Tonfall („Wat machß du denn hia, ey?“) angemeiert. Das nicht immer fruchtbare Wechselspiel zwischen Aufblähung und Kleinkunst zieht sich durch den ganzen Abend.

Regisseurin Gudrun Gerlach hat sich nicht nur textlich im ganzen Umkreis des Stoffes (Urversion: England, spätes 15. Jahrhundert) bedient, sondern auch auf der Bühne ein Konglomerat aller möglichen Theaterformen angerichtet. Sie hat sich halt überall was abgeguckt, wohl auch hoch droben bei Heiner Müller und Pina Bausch. Doch hier heinermüllert und pinabauscht es lediglich lau daher, die Mittel reichen – zumal in zahllosen Nebenrollen – für wirkliche Kraftakte nicht hin.

Man sollte doch, man müßte mal…

Musicalartige Einlagen haben wir auch. Zudem tritt eine Männergesangsgruppe („Brüder, zur Sonne, zur Freizeit“) an. Man sieht Sequenzen mit „volksnahem“ Spaß- und Lachtheater, aber auch Versuche im finsteren großen Weltendrama. Gerüste werden aufgefahren, Feuer lodern im Hintergrund. Exerzitien in Sachen Tanztheater gibt’s gleichfalls, wenn jene fünf „Leichen der Vergangenheit“ der körperlichen Selbsterfahrung frönen. Vieles wirkt wie beliebiger Einschub, etwa nach dem Leitsatz: Diese Form könnten wir doch auch noch erproben. Man sollte doch, man müßte mal…

Manche mögen es für sinnlichen Reichtum an Ausdrucksformen halten, doch aufs Ganze gesellen, zerfasert das Konzept. Es ist kein grandioses, aber doch ein sympathisches Projekt, unterhaltsam oder bedenkenswert in manchen Einzelteilen. Besonders die Szenenfolge mit „Jedermanns“ Investoren-Pressekonferenz samt anschließender Schickimicki-Fete, in deren Verlauf sich ein von ihm drangsalierter Bochumer Opel-Malocher in den Tod stürzt, entfaltet bewegende Kontrastwirkung.

Am Schluß wird – wie rührend – „Jedermanns“ Seele durch ein armes Ruhrgebietspaar (Frührentner und Taubenmutter) doch noch gerettet, so daß Satan sich ein anderes Opfer suchen muß. Tatsächlich ist ein neuer Investor, ein neuer „Jedermann“ sogleich zur Stelle, und alles könnte von vorn beginnen. Jaja, so ist der Welten Lauf. Doch haben wir damit wirklich etwas gelernt, was wir vorher nicht wußten?

Termine: 13., 14., 19., 20.. 21.7. (jeweils 21 Uhr), zahlreiche weitere Aufführungen bis Ende August (dann Beginn 20.30 Uhr). Jahrhunderthalle Bochum, Zufahrt Gahlensche Straße. Karten (22 DM, ermäßigt17DM). Tel. 0234/17 59 0.

 

 




Zeitreise in die Zauberwelt – Bob Wilson inszeniert „Time Rocker“ im Hamburger Thalia-Theater

Von Bernd Berke

Hamburg. Die vielen Kamerateams konnten ihren Sendern erfolgreiche Prominentensuche melden: Zur Uraufführung von „Time Rocker“ in der Regie des texanischen Theaterzauberers Bob Wilson gab es erheblichen Auftrieb im Thalia-Theater – von etlichen Bühnenchefs oder Schauspielern (Mathieu Carrière, Ulrich Tukur) bis zum „Tagesschau“-Sprecher Wilhelm Wieben. Sie alle waren hergepilgert, um gleichsam ein Sakrament in Empfang zu nehmen.

Denn Bob Wilson läßt Theater nicht einfach spielen, er zelebriert es als Liturgie wie kein anderer; mit atemberaubenden Bilderfolgen und ungeheuren Licht-Erscheinungen. Nach „The Black Rider“ und „Alice“ war „Time Rocker“ bereits seine dritte Hamburger Weihe-Handlung. Diesmal hatte Lou Reed, seit seinen wilden Zeiten mit „The Velvet Underground“ eine unumstößliche Größe der Rockszene, die Musik geschrieben.

Kriminalstory führt ins Nirwana

In 31 Szenen mit 16 Songs schleusen uns Wilson, Reed und Texter Darryl Pinckney in eine ausgedehnte Zeitreise ein. Anfangs geht’s zurück bis in die vorchristliche Ära, später voraus in visionäre Zukunftswelten. Notdürftig verknüpft sind diese Fahrten durch eine Kriminalstory. Priscilla (herausragend auch als Sängerin: Annette Paulmann) und Nick (Stefan Kurt, fernsehbekannt durch den „Schattenmann“) werden in seltsam mechanisch abschnurrenden Slapstick-Szenen von Scotland Yard beschuldigt, ihren Herrn und Meister, den Erfinder Dr. Procopius (Hans Kremer), hingemeuchelt zu haben. Dabei ist der Mann auf Zeitreise gegangen, und in dieses grenzenlose Nirwana zwischen den Epochen flüchten ihm nun Priscilla und Nick nach.

Und schon hat die Inszenierung ihren ersten ganz großen magischen Moment. Wenn die Zeitmaschine in Form eines weißen Fisches erscheint und vor blauem Breitwand-Hintergrund davonsegelt, glaubt man sich versetzt ins Zauberreich.

Kurz darauf wandert ein kleines weißes Haus über die dunkle Bühne – und man sieht gleichzeitig, wie sich jemand die überlangen, phosphoreszierend grünen Fingernägel abbeißt. Bewegliche Steine, tanzende Würfel, leuchtende Altäre, alles gibt’s in diesen taumelnden Welten. Rätselvolles Theater mit Charisma.

Es ist, als ob Wilson ein wunderschönes großes Bilderbuch umblättere. Und wo sind wir Zuschauer nicht überall gewesen! In einen altägyptischen Tempel sind wir geraten, in eine chinesische Opiumhöhle, zwischen drei mannstolle Studentinnen („Klick mich an, ich bin deine Maus“) oder in eine Badeanstalt der Zukunft, wo nackte Körper schwerelos schweben.

Ein Stuhl stürzt minutenlang um

In all diesen seherischen Szenen entfaltet sich der typische Wilson-Stil der Verlangsamung. Wenn etwa ein Stuhl umstürzt, so sieht man diesen Vorgang in einer mehrminütigen, enorm spannungsgeladenen Zeitlupe. Überhaupt wird „Time Rocker“ zu einer Meditation über das Zeitempfinden, aber auch über das Geisterhafte des menschlichen Körpers in einer technisch entgrenzten Zukunft.

Der Zusammenhang ergibt sich nicht wie sonst im Theater, sondern eher wie im Traum oder wie in einer betörenden Kunstausstellung. Nur daß man hier keinen Rundgang unternimmt, sondern die Bilder an einem vorbeigezogen oder – wie seltene Schätze – gehoben werden.

Von bezwingender Kraft und Einprägsamkeit ist auch Lou Reeds Musik. Schönes Wechselspiel: Mal lassen sich die Töne von und in den Bildern treiben, mal peitschen see die Szenen voran.

Termine: 16., 17., 18., 19. Juni. Karten: 040 / 32 26 66.




Wenn die Kindfrau mit ihren Verehrern singt – Gerhart Hauptmanns „Und Pippa tanzt“ als Rockoper in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Niemand ist vollkommen: Neben Klassikern wie „Die Weber“ und „Die Ratten“ hat Gerhart Hauptmann auch ziemlich verquaste Texte auf dem Kerbholz; zum Beispiel sein theatralisches Glashütten-Märchen „Und Pippa tanzt“ (Uraufführung 1906). Daraus hat man jetzt beim Wuppertaler Schauspiel eine Rock-Oper gestrickt.

Um sich von der bedrohlich flammenden Faszination durch die damals 17jährige Schauspielerin Ida Orloff „freizuschreiben“, hat der 43jährige Ehemann seine wunde Seele dramatisch in mehrere Männerfiguren aufgespalten, die allesamt von der Kindfrau und Tänzerin Pippa magisch angezogen werden. Vier Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: ein bürgerlicher Genußmensch (Glashüttendirektor), ein tierisches Triebwesen (Glasbläser Huhn), ein junger Schwärmer aus treudeutschem Geiste (Wandergesell Hellriegel) und ein mystischer Zauberer (Dr. Wann).

Alles drängt nur noch bebend zum Licht

In Hauptmanns Männer-Phantasien ist Pippa, Mädchen aus Venedig, die wahlweise als verlockendes „Vögelchen“, „Schmetterling“ oder „Motte“ bezeichnet wird, nur Projektionsfläche aller möglichen erotischen und künstlerischen Begierden. Daraus erwächst ein symbolistisches Gewoge, das keine Menschen, sondern stets nur Prinzipien und Traumbilder zueinander treibt.

Nur die derbe Eingangsszene in einer Schenke, wo Pippas Vater wegen Falschspiels erstochen wird, gibt sich noch naturalistisch. Danach wird’s wolkig, und alles drängt nur noch bebend zum Licht, endet aber finster. Kein idealer Stoff für rockmusikalische Zubereitung. Doch auf Hauptmann-Texten lasten keine hinderlichen Rechte mehr, man kann praktisch alles mit ihnen anstellen. Und irgendwann müssen sich die Beteiligten auch gesagt haben: Zum Deibel mit Hauptmann, wir machen unser eigenes Ding!

Dann aber hätten Texter Gerold Theobalt und Gastregisseur Tom Mega, der manchen als Kultrockstar gilt, das Stück auch konsequent durch den Wolf drehen sollen. So schleichen sich jedoch – nicht nur gesanglich – viele schiefe Tonlagen ein, denn manchmal nimmt man das Märchen für bare Münze, dann wieder weiß man offenbar nicht so recht…

Schlichte Farbdramaturgie: Die begehrte Pippa (bestürzend naiv und geheimnislos wirkend: Franziska Becker) kommt ganz in Rot daher, ihre Verehrer schwarz oder weiß, gelegentlich bläulich angestrahlt: schlesisch-nördliche Kälte, die sich nach italienischer Hitze in Literatur und Liebe sehnt. „Brenne, zünd‘ an, loder auf“, heißt es dann brünstig im Text. Dämonisch röhrt solche Zeilen der alte Huhn (Bernd Kuschmann), der schließlich Pippa mit ins Verderben reißt.

Die Reimqualität der Songs erhebt sich nicht allzu weit übers „Herz-Schmerz“ oder „Not-Tod“-Schema. Bekanntlich gibt’s gute Rockmusik mit simplen Texten, doch hier wird die akute Wortschwäche oft nur noch grell ausgestellt.

Dem „Tanz“-Titel zum Trotz wirkt die Aufführung hüftsteif und ungeschickt Die Bühne (Oliver Kostecka) ist unpraktisch vollgestellt, Figuren, die gerade nichts von sich geben, drucksen herum. Die beherzten Griffe zu den Gesangsmikros – zumal vom Sterbelager aus – sorgen für unfreiwillige Komik.

Die Musikstücke selbst, komponiert von Otto Beatus und dargeboten von den Lokalmatadoren „Das Pferd“, sind kreuzbrav, die Melodie-Linien oft bis zur Selbstverleugnung einfach. Das ist auch gut so, denn nicht alle Schauspieler können singen.

Bis zum Saisonende durchgehend im Schauspielhaus Wuppertal. Karten: 0202/563-4444.

 




Groteske Turnübungen für die Demokratie – Mülheimer Stücktage mit Texten von Buhss, Marthaler, Pohl und Dorst

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. War es die Auslese eines süffigen Dramen-Jahrgangs, die man beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb „stücke 96″ kredenzt hat? Insgesamt mundete es nicht schlechter als sonst. Doch die Entscheidung, den mit 20 000 DM dotierten Stückepreis an Werner Buhss zu vergeben, hat denn doch einen leicht säuerlichen Beigeschmack.

Buhss, 1949 in Magdeburg geboren, läßt in seinem Stück „Bevor wir Greise wurden“ (in Mülheim präsentiert von den Freien Kammerspielen Magdeburg) eine Handvoll ostdeutscher Abiturienten auftreten. Bedeutungsschwere Zeit: zwischen Stalins Tod und dem DDR-Volksaufstand yom 17. Juni 1953.

Es ist Buhss‘ zweiter Versuch, den von Uwe Johnson („Ingrid Babendererde / Reifeprüfung“) entlehnten Stoff zu dramatisieren. Und auch diesmal ist es ein etwas kraftloses Unterfangen. Den schwärmerisch veranlagten Jugendlichen droht im Realsozialismus frühe Vergreisung durch Anpassung ans SED-Maß. Dies wird so unbekümmert vorgeführt, daß es beim Mülheimer Publikum Irritationen auslöste. Man hätte es lieber düsterer gehabt.

Ovationen für die „Stunde Null“

Ovationen der Zuschauer erntete am letzten Abend der Stücketage der Schweizer Christoph Marthaler (44) für sein Werk „Stunde Null oder Die Kunst des Servierens“. Es zeigt die groteske Ertüchtigung von Managern und Politikern der 50er Jahre. Und wozu sollen sie sich stählen? Zur salbungsvollen Verdrängung der NS-Zeit, damit endlich das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ beginnen kann.

Marthaler, der die kultverdächtige Aufführung des Deutschen Schauspielhauses Hamburg selbst inszeniert hat, läßt sieben Männer zu pseudo-demokratischen Turnübungen antreten. Hier lernen sie Bewältigungs-Ansprachen ebenso wie das jovial-ballettöse Schreiten auf roten Empfangsteppichen oder das gekonnte Durchschneiden von Absperrbändern zur Freigabe neuer Autobahnen.

Sieben Herren richten synchrones Chaos an

Wenn e i n e r was Verrücktes treibt, ist’s vielleicht komisch. Wenn sieben Leute, dargestellt von so herrlichen Schauspielern wie hier, ein synchrones Chaos (ja, so etwas gibt’s) anrichten, ist es zum Wiehern. Keinen Gag lassen sie sich entgehen, ja mit Slapstick und Zoten wächst sich das Ganze beinahe zum dröhnend „bunten Abend“ aus. Doch da gibt es immer wieder jenes Innehalten, jene Risse, in die der lautlose Schrecken sickert. Freilich ist’s ein Stück für jene, die immer schon alles besser gewußt haben.

Klaus Pohls „Wartesaal Deutschland – StimmenReich“ hatte zuvor auch ein paar unterhaltsame Momente zu bieten. Doch ein saftiges Theaterstück ist das nicht, sondern die etwas schale Frucht einer Reportagereise durch ostdeutsche Gefilde und angrenzende Westlande, die Pohl im Auftrag des „Spiegel“ unternommen hat. Die markantesten Aussagen hat er bearbeitet, in 24 Häppchen portioniert und aneinander gereiht. In besseren Momenten taugt das Resultat zum Nummern-Kabarett.

Selbstgespräche im Wartesaal

Da erzählen – von der Putzfrau bis zum Professor – vor allem ehemalige DDR-Bürger ihre zumeist gescheiterten Lebensläufe. Ort des Redens ist ein Bahnhofs-Wartesaal. Die große Uhr bleibt auf 14.29 stehen, und so ähnlich – als verginge die Zeit nicht – kommt einem das Ganze mit zunehmender Dauer auch vor. Denn wir hören einen Monolog nach dem anderen. Es gibt keine erkennbaren Bündelungen, keine Kontraste, keinen Zenit, keine rechte Entwicklung, kaum Verdichtung. Fazit: eine notdürftig dem Theater zugeführte Reportage.

Mit Tankred Dorst, einem ständigen Wettbewerbs-Gast in Mülheim, ist man stets auf der sicheren Seite. „Die Geschichte der Pfeile“ ist, wie von diesem Dramatiker nicht anders zu erwarten, durchaus diskussionswürdig. Eine auf rätselhafte Weise anregende, zwischen Schmiere und Tragik angesiedelte Reflexion übers Bühnenwesen an sich, ein subtiles Spiel mit dem Theater und der Theatralik. Damit verdiente sich Dorst die (per Urnenwahl ermittelte) Publikumsstimme, die allerdings nur so viel zählt wie das Urteil eines einzigen Jurymitglieds.




Ein deutscher Alptraum – Heiner Müllers „Germania 3 – Gespenster am Toten Mann“ in Bochum uraufgeführt

Von Bernd Berke

Bochum. „Mach’s leicht!“ soll der Dramatiker Heiner Müller (1929-1995) dem Regisseur Leander Haußmann geraten haben. Haußmann war schon zu Lebzeiten Müllers ausersehen, dessen Stück „Germania 3 – Gespenster am Toten Mann“ in Bochum zur ersten Bühnengeburt zu verhelfen. Nun hat der gewaltige, ungeheuerliche Text das Scheinwerferlicht erblickt. Und siehe da: Er birgt unverhoffte Spiellust, zugleich aber unaufhörlichen Schmerz.

Die alptraumartige Collage zur deutschen Historie erfaßt – einem reißenden Strom vergleichbar – Bruchstücke der germanischen Sagenwelt und schwemmt auf ihrem Weg in die Gegenwart z.B. auch Wagner, Nietzsche, Hitler und Ulbricht mit sich. Heerschau unter den Gespenstern und Untoten der Geschichte. Und so viel Mord, daß das Blut in Bochum gelegentlich mit der Schöpfkelle ausgeteilt wird. Absurde Menschenopfer allenthalben, ob in Stalingrad oder an der deutschen Mauer. „Gott ist ein Virus“, der die der Welt schon in den Griff bekommen werde, heißt es im zynischen Prolog.

Dreieinhalb Stunden Chaos

Ein bunter Harlekin (Steffen Schult) geleitet uns durch das dreieinhalbstündige Chaos. Mal mit verzweifeltem Witz, mal kleinlaut verzagend. Haußmann hat sich – Müllers Ratschlag folgend – nicht der Düsternis hingegeben, sondern den Text mit einer Unzahl von szenischen EinfäIIen geradezu übersät. Vielerlei Spielformen werden in diesem Unter-Welttheater erprobt. Manche Figuren bewegen sich wie mechanische Marionetten oder agieren in verfremdender Zeitlupe, dann wieder wird heftiger Theaterdonner oder auch unbändiger Unsinn entfesselt. Auch wenn es im Detail noch nicht durchweg „stimmt“: So muß man eine solche Collage anpacken, sie verträgt es durchaus.

Mit Nebelmaschine, Schneekanone und höllischem Krach werden wir – nach einer blutrünstigen Ansprache Josef Stalins (Gennadi Vengerov) – in den Zweiten Weltkrieg versetzt, die nahezu nackte Bühne ist alsbald ein Schlachtfeld mit rieselndem Schutt und raunenden Geistern. Bewegende Bilderfolgen hat Haußmann für die spukhaften Verwandlungen und das Gleiten geschichtlicher Zustände gefunden. Da mutiert der kroatische SS-Mann von 1945 zum kroatischen Gastarbeiter anno 1960, oder die drei hinterbliebenen Frauen Bertolt Brechts zum Hexentrio à la Shakespeares „Macbeth“.

Die Sequenz mit den resoluten Brecht-„Witwen“ (Margit Carstensen, Traute Hoess, Irene Christ) gehört, ebenso wie eine abstruse DDR-Party der 50er Jahre, zu den Glanzpunkten. Doch stets kann solche Komik in ihr brutales Gegenteil umschlagen. Wenn etwa zum Brecht-Gedicht von den „finsteren Zeiten“ plötzlich ein seltsames elektrisches Reptil über den Bühnenboden schnürt, so ist dies grausiger, als man sagen kann. Haußmann entkräftet das Vorurteil, er kaspere nur mit dem Theater herum. „Mach’s leicht!“ Das hat er getan. Aber er hat es sich nicht leicht gemacht.

Hitler säuselt eine jiddische Melodie

Gesungen wird viel. Auf der Ziehharmonika werden die Hymnen von BRD und DDR intoniert, der besiegte Hitler (Heiner Stadelmann) säuselt gar eine jiddische Melodie, später gibt es „Kein Bier auf Hawaii“. Gipfel ist ein realsozialistisches Traktoristenlied, das zum Putzen des eisernen „Schollenfressers“ ermuntert. An ihren Liedern sollt ihr sie erkennen. Es klingt oft zum Verrücktwerden komisch…

Tags darauf wurde Heiner Müllers 1969 uraufgeführter „Prometheus“ (Regie: Marold Langer-Philippsen)“ nachgereicht. Man mag in der Anverwandlung des antiken Mythos‘ dies mitlesen: Kultur- und Lichtbringer Prometheus wird letztlich von einer Staatsmacht (Göttervater Zeus) an den Felsen geschmiedet.

Prometheus (Steve Karier) steckt in einer kafkaesken Zwangs-Apparatur, die karge Bühne mit metallischem Gerüst wirkt wie eine apokalyptische Werkshalle. Durch die dauernde Gefangenschaft der Hauptperson hat das Stück einen engen Radius, man müßte also desto mehr auf die Sprache achtgeben. Hier aber werden die Worte der ersten halben Stunde mit diktatorischem Gleichschritt buchstäblich zerstampft. Da mögen sich – in wechselnden Rollen – Joana Schümer, Andreas Edelblut und Samuel Zach noch so stilwillig mühen, die Sache ist damit schon weitgehend hinüber.

Termine: „Germania 3″ am 30. Mai, 11., 16. und 26. Juni / „Prometheus“ am 30. Mai, 8., 14. und 15. Juni. Karten: (0234) 3333-111.




Bayerischer Suff im alten Griechenland – Stücketage beginnen mit Herbert Achternbuschs „Der letzte Gast“

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. Nein, der „Nabel der Kultur-Welt“ ist Mülheim gewiß nicht. Dieses (von manchen keck beanspruchte) Prädikat wies auch Hans-Georg Specht, Oberbürgermeister der Stadt, in aller Bescheidenheit zurück, als er jetzt die Mülheimer Theatertage eröffnete.

Doch immerhin steht nun gleichsam wieder ein Wanderpokal des deutschen Feuilleton-Betriebs an der Ruhr. Denn zum 21. Mal geht es beim allzeit interessanten Dramatikerwettbewerb ums beste neue deutsche Stück.

Der Aufgalopp der Inszenierungen begann mit A wie Achternbusch, Herbert. Der hat mit seinem Drama „Letzter Gast“ sozusagen bayerische Kneipenatmosphäre ins klassische Griechenland verpflanzt. Treffen sich also ein alter Ägypter, ein Grieche und der Wirt, („zugroaster“ Römer) in einem Lokal zu Hellas. An der ägäischen Bucht ist das Bier grün, es verfehlt aber seine Wirkung nicht. Und wenn hernach der lebensgefährliche „Selbstgebrannte“ zum Einsatz kommt, zucken gar Blitze über die Bühne, die schlagartige alkoholische Hirnzertrümmerung signalisieren.

Und so salbadern sie denn auch, einer nach dem anderen seinen delirierenden Monolog abliefernd. Groteske Parodie auf die altgriechische Kunst der Rede und des Dialogs? Mag sein. Zwölf Lokalrunden werden binnen zwei Stunden Spielzeit geschmissen, und jede wird eingeläutet wie ein Boxkampf.

Wie viele Hügel hat das antike Rom? Ist die Erde eine Scheibe oder eine Kugel? Wie wäre es, wenn die Menschen statt der vielen Götter nur noch einen einzigen verehren? All das und noch vieles mehr wird beredet am promillo-philosophischen Stammtisch, der später – welch sinnfälliger Kommentar zum Stück – im überquellenden Theaterschaum versinkt.

Auftritt der Tierkopf-Götter und des kleinen Krokodils

In Alexander Langs Einrichtung (Münchner Kammerspiele) wird dem verbalen Wirrwarr mit Fez und Karneval Genüge getan. Da defilieren die ägyptischen Tierkopf-Gottheiten (Horus, Anubis & Co.) stumm und gravitätisch durch die Szenerie, da rennen bayerische Polizisten samt Nikolaus hinterdrein, und überm Tresen, der an einen Altarschrein erinnert (schönes Bühnenbild: Caroline Neven Du Mont), reckt auch schon mal ein kleines Spielzeugkrokodil sein Haupt. Tri-Tra-Trullala.

Autor Achternbusch scheint sich stets auf die Gnade des frühesten Einfalls verlassen zu haben. Schreib’s halt gleich hin, ‘s ist sowieso egal. Geradezu verschwenderisch gut muten demgegenüber die schauspielerischen Leistungen an. Thomas Holtzmann als vierschrötiger Wirt, Michael von Au als tuntiger Grieche Semel, Regisseur „Alexander Lang selbst als stocksteifer Ägypter Ptah und Jörg Hube als lachender „letzter Gast“ Thukydides – das ist schon ein Ensemble, auch mit Trinksprüchen aller Ehren wert.

Sechs weitere Autoren und ihre Stücke sind noch im Wettbewerb. Man wird sehen, wem am Schluß zugeprostet wird.




Piraten bei Windstille – Matthias Zschokkes Stück „Brut“ im Dortmunder Schauspielhaus

Von Bernd Berke

Dortmund. Piraten? Hey-Ho, mit denen geht’s wild übers Meer. Wenn man nur dran denkt, hat die Phantasie schon Wind in den Segeln. Doch was sind das nur für Freibeuter, die wir in der Dortmunder Inszenierung von Matthias Zschokkes Seestück „Brut“ kennenlernen?

Mag sein, daß sie alle möglichen Abenteuer schon hinter sich haben, aber das muß lang her sein. Nun sitzen sie, mitsamt ihrer Kapitänin Tristana Nunez (Ines Burkhardt), die nicht mehr auf blutige Taten, sondern auf passende Worte sinnt, in irgendeinem gottverdammten karibischen Dschungel fest. Wenn sie später doch noch in See stechen, so fahren sie mit ihrem blinden Steuermann Azor (Günther Hüttmann) im Kreise, immer und immer wieder. In ihren Sätzen tauchen Formeln auf wie „Immer dasselbe“ und „Wir sind alle überflüssig“. Folglich sind die ständigen Pläne des Navigators Hornigold Glaser (Andreas Weissert) allemal sinnlos.

Gezückter Dolch und abgebissener Finger

Dabei scheint doch alles zu passieren, was zu einem Piratenstück gehört: Es kommt schon mal ein Sturm auf, es gibt Gefangene wie jenen Dichter Julio Sloop (Michael Fuchs), der an Bord in einen Mastkäfig gesperrt wird. Wir sehen Prügeleien, es werden Dolche gezückt, dem Schiffskoch Caflisch (Heinz Ostermann) wird ein Finger abgebissen, und Ermordete wirft man über die Reling ins Meer. Wie sagt doch das als Jüngling namens Selkirk verkleidete, allseits heillos begehrte Mädchen (Wiebke Mauss): „Ich bin zum Entern hier, nicht zum Denken!“ Na, also.

Aber nichts geschieht hier richtig. Es ist immer nur ein „Als-ob“ und hat keine Konsequenzen. Nicht nur das hölzerne Schiff (Bühne: Karin Fritz), auch die Handlung strudelt im Kreise. Unauflösliches Gemisch widersprüchlicher Emotionen: Es wird nicht etwa geküßt oder geschlagen, man müßte schon paradoxe Worte wie Kußschlagen und Liebmorden dafür erfinden. Und man könnte Zschokkes 1988 uraufgeführten Text als typisches Werk der „Postmoderne“ bezeichnen, sprich: Er besteht vornehmlich aus Mythen-Plünderung, Zitaten und Simulation, es herrscht darin die Windstille am vermeintlichen Ende der Historie.

Beschwörung der ewigen Wiederkehr

In Dortmund kann man dies unerschrocken, streckenweise auch mit Behagen über sich ergehen lassen; als fast filmisch „geschnittene“ Nummernfolge (Regie: Clemens Bechtel), die öfter Witz aus dem Kontrast der Sprachebenen schlägt. Da werden z. B. Piraten-Fragen wie unter Angestellten abgehandelt: Wenn Selkirk das Schlepptau zum Beuteschiff kappt, wird er/sie nicht etwa sieben Tage bei Wasser und Brot an den Mast gehängt, sondern vom Offizier Hallwax (Heinz Kloss) brav gebeten, sich doch nächstens besser mit dem Anführer abzusprechen.

Doch als (wie aus dem Traumreich) eine Fürstin (Siham Mosleh) auf den Planken erscheint, hört man orientalisch-beredsame Schmeichelei. Dann wieder macht sich Beckettsche Sprachlosigkeit breit. Insofern ist’s ein wechselvoller, hin und wieder auch sprachschöner Text. Er gibt sich gelegentlich naiv, ist aber wohl ziemlich durchtrieben. Schon der Titel „Brut“ ist ja nicht eindeutig: Spricht man ihn deutsch aus, so denkt man ans Brüten oder an verhaßte Nachkommenschaft, sagt man’s französisch („brüh“), so bedeutet es „roh“.

Mit seiner Beschwörung ewiger Wiederkehr setzt sich das Stück aber doch frühzeitig selbst matt. Und so bringt es ein engagiertes, aber notgedrungen etwas ratloses Ensemble gerade mal dahin, unser Interesse eben wachzuhalten. Es dämmert halt so dahin. Und dies ist nicht die Schuld der Schauspieler.

Ungewohnt dürrer, rasch verebbender Premierenbeifall.

Termine: 19. April, 4., 5., 8., Mai, jeweils 19.30 Uhr. Karten: 0231 / 16 30 41.




Im Räderwerk der Korruption – Stefan Zweigs „Volpone“ nach Ben Jonson im Dortmunder Schauspiel

Von Bernd Berke

Dortmund. Schöne Frucht der Vergeßlichkeit: Als Stefan Zweig 1927 Urlaub in Südfrankreich machte, wollte er den „Volpone“ des Ben Jonson (1572-1637) übersetzen. Doch die englische Originalausgabe fehlte im Gepäck. Zweig machte sich an eine freie Nachdichtung – und so haben wir im Deutschen eine gar muntere Commedia über die Folgen der Habsucht. Die Rarität ist jetzt im Dortmunder Theater zu besichtigen.

„Eine lieblose Komödie“ nennt Zweig seine Bearbeitung von „Ben Jonsons Volpone“. Lieblos, weil keine glücklichen Paare sich finden – und weil sich eh alles um Neid und Gier dreht. In Volpones Villa (sparsam effektive Bühnenbilder: Thomas Gabriel) sind die Wände gülden, sie triefen aber, als klebe das Blut der Ausgeplünderten daran.

Volpone ist ledig, kinderlos und reich. Er hörtet etliches Gold und Zechinen in seiner Truhe. Und er macht sich einen Hauptspaß daraus, den Todkranken zu mimen. Denn so lockt er allerlei Erbschleicher an, die – nach einem günstigen Testament lechzend –Vorleistungen in Form von Gaben und „Freundschafts“-Diensten erbringen. Treten sie an sein vermeintliches Sterbelager, stöhnt und zittert Volpone sich was zurecht, sind sie fort, so springt er auf und freut sich, die Trottel genasführt zu haben.

Claus Dieter Clausnitzer als Volpone (zu Deutsch: „Fuchs“) zeigt sehr prägnant das barocke Behagen in solcher Bosheit, aber auch das als baldige Umspringen in erneuten Unmut. Seine Freude am gelungenen Betrug währt nie lang. Wie die anderen immer unverschämter nach seinem Besitz grapschen, so drängt seine Sucht, sie allesamt zu düpieren, ins immer Größere und Gröbere – und er zwingt seinen Diener Mosca, stets neue Teufeleien ins Werk zu setzen. Bis das Ganze gerichtsnotorisch wird.

Es ist, als lasse Clausnitzer andeutungsweise auch andere Rollen durchscheinen: Brechts sinnlichen „Galileo Galilei“ und – eingedenk der Fremdheit des reichen Levantiners Volpone in Venedig – wohl auch Shakespeares jüdischen Kaufmann von Venedig, den „Shylock“. So vielschichtig und so hintergründig kann man also den Volpone anlegen.

Rundherum genießt man süffige Typen-Komödie (Regie: Alexander Seer). Die Erbschleicher tragen Tiernamen des Fabelreichs und sind doch kenntliche Gesellen: Winkeladvokat Voltore („Geier“, Günter Burchert) zuckt wie eine mechanische Marionette seiner Gier. Der in eine braune Strickjacke gezwängte, in gelben Schuhen watschelnde Kaufmann und eifersüchtige Haustyrann Corvino („Rabe“, Jürgen Uter), der klapprige alte Wucherer Corbaccio („Habicht“, Andreas Weissert) sowie die verhurte, breitmäulig-ordinäre Canina („Kaninchen“, Felicitas Wolff) entstammen gleichfalls dem Kabinett drastischer Komik.

Mosca („Schmeißfliege“, Jörg Ratjen), beweglichste Figur, muß lediglich an den richtigen Strippen ziehen, schon sind diese Leute bereit, ihre Kinder und Frauen für Mammon zu opfern: „Corbaccios Sproß Leone („Löwe“, Thomas Klenk) wird flugs enterbt, Corvinos tugendsame Gattin Colomba („Taube“, Stephanie Japp) dem Volpone als Gunstbeweis zugeführt. Der Mensch – ein berechenbares Räderwerk der Korruption.

Schön herausgearbeitet sind die Rollen-Details. Auch wer gerade nicht spricht, spielt seinen Part gestisch konzentriert weiter. Aufschlußreich die Legierungen der Gefühle, wenn etwa Volpone mitten im Husten lachen muß oder bei Corbaccio der Hang zum Golde und die Geilheit ineins fallen, als er ein kostbares Geschmeide am Busen Caninas erblickt. Pralles Theater, prächtiger Beifall.

Termine: 6., 7., 15. und 16. Februar, jeweils 19.30 Uhr. Karten: (0231) 16 30 41.




Giftiger Wein von den netten alten Damen – „Arsen und Spitzenhäubchen“ im Hagener Theater

Von Bernd Berke

Hagen. Wenn in Hagen, wo sonst Musiktheater und Ballett auf dem Plan stehen, einmal ein Sprechstück gegeben wird. so sind keine Experimente gefragt. Dann muß entweder bürgerlich gediegene Bildung oder leichte Unterhaltungskost her. Die Serienmord-Farce „Arsen und Spitzenhäubchen“ von Joseph Kesselring erfüllt die zweite Bedingung.

Die beiden liebenswerten alten Damen Martha und Abby Brewster (Erica Pilari, Malwine Moeller) könnten wohl keiner Fliege etwas zuleide tun. Zu schade, daß die zwölf einsamen Herren, denen sie mit vergiftetem Holunderwein „aus Barmherzigkeit“ den Garaus gemacht haben, keine Fliegen gewesen sind. Zwölfe hat auch der Neffe Jonathan (Intendant Peter Pietzsch höchstpersönlich) auf dem Kerbholz, nur daß dieser vierschrötige Kerl mit dem Frankenstein-Gesicht (mißlungene Operation) die Leichen bei einer Hetzjagd um die halbe Welt hinterlassen hat. Daheim, so lernen wir in der Schule des Makabren, ist sogar das Morden am gemütlichsten.

Und auch noch effektiver: Am Ende ziehen die Ladys mit 13:12 Toten an die Tabellenspitze, während Jonathan im Knast schmort. Dessen harmlos verrückter Bruder Teddy (Jean Schmiede), der sich für den US-Präsident Roosevelt hält und im Keller seinen Panama-Kanal gräbt, sowie der nervöse Theaterkritiker Mortimer (Axel Friese) sind weitere Arten im Zoo der Verstörten.

Hier gibt es keine Neudeutung und keine Abgründe

Der Broadway-Erfolg von 1941 ist mittlerweile leicht angestaubt, und in Hagen gibt man sich keine übermäßige Mühe, ihn etwa zu entstauben. Wir sehen, was wir kennen: Schon die herkömmliche, naturalistisch eingerichtete Komödienbühne (Peter Umbach) mit den vielen Türen fürs Hereinplatzen im (un)günstigsten und damit lachdienlichsten Moment, ist von altbackener Solidität.

Regisseur Peter Schütze hat keine sonderlich subtilen Spielchen im Sinn. In absurde Abgründe blickt man da nicht. Wenn man überhaupt erschrickt, dann mit wohligem Schauder. Gespielt wird mit bravem Bemühen. Die Gesten sind nicht immer fein austariert, manchmal wird ziemlich gefuchtelt und gedröhnt, um das Gelächter gleichsam herbeizuzwingen.

Alles in allem war s dennoch eine ganz sympathische Veranstaltung, die mit freundlichem Beifall quittiert wurde. Und niemand mußte grübeln: Was wollten uns die Theaterleute damit sagen?

Unfreiwillige Dreingabe zwischendurch: Zweimal mußte während der Premiere der Vorhang kurz zugezogen werden, weil auf der Bühne die Elektrik ihren Dienst versagte. Und im Programmheft wird einem Optiker für die bloße Leihgabe einer einzigen Brille gedankt. Ist das Theater denn schon so arm dran?

Termine: 30. Januar, 10., 21., 26., 27., 28. Februar. Karten: (02331) 207-3218.




Die Posen des jungen Werther – Joachim Meyerhoff im Einpersonen-Stück nach Goethe

Von Bernd Berke

Dortmund. Leuchtenden Blicks betritt der junge Mann die Bühne. Er schaut aus dem Fenster, labt sich am Anblick der Natur. Später wird die Liebe noch mehr Glanz in seine Augen bringen. Doch am Ende flackert der Wahn in den Pupillen. So sind „Die Leiden des jungen Werther“. Aber sind sie es wirklich?

Ist es wirklich noch Goethes Briefroman, der im Studio des Dortmunder Theaters in einer Ein-Mann-Produktion verkörpert wird? Joachim Meyerhoff firmiert als Regisseur, Bühnenbildner und Solodarsteller. Respekt vor seinem Mut! Er hat wohl weitgehend ohne Widerhall gearbeitet. Oh, einsames Spiel, passend zum Liebesweh…

Werthers unerfüllte Sehnsucht nach der schönen Lotte, die bereits dem braven Albert versprochen ist, hat nicht nur literarisch Epoche gemacht. Damals, im „Sturm und Drang“, wurden seine Stulpenstiefel, die blaue Jacke mit gelber Weste Mode – und auch sein Selbstmord wurde vielfach nachgeahmt.

Betrifft einen das noch? Wenn man je heftig verliebt gewesen ist: Ja. Und wie! Denn es ist ein reicher, ein unerschöpflicher Text. Meyerhoff“ traut Goethe offenbar nicht ganz über den Weg. Tatsächlich kann man den „Werther“ ja nicht mehr bruchlos spielen. Seine Briefe an den fernen Freund Wilhelm gerinnen hier – in sinnvoll gekürzter Form – zu Selbstgesprächen. Per Dia-Projektion wird jeweils ein Kernsatz des kommenden Abschnitts angezeigt. Dann flammt das zuvor erstorbene Licht wieder auf. Es bewirkt ein stetiges Auf- und Abtauchen der Figur.

Ein Herz pulsiert elektrisch

Und so sehen wir diesen „Werther“, wie er sich behutsam (und manchmal mit einem Anflug von Ironie) an die wunderschöne Sprache herantastet, wie er die Worte wägt, Stuhl und Tisch versuchsweise hin und her rückt. Es ist, als überlege er noch, wie er sich zum Text stellen soll. Mal nimmt er probehalber den Gestus eines Kongreßredners ein, mal hängt er sich an die Wand wie gekreuzigt, oder er reitet zitternd auf dem Stuhle. Solche gesuchten Haltungen erstarren leicht zu Posen. Und manchmal wird es seltsam komisch. Wenn Werther sagt, er habe Lottens Auge gesucht, so wühlt er in den Jackentaschen. Doch es gibt auch gelungene Szenen: Der anfangs glückliche Werther etwa, im beseelten Umgang mit den Requisiten, die er spielerisch leicht handhabt.

Man darf sich aber den „Werther“ leidenschaftlicher vorstellen, drängender, fiebriger. Gewiß: Auch der Dortmunder Werther zeigt eine Leidensmiene vor, windet und krampft sich in sich selbst hinein, spricht verzweifelt dem Rotwein zu. Doch das meiste scheint eher vom kühlen Hirn gesteuert zu sein, nicht so sehr vom heißen Herzen. Ein solches hängt nur als knallrotes Dekorationsstück in der Luft und pulsiert elektrisch.

Weitere Termine: 30. und 31. Januar. 3., 4., 16. und 17. Februar, jeweils 20 Uhr. Karten: 0231 / 16 30 41.




Ruhrfestspiele: Theaterzauber zum Jubiläum – Mit Piccoli, Robert Wilson, Peter Brook

Von Bernd Berke

Hamburg/Recklinghausen. Mit berühmten Namen lockt Hansgünther Heyme, künstlerischer Leiter der Ruhrfestspiele, zur Jubiläumssaison 1996. Wenn die Festspiele 50 Jahre alt werden, kommen u. a. Bühnen-Koryphäen wie die Regisseure Robert Wilson und Peter Brook sowie der Schauspieler Michel Piccoli nach Recklinghausen.

Heyme selbst sorgt für die große Eigeninszenierung (Shakespeares „Was ihr wollt“) und spielt dabei gar selbst den Haushofmeister „Malvolio“. Nach dieser Premiere (4. Mai) wird zur rauschenden Ballnacht gebeten.

Heyme stellte das Programm in Hamburg vor und brachte dem Chef des Deutschen Schauspielhauses, Frank Baumbauer, zwei mit Schleifchen versehene Briketts als Gastgeschenk mit. Denn im Austausch zwischen Ruhr und Alster hatte vor einem halben Jahrhundert alles mit dem schwarzen Gold begonnen.

Es begann in einem harten Winter

Der Gründungsmythos: Unter großem persönlichen Risiko (Verstoß gegen Vorschriften der britischen Militärregierung) lieferten Recklinghäuser Bergleute im Winter 1946/47 den frierenden Hamburger Schauspielern wärmende Kohle. Die Mimen revanchierten sich mit Vorstellungen im Revier, und daraus erwuchsen allmählich die Ruhrfestspiele. Ein umfangreiches Buch und eine Sonderbriefmarke sollen ebenso an die glorreiche Festspiel-Historie erinnern wie ein von Alfred Biolek moderierter Abend in Recklinghausen.

Von seinem Jubiläumsprogramm ist Heyme so überzeugt, daß er tollkühn „allen schwachsinnigen Musical-Produktionen“ zwischen Bochum und Duisburg den Kampf ansagt. Immerhin hat er mit dem Bertelsmann-Verlag einen neuen Sponsor gewinnen können. Als absolutes Highlight stellte Heyme „La malade de la mort“ (Die Krankheit Tod) heraus. Der US-Theaterzauberer Robert Wilson wird dieses Stück von Marguerite Duras in Szene setzen, Kino-Berühmtheit Michel Piccoli spielt jenen alternden Mann, der sich für einige Nächte ein Mädchen kauft.

Gar nicht heimliche Liebe zu Lausanne

Lausanne scheint Heymes gar nicht mehr so heimliche Lieblingsstadt in Sachen Theater zu sein. Nicht nur Wilsons Inszenierung ist eine Koproduktion mit dem Théâtre Vidy-Lausanne, sondern auch Peter Brooks Deutung der „Glücklichen Tage“ von Samuel Beckett sowie zwei weitere Heyme-Inszenierungen: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ (wird nahe der Recklinghäuser Zeche König Ludwig in einem Zeit gespielt, anschließend gibt’s Erbsensuppe beim Schein von Grubenlampen) und Sophokles‘ „Antigone“ als Wiederaufnahme.

Und nochmals Lausanne als Quellgebiet: Maurice Béjart kommt mit seiner Truppe zur Welt-Uraufführung des Tanzstücks „Messe für die heutige Zeit“. Vorgesehene Gastspiele beim „Europäischen Festival“ (Motto diesmal: „Kunst ist der Motor jeder Kultur“): Schillers „Don Carlos“ (Regie: Anselm Weber, Deutsches Schauspielhaus), George Taboris Inszenierung seines Stücks „Die Massenmörderin und ihre Freunde“ aus Wien, ein Fassbinder-Projekt aus Strasbourg und „Fura dels Baus“ aus Barcelona mit dem Stück „Manes“ um Geburt, Sex und Tod.

Komplette Programme, Kartenbestellungen (ab sofort): Ruhrfestspiele. Otto-Burrmeister-Allee 1. 45657 Recklinghausen. (023 61) 91 84 40.




Im Land der erloschenen Seelen – Zwei Einakter von Tennessee Williams in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wenn Figuren von Tennessee Williams die Bühne betreten, sind ihre Lebens-Hoffnungen meist schon erloschen, und wir erleben nur noch das Nachglimmen ihrer versengten Seelen. „Etwas Unausgesprochenes“ (Stücktitel) lastet dann bleischwer auf den Gemütern.

In Wuppertal hat Regisseur Holk Freytag diesen Einakter mit „Plötzlich letzten Sommer“ verknüpft – ein seit der Doppel-Uraufführung (1958) gängiges Verfahren. So gerät auch der Übergang zwischen beiden Dramen wundersam fließend. Auch das karge, atmosphärisch stimmige Bühnen-Arrangement im Foyer (mit knarzigen Korbstühlen und einer hell angestrahlten Rose) bleibt gleich.

Im Kerzenlicht beginnt „Etwas Unausgesprochenes“, jene Einsamkeits-Etüde für zwei Personen und ein Telefon. Es scheint, als müßten Miss Cornelia Scott (Rena Liebenow) und Grace (Eike Gercken), die seit 15 Jahren zu zweit unter einem Dach wohnen, einander so vertraut sein wie innere Stimmen.

Doch in Wahrheit herrscht knisternde Befremdung zwischen ihnen. In der Schwebe bleibt, ob Cornelia sich einst eine lesbische Beziehung zu Grace erträumt hat. Das ganze Verhältnis ist derart unklar, daß sich all das Verschwiegene in einer nur mühsam gebändigten Aufgeregtheit der beiden Frauen Bahn brechen will. Die eine wirkt dabei burschikos, die andere zerbrechlich wie Glas, doch beide sind nervlich zerrüttet.

Die zwei Schauspielerinnen tupfen das alles sozusagen nur hin, wozu große Disziplin gehört. Nichts wirkt exaltiert, man ahnt nur andeutungsweise die Halbschatten der Seele, die ungesunde Selbstbeschränkung dieser Menschen, die immer etwas ganz heiß herbeiwünschen, es aber zugleich hartnäckig leugnen und verbergen.

Rena Liebenow spielt auch eine Hauptrolle in „Plötzlich letzten Sommer“. Nun ist sie Mrs. Venable, Mutter des verstorbenen Dekadenz-Lvrikers Sebastian, mit dem sie an den elegantesten Orten „wie Skulpturen gemeißelte Tage“ erlebt hat. Sie glaubt zumindest fest daran.

Dramaturgie aus dem Dampfkessel

Das mit den Skulpturen könnte von Rilke stammen, doch ansonsten ist es schwächerer Williams: hitzige Sprachbilder, überfrachtete Psychologie, Dramaturgie im Dampfkessel.

Mrs. Venable ist jedenfalls zutiefst verletzt, weil Sebastian die letzte Sommerreise seines Lebens nicht mit ihr, sondern mit der jungen Catharine (Eike Gercken) gemacht hat. Nun will sie Catharine die Schuld am Tod des Sohnes anlasten, sie sodann für verrückt erklären lassen und einer gefährlichen Hirnoperation bei Dr. Cukrowicz (Hans-Christian Seegcr) zuführen. Schrecklich genug.

Doch was die junge Frau im Diagnose-Gespräch dem Arzt erzählt, ist mindestens ebenso schlimm: Sebastian habe in den Armutsvierteln der Knabenliebe gefrönt und sei am Ende von einer Jungenschar geradezu kannibalisch zerfetzt worden. Ist es Fieberwahn oder Wahrheit?

Die Regie setzt Musikuntermalung (bis hin zur Gregorianik) und schließlich auch Halleffekte ein, um die Weite des Seelenlandes zu ermessen. Sinnfällig wird gezeigt, wie die Figuren auseinanderdriften, jede auf ihren eigenen Stern. Großartig Eike Gercken, deren Schilderungen auch ohne tonale Zutaten bedrückend bildkräftig im Raum stehen.

Termine: 11., 17., 25. Januar, jeweils 19.30 Uhr. Karten: 0202/563 44 44.




Durst-Erlebnis zwischen Lippe und Glasesrand – Luigi Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auf der Bühne sieht’s ja aus wie in einem Speditionslager. Für Luigi Pirandellos modernen Klassiker „Sechs Personen suchen einen Autor“ (Regie: Paolo Magelli – Bühne: Jean Bauer) hat man in Wuppertal allerlei Gerümpel aus dem Möbel-Fundus in die Szenerie gestellt. Das Theater handelt von sich selbst und führt seine Mittel vor, auch die angestaubten.

In eine Schauspielprobe platzen jene sechs Personen, ein loser Verbund mit skandalös-inzestuöser und selbstmörderischer Vorgeschichte. Irgendein Schriftsteller, dem diese Figuren eingefallen sind, hat sie nicht ins Bühnenleben entlassen wollen. Nun geistern sie herum und wollen ihr Drama auf eigene Faust dem Theater andienen.

Der unnachgiebige Zergliederer Pirandello zeigt das Skelett eines möglichen, jedoch immer wieder in Frage gestellten und letztlich verweigerten Stückes. Im Spiegelkabinett von Schein und Sein glimmt alsbald die betrübliche Erkenntnis auf: Das Leben kann es nicht mit dem Theater aufnehmen, weil es nicht zur fest umrissenen Form findet; und das Theater kann sich erst recht nicht mit dem wahren Leben anlegen, weil es den eigentlich ungestalteten Rohstoff zu sehr auf konstruierten Sinn und Wirkung hin stilisiert.

Kompliziert genug: Schauspieler stellen auf der Bühne eine Handvoll typisierter Schauspieler (Diva, Trottel, Naivchen, Zampano) dar, andere Schauspieler die Gruppe der gespenstischen Lebe-Wesen. Ein Theaterdirektor (Nikolaus Kinsky) versucht das Chaos zu regieren, was sich doch dem künstlerischen Zugriff hartnäckig entzieht.

Für die Zuschauer ist’s ein ständiges Durst-Erlebnis zwischen Lippe und Glasesrand. So trocken kann Theater sich geben, wenn es seine eigenen Grundlagen untersucht, statt buchstäblich wie ums Leben zu spielen, spielen, spielen.

Doch so ausgedörrt wie in Wuppertal müßte es nicht sein. Schon die Eingangsszene, wenn die Schauspieler zur Probe hereinschlendern, wäre gewiß plastischer und auch komischer zu haben. Allem erkennbaren Bemühen und Vermögen der Schauspieler zum Trotz, wirkt das „Geschehen“ (wenn man es denn beherzt so nennen will) über weite Passagen diffus, gelegentlich auch konfus. Es ist aber auch unmenschlich schwer, einen Text zu spielen, der ganz bewußt immerzu kurz vor der Stück-Werdung innehält.

Friederike Tiefenbacher in der Rolle der Stieftochter, die als Hure im Hinterzimmer eines Hutsalons dem Vater (Horst Fassel) als Kunden begegnet, trifft die richtige Melange zwischen lasziver Verdorbenheit und verletzter Tugend. Wenn das Schauspieler-Trüppchen ihre und die weiteren Tragödien nachzustellen sucht, rutscht man freilich – gegen den ausdrücklichen Willen von Signore Luigi Pirandello – zu sehr ins Parodistische ab. Aus der doch so fragilen Bordellszene wird da nahezu ein gestisch angedeuteter Brutalporno. Eine Selbstkritik des Theaters, das heutzutage manchmal mit Schock-Effekten die Leute locken will?

Es gibt aber auch frappierende szenische Einfälle. Beispiel: Wenn etwa eine Passage aus lauter gesprochenen Ziffernfolgen (Sie: „21-22?“ – Er: ,,76!“) entwickelt wird, so spürt man einiges vom typisch theatralischen Schwebezustand zwischen verzweifelter Sinnproduktion und zungenfertig vorgetragener Absurdität.

Termine: 15., 17., 18., 19. und 22. Nov. (letzte Vorstellung), jeweils 19.30 Uhr (Karten: Tel. 0202/5634444).




Harte Zeiten für Kämpfer – Jürgen Bosse inszeniert Brechts „Im Dickicht der Städte“

Von Bernd Berke

Essen. Schaut nach Mafia-Überfall aus, was sich da in Chicago abspielt: Mit Wortsalven wie aus Maschinengewehren dringen der malaiische Holz-Magnat Shlink und seine Leute in die schäbige kleine Leihbibliothek ein und kujonieren den Angestellten Garga. Ein paar Bücher werden auch zertrampelt. Es ist Kampfeszeit, und Bert Brechts frühes Stück „Im Dickicht der Städte“ ergeht sich in Kampfeslust.

Gestritten werden soll ohne Grund und Motiv, es dreht sich alles um taktische Finessen. Brecht war damals ein Anhänger des Boxsports. Doch Jürgen Bosses Inszenierung in Essen kommt uns nicht mit läppischen Anspielungen auf Henry Maske & Co. Sie ähnelt eher einer fernöstlichen Zen-Meditation über Sinn und Sinnlosigkeit des Kämpfens in kapitalistischen Zeiten. Zumal „Shlink“-Darsteller Matthias Kniesbeck, beleibt und kahlköpfig, hier beinahe wie eine Buddha-Figur wirkt.

Die Bühne (Wolf Münzner) ist zumeist in fahles Licht getaucht; dazwischen ein paar Exotika wie jener asiatische Wandschirm, auf dem sich manchmal die Menschen im Schattenspiel abzeichnen. Die Szenen changieren zwischen überscharfen Umrissen und leicht verhuschten Traumgesichten.

Verlöschendes Feuer im Schneegestöber

Das noch glühende, jugendwilde, aber schon erkennbar genialische und oft außerordentlich sprachkräftige Stück setzt einer Inszenierung Widerstände entgegen. Es handelt ja zu allem Überfluß nicht nur vom Kampf, sondern auch von dessen Unmöglichkeit: Denn die Menschen seien einander so entfremdet, daß sie nicht einmal zur Reibungsnähe eines wirklichen Streites sich zusammenfinden können. Der Regisseur läßt Ungereimtheiten gelegentlich einfach stehen und geschehen.

Nicht sonderlich kühn, aber doch einigermaßen beherzt, schlägt Bosse einen großzügig weiten Bogen über den Text. Und er hält einen gewissen Spannungsgrad bis zum Schluß aufrecht.

Achtbare Leistung des Ensembles, das eben nicht kurzerhand „alle Register zieht“, sondern die vielfach aufs absurde Theater vorausweisende Typen-Komödie mit der nötigen Trennschärfe versieht. Sehr plastisch werden vor allem die Wirkungen des listig-bösen Rollentauschs herausgearbeitet: Shlink überschreibt Garga seinen Holzhandel, er will damit dessen Lebenskonzept zerstören, gewohnte Liebes- und Familienbindungen unterhöhlen. Wir sehen nun, wie sich Shlink zum Philosophen der Macht(losigkeit) wandelt und wie andererseits Garga (Michael Schütz) vom fahrigen Underdog zum stolzierenden Hahn wird – einprägsames Körperspiel.

Am Ende ist „das Chaos aufgebraucht“, wie es im Text heißt. Und das letzte Bild wirkt ganz leer und erschöpft: verlöschendes Feuer im Schneegestöber. Der Kampf ist vorbei, der Mensch ganz allein.

 




Unglück lauert überall – Ibsens Seelendrama „Gespenster“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Es beginnt wie ein Salonstück: So geläufig und scheinbar freimütig parliert Pastor Manders mit Helene Alving über Gottesfurcht und weltliche Geschäfte. Doch es ist nicht die wahre Leichtigkeit des Seins: Insgeheim lauern schon Ibsens „Gespenster“.

Sewan Latchinian hat das Seelendrama im Dortmunder Schauspielhaus inszeniert. Er ist mit dem Stück im großen und ganzen deutlich behutsamer umgegangen als kürzlich mit Shakespeares „Sommernachtstraum“.

Bühnenbildner Tobias Wartenberg hat den hinteren Teil der Szene mit lauter überdimensionalen Kartons vollgestellt. Damit sind sinnfällig Auswege verbaut. In den Kisten steckt wohl fast der gesamte Hausrat der Witwe Alving. Es springt schon mal ein Deckel auf, und dann kollern – wie peinlich! – geleerte Alkoholflaschen zu Boden. Doch ansonsten: alles weggepackt und dem Blick entzogen; eine Entsprechung zur jahrelangen psychischen Verdrängung, deren schmerzhafte Auflösung das Stück in Gang hält.

Endlich einmal reinen Tisch machen

Etwas schäbig gewordene Eleganz verflossener Tage: Die Wohnung der Alving, draußen an den Fjorden, sieht inzwischen aus wie ein Hotel Abgrund. Ein rotundenförmiges Sofa, ein grauer Kaminsims, das ist praktisch die gesamte Zimmer-Ausstattung. Aussagekraft durch Aussparung.

Es steht auch kein Tisch im Raum, doch es wird buchstäblich „reiner Tisch gemacht“. Nach und nach enthüllt die Witwe den bis dato feige vertuschten Skandal der Familie: das liederliche Leben des verstorbenen Gatten; seine folgenreichen Eskapaden mit der Haushälterin, deren Frucht das jetzige Dienstmädchen Regine (Sylvie Rohrer) war. Die wiederum ist also nicht die Tochter des Tischlers Engstrand (fuchsschlaue Komik: Heinz Ostermann), sondern Halbschwester des todkrank aus Pariser Künstlerkreisen zurückgekehrten Alving-Sohnes Osvald (Jörg Ratjen). Geisterhaft wirkt derlei Ungemach fort und fort.

Wenn sich die immer noch attraktive Frau Alving (Ines Burkhardt) und der nach wie vor stattliche Pfarrer Manders (Claus Dieter Clausnitzer) am Anfang begegnen, ist gleich alles knisternd präsent: Reste erotischer Spannung von ehedem, aber auch deren Unterdrückung. Man muß nur sehen, wie er ihr einen Handkuß geben will und sie sich mit einer raschen Wendung entzieht – und man ahnt, wie es um die beiden steht.

Immer wieder gelingen solche prägnanten Szenen. Beispiel: Regine wird von Osvald zum familiären Umtrunk gebeten und malt sich schon gesellschaftlichen Aufstieg aus. Dann aber süffelt Osvald den Schampus allein aus, und sie hockt mit zunehmend bitterer Miene und leerem Glase da, ein Häuflein Unglück.

Gegen Geister hilft kein Geplauder

Kein Geplauder kann darüber hinwegtäuschen: Pastor Manders ist ein eloquenter Funktionärstyp mit bigotten Grundsätzen. Den menschlichen Untiefen der Geschichte ist er nicht gewachsen. Hastig reist er ab, als das von Witwe Alving gestiftete Asylheim brennt und überhaupt alles zu brenzlig wird. Auch Engstrand und Regine, robuster als die feineren Herrschaften, retten ihre Haut durch Flucht.

Schließlich schnurrt alles auf einen inzestuösen Kern zusammen: Frau Alving und ihr Sohn Osvald im Zweier-Gehäuse. Leider verliert die Inszenierung, die sich sonst auf gutem Wege befindet, gegen Ende Proportion und Fassung. Es ist sicherlich schwer, den geistig-körperlichen Verfall Osvalds zu beglaubigen: Doch Jörg Ratjen nimmt gar zu viel Schaum vor den Mund, wirft sich gar zu heftig zitternd auf den Boden. Nicht wirklich mitleidend sieht man das, sondern mitleidig. Ein solch gemindertes Gefühl dürfte nicht aufkommen.

Weitere Aufführungen: 10., 14., 16., 22. Juni, 7. Juli (19.30 Uhr). Karten: 0231/16 30 41.




Nach der tierischen Orgie kommt Katzenjammer – Jelineks „Raststätte oder sie machens alle“ und Christoph Heins „Randow“ bei den Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Welch ein Wechselbad beim 20. Mülheimer Dramatikerwettbewerb: Nach einer wüsten Bühnenorgie mit Elfriede Jelineks „Raststätte oder sie machens alle“ war – wie zur Herabstimmung der Gemüter – Christoph Heins „Randow“ in einer kreuzbraven Inszenierung zu sehen.

Zwischen hochfliegenden Freiheits-Träumen und den Niederungen der Freizeit-Gesellschaft ist der Mensch längst vor die Hunde gegangen, zumal als sexuelles Wesen. Das jedenfalls will uns Elfriede Jelinek mit dem „Raststätten“-Stück eintrichtern.

In Mülheim gastierte ein Regie-Attentat aus den Reihen der deutschen Theater-„Spaßguerilla“: Frank Castorfs Inszenierung vom Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Castorf stampft den feministisch grundierten und rhetorisch streckenweise unangenehm pompösen Text in Grund und Boden. Am Schluß muß sogar eine an intimen Stellen aufgeregt blinkende und wienerisch schwadronierende Kunst-Figur herhalten, die der Jelinek nachgebildet ist: die Autorin als Sexpuppe. Gemeiner geht’s nimmer.

Castorf hat Frau Jelinek mal als eine Art „Krampfhenne“ bezeichnet (und sich dabei bedeutend drastischer ausgedrückt, als wir’s hier wiedergeben mögen). Er mag auch ihren „Raststätte“-Text nicht. Doch indem er alles zuschanden reitet, wird er dem Ingrimm der Vorlage auf Umwegen überraschend gerecht.

Die Jelinek setzt zwei Ehepaare und groteske Randfiguren an einer Autobahn-Raststätte aus. Die Frauen, die sonst bei ihren Gatten spuren, wollen einmal die Sau rauslassen. Dazu haben sie sich per Kontakt-Inserat mit einem Elch und einem Bär verabredet.

Extremsport für das sexuelle Punktekonto

Nach vollzogenem Extremsport mit zwei bluttriefenden Burschen heißt es lapidar: „Mit einem Tier auf dem Klo – das ist doch schon was.“ Füllt sozusagen das Porno-Punktekonto. Doch im Grunde herrscht Depression nach dem Exzeß, zumal in den Kostümen sich ausgerechnet die Ehemänner verborgen haben.

Grundmuster des Textes, der hierin geradezu „katholisch“ anmutet: Tierhafte Triebabfuhr zieht stets tiefste Trauer nach sich. Erst legen sie hündisch los, dann gibt es Katzenjammer.

Reichlich rinnen alle Körpersäfte. Zudem wird kübelweise (künstlicher, aber täuschend echt wirkender) Kot auf Leiber und Bühne geschmiert. Einige Zuschauer ließen sich tatsächlich provozieren und riefen „Pfui !“ Den meisten kam derlei endlos angehäufte Zumutung in der Summe freilich fade vor. Man sollte diesem verquast-bemühten Stück keinen Preis angedeihen lassen. Allerdings verdient es just eine solche Inszenierung.

Balsamisch ging’s hingegen bei Christoph Heins „Randow“ zu. Der erzählt eine ostdeutsche Leidensgeschichte mit einem Realismus auf Sparflamme. Der Text glimmt nur vor sich hin. Eine Frau, die sich in der DDR-Bürgerbewegung engagiert hat, will nun ihre Ruhe genießen und zieht sich zum Malen in ein Natur-Idyll an der Grenze zu Polen zurück. Doch eine fatale Koalition aus ehemaligen Stasi-Leuten, Rechtsradikalen und gierigen „Wessis“ vertreibt sie aus dem vermeintlichen Paradies.

Hein, dem wahrlich schon prägnantere Stücke geglückt sind als diese wie mit Spinnweben durchwirkte Elegie, arrangiert seine übergroße Themenfülle betulich, wird darin allerdings noch übertroffen von der unbeholfenen Einrichtung des Dresdner Staatstheaters.




Der Kleinbürger möchte ein Monster sein – Franz Xaver Kroetz‘ Sexualkomödie „Der Drang“ bei den Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Otto möchte mit seinem Weibe auch mal tun, was „alle anderen Männer“ mit ihren Frauen dürfen. Doch Ottos Hilde scheut Eskapaden zwischen den Daunen. Kommt vor. Ist normal. Dann taucht Hildes Bruder Fritz auf. Der hat wegen Exhibitionismus im Knast gesessen. Kommt auch vor. Ist aber nicht normal. Oder verhält es sich anders?

In Franz Xaver Kroetz‘ Szenenfolge „Der Drang“, mit der jetzt der 20. Mülheimer Dramatikerwettbewerb eröffnet wurde, ist Normalität nur ein Vexierbild entfesselter Träume. Besagter „Herzeiger“ Fritz ist auf Bewährung frei, er findet Unterschlupf samt Fronarbeit bei Schwester und Schwager in der Friedhofsgärtnerei. Auf den Pflanzenbeeten schießt nicht nur Blattwerk wollüstig ins Kraut…

Um seinen Trieb zu dämpfen, schluckt Fritz Medikamente. Das mindert seinen Drang, doch nicht die Phantasien der anderen. Otto hält seinen Schwager für ein Sex-Monster, das er am liebsten kastriert sähe, das er andererseits aber gern selbst einmal wäre. Der Kleinbürger möchte rasend werden. Auch Ottos Angestellte Mitzi läßt sich anheizen. Sie entlockt Fritz das (falsche) Geständnis, er sei Sadist – und ist sofort bereit, sich erregungshalber mit der Stricknadel pieken zu lassen. Sie bekommt aber nur Ohrfeigen, läßt sich ersatzweise mit Otto ein und beschwört dessen Ehekrise herauf. Am Schluß renkt sich alles halbwegs ein: Fritz geht „geheilt“ seiner Wege, und Otto scheint zu Hilde heimzufinden, die endlich mal wieder Reizwäsche anzieht.

Kroetz, der in dieser Fassung der Münchner Kammerspiele selbst Regie führt, hat seinen Lust-Boulevard in Dutzende von kurzen Szenen gestückelt. Die Bühnenarbeiter, die zwischendurch immer wieder umbauen, sind insgesamt fast ebenso lang auf der Szene wie das sehr beachtliche Schauspieler-Quartett (Sibylle Canonica, Franziska Walser, Horst Kotterba, Edgar Selge). Die Räumerei kostet Zeit, ergibt aber einen gewissen Verfremdungs-Effekt.

In Mülheim geht es vornehmlich um die Qualität des Textes. Dieser erkundet die Bereiche unter der Gürtellinie und in der Hirnschale – bei aller groben Gaudi – letztlich ernsthaft und genau. Auch wenn die Sache im zweiten Teil arg ausgewalzt wird, so ist dies doch ein brauchbares Stück über Domestizierung und Freisetzung des Triebes. Keine bloße Ferkelei also, sondern eine mit gedanklichem Überbau.

Heute abend wird’s in Mülheim mutmaßlich noch härter hergehen. Für den zweiten Wettbewerbsbeitrag, Elfriede Jelineks „Raststätte oder Sie machens alle“, verkünden die Prospekte: „Für Jugendlliche unter 18 Jahren nicht geeignet!“ Kommt noch so weit, daß man mit hochgeschlagenem Kragen ins Theater schleicht.




Gretchen, mir graut vor dir! – „Faust Wurzel aus 1 + 2″ von Christoph Marthaler bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Ein ranghoher Hamburger Politiker hat mal den Satz geprägt, er wolle „seine“ Klassiker auf der Bühne gefälligst wiedererkennen. Ha! Da wäre er bei Christoph Marthaler an den Falschen geraten. Der nämlich hat Goethes „Faust“ gründlich durch den Wolf gedreht. Die tollkühne Tat des Schauspielhauses Hamburg war bei den Ruhrfestspielen zu sehen.

Von Goethes Text kommen in „Faust Wurzel aus 1 + 2″, der verwegenen Variante des Schweizer Theatermachers, bestenfalls noch drei Prozent vor. Dafür sehen wir gleich scharenweise „Mephistos“ (für gewisse Kernbereiche der Figur sollen Siggi Schwientek und Ulrich Tukur stehen) sowie ein ganzes „Gretchen“-Quartett durch die fabrikhafte Szenerie stolpern. Rücklings auf dem Klappbett, haucht Fausts vierfaches Liebchen immer wieder im Chor seinen Vornamen: „Heinrich“. Gretchen, mir graut vor dir!

Marthaler, von Haus aus Musiker, traktiert die Vorlage wie eine unverbindliche Notenansammlung, der man beliebige Valeurs einhauchen kann, oder wie eine abstrakte mathematische Aufgabe, bei der bestimmte Formeln munter multipliziert werden, während komplette Ketten unter den Tisch fallen.

Gelegentlich ist’s wie ein Schülerscherz mit haßgeliebtem Bildungsgut: Von Fausts berühmten Monolog („Habe nun, ach…“) bleiben auf diese Weise nur die Vokale übrig, die wie dadaistische Bröckchen hervorgewürgt werden. Rein darstellerisch betrachtet ist das meisterlich, doch die kunstfertige Mühsal hat was arg Vergebliches.

Marthalers „Faust“ (Josef Bierbichler) schwankt – am Ende eines völlig desillusionierten Jahrhunderts – durch Alpträume. Gewiß hat er Kafka und Beckett gelesen, bestimmt weiß er von allen Katastrophen unserer Zeit. Und so erlebt er sein uraltes Drama als qualvoll leerlaufende Maschinerie aus Vervielfältigungen und Wiederholungen, als rohen Slapstick der Verzweiflung. Nach und nach splittert und zerbröckelt all das. Man vernimmt dann gleichsam nur noch das Röcheln, Stöhnen, Keuchen, Zischen und Blubbern aus der Ursuppe des Textes. Das trieb etliche Zuschauer vor der Zeit nach Haus…

Zudem steht Goethes Werk mal wieder unter strengem Verdacht unguten Deutschtums. Teutonischer Sang klingt bedrohlich gemütlich, „faustisch“ ist in dieser Lesart wohl eine Vorstufe von „faschistisch“. Fragt sich nur, ob aufgepfropfte Provokatiönchen als Bannfluch taugen.




Holzfäller im Zauberwald – Sewan Latchinian inszeniert Shakespeares „Sommernachtstraum“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Beim Griechen um die Ecke wird Ouzo gesoffen und dann Sirtaki auf dem Tisch getanzt, weil Clan-Chef Theseus es so haben will. Was’n das wieder für’n Stück? Na, Shakespeare natürlich, sein „Sommernachtstraum“. Der spielt ja in und um Athen – und da denken wir gleich an Gyros, Tsatsiki & Co. Hier knüpft das Dortmunder Theater an.

Wie gut, daß diese Zauberkomödie vom erotischen Begehren und seinen dunklen Urgründen so unverwüstlich ist. Da schadet es nicht viel, daß Regisseur Sewan Latchinian sie durchstöbert hat. Doch braucht man wirklich Alltagsklamotten, Funktelefon und Rave-Rhythmen, um dieses Stück auf „modern“ zu trimmen? Steckt nicht schon (und immer noch) im Text die ganze Klimakatastrophe der Beziehungen, wie sie heute kaum anders durchlitten wird?

Als sei man in der Bundesliga, sucht man in Dortmund vor allem den schnellen Erfolg. Die zuweilen arg gröbliche Übersetzung Frank Günthers (wo sich „Fo…“ auch schon mal auf „Kotze“ reimt) durchdringt das Geschehen nicht so sehr, sondern pflanzt Gags obenauf. Wie soll da eine Inszenierung wesentlich tiefer greifen? Da darf halt auch einmal gejodelt werden.

Das große „U“ gerät ins Wackeln

Was ja so fern von Shakespeare nicht liegen muß. In seinem magischen Traumreich ist vieles erlaubt – sogar ein Esel, der beim Akt mit Elfenkönigin Titania (Iris Atzwanger) aus gigantischem Glied ejakuliert, so daß das große „U“ (Dortmunder Brauerei-Wahrzeichen) ins Wackeln gerät.

Sehr sinnfällig wird gezeigt, wie geschlechtliche Lust und Verachtung, Glück und Ekel ineins fallen können. Solche Mixturen sind eine Stärke dieser Inszenierung. Lysander (Michael Fuchs) bekommt schließlich seine Hermia (Anja Kirchlechner), Helena (Sylvie Rohrer) ihren Demetrius (Jörg Ratjen). Das bedeutet hier freilich keine Erlösung: Haben sich – nach all den Liebes-Wechselfällen im diesmal baumlosen Zauberwald (eine Öko-Pflichtübung) – die „passenden“ Paare gefunden, so fügen sie sich alsbald wieder ganz körperlich in jene altgriechische Säulen-Ordnung ein, aus der anfangs Herrscher Theseus (Alexander Muheim) und seine Amazone Hippolyta (Doina Weber) hervorgestiegen waren.

Nachdem der spukhafte „Puck“ (Ines Burkhardt) im Superman-Kostüm auf Flugreise gegangen ist, erleben wir die Anverwandlung eines weiteren trivialen Mythos: Denn es ist der reinste Vampirismus, mit dem Elfenkönig Oberon (Helmut Rühl) unter den Menschenkindern gehaust hat. Blutleer erstarren sie und werden am Ende zu kaltem Marmor. Sobald die I.iebeswogen sich gelegt und zu festeren Verbindungen geführt haben, versteinern die Verhältnisse.

Zuvor haben wir ein Liedchen gehört über Treue, die keinen Spaß bereite. Einzig die fortgesetzte Untreue hält also schmerzhaft lebendig, könnte man meinen. Leicht angewidert sagt’s der ,Puck“: „Jeder Hengst kriegt seine Stute. Alles Gute!“

Lachstoff zum baldigen Verzehr

So recht bei sich angekommen ist die Inszenierung mit jenen sechs unbedarften Handwerkern (u.a.: Jürgen Uter, Claus Dieter Clausnitzer, Günther Hüttmann), die die traurige Komödie zur Farce auflösen. Da gibt es Lachstoff zum alsbaldigen Verzehr. Je blöder, desto besser – die Rechnung geht auf. Und sind die Liebenden auch dumm, so sind die Dummen eben liebenswert.

Ein gutes Ensemble kommt über schwache Momente hinweg. Dies ist hier der schöne Fall. Es mindert die Leistung der anderen nicht, wenn man hervorhebt: Ines Burkhardt als weiblicher „Puck“, eine Dreh- und Angelfigur, mit variantenreich modulierter Geisterstimme. Kennt den ganzen Weltenlauf schon tausendfach, tut um des lieben Zaubers Willen mit. Sodann Sylvie Rohrer mit einem Hauch von Hysterie als Helena; schon jetzt, in jungen Jahren, eine Schauspielerin von Rang.

Alles in allem verdienter, recht animierter Premierenbeifall. Die Sache verspricht Erfolg – auch beim Abo-Publikum.

Nächste Vorstellungen: 1, 4., 5., 11. und 12. März, jeweils 19.30 Uhr. Tel.:0231/163041.




Fröhlicher Ritt durch Ibsens traurigen Text – Carsten Bodinus inszeniert „Die Wildente“ in Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Die kleine Hedvig hakt sich mit den Beinen an die Treppe und schaukelt kopfüber. Ein Bild der kindlichen Unschuld, bedroht von Sturzgefahr. Von Zeit zu Zeit dringen Stimmen wie aus der Tiefe herein und rufen ihren Namen. Sind’s böse Geister?

Ja, etwas gespenstisch ist es schon, wenn man, wie Regisseur Carsten Bodinus am Theater Oberhausen, Henrik Ibsens „Wildente“ völlig vom ersten Akt befreit. Schnapp! Damit ist die gesellschaftliche Sphäre getilgt, verschwunden also die Einbettung des Geschehens. Bodinus hat das Stück auf familiäre Vorgänge verengt, hat ein Psychodrama der Lebenslügen daraus gemacht – und dessen Parodie geliefert.

Fotograf Ekdal (beleibter Gemütsmensch: Gerhard Fehn) lebt in den Tag hinein. Der Faulpelz faselt von einer lukrativen Erfindung, die er „demnächst“ machen werde. Seine treusorgende Gattin Gina (Elenor Holder) hält ihm alle banalen Sorgen vom Hals, der pflegeleichte Opa (Dieter Oberholz) süppelt nur ein bißchen, und die fast 14jährige Tochter Hedvig (Jacqueline Roussety) ist kreuzbrav. Umgeben von lauter sanften Sand-Farbtönen (Bühne: Robert Ebeling) sonnen sie sich im kleinen Glück. Gemeinsam spielen sie ein naiv-harmonisches Blockflötenliedchen. Trautes Heim, niedliches Theater.

Doch Ekdal verdankt sein halbwegs auskömmliches Dasein nur dem Ortspatriarchen, Grubenbesitzer Werle (Hartmut Stanke). Der schanzt Gina insgeheim Geld zu, denn er hat mal was mit der Frau gehabt und dabei wohl auch Hedvig gezeugt. All das erfährt Ekdal von Werles verbittertem Sohn Grcgers (Germain Wagner).

Ein Fall von Tugend-Terror

Miesmacher Gregers stakst schwarz gewandet durch die Szenerie. Er verkörpert das bedingungslose „Rechtschaffenheits-Fieber“, wie es bei Ibsen heißt. Hartnäckig verfolgte Idee: Wenn Ekdal alles wisse, könne er endlich dem reinen Ideal zustreben, seine „gefallene“ Frau gnädig verzeihend zu sich emporheben. Heute würde man so etwas Tugend-Terror nennen.

Die Sympathie des Regisseurs wendet sich denn auch Ekdal zu. Eine Parteinahme fast wie im Kindertheater. Geradezu liebevoll geht Bodinus mit der Männerfigur um, die ihrer Illusionen so schändlich beraubt wurde. Als Ekdal schon zornbebend seine Familie verlassen will, hält er inne angesichts einer leckeren Mahlzeit, die seine Frau rasch bereitet hat. Er ist hin- und hergerissen zwischen Idealismus und Appetit. Man muß ihn einfach bedauern.

Zu sonderlichem Feinsinn versteht sich die Inszenierung nicht. Sie gleicht einem fröhli- chen Ritt durch Ibsens Text und bekümmert sich nicht groß darum, ob er das wohl aushält. Im großen und ganzen macht es freilich Spaß, dabei zuzusehen. Denn gespielt wird mit blanker Lust und achtbarem Können. Nur: Es ist nicht immer Ibsen, was da gegeben wird, sondern auch schon mal Klamotte.

Gelegentlich scheint der Umgang mit der Vorlage allzu sorglos. Oder ist es etwa doch Hinterlist, wenn diese Aufführung gewisse Schwächen und Eigenheiten des Stückes auf fast schon unerhörte Art hervortreibt? Die symbolische Überfrachtung der auf Ekdals Dachboden gehaltenen Wildente und des Blindheits-Motivs ward selten so deutlich. Und wie hohl tönen hier die pathetischen Männersprüche!

Weitere Termine: 3., 19. und 25. Februar. 0208/85 780.




Blutrünstiges aus dem Soziallabor – Jürgen Bosse inszeniert Edward Bonds „Ollys Gefängnis“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Klingt wie eine jener mysteriösen, weil arg verkürzten Mord-Meldungen auf bunten Seiten: „Weil sie eine Tasse Tee nicht trinken wollte, hat Mike X. seine Tochter Sheila erdrosselt.“ In Edward Bonds neuem Stück „Ollys Gefängnis“ erfährt man, wie es dazu kommen konnte. Aber ist man danach schlauer?

In Jürgen Bosses Essener Inszenierung sitzt jene Sheila (Jennifer Caron) bereits bei laufendem Fernsehgerät im Spießbürger-Zimmer auf der Bühne, wenn sich der Zuschauerraum allmählich füllt. Doch sie schaut gar nicht hin; weder aufs TV-Programm (Comedy-Shows) noch auf ihren Vater Mike (Matthias Kniesbeck).

Der Witwer hat sich rührend bemüht, hat für die Tochter gekocht und gebügelt, will nun auch mal ein paar Takte mit ihr reden. Doch so sehr er auch schnurrt, säuselt, bettelt, brüllt oder droht – sie bleibt stumm und stiert nur vor sich hin. Und den Tee will sie auch nicht trinken. Da rastet er schließlich aus und erwürgt sie. Das sonstige Repertoire der menschlichen Annäherung war halt ausgeschöpft. Psycho-Experiment vorerst beendet.

Danach verwischt Mike nicht etwa die Spuren der Untat, sondern fällt in einen Dämmerschlaf. Als die Wohnungsklingel ihn nach Stunden weckt, hat er seine Tat glatt „vergessen“. Später, als er im Knast seine Strafe verbüßt, passiert ihm erneut etwas Seltsames. Wiederum ist es, als sei er aus der Zeit gefallen: Er will sich umbringen und hat seinen Strick schon geknüpft, da muß er noch mal pinkeln. Als er von der Toilette zurückkommt, hängt schon ein Mithäftling in der Schlinge, der es eiliger hatte mit dem Ableben.

Ein Sozial-Report mit aufgepfropften Alptraumszenen? Schonungsloser Realismus, der sich dann doch ins Unfaßbare hochstemmen will? Dies und leider noch mehr. Denn Edward Bond unterlegt dem Ganzen noch eine müßige These. Im Original heißt das Stück „Ollys Prison“, sprich „All is Prison“. Merke also: Nicht nur im Gefängnis ist man eingesperrt, sondern auch in sich selbst, ins Schicksal, in die Einsamkeit der eigenen Wohnung usw. Wie zum Mitsingen: „Das gaaanze Leben ist ein Knast“.

Und so sehen wir denn, wie sich die Figuren – ob als Täter oder Opfer – in diesem Drama unglückselig miteinander verketten und einander im Gitter der Gewaltsamkeit gefangen halten. All das gipfelt in einer Schock-Szene mit dem titelgebenden „Olly“. Der logiert – typische Verquickung – bei der Mutter seines früheren Peinigers, welcher sich (siehe oben) im Knast erhängt hat. Nun wird ihm mit bloßem Finger das noch verbliebene Auge aus dem Kopf geschält. Man sieht dies auf Bildschirmen vervielfacht. Theater à la Horror-Video. Soll man nun über mediale Verstärkung von Gewalt nachdenken?

Mit blutverschmiertem Gesicht kriecht jedenfalls der seines Augenlichts beraubte „Olly“ (Michael Schütz) über die Bühne und stammelt immerzu: „Ich seh‘ nichts.“ Woraufhin Mike nochmals die finale Moral verkündet, ein jeder sei in sich eingekerkert. Nun aber Vorhang zu!

Man müht sich in Essen redlich. dem kruden Text tiefere Bedeutung einzuhauchen. Die Schauspieler können diesen Soziallabor-Traktat, das aus der Retorte zu stammen scheint, nicht so recht beglaubigen. Es wirkt alles wie zufällig hergestellt und herbeigezwungen. Bosses Regie erschöpft sich meist in vorschnellen Effekten. Da erklingen zwar immer mal wieder apokalyptische Stampf-Geräusche, auf daß man erschrecke. Doch wirklich erschüttert wird man nicht. Nur hin und wieder schockiert.

Weitere Vorstellungen: 28. Dez. / 14. und 27. Jan. – Karten: 0201/8122-200.