Gags direkt aus der Tüte – Comödie Bochum mit dem Lustspiel „Endlich allein“

Von Bernd Berke

Bochum. Furchtbar, diese Nesthocker! Da wähnen die Eltern, sie hätten ihre Sprößlinge zu selbständigen Menschen erzogen und atmen bei deren Auszug schon dankbar auf: „Endlich allein!“ Doch kaum hat der mittlerweile 20- bis 30jährige Nachwuchs die ersten Problemchen mit Ehe oder Job, da kehrt er mit allen Ansprüchen ins traute Heim zurück. „Sie sind wie die Yo-Yos“, stöhnt die Mutter.

Kleine, im Grunde schrecklich harmlose Sticheleien zwischen den Generationen ergeben ein rechtes Familienprogramm fürs Boulevardtheater. Kein Wunder also, daß die erst seit ein paar Wochen auf dem Theatermarkt agierende „Comödie Bochum“ nun Lawrence Romans Lustspiel „Endlich allein“ (Regie: Gerhard Mohr) als bereits dritte Premiere auf den Plan setzt.

Sieben Türen sieht man auf der Bühne. In einer Komödie, in der es alsbald zünden und womöglich krachen soll, sind das schon die Hauptrequisiten auf der schlicht-realistischen Szene. Da erscheinen die Kontrahenten zum jeweils (un)passendsten Moment im Holzgeviert, und wenn sie sich erregen, werfen sie besagte Türen stets heftig zu. Manchmal geht es nur noch „klapp-klapp-klapp“ im kalifornischen Heim der Butlers. Denn die drei Söhne flattern samt weiblichem Logis-Gast nach Belieben ein und aus. Und immer schrillt ein Telefon.

Der Beginn wirkt trotzdem schleppend. Inge Marschall als Mutter Butler scheint für ihre Rolle nur eine einzige klagende Tonlage zu finden, sie spielt sich erst ganz langsam etwas wärmer. Hilfreich ist dabei sicherlich die (allerdings von Lauheit bedrohte) Routine eines Henning Gissel, der den Vater gibt. Zwischen unbeschwerter Munterkeit und trotteliger Frühvergreisung ziehen Stefan Hoßfeld, Rainer Kleinespel und Jörg Kernbach als Sohnes-Trio die Register, die nette junge Schauspieler halt so „drauf“ haben.

Zuweilen knackt es dabei leise im dramaturgischen Gebälk. Doch sie retten sich auch über kleine Sinnlücken hinweg, denn leicht ist der schnelle Instant-Gag zur Hand, gleichsam aus der Tüte gezaubert. Ist von einem Tölpel die Rede, läuft jener sogleich vor die Wand und schreit .„Aua!“ Doch wer eine schon nahezu unverschämt strahlende Schönheit wie Arzu Ermen (als Hausgast „Janie“) im Ensemble hat, braucht sich um optische Schwerpunkte kaum Sorgen zu machen.

Das Stück ist recht solide gebaut und daher zum Standardwerk der leichten Muse avanciert. Es enthält auch in Maßen nachdenkliche Passagen, die für eine Bühne des .„Comödien“-Zuschnitts fast schon zu lang dauern. Für (nicht subventionierte) Eintrittspreise um die 50 DM will die lachlustige Comödien-Kundschaft keine Weltverdüsterung sehen, wie sie Frank-Patrick Steckels Bochumer Schauspielhaus so nachdrücklich erzeugt.

Von wegen „Endlich allein“: Bühnenchef Jochen Schroeder muß sich nicht einsam fühlen, denn sein Haus verbucht derzeit eine regelmäßige Platzausnutzung von über 80 Prozent. Davon träumt Steckel. Wenn freilich demnächst der unbekümmerte Spaß-Regisseur Leander Haußmann das Schauspielhaus übernimmt, wird es – kein Paradox – ernste Frohsinns-Konkurrenz am Orte geben.

Comödie Bochum (Ostring 25, Nähe Hauptbahnhof). Weitere Vorstellungen von „Endlich allein“: Bis 8. Januar ’95, täglich außer montags, jeweils 20 Uhr.




Komik zwischen Heulen und Zähneklappern – Frank-Patrick Steckels großartige Inszenierung von „Warten auf Godot“

Von Bernd Berke

Bochum. Auf der schmutzigbraunen Halde stehen die zwei berühmtesten Landstreicher der Theatergeschichte. Der eine nestelt an seinem Schuh, er stöhnt und ächzt dabei. Der andere pult geistesabwesend in seiner Nase. Es könnte immer so bleiben. Denn Wladimir und Estragon haben nichts zu tun, nur dies eine: „Warten auf Godot“.

Der Kerl, von dem in Samuel Becketts Stück die Rede 1st, kommt bekanntlich nie. Doch die Theaterzuschauer tun es seit Jahrzehnten den beiden Hauptgestalten gleich. Sie warten immer wieder mit. Vielleicht entschlüsselt sich ja doch eines Tages auf irgend einer Bühne dieser Welt, wer dieser „Godot“ ist?

Diese Hoffnung kann man fahren lassen. Becketts längst sprichwörtlich gewordener Klassiker stellt unablässig Paradoxe auf, revidiert sich ständig selbst, spiegelt sich immer wieder seitenverkehrt. Eindeutigkeit ist hier nicht zu haben. Eher schon unauflösliche Widersprüche, an denen man sich ewig abarbeiten könnte. Ähnliche Denk-Treibsätze gibt es in manchen fernöstlichen Weisheitslehren.

Wenn Hausherr Frank-Patrick Steckel das Stück nun in Bochum auf die Bühne bringt, weiß er natürlich, welch‘ unübertreffliches Material für Schauspieler er da handhabt. Auch der kürzlich verstorbene Heinz Rühmann hat mit diesem Text einen seiner allerbesten Auftritte gehabt.

Inmitten des Elends steckt bei Beckett das Clowneske. Man könnte es vorschnell verschenken und eine Inszenierung aufs rein Komödiantische gründen. Nicht so bei Steckel. Der sucht, wie von ihm nicht anders zu erwarten, die ernste Auseinandersetzung – und kommt schließlich doch bei komischen Momenten an.

Zirkusnummer mit Herr und Knecht

Auch die Herr-und-Knecht-Zirkusnummer mit Pozzo (Wolf Redl) und Lucky (Michael Weber) wirkt zunächst mal todtraurig, ehe sie dann doch grausame Heiterkeit freisetzt. Das Lachhafte wird aber eben nicht schon an der Oberfläche gesucht und gefunden, sondern erst im Bodensatz der Verzweiflung, unter Heulen und Zähneklappern. Das ist diesem Stück angemessen.

Stecke! hat gewissermaßen einige Dehnungsfugen eingebaut, auf daß wir am eigenen Leibe das Warten erfahren. Einmal heißt es im Text: „Laß uns ein wenig schweigen.“ Und dann tun sie es, viele Minuten lang. Ein andermal essen Wladimir (Oliver Nägele) und Estragon (Armin Rohde) ausgiebig ihre absurden gelben Rüben, ohne daß sonst etwas geschieht. Nur allerbeste Schauspieler können solche Szenen in spannender Schwebe halten. Hier geschieht das kleine Wunder.

Inszenierung und Darstellung ergreifen den Text nicht kurzum, sondern umkreisen ihn, pendeln um seinen vielfältigen (Un-)Sinn herum. So erreichen sie weit mehr, als wenn sie schnurgerade den Worten nachliefen.

Körperspiel bis in die Haarspitzen

Bewundernswert auch die Körperbeherrschung der Schauspieler, sie reicht sozusagen bis in die Haarspitzen. Wie etwa „Lucky“ sich durch sein geknechtetes Dasein zittert, wie er als Gedanken-Maschine seine abstrusen Theoriefetzen herausschleudert – das ist kein bloßes Kabinettstück, sondern zuinnerst erfaßt und durchlitten. Wenn Lucky die im Kontext dieses Stückes so sinnlosen Lebens-Tröstungen wie etwa Sport (zumal Tennis) aufzählt, dann ist unsere Fitneß-Gesellschaft ins Mark getroffen.

Die sinnfälligen Kostüme i müssen erwähnt werden, dazu das ebenso aussagekräftige wie spieldienliche Bühnenbild (beides: Susanne Raschig) und jene minimalistische Musik (Carlos Farinas), welche die Szenen kaum merklich einfärbt. Gemeinsam ist allen Be- standteilen: Nichts drängt sich auf; alles existiert einfach, als könne es gar nicht anders sein.

Machtvoller und verdienter Premierenbeifall für Darsteller und Regie. Der „Godot“ ist Steckels größte Tat seit Jahren.

Weitere Aufführungen: 19. und 27. Okt, 5. und 6. Nov. (0234/3333-142).




Dieser „Woyzeck“ sollte sich mal um die Papiertiger kümmern – Jürgen Bosse inszeniert Büchners Stück in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Die Bühne ist grau, und das Spiel dauert 90 Minuten. Am Ende steht es bei Büchners „Woyzeck“ im Essener Grillo-Theater gewissermaßen immer noch unentschieden. War’s denn spannend?

Woyzeck wird bekanntlich von Militär und Medizin mißbraucht, seiner Menschenwürde schändlich beraubt. Am Ende treibt ihn seine Geliebte Marie in mörderische Eifersucht hinein. Kein Hund möchte so leben. Das immer noch verstörende Stück von 1836/37 deutet auf Greuel des 20. Jahrhunderts weit voraus.

Doch in Essen, wo sich zum Saisonauftakt Schauspielchef Jürgen Bosse des fragmentarischen Dramas annimmt, ist es offenbar halb so schlimm. Der klobige Woyzeck (Matthias Kniesbeck) muß, so scheint es, weniger leiden. Denn rings um diesen Riesenkerl gibt es hier nur Popanze und Papiertiger. Der Doktor (Klaus-Peter Wilhelm), der Woyzeck aus „wissenschaftlichen“ Gründen ausschließlich mit Erbsenkost traktiert, kommt als lachhafter Wicht daher, als Karikatur eines wahnwitzigen Forschers.

Auch der Hauptmann (Claus Boysen), der Woyzeck strammstehen läßt, ermuntert hier eher zur medizinischen Diagnose: Als Asthmatiker mit Überfettung und Bluthochdruck, ja vielleicht sogar Infarktgefährdung, ist er dem Kollaps viel näher als sein Opfer. Hoffentlich ist er in der richtigen Krankenkasse.

Auf der üblichen Bühnenschräge

Es sieht überhaupt so aus, als müsse – seltsame Umkehrung – Woyzeck seine Peiniger schonend behandeln und sich als eine Art Pfleger um sie kümmern. Wenn alle Machthaber so harmlos wären, wären die Woyzecks dieser Welt besser dran.

Bleibt als Grund für den Untergang noch das barfüßige Vollweib Marie (Tatjana Clasing), das mit dem schmucken Tambourmajor turtelt und damit Woyzeck zur Weißglut bringt. Mit der plötzlichen Zwangsläufigkeit einer altbekannten Moritat findet nunmehr alles sein blutiges Ende. Woyzeck sticht zu wie auf dem Schlachthof, das Finale ist vollbracht.

Auf der theaterüblichen Bühnenschräge erlebt man das Geschehen wie ein allmähliches Steigen und Sinken der Figuren. Konturenschärfe und Spannkräfte gewinnen dieseSzenen kaum. Der Stoff wird nicht entschlossen gefaßt, man läßt ihn halbherzig dahingleiten. Nicht so sehr Zerrissenheit, die man doch wohl zeigen wollte, sondern Zerfaserung ist allenthalben zu spüren. Auch die Schauspieler wecken jeweils nur für Momente tieferes Interesse, dann ist es schon wieder vorbei. Büchners Sprachmacht kommt gleichfalls nur verdünnt zum Ausdruck.

Trotz des relativ kurzen Durchgangs von eineinhalb Stunden kann es einem so vorkommen, als bringe man etliche Zeit hin. Als hätten sie den Text nur deshalb gekürzt, um die verbliebenen Einzelteile desto behäbiger auszurollen. Wie gesagt, es ging unentschieden aus. Ob Regisseur, Schauspieler oder Publikum – keiner muß sich nun furchtbar grämen. Aber gewonnen hat auch keiner.

Weitere Aufführungen: 3. und 12. Okt. (0201/8122 172).




Kritiker-Clan ist sich einig: Manche Theater im Revier gibt’s gar nicht

„Ruhrgebiet – Randgebiet“. So könnte der Negativ-Slogan zur neuen Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ lauten. Denn bei der Frage nach den besten Leistungen der letzten Saison existiert das Revier praktisch nicht.

Nur Karsten Schiffers Bochumer Produktion „Brennende Finsternis“ wird im Jahresheft mehrfach lobend erwähnt – und das wohl auch nur, weil sie beim Berliner Theatertreffen zu begutachten war. Eine Produktion mit Schauspielschülern als einzige Zierde einer ganzen Region. Das ist eine schallende Ohrfeige für alle hiesigen Theatermacher.

Schlimmer noch: In einem Extra-Beitrag über die NRW-Theater werden Dortmund, Essen und das Westfälische Landestheater gleich völlig übergangen. Sind es Phantom-Bühnen? Da kann Roberto Ciulli (Mülheim) beinahe noch von Glück sagen, denn seine Arbeit wird immerhin als Ärgernis zur Kenntnis genommen. Und über Frank-Patrick Steckel (Bochum) wird wenigstens festgestellt, daß bei ihm die Luft ‚raus sei. Glückwunsch!

Die Umfrage-Tabellen weisen das Deutsche Schauspielhaus zu Hamburg als Spitzenreiter der theatralischen Bundesliga aus. Tusch für die Nordlichter! Doch schaut man sich die Listen genauer an, ahnt man Verabredungen. Der Kritiker-Clan ist sich weitgehend einig.

Die ehedem hochgejubelten Münchner Kammerspiele etwa hat man nahezu einmütig verbannt. Dafür wird eine Kinderei wie Karin Beiers Düsseldorfer „Romeo und Julia“-Inszenierung vielstimmig zum Welttheater erklärt. Und zwei Herrschaften zeigen sich eitel angetan von einer absoluten Rarität in Londoner „Theatre de Complicité“. Ach, würden sie sich doch einmal in wirklich exotische Weltwinkel trauen. Ins Ruhrgebiet zum Beispiel.




Bitteres Märchen zwischen Kloake und Herrgottswinkel – Werner Schwabs „Die Präsidentinnen“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. „Bis zu den Achselhaaren“ langt das Mariedl in die Kloschüsseln hinein. Verstopfungen zu beseitigen, das ist ihr dreckiger Job. Sie ist mächtig stolz, daß sie alles ohne Gummihandschuhe erledigt.

Menschen mit niedriger Ekelschwelle werden in Werner Schwabs Stück „Die Präsidentinnen“ öfter ein würgendes Gefühl in der Kehle spüren. Der Text suhlt sich in Fäkalien. Und er schraubt seine absonderlichen Ferkeleien, wie beim früh verstorbenen Fließbandschreiber Schwab (1958-1994) üblich, mit gedrechselten Formulierungen ins Existentielle hoch. Aber es sind doch nur Worte, Worte, Worte. Völlig synthetisch und daher im Grunde klinisch sauber.

In Dortmund, wo Johannes Zametzer inszeniert, spielt das Ganze dennoch im dunklen Keller der Armut – vor einer Kohlenhalde und Haufen schmutziger Wäsche (Ausstattung: Tobias Wartenberg).

Gegen die drei Personen (neben besagter Mariedl die vereinsamten Rentnerinnen Grete und Erna) ist das Hexentrio aus Shakespeares „Macbeth“ ein harmloses Kränzchen. Hier salbadern Figuren aus einem bitterbösen Märchen, debile und aufgedunsene Verzweiflungs-Clowns, die zumal den analen Kern handelsüblicher Volkstümelei (wenn Hosen rutschen und gebrunzt wird, gilt das allemal als Brüllwitz) in lauter Redespiralen umkreisen. Diese Sprache rotiert so besinnungslos wie die Waschmaschinentrommel auf der Bühne.

Fatale Fixierung aufs Hinterteil

Von Psychologen haben wir gelernt, daß allzu spezielle Fixierung auf den Hintern und seine Funktionen mit seelischer Verstopfung und Autoritätshörigkeit zu tun haben kann. Triviale Träume, die aus des armseligen Dasein herausführen sollen, und die Frömmelei eines verklemmten Katholizismus österreichisch-süddeutscher Spielart sind denn auch weitere Zutaten zur elend komischen Mixtur zwischen Kloake und Herrgottswinkel.

Man muß solch einen Text wohl nur zügig abschnurren lassen, dann setzt er schon frei, was in ihm steckt. Und man kann ihm ohne großen Schaden inszenatorisch so manches überstülpen – zwischen Anklängen an Thomas Bernhard, Beckett, Kroetz und Komödienstadl ist einiges möglich. Regisseur Zametzer baut vornehmlich auf Wahnwitz und Groteske, hinter denen man schaudernd die Abgründe ahnt.

In Dortmund läßt man das Stück nicht als Nebensache hingehen, sondern bietet das vielleicht beste Frauentrio des Hauses auf: Barbara Blümel als bigotte Betschwester Erna mit der schrillen Pelzkappe, die die keusche Liebe des gottesfürchtigen polnischen Fleischers „Wottila“ (!) herbeiphantasiert; Helga Uthmann als breitärschig-selbstgefällige Grete mit Turmfrisur und derben Sexualphantasien. Und Felicitas Wolf als von Pusteln und Kratzspuren übersäte Klo-Reinigerin Mariedl.

Mit ihrem teuflisch lieblichen Herz-Jesulein-Tonfall zerrt Mariedl am Ende all die Sehnsüchte der anderen zur nackten Wahrheit herab. In wilder Rache schneiden ihr die beiden die Zunge heraus. Die ungeschönte Wirklichkeit ist eben manchmal schwerer zu ertragen als ein stinkender Abort.




Gemeinsam stärker: Vier NRW-Landestheater bündeln ihre Kräfte

Von Bernd Berke

Im Westen. Weiterhin getrennt spielen, aber ab sofort mit einer Stimme für sich werben wollen die vier Landestheater in NRW. Sie leisten sich ein gemeinsames PR-Büro in Düsseldorf. Entsteht da ein Theater-Kartell?

Das Bühnen-Quartett (Castrop-Rauxel, Neuss, Detmold und Dinslaken) ist vor allem zuständig für Gastspiele auf dem „flachen Land“, also für die kulturelle Versorgung von insgesamt rund 150 kleineren Orten ohne eigene Ensembles. So manche Gemeinde in Südwestfalen etwa greift gern auf Angebote des Westfälischen Landestheaters (WLT, Castrop-Rauxel) zurück.

Doch neuerdings „wird der Markt enger“, wie WLT-Intendant Herbert Hauck und Vertreter der anderen Landesbühnen gestern in Dortmund zugaben. Burkhard Mauer vom Landestheater Neuss deutete an, daß einige Kommunen im Zuge von Sparzwängen mit dem Kommerz flirten. Sie wollen nur noch Tourneetheater verpflichten, jene lieblos um ein bis zwei TV-bekannte Stars gruppierten Wandertruppen, die mit oft seichten Produktion vermeintlich hohe Platzausnutzung garantieren.

Spielpläne aus dem „Musterkoffer“

Die Landesbühnen bieten hingegen auch sperrige Stücke an. Dies wollen sie nun mit vereinten Kräften und offensiv als Erfüllung ihres Kulturauftrags vertreten. Im gemeinsamen Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Verkauf (Tel. 0211/7118345), gelegen in Sichtweite des Kultusministeriums, von dem alle Landesbühnen Zuschüsse erhalten, nimmt die frühere Dramaturgin Claudia Scherb (31) Platz. Doch es ist kein Sitzjob. Sie soll viel unterwegs sein und mit den Kulturamtsleitern der Städte verhandeln – bis hin zur Vertragsreife. Sie wird eine Art „Musterkoffer“ mit sich führen, aus dem sie Angebote der vier Landesbühnen zu veritablen Spielplänen zusammenstellen kann. So sollen selbst kleine Orte ein tragfähiges Theater-Konzept verfolgen können, indem sie (beispielsweise) eine ganze Brecht-Reihe aus dem Baukasten einkaufen.

Das alles verlangt penible Termin-Koordination zwischen den vier beteiligten Bühnen. Und es läuft wohl auch auf eine Art „Gebietsabsprache“ hinaus, so daß man einander nicht unnötig wehtut. Die einzelnen Spielpläne werden ja sowieso schon längst im Vorfeld miteinander abgeglichen, damit nicht auf einmal alle dasselbe Stück proben. Also doch ein Abwehr-Karteil gegen das Kommerztheater? Wenn man so will, ja. Aber was wäre dagegen einzuwenden? Freilich: Das Büro bekommt nur einen Jahresetat von 150 000 DM. Ob sich damit Bäume ausreißen lassen?




Für den Olymp kommt keiner in Frage – Marcel Reich-Ranicki über berühmte deutschsprachige Kritiker

Von Bernd Berke

Unser Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki hat ein Buch über seine berühmten Vorläufer seit Lessing geschrieben. Ja, gab es denn vor ihm überhaupt nennenswerte Kritiker?

Offenbar ja, denn der Band „Die Anwälte der Literatur“ (nein, nicht „Staatsanwälte“) umfaßt immerhin 23 Porträt-Essays. Und doch auch wieder nicht, denn die allermeisten finden vor Reich-Ranicki wenig Gnade.

Nehmen wir Gotthold Ephraim Lessing selbst, den vermeintlichen „Vater“ der deutschen Kritik. Der hatte zwar laut Reich-Ranicki einen aufrechten Charakter, verkannte oder unterschätzte aber viele literarische Talente seiner Zeit, schrieb etliche Rezensionen nur aus Gefälligkeit und hatte weder eine Antenne für Wieland noch für Goethe. Apropos: Goethe selbst sei der absolute Anti-Kritiker gewesen, denn er habe nur gefügige Leser gewollt.

Alfred Kerr war töricht, Walter Benjamin abseitig 

Und der berühmte Alfred Kerr? Nun gut, der lag oft intuitiv richtig. War aber ein unruhiger Geist, eitel bis dorthinaus, übersah Brechts Genie, urteilte töricht über Thomas Mann. Und Überhaupt: Er hat der Kunst kaum gedient. Schnell weggetreten, Kerr!

Das wohl krasseste Verdikt erlaubt sich Reich-Ranicki über Walter Benjamin. Dieser Egozentriker habe sich nur abseitige Themen ausgesucht, ansonsten aber alles verschlafen. Auch er kommt also keineswegs für den Rezensenten-Olymp in Frage. Wer aber dann? Friedrich Sieburg? War eher an kulturellen Seilschaften interessiert. Alfred Polgar? Ja, der vielleicht. War aber leider zu bescheiden. Es ist schon ein Kreuz. Der eine ist zu eitel, dem anderen fehlt’s an Arroganz. Und so passieren sie alle Revue: Heine, Börne, Tucholsky usw. Jeder hat gewisse Stärken, doch jedem läßt sich auch kräftig am Zeug flicken.

Am Ende einer großen Ahnenreihe

Besser ergeht’s dem nüchternen „Praktiker“ Theodor Fontane und Friedrich Luft, der auch „für den Gemüsehändler“ verständlich geschrieben habe. Unter den Heutigen nimmt Reich-Ranicki seine Jury-Freunde Walter Jens und Joachim Kaiser ins Visier. Sie kommen ungeschoren davon. Wie war das noch mit den Gefälligkeits-Kritiken?

Wer solch ein Buch verfaßt, stellt sich unausgesprochen selbst an den gloriosen Schluß der großen Ahnenreihe. Und wer seine Kollegen dermaßen durchschaut, wird doch wohl alle bei ihnen erkannten Fehler tunlichst vermeiden? Hier wollen wir höflich schweigen. Immerhin wird Reich-Ranicki an einer Stelle ungewohnt bescheiden: „Im Grunde müßte man wie Polgar schreiben können, um zu zeigen, wie er schreiben konnte.“

Nur wenige Worte über die jüngsten Vorwürfe (Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst) an Reich-Ranickis Adresse. Da scheint es mehr um Entmachtung eines vielfach Ungeliebten als um Erkenntnis zu gehen. Hellmuth Karasek, Reich-Ranickis Mitstreiter beim „Literarischen Quartett“ im ZDF, hat im „Spiegel“ dieser Woche wenn schon nicht den Inhalt, so doch die Schwere der Vorhaltungen entkräftet, indem er den Zeitbezug wachrief. Auch das eine Gefälligkeit, aber eine notwendige.

Vorbildliche Kritiken von Reinhard Baumgart

Zurück zum Buch. Die besten Passagen sind jene, in den Reich-Ranicki die anderen Kri~ tiker ausgiebig zitiert. Die markantesten Stellen ergeben Ansätze zu einer Geschichte des Rezensionswesens. Die allerdings müßte noch – aus neutraler Position – geschrieben werden.

Eines der klügsten Porträts ü b e r Reich-Ranicki hat bereits 1964 Reinhard Baumgart verfaßt. Baumgarts gesammelte Kritiken sind jetzt in einem sehr lesenswerten Sammelband erschienen. Dieser Rezensent geht wohltuend behutsam und doch meinungsfreudig zu Werke. Er weckt zwar keine lautstarken Kontroversen wie Reich-Ranicki, ist aber ein leuchtendes Vorbild in Sachen angemessener Wahrnehmung von Literatur.

Marcel Reich-Ranicki: „Die Anwälte der Literatur“. Deutsche Verlagsanstalt (DVA). 360 Seiten. 39,80 DM.

Reinhard Baumgart: „Deutsche Literatur der Gegenwart“. Kritiken – Essays – Kommentare. Hanser Verlag, 600 Seiten, 68 DM.

 




„Kasimir und Karoline“ schleichen über den Rummelplatz

Von Bernd Berke

Essen. Herrje, was konnte dieser Ödön von Horváth für herrliche, trefflich-knappe Dialoge schreiben! Wenn so einer heute fürs Fernsehen arbeiten würde… Horváths Stück „Kasimir und Karoline“ hatte jetzt in Essen Premiere. Kamen seine Qualitäten zur Geltung?

Das Stück erwischt seine Themen gleichsam im leichten Fluge und dennoch genau. Man müßte ein Wort wie „Tiefplauderei“ dafür erfinden.

Kasimir und Karoline sind ein Paar. Doch kaum wird der Chauffeur arbeitslos, wendet sich die aufstiegswillige Bürokraft leichtfertig dem Schnösel Schürzinger zu, der sie wiederum zwecks eigener Karriere seinem Chef, dem Kommerzienrat. zeitweise überläßt. Liebesbedürfnis reckt sich nach Geld, Geld kauft sich Liebedienerei. Dieser Reigen aus den 30er Jahren liegt uns nicht fern.

Doch was hat man nur in Essen – unter Regie des Niederländers Albert Lubbers – daraus gemacht? Es beginnt eigentlich verheißungsvoll: Wie auf Richard Oelzes unterschwellig apokalyptischem Gemälde „Erwartung“ steht das Bühnenpersonal anfangs da und schaut sehnsuchtsvoll einem Zeppelin nach. Dazu erklingt ein bedrohlich knarzendes Geräusch, wie denn überhaupt die Aufführung sich im Element der Töne (Musikalische Leitung: Alfons Nowacki) noch am besten hält.

Blaskapelle und Freakshow

Doch dann wird Auftritt für Auftritt ohne rechte Schattierung abgespult. Figuren stehen herum und wissen meist wenig miteinander anzufangen, nahezu jede Gruppierung hat einen schmerzlichen Stich ins Hilflose, desgleichen die Bühnenbilder (Rien Bekkers/Reinier Tweebecke) mit ihrem rührenden Aufwand.

Vor allern aber spielt man elend langsam, im schwerblütigen Schleichgang. Dabei ist man doch auf dem Rummel, sprich Münchner Oktoberfest, wo das Gefühls-Karussell ins Rotieren kommen müßte. Doch da ist kein untergründiges Rumoren, nur fader Vordergrund.

Hinzu kommt ästhetische Unempfänglichkeit für das Geflecht dieses Stückes. Es darf einfach nicht wahr sein, daß man nach der Pause für fast zehn Minuten eine bayerische Blaskapelle („D’lustigen Wendelstoana“) aufspielen läßt wie beim Musikantenstadl. Weiterer Mißgriff: jene Rummelplatz-Szene aus dem Abnormitätenkabinett, die den ganzen Irrsinn bildkräftig auf die Spitze treiben könnte. Doch hier erschrickt man nur über die Art und Weise der Behandlung, denn die Freakshow wird bruchlos dem dröhnenden Gelächter ausgeliefert. So hascht man nach Wirkung, die man anders nicht zustande bringt.

Der lediglich naiv klingende Hermann Große-Berg als Kasimir ist zudem eine Unterbesetzung der Rolle, er zieht auch Uta Krause (Karoline) nicht gerade hinan. Harald Koch als Schürzinger und Carsten Otto als Kommerzienrat entschädigen teilweise durch beherztere kleine Charakter-Studien.

Alles in allem bleibt aber unerfindlich, warum man sich gerade dieses Stück vorgenommen hat. Man muß wohl rein zufällig im Schauspielführer darauf gestoßen sein.. .




Chance für junge Regie-Talente – Berliner Theatertreffen: Große Bühnenkunst, doch es drohen Kürzungen

Aus Berlin berichtet Bernd Berke

Berlin. Strahlendes Sonnenwetter an der Spree. Eigentlich keine Verlockung, allabendlich ins Theater zu gehen. Doch die Aufführungen beim 31. Berliner Theatertreffen sind annähernd ausverkauft – und das ist gut so. Denn dann fällt es Bonn vielleicht ein wenig schwerer, der alteingeführten Bühnen-Börse den Geldhahn zuzudrehen.

Praktisch jede Branche hat ihren Kongreß, ihre Messe oder Leistungsschau. Ausgerechnet den besonders dringend auf breite öffentliche Diskussion angewiesenen Theaterleuten droht erzwungener Rückzug in provinzielle Nischen, wo dann jeder leidlich vor sich hinwerkelt. Denn was ist das Theatertreffen anderes als die Chance, den Stand dieser Kunst in seinen Spitzenwerten zu begutachten, sich damit auseinanderzusetzen und somit selbst voranzukommen.

Der Bund, der bislang die Hälfte der Kosten des Theatertreffens trägt, hat mit Kürzungen begonnen und will sich womöglich ganz aus der Affäre ziehen. Offenbar reicht es manchen Herrschaften, eine politische Hauptstadt (Bonn/Berlin) und eine für die großen Geldströme (Frankfurt) zu haben, die geistigen Rinnsale mögen denn versickern…

Gewiss, die Idee einer kulturellen Blutzufuhr für das geteilte Berlin, aus der das Theatertreffen 1964 entstanden war, hat sich mit dem Mauerfall erledigt. Und es ließe sich darüber reden, ob Deutschlands (laut Juryauswahl) beste Inszenierungen stets in Berlin versammelt werden müssen. Man könnte, um die Regionen zu stärken, an ein Rotationsprinzip denken. Gegengewichte zur kulturellen Übermacht Berlins tun ja auf Dauer not. Aber ein Treffen dieser Art, egal wo, das brauchen wir.

Mit der Auswahl der zwölf Inszenierungen für ’94 haben die Juroren Zeichen für einen inhaltlichen Wandel setzen wollen. Kein Matador früherer Jahre ist vertreten – kein Peymann, Stein, Flimm, Zadek, Bondy oder Dorn. Das schmälert zwar den Ereignischarakter, hat aber gute Gründe.

Einen Wachwechsel anregen

Die Genannten sind ziemlich satte Potentaten, sie haben sich über die Jahre in fragloser, aber oft von Glätte bedrohter Perfektion eingerichtet. Waghalsige Bühnen-Abenteuer verbinden sich mit diesen Namen meist nicht mehr. So hat man denn den unter 40jährigen Regisseuren sieben von zwölf Nominierungen eingeräumt, auf daß endlich ein Wachwechsel angeregt werde.

Aus Bochum – absolutes Novum – reist sogar eine Truppe der Westfälischen Schauspielschule mit der Produktion „Brennende Finsternis“ an. Das werden sie ihren Enkeln noch erzählen: als „Schüler“ beim Theatertreffen… Preiswerter als ein Gastspiel des Burgtheaters kommt es außerdem noch. Zudem hat man das Festival zeitlich gestrafft, es ist nun kürzer und kompakter.

Der Eindruck der ersten Abende war überragend, eigentlich kann es nun nur noch bergab gehen. Zu sehen war die beinahe schon beängstigend intensive Einrichtung von Henrik Ibsens „Hedda Gabler“ (Heimspiel für die Schaubühne am Lehniner Platz/Regie: Andrea Breth – mit Corinna Kirchhoff, Ulrich Matthes, Imogen Kogge u.a.), ein Musterbeispiel für genaueste Durchdringung eines Textes.

Auf seine Weise kaum minder imponierend: David Mamets Zweipersonen-Drama „Oleanna“ (Schauspielhaus Zürich/Regie: Jans-Daniel Herzog – mit Leslie Malton und Edgar Selge), dargeboten im Deutschen Theater im Ostteil der Stadt, das erstmals als Mittelpunkt des Treffens fungiert.

Zweimal Geschlechterkampf auf Spitz und Knopf, zweimal Schauspieler-Theater der ersten Güte. Möglich, daß der Abschied von den Regie-Übervätern die Darsteller wieder in stärkeres Recht setzt. Für diese Hoffnung waren es zwei exzellente Beispiele. Da verschlägt es gar nichts, daß eine harte Feministinnen-Fraktion Mamets Stück samt Inszenierung bei einer Diskussion als „frauenfeindlich“ brandmarken wollte. Wer im Theater immer nur Thesenpapiere mit der eigenen Meinung hören will, sucht das Selbstgespräch. Dazu braucht man in der Tat keine Festivals.




Mit Kokain und Schäferhund in den deutschen Untergang – Ruhrfestspiele: Hansgünther Heymes Versuch mit Schillers „Räubern“

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Die Jungs von der Räuberbande balgen sich wie Kindsköpfe, sie tollen herum wie Welpen. Doch Vorsicht: Schon bald fällt das böse Wort vom „Deutschen Heldenblut“. Das ist kein Spiel mehr, das wird schrecklich. Denn Hansgünther Heyme hat für seine Ruhrfestspiel-lnszenierung Schillers „Räuber“ nach unguter Deutschtümelei abgegrast.

Besagte Bande des von seinem Vater (Hans Schulze) verstoßenen, fürchterlich-genialischen Karl Moor (Matthias Redlhammer) ist zunächst ein loser Haufen, offenbar aus allen möglichen „Szenen“ zusammengewürfelt. Ein paar Freaks, die die Umverteilung à la Robin Hood anstreben, sind dabei. Doch da ist auch schon einer, der ein T-Shirt mit deutschnationalem Aufdruck trägt.

Alsbald gebärdet sich das Trüppchen wie eine „Wehrsportgruppe Moor“, die mit einem alten, flippig bemalten Armeelastwagen unterwegs ist zum Morden und Brandschatzen. Vorn an der Stoßstange hängt schlaff ein toter Schäferhund, mit dessen Blut der fatale Räuberbund rituell besiegelt wird. Merke: Schäferhund gleich Rechtsradikalismus. Ausnahmslos.

…bis sie alle Stahlhelme tragen

Die Kerle werden jedenfalls immer martialischer und immer einheitlicher – bis sie allesamt mit schweren Ledermänteln und schließlich Stahlhelmen herumlaufen. Jaja, in Deutschland sind selbst wohlmeinende Rebellen immer in der Gefahr, dem Faschismus anheimzufallen. Und Karl, der doch nur das Beste wollte, erkennt viel zu spät den Fluch der bösen Tat. Sein Traum von schrankenloser Freiheit gebiert schrankenlosen Schrecken.

Der intrigante Bruder Franz (Peter Kaghanovitch), die Kanaille, zeigt denn auch nur die andere Seite der Medaille. Er ist gar nicht schlimmer als Karl, er ist sich der eigenen Bosheit nur früher bewußt und setzt sie gezielter ein.

Man kann sich einem Stück nähern, indem man spiel und schaut, was sich ergibt. Man kann aber auch sofort seine hehren Gedanken und Besorgnisse aufpfropfen und sich den Text danach zurechtbiegen. Letzteres ist hier wohl der Fall. Im Programmbuch heißt es über Karl: „Sein Aufbruch wird zum mörderischen Vergehen gegen Schwache, Kranke und ,Andere‘ und damit zum Menetekel – gerade heute“. So sieht die Inszenierung auch aus: unablässige Mühsal mit Polit-Pädagogik, die jedoch keinen Halt am Text findet.

Personen stehen da wie Monumente

Ganz sonderbar die Figurenführung: Da wird nichts sorgsam entwickelt, sondern die Personen stehen jeweils bei ihrem ersten Erscheinen ganz stark und entschieden da, wie Monumente fast. Doch dann scheinen sie zusehends zu zerbröckeln und zu verblassen, als hätte man sie unterwegs vergessen. Da verrät sich eine sträfliche Ungeduld der Regie, die sich auf der Bühne des öfteren in unmotivierte Erregungs-Handlungen ergießt, die wiederum nie recht bei ihren Gegenständen sind: unbeteiligte Wallungen. So paradox muß man es sagen. Kein Wunder, wenn Karls geliebte Amalia (erst „kesser Vater“, dann schutzloses Mädchen: Marina Matthias) sich erst mal eine Linie Kokain genehmigt.

Das Bühnenbild (Wolf Münzner) besteht vornehmlich aus blutrot beleuchteten Tüchern und einem Wassergraben, jenem wohl am meisten zuschanden gerittenen Bühnen-Zeichen der letzten fünfzehn Jahre. Der Graben hat keine Funktion, bleibt bloßes Schaustück. Nur „Pitschpatsch“ macht es, wenn sie hindurchwaten, und hernach verteilt sich das Theaterblut so pittoresk im Wasser…

Mit seiner gleichsam dampfenden Sprache erscheint der junge Schiller in dieser Inszenierung wie ein Nihilist oder Nietzsche-Apostel vor der Zeit. Nichts da mit einer Gnade der frühen Geburt! Unser haßgeliebter Idealist ist auch ein abgründiger Autor und Künder künftiger Katastrophen. Das könnte ein Ansatz sein. Aber wehe, wenn man ihn überall und partout beim Wort nehmen will. Und wehe, wenn eine Inszenierung ihrer Mittel so wenig sicher ist, wenn sie Statik und Dynamik, Tempo und Verzögerung so glücklos einsetzt wie diese. Dann wird Geschichte ortlos und zeitenleer, dann wird Schiller zum ungestümen Dampfplauderer. Gespielt wird das alles mit heißem, nein: überhitztem Bemühen. Auf dem schwankenden Boden des Konzepts geraten alle ins Straucheln.

Erschöpft-lustloser Beifall nach vier Stunden eines ebenso länglichen wie kurzatmigen Unterrichts. Selbst die Buhs klangen ermattet.

Nächste Vorstellungen im Festspielhaus: 4., 5., 6.. 7. Mai, jeweils 19.30 Uhr). 8. Mai (18 Uhr) / Tel.: 02361/91 84 40.




Zartbitterer Scherz – Alan Ayckbourns „Familiengeschäfte“ zeitweise mit Zuschauern auf der Bühne

Von Bernd Berke

Wuppertal. Das Wuppertaler Stadttheater kann sich keine Schauspieler mehr leisten. Also müssen die Zuschauer auf die Bühne kommen und alles selbst machen.

Gemach, gemach. Ganz so schlimm ist es noch nicht. Doch im Zeichen allfälliger Kultur-Sparmaßnahmen hat das Ensemble zur Premiere von Alan Ayckbourns Komödie „Familiengeschäfte“ schon mal eine Zukunftsschau gewagt: Regisseur Hans-Christian Seeger betrat eine fast ratzekahle Bühne und bat vielmals um Entschuldigung. Doch eine Ausstattung könne man halt nicht mehr bezahlen. Sprach’s und holte – Rolle für Rolle – dreizehn verdutzte Leute aus dem Publikum auf die Bretter. Die sollten nun gefälligst spielen…

Natürlich war’s nur ein zartbitterer Scherz. Die ins Rampenlicht gezogenen Zuschauer durften sich wieder hinsetzen, denn es gab doch noch echte Schauspieler. Und die Techniker durften nun auch das Bühnenbild hereinschieben. Sie trugen übrigens T-Shirts mit Sponsorenaufdruck.

„Ehrlich sein kann doch jeder Idiot“

Das mit 20 Minuten eine Spur zu länglich geratene Vorspiel auf dem Theater war freilich schon der bessere Teil des Abends. Nicht alle Darsteller schlüpften hernach mühelos in ihre Rollen. Ayckbourns launig-sarkastisches Stück handelt von einer mittelständischen Möbelfirma, deren Fundus vom ganzen Familienclan freihändig geplündert wird. Jeder macht seinen Schnitt, denn (Zitat): „Ehrlich sein kann doch jeder Idiot.“ Nur Jack McCracken (Gerd Mayen) spielt anfangs den Moralapostel und verfolgt jede Verfehlung der Familienbande, wie etwa den Ladendiebstahl der Tochter – bis auch er im Morast landet und sogar den Vertuschungs-Mord an einem Detektiv billigt.

Vielschreiber Ayckbourn flaniert auf dem Boulevard. Um im Straßen-Bild zu bleiben: Der Weg führt zwar nicht an luxuriösen Auslagen vorbei, jedoch an einigen attraktiven Sonderangeboten. Allerdings hat das Stück etliche Hohlräume, und es ist ein bißchen geschwätzig. Boulevard Beo, sozusagen.

Man ist in Wuppertal vielleicht nicht zynisch genug, um den Abgründen des Stücks vollends gerecht zu werden. Selbst die Hausfrau als Freizeit-Domina wirkt hier wie eine „Barbie“. Langweilig ist’s nicht gerade, doch die Sache kommt selten über die Puppenstuben-Harmlosigkeit der in vier Zimmerchen geteilten Bühnenaufbauten hinaus. Der Zuschauerblick wandert immer kreuz und quer in diesem doppelstöckigen Karree.

Schwer ist das: Diese Zimmer mit simultaner Komik zu füllen, wo doch meist nur in einem gesprochen wird. Ein Glücksspiel mit gewissen Leerstellen. Im einen Moment gelingt’s, im nächsten weniger.

Nächste Vorstellungen: 6., 10. und 21. April (immer um 19.30 Uhr)




In finsteren Zeiten – Frank-Patrick Steckel inszeniert Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Unverstellter Blick in die Tiefe des kahlen Bühnenraums. Manchmal glimmt hier nur eine vereinzelte Glühbirne oder eine Taschenlampe. Da kann man füglich mit Bert Brecht sagen: „Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten.“

Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ steht auf dem Spielplan. Die Szenerie ist zumeist in typische Bochumer Dunkelheit getaucht. Hausherr Frank-Patrick Steckel hat, nur elf Tage vor der Premiere, mal wieder eine Inszenierung an sich genommen. Gastregisseur Niels-Peter Rudolph war damit offenbar in eine Sackgasse geraten.

Brechts „Johanna“ speist zwar die Notleidenden, geht aber anfangs mit frommen Sprüchen der Heilsarmee hausieren. Die Idealistin absolviert anno 1929 – im Umkreis der Schlachthöfe von Chicago – die harte Schule des Materialismus. Brecht biegt ihr bei, daß nur Gewalt den Verhältnissen beikommen könne. Diese Verhältnisse bringen einen wie den Fleischkönig Mauler hervor, der alle Konkurrenten an die Wand drückt und ein Heer von Arbeitslosen schafft. Die wiederum sind so hungrig, daß sie für eine Mahlzeit ihre Mitmenschen verkaufen.

Der Hauch einer blaßblauen Resignation

In Bochum ist das nicht so Simpel, man erlebt kein pfeilgerades Lehrtheater. Johanna Dark (Bernadette Vonlanthen) wird auch mit zunehmender Erkenntnis der Realitäten nicht etwa kämpferisch, sondern zart und durchsichtig, umwölkt vom Hauch einer blaßblauen Resignation. Aber sie spricht immer eindringlicher. Es gelingen hier sehr sensibel modellierte Szenen, die durch leise Intensität wirken, nicht durch Gehabe und Geschrei. Am Schluß verweigert Steckel, der beherzt ganze Textblöcke gestrichen hat, der Johanna gar den Brecht’schen Heldinnentod und damit jede sozialistische „Heiligkeit“.

Fleischkönig Pierpont Mauler (Oliver Nägele) ist auch nicht einfach ein „Kapitalistenschwein“. Er bekommt gar Textstücke zugeteilt, die eigentlich Johanna gehören. Selbst bei ihm also erkennt man den Menschen hinter der Charaktermaske. Keiner kommt aus den Wirtschafts-Mechanismen heraus, aber jeder leidet darunter.

Der Kapitalist wird weich – und muß angestachelt werden

Wenn Mauler das von ihm angerichtete Arbeiterelend zu sehen bekommt, wird er weich. Dann richtet ihn Slift (Michael Weber) – ein schmieriger kleiner Verwandter des Mephistopheles – wieder auf zur bösen Tat. Oliver Nägele zeigt ein schwankendes Charakterbild. Bis zum Schluß hält er das großartig durch.

Massenentlassungen, Streiks, Lohnsenkungen. Da sage einer, dieses Stück sei nicht aktuell. Im Bühnen-Hintergrund erwarten denn auch die Darsteller der Gruppen- und Massenszenen auf langen Bänken ihre Auftritte – beinahe wie im Arbeitsamt. Doch die Gruppierungen gelingen noch nicht so gut. Spürbar ist das Bemühen, sie sinnfällig zu gliedern. In der chorischen Textaufbereitung verrauscht freilich so manches Wort.

Vorerst ist die Aufführung noch nicht ganz mit sich im reinen, sie trägt noch Zeichen von Reduktion, von eiligem Zurechtrücken. Aber sie bietet schon viel – und kann noch wachsen.

Die nächsten Vorstellungen: am 27.Februar (17 Uhr), 9. März (20 Uhr) und 13. März (19 Uhr). 0234/3333-142.




Schlag zu bei Shakespeare… – Jürgen Bosse inszeniert Shakespeares „Was ihr wollt“ als große Gaudi

Von Bernd Berke

Essen. Vergoldete Papp-Säulen mit allerlei altertümlichem Zierat rahmen die Bühne ein. Man fühlt sich in Vorzeiten des Theaters versetzt. Gewiß wird wohl gleich ein stocksteifes Spiel anheben? Doch das Gegenteil ist der Fall. Shakespeares „Was ihr wollt“ wird in Essen als pralles Lachtheater serviert.

Der neue Schauspielchef Jürgen Bosse versteht Shakespeares Komödie offenbar als reinste Gaudi. Die Aufführungspraxis der letzten Jahre, die mit manchmal gequälter Vorliebe den psychologischen Windungen des Stücks nachspürte und es als Spiegelkabinett erotischen Begehrens begriff, wird beherzt beiseite gewischt. Auch den Ehrgeiz einer eigenen Deutung läßt man in Essen fahren. Und so wird die Geschichte der jungen Viola, die – als Junge verkleidet – bei der verstockten Gräfin Olivia den Liebesboten des Herzogs Orsino macht und dabei selbst aufs Karussell gerät, zum durchweg derben Schwank.

Das ist bei Shakespeare bis zu einem gewissen Grad legitim, er hat ja wirklich nicht fürs Mädchenpensionat geschrieben. Aber die zarteren Liebes-Verwirrungen, die sich aus der Handlung ja auch ergeben, werden einfach ruppig überspielt. Roll over Shakespeare.

„Fuck Yourself“: Theater-Kirmes mit Catchen

Theater-Kirmes in Essen: Bosse kostet zumal die Szenen um Sir Toby von Rülp, Sir Andrew von Bleichenwang, den Narren und den lachhaft ichsüchtigen Malvolio (der sich mit Selbstauslöser in eitlen Posen fotografiert) bis zur Neige aus.

Eilhard Jacobs und Bosse haben das Stück neu übertragen und bearbeitet. Da grölt der närrische Chor auch schon mal irische Säuferballaden („Wild Rover“) oder einen Kanon mit den goldenen Worten „Fuck yourself“. Auch deutsche Dialekte kommen zum Einsatz. Vielleicht hätte man den Titel gleich elektrisch umpolen sollen: „Watt ihr Volt“.

Nichts, wird ausgelassen. Man sieht sogar zwei beleibte Glatzköpfe beim veritablen Catchkampf, das Publikum pfeift und johlt wie bei vergleichbarer Gelegenheit in der kleinen Westfalenhalle. Schlag zu bei Shakespeare! Und beim Jux-Duell erklingt aus der Mundharmonika – na, was wohl? – die berühmte Melodie von „Spiel mir das Lied vom Tod“. Kurz: Man erlebt den Ausverkauf gängiger Mythen und Marotten gegen kleine Münze. Fehlte nur noch eine „Polonäse Blankenese“…

Immer fröhlich zur Rampe hin

Es gibt wirklich was ,zu lachen in dieser Aufführung, die Darsteller spielen komödiantische Routine aus. Mit draller Lust und Könnerschaft agieren sie zur Rampe hin. Doch in ihrem Frohsinn, ihrer Clownspower geht alles andere so ziemlich unter. Von Melancholie, von der das Stück doch auch eine ganze Menge weiß, bleibt kaum eine Spur. Das betrifft besonders die Rollengestaltung des Orsino (Soeren Langfeld), die keine rechte Kontur gewinnt, während die junge Katja Hensel als Viola mit naiver Frische all die komischen Attacken recht gut übersteht, unverwundbar wie ein Hans im Glück.

Auf der beengten Bühne des Grillo-Theaters spielt man in hintereinander gestaffelten Durchsichten – eine Art Fenster-Dramaturgie mit voyeuristischen Effekten. Die Figuren definieren sich im Grunde schon durch ihre Kostüme (samt Bühnenbild: Wolf Münzner) und durch deren bläuliche, rosarote oder schwarze Farbgebung. In derlei Typisierung zeichnet die Aufführung scharfe Umrisse. Man weiß immer gleich, woran man ist.

Es war so recht ein Theaterabend zwischen Schlußverkauf und Karneval. Und was machen wir am Aschermittwoch?

Weitere Aufführungen heute (15. Februar), 18. und 24. Februar, jeweils 19.30 Uhr.

 




Der braune Sud kann ständig überkochen – Thomas Bernhards „Vor dem Ruhestand“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Ist das nicht nett, wenn man beim Theaterabend an Tischen Platz nehmen darf und wenn dann noch Sekt gereicht wird? Doch diesmal ist es auch hinterhältig. Denn was tut man mit seinem Sekt. wenn auf der Bühne der Gerichtspräsident Rudolf Höller mit eben jenem Getränk auf den Geburtstag des „Reichführers SS“, Heinrich Himmler, anstößt? Am liebsten würde man das Zeug wegschütten.

Der unverbesserliche Altnazi Rudolf Höller bildet mit seinen altjüngferlichen Schwestern Vera und Clara das infernalische Trio in Thomas Bernhards Stück „Vor dem Ruhestand“, das jetzt in Dortmund unter der Regie von Catharina FIeckenstein Premiere hatte.

Die drei Geschwister leben zwischen verlogenem Plüsch mit Piano im Kultur-Eckchen (Bühnenbild: Tobias Wartenberg). In solchem Ambiente gedeiht und überwintert sie prächtig: die deutsche Seele, die einst ihr bisschen Schamgefühl „mannhaft überwunden“ und Menschen in die Gasöfen geschickt hat. Massenmord und Beethoven, das paßt hier aufs Schrecklichste zusammen.

Rudolf Höller begeht auch kurz vor seiner Pensionierung noch Himmlers Geburtstag. Dafür wirft er sich in seine alte SS-Uniform, die Vera eigens gebügelt hat. Im Vorjahr mußte seine an den Rollstuhl gefesselte Schwester Clara sich gar kahlscheren lassen und eine gestreifte Jacke aus jenem KZ anziehen, dessen Kommandant Höller einst war. Da lebt er auf, erinnert sich an alte Zeiten. Und da zeigt sich, daß all der braune Sud im Justizalltag immer nur knapp unter der Oberfläche gebrodelt hat und nun überquillt. Nur eines bedauert Rudolf: Daß er seine Gesinnung nicht öffentlich bekunden darf. Doch bald, sehr bald. werde es so weit sein. Wer würde da, zumal in diesen Zeiten, nicht erschrecken? Doch die Sache mit den Neonazis, die ist wohl eine ganz andere.

Bernhards Stück führt den Nazismus als Ausfluß eines zutiefst autoritären Charakters vor. Und der äußert sich in einer absurd-bodenlosen Theatralik. Die in sich kreisende Sprache spiegelt sehr genau innere Zwänge und Ausweglosigkeiten.

In Dortmund vertraut man dem Text sehr, man fügt ihm nichts Überraschendes zu. Es ist fast, als wolle man sich von Bernhards Worten zum Gelingen hintragen lassen. Das klappte zur Premiere noch nicht so gut, es gab einige Verhaspler. Zudem knirscht es noch etwas im dramatischen Getriebe, wird in mancher Szene allzu deutlich forciert bzw. zurückgenommen. Weder grotesk noch lakonisch, sondern nachdrücklich wird gespielt, als müsse man den Text nur noch unterstreichen.

Heinz Ostermann als Rudolf wälzt sich wohlig im Sessel, suhlt sich geradezu in der Vergangenheit. Gemütlichkeit, die jederzeit gefährlich werden kann. Explosiv auch das Doppeldeutige an seinem „Ruhestand“: Er ist dem Tode näher, und zugleich kann er nun alle Hemmungen fahren lassen. Helga Uthmann als Vera, inzestuös mit Rudolf verkettet, hält als eine Art BDM-Betriebsnudel im grellroten Kleid und mit „germanischen“ Zöpfen die verrottete Zwangsgemeinschaft aufrecht. Und Barbara Blümel als wortkarge, über lange Strecken bitter verstummte Clara: welch große Erschöpfung, welch gestauter Haß!

Nur an eines darf man nicht denken: Wie Claus Peymann das Stück im Januar 1980 nach Bochum mitbrachte. Es waren Sternstunden. Solche kann es nicht alle Tage geben.

Weitere Aufführungen: Heute (28. Januar), 12. und 17. Februar, jeweils 20 Uhr.




Der kinderleichte Traum von einer besseren Welt – Jean Giraudoux‘ „Die Irre von Chaillot“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein paar Kapitalisten wollen halb Paris abreißen, um vermeintliche Ölquellen auszubeuten. Doch die Erd- und Menschenschinder werden in eine tödliche Falle gelockt – und schon ist die Welt ein für allemal befreit. So simpel geht das in Jean Giraudoux‘ Stück „Die Irre von Chaillot“, das in Wuppertal Premiere hatte.

Selten wird der Zweiakter gespielt. Er ist schwer in den Griff zu bekommen. Ziemlich diffus wirkt das Figureninventar zwischen windigen Geldsäcken und Gestalten aus jener niederen Gegenwelt der Clochards und der „irren“ Frauen. Die sind hier natürlich im höheren Sinn die einzig Vernünftigen, weil am mißlichen Zustand der Welt irre geworden. Das Stück hegt eine verstiegene Hoffnung auf rebellische Randgruppen.

In Wuppertal (Regie: Kresimir Dolencic) verklammert man das Ganze zunächst mit einer Art Revueform samt Gesangsauftritten. Die Atmosphäre: so etwa zwischen Bahnhofs-Wartesaal und „Dreigroschenoper“, also zerfasert. Dennoch gelingt es, das Figurenspektrum in Fassung zu halten. Die Schauspieler stellen auf herrlich leicht scheinende Art zumindest lose, assoziative Zusammenhänge her. Wie hat doch dieses Ensemble im Lauf der letzten Jahre gewonnen!

Von Erich Fried gibt es das Gedicht ,„Die Maßnahmen“. Dort heißt es lapidar: „…Die Feinde werden geschlachtet / Die Welt wird freundlich – Die Bösen werden geschlachtet / Die Welt wird gut.“ Ähnlich kindertrotzig, wundergläubig (und totalitär) geht es zu, wenn die „Irre“ (schmetterlingsbunt: Ingeborg Wolff) ihr Tribunal über die etwas groteske Crew der Kapitalisten abhält und sie mit einem angeblichen Ölvorkommen in die Kanalisation lockt, wo die Herrschaften verenden müssen.

Giraudoux hat das Stück 1943 geschrieben, mitten im Kriege und wohl in wahnwitzig lachender Verzweiflung über die deutsche Besatzung. Daraus mag sich die „irre“ Hoffnung herleiten, die vielleicht auch die Befreiung von den Nazis auf phantastische Weise vorwegnimmt.

So schwebt die ganze Sache denn auch etwas traumverloren dahin. Aber das naive Träumen wird doch gelegentlich noch erlaubt sein. Es könnte dieser Abend recht gut unter biblischem Motto stehen: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder… denn ihrer ist das Himmelreich“.

Tatsächlich befördert die Bühnen-Hydraulik am Ende die irre Weltenretterin samt Anhang in himmlische Höhen, während aus dem Orkus die totgeglaubten Besitzenden doch wieder auftauchen, die Mäuler voller Geld gestopft. Aus der Traum: Hienieden, so muß man fürchten, bleibt Mammon König.

Nächste Vorstellungen: 26. und 28. Dez.; 2.. 9. und 15. Januar.

 




Mit Haußmann soll es fröhlich werden – Ab 1995 dürfte sich am Bochumer Theater einiges ändern

Von Bernd Berke

Bochum. ,lch bin ein fröhlicher Mensch“, sagt Leander Haußmann von sich. Und das werde sich im Spielplan auswirken, wenn er 1995 die Leitung des Bochumer Schauspielhauses übernehme. Doch auch bei ihm. so der 34-jährige, werde nicht ganzjährig Theater-Karneval herrschen. Er werde als Kontrast zu sich selbst auch Regisseure engagieren, die eher spröde inszenieren.

Haußmann hat gerade zähe Verhandlungen mit Bochums Kulturdezernentin Dr. Ute Ganaris hinter sich: „Es war richtig anstrengend.“ Doch erfahrene Kollegen wie etwa der frühere Bochumer Schauspielchef Claus Peymann oder Jürgen Flimm hätten ihm dringend raten, sofort alles durchzufechten: „Was du jetzt nicht erreichst, kriegst du später nie mehr.“

Vertrag noch nicht ganz sicher

Haußmann läßt durchblicken, daß er vor allem gewisse Nachbesserungen am maroden technischen Apparat zur Bedingung macht, bevor er den Vertrag unterzeichnet. Auf städtischer Seite müssen noch Kultur- und Finanzausschuß zustimmen, bevor im Februar 1994 der Rat Haußmanns Engagement endgültig absegnet. Trotzdem wurde Haußmann gestern der Presse schon quasi als Bochumer Errungenschaft vorgestellt. Der gebürtige Quedlinburger, aufgewachsen in Ostberlin, gelobte, er werde im Revier kein hochherrschaftliches Intendanten-Theater veranstalten, sondern alles auf die Schauspieler ausrichten. Und Schauspieler seien nun mal meist Komödianten.

Haußmann weckt also die Hoffnung, daß (nach den oft düsteren Visionen seines amtierenden Vorgängers Frank-Patrick Steckel) auf Bochums Bühne mal wieder bunt-sprühende Funken schlagen. Ja, er habe einige Produktionen in Bochum gesehen. Wie fand er’s? Nun ja, Steckel mache es dem Publikum nicht leicht, fordere viel Konzentration. Es fehle derzeit ein Gegengewicht, alles gehe zu sehr in diese eine Richtung. Doch das Ensemble sei hervorragend.

Peymanns Augen glänzten verklärt

Trotzdem werde er, Haußmann, viele Schauspieler mitbringen, so daß einige andere gehen müßten. So sei das eben am Theater. Es lägen ihm schon viele Schauspieler-Bewerbungen für Bochum vor („Auch von namhaften Leuten“), wie man ihn denn überhaupt um seine neue Aufgabe zu beneiden scheine. Auch Claus Peymanns Augen hätten verklärt geglänzt, als er mit ihm über Bochum sprach.

In Sachen Platzausnutzung verzeichnet Bochum seit Jahren Schwund. Haußmann selbstbewußt: Erfolge seien doch im voraus berechenbar. Wenn man etwa „Romeo und Julia“ auf den Spielplan setze, strömten die Menschen nur so ins Theater. Jedoch: „Auch Flops müssen erlaubt sein.“ Er sei nicht nur dazu da, „um das Haus vollzumachen“, sondern wolle auch mal sperrige Experimente ermöglichen.

Gagensumme soll erhalten bleiben

Kulturdezementin Canaris machte klar, daß das Gagen-Volumen fürs Schauspiel in Bochum möglichst nicht verringert werden soll – auch dies eine Bedingung von Haußmann. Allerdings, so Frau Canaris, wisse man nicht, wie sich die Stadt-Finanzen entwickeln. Die Gagensumme pro Saison beträgt 9,5 Mio. DM. Wenn freilich Leander Haußmann 1995 antritt, wird es bereits rund l Million weniger sein, denn man spart ja mit Steckels Weggang Reinhild Hoffmanns Tanztruppe ein. Dazu wollte sich Haußmann nicht äußern. Er verstehe zu wenig von Tanztheater…

Ansonsten schätzt er auch schon mal deutliche Worte. Wie er denn mit Kritikern auskomme? „Eigentlich gut.“ Aber neulich habe mal einer geschrieben, er, Haußmann, sei die fröhlichste Regie-Null Deutschlands. Haußmann: „Dem hätte ich am liebsten eins in die Fresse gehauen.“




Wenn alle Witze heillos vergiftet sind – „Comedians“ von Trevor Griffiths im Dortmunder Schauspiel

Von Bernd Berke

Dortmund. Was ist eigentlich Komik? Typisch deutsche Grübelfrage, nicht wahr? Doch in diesem Fall stellt sie der Engländer Trevor Griffiths. Sein 1975 verfaßtes Stück „Comedians“ („Komiker)“ hatte jetzt in Dortmund Premiere.

Das Studio im Schauspielhaus ist eine karge Schulklasse. Ab und zu poltert der Hausmeister (Günther Hüttmann) herein, um herumzumaulen oder den Kaktus zu gießen. Gibt es Tristeres auf Erden? Doch hier bekommen sechs Männer Abendunterricht in Sachen Witz. Alle schlagen sich sonst mit Gelegenheitsjobs durch. Eine Komiker-Karriere, und sei es in Kneipen, wäre die Chance. Folglich herrscht bissige Konkurrenz. Die Luft knistert von Brutalität, die nur notdürftig in Scherze verpackt wird. Der Stoff, aus dem die Witze sind, ist vergiftet.

Dann betritt der Lehrer Eddie Waters (Horst Westphal) die Szene, ehedem „Lachbombe“ vom Dienst, jetzt aber von Resignation zerknittert. Er predigt trotzdem schöne Ideale. Komik müsse die Wahrheit über den Menschen sagen, alles andere sei Verrat. Doch, oh weh: Der mächtige Prüfer Challenor (Lordschaft der Lachverwaltung: Heinz Ostermann), der Waters‘ Humorklasse begutachten soll, ist ganz anderer Ansicht. Der meint, mit Komik müsse man der dummen Masse zur Flucht aus dem Alltag verhelfen. Koste es, was es wolle.

Dann wird das Publikum ins Erdgeschoß gebeten. Man hat das Bistro zu einem Variété umgebaut. Hier legen die sechs Prüflinge los – und siehe da: Sie haben sich (bis auf einen, der aus Rebellion die Haßkappe „aufsetzt) an Challenors Zynismus angepaßt, haben ihre dürftigen Nummern noch fieberhaft umgestülpt, um einen Job zu bekommen. Nun lassen sie rassistische Witze vom Stapel, oder sie koddern sexuelle Derbheiten heraus. Die Spottverse auf eine gewisse „Frau Motze“ reimen sich…

Nur für üble Scherze gibt es einen Job

Hernach wandern die Zuschauer nochmals – zurück ins Studio. Dort werden die Urteile gefällt. Challenor gibt natürlich den miesesten Possenreißern die Verträge. Folgt ein angepappter Schluß, in dem man erfährt, wie Eddie Waters der Humor abhanden kam, als er nach Kriegsende das zerstörte Dresden und das KZ Buchenwald sah und dabei auch noch „einen Ständer“ hatte…

Der Abend bereitet allseits große Pein – Schauspielern wie Zuschauern. Die Darsteller müssen (das Stück will es ja so) zweieinhalb Stunden lang üble Witze zum besten geben, Rohrkrepierer allesamt. Schwerstarbeit: So zu tun, als würde man jede Pointe todsicher versauen. Es verlangt schauspielerische Selbst-Kasteiung von Kai Hufnagel, Günter Burchert, Frank Voß, Christian Tasche, Alexander Mulheim und Jürgen Uter. Respekt! Doch ihre Mühen übersteigen den Ertrag.

Lachlustige Zuschauer, die sich vom Titel locken lassen, erleiden eine todtraurige Komik, die gnadenlos zu Markte zieht. Da bleibt einem das Lachen nicht nur im Halse stecken, da kommt gelegentlich blanke Wut auf. Wollte Regisseur Johannes Zametzer das wirklich erreichen?

Danach kann man stundenlang keinen Witz mehr hören. Und man fragt sich benommen: Wie weit muß ein Stück jene Verhältnisse abbilden, die es doch wohl beklagen will?




Im Bett mit Karl Marx – „Die Verkündigung oder: Friedrich, du bist ein Engel“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Der olle Karl Marx räkelt sich im Ehebett. Neben ihm liegt seine liebe Frau. Sie erdrückt ihn mit ihrer Fürsorge, sie hält ihn dauernd vom Schreiben und – na, sowas! – vom Fremdgehen ab. Und wenn seine Feder doch mal kratzt, ruft sie gleich; .„Was schreibst du da?“ Bedauernswerter Marx? Im Gegenteil.

„Die Verkündigung oder: Friedrich, du bist ein Engel“, jetzt in Wuppertal als deutsche Erstaufführung zu sehen (Regie: Hans-Christian Seeger), zeigt uns Karl Marx zwei, Stunden lang im Nachtgewand, doch nicht im Büßerhemd: Dieser Mann ist, ganz ungebrochen, ein Patriarch, der mit Frau und Geliebter nach männlichem Belieben umspringt.

Autor Milan Uhde ist, politisch besehen, kein Geringer. Er ist tschechischer Parlamentspräsident. Die Handlung seines Stückes fußt auf einer durch die Forschung weitgehend verbürgten Episode: Marx (der im Stück – Scherz, laß nach! – „Karl-Max“ heißt) schwängerte anno 1850 im Londoner Exil seine Haushälterin Helene Demuth (im Stück: Leni), während sein Eheweib, die kränkelnde dreifache Mutter Jenny (hier: Beni), im Nebenzimmer schlief. Genosse und „Geldesel“ Friedrich Engels übernahm offiziell die Verantwortung für das Malheur – nicht aber für das Kind, das flugs weggegeben wurde, sprich: Außen hui mit Befreiung der Arbeiterklasse, drinnen pfui mit sexistischer Unterdrückung. Sozialisten als bürgerliche Unholde. Merke: Das konnte ja nichts werden mit der Utopie, wenn sie schon so begonnen hat.

Traumspiel mit schauriger Komik

Milan Uhde ist zu klug, um diese mißliche Geschichte einfach nachzuerzählen. Er hat ein Traum- und Schauerspiel mit komödiantischen Zwischentönen geschrieben, bei dem sich Leni verzweifelt in der Themse ertränkt und später als Wiedergängerin in Marx‘ verstaubter Armutsbude herumgeistert. Auch erwürgt Marx seine Frau, weil sie einige Manuskripte verbrannt hat. Diese Tat wird ebenfalls von Engels bemäntelt und bleibt folgenlos. Die herzlichste Umarmung des ganzen Abends ist denn auch keine zwischen Mann und Frau, sondern jene männerbündische zwischen Marx und Engels, als die frohe Botschaft vom Generalstreik in der Zeitung steht.

Marx, durch die jüngste Geschichte eh schon ausgezogen bis aufs Hemd, wird noch einmal ganz intim bloßgestellt, einmal schwenkt er gar wie ein Dorftrottel den Nachttopf. Hier und da ist das halbwegs komisch. Aber: War das denn wirklich noch nötig?

Immerhin gibt’s recht schmackhaftes Rollenfutter, angesiedelt irgendwo zwischen Hauptmannschem Ernst und Loriot-verwandter Komik. Viel mehr als die Wuppertaler wird man aus dem Stück wohl nicht herausholen können. Denn sie machen das allesamt recht gut: Gerd Mayen als väterlich sich gebender Märchenerzähler und Lügenbold Marx, mit gelegentlichen Vulgär-Ausbrüchen; Rena Liebenow als praktisch-lebenskluge Ehefrau, aber auch Nervensäge, die sein Theoriegebäude im Nu zerbröseln läßt; Franz Trager als nicht nur vom Rationalismus trunkener Engels und schließlich Andrea Witt als das Liebesgespenst Leni.




Ein Kerl, zerklüftet wie eine Fjordküste – Frank-Patrick Steckels strenge Inszenierung von Ibsens Rarität „Brand“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. „Alles oder nichts!“ Unerbittlicher Leitsatz von Henrik Ibsens Dramenheld „Brand“. Halbheiten duldet er nicht. Lauheiten verzeiht er nicht. Ein strenger Patron. Hausherr Frank-Patrick Steckel hat ihn auf die Bochumer Bühne gestellt. War auch er wieder streng mit dem Publikum?

Steckel stemmt erneut einen dramatischen Monolithen. Eine einzige deutsche Inszenierung (1974 in Heidelberg) hat das 1865 von Ibsen in Italien verfaßte „dramatische Gedicht“ in den letzten vierzig Jahren erlebt. Ibsen wollte von Süden aus den Norwegern die Leviten lesen. Und auch Steckel nimmt die Zuschauer in die Zucht, man amüsiert sich bei ihm nicht zu Tode. Weit über vier Stunden hat man auszuharren. Der Brocken steht erratisch in der Landschaft. Das ist eine Qual, aber auch eine widerständige Qualität.

Dieser Pfarrer und seltsame Prediger ist jedem Kompromiß abhold. Er opfert sie samt und sonders hin, die nicht ihren ganzen Besitz und notfalls ihr Leben für seine hochfahrende Gottmenschen-Idee hingeben wollen: seinen Jugendfreund Ejnar, seine Mutter, sein Kind, seine Frau, seine Kirche.

Derlei fürchterliche Unbeirrbarkeit steigert zwar das Drama, läßt aber keine Entwicklung zu. Die Musik (Elena Chernin), schier unaufhörlicher Sirenensang, deutet es an: Es geht immer in eine Richtung – von Anfang an schnurstracks auf vermeintliche Gipfel der Utopie, in Wahrheit aber auf den Abgrund zu. Da kichert der Troll. Ibsen selbst hat dramatische Knoten später ungleich wirksamer geschürzt.

Vier Darsteller verkörpern die Titelfigur

Die Übermenschen-Last wird in Bochum auf vier Schultern verteilt. Nacheinander spielen Stephan Ullrich, Ulrich Wiggers, Jochen Tovote und Oliver Nägele den stets pechschwarz gekleideten Brand. Die Abfolge hat weniger mit dem Alterungsprozeß als damit zu tun, daß die Figur zerklüftet ist wie eine Fjordküste. An den Schnittstellen, beim Darstellerwechsel, tritt Brand gleichsam neben sich selbst. Ein undeutlicher, charakterlich schillernder Kerl, seiner Willensmacht zum Trotz.

Die Inszenierung schält splittrige Widersprüche heraus: Mal ist Brand ein eisig-einsamer Gottsucher, dann ein von allen guten Geistern verlassener Sekten-Guru. Da verdammt er mannhaft den landläufigen Durchschnitt; doch schnell erschrickt man darüber, in welch totalitäres Gebaren diese Überhebung führt. Gegen Schluß kehrt Brand gar den Sozialrevolutionär hervor.

„Als ob’s das Reich der Freiheit wär’…“

Gespielt wird die Übersetzung von Christian Morgenstern. Mit seinen Reimen haben die Darsteller zu kämpfen. Zuweilen wirkt diese Sprache heute komisch, sie klappert und knittelt vor sich hin. Man hätte eine Menge streichen können. Etliches wiederholt sich, nur leicht variiert. Freilich gibt es auch Stellen, an denen man aufhorcht: „Als ob’s das Reich der Freiheit wär‘ / Lief das Volk des Herrn in Horden / Der Wohlstandslüge hinterher.“ Hat da gerade jemand „Ostdeutschland“ gesagt?

Doch gottlob haben die Bochumer das Stück nicht mit Gewalt in die Gegenwart gezerrt. Sie behandeln es sorgsam, als legten sie eine Fundstätte frei. Zudem dürfen wir uns an einem grandiosen Bühnenbild (Andrea Schmidt-Futterer) sattsehen, einer ins Un- endliche weisenden Eiswüste, dann und wann verdüstert und verengt. Und nicht zuletzt: Die Darsteller, nehmt alles nur in allem, sind auf der Höhe. Neben dem Brand-Quartett besonders zu nennen: Martina Krauel als Brands somnambule Frau Agnes.

Brand hätte das Ganze nicht gefallen, denn es ist halt weder alles noch nichts. Aber es ist durchaus etwas!




In der Bundesliga des Theaters spielt das Ruhrgebiet nicht mit

Von Bernd Berke

Allherbstlich wird sie mit Spannung erwartet: die Jahresumfrage des Magazins „Theater heute“. Welche Sprechbühnen gehören in die „Bundesliga“, wer steigt ab, wer steigt auf? Geht es nach dem Urteil der befragten 40 Kritiker, so war es in der letzten Saison um die Theater des Ruhrgebiets so schlecht bestellt wie lange nicht mehr.

Zwar verteilt man bei „Theater heute“ noch keine symbolischen Masken wie Kochlöffel, doch man ist der Hitlisten-Manie immerhin so weit verfallen, daß man arglos „Die Sieger“ ausruft. Bester Schauspieler: Jürgen Holtz (keineswegs nur als „Motzki“); beste Schauspielerin: Kirsten Dene (an Peymanns Burgtheater); bester Regisseur: Luc Bondy. Frank Castorfs Berliner Volksbühne steht als „Theater des Jahres“ auf Platz eins. In dieser Rubrik (Gesamtleitung einer Bühne) mochte nur noch ein Unverdrossener überhaupt ein Revier-Theater nennen – ein einsames Stimmchen erhebt sich für Roberto Ciullis Mülheimer Theater an der Ruhr. Das war’s dann auch schon.

Ansonsten taucht die Region nur mit ganz wenigen Einzelleistungen auf. In der Sparte „Beste Inszenierungen“ wird, als revierweit einzige, immerhin viermal Jürgen Goschs Bochumer Handke-Einrichtung „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ nominiert. Die Tat eines Gastregisseurs also, während man z.B. den Namen des Bochumer Noch-Schauspielchefs Frank-Patrick Steckel vergeblich sucht. In Sachen Bühnenbild/Kostüme werden immerhin Andrea Schmidt-Futterer, Dieter Hacker und Kazuko Watanabe für Bochumer Produktionen erwähnt.

Noch finsterer sieht es offenbar bei den Schauspielern aus. Nur ein Name aus dem gesamten Ruhrgebiet taucht überhaupt auf, und auch das nur einmal: Matthias Kniesbeck (als „Othello“ in Oberhausen).

Gnädigerweise hat man das Revier wenigstens in der Spalte „Beste/r Nachwuchskünstler/in“ nicht ganz vergessen. Und hier ist denn auch, neben der Bochumer Schauspielerin Judith Rosmair, endlich und erstmals Dortmund vertreten, freilich durch die Regisseurin Amelie Niermeyer (für ihre „Lysistrata“), die man leider längst nach München hat ziehen lassen.

Tja, warum ist Frau Niermeyer wohl an die Isar gegangen? Wohl auch, weil sie dort überregional eher wahrgenommen wird als in Dortmund. Denn die Nichtberücksichtigung im Jahrbuch von „Theater heute“ hat nicht immer mit Mangel an Qualität zu tun, sondern vielfach damit, daß die 40 Kunstrichter die Abstecher gescheut haben. Sprich: Was sie nicht kennen, können sie auch nicht nennen. Was bleibt? Immerhin zwei Zukunftshoffnungen: die kommende Ära Leander Haußmann in Bochum und Jürgen Bosse in Essen.




Das Theater muß rigoros abspecken: „Letzte Vorstellung“ von Gerhard Stadelmaier – das passende Buch zur Krise

Von Bernd Berke

Das Berliner Schiller-Theater schließt in wenigen Tagen. weitere Häuser stehen gewiß „auf der Kippe“. Was tun? Wann, wenn nicht jetzt: Nachdenken über unsere Theater-Landschaft, und zwar ohne Tabus. Daß derlei gründliche Revision in Zeiten der finanziellen Nöte noch unterhaltsam sein kann, beweist Gerhard Stadelmaier mit seinem Buch „Letzte Vorstellung“.

Stadelmaier ist Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). In ihre Diensten hat er so viele Vorstellungen erlebt, daß sein Urteil nicht so sehr aus Anmaßung, sondern aus Anschauung hervorgeht. Und man ist nicht ganz abgeneigt, ihm zu glauben, wenn er behauptet: Deutsches Theater, das ist furchtbar oft eine un-sinnliche, weil kopf- und apparatelastige Veranstaltung.

Blecheimer auf schräggestellter Bühne

Fast möchte man meinen, Stadelmaier habe im Laufe der Jahre einen Haß aufs Theater entwickelt, so fulminant zieht er über seine Macher her, durchleuchtet er seine diversen Köpfe: beispielsweise die mittlerweile etwas angegraute Crew der stilprägenden Regisseure („Machtköpfe“), die denkwütigen Dramaturgen („Schwellköpfe“), die vom Regietheater gebeutelten Schauspieler („Geisterköpfe“), die aus dem Theater verbannten Gegenwartsautoren („Papierköpfe“) – und jene grandiosen Geldverpulverer namens Bühnenbildner, bei denen es immer noch ein bißchen Goldauflage mehr sein darf und die doch als Hauptrequisit in den letzten Jahren nicht viel mehr ersonnen hätten als jenen notorischen Blecheimer auf schräggestellter Bühne mit Wassergraben…

Der landläufige Abonnent, der eine Art neurotische Ehe mit „seinem“ Theater führe, kommt gleichfalls zur Sprache. Stadelmaier schont jedoch auch das eigene Metier nicht. Der Kritiker, so Stadelmaier, sei jenes seltsam ratlose Wesen mit dem Leuchtkugelschreiber, das im Theater aus Prinzip niemals lacht. Ein Typus sehe so aus: „Er sitzt, meist schon ein älterer Herr, oft mit grauem Bart, in Reihe vier auf Platz achtzig und notiert Adjektive, die in seinen Kritiken in Klammern nach einem Doppelpunkt wieder auftauchen.“ Etwa so: „(Renate-Yolinde Müller-Frauenschuh: ein reizendes Kammerkätzchen)“.

Gewerkschaften aus dem Hause jagen

Und noch nicht genug der Schelte. Stadelmaier treibt sich auch in deutschen Foyers herum. Er findet dort (im Gegensatz zu anderen Ländern) ebenso fade wie maßlos überteuerte Pausen-Büffets; dazu langweilige Büchertische und gähnende Garderobe-Frauen, die jedoch draußen vor der Saaltür selten etwas Nennenswertes versäumen. Wohin man auch blickt: Genuß vergällt!

Die ganze Misere, so befindet Stadelmaier, hänge letztlich mit dem „Wasserkopf“ (sprich: Verwaltung und Technik) zusammen. Er plädiert zwar gegen besinnungslose Bühnen-Privatisierung, aber für den rigorosen Abbau aller Dinge und Verhältnisse, die nicht unmittelbar mit dem Spiel zu tun haben: „Das ganze Theatersystem müßte mit leichterem Gepäck marschieren.“ Und weiter: Weg vom teuren Gemischtwarenladen eines lustlos ständig präsent gehaltenen Repertoires, hin zum durchgängigen Spiel weniger, dafür sorgfältig einstudierter Produktionen.

Sein letztes Rezept wird bestimmt nicht jedermann gefallen und mag auch mit Stadelmaiers großbürgerlich orientierter Zeitung zusammenhängen. Es müsse der heimliche Traum aller Theaterleute erfüllt werden: „die Gewerkschaften aus dem Theater zu schmeißen“. Die komplizierten Tarif-Regelungen erstickten jede Phantasie, weil es z.B. „dem Regieassistenten verboten ist, als Stuhlabräumer einzuspringen, auch wenn das dem Fortgang der Probe nützlich wäre, man aber so lange warten muß, bis der zuständige Bühnenarbeiter seinen Pausenzeit beendet hat.“

Sicher, dieser Autor ist polemisch. Für eine witzige Formulierung biegt er notfalls die Wahrheit auch schon mal etwas zurecht. Doch das ist als Denkanstoß legitim, spricht er doch vom Theater wie ein Liebhaber – wenn auch ein enttäuschter, etliche Male um sein Vergnügen betrogener. Und so einer darf gelegentlich zürnen. Zumal, wenn der Schimpf die Szene so schlagartîg erhellt.

Gerhard Stadelmaier: „Letzte Vorstellung“. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main (Reihe „Die andere Bibliothek“). 299 Seiten, 44DM.




Nur den Staatsanwalt will niemand gerne spielen – Therapie-Projekt in Eickelborn: Drogensüchtige stellen ihre Lebensgeschichte auf der Theaterbühne dar

Von Bernd Berke

Lippstadt/Eickelborn. „Rolltreppe abwärts“, „Nullouvert“. Schon solche Stücktitel deuten an, daß Theater sich in die Niederungen begibt; nach ganz unten – dorthin, wo z. B. Drogen-Karrieren enden.

Jetzt hat die Gruppe mit dem Namen „Stoffwechsel“ bereits ihr drittes Stück einstudiert. Es heißt „Popshop“. Besonderheit: Die Schauspieler sind 14 Drogenpatienten der psychiatrischen Landesklinik in Lippstadt-Eickelborn. Sie gehen in diesen Tagen sogar erstmals auf eine kleine Tournee, spielen vor Schülern und Jugendlichen. Damit die nicht eines Tages auch an irgendein schlimmes Zeug geraten.

Der Titel „Popshop“ stammt aus dem Szene-Jargon und bedeutet so viel wie „Endstation“ oder „Nichts mehr zu sagen/machen“. Die jungen Leute haben das Stück (mit Hilfe ihrer Therapeuten Günter Seidenberg und Caroline Happe) selbst verfaßt und auch das Bühnenbild erstellt. Viele Stunden haben sie dafür geopfert.

Die meisten sind Männer zwischen 20 und 30, allesamt erst seit wenigen Monaten „clean“, also noch lange nicht über den Berg der Sucht hinweg. Das Theaterspielen wurde zum Teil der Therapie. Einer sagt’s für alle: „Wir hatten endlich in unserem Leben das Gefühl, selbst mal was Sinnvolles auf die Beine zu stellen.“ Klar, „etwas zäh und mühsam“ sei die Sache anfangs gewesen. Man hatte nicht nur mit dem Text zu kämpfen, sondern auch mit sich selbst. Und mancher konnte sich zunächst mit seiner Rolle nicht anfreunden. Welcher Drogensüchtige mag schon gern einen Staatsanwalt spielen?

Der Text handelt von jenem Uwe, der aus Berlin nach Dortmund zieht und wegen eines Beschaffungsdiebstahls in den Knast kommt. In Rückblenden werden Stationen seiner Drogenkarriere beleuchtet. Dabei kommen Justiz und Sozialarbeiter nicht gerade gut weg. Essenz des Stückes: Drogensüchtige sind weniger kriminell als krank und waren vor ihren Taten selbst Opfer. So weit das Pflichtprogramm im Sinne einer liberalen Sozialpädagogik.

Doch natürlich geht es um mehr. Zum einen lernen die Drogenpatienten auf der Bühne, sich offen und ehrlich vor Publikum zu ihrer Sucht zu bekennen. Zum anderen wirken sie als Darsteller auf das junge Publikum viel glaubhafter als Profi-Schauspieler. Sie haben selbst durchlitten, was sie da spielen. Sie machen einem nichts vor. Und sie stellen sich nach jeder Aufführung der Diskussion.

Kann sein, daß sie den einen oder anderen labilen Zuschauer vom Einstieg in harte Drogen abhalten. Dies allein würde das vom Land bezuschußte Projekt rechtfertigen. Die Produktion ist jedenfalls weit entfernt vom läppischen Laienspiel. Dazu ist sie zu nah an der Wirklichkeit.

Aufführungen: 13.-16. September in Werl, Soest, Lippstadt, Beleke (vermutlich ausverkauft). 20., 24. Sept. und 27. Sept.-l. Okt. in Lippstadt-Eickelborn. jeweils 19 Uhr.




Theater wie in Fels gehauen – Shakespeares „Coriolan“ bei den Salzburger Festspielen

Von Bernd Berke

Salzburg. Die Felsenreitschule ist der Tod jeder Differenzierung oder Innigkeit. Dieser Spielort taugt für gravitätisches Breitwandtheater. Hier kann man gleichsam Stücke in den Fels hauen, aber niemals ziselieren. Ein passender Platz also für Haupt- und Staatsaktionen wie in Shakespeares Römer-Drama „Coriolan“? Salzburg machte die Probe aufs Exempel.

„Coriolan“, so will man fast meinen, ist eigentlich gar kein „richtiger“ Shakespeare, kein umfassendes Welt-, sondern staubtrockenes Machttheater. Der Griff ins Archiv beweist es: ein durchaus ungern gespieltes Stuck. Zuletzt wagte sich vor drei Jahren Christof Nel in Basel daran, die Machtspielchen als bloßen Treppenwitz darstellend. Keine Chance gegen Hamlet, Lear & Company.

Man möchte allen und niemandem glauben: dem Volkshasser Coriolan, denn die Masse, der er vorsteht, scheint wirklich breit und dumm, beliebig lenkbares Stimmvieh. Dann aber auch dem Volke, denn dieser Coriolan ist in seinem durch militärische Erfolge gespeisten Selbstbewußtsein gar zu dreist. An wen soll man sich da halten, wem seine Zuschauerseele schenken? Das Stück markiert freilich einen historisch interessanten Moment staatlicher Rechtfertigungskrise: Wer Konsul werden will, muß das Volk um Zustimmung bitten. Doch Coriolan verhöhnt die Massen nur.

Deklamation und großspurige Gestik

Regisseurin Deborah Warner kommt aus der britischen Shakespeare-Tradition – und damit wird es vollends fatal. Übermächtig das Erbe, gegen das sie sich kaum Frechheiten erlauben darf. Also ist Deklamation gefragt, große, ja großspurige Gestik, die der Aufführungsort sowieso verlangt. Und so gerät man stracks ins klassizistisch volltönende Staatstheater der 50er Jahre. Dabei wirken die Figuren in ihren antiken Gewändern doch so zeitlos gemeißelt.

Ein Theaterwunder, nicht genug zu bestaunen, wenn in solchen Zusammenhängen doch intensive Szenen gelingen. Besonders Bruno Ganz (Coriolan) und Hans Michael Rehberg als sein Vertrauter Menenius stehen dafür ein. Doch insgesamt schleppt sich die Handlung in endloser Rede und Widerrede dahin.

Bataillone von Statisten

Ganze Bataillone von lärmenden Statisten werden für die kriegerischen Szenen zwischen Römern und Volskern aufgeboten. Wenn sie auf die in drei Ebenen postierten rostigen Stahlplatten einschlagen, gemahnt dies freilich eher an Knastrevolte denn an Völkerschlacht.

Grandios immerhin die Sprechkultur auf der kaum sprachfreundlichen Riesenbühne. Eine große alte Tragödin wie Maria Wimmer (Coriolans Mutter Volumnia) ist hier ganz in ihrem Element, und auch Bruno Ganz glänzt in dieser Hinsicht.

Schmerzlich aber vermißt man auf Dauer eine zeitgemäße Aneignung des Stoffes. Mag ja sein, daß wir am Ende aller Ideologien angelangt sind. Aber deswegen schon beinahe meinungsloses Theater, ein bloßes Auf- und Abtreten teilweise großartiger Darsteller?

Kompromißlos ist Coriolan, jedem Taktieren abhold. Ein an sich sympathischer Zug. Doch er entlädt sich in grinsender Kriegswut und blindem Volkshaß. Und das Volk brüllt beisnnungslos seinen Tod herbei: „So soll es sein“, skandiert die Menge. Im selben Rhythmus, wie sie seinerzeit riefen: „Wir sind das Volk!“ So unterschiedslos verführbar zu Krieg, Frieden und Verfolgung wären wir also? Dann gehörte ja die Demokratie samt Tribunen zum Plunder der Weltgeschichte. Eine höchst bittere Erkenntnis, wenn es denn eine wäre.




Triumph für die Muse des Theaters – „Das Gleichgewicht“ von Botho Strauß in Salzburg uraufgeführt

Von Bernd Berke

Salzburg. Selten dürfte ein neuerer Theatertext so sehr aufs Wort belauert worden sein. Botho Strauß, immer schon zuständig für die „neueste Stimmung im Westen“, hatte vor einigen Monaten im „Spiegel“ seinen „anschwellenden Bocksgesang“ angestimmt und dabei mit brandgefährlichen Begriffen zwischen Blut, Boden und Kampfesehre gespielt. Desto mißtrauischer lauschte man jetzt bei den Salzburger Festspielen der Uraufführung seines Stückes „Das Gleichgewicht“.

Strauß ist hier ganz auf seiner eigenen Höhe. Zwischen allerlei Phantom-Liebe und versickernden menschlichen Beziehungen entfaltet er ein weites Panorama der Verluste. Verschleiert und verspiegelt: der zauberische Bühnenraum von Karl-Ernst Herrmann. Ähnlich ätherisch wie das Doppel-Leben jener Lilly Groth (Jutta Lampe). Nach einem Jahr der Trennung auf Probe von ihrem Mann, der in Australien Ökonomie lehrte, hat sie sich offenbar in eine eingebildete Zweit-Beziehung zu dem Rockmusiker Jacques le Coeur hineingesteigert. Ein zweites Leben neben dem ersten – nur so findet sie Halt und inneres Gleichgewicht.

Diese empfindliche, jederzeit bedrohte Ökonomie des Glücks spiegelt Strauß nun auf den verschiedensten Ebenen der Gesellschaft. Das Spektrum reicht vom verwahrlosten Milieu einer S-Bahn-Unterwelt (mit Rolltreppen abwärts) über eine von Spekulanten zum Abriß freigegebene Berliner Ladenzeile bis in die Vorräume der Macht. Auch sprachlich wird das Höchste mit dem Niedersten kunstvoll verwoben und verworren. Von Slapstick und Kabarett bis zum goetheschen Tonfall reicht das Spektrum, vielfältig wie das unübersichtliche Leben selbst. Ein ungeheuer reiches Stück, Strauß‘ größte Tat seit „Groß und Klein“.

Wir werden es gewiß noch in vielen anderen Inszenierungen erleben, doch schwerlich in einer besseren als jener von Luc Bondy. Ganz gleich, ob der Text in seltenen Sekunden zu raunen, zu dröhnen oder sich allzu weit zu erheben droht  – die Regie hat ihn vor jedem Abgleiten bewahrt. Auch das ein wunderbares Gleichgewicht. Und überhaupt klingt Strauß ja im Drama, im abwägenden, gegeneinander austarierten Dialog, allemal humaner als im hochfahrenden Monolog seiner Essays.

„Der Aufstand der Reinheit“

Hier, im Theater, verzeiht man auch eine Vision wie die von der „Säuberung durch Engelsstimmen“ und vom „Aufstand der Reinheit“, der alle Drogensüchtigen aus unseren Städten vertreiben müsse. Denn solche Sätze sind eingebettet ins Geflecht von Gegenstimmen.

Und welch ein Ensemble kann Bondy aufbieten, wahrhaft festspielwürdig! Jutta Lampe als „Lilly“ in all ihrer zarten Durchsichtigkeit, Brüchigkeit, Bedrängnis – und doch stark wie eine Heldin. Der majestätisch beruhigte Christoph (Martin Benrath), ihr Ehemann mit seiner Gleichgewichts-Philosophie des buddhistisch inspirierten Bogenschießens, des rechten Moments losgelöster Anspannung von Pfeil und Sehne. Sodann die phantastische Kirsten Dene (oh, alte Bochumer Peymann-Zeit!) und Martin Schwab als benachbarte Lädcheninhaber mit ihrer seit 15 Jahren unentschiedenen Buffo-Liebe. Selbst Nebenrollen sind mit Spielmagiern wie Fritz Lichtenhahn und Hans-Peter Hallwachs besetzt.

Man möchte schwelgen. Und es befällt einen der innige Wunsch, das Theater möge aus solcher Höhe nie mehr in den faden Alltag zurückfallen. Dann hätte sich alle Diskussion um seine Bedeutung erledigt. Die Muse Thalia würde triumphieren.

Brausenden, rauschenden Beifall gab es nach annähernd vier Stunden. Im Publikum saßen, neben zahlreicher Kultur-Prominenz, auch Leute wie der Chef der Deutschen Bundesbahn. Vielleicht ist auch er, für seinen Job, auf der Suche nach dem „Gleichgewicht“…




Das Abendland endet auf dem Herrenklo – Dramen von Marlene Streeruwitz und Volker Braun bei „Stücke ’93“

Von Bernd Berke

Mülheim. Es war fast wie im Fußballstadion, wenn die eigene Elf gar nichts zustande bringt. „Aufhören-Aufhören!“-Rufe dröhnten durch die Mülheimer Stadthalle, etwa ein Viertel des Publikums suchte während der Darbietung das Weite. Marlene Streeruwitz‘ Drama „New York. New York.“ lag beim Wettbewerb „Stücke ’93“ am Rande des Theaterskandals.

Schauplatz ist eine Wiener Herrentoilette, in die auch zahlreiche Damen strömen. Das Personal besteht vornehmlich aus Nutten, Strichern und anderen Gestrandeten. Wir werden Zeugen ungebrochener Gewalt. Da schlägt etwa der Zuhälter eine Dirne blutig. Anschließend vergreifen sich andere Toilettenbesucher an ihr und schleifen die Schwerverletzte halbnackt über die Bühne. Dann taucht eine japanische Reisegruppe auf. Eigentlich wollen sie ja das historische Klo besichtigen, auf dem schon Kaiser Franz Joseph huldvoll seine Notdurft verrichtet haben soll. Doch dann nutzen sie wieselnd die Gelegenheit und fotografieren die Mißhandlung der Frau.

In diesem Stile geht es zwei pausenlose Stunden lang weiter. Jens-Daniel Herzogs Inszenierung (Münchner Kammerspiele) führt nur bizarre Zustände am Rande der Gesellschaft vor Augen, verweigert jederlei Sinngebung. Wie im abgedroschensten naturalistischen Drama wird alles in quälender Echtzeit durchlitten. Auch wenn die alte Toilettenfrau Horvath (Heide von Strombeck), die bei all dem Geschehen strickend dasitzt wie eine Höllenwächterin, einmal die Emailschüsseln reinigt, sehen wir das ungekürzt.

Welche Kultur-Mafia steckt wohl dahinter?

Irgendwann denkt man: Welche Kultur-Mafia hat nur dieses Werk in die Auswahl zum besten Stück des Jahres bugsiert? Natürlich sollte man sich an diesem Punkt sogleich selbstkritisch fragen, woher das Unbehagen kommt. Liegt’s daran, daß man so hilflos im Sessel sitzt, jeglicher Gewalt optisch ausgeliefert? Und warum erträgt man Abbilder der Realität in den Fernsehnachrichten so viel kühler?

Doch derlei Gedanken machen das jammervolle Abort-Stück, das aus unerfindlichen Gründen mit Mythen aus Antike und Hollywood-Kino durchsetzt ist, kaum besser. Diese Mythen werden mit in den apokalyptischen Orkus gezogen: Spülung betätigen und weg mit dem ganzen Abendland. Wenn denn Marlene Streeruwitz als große Hoffnung des deutschsprachigen Theaters gilt, so lasset uns verzagen!

Theater auf dein Rückzug – das gilt auch für Volker Brauns „Iphigenie in Freiheit“. Der Ex-DDR-Autor trauert dem zweiten deutschen Staat oder einer verbesserten Neuauflage desselben nach. Er verdeutlicht seine Resignation in einem Kalauer: „Wir sind das Volk“ habe es einst geheißen, jetzt nur noch: „Ich bin Volker.“ Rette sich, wer kann – vor der Wiedervereinigung. Doch da ist keine Rettung, nur Vereinzelung; so auch bei jener Iphigenie, die gleichsam an den Westen verhökert wird und darüber bittere Klage erhebt.

Das Staatstheater Cottbus (Regie: Karlheinz Liefers) müht sich, den wie eine Ursuppe wirkenden Text zu gliedern. Die Chorpassagen erinnern in ihrem Stakkato an Agitprop. Doch das Ensemble steht auch für individuelle Sprechkultur. Trotzdem: Viel mehr, als diesen an der Bühne vorbei geschriebenen Text zu Gehör zu bringen, vermag man nicht.

Nun folgen beim Mülheimer Wettbewerb noch Stücke von Peter Handke, Dea Loher und Rainald Götz. Hoffen wir also darauf.

 




Die Kinder der Revolte machen bruchlos weiter – Das legendäre „Living Theatre“ bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. So kann man’s machen: Auf der Hinfahrt zum Theater den Cassettenrecorder oder Walkman mit Musik der 60er Jahre laden. Mit Stones, Doors, Velvet Underground & Co. Dann ist man emotional ungefähr da, wo das „Living Theatre“ noch heute leibt und lebt: mitten in den Jahren der Revolte.

Die Kinder dieser Zeit machen bruchlos weiter, als sei seit jenen 60ern nichts geschehen. Diesen Eindruck, von dem man nicht recht weiß, ob man ihn verheißungsvoll oder befremdlich finden soll, nimmt man aus Recklinghausen mit. Dort tritt die legendäre New Yorker Theatertruppe bei den Ruhrfestspielen auf. Steckbrief: 1951 von Julian Beck (†) und Judith Malina gegründet, in den 60er Jahren d a s freie Theater überhaupt und eine Mutter der Alternativ-Szene. „Paradise Now“ hieß das bekannteste Projekt, der Aufschrei einer Generation.

Das neue Stück „Rules of Civility“ (etwa: Anstandsregeln) entstand durch Zufall. Bei einem Ausflug kam die Gruppe, die bis heute als Kommune zusammenlebt, in ein Nationalmuseum. Man fand dort eine Broschüre über den US-Gründervater George Washington (1732-1799). Der vermeintliche Erz-Demokrat hatte in 110 Regeln dargelegt, wie er sich das rechte Leben vorstellte. Essenz: Immer schön Respekt vor den Höhergestellten haben. Und immer saubere Fingernägel vorzeigen.

Sonnenklar, daß ein solches Korsett den Nachfahren von ’68 mißfällt. Das „Living Theatre“ zeigt nun, mit recht simplen darstellerischen Mitteln, wie solche Regeln, wenn sie von Menschen gegen Menschen durchgesetzt werden, direkt den menschlichen Körper betreffen, ihn gewaltsam einschnüren, zurichten, zurechtbiegen.

Sie sind so naiv und so schrecklich sympathisch

Die Darsteller schwärmen auch, nach ihrer Gewohnheit, ins Publikum aus und rufen damit Angstlust im Parkett hervor. Alle 110 Paragraphen werden in der englischsprachigen Aufführung zitiert und musikalisch unterlegt, der Präsidenten-Patriarch betritt als Doppel-Figur (Erwachsener und Kind) die Bühne. Hauptrequisit ist eine Ananas, die als Zeichen für Kolonialismus herhält.

Es wäre leicht, sich ironisch über die Sache herzumachen, so naiv bezieht das „Living Theatre“ George Washington auf die Gegenwart. Dessen Regeln, so ruft man uns inbrünstig von der Bühne aus zu, seien Regeln des Krieges — aus ihnen ableitbar sei Amerikas fatale Weltpolizistenrolle. Und alles, was sie uns gezeigt haben, sagen sie auch noch viele Male: All‘ diese Regeln müsse man brechen, dann werde die Welt besser.

Schön war’s ja: Wir alle benehmen uns spontan — und alsbald herrscht Frieden. Man möchte dem „Living Theatre“ seine Botschaft gerne glauben. Die Truppe ist so mit sich im Reinen, geradeaus und ehrlich. Sie sind gewiß nicht die besten Schauspieler, aber sie sind schrecklich sympathisch.

Im Grunde vollführt man ein Schattenboxen gegen Washington. Seine strikten Benimmregeln sind eh längst außer Kraft. Ja, vielleicht brauchen wir gar das Gegenteil: Mehr statt weniger Form im Zusammenleben. Wenn auch nicht im stocksteifen Sinne Knigges oder Washingtons.

Aber der Schluß ist stark: Da ziehen die Leute von „Living Theatre“ in einer Lichterprozession mit dem Publikum ins Freie – zur stillen Meditation. Rund ums „Depot“ hört man nun Vogelstimmen in der Abenddämmerung. Wer weiß: Vielleicht wird doch noch alles, alles gut…




…doch Heidegger stieg durchs Gebirge – Elfriede Jelineks „Totenauberg“ bei den Mülheimer Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Vor dem Juhnke-Rummel * hatten die Mülheimer Stücketage mit Elfriede Jelineks „Totenauberg“ begonnen, einem Drama über den Philosophen Martin Heidegger (1889-1976). Der war ein Brocken aus Granit.

In seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ genügte ihm der Begriff „Sein“ keineswegs. Er erfand z. B. auch noch „das Seiend“ und „die Seiendheit“ hinzu. Hut ab vor Elfriede Jelinek, weil sie – in Nachvollzug und Parodie – solchem Kauderwelsch eine poetische Sprache abgewann. „Totenauberg“, hier in der Fassung des Wiener Burgtheaters (Akademietheater) zu sehen, bezieht sich im Titel auf Heideggers Denkerklause im schwäbischen Todtnauberg. Derlei Wortspiele prägen den Text. Er stellt Heideggers Sprechblasen auf seine Weise so wirksam unter Verdacht wie 1964 Theodor W.Adornos Abrechnung („Jargon der Eigentlichkeit“).

Mehr noch. Das Stück konfrontiert den greisen Philosophen, der sich als Freiburger Uni-Rektor emsig mit den Nazis einließ (der Geistesriese als Moralzwerg), mit der jüdischen Denkerin Hannah Arendt. Die war als junges Mädchen in Heidegger verliebt – und wurde 1933 ins Exil getrieben, just als Heidegger seine großdeutsche Erweckung erlebte.

Trotzdem ist das Stück keine Heidegger-Schelte, sondern eine graue Litanei. Ein Alptraum aus Worten. Frau Jelinek versetzt die langen Monologe mit Passagen über furchtbar-fruchtbare Mutterschaft, Tötung „ungesunden“ Lebens, Tourismus, Naturzerstörung, Heimat, Fremde und Exil. Da tun sich Wunden auf, die auch in der Gegenwart nicht verheilt sind.

Österreichs Alpen bilden die Kulisse. Die Schauspieler müssen auch wirklich Text-Berge bewältigen, die Regisseur Manfred Karge freilich (bis an den Rand des Zulässigen) abgetragen hat. Hätte er nicht ein so großartiges Ensemble (u. a. Martin Schwab, Therese Affolter, Lore Brunner), wäre jeder Gag eine Qual. Das Ganze ist nicht für die Spielpraxis geschrieben, es ist eine harsche Herausforderung an die Bühne. Aber Jelineks kunstvolle Sprache will nicht nur gelesen, sondern gesprochen und gehört sein. Also doch eine Theatersache, wenn auch eine sperrige.

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* Juhnke-Rummel: Peter Turrinis Stück „Alpenglühen“ konnte in Mülheim nur als Lesung aufgeführt werden, weil Hauptdarsteller Harald Juhnke kurzfristig ausfiel… (darüber berichtete der WR-Kollege Rolf Pfeiffer).




„Die Natur spielt immer mit“ – Dortmunder Freilichtbühne wird 40 Jahre alt

Von Bernd Berke

Dortmund. „Die Natur spielt immer mit.“ Ein Grund- und Merksatz für alle Freilichtbühnen. Nicht nur Wetter-Kapriolen sind gemeint. Es passiert auch schon mal, daß unverhofft ein Hase über die Szene rennt oder daß gar ein veritables Rindvieh mitten in einer Liebesszene unromantischen Laut gibt. Alles schon geschehen auf der Naturbühne Hohensyburg, im südlichen Grüngürtel Dortmunds. Doch Fuchs und Hase sagen sich hier nicht immer einsam gute Nacht: Mit 37 000 Besuchern verzeichnete man in der letzten Saison ein Hoch in der Bühnengeschichte. Und die währt jetzt 40 Jahre.

So fing es an: Im Frühjahr ’53 brachte man das Stück „Wetterleuchten auf Sigiburg“ heraus, ein auf Dortmund bezogenes, heutzutage wohl schwerlich nachspielbares Germanen-Spektakel mit Flügelhelmen und allem Drum und Dran. Seitdem gab’s insgesamt 65 Stücke und 940 Aufführungen zu sehen. Die „1000″ erreicht man noch in diesem Jahr.

Bühnenbilder und Ausstattung waren anfangs noch sehr bescheiden. Meist mußten die Baumwipfel als Kulisse reichen, manchmal brachte einer von zu Hause ein paar Requisiten mit. Übrigens: Einer gehört jetzt noch zum 160-köpfigen Ensemble, der die Anfänge schon erlebt hat: Erwin Oeke, heute 73 Jahre alt. Das nennt man Treue.

Plötzlich „Grips“ statt Grimm

Zeitgeist machte sich vor allem beim Kindertheater bemerkbar. Selbst das Rumoren um 1968 hatte hier ein fernes Echo. Plötzlich spielte man „Grips“ statt Grimm; es war keine Zeit für Märchen, sondern für Wahrheiten, wie sie eben das muntere Berliner Grips-Theater verbreitete. Im Erwachsenentheater blieb man hingegen (bundesweit) beim üblichen Repertoire zwischen „Charleys Tante“ und Shakespeares oder Molières Komödien.

Provokationen wie Handkes „Publikumsbeschimpfung“ wird man hier nie riskieren. Zugkräftig muß es schon sein, denn der Etat muß eingespielt werden. Die Naturbühne erhält pro Saison 5000 DM städtischen Zuschuß – und das bei Produktionskosten von rund 50 000 DM pro Stück. Da ist es schon fast ein Wagnis, wenn hier (für 1994 fest geplant) Anton Tschechows „Onkel Wanja“ auf den Spielplan kommt.

Vorerst aber denkt man an a die Saison ’93. Sie beginnt am 20. Mai mit Shakespeares „Wie es euch gefällt“ . Für Kinder gibt es, als deutsche Erstaufführung, die Dramatisierung von Astrid Lindgrens „Die Kinder von Bullerbü“.

Molière auf Ruhrdeutsch? Geht nicht…

Seit 1985 leitet Frank Kantereit die Geschicke der Naturbühne, zuweilen mit strenger Hand. Erst neulich, so erzählt er, habe er zwei Darsteller „entlassen“, die ihren Text auch nach mehrfacher Mahnung nicht auswendig konnten. Doch das ist die Ausnahme. Praktisch alle 160 Mitstreiter, sozial und vom Alter her gut gemixt, sind mit Begeisterung bei der Sache  – allesamt ehrenamtlich.

Dabei haben sie’s nicht leicht: In Dortmund benutzt man z. B. keine tragbaren Mikrophone beim Spiel. Starke Stimmen sind gefragt, die sich auch gegen ein unruhiges Kinderpublikum behaupten können. Apropos Sprechkultur: Auch da, so sagt Frank Kantereit, schließe er keine Kompromisse. Kommen Anfänger mit reviertypischem Akzent, so knöpft er sie sich vor: „Ruhrdeutsch bei Molière – das geht einfach nicht!“ Und was findet er schlimmer als einen Totalverriß? Kantereit: „Wenn jemand gönnerhaft sagt: Es war halt ganz nett.“




Farce von der Liebe und ihrer taktischen Abwehr – Amélie Niermeyer inszeniert Goethes „Clavigo“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Schwankende Gestalt: „Der Seiltänzer“ von Paul Klee ziert das Dortmunder Programmheft zu Goethes „Clavigo“. Auch dieser Karrierist am Königshofe von Madrid ist artistisch biegsam und neigt sich – je nach Gelegenheit – wechselhaft zu allen Seiten, um ja nicht abzustürzen.

Ein Mädchen wie Marie könnte auf seinem Weg dort oben nur hinderlich sein. Also verläßt er sie. Doch er hat ein offenes Ohr für Überredungskünste: Also kehrt er zu ihr zurück, wenn ihr Bruder Beaumarchais darauf drängt – und verrät sie dann erneut, weil sein Freund Carlos es so will. Wo Clavigo auch geht und steht, er ruft den Leuten zu: „Ich bin der Eurige“. Ha! Ist das nun eine Tragödie, oder ist es eine Farce?

Wohl eher eine Farce, scheint Regisseurin Amélie Niermeyer zu finden. Sogleich stürmen Clavigo (Michael Ehnert) und Carlos (Frank Voß) herein. Sie liebkosen ihr druckfrisches Zeitungs-Blättchen, das „alle Weiber bezaubem“ werde. Zwei schöne Hallodris haben wir da, fast bis aufs Haar ununterscheidbar. Yuppies bei Hofe, verantwortungslose Selbst-Genießer. Doch man wird sehen: Auch die anderen Menschlein sind nicht viel besser. Carlos, sonst oft nur Bösewicht und Einflüsterei, ist hier eher die zweite Seele in Clavigos Brust.

Seltsam leichtlebige Schwestern

Nun aber dreht sich die aufrecht stehende riesige Zylinderform (zweckdienliches Bühnenbild, abwechselnd eng und weit: Alexander Müller-Elmau) und gibt den Blick in ihr Gehäuse frei: Es ist die Sphäre der verlassenen Marie (Eleonore Bircher), ihrer Schwester Sophie (Katharina Abt) und ihres Schwagers Guilbert (Otmar Schrott). Auch hier spielt man seltsam leichtlebig vor sich hin, kratzt ein wenig auf der Geige, tanzt und kichert sogar. Etwas grotesk und uhrwerkartig ist das sicherlich, doch soll dies ein Haus des Leidens sein? Wenn hier von Liebesschmerz geredet wird, wirkt er wie an-gedichtet, wie bloßer Affekt, nervöses Gebaren. Marie muß denn auch von den Ihren zum vermeintlichen Glück geprügelt werden. Wenn sie später stirbt, hat das vielleicht damit zu tun – und weniger mit Liebesleid. Weder bei Clavigo noch bei Marie kann es mit der Liebe weit her sein. Sie gerinnt zu Ansprüchen und deren taktischer Abwehr.

Und dann erst Maries Bruder Beaumarchais (Kai Hufnagel): Wie der hereinsaust und seine Kreise zieht! Ein wildgewordener Möchtegern-Napoleon, wie frisch aus einem Irrenwitz entsprungen, schnarrt er diktatorisch seinen Rachedurst heraus. Weh denen, die sich von so einem „helfen“ lassen! Man fürchtet schon, nun beginne die große Goethe-Verulkung. Doch das ist nicht wahr: Es folgt ja die großartige, innige Überredungs-Szene, in der Carlos den Clavigo wieder „umdreht“, den er schon zu verlieren drohte. Da fallen die höfischen Perücken.

Zum Schluß rafft es alle dahin

Bei Goethe sterben nur Marie und Clavigo, in Dortmund rafft es im Schlußbild alle dahin. Nur Clavigo überlebt und ruft sämtlichen Toten zu: „Ich bin der Eurige!“ Triumph des Opportunisten über Leichenbergen? Doch so spielerisch sind sie gestorben, daß sie gewiß gleich wieder aufstehen und ihre Intrigen von vorn abschnurren lassen könnten.

Die Inszenierung, von der man nie recht weiß, ob sie den Wallungen ihrer Figuren nur ironisch mißtraut oder ob sie auch echten Gefühlen nachtrauert, überzeugt – aufs Ganze gesehen – durch ihre unverkrampft zupackende Art, ein homogenes Ensemble, prägnante Kostüme (Jasmin Andreae) und gleichermaßen dezente wie eingängige Musik-Überleitungen (Michael Nyman). Jammerschade, daß eine ersichtlich begabte Regisseurin wie Frau Niermeyer Dortmund schon wieder den Rücken kehrt und gen München zieht.

(nächste Vorstellungen: 6. und 19. März)




Fluch der Werktreue: „Wessis“ sind ganz aus trockenem Holz – Hamburger Inszenierung macht Hochhuth kenntlich

Von Bernd Berke

Hamburg. Wir Wessis sind furchtbare Wesen, eine Landplage, fast wie die Heuschrecken. Alles luchsen wir unseren Brüdern und Schwestern im Osten Deutschlands ab: die fruchtbarsten Obstplantagen, um dort Golfplätze für die Schickeria anzulegen; die tollsten Hotels, damit unsere Bonzen in den umliegenden Wäldern auf die Jagd gehen können.

Natürlich zahlen wir den Ossis nur Spottpreise, um nachher unseren großen Reibach zu machen. Und den Ex DDR-Bürgern bleiben dann nur noch zwei Möglichkeiten: gewaltsamer Widerstand oder Selbstmord.

Hat „Motzki“; die Seiten gewechselt? Schimpft er jetzt auf das Westpack statt auf die „Zonen-Dödels“? Ach was! Der Autor mit dem eingleisigen Weltbild (mögliches Motto: „Bonn und die Treuhand sind an allem schuld“) ist einer unserer bekanntesten Dramatiker: Rolf Hochhuth.

Spätestens jetzt müßten alle Theaterfans und sogar Hochhuth selbst dem Regisseur Einar Schleef dankbar sein, denn der hatte vor rund zwei Wochen in Berlin Hochhuths „Wessis in Weimar“ gar gnädig verhüllt, indem er so gut wie nichts vom Originaltext übrig ließ. Der erboste Hochhuth ließ verlauten, nun setze er alle Hoffnungen auf die Version des Hamburger Ernst-Deutsch-Theaters. So galt die Inszenierung des Schweizers Yves Jansen als die „eigentliche“ Uraufführung – und selten dürften sich so viele Kritiker in das als bieder verschriene Haus am Mundsburger Damm verirrt haben.

Monströs detailversessen

Regisseur Jansen hatte etliche Kürzungen in Aussicht gestellt, doch leider hat er uns diesen Liebesdienst nicht im wünschenswerten Umfang erwiesen. Also wird denn – Fluch der Werktreue – Hochhuths monströs-datailversessener Text erstmals in all seiner Hölzernheit auf das Publikum losgelassen. Immerhin blieb eine Szene erspart, in der Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger mit Erich Honecker auftreten sollte.

Da sitzen also Leute auf der Plantage und reden. Dann sitzt da einer in der Badewanne und redet. Ferner sitzt einer am Schreibtisch und redet, redet, redet – zunächst ins Diktiergerät, dann in den Telefonhörer. Und sie alle reden nicht wie Menschen von Fleisch und Blut, sondern wie bierernste Leitartikler. So ist denn auf der Bühne auch immer mal wieder eine Zeitung zur Hand, aus der emsig zitiert werden kann. Hochhuth war wieder immens fleißig, das muß man ihm lassen. Stets nennt er – in bandwurmartigen Nebensatz-Einschüben – Daten, Zahlen, Namen und notfalls auch Uhrzeiten, als wolle er seinen Text rundum absichern. Ein erzdeutscher Schriftsteller.

Stocksteif, kreuzbrav und unbeholfen

Nichts gegen eine ordentliche Buchhaltung. Doch Hochhuth, seit rund 30 Jahren im dramatischen Geschäft, vermag seine Recherchen kaum in theaterwirksame Szenen zu gießen. So zynisch es klingt: Man ist schon fast dankbar, wenn hier einmal ein ehrlicher Selbstmord begangen wird. Die Szene „Philemon und Baucis“, in der ein altes, von der Treuhand schmählich ausgestrickstes Ost-Ehepaar den Freitod durch den Strick wählt, ist die einzige, in der so etwas wie menschliches Schicksal aufscheint. Vor allem der Schauspielerin Ingrid Stein sei Dank für diesen kleinen Lichtblick.

An diesem stocksteifen Text, der nur notdürftig mit Kalauern aufgelockert wird, hätten sich wohl selbst die besten Regisseure und Schauspieler die Zähne ausgebissen. Es machte die Sache also kaum schlimmer, daß Jansens Regie und die meisten Darsteller kreuzbrav bis unbeholfen wirkten. Es brachte diesen Text im Grunde nur zur vollen Kenntlichkeit. Kein Wunder, daß es am Schluß des Dramas lichterloh brennt. Das ganze Ding ist ja trocken wie Zunder.




Die Spuren sämtlicher Fehltritte – „Der Hofmeister“ von Jakob Michael Reinhold Lenz in Bochum

Von Bernd Berke

Bochums Schauspiel ist derzeit mehr im Gerede als im Gespräch. Streit gab’s zwischen Bühnenchef FrankPatrick Steckel und Regisseur Benjamin Korn. Es ging um die Molière-Inszenierung „Der Menschenfeind“, die Stecket an sich zog und die am 30. Januar herauskommen soll. Im Fachblatt „Theater heute“ posaunte Korn alles aus und warf Steckel geistigen Diebstahl vor. Kurz zuvor hatte die Frankfurter Allgemeine („Bochum am Boden“) den gesunkenen Standard der Revierbühne beklagt.

Doch neben Querelen gibt es in Bochum zuweilen auch Premieren. Am Samstag hob sich der Vorhang für Jakob Michael Reinhold Lenz‘ „Der Hofmeister – oder Vorteile der Privaterziehung“.

Das 1778 uraufgeführte Stück des „Sturm und Drang“ entstand, als der Adel bereits geistig mit dem Bürgertum konkurrieren mußte, die Standesschranken aber noch nicht gefallen waren. Dieser Widerspruch gerinnt zur Tragikomödie.

Titelfigur ist der junge Hofmeister (sprich: bürgerlicher Privatlehrer für Adelskinder) namens Läuffer, der die Tochter eines Majors schwängert, worauf die Welt der Väter in Wallung gerät. Doch die Altvorderen sind schon reichlich zahnlos. Alles schnurrt in ein erkünsteltes Happy-End hinein, wo jedem die Seine beschieden ist.

Nichts vom rastlosen Schauplatzwechsel der Vorlage: Der von Andrea Schmidt-Futterer gestaltete Spielort in Bochum ist ganz einheitlich. Gefängnis, in dem man rasend wird; hermetisches Geviert, begrenzt von starrer Säulen-Architektur. Man mag da an faschistische Imponierbauten denken. Blutrot ist der Boden, darauf Unmengen von Papierschnitzeln. Jeder Schritt hinterläßt hier Spuren, im Laufe des Abends entsteht so eine Art Bild unter den Füßen der Figuren. Doch was heißt „Schritt“? Der aufrechte Gang ist niemandem gegeben. Da wird geschlurft, gewankt, gehinkt. Lauter Fehl-Tritte.

Haltlos unterwegs sind diese Menschen. Manchmal betreten sie mit gepackten Koffern die Bühne. Der Hofmeister (Michael Weber) wirkt in schäbiger Kleidung wie jener Heimkehrer (nun gar: ,Asyl-Bewerber“?) Beckmann aus Borcherts Nachkriegsdrama „Draußen vor der Tür“. Auch den vermeintlich glückhaften Schluß können diese Gestalten nicht goutieren. Sie finden sich halt damit ab.

Im Mittelpunkt der Bochumer Fassung stehen die Väter, Geheimrat von Berg (Georg- Martin Bode) und sein Bruder, der Major (Oliver Nägele). Angesichts des Skandals („Es gibt keine Familie mehr“) wahrt der Geheimrat krampfhaft die Statur, während der Major verwahrlost und dem lachenden Wahnsinn anheimfällt.

Schauspielerisch ebenso hervorzuheben: Michael Weber macht das Optimum aus dem kurzen Auftritt des alten Predigers Läuffer, Christian Ebert verleiht dem Schulmeister Wenzeslaus bizarres Profil.

Über dreieinhalb Stunden Spieldauer trägt das zaghafte Konzept der Regie jedoch nicht. Dringend erwünscht wäre ein Durchbruch, ein Riß, meinetwegen ein gewaltsamer Zugriff. Nur die monströse Selbstkastration Läuffers sorgt blutreich für einen ganz kurzen Schock. Ein Verfremdungs-Versuch à la Brecht – die Darsteller treten aus ihren Rollen heraus und sagen die Szenen selbst an – steht isoliert für sich.

Die Frage, warum man dieses Stück jetzt spielen muß, konnte die etwas blasse und museale Veranstaltung nicht beantworten. Regisseur Urs Troller hörte einige Buhrufe.

Die nächste Vorstellung folgt erst am 31. Januar.




Prag zwischen „Tutti Frutti“ und ambitioniertem Theater

Von Bernd Berke

Prag. Die Theater in Prag kämpfen, ähnlich wie jene in den neuen Bundesländern, mit Zuschauerschwund. Manche Vorstellungen werden gar mangels Masse kurz vor Beginn abgesagt – wiederum eine Anti-Werbung, die die letzten Getreuen vergrault. Seit die Tschechen unbeschränkt reisen und fast wie im Westen einkaufen können, aber auch härter arbeiten müssen, herrscht im Theaterparkett oft gähnende Leere.

Zudem bannt der TV-Kanal „OK 3″, der einen Verschnitt gratis überlassener westlicher Produkte (auch „Tutti Frutti“ von RTL) sendet, viele Leute in den heimischen Fernsehsessel. „OK 3″ ist Vorhut und Schnupperware für das demnächst startende Privatfernsehen.

Noch haben sogar die Theaterleute, die jetzt auf Einladung der Ruhrfestspiele in Prag deutschen Journalisten ihre Situation schilderten, eine Illusion: Das Privat-TV werde zwar anfangs seicht sein, nach einer gewissen Frist aber auch Kultur bringen. Wenn man sieht, was „OK 3″ schon jetzt an sexuellen Gewagtheiten anbietet, beschleichen einen da arge Zweifel.

Händeringend Sponsoren suchen

Früher hat der sozialistische Staat die Theaterschulden stillschweigend beglichen. Nun sucht man händeringend Sponsoren. Denn nun müssen die Bühnen (wie bei uns) mit Subventionen auskommen, die nicht mehr steigen. Ganz im Gegensatz zu den Preisen. In den Geschäften am Prachtboulevard Wenzelsplatz muß man inzwischen nahezu soviel Geld auf den Tisch legen wie in Deutschland – und das bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von rund 4200 Kronen (etwa 250 DM) in der Hauptstadt.

Nur Theater, die ganz besondere Qualität bieten oder sich gekonnt auf „Marktlücken“ spezialisieren, halten sich in diesem Umfeld gut. Die berühmte „Laterna Magika“ etwa hat keine Probleme, ihr Haus zu füllen. Freilich sind die Besucher zum großen Teil Touristen, vor allem aus Deutschland.

Wo man alles darf, wird es schnell beliebig

Bis zur sanften Revolution anno 1989 war es in der damaligen CSSR verboten, „dekadente“ Dramen von Beckett oder lonesco zu spielen, für den Erwerb der Aufführungsrechte an anderen West-Stücken fehlten Devisen. Jetzt kann man schier alles auf die Bühne bringen. Und da liegt das Problem. Denn wo man alles darf, wird vieles unverbindlich. Dafür hat das Publikum eine feine Antenne.

Da hilft es gar nichts, sich an die tschechische Tradition des psychologischen Theaters (Tschechow-Pflege bis zum Überdruß) zu klammern. Doch mit allzu wilden Experimenten darf man den Tschechen auch noch nicht kommen, sind sie doch durch die jahrzehntelange Isolation auf ästhetische Wagnisse kaum vorbereitet. Und eine kompetente Theaterkritik, die an Neuerungen heranführen könnte, entwickelt sich erst jetzt ganz allmählich.

Die Opern verzeichnen zwar einen etwas besseren Besuch als die Sprechtheater, doch man steckt auch hier noch tief in Konventionen. Außerdem können die Tschechen ihre besten Sänger nie im eigenen Lande erleben. Die Gagen, die diese Stars verlangen, werden nur in Westeuropa, Japan und Amerika bezahlt.

Und so spielt man tapfer nach dem Prinzip Hoffnung. Oder man trauert jener Hoch-Zeit des Theaters im Jahre 1989 nach. Damals gehörten die Bühnen zu den Zentren des Aufbegehrens. Es ist, als sei das schon Jahrzehnte her.

 




Ruhrfestspiele: Zurück zur Utopie von 1968 – Hansgünther Heyme stellt Programm in Prag vor

Aus Prag berichtet Bernd Berke

Auch im Spätherbst ist Prag eine wunderschöne, aber oft neblige Stadt. Nebulös und ungewiß auch die nahe Zukunft: In weniger als einem Monat wird Prag die Metropole eines neuen Staates sein, der Tschechischen Republik. Die Slowaken gehen dann eigene Wege. Wird es gutgehen?

Das entsprechende Hickhack um Besitzstände (bis hin zum Streit um einzelne Kunstwerke), ist jedenfalls derzeit d a s Gesprächsthema an der Moldau. Selbst die schlimmen Nachrichten über deutsche Rechtsradikale dringen bislang eher gedämpft in die goldene Stadt.

Hierher also hatte Ruhrfestspiel-Chef Hansgünther Heyme gebeten, um seine Festival-Pläne für 1993 zu erläutern. Warum an die Moldau und nicht an die Ruhr? Nun, man versteht sich ja seit ein paar Jahren als Europäisches Festival. Zweiter Grund: der jäh beendete „Prager Frühling“ vor fast 25 Jahren. Denn das Jahr 1968 spielt in Heymes Plänen für 1993 eine tragende Rolle. Schließlich gehören Gastspiele von Prager Bühnen zum Programmgerüst. Und Vaclav Havel, so hofft man, übernimmt die Schirmherrschaft.

Bedeutet das Ende des Realsozialismus auch das Ende aller Utopien? Nicht für Heyme! Im Gegenteil: Er möchte am liebsten die Antriebskräfte des rebellischen Jahres 1968 wieder mobilisieren. Die damalige Aufbruchstimmung ist Schwerpunkt, wenn auch nicht durchgehende Leitlinie der Festspiele ’93.

Odysseus als ruheloser Intellektueller

Die Kunstausstellung der Festspiele wird eine Zeitgeist-Schau über 1968. Heyme selbst steuert seine Inszenierung „Heimkehr des Odysseus“ (nach Homer) bei. Odysseus, so ein Regiegedanke, ist Prototyp des ruhelosen Intellektuellen, wie er auch um ’68 aktiv gewesen sein könnte. Außerdem plant Heyme die Uraufführung eines Textes von Gaston Salvatore, in dem dieser einstige Mitstreiter Rudi Dutschkes die APO-Vergangenheit „aufarbeiten“ soll. Beide Stücke sind Koproduktionen mit Heymes neuer Wirkungsstätte Bremen.

Auch Johann Kresnik, Chef des Bremer Tanztheaters, ist dabei: Seine „Wendewut“-Choreographie basiert auf einem politischen Text von Günter Gaus über die deutsche Vereinigung. Doch schnell zurück nach Prag: Friedrich Dürrenmatt hatte „Minotaurus“ seinerzeit eigens für das weltberühmte Prager Theater „Laterna Magika“ verfaßt. Nur der Regisseur Milan Svoboda könne diesen Prosatext angemessen auf die Bühne bringen, befand der Schweizer Autor. So geschah es. Svoboda verzichtet weitgehend auf Sprache und setzt den Geist des Textes in magische Bilder um. Er kommt mit seinem multimedialen Spektakel zu den Ruhrfestspielen.

Trotz Unterdrückung an Idealen festhalten

Deutlicher sind die Bezüge zu 1968 bei der zweiten tschechischen Produktion. „Laute Einsamkeit“ von Bohumil Hrabal hatte beim „Theater am Geländer“ bereits 1983 Premiere. Obwohl bis zur „samtenen Revolution“ des Jahres 1989 nicht dafür geworben werden durfte und auch keine einzige Kritik erschien, sprach sich das Ereignis herum und kam auf über 300 Vorstellungen. Hrabals Text behandelt die Frage, wie man trotz Unterdrückung an seinen Idealen festhalten kann.

Der Programmüberblick verspricht weitere Bühnen-Genüsse: Andrea Breth zeigt ihre Berliner Version von Gorkis „Nachtasyl“. Aus New York reist das legendäre „Living Theatre“ an und spielt – erstmals in Europa – „Rules of Civility“. Vorlage ist hier ein Text von George Washington zum Thema Demokratie.

Das spanische Totaltheater „La Fura dels Baus“, das schon 1991 bei den Festspielen Furore machte, kommt mit einer neuen Produktion wieder. Mittlerweile ist die Truppe aus Barcelona durch die Gestaltung der Olympia-Eröffnungsfeier zu weltweiter Berühmtheit gelangt. Gute Bekannte in Recklinghausen sind auch Maurice Béjart und seine Tanzcompagnie aus Lausanne. Diesmal führen sie „Cinema – Cinema“ auf, eine Hommage an die Filmregisseure Fritz Lang, Pasolini und Godard zu Musikstücken von Verdi, Bartók und Schönberg.

Sogar das Musical „Anything Goes“ (Alles ist möglich) feiert Wiederauferstehung. Heyme hatte Cole Porters Werk vor Jahresfrist als publikumsträchtige Eigenproduktion bringen wollen, war mit diesem Vorhaben aber gescheitert. 1993 kommt „Anything Goes“ als eingekauftes Gastspiel vom Berliner Theater des Westens. Na, bitte. Fast alles ist möglich.




Heiner Müller: Am Bösen kann der Autor wachsen

Von Bernd Berke

Listig-verschlagen blickt der Dramatiker Heiner Müller den Leser vom Umschlag seines neuen Buches „Krieg ohne Schlacht“ an. Dreht man den Band herum, bläst Müller einem von der Rückseite her einen Schwall Zigarrenrauch ins Gesicht. Sieht so aus, als wolle er uns sagen: „Rutscht mir doch den Buckel herunter!“

Vielleicht hat er Anlaß zum Zorn. Gar manche haben den wohl wirksamsten Theaterautor der verflossenen DDR seit der Wende ins Zwielicht gestellt. Ähnlich wie Christa Wolf, so hat man auch ihm im nachhinein zu große Nähe zur SED unterstellt. Jetzt erzählt der Mann, der nach eigenem Bekunden ursprünglich aus Neid Sozialist geworden ist, sein „Leben in zwei Diktaturen“ (Untertitel).

Der erste Teil erstreckt sich über 360 Seiten, im Anhang werden Original-Dokumente abgedruckt. Der Haupttext ist aus Gesprächen mit Müller entstanden. Dennoch sind es meist lange Monologe. Da kann Müller glänzen, seine enorme Belesenheit samt Kenntnissen der Theaterwelt und ihrer Akteure erstrahlen lassen. Klare Einsichten stehen neben stammtischverdächtigem Geschwätz.

Aus der NS-Zeit, die Müller als Kind in Sachsen und Mecklenburg erleben mußte, gibt er nur kurze Anekdoten zum besten — mit trockenem bis sarkastischem Witz. Rasch ist das Buch in der Gründungsphase der DDR angelangt. Eine Leitlinie sind Müllers Stücke von „Die Umsiedlerin“ bis zur „Hamletmaschine“. Doch die politischen Passagen interessieren derzeit brennender. Leider verfällt Müller auch hier vielfach in Geschichten-Erzählerei nach dem Muster: Wie ich einmal bei Erich Honecker war und er mir die Hochzeit mit einer Bulgarin genehmigt hat…

Müller berichtet, wie er sich anfangs gar zu große Illusionen über die DDR gemacht hat. Er gibt auch „taktische Fehler“ zu. Seine Beschreibung gerät zum Lehrstück, weil sie die Widersprüche eines Autorenlebens in der DDR grell hervortreten läßt. Mal wurde Müller aus dem Autorenverband ausgeschlossen, dann wieder gehätschelt, oft wurden Aufführungen seiner Stücke unterbunden, dann sah er sich wieder geehrt.

Was hat Literatur mit Moral zu tun?

Wer sich durch solch ein Leben zwischen Zuckerbrot und Peitsche anders als mit moralischen Zugeständnissen lavieren kann, der werfe den ersten Stein. Müller nimmt für sich in Anspruch, daß Literatur überhaupt nichts mit Moral zu tun habe. Immer wieder zeigt er sich fasziniert vom „Bösen“ (RAF-Terrorismus, Massenmörder Charles Manson), an dem man als Autor nur wachsen könne. Auch Brecht sei erst ein ganz Großer geworden, als Hitler zur Macht kam. So hätten auch ihn, Müller, noch die schlimmsten Vorgänge in erster Linie als Stoff interessiert, aber fast nie im Kern seines Wesens berührt.

Manches ist ärgerlich: Müller gesteht, schon 1944 über die sowjetischen Gulags Bescheid gewußt zu haben. Warum hat er daraus so spät Konsequenzen gezogen und anfangs noch Stalin-Hymnen verfaßt? Höchst anfechtbar auch Müllers Meinung, die Stasi, die eben die Stimmung der Bevölkerung am besten gekannt habe, habe letztlich die DDR aufgelöst oder dies zugelassen. Außerdem stellt er Honecker & Co. eher als Gefangene des Systems denn als deren Betreiber dar.

Inzwischen hat Müller Abschied genommen von jeglicher Utopie. Überrascht erfährt der Leser, welchen „Kollegen“ Müller offenbar am meisten schätzt: Ernst Jünger, den viele für einen Verherrlicher des Krieges halten. Doch gerade dieses Thema, so Müller, habe Deutschlands Linke total versäumt: den Krieg in seiner nackten Wahrheit darzustellen. Da spricht ein „Preuße“.

Heiner Müller: „Krieg ohne Schlacht — Leben in zwei Diktaturen“. Kiepenheuer & Witsch. 426 S., 49,80 DM.




Ein Kraftkerl wühlt im Urschlamm des Kleinbürgertums – Texte von Werner Schwab und Michael Zochow bei „stücke ’92“ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Von Zeit zu Zeit liebt man im deutschen Theater die Kraftkerle. Selbst Goethe war am Anfang so einer; zuletzt bescherte uns Rainald Goetz seine Wort-Metzeleien. Und nun haben wir fürs Grobe den Werner Schwab aus Graz.

Gleichviel, ob man ihn nun als „Nestroy der Punk-Generation“ oder als außer Rand und Band geratenen Thomas Bernhard einordnen will – sein Drama „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ (Version der Münchner Kammerspiele) hat jedenfalls den Dramatikerwettbewerb „stücke ’92“ aufgemischt.

Worte gefressen und wieder ausgeschieden

Schwab schöpft aus dem alten Topf der Bühnen-Provokation: Sauferei, Hurerei, Gotteslästerung, Inzest, Meuchelmord. Seine Sprache aber läßt aufhorchen, nicht nur wegen der immens vielen Kraftworte. Schwab hat einen wirklich eigenen, unverwechselbaren Ton gefunden, eine aus dem österreichischen Dialekt hervorgetriebene Kunstsprache. Sie wirkt sinnenstark und streckenweise durchaus poesiefähig. Es ist, als seien Schwabs Worte direkt durch den Körper hindurchgegangen; gefressen und wieder ausgeschieden, mit Verlaub gesagt.

Doch sein Text über eine abgefeimte Haus-„Gemeinschaft“, der im Urschlamm des Kleinbürgertums wühlt und jeglichen Menschen als des Menschen Wolf vorführt, bewegt sich auch schon an der Grenzlinie zur Originalitäts-Sucht. Wehe, wenn dieser Mann zum „Kultautor“ hochgejubelt wird. Dann liefert er uns solche Dinge am Fließband.

Wenn die Sternlein aufgehen, kommt der Frieden

Zuvor war ein Stück des jüngst gestorbenen Michael Zochow gespielt worden. Wahrheit muß Wahrheit bleiben, und die lautet im Falle von Michael Zochow: Er ist kein großer Dramenautor gewesen. Auch seine „Drei Sterne über dem Baldachin“ leuchten nicht übermäßig.

Bei Zochow kommen Sinn und Zeit ins Wanken: Palästinensische Terroristen, das alte jüdisches Ehepaar Grünfeld, eine dummdeutsche „Gretchen“-Figur sowie eine Klofrau und Ex-Wagnersängerin — sie alle begegnen sich just bei den Bayreuther Festspielen (Obacht, Faschismus-Anspielung!). Das Dienstmädchen Bertha hat den Grünfelds zur NS-Zeit das Leben gerettet, ihrem jüdischen Bräutigam Fritz aber nicht. 50 Jahre hat sie Fritz treulich betrauert; jetzt glaubt sie ihn ausgerechnet in einem Bombenleger aus Palästina wiederzuerkennen, was am Ende in eine alle Widerspräche glattbügelnde Heirat mündet.

Über dem ganzen Stück, das aus Sternenfeme an Lessings „Ring-Parabel“ von der Versöhnung dreier Weltreligionen gemahnt, wabert ein naiver Kinderglaube: Wenn die Sternlein aufgehen, wird alles gut und die Menschen vertragen sich. Unterwegs bekommt man noch die Erkenntnis geliefert, daß es besser sei, einander die Hände zu reichen als darin Waffen zu halten. Wer würde das bezweifeln?

Gravitätisch vorgetragene Naivität ist noch keine Poesie, Holperschwellen sind noch keine produktiven Brüche. Zudem wurde (vom Wiener Schauspielhaus) ziemlich grauslich gespielt. Stück und Aufführung – hier konnte keines das andere retten, sie gingen miteinander unter.

Heute Abend folgt das siebte und letzte Stück im Wettbewerb, Gert Jonkes „Ohrenmaschinist“. Ansonsten kann man (jeweils mit Abstrichen) Werner Schwab und Klaus Pohl („Karate-Billi“) für den Preis ins Kalkül ziehen – und erneut George Tabori („Goldberg-Variationen“), der im Falle des Falles schon zum dritten Mal geehrt würde.

 




Verführung im Gewächshaus – Die ersten Abende bei „stücke ’92“

Von Bernd Berke

Mülheim. Wechselbad zum Auftakt des Mülheimer Dramatikerwettbewerbs „stücke ’92“. Zwei von sieben konkurrierenden Texten sind über die Bühne gegangen. Zuerst gab es mit Klaus Pohls „Karate-Billi kehrt zurück“ ein Zeitstück, dann mit Philipp Engelmanns „Oktoberföhn“ ein erstaunlich zeitenthobenes.

Daß „Oktoberföhn“, in Mülheim vom Landestheater Tübingen dargeboten, die Vorauswahl überstanden hat, muß einigermaßen verwundern. Das mehr esoterische als erotische Stück dreht sich – wie in einer Endlos-Spirale — um ein „spätes Mädchen“, das im Gewächshaus einen verklemmten jugendlichen Bucherwurm (Woody AIlen-Typ) verführen will. Zwischendurch taucht noch ein Blumen streuender Troll auf und fordert die beiden zur hemmungslosen Liebe auf. Heißa! Jedoch: Das ungleiche Paar bekommt immer wieder Föhn-Kopfschmerzen, und zwar so oft, daß auch im Zuschauerraum deutliches Stöhnen vernehmbar wird.

Engelmanns Stück ist nicht von heute, dringt aber auch in keine andere (Traum-)Zeit vor. Die Sprache bleibt seltsam flach, sie weist an keiner Stelle über den bloßen Wortlaut hinaus. Das ist halt beim Theater schon der halbe Miet-Rückstand. Nun gut. Nehmen wir’s leicht und betrachten wir die Sache als Pausenfüller der Stücketage.

Ganz anders Pohls „Karate-Billi“, derzeit von zahlreichen Bühnen nachgespielt. Das ist | ein tagesaktuelles, griffiges, derb zupackendes Werk. Britische Theaterschule, sozusagen. Klar, daß solch ein Express-Theater auch seine Schwächen hat. Die Geschichte des ehemaligen DDR-Zehnkämpfers „Billi“, nach harmlosen Eskapaden von der Stasi dreizehn Jahre lang in der Psychiatrie gequält, zerfällt leider in fast unvereinbare Bestandteile. Zudem läßt die allseitige Entlarvung von Stasi-Mittätern doch ein wenig den „Besserwessi“ durchschimmern.

Aber Pohl kann einprägsame Figuren und Situationen erfinden. Sein Titelheld, in Jürgen Bosses ansonsten braver Inszenierung vom herausragenden Mathias Kniesbeck zum Steinerweichen gespielt, lebt auch von der Fallhöhe: Selbst einen solchen Pfundskerl hat der SED-Staat also kleingekriegt. Insgesamt: gutes Gebrauchstheater, freilich nur „haltbar bis 1993″.

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(aus Notausgabe zur Zeit des Druckerstreiks)




Wer hat Angst vor dem wilden Murphy? Gründlich mißlungenes Psychodrämchen einer Recklinghäuser Autorin

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Murphy aus New York kotzt ständig Kraftworte aus. Doch nicht nur das. Er verkörpert auch sonst des Wohlstandsbürgers gesammelte Alpträume: Da nimmt der US-Provinzler Frank Henderson den unflätigen Kerl, dessen Mutter gerade gestorben ist, in seinem trauten Heim auf – und dann macht der 19-Jährige sich dort unverschämt breit, verführt die Frau des Hauses und drangsaliert die Tochter, deren Freund er zuvor mit dem Messer bedroht hat.

Nach vielem Palaver bestätigt sich endlich, was man schon früh ahnte: Der Junge hat Grund zur Rache, und dieser Grund hat mit Inzest zu tun: Murphy ist ein „Bastard“, gezeugt von Henderson und dessen Schwester. Versteht sich, daß die Sache auch noch eine vulgärsoziologische Seite hat.

„Murphy“ ist leider die Hauptfigur des gleichnamigen Stücks von Nicole Frasa (22). Die Ruhrfestspiele haben der gebürtigen Recklinghäuserin und bisherigen Büroangestellten wahrlich keinen Gefallen getan, als sie ihr Drämchen sogleich auf die Bühne des „Depots“ hievten (Regie: Peter Kühn).

Unverdauter und unverdaulicher Zitatenbrei

Wo war da die künstlerische Kontrollinstanz? Hat Festivalchef Hansgünther Heyme etwa die Proben nie besucht? Und warum nur hat diese Autorin keinen Text aus ihrem Alltag geschrieben, warum mußte es unbedingt Amerika sein, warum ein so abgegriffenes Thema aus der Mottenkiste des Theaters? Ihr Stück ist weder von Phantasie noch von Erfahrung gesättigt. Es ist unverdauter und unverdaulicher Zutatenbrei, durchweg angelesen und abgeguckt, daher schmerzlich unwahr.

Man vernimmt hier ein unablässiges und völlig geheimnisloses Geschwätz, das irgendwo im luftleeren Raum trudelt: So ungefähr zwischen einem auf Trivial-Format gebrachten „Ödipus“, plattem Naturalismus, Tennessee Williams und „Dallas“. Alles wird lang und breit ausgesprochen, alle Klischees aus der psychosozialen „Betroffenheits“-Kiste kommen vor. An diesen erkünstelten Figuren und ihren Sprechblasen kann wenig Interesse aufkommen.

Hanebüchene Handlung, unfreiwillig komisch

Arme Regie, arme Schauspieler. Was sollten sie tun? Diesem Text war eben nicht viel Bühnenleben abzugewinnen. Als habe der Regisseur schnell die Lust verloren, investiert er auch kaum Einfälle: Wenn etwa Henderson (Michael Krone) verzweifelt ist, hat er geistesabwesend die Lamellen einer Jalousie zu zerknittern, seine Frau (Anna Kurek) klimpert derweil traurig am Klavier oder trommelt auf dem Rücken des Gatten herum.

So müht man sich, mehr schlecht als recht, mit ungestalteter Sprache und hanebüchener Handlung ab, die – den ernsten Schicksalen ganz zum Trotz – immer mehr ins unfreiwillig Komische abgleitet. Von den Darstellern hatte es Jochen Stark in der Titelrolle noch am leichtesten. Er mußte nur recht rüpelhaft sein. Aber auch das war nicht abendfüllend.




Ein Riesenbaby lernt die Schürzenjägerei – „Spiel’s nochmal, Sam“ nach Woody Allen bei den Ruhrfstspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Mit solch einer Stückwahl kann man sich in die Bredouille bringen: „Spiel’s nochmal, Sam“ von Woody Allen steht jetzt auf dem Plan im Recklinghäuser „Depot“ (Regie: Inge Andersen). Tatsächlich war’s zuerst ein Theaterstück, bevor es 1971 zum Allen-Film wurde, der bei uns „Mach’s noch einmal, Sam“ hieß.

Nun also eine Reprise bei den Ruhrfestspielen. Da sagt doch der Woody Allen-Fan: „Das Original wäre mir lieber.“ Der Nicht-Fan fragt: „Warum denn überhaupt Allen?“ Und der Rest geht vielleicht mit gemischten Gefühlen hin: „Mal schauen, was das Theater schuldig bleibt.“

Sie kriegen es in Recklinghausen natürlich nicht so hin wie Allen selbst. Aber sie kriegen es halt anders hin, und zwar gar nicht mal so übel. Zum Glück verzichtet man auf jederlei „Deutung“; zum teutonischen Tiefschürfen taugt das Stück ja nicht.

Die Hauptperson, jener frisch geschiedene und den Frauen nachjammernde Allan Felix (Laszlo Kish), ist hier kein intellektueller Hänfling à la Woody, sondern ein fülliges Riesenbaby. Auch weht hier keine New Yorker Luft. Vor allem aber: Was bei Allen innig mit dessen Leben zu tun hatte, muß hier erst hart erspielt werden. Die Anstrengung ist dem Resultat hier und da noch anzumerken.

Sein Vorbild ist Humphrey Bogart

Sterbensallein hockt der verlassene Ehemann Felix, auch in Sachen Zeitgeist ein „Übriggebliebener“, in seinem 70er Jahre-Mobiliar (Bühnenbild: Nikolaus Porz). Er nuckelt tiefgekühlten Spinat aus der Packung und schaut sich auf drei TV-Bildschirmen sein Idol an: Humphrey Bogart, der „die Weiber“ nach Belieben bekommt, weil er immer hübsch cool bleibt. So_möchte Felix auch sein. Doch seine Schürzenjagd gerät zum Dauer-Fiasko – bis die Gattin seines besten Freundes ihn erhört und Felix (wie einst „Casablanca“-Bogart auf Ingrid Bergman) großmütig auf Fortsetzung der Affäre verzichten kann, weil nun der ganze Bann gebrochen ist.

Hinter vorgehaltener Hand darf man es sagen: Das Stück ist erzkomisch, stellenweise aber auch leicht spätpubertär. Im Kino lassen sich gewisse Unebenheiten per Blende leichter überspielen; hier im Theater aber bekommt mancher Auftritt doch etwas Verhampeltes, Rumpelndes.

Die Regie neigt nicht zum Subtilen. Mit Showtreppe und viel Musik will man für Pep sorgen. Das verdeckt mitunter die Ausdrucks-Qualitäten der Schauspieler. Doch man kann wetten, daß sich die Sache mit jeder Aufführung besser einspielen wird.




Unterhaltung hat Vorrang im Dortmunder Spielplan – Neuer Schauspielchef Jens Pesel wagt vorerst keine Experimente

Von Bernd Berke

Dortmund. Jens Pesel, neuer Schauspielchef des Dortmunder Theaters, steckt beim Spielplan für seine erste Saison zurück: „Im Grunde könnte ich mir wagemutigere Stücke vorstellen.“ Doch das Publikum in Dortmund sei anders, nämlich wohl nicht so experimentierfreudig wie jenes an seiner vormaligen Wirkungsstätte Darmstadt. Außerdem, so Pesel gestern zur WR, ändere sich das Ensemble zur Saison 1992/93 mit elf neuen Kräften derart grundlegend, daß man erst einmal typische „Ensemblestücke“ spielen müsse, um die neue Schauspieltruppe gleichsam „zusammenzuschmieden“.

Pesel („Ich fühle mich auch für Entertainment zuständig“) legte gestern also einen recht konventionellen Spielplan vor: Den Saisonstart besorgt er selbst mit Brechts „Leben des Galilei“. Es folgt die „Lysistrate“ des Aristophanes. Hier führt Amelie Niermeyer Regie, die – vom Münchner Residenztheater kommend — in Dortmund möglichst an die Tradition einer Annegret Ritzel anknüpfen soll. Pesel wiederum läßt einen unterhaltenden Beitrag folgen: Philip Kings Farce „Lauf doch nicht immer weg“. Dimiter Gotscheff, soeben in Berlin mit dem Kritikerpreis ausgezeichnet, bringt George Taboris „Goldberg-Variationen“ auf die Bühne. Weitere Pläne: Heiner Kipphardts „März“ und vermutlich Arthur Millers „Ein Blick von der Brücke“, wobei es statt Letzterem auch Goethes „Clavigo“ werden könnte – eine Spagat-Alternative, die von Besetzungsfragen abhängt.

„Wir machen das besser als Essen“

Pesel wollte eigentlich auch verraten, was im Schauspiel-Studio ansteht, doch da schnitt ihm Generalintendant Horst Fechner ganz sanft das Wort ab: Diese Dinge wolle man doch lieber später enthüllen. Beide versicherten, sie hätten sich ohne Probleme auf den Spielplan geeinigt. Fechner: „Herr Pesel spricht die gleiche Sprache wie ich.“ Die Zeichen stehen auf Versöhnlichkeit. Fechner unterstrich, daß man den Dortmundern im Theater vorrangig Entspannung bieten wolle: „Wir können das so gut wie das Fernsehen.“ Ein Erfolgsdenken sei gefragt, das an der Kasse überprüft werden könne.

Deutlichster Ausdruck des Erfolgswillens ist wohl ein Großprojekt des Musiktheaters, „La Cage aux folles“ (Ein Käfig voller Narren), das gleich zu Beginn der Spielzeit 92/93 einen Hauch von „Cats“ und „Starlight Express“ nach Dortmund bringen soll. Mindestens 35 Vorstellungen sind vorgesehen. Fechner rechnet schon jetzt mit einem derartigen Besucherandrang, daß eine Übernahme in die Saison 93/94 so gut wie beschlossen ist. Fechner will die Revierkonkurrenz abhängen: „Wir machen es besser als seinerzeit die Essener“. Und Dortmund setzt noch eins drauf: Als zweites Musical-Element steht die (etwas bescheidenere) Show „Girls, Girls, Girls“ auf dem Programm. Wenn das die Besucherringe nicht zufriedenstellt…

Butterfly und Barbier

Natürlich hat man auch „große Opern“ auf der Rechnung: Wagners „Ring“ wird mit der „Götterdämmerung“ komplett (und im Frühjahr 1995 auch zweimal als Zyklus hintereinander gegeben). Mozarts „Cosi fan tutte“, Puccinis „Madame Butterfly“ und Rossinis „Barbier von Sevilla“ runden das Repertoire ab. Immerhin verabschiedet man sich nicht gänzlich vom Zeitgenössischen. Mit Walter Steffens‘ Oper „Die Judenbuche“ (nach Annette von Droste-Hülshoff) steht gar eine Uraufführung ins Haus. Die Tanzsparte schließlich bietet ein „Faust“-Ballett mit Rock- und Pop-Anklängen sowie ein klassisches Handlungsballett zum „Don Quixote“-Stoff.




Schöpfungsgeschichte der ewigen Eifersucht: Roma-Theater Pralipe spielt Shakespeares „Othello“

Von Bernd Berke

Mülheim. Über die ganze Bühne verstreut liegt Herbstlaub. Vergänglichkeit der Natur. Doch auf den Blättern kauert – wie zu Zeiten biblischer Schöpfung – ein nackter „Adam“. Später zieht er sich an und schminkt sein Gesicht weiß. Als Zivilisationsmensch mit der „richtigen“ Hautfarbe taugt er fortan zu schmutzigen Intrigen: Sein Name sei Jago. Unter dem Laub liegen anfangs die Opfer Othello und Desdemona. Sie wühlen sich daraus hervor, tollen wie die jungen Hunde miteinander. Doch ihr Glück ist von kurzer Dauer.

Das Roma-Theater „Pralipe“, das eine feste Heimstatt m Mülheim gefunden hat, spielt Shakespeares „Othello“ (Regie: Rahim Burhan) – in Roma-Sprache. Als Zuschauer sollte man also vorher das Stück (wieder) gelesen haben.

Besagter Jago (Sami Osman) also richtet sich hier den ungeschminkten Othello (Nedjo Osman) gleichsam als Spielfigur zu, die er nach Belieben lenken und in Eifersuchts-Wahn treiben kann. Und wenn „Othello“ in seinem Furor einmal nachzulassen droht, haucht Jago ihm sozusagen neuen Odem ein.

Überhaupt verquickt man das Drama mit der Schöpfungsgeschichte. Das verleiht der Sache etwas Naturwüchsiges, Unausweichliches. Verführer Jago reicht seinen Mitspielern knallrote Sünden-Äpfel. Wenn er das gleichfalls rote Tuch in die Hand bekommt, mit dem er den Schein-Beweis über Desdemonas angebliche Untreue führen kann, läßt er es schlangengleich wedeln. In ihm steckt offenbar ein teuflisches, seit Anbeginn der Welt herrschendes Prinzip.

Manches Bild wird durch Auf- und Abblenden nur kurz angerissen, wie eine flüchtige Erscheinung. Szenen, die auf Gesellschaft hindeuten, werden weitgehend ausgespart. Als Mitwelt der drei Hauptpersonen tauchen immerhin schon mal Figuren mit Hüten auf, die den Kriminalfilmen der „Schwarzen Serie“ entstiegen sein könnten. Ohne Kino-Vorbilder ist denn auch manches nicht denkbar, besonders der höchst gekonnte Umgang mit Licht und Schatten gemahnt an Filmästhetik.

Ansonsten konzentriert sich „Pralipe“ ganz auf die Zweipersonen-Auftritte. Diese Konflikte spielt man mit einem Nachdruck und einer Emphase, die uns fremd geworden ist. Vielfältig die Bewegungsformen: Mal wird das Fassen und Lassen zwischen Othello und Desdemona ballettös und in quälender „Zeitlupe“ dargestellt, mal grundieren kultische Handlungen und Ding-Magie das Geschehen. Zeichen aus einem anderen Kulturzusammenhang. Soll man sie nach unseren Maßstäben beurteilen?

Das Gesten-Repertoire ist hingegen ziemlich fest umrissen, ja standardisiert. Sehr schwer zu sagen, ob es sich da um Begrenztheit der Mittel oder um bewußte Stilisierung handelt. Doppelgesichtig auch das Bühnengeschehen insgesamt. Da gibt es ergreifende, oft weit in die Bühnentiefe gestaffelte Bilder. Doch solche Momente sind stets absturzgefährdet. Links lauert bodenloser Tiefsinn, rechts flacher Kitsch. Es ist eine Gratwanderung.

Zudem findet kaum Entwicklung statt. Statt einer Tragödie, die sich ja irgendwie entfalten müßte, sehen wir eher eine Art Wehklage von Anfang an. Schon sehr bald bebt Othello mächtig vor Zorn – früh verschenkte Kraft. Es folgt ein ständiges Auf und Ab zwischen Erregung und Beruhigung, das wellenförmig durch die ganze Aufführung hindurchgeht.

Freundlicher Beifall des (theaternahen) Publikums.