Der Kultur-Hochstapler und sein „Feenpalast“ – Wedekind-Uraufführung „Ein gefallener Teufel“ in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Das hat man nicht alle Tage: die Uraufführung eines Stückes von Frank Wedekind. Für diesen Klassiker der Moderne haben einige Feuilletons jüngst eine „Renaissance“ ausgerufen. Jedenfalls erscheinen nun endlich Werkausgaben, und zwar gleich mehrere.

Im verstreuten Wedekind-Nachlaß fand man denn auch den halbwegs ausgefeilten Stückentwurf „Ein gefallener Teufel“, den direkten Vorläufer des „Marquis von Keith“, jener 1901 uraufgeführten Hochstapler-Komödie. Also ist’s bestenfalls eine halbe Uraufführung, denn den Stoff kennt man schon, wobei das Thema im „Teufel“ noch etwas klarer und simpler wirkt, noch nicht so überwuchert, aber auch noch nicht so umfassend.

Eine interessante Fallstudie für Germanisten und Dramaturgen – aber fürs Theater? „Der Marquis von Keith“ bleibt das stärkere Stück. Wedekind hat schließlich den Entwurf nicht grundlos umgearbeitet.

Die Geschichte bleibt so ziemlich gleich. Es geht hier wie dort um jenen windigen Herrn Marquis von Keith. Wenn zu Hause kein Geld für Brot da ist, dann will er halt im Spitzenhotel speisen. So einer ist das. Mit einem Luxus-Kulturprojekt namens „Feenpalast“ (sollte es da etwa Ähnliches in unserer Region und Gegenwart geben?) erleidet er Schiffbruch, wahrend sich die große Geschäftswelt souverän der Idee bemächtigt.

Zudem geht’s um Konflikte zwischen Moral und schrankenlosem Lebensgenuß. Das ist in die Farce getriebener Ibsen mit einigen Prisen Nietzsche und zynischen Aphorismen. Zum packenden Ereignis wird diese Mixtur in Münster nicht. Es ist eine redliche, bemühte Theater-Arbeit mit Betonung auf Arbeit.

Gespielt wird Dietrich W. Hübschs Inszenierung – zweieinviertel Stunden lang ohne Pause – auf einer kreisrunden, von Neonröhren eingefaßten Scheibe, die schräg zum Zuschauerraum geneigt ist, passend zum Schlußsatz: „Das Leben ist eine Rutschbahn“. Grelle Auf- und Abblendungen des Lichts stellen fast alle Szenen niveaugleich nebeneinander. Widersprüche werden so eingeebnet, wirkliche Zerrissenheit sieht man kaum.

Für Teile des Ensembles gilt das Sportlermotto: Was an Spieltechnik fehlt, will man durch Kampfgeist wettmachen. Wenn hier jemand Schmerz verspürt, tobt er gelegentlich über Tische und Stühle oder wirft sich theatralisch hin. Überhaupt geht man häufig zu Boden. Viele Szenen sind eine ständige Abfolge von Treten und Getretenwerden; Man könnte Herrschaftsverhältnisse auch subtiler und damit desto schärfer zeigen:

Komik wird auch aus dem Text entwickelt, mehr aber noch den Figuren aufgesetzt, Schrille Kleidung, groteske Körperhaltungen und sprachliche Absonderlichkeiten tun Wirkung, bleiben aber etwas an der Oberfläche. Münsters Kaufmannsgilde wird es schließlich gern sehen, daß der steinreiche Konsul Casimir Kramer-Gassmann (Friedhardt Kazubko) als seelenruhiger Vernunftmensch auftritt und kaum Spott abbekommt. Man ist hier am Ende ganz konservativ froh, daß er sich den „Feenpalast“ unter den Nagel reißt und nicht der unseriöse Keith (Michael Holm). Die stärksten Eindrücke hinterlassen eine schön chaotische Festivitäts-Szene im Mittelteil und der Schauspieler Michael Marwitz als „Ernst Scholz“, der eine herrlich stocksteife Absurdität ins Spiel bringt. .

Der Beifall war freundlich, aber rasch verrauscht.




„Die Wupper“: Düsternis am blutigen Fluß – Frank-Patrick Steckel inszeniert Else Lasker-Schülers Stück in Bochum

Von Bernd Berke

Bochums Schauspielchef Frank-Patrick Steckel streift als Regisseur lieber durchs Gebirge als durch die Ebenen. Meist setzt er Stücke in Szene, die erst mühsam erklommen werden müssen. Da gönnt er sich (und dem Publikum) keinen Ablaß.

Diesmal ist es Else LaskerSchülers 1909 verfaßtes Drama „Die Wupper“, das schon wegen seines raunenden Dialektes etliche Schwierigkeiten birgt. Vor allem aber folgt das Stück nur bedingt der „Logik“ des Theaters, es mischt und legiert seine Themen eher auf lyrische Weise. Das abwechselnd zwischen Fabrikanten- und Arbeitermilieu des Jahrhundertbeginns spielende Drama wurzelt in bodenständigem, ja derbem Naturalismus, hebt aber in Traumgesichte ab. Auch sonst führt es in Zwischen-Welten: Zwischen den Glaubensrichtungen und gesellschaftlichen Schichten verlieren sich die Figuren in unerfüllten Sehnsüchten, seltsam in sich versponnen.

Durch das anfangs äußerst sparsam beleuchtete Bochumer Bühnenbild (Johannes Schütz) windet sich die Wupper als glut- und blutroter Lavastrom. Man sieht im Dunkeln windschiefe Hausfassaden, dahinter eine Überlandleitung von irgendwo nach nirgendwo. Die Menschen, die sich in dieser Szenerie stockend und stammelnd bewegen, wirken verwischt und verhuscht, wie nicht von dieser Welt. Ihr Auftreten ist kein wirkliches Da-Sein, sondern flüchtige Erscheinung, ihre glücklosen Begegnungen gleichen gefährlichen Stromschlägen.

Klassengegensätze ja, Utopien nein

Steckel verschärft gegenüber dem Text, der es meistenteils auf Stimmungswerte anlegt, das bei Lasker-Schüler nur ganz unterschwellige Thema der Klassengegensätze. Da wischt sich das Fabrikantenfräulein angewidert die Hand am Kleid ab, nachdem sie sie einem Arbeitersohn gereicht hat. Auffällig sodann eine Szene, in der vom Streik der Färber die Rede ist. Dem so dahingesagten Vorschlag an die Proletarier. die Herrschaft in der Fabrik an sich zu reißen „wie in Rußland“, folgt langes, dröhnendes Gelächter. Derlei sozialistische Anwandlungen, so könnte man schließen, scheiden derzeit aus. Wir rechnen zusammen: Die Klassen sind noch da, die Utopien aber nicht – ein Grund für die Bochumer Düsternis?

Zutat Steckels auch, daß er familiäre Beziehungen des Stücks in ein inzestuöses Zwielicht setzt. Im mittleren Akt, einer Jahrmarkt-Szene, wird aus dem allseits explosiven Gemisch eine Kirmes der todtraurigen Art, ein grellbunter Reigen der Hinfälligkeit. Diese und einige andere Szenen haben eine Intensität, die freilich nicht durchweg erreicht wird. Auch ist das insgesamt sehenswerte Ensemble nicht völlig homogen besetzt. Herausragend jedenfalls: Ulrike Schloemer, die Tage zuvor beim Lasker-Schüler-Abend die Rolle der Dichterin spielte und die nun die „Mutter Pius“ so vieldeutig anlegt, wie es ihr zukommt.

Nun denn: Einige „Gipfel“ des Stückes wurden erstiegen. Doch man stand ein wenig ratlos droben.




So leicht ist „Warten auf Godot“ – jedenfalls in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Im Museum steht ein mit Kinogestühl möblierter Kasten. Darin sitzen zwei schwatzende, brabbelnde Herren. Die Zuschauer nehmen das anfangs durch eine Scheibe wahr, die einer der beiden Männer eifrig glasklar wienert: Keine Unklarheiten also!

Die Herren heißen Wladimir und Estragon, bilden mithin jenes Duo, das in Samuel Becketts Stück so sinn- und endlos auf „Godot“ wartet – eine Tätigkeit, die längst zu einer Vielzahl von (Theater)-Witzen geronnen ist. Zudem hat „Warten auf Godot“ in seiner leerlaufenden Logik gewisse Parallelen zu Komikern vom Schlage eines Karl Valentin. Warum also Beckett nicht als Hochkomiker spielen, statt als Tiefgründler?

So geschieht es in Wuppertal, wo Hans-Christian Seeger das Stück im Forum des Von der-Heydt-Museums inszeniert hat – mitten in der gerade eröffneten Ausstellung „Denk-Bilder“. Szenische Denk-Bilder gibt es auch bei Beckett, doch Seeger hat sie leicht genommen, so leicht wie den berühmten dürren Baum im sonst üblichen Bühnenbild, der hier nur noch ein winziges Bonsai-Exemplar ist. Sieht man etwa auch nur einen Bonsai-Beckett?

Wo nur irgend Komik sich im Text verbergen könnte, wird sie in Wuppertal sogleich ergriffen und rasch ausgespielt. Lachnummern entstehen hier nicht, wie es bei diesem Stück durchaus denkbar ist, aus tiefster Verzweiflung an der Existenz, sondern sind sofort da, Instant-Komik sozusagen. Von Warten kann in dieser Hinsieht keine Rede sein, auch kaum von Tiefsinn.

Doch dann gibt es eine Szene (besser: deren Verweigerung), die nur auf den ersten Blick läppisch wirkt. Nach der Hälfte des Stückes ziehen sich Wladimir und Estragon stumm zurück und lassen die Zuschauer… warten. Und warten. Und warten. Viele Minuten lang. So erfährt jeder einige Momente unerfüllten Wartens — es wirkt womöglich tiefer als bloßes Nachdenken.

Und wie füllen wir heute die Wartezeit, also die Existenz – vielleicht, indem wir uns als Dauer-Konsumenten „zu Tode amüsieren“? Genau darauf könnte die Beendigung der quälenden Wartepause abheben: Regisseur Hans-Christian Seeger, der auch den Wladimir spielt, wird auf einmal zum Muntermacher, verteilt Zeitungen und Getränke an die Zuschauer (beides ist im Eintrittspreis mit drin). So leicht, beinahe wie Äffchen, lassen wir uns also beruhigen?

Der zweite Teil, in dem ja ganz Ähnliches geschieht wie im ersten, wird dann ganz bewußt nur noch wie ein Zitat heruntergespielt. Eigentlich könnte man das ganze Stück zehnmal hintereinander abschnurren lassen, es würde sich nichts ändern am Zustand der Figuren.

Die Darsteller agieren sehr dicht an den Zuschauern; viele Sätze im Stück werden denn auch nach Komiker-Art umgemünzt zur direkten Ansprache ans Publikum. Hans-Christian Seeger und Günther Delarue (Estragon) sind herrlich genau aufeinander eingespiel, man merkt das an vielen Kleinigkeiten, besonders in Slapstick-Szenen. Furios auch Adalbert Stamborskis Auftritt als auf Befehl Pozzos (Gerd Mayen) drauflos „denkende“ Knechtsgestalt Lucky, mit professoral vorgetragenem Schwachsinn.




Niedergetanzter Todesschmerz – Ariane Mnouchkines Antiken-Projekt endete (vorläufig) mit „Les Choéphores“

Von Bernd Berke

Essen. Nach drei Abenden bei Ariane Mnouchkines Antiken-Projekt geht es einem fast wie jenem von Lichtenberg verspotteten Bücherwurm: „Er schrieb immer Agamemnon statt angenommen, so sehr hatte er seinen Homer gelesen.“ So sehr also hat man fasziniert zugesehen beim Antiken-Projekt.

Den Abschluß bildeten am Mittwoch „Les Choéphores“ (etwa: die Opfernden) von Aischylos. Kurzinhalt: Orest und Elektra üben Rache an ihrer Mutter Klytämnestra, die zuvor Agamemnon getötet hat. Hier war er wieder zu sehen, der Furor dieser außerordentlichen Inszenierung; mit dem wirbelnden Chor, der allen Todesbotschaften trotzt: zertanzte Worte, niedergetanzter Schmerz. Am Ende noch eine Szene von furchtbarer Kraft: Ein Bett mit den blutigen Leichen von Klytämnestra und ihrem Liebhaber Aigisthos, zuvor auf die Bühne gezerrt, „klebt“ gleichsam wie ein Schuldzeichen am Boden. Mit aller Anstrengung kann der Chor es dann zentimeterweise wegschieben.

Am zweiten der drei Abende, der Aischylos‘ „Agamemnon“ gewidmet war, konnte man — nach dem zuvor doch so grandiosen Auftakt mit „Iphigenie“ (die WR berichtete) – ins Zweifeln geraten. Es war irritierend: Vieles, was die „Iphigenie“ so sehr ausgezeichnet hatte, schien hier seine Schattenseiten hervorzukehren. Das begann mit dem Chor, der im „Agamemnon“ nun einmal aus Greisen zu bestehen hat und nur über die Bühne schlich. Auch die frontale Spielweise geriet nun manchmal an ihre Grenzen; sie erwies sich, da dieses Stück über weite Strecken nur monologisch aufgebaut ist, hier als beinahe zwanghaft.

Zudem wurde am zweiten Abend erkennbar, daß sich viele Elemente wiederholen. Teilweise ist es Verdichtung, teilweise nur Verdoppelung. Da keimt auch der Verdacht, daß die Musik nicht etwa leitmotivisch auf die Texte verteilt wird, sondern nach einem Streuprinzip.  Bestimmte Tanzrhythmen, Schritt- und Bewegungsmuster ziehen sich durch alle drei Abende, als habe man ein gleichmäßiges Ornament über den gesamten Text legen wollen.

Vielleicht ist dies ja auch ein aus Ängsten geborenes Theater. Angst vor Stille, daher die unaufhörliche Musik; Angst vor den Blicken der Zuschauer, weshalb man sie durch frontale Spielweise zu bannen sucht. Paradox beim ständigen Blickkontakt mit den Darstellern: Die Stilisierung rückt das Geschehen weit von uns ab, man fühlt sich als Zuschauer beinahe verlassen.

Oder bringt man als Europäer nur nicht die notwendige „asiatische Geduld auf? Können wir mit der schlichten Übergroße antiker Gefühle nicht mehr umgehen? Und muß man nicht überhaupt diese drei Teile im innigen Zusammenhang sehen, so daß sie sich zueinander verhalten wie Versprechen, Verweigerung und Erfüllung oder wie die drei Sätze einer Sonate? Was heißt drei Sätze: Die Truppe plant ja als Abschluß einen vierten Teil, „Die Eumeniden“. Wahrscheinlich erschließen sich viele Dinge erst dann, von ihrem Ende her.

Das auch für die weiteren Vorstellungen ausverkaufte Gastspiel beim „Theater der Welt“ — mit der „Iphigenie“ als Anfangs- und Höhepunkt — war ein großes, dann auch verstörendes Erlebnis, das im Theateralltag gewiß unterschwellig nachwirken wird. Welche Bühne kann mehr?




Das Theater schöpft aus seinen Urquellen – Ariane Mnouchkines grandiose „Iphigenie“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Man stellt uns eine ganze Welt vor Augen, aber man macht uns nichts vor: Ariane Mnouchkine und ihr „Théâtre du soleil“ haben Euripides‘ „Iphigenie in Aulis“ der Atriden-trilogie des Aischylos vorangestellt und so entschieden stilisiert, daß kein Zweifel bleibt: Dies ist nicht das Leben, dies sind lauter Zeichen; dies ist Theater reinsten Wassers, das aus seinen ältesten Quellen schöpft. Und es ist d a s Bühnenereignis des Jahres im Revier, Welttheater in vollen Sinne beim Festival „Theater der Welt“.

Kein Anflug von Naturalismus. Bevor man das Zuschauerpodium in der Gruga-Messehalle 4 betritt, sieht man unter dem Gerüst die Schminktische der Schauspieler und Garderoben-Inventar. Das Theater zeigt seine Mittel vor. Sodann agieren die Schauspieler frontal zum Publikum hin, mit überdeutlichen Gesten und so geschminkt, daß kleinste Regungen — wie etwa angstvoll geweitete Augen — weithin sichtbar sind. Auch die Sprache (Französisch) ist außerordentlich klar, gelegentlich an der Grenze zur Deklamation.

Das um 415 v. Chr. geschriebene Drama der „Iphigenie“ des Euripides ist in seinen Grundzügen, in seiner ergreifend grandiosen Geradlinigkeit rasch erzählt: Die Griechen wollen gen Troja ziehen, um die geraubte Helena zurückzuholen. Doch die Göttin Artemis verhindert das Auslaufen der Kampfschiffe durch Gegenwind. Das kann sich nur ändern, wenn der Griechenherrscher Agamemnon seine Tochter Iphigenie opfert. Ob er dem kriegslüsternen Heer Genüge tun oder seine Tochter retten soll, ist die Frage, die Agamemnon umtreibt.

Die Szene, aus einfachen Holzbrettern gebaut, mag ein antiker öffentlicher Platz sein, vielleicht auch ein orientalischer Platz, auf dem jederzeit ein wortreicher Geschichtenerzähler auftreten, auf dem überhaupt das Erstaunlichste passieren kann. Vor allem aber gleicht sie einer Stierkampfarena, mit Schlupflöchern in den Banden, hinter denen der zu wundervoll tänzerischer Leichtigkeit gebrachte Chor behende immer dann verschwindet, wenn es ernst wird.

Auf dem Platze selbst geschieht das unaufhaltsam Bedrohliche, wird über Tod, Krieg und Opfer verhandelt. Gegen Schluß tritt – Zutat, die Euripides‘ versöhnliches Finale zunichte macht — gar der blutbespritzte Schlächter an die Rampe, der das Opfer vollzogen hat. Zuvor sahen wir ein in seiner sanften Macht kaum zu übertreffendes Theaterbild, als Iphigenie von unsichtbarer Hand langsam auf einem hohen weißen Wagen hinausgefahren wurde und dazu eine haarfeine Todesmusik erklang. Einen ähnlichen Schauer jagt es einem am Ende über den Rücken, wenn der Beginn des Krieges bei verlöschendem Licht durch bloßes Hundegebell aus den Lautsprechern angezeigt wird.

Ein Großteil der Bühne wird durch eine Batterie von eigens entwickelten Musikinstrumenten eingenommen. Von ferne gesehen wirken sie, passend zum Seekrieg, wie eine Schiffsflotte. Das ganze Spiel ist denn auch mit Musik (Jean-Jacques Lemêtre) unterlegt, einer mal trommelnd treibenden, mal sphärischen „Weltmusik“ mit Anleihen vor allem aus Asien. Überhaupt sammelt die Inszenierung die Zeiten und Kulturen gleichsam ein, als wolle man zu einer allen gemeinsamen Ursprache zurückfinden. Da kommt das Theater ganz zu sich.

Zehnminütiger, fast rasender Beifall — natürlich auch für die Schauspieler. Von ihnen sei ungerechterweise nur die kaum vergleichliche Nirupama Nityanandan als Iphigenie genannt: Eine wahrhaftige „Erscheinung“, die zwischen Todeangst und triumphalem Todesjubel mehr in den Fingerspitzen hat als andernorts Darsteller im ganzen Leibe.

Über die folgenden Mnouchkine-Abende („Agamemnon“, „Les Choéphores“) demnächst mehr.




Die Geschichte läuft fürchterlich ins Leere – Texte von Dorst, Strauß und Seidel bei „stücke ’91“

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Geschichte von Nation und Welt dürfte gar nicht mal sonderlich katastrophal weitergehen. Sie wird halt fürchterlich ins Leere laufen. Solch eine Essenz könnte man zur Not aus den drei bisher aufgeführten Texten beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb „stücke 91″ ziehen.

Den Anfang machte Tankred Dorsts „Karlos“ (Schauspiel Bonn/Regie: Peter Palitzsch). Damit lag die Hürde furs Publikum gleich hoch. Hier haben wir einen labyrinthischen Text, der seine Ein- und Ausgänge mit Fleiß versperrt. Fast nichts außer dem Namen hat dieser Infant von Spanien mit Schillers „Don Carlos“ gemein. Um ihn von rebellischen Aktionen abzuhalten, umstellt ihn der Großinquisitor schlau mit lauter Doppelgängern. In diesem monströsen Spiegelkabinett der Nicht-Identitäten verirrt sich Karlos bis zum Wahnsinn; geschichtlicher Impuls verläuft ins Leere.

Auf der Bühne präsentiert sich das trotz einiger theaterwirksamer Szenen ziemlich hermetisch als fremde Welt des Bösen. Man hat bereits Parallelen gezogen zwischen der allseitigen Täuschung des Karlos und der unwirklichen Computer- bzw. Mediensimulation des Golfkriegs. Das scheint denn doch arg weit hergeholt. Man kann dem Text einiges attestieren: Experimentierlust, Ernsthaftigkeit, meinetwegen auch Tiefe. Aber gehört „Karlos“ wirklich zu den Stücken, die zur Zeit dringlich sind?

Ganz anders Botho Strauß. Sein „Schlußchor“ (Staatstheater Wiesbaden/Regie: Annegret Ritzel) ist formal geradezu genial einfach, ja fast populär komponiert, 1. Bild: Gruppe beim Fototermin. 2. Bild: Garderobenraum bei einer Party. 3. Bild: Szenen in einem Bistro. Alles ist richtig aus dem Leben gegriffen, dazu gibt’s jede Menge Strauß’scher Pointen. Um es unter Verwendung zweier früherer StraußTitel zu sagen: Wir erleben wieder einmal jene bekannten Gesichter und gemischten Gefühle, sehen Paare und Passanten bei ihren Beziehungs-Etüden, ihren Endspielen im Taschenformat. Da hinein platzt gegen Stückschluß – am Tage der Berliner Maueröffnung – ein DDR-Paar. Die ganze „Wende“ ist hier gleichsam nur ein Nebensatz, auch diese Sache läuft ins Leere. Lieber leckt man seine seelischen Wunden, als der Historie Genüge zu tun. Deutschland, deine Neurosen.

Strauß‘ alte Doppelneigung kommt im „Schlußchor“ erneut zum Vorschein: Einerseits scheinbarer Unernst à la Boulevard-Theater, dann entschwebender Sinn und mythologische Klimmzüge. Obwohl die Regie diesen Gegensatz etwas kleinmütig entschärft hat, mag sich das Ganze nicht recht zusammenfügen. Beiseite gesprochen: Immerhin ist die Inszenierung doch so einleuchtend, daß einem mal wieder schwant, was Dortmunds Theater an Annegret Ritzel verloren hat.

Dritter Abend, drittes Stück: „Villa Jugend“, letztes Werk des im Juni 1990 verstorbenen DDR-Dramatikers Georg Seidel (Berliner Ensemble/Regie: Fritz Marquardt). Die Mülheimer Vorauswahl-Gremien schätzen Seidel offenbar über die Maßen. Schon 1987 und 1990 war er im Wettbewerb – mit „Jochen Schanotta“ und „Carmen Kittel“. Auch „Villa Jugend“, dessen Schlußteil man in Seidels Schreibcomputer entdeckt hat, ist wieder eine strenge Übung. Der Autor hat das wortlastige Stück um einige Kern- und Merksätze herum aufgebaut, denen er selbst traumverloren nachhorcht; eigentlich eher ein lyrisches Verfahren.

Auch hier sinnentleerte Historie: Das größtenteils 1989 geschriebene Stück ist ein durchweg melancholischer Abgesang auf die vergehende DDR, die recht penetrant mit der zum Verkauf anstehenden Villa in Bezug gesetzt wird – bis hin zu Anspielungen auf morsche Fundamente. Auf- und Abtritte der Figuren („lebende Tote“ allesamt) erfolgen zudem nach monotonem Reihen-Schema. Dagegen würde selbst beste Regie wenig helfen, die Theater-Scharniere knarren hörbar, das Spiel bleibt starr. Stellenweise ist dies zwar ein Text, der Auskunft geben mag über gewisse ostdeutsche Befindlichkeiten, über unheilbare biographische Brüche. Doch er bleibt letztlich eindimensional, wirkt beklagenswert entkräftet und von bloßer Resignation durchdrungen. Wehe, wenn dieser Autor auf lange Sicht Recht behält!

Halbzeit also in Mülheim. aber ein „Stück des Jahres“ hat sich noch nicht aufgedrängt.




Untergang in austarierten Szenen – Jürgen Gosch inszeniert Tschechows „Möwe“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Sprechtheater in Zeiten, da „die Waffen sprechen“. Ist es nicht ganz und gar unwichtig, daß da z. B. in Bochum Tschechows .„Die Möwe“ gespielt wird? Ja, gewiß doch – rein politisch betrachtet. Doch im Theater geht es im Glücksfall ums Ganze der menschlichen Existenz. So besehen, wird es gerade jetzt – all seiner realen Ohnmacht zum Trotz – vielleicht noch notwendiger.

Doch auch das Theater hat natürlich seine Niederungen. In Bochum inszeniert Jürgen Gosch, und der hat eine Vorgeschichte. Aus der ehemaligen DDR kommend, sodann in der Ära Flimm in Köln tätig, war er 1988 künstlerischer Leiter der hochrenommierten Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Das blieb er nicht lange. Im November 1988 erhielt er absolut gnadenlose Kritiken für seinen „Macbeth“. So befand etwa die „Frankfurter Rundschau“, die Premierenzuschauer seien nur noch erschöpft „aufgestanden und von ihren Plätzen und grußlos einfach hinausgewankt aus dem Theater“. Seither galt Gosch manchen als Unperson.

Derlei Eindrücke bestätigten sich in Bochum nun gar nicht. Gosch hat mit der „Möwe“ eine durchaus diskutable Arbeit abgeliefert, solide in der Figurenführung, professionell gekonnt; auch wenn der letzte, vielleicht entscheidende Funke fehlt, ein das ganze Stück durchdringender und erhellender Geist.

Die Tschechowsche Menschengruppe, die sich da sommers auf einem russischen Landgut langweilt, besteht. aus lauter Vereinzelten, je für sich Gescheiterten. Zu besichtigen sind in dieser tieftraurigen, mit einem Selbstmord endenden Komödie die Trümmer ihrer Lebensentwürfe. Zum Personal gehören zwei Schriftsteller und zwei Schauspielerinnen: Das Leben wird hier nicht gelebt, es wird höchstens gespielt oder ausgedacht.

Da flattern, taumeln und schlurfen sie in Bochum über die Bühne. Schrittfolgen und Sprechpausen zeigen den Grad der Verwirrung und des Scheiterns an, wenn auch manchmal gar zu deutlich. Ein wenig aufdringlich und gleichzeitig offenbar begrenzt in ihren Mitteln ist leider auch die junge Darstellerin der von Tschechow etwas penetrant mit einer Möwe identifizierten Nina (Angela Schanelec), wobei freilich nach dem Anteil der Regie zu fragen wäre. Ansonsten sehen wir in ihrer bildhaften Wirkung verblüffend austarierte Szenen. Gosch arrangiert die Bewegungen der Figuren wie nach dem Prinzip des „goldenen Schnitts“. Das wirkt künstlich, veredelt, etwas blutleer und erloschen, also passend zum Stück. Johannes Schütz‘ nachhaltig beeindruckende, mitunter eine Spur zu „malerische“ Bühnenbilder stützen diese Wirkung. Als sollten sie gegen solche Leere revoltieren, werden den Personen von Zeit zu Zeit gewisse Erregungen und Exaltationen gestattet. Doch das sind nur Strohfeuer.

Es gibt Momente des dreistündigen Abends, an denen man dicht an der Schwelle zu wirklich großem Theater steht, doch es gibt auch Leerlauf. Die Regie hat das Stück sozusagen ungleichmäßig verdichtet, hat sich manchen Stellen wohl inniger zugewandt als anderen. Aus dem insgesamt guten Ensemble ragen Rainer Hauer als Sorin und Jürgen Holtz als Arzt heraus. Für Bochumer Verhältnisse gab es nur spärlichen Beifall.




Schwankender Koloß des Unrechts – „Der zerbrochene Krug“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Draußen Schnee, drinnen auch. Wer am Mittwoch abend zur Premiere von Kleists „Der zerbrochene Krug“ in Essens GrilloBau kam, hatte dieses realtheatralische Doppelerlebnis. Leise rieselte es im Bühnenhintergrund, vor kahler Landschaft mit Weidenbäumen.

Das Spiel hebt an auf einer kreisrunden, schmutzig-weißen Platte, um die sich ein Graben zieht. Das erinnert an eine Raubtierinsel im Zoo. Von oben kommt gleichmäßiges, die Szene analytisch ausleuchtendes Licht aus gleichfalls kreisrunder Öffnung. Hier also wird der Dorfrichter Adam entlarvt.

Das Stück zählt natürlich zu den „All time greats“, es ist unverwüstlich, wenn man den Dorfrichter richtig besetzen kann. Dafür bietet Regisseur Hansgünther Heyme in Essen Peter Kollek auf. Damit ist die Aufführung bereits weitgehend gerettet.

Kollek gibt den Adam als wahres Ungetüm der Ungerechtigkeit, als kantigen Koloß, der ins Wanken gerät. Wie er sich mit Händen und Füßen aus allen peinlichen Lagen herauswinden will, ist famos. Seine grotesken Körperverrenlcungen geben eine sinnliche Vorstellung von Rechtsverdrehung.

Jedoch: Dieser Adam beugt das Recht zwar in eigener Sache, steht aber auch für eine Rechtsauffassung der vor-juristischen Art. Es wird ganz deutlich, wenn er mit den streitenden Parteien der Dorfbewohner kungeln will. Da bereinigt man Mißhelligkeiten sonst wohl mit gesundem Menschenverstand und aus gegenseitiger Kenntnis – notfalls mit Augenzwinkern und Handschlag. Nur im Fall des zerbrochenen Krugs will das nicht gelingen, denn da ist Adam ja selbst verwickelt.

Hingegen ist Gerichtsrat Walter (Jean-Pierre Cornu), der sich als strenger Revisor den Adam vorknöpft, hier kein edler Herold des Rechts, sondern ein Karrierist, der per Intercity und mit Attachékoffer angereist sein könnte. Er steht für den Einheitsstaat, für die Metropole, die sich über die Provinz hermacht – und es ist sehr die Frage, ob seine schriftlichen Gesetze die menschlicheren sind. Walter würde sich von den Dörflern am liebsten wie ein Kardinal die Hand küssen lassen, er zuckt erst im letzten Moment vor einer solchen Geste zurück.

Als Adam seinen Offenbarungseid leisten muß, gerät auch Walter in Versuchung, einfach über den dörflichen Schwank mitzulachen. Doch brüllend bringt er sich dann selbst zur (Staats)-Raison.

Heyme läßt zwei Stunden ohne Pause spielen. Das ist richtig, denn eine Unterbrechung würde das Gespinst von Rede und Widerrede zerreißen. Allerdings nimmt die Regie öfter das Tempo heraus und läßt die Darsteller in spannungslosen Tableaus schweigen. Eigentlich sollte man in einem raschen Zug durchspielen, vielleicht sogar rasend. Zudem sind manche Figuren nur richtig „da“, wenn sie gerade sprechen. Besonders mit dem Gerichtsrat Walter weiß Heyme phasenweise wenig anzufangen, er läßt ihn dann unablässig Notizen machen.

Überdies sind die Kostüme der Frauen etwas zu albern. Sie charakterisieren nicht recht, sondern hängen den Figuren bunte Flicken an. Das macht es den Schauspielerinnen schwer, ihren Rollen Gewicht zu verleihen. Am besten gelingt dies Susanne Tremper als Marthe Rull.




Shakespeares Zauberspiel im schönen Wunderland – Dortmunds Schauspielchef Guido Huonder inszeniert in Frankfurt/Main den „Sommernachtstraum“

Von Bernd Berke

Frankfurt. Wer die neueste Inszenierung des Dortmunder Schauspielchefs Guido Huonder sehen will, muß an den Main pilgern. Huonder bringt – mit Dortmunder Regieteam und Frankfurter Schauspielern – Shakespeares „Sommernachtstraum“ auf die Bühne des Bockenheimer Depots.

Huonder knüpft somit Verbindungen, die auf eine Gast-Option hinauslaufen könnten, falls es mit dem Wechsel von Dortmund nach Leipzig nicht klappt. Noch dazu trifft er beinahe auf ein Vakuum: Die Frankfurter werden ihrer Bühnen nicht mehr recht froh, das Haus hat an Renommee verloren. Schon vorab sieht sich auch der künftige Leiter des Schauspieis, der aus. Bonn kommende Peter Eschberg, herber Kritik ausgesetzt.

„Ein Sommernachtstraum“ also. Bekanntlich nicht irgendein Stück, sondern eine der reichsten Komödien der Weltliteratur und allemal eine große Bewährungsprobe. Zuletzt hatte Hansgünther Heyme den Zauber des Liebens und „Ent-Liebens“ zur Wiedereröffnung des Grillo-Theaters in Essen inszeniert – samt Puffmutter und Transvestiten.

Nichts dergleichen bei Huonder. Er zeigt nicht das Monströse, sondern das Märchenhafte. Das originelle, spieldienliche Bühnenbild (Gerd Herr) gleicht einer überdimensionalen „Laubsägearbeit“. Die Holzverschalung hat vorgestanzte Durchlässe – für einen Baum in wechselnder Traumbeleuchtung, für Überraschungs-Auftritte und Effekte wie Lichtgewitter.

In dieser Arena sieht man Szenenbilder fast wie aus dem Weihnachtsmärchen. Sonne, Mond und Sterne. Bunt, lieb, poetisch auch. Shakespeare im Wunderland. Und „Puck“, der Troll (Michael Schlegelberger), als ferner Verwandter von Disney-Figuren. Hier kann es nicht animalisch und lasziv zugehen. Eigentlich dreht es sich auch weniger um die Wechselspiele erotischer Liebe, als um das unbedingte, ziellose (und daher so wandelbare) Habenwollen und Begehren der Kindheit. Das muß nicht nur niedlich sein, es kann elementare Schrecknisse bergen.

Tatsächlich sind die jungen Paare wie große Kinder kostümiert. Während Oberon/Titania recht blaß bleiben, dürfen die Jungen richtig toben, trampeln, spucken, brüllen, hauen; auch die Mädchen Hermia und Helena, die erst per Heirat als Zuckerpüppchen domestiziert werden.

Huonder läßt uns kaum in tiefere Abgründe des Stücks blicken, nur feine Haarrisse tun sich da auf. Er erfindet jedoch fast durchweg detailgenaue und dann desto leichteren Sinnes in den Irrwitz kreiselnde Szenen. Besonders die Gruppe der Handwerker (herrlich als „Zettel“: Giovanni Früh) mit ihrem Stück im Stück bekommt Sonderapplaus. Da theatert das Theater so theaterhaft vor sich hin, daß man die Schwerkraft vergessen könnte.

Immer wieder geht es auf der Bühne im Kreis herum: zu Fuß, mit Fahrrädern, zu Pferde. Das hat etwas von Karussell und Kirmes. Geradezu karnevalistisch mit ihrem derben Spaß am Reim: die Übersetzung von Frank Günther, die streckenweise zum Klamauk verführt. Die Schauspieler, die trefflich bis vortrefflich agierten, erhielten rauschenden Beifall. Als Huonder die Bühne betrat, legten ein paar entschlossene Buhrufer los, die aber von noch mehr Bravos ausgekontert wurden.




Mit dem KVR ins Revier-Theater

„Klappern gehört zum Handwerk“, heißt es. Wenn der „Kommunalverband Ruhrgebiet“ (KVR) jetzt in doppelseitigen Farbanzeigen – zum Beispiel im „Spiegel“ – das Theaterleben des Reviers anpreisen läßt, vernimmt man allerdings eher Poltern als Klappern.

Neben sanft violett unterlegten Spielplanauszügen des Monats September hat da ein profunder Kulturkenner machtvolle Zeilen gemeißelt. Da ist vom Ruhrgebiet als einer Theaterlandschaft die Rede, „die mehr Bühnen zählt als beispielsweise der Broadway“. Da haben wir ihn wieder, den beliebten Vergleich mit New York. Ob es nicht unfreiwillig komisch wirkt, zu behaupten, eine ganze Region habe mehr Theater als ein Straßenzug, ist Ansichtssache. Jedenfalls legt man uns nahe, daß „mehr“ automatisch auch „besser“ und „glanzvoller“ heißt, was wiederum eine gewisse Vergleichbarkeit voraussetzen würde. Nur: Im Uberschwang hat der KVR wohl die „kleinen“ Unterschiede zum Theatersystem des Broadway vergessen.

Eine richtig „dicke Lippe“ riskieren der Verband und die von ihm beauftragte Werbeagentur aber erst mit folgender Passage, da trägt es die Texter einfach aus der Kurve: Im Revier, so wörtlich, „haben Sie die Wahl zwischen aufsehenerregenden Inszenierungen, bei denen selbst die verwöhntesten Kritiker das Kritisieren vergessen“. Da schnappen wir erst einmal nach Luft und machen einen Absatz.

Mal ehrlich: Kein Theatermacher im Revier, der bei Trost ist, würde eine solch vollmundige Behauptung unterschreiben. Man tut den hiesigen Bühnen auch keinen Gefallen mit solcher Angeberei. Ihre Arbeit ist mal gut, mal besser, mal schlecht – wie überall.

Indes: Ein Körnchen Wahrheit ist sogar drin. Wenn wir mit Fug annehmen, daß „die verwöhntesten Kritiker“ in Hamburg, Frankfurt und München sitzen, stimmt es tatsächlich, daß sie das Kritisieren im Revier manchmal vergessen. Weil sie oft gar nicht erst herkommen.

                                                                                                                      Bernd Berke




DDR-Dramatiker geben trockne Lehrstunden – Halbzeit beim Wettbewerb „stücke `90″ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Die DDR-Ereignisse der letzten Monate sind auch am Mülheimer Dramatiker-Wettbewerb „stücke ’90“ nicht spurlos vorübergegangen – im Gegenteil. Die Auswahlkommission sah sich bemüßigt, fast nur Dramen mit DDR-Thematik vorzuschlagen.

Nachdem mit vier Aufführungen die Halbzeit des Wettbewerbs erreicht ist, drängt sich der Verdacht auf, daß dabei politischer Nachholbedarf vor Theaterqualität rangiert hat. Ein „Stück des Jahres“ war jedenfalls noch nicht dabei.

Den Auftakt besorgte das Wiener Akademietheater mit George Taboris „Weisman und Rotgesicht“. Das bislang einzige Stück, das sich nicht um DDR-Themen rankt, wurde als „jüdischer Western“ etikettiert. Ein vermeintlicher Indianer (der sich hernach als Halbjude und Filmkomparse erweist), ein Jude, der die Aschenurne seiner verstorbenen Frau mit sich trägt, und dessen spastische Tochter begegnen einander in einer – mit lebendem Geier auf der Bühne markierten – Wüstengegend der USA. Unter anderem treten sie, beinahe wie Preisboxer, in einen makaber-absurden Leidens-Wettbewerb: Wer hat mehr erlitten. Juden oder Indianer?

Taboris Scherze mit dem Entsetzen

Es ist wieder jene gleichermaßen zauberkräftige wie halsbrecherische Mischung, die wir von Tabori kennen und die kein deutscher Dramatiker so anwenden dürfte: Schrecken wird Lachen, Verzweiflung gerinnt zum Kalauer, Wahn und Witz addieren sich zu Wahnwitz. Allerdings gewinnen m diesem Stück unbedarfte Scherze einiges Übergewicht – oder sind es nur geschickte Verführungen, an den falschen Stellen zu lachen, was ja zuerst die voreiligen Lacher entlarvt? Ein Ereignis wurde dieser Theaterabend durch die Darsteller: Michael Degen, Leslie Malton und Hans Christian Rudolph.

An den folgenden Abenden sehnte man sich dann doch nach Taboris Entsetzens-Scherzen zurück, denn mit Georg Seidels „Carmen Kittel“ hob deutsche Tiefgründelei an. Das bereits 1987 in Schwerin uraufgeführte, später umgearbeitete Werk mag zur Entstehungszeit ein Schrei in der Not gewesen sein. Nun wirkt es, trotz neuer „Montage“ durch Dimiter Gotscheffs Düsseldorfer Inszenierung, bereits reichlich gestrig. Sprachlich ist etwas Metallisch-Schepperndes, ist dumpfe Atemnot in diesem Stück.

Carmen Kittel kann sich nicht „emporwuchten“

Vor- und Nachname der Titelfigur stehen natürlich für den Widerspruch von Lebenslust (Carmen) und ödem Frauenalltag (Kittel). Carmen Kittel ist im Heim aufgewachsen, front nun in einer Kartoffelschäl-Brigade, erlebt einige Qualen des irreal existierenden Sozialismus und kann sich nicht „zu einem besseren Leben emporwuchten“. Das alles hört sich schwer nach Theater-Bastelarbeit an und ist es über weite Strecken auch. So muß etwa die Kartoffel gleich als Symbol deutscher Eßgewohnheiten und dito Revolutionsunfähigkeit herhalten. Einiges mag als Lyrik., nicht aber als dramatische Vorlage durchgehen. Immerhin lassen zwischendurch einige aphoristische Kernsätze aufhorchen, etwa jener, daß man in der DDR das Paradies auf Erden bauen wollte, dann aber doch nur Braunkohle abgebaut hat.

Gorbatschow als „neuer Christus“

Theater hart am Rande historischen Kasperlspiels erlebte man am nächsten Abend, als die Volksbühne Berlin (DDR) Jörg-Michael Koerbls „Gorbatschow/Fragment“ aufführte, das aus DDR-Sicht die sowjetische Geschichte von Lenin bis „Gorbi“ nachzeichnen will. Das Stück vermittelt keinerlei wirkliche Erkenntnis, es stellt historische Figuren nur als Pappkameraden auf die Bühne.

Koerbl setzt Spezial-Wissen voraus (etwa über die Beziehungen zwischen Lenin, Trotzki und Stalin), vermittelt aber seinerseits kein neues. Daß er Gorbatschow als „neuen Christus“ darstellt, ist nur peinlich. Sprachlich ergeht sich der Autor in Satzperioden, die eventuelles Interesse schnell erlahmen lassen. Zudem hat er sein Stück „kongenial“, nämlich mit recht dürftigen Mitteln in Szene gesetzt.

Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“, in Mülheim gezeigt vom Schauspiel Halle, versöhnte wieder etwas mit der DDR-Dramatik. Hein ist nicht der Versuchung erlegen, die ritterliche Artus-Runde als schmale Parodie aufs gewesene Politbüro vorzuführen; sein Stück hat jene Art von Aktualität, die über Tag und Stunde hinausreicht. Freilich kreist es ohne große theatralische Höhe- oder Tiefpunkte um nur wenige Denkfiguren (Die Gralssuche als Suche nach Utopie usw.). Eigentlich ist schon nach der Hälfte alles gesagt und wird dann nur noch variiert.




WLT-Finanzen auf des Messers Schneide – Leitung des Landestheaters im Rundschau-Gespräch

Dortmund/Castrop-RauxeI. (bke) Am 3. März wird sich die Spreu vom Weizen sondern: Dann steht auf Messers Schneide, wie viele von 22 Städten bereit sind, ein kulturpolitisches Bekenntnis zum Westfälischen Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel abzulegen und wie viele womöglich als Mitglieder aus dem Trägerverein des Theaters ausscheiden.

Wird es „Fahnenflüchtige“ geben, droht gar eine Vereins-Auflösung? Brisanter Stoff für ein Gespräch, zu dem WLT-Intendant Herbert Hauck, sein Verwaltungschef Norbert Kronisch sowie Olaf Reifegerste, Pressesprecher und Spielplan-Disponent des Theaters, ins Dortmunder Rundschauhaus kamen.

Letzlich geht es nicht nur um Bekenntnisse, sondern um Geld: Seit langem ist der Jahresbeitrag pro Gemeinde auf läppische 300 Mark eingefroren. Für diesen „Tischtennis-Beitrag“ (Reifegerste) genießen die Kommunen weitreichende Stimmrechte in Existenzfragen des WLT. Künftig sollen die Städte zusammen im Jahr 45 000 DM Beiträge zahlen, etwa nach einem Verteilerschlüssel auf Basis der Einwohnerzahlen. Anfang Febmar hatten die Gemeinde-Vertreter sich nicht geeinigt. Seitdem hängt das WLT, das ja landauf landab gastiert, finanziell „in der Luft“. Nächsten Freitag soll ein zweiter Anlauf den Durchbruch bringen.

Da die Kommunen, so Herbert Hauck, nicht mehr gar so ärmlich dastehen wie vordem, geht das WLT selbstbewußt in die „Zerreißprobe“ und fordert von jeder Stadt – zusätzlich zum Beitrag – eine ein- bzw. erstmalige Umlage von 7 Pfg. pro Einwohner, was insgesamt 105 000 DM ergäbe.

Nun warten alle gespannt auf Signale der Städte. Die Theaterleute sowieso (Hauck: „Jetzt müssen wir das durchfechten“), aber auch das NRW-Kultusministerium, das mehrfach seine Zuschüsse erhöhte, nun aber die Kommunen im Zugzwang sieht – und der zuständige Regierungspräsident in Münster, der den neuen WLT-Etat (5,5 Mio. DM) nicht absegnen mag, bevor die Gemeinden Geld drauflegen.

Ungeachtet relativ hoher Einnahmen durch Kartenverkauf beklagt das WLT Defizite. Neue Tarifabschlüsse erzwingen jetzt nochmals Einsparungen von 70 000 DM. Dies alles, so die Theaterleute zur WR, bedeute keinesfalls, daß man künftig einen Boulevard-Spielplan anbiete. Herbert Hauck gelobt: „Brecht-Pflege und regionalbezogene Stücke bleiben Schwerpunkte.“

Trotz aller Unbill plant man beim WLT zwei neue Projekte; Eines soll sich ostwärts bewegen, ein anderes auf Flüssen und Kanälen…

Plan Nummer ems: Man verhandelt mit einem DDR-Theater. Herbert Hauck verriet, daß es sich um die Bühne in Döbeln/Sachsen handelt. Mit diesem Theater will das WLT u. a. einen Stücke-Zyklus über die deutsche Nachkriegsgeschichte herausbringen. Hauck: „Die Landkarte für eie DDR-Tournee haben wir auch schon im Kopf.“

Plan zwei, die Einrichtung eines mobilen „Theater-Schiffes“ gemeinsam mit den Städtischen Bühnen Oberhausen, geht – nach erfolgtem Antrag – zwischen Kultus- und Städtebauministerium des Landes seinen bürokratischen Gang. Dabei drängt die Zeit: Schon kommen konkrete Terminanfragen aus den Schulen – und ein bereits ausgesuchtes Schwimm-Objekt ist nicht mehr zu haben. Ein Lastkahn, rund 60 Meter lang und 8 Meter breit, soll – zum Bühnenschiff umgebaut – besonders Jugendlichen die „Schwellenangst“ vorm Theater nehmen. Hauck, Kronisch und Reifegerste haben sich bereits Kenntnisse angeeignet, die eines Reeders oder Kapitäns würdig wären. Freilich merkten sie auch, daß vom Land gefördcrte Kooperationen (hier mit Oberhausen) rechtlich kein leichtes Fahrwasser sind.

Über eines sind die WLT-Leute voll des Lobes: Das „Klima“ in Castrop-Rauxel habe sich enorm verbessert. Kein Wunder: Bestimmte Industrieansiedlungen sind auch auf die Präsenz des WLT zurückzuführen: Kultur lockt Wirtschaft an. Von einem WLT-Umzug nach Hamm, vor Zeiten noch erwogen, ist jetzt keine Rede mehr.




Puppenhafte Spiele im goldenen Rahmen – Oscar Wildes Komödie „Bunbury“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein Abend mit Goldrand: Die ganze Bühnenöffnung ist in einen riesigen Bilderrahmen eingefaßt. Unten rechts steht der Titel des ausgestellten Theater-Kunstwerks: „Oscar Wilde: ,Bunbury'“. Die leichtfüßige VerwechslungsKomödie aus der Feder des lässig-eleganten Zynikers – ein museales Stuck? Nun, jedenfalls tut sich vor unseren Augen eine enthobene Kunstwelt auf.

„Bunburysieren“, das heißt bei Wilde: Ausreden erfinden, um sich heimliche Genüsse erlauben zu können. Zwei dandyhafte Junggesellen sind darin Meister: Jack Worthing erfindet einen liederlichen Bruder namens Ernst, den er angeblich immer mal wieder in London zur Tugend ermahnen muß. In Wahrheit erlaubt sich der vom öden Landleben enervierte Jack selbst als jener Ernst Eskapaden in der Großstadt. Sein Londoner Freund Algernon macht’s umgekehrt: Er ersinnt den ständig kränkelnden, hilfsbedürftigen „Bunbury“, um vor dem Zugriff lästiger Verwandtschaft aufs Land flüchten zu können. Daß derlei Idenütäts-Wechsel Verwicklungen zumal erotischer Art mit sich bringen, versteht sich. Doch am Schluß dürfen drei Paare heiraten.

Ungeachtet trefflicher Seitenhiebe gegen die viktorianisehe Gesellschaft, muß man sich mit diesem Stoff weltanschaulich nicht gar zu lange aufhalten. Hauptsache, das Komödien-Uhrwerk schnurrt temporeich ab. Hier wird nahezu alles verziehen, nur Langeweile nicht.

In der Wuppertaler Inszenierung des vielversprechenden Janusz Kica überzeugen schon die Bühnenbilder (Barbara Rückert) auf den ersten Blick. Vor allem aber: Die Geschwindigkeit, mit der den Personen geistreiche Bonmots von den Lippen perlen, stimmt einfach. Da wird leichthin parliert und alles nicht zu ernst genommen. Kein Mitwirkender steht da zurück, allenfalls könnte man Hans-Christian Seeger Jack/Ernst Worthing) als besonders geläufigen Plauderer hervorheben. Etwas überzogen wirkt der Dauergag mit dem tatterigen Butler „Merriman“ (Bernd Kuschmann), der etwa so spielt, als wenn ein gealterter Alfred Biolek in „Dinner for one“ die Rolle des Freddie Frinton übernähme. Da gibt man halt dem Affen kräftig Zucker.

Bester Einfall aber: Eine Art Verselbständigung der Dingweit, die sich hier immer wieder vor und zwischen die menschlichen Beziehungen drängt. So wandern Gegenstände – Golfschläger, Blumensträuße, Teetassen, Regenschirme usw. – nach einem Irrsinns-System von Hand zu Hand; ein unproduktiver Leerlauf, so recht zur Darstellung einer Schmarotzer-Schicht passend.

Das Zwischenmenschliche als „Sport“ nach Regelwerk: Dem Regisseur präzise folgend, agieren hier zappelnde Figuren, keine blutvollen Mensehen. Sie leben nicht, sie spielen nur – wie aufgezogene Puppen, Marionetten ihrer sozialen Rollen. Wie an lockeren Fäden hängen sie zunächst im Halbdunkel; erst das Rampenlicht brennt diesen Selbstdarstellern künstliches Leben ein. Der zweite Teil, wenn alles unaufhaltsam auf die Eheschließungen zuläuft, wird wie nebenher absolviert. Mit der Wunscherfüllung verliert dieses Spiel für die Figuren allen Reiz und Kitzel. Am Ende könnte das nächste beginnen.

Verdient herzlicher Beifall nach unterhaltsamen zweieinhalb Stunden.




„Virginia Woolf“: Routine beim teuflischen Ehedrama

Von Bernd Berke

Hagen. In einem festen Ensemble, das über viele Jahre zusammengewachsen ist und das alle Höhen und Tiefen des Bühnenlebens gemeinsam durchlitten hat, kennen sich die Schauspieler im Idealfall so gut, daß sie auch in feinsten Nuancen aufeinander reagieren können. Bei einem psychologisch durchtriebenen Stück wie Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ können solche Feinheiten entscheidend sein.

In Hagen, wo das Vierpersonen-Ehedrama am Samstag Premiere hatte, steht keine stationäre Sprechtheater-Truppe zur Verfügung. Man behilft sich hier mit dem Engagement von Gastschauspielern.

Ein Quartett erfahrener Profis steht diesmal auf der Bühne, das durchaus geschickt über manche Untiefen hinwegzuspielen, ja stellenweise zu fesseln vermag. Doch diese Darsteller können nicht vollends vergessen machen, daß sie aus sehr verschiedenen Arbeits-Zusammenhängen nach Hagen gekommen sind.

Albees Stück handelt vom maßlosen Geschlechterkampf zweier amerikanischer Ehepaare im provinziellen Professoren-Milieu. Die in den Dialogen geradezu diabolisch gut „gebaute“ Seelenzerfleischung hat seit der Uraufführung (1962) auch Patina angesetzt. Allzu sehr bleibt das Psychodrama freudianischen Konzepten von seelischer Verdrängung und Widerständen haftet. Überdies scheinen mir manche Details – nach den zahllosen „Beziehungs“-Diskussionen der 70er und 80er Jahre – überholt. Diese beiden Dekaden scheinen jedoch an Peter Schützes Inszenierung nahezu spurlos vorübergegangen zu sein. Er bringt das Drama solide, aber höchst konventionell auf die Bühne. Auch Wolf-Reinhard Wusts realistisches Bühnenbild im Möblierungsstil der frühen 60er steht für ein Wieder-sehen, nicht für eine neue Sicht.

Nun muß man ja in Hagen, wo Sprechtheater noch im Einführungs-Stadium steckt, das Publikum auch nicht gleich mit wüsten Avantgarde-Experimenten verprellen. Etwas mehr entschiedener Deutungswille der Regie hätte freilich nicht geschadet. So sehen wir denn gehobenen Boulevard, eingängige Ästhetik à la Tourneetheater. Und doch bleibt das Stück interessant, bedient es doch auch fulminant voyeuristische Bedürfnisse nach ebenso intensiver wie für den Zuschauer schadloser „Teilnahme“ an fremden Ehekrächen.

In Hartmut Stanke (gedemütigter, dann erbarmungslos zurückschlagender Pantoffelheld George) hat die Aufführung den besten Akteur. Barbara Vesterling (Martha) steht an routinierter Präsenz kaum nach. Komische Seiten entlockt Christoph Hemrich seiner Rolle als Nick. Anne-Mylène Biehl hat hingegen Mühe, Nicks Frau Putzi so piepsig-naiv darzustellen wie nötig.

Freundlicher Beifall. Freilich: Edward Albees im Programmheft abgedruckter Wunsch, die Zuschauer sollten nach einer „Woolf“-Aufführung derart betroffen sein, daß sie ihre geparkten Autos nicht mehr finden, wird sich in Hagen kaum erfüllen.




Kulturfestival baut am „europäischen Haus“ mit – Programmschwerpunkt der Duisburger „Akzente“

Eigener Bericht

Duisburg. (bke) Das Bild vom „gemeinsamen Haus Europa“ erfreut sich großer Beliebtheit. Man kann es ja auch herrlich und fast endlos ausschmücken – notfalls bis hin zur Türklinke. „Unser Haus Europa“ lautet denn auch das Motto der 14. Duisburger „Akzente“. Zielvorgabe durch Duisburgs Kulturdezernenten Dr. Konrad Schilling: Man wolle politische Visionen mit kulturellem Sinn füllen.

Hochkarätige Politiker werden das Kulturfestival am 22. April eröffnen: der Präsident des Europäischen Parlaments und einer der Kammervorsitzenden des Obersten Sowjet. Die Schirmherren heißen Hans Dietrich Genscher und Johannes Rau – und sozusagen als „guter Geist“ über allem schwebt Michail Gorbatschow, der die Formel vom „gemeinsamen Haus“ ersann.

Nachgezeichnet werden soll das – so Kulturdezernent Schilling – „unverwechselbare Eigenprofil“ eines Kontinents, der (zumindest geistesgeschichtlich) auf den Vorrang der Ratio setzte. Zurück zu den Wurzeln dieser abendländischen Vernunft wird eine Aufstellung im Duisburger Niedenheinischen Museum führen: „Kreta – das Erwachen Europas“ werde, so die Veranstalter, mit raren Exponaten glänzen, die zum Teil noch nie außerhalb Griechenlands gezeigt wurden. Es sei überhaupt die erste deutsche Ausstellung zur Hochkultar der Minoer, die gleichsam den Grundstein zum europäischen Hause gelegt haben.

Das Theaterprogramm der „Akzente“, die bis zum 25. Mai dauern werden, umfaßt elf Inszenierungen, darunter allerdings keine Novität, sondern lauter Gastspiele erprobter Aufführungen. Hier sind allenfalls eineinhalb Stockwerke des Europa-Hauses erkennbar, drehen sich doch sämtliche Inszenierungen um die alten Griechen (Sophokles, Aristophanes, Euripides) sowie um Adaptionen griechischer Stoffe in Deutschland (Kleist, Hölderlin, Hans Henny Jahnn). U. a. werden Aristophanes‘ „Lysistrate“ in Henri Hohenemsers Augsburger Einrichtung, Jahnns „Medea“ in Manfred Karges Kölner und Werner Schroeters Düsseldorfer Ausdeutung sowie Sophokles‘ „Aias“ in Frank Castorfs Basler Version zu sehen sein. Aus Mülheim kommt Roberto Ciullis Regiearbeit „Die Bakchen“ nach Euripides. Auch ein DDR-Theater ist dabei: Das Staatsschauspiel Dresden zeigt Kleists „Penthesilea“.

Neben Vorträgen und Kongressen, in deren Verlauf europäische Visionen entwickelt werden sollen, zählt ein Tanzfestival der europäischen Jugend zum „Akzente“-Programrn. Rund 110 Jugendliche aus zehn Ländern werden gemeinsam die mittelalterliche Liedersammlung „Carmina Burana“ tänzerisch einstudieren. Außerdem wird das Heldenepos „Beowulf“ Grundlage einer Choreographie sein – gleichfalls als Beispiel fürs europäische Mittelalter. Schließlich kündigt der „Förderverein Deutscher Kinderfilm“ eine mit 30 Streifen bestückte „Kinderfilmreise durch Europa“ an.




Endspiele der Verzweiflung – Zum Tod von Samuel Beckett

Von Bernd Berke

Wie prägend Samuel Beckett für Literatur und Theater der zweiten Jahrhunderthälfte war, zeigt sich schon daran, daß eine Theatergröße wie Thomas Bernhard mit dem Etikett „Alpen-Beckett“ belegt wurde. Becketts bloßer Name stand für eine ganze (Theater-)Welt. Zwar wurde der Ire dem „Absuiden Theater“ zugerechnet, er befand sich aber auf einsamer, alle „Richtungen“ überragender Anhöhe.

Inszenierungen seines Jahrhundert-Dramas „Warten auf Godot“ (1953) waren oft entscheidende Wegmarken in der Entwicklung der jeweiligen Bühnen – wie dies sonst nur noch bei ganz anders gearteten Gigantenwerken à la „Faust“ oder „Hamlet“ der Fall ist. Bekannt wurden auch Beckett-Stücke wie „Endspiel“ (1957), „Das letzte Band“ (1959) oder „Glückliche Tage“ (1961). Torsohafte Bühnengestalten, die nur mit dem Kopf aus Mülltonnen ragten, oder sein 30-Sekunden-Stück „Atem“, das nur aus Atemgerausch besteht, wurden zu Begriffen.

Wie kein anderer fand Beckett Chiffren für einen verzweifelten Weltzustand, aber auch für verzweifelte Komik. So zog er im „Godot“ das Leben auf eine Alptraum-Formel zusammen: Der Mensch werde „rittlings über dem Grabe“ geboren. Er schrieb aber auch „Schauspieler-Theater“ reinsten Wassers: Eine Rolle wie die des alten Krapp in „Das letzte Band“ war Herausforderung für große Darsteller wie Martin Held und Bernhard Minetti.

Der Erfolg des am 13. April 1906 in Foxrock bei Dublin geborenen Autors kam spät. Zunächst unbeachtet blieben frühe Arbeiten, wie der (auf deutsch erst 1989 erschienene) Prosa-Band „Mehr Prügel als Flügel“ (1934) oder die Romane „Murphy“ (1938) und „Watt“ (1944). „Murphy“ begann mit dem wohl meistzitierten aller Beckett’schen Endzeit-Sätze: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues“.

Im Januar 1953 wurde dann in Paris sein Stück „Warten auf Godot“ uraufgeführt. Es rief Heerscharen von Deutern auf den Plan. Jeder konnte hier „seine“ Wahrheit suchen – der Christ, der Nihilist, der Marxist. Wohl über kein anderes Stück ist so hirnzermarternd nachgedacht worden, Beckett hatte – wie auch in anderen Werken – die Bühnenwelt auf scheinbar einfachste Grundformen reduziert, so daß man alles hineingeheimnissen konnte. Das Nichts und das Alles waren hier sozusagen eins geworden.

Der Autor verweigerte (mal verärgert, mal verschmitzt) Deutungshinweise. So wollte er z. B. sein sprichwörtlich gewordenes „Endspiel“ schlicht und einfach als „Spiel“ verstanden wissen. Auch eigene Inszenierungen seiner Stücke gaben wenig Aufschluß.

Beckett hatte 1928 in Paris seinen Landsmann James Joyce zum Freund gewonnen und war zeitweise sein Sekretär. Neben Joyce war zunächst Marcel Prousts Werk für Beckett bestimmend. Zwischen 1930 und 1938 pendelte er zwischen Dublin, London, Deutschland und Paris („Wanderjahre“), ehe er sich endgültig in Paris niederließ, wo er lange isoliert und verarmt blieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er der französischen Widerstandsbewegung angehörte, begann er auch französisch zu schreiben und war Übersetzer seiner eigenen Werke.

1969 nahm Beckett den Nobelpreis für Literatiir an, fuhr jedoch nicht zur Entgegennahme nach Stockholm. Spätestens seit den 70er Jahren galt er als Klassiker der Modeine (und wurde in mancher Inszenierung als solcher verhaimlost). Im letzten Sommer – nach dem Tod seiner Ehefrau – hatte er seine Wohnung aufgegeben und war in ein Altenheim gezogen.

Beckett starb, wie erst gestern bekannt wurde, am letzten Freitag mit 83 Jahren in Paris. Er wurde am 2. Weihnachtstag im engsten Familienkreis auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.




Männer als dienstbare Geister der Weiblichkeit – Pina Bauschs Tanzabend „Palermo“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Bevor Pina Bauschs neuer Wuppertaler Tanzabend anfing, betrat Intendant Holk Freytag die Bühne: Man möge keine fertige Inszenierung erwarten, sondern ein „work in progress“, einen Werkstatt-Einblick also. Freytag sprach den Standardsatz dieser Tage ironisch: Es werde auch hier in den nächsten Wochen zusammenwachsen, was zusammengehöre.

Dann die erste Szene. Stille. Lang blicken wir auf eine Mauer, die schließlich mit Getöse in sich zusammenstürzt. Heiterkeit im Publikum. Deutsch-deutsche Anspielungen auch hier? Nun, zwangsläufig wird dieses Bild derzeit so „gelesen“; es steht (und fällt) aber vielleicht eher als allgemeines Zeichen für Durchbruch. Auch sollen wir ja nicht starr nach Deutschland schauen, sondern – dem vorläufigen Arbeitstitel „Palermo“ gemäß – nach Sizilien.

Freilich sind die dort landläufigen Szenerien, die das Wuppertaler Tanztheater bei einer Reise in sich aufnahm, längst durch Gruppendyamik und freie Assoziationen verwandelt (und dem Stil der Pina Bausch anverwandelt). Italien – das ist hier oft nur noch ein ferner, leiser Anklang. Es geht nicht um Reisebilder, sondern um Gefühlsbilder, deren Rätselhaftigkeit wiederum schwerlich in Begriffssprache „rückübersetzt“ werden kann.

Keine Sehnsucht kommt ans Ziel

Die Frauen sind diesmal nicht, wie früher so oft bei Pina Bausch, Opfer männlicher Attacken. Die Männer. zumeist dienstbare Geister, dürfen die weiblichen Körper allenfalls in schöner Schwebe halten oder in Schwung setzen; sie werden von den Frauen fast wie Hündchen herbeigerufen und barsch aufgefordert: „Nimm meine Hand!“ – „Halte mich!“ Doch die Geschlechter stammen „von verschiedenen Planeten“, man(n) kann nichts recht machen, keine Sehnsucht kommt da ans Ziel. Wenn die Männer die Befehle ausführen wollen, nehmen die Frauen sie meist sofort unwirsch zurück.

Überhaupt ist dies erneut eine Abfolge zurückgenommener, abgebremster, „umgebogener“ und „versickernder“ Gestik. Gäbe es eine leibliche Entsprechung zu Stichworten, so könnte man von „Stich-Bewegungen“ sprechen: Chiffren unerfüllten und ungelebten Lebens allenthalben, aber auch immer wieder Versuche, den Körper gestisch ganz neu zu definieren, ihn sozusagen in die Zukunft zu zaubern. Und vielfach ein Aufblitzen von Humor, der vom sehr konzentrierten Ensemble mit todernsten Mienen serviert wird.

Eine Maschinerie, die unentwegt Bilder erzeugt

Zahllose Kürzest-Geschichten könnte man erzählen – und hätte doch nicht das Entscheidende gesagt: Die Frau, die sich Zucker von den Lippen küssen läßt; entwurzelte Bäume, die vor verwaschenem Regenhimmel herabsinken; zwei Schönlinge, die sich Zitronensaft in die Haare träufeln: ein Preisboxer, der sich in eine tuntige Freiheitsstatue verwandelt: eine Frau, die sich – eine ausrinnende Flasche zwischen den Beinen – trotzig-triumphierend erleichtert „wie ein Mann“; eine andere, die ein paar Spaghetti als ihr Eigentum verteidigt. Später wird einer diese spitzen Nudeln wie Dolche gegen seine Brust richten – Beispiel dafür, wie hier beinahe jedes Bild fließende Bedeutung erlangt. Manchmal scheint es, als laufe da eine Maschinerie, die unentwegt Bilder erzeugt und vergehen läßt.

Die Überfülle solcher Geschehnis-Bruchteile hat tatsächlich noch den Charakter einer unfertigen, wenig strukturierten Materialsammlung. Die Reihenfolge der Szenen könnte sich ohne weiteres ändern. Nur der zweite Teil scheint schon stärker durchgearbeitet. Freilich gelingen Pina Bausch, dem Bühnenbildner Peter Pabst und der Tanztruppe auch in diesem Zwischen-Stadium bereits häufig jene starken, fremden und – trotz eines wiedererkennbaren Stils – in ihrer konkreten Gestalt völlig unerwarteten Bildszenen, denen man verfallen konnte. Überdies ist die Musikauswahl – Klänge aus allen Weltteilen – superb.

Der Premierenbeifall (volle „Fankurve“) war grandios.




Grausame Komödie des gescheiterten Widerstands – Joshua Sobols Ghetto-Stück „Adam“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein deutscher Kulturmensch: feingliedrig, fahrig-nervös und etwas gedankenblaß. Später wird er Goethe und Shakespeare geläufig zitieren. Zunächst aber nimmt er, bestens herausgeputzt, in einem Theatersessel Platz. Er will eine Komödie genießen, eine grausame „Komödie der Irrungen“.

Kittel (Daniel Hajdu), so heißt dieser ach so kunstsinnige Mann in Joshua Sobols Stück „Adam“, ist als SS-Kommandant im Ghetto von Wilna (Litauen) Herr über Tod und Leben – in einer innigen Zwangsgemeinschaft von Tätern und Opfern. Das Drama im Drama, über das sich Kittel so köstlich amüsiert, ist der scheiterende Widerstand der Juden und ihrer historisch verbürgten Untergrundorganisation F. P.O.

Der israelische Autor arbeitet seit jeher mit Schocks: In seiner gleichfalls in Wilna spielenden Todesrevue „Ghetto“, zu der „Adam“ gleichsam ein ergänzendes Seitenstück ist, ließ er Musical-Elemente mit dem Leid der Juden kollidieren.  Auch bei „Adam“, jetzt in Wuppertal, ist das Varieté nicht weit: Der grantelnde Sep (Horst Fassel) führt immer mal wieder Zauberkunststückchen vor. Rahmenhandlungen und ein beständiges Gleiten durch die Zeit, Spiel mit Distanz und Nähe: Sep agiert auf der Vorderbühne, die eine Szene im heutigen Israel vorstellt, wo sich Seps Gefährtin Nadya (Stella Avni vom Düsseldorfer Schauspielhaus) ihrer Erlebnisse von „damals“ in Wilna erinnert.

Dahinter tut sich ein „Erinnerungs-Raum“ (Bühne: Jürgen Lancier) auf, eine schräggestellte Arena, in der die Szenen von 1943 spielen. Die alte Nadya, für die die Vergangenheit nicht vorbei ist, tritt mehrfach in diesen Raum ein, richtet das Wort an sich selbst als junge Frau (Friederike Tiefenbacher) oder an ihren damaligen, in Wilna umgekommenen Geliebten Adam (Bernd Kuschmann). Adam wurde seinerzeit von einem Gefolterten an den SS-Kommandanten als Untergrund-Kämpfer verraten. Der SS-Mann stellt dem (jüdischen) Ghetto-Vorsteher Gens, der ständig zwischen den Fronten laviert, ein Ultimatum auf sofortige Auslieferung Adams; sonst werde das gesamte Ghetto „liquidiert“. Soll man einen Mann opfern, um – eventuell – 20 000 Mensehen zu retten? Oder soll man den Aufstand wagen, den kollektiven Selbstmord?

Das Stück in Deutschland aufzuführen, ist höchst schwierig und prekär. Diesen Mut hatte bisher nur das Bonner Theater. Die (Selbst-)Kritik am jüdischen Widerstnd ist sicher wichtig für ein israelisches Publikum; hierzulande könnte sie mißverstanden werden. Auch hat das Stück selbst Schwächen: Vor Augen gestellt, gewinnen die langen Debatten der F. P. O.-Widerstandskämpfer nichts Wesentliches hinzu, was nicht auch in einem Hörspiel vorkommen könnte. Über weite Strecken gerät das in Wuppertal zum steifen Thesen-Austausch. Die Aufführung wirkt da einerseits ungeschmeidig, zeigt aber auch keine wirklichen Ecken und Kanten. Verständliche Scheu: Die Regie wagt kaum, Elemente des Dokumentartheaters und des Varietés schockhafter aufeinander prallen lassen.

Regisseur Johannes Klaus und das Ensemble sind gleichwohl ehrenvoll gescheitert: Spürbar ist eine große Ernsthaftigkeit, mit der man sich des Stoffs angenommen hat. Aber: Wuppertals Ensemble hat zwar Fortschritte gemacht, ist jedoch für eine solch heikle Aufführung noch zu ungleichwertig besetzt.

Normaler Beifall, den auch der anwesende Autor bescheiden entgegennahm.




„Kabale und Liebe“ als Bühnen-Schachspiel – Hansgünther Heyme inszeniert Schiller in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Immer wieder werden Stühle über die Bühne getragen. Bevor und während sie reden, nehmen die Figuren so neue Positionen ein, im ständigen Wechsel, fast wie beim „Königlichen Spiel“: Bühnen-Schach, Gefühls-Schach. Es geht um Sieg und Niederlage, um Macht – und weniger um Liebe als um die gute Partie.

Als zermürbenden Stellungskampf der Figuren führt uns Hansgünther Heyme Schillers „Kabale und Liebe“ vor. Heyme, zeit seines Theaterlebens Schiller zugetan, läßt diesmal niemanden mit dem Motorrad auf die Szene rasen (wie einst im „Tell“), und auch schrille Brechungen à la Goethes „Faust“, wo Heyme Gretchen mit der Rockgitarre antreten ließ, unterbleiben. Statt dessen: Posen und Posituren, überdeutlich herausgestellte Gefühle bis hin zur (bewußten) „Schmiere“, große Gesten für kleine (und schnell wandelbare) Regungen. So werden auch bereits jene Momente vergiftet, in denen einmal wahres Fühlen durchbrechen will.

Bekanntlich geht’s um die bürgerliche Musikus-Tochter Luise Miller, die es zum adligen Ferdinand hinzieht – eine anno 1784 (Uraufführung) „unmögliche“ Liason. Die Verbindüng wird denn auch von der Vätergeneration, insbesondere durch blaublütige Intrigen (also „Kabale“) aufs Teuflischste hintertrieben. Effekt: Vor den Vätern sterben die Kinder, von Limonade aus eigener Mischung vergiftet.

Der zeitgebundene Anteil des Themas, der Konflikt zwisehen Adel und Bürgertum, ist für uns weit, weit weg. Dem trägt auch Heyme Rechnung: Einzige Möblierung ist ein überlanger Tisch, dessen Enden nur durch Beleuchtungswechsel als kaum wesentlich verschiedene Adels- und Bürger-Sphäre markiert werden. Man bewegt sich letzten Endes im selben Element der Uneigentlichkeit und der Unfahigkeit zu Gefühlen.

Darauf legt Heyme den Akzent, er „verbrechtet“ nicht und läßt auch nicht seine sonst so häufig eingesetzten „braunen Horden“ aufmarschieren, obgleich er (im Programmheft) das Stück stocknüchtern als „deutsches Material“ bezeichnet und sogleich Nietzsches fatalen „Übermensehen“ sowie Paul Celans „Todesfuge“ („Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“) herbeizitlert.

Auf Länge gesehen, wirkt besagte Künstlichkeit allerdings doch etwas uninspiriert, auch hemmt mitunter eine Art von Langsamkeit das Spiel, die dem Geschehen keinesfalls mehr Binnenspannung verleiht. Heftigere Emotionen treten eigentlich nur in zwei Situationen hervor: beim Adel, wenn’s so richtig ans Intrigieren geht, beim Bürgervater Miller, wenn er einen Geldhaufen fast anbetet. Nur Macht und Mammon machen hier sinnlich, Liebe ist nur Traum oder Mittel zum Zweck.

Wolf Münzners Bühnenbild läßt sehr viel Spielraum, der vornehmlich zur Distanzierung der Figuren voreinander genutzt wird. Die Kostüme (gleichfalls von Münzner) haben fast durchweg einen leichten Stich ins Exaltierte, was die Künstlichkeit des Geschehens noch steigert. Das Ensemble spielt insgesamt passabel, aber nie mitreißend. Das meiste Interesse für die Geschichte seiner Figur weckt noch Wolfgang Robert als Miller.

Recht knapper Beifall und vereinzelte Buhs für Hansgünther Heyme, der bei den Proben unglücklich in den Orchestergraben gestürzt war. Als Schauspielchef ist er nicht gestürzt, im Gegenteil: Er bleïbt bis 1995 in Essen, und zwar „gerne“, wie er versichert.

Bis Herbst 1990 ohne taugÏiche Spielstätte in Essen, ist Heyme mit dieser Premiere nach Mülheim ausgewichen. Die Produktion firmiert schlau unter dem Etikett „Kooperation Essen/Mülheim“, denn dafür gibt es Extra-Zuschüsse vom Land.




Essener Choreographin Christine Brunel überzeugt New Yorker – Mit NRW-Kultusminister Hans Schwier beim Festival „Ruhr Works“

Aus New York berichtet
Bernd Berke

New York. Die „Entdeckung“ von New York heißt Christine Brunel. Zwar wirkt die gebürtige Französin schon seit einigen Jahren in Essen und setzt dort die große Folkwang-Ballett-Tradition fort, doch bekommt sie keinerlei Subventionen und wird bislang auch eher von Insidern wahrgenommen. Jetzt hat sie an sechs aufeinanderfolgenden Abenden die Kultur des Reviers hervorragend in New York repräsentiert.

Im Rahmen des Festivals „Ruhr Works“ zeigte sie ihre Solo-Choreographie „Frau mit blauem Ball“ und das Drei-Frauen-Stück „Lied auf der Brücke“ vor stets gut gefülltem Haus – und das in der renommierten Brooklyn Academy Of Music, wo schon Caruso große Partien sang und in den letzten Jahren Inszenierungen etwa von Peter Stein und Ingmar Bergman gastierten.

Frau Brunel hat einen eigenständigen Tanztheater-Stil entwickelt, der sich durchaus neben denen ihrer bekannteren Kolleginnen Pina Bausch und Reinhild Hoffmann behaupten kann. Die Verbindung ungeheurer Konzentration und Disziplin bis in die kleinste Bewegung hinein mit fließend-lyrischen Ausdruckswerten ist frappierend. Hier mit gezielter öffentlicher Förderung einzusetzen, wäre sicherlich keine Fehlinvestition. New York hat den Beweis erbracht. Rund 2000 New Yorker, darunter viele „Meinungsführer“ der Kulturszene, haben es erlebt und mit wohlwollendem, wenn auch ortstypisch kurzem Beifall quittiert.

Ausstellungen über Velazquez, Picasso und Braque

Gegen welch überragende Konkurrenz „Ruhr Works“ (das denn seinen Sinn auch eher in Stetigkeit als im Auftrumpfen hat) hier in New York antritt, zeigen Besuche in den weltberühmten Museen der Stadt, die sich auch NRW-Kultusminister Hans Schwier auf seiner Informationsreise nicht entgehen ließ. Während das MetropolitanMuseum mit Velazquez prunkt, zeigt eine sehr sinnreich gehängte Ausstellung im Museum Of Modern Art erstmals in dieser Form Bezüge zwischen zwei „Vätern“ der Moderne, Picasso und Braque (bis 16. 1. 1990).

Für Europäer kaum zu glauben: Solche sündhaft teuren Ausstellungen werden hier nicht etwa durch Staatsgelder, sondern durch Beiträge von Stiftungen, Sponsoren und Mitgliedern der jeweiligen „Freundeskreise“ ermöglicht – eine Anregung für Minister Schwier, die Rolle von Kunst-Sponsoren auch in Nordrhein-Westfalen stärker ins Kalkül zu ziehen.

Die gefährliche Drogenszene in der Bronx

Der Minister bewegte sich in New York nicht nur auf kulturellem Parkett. Als für die Schulen zuständiges Kabinettsmitglied mußte Schwier sich auch über das in New York allgegenwärtige Drogenproblem unterrichten. In der Bronx, einem der katastrophalsten (und gefährlichsten) Stadtteile der Erde, ergab sich dazu erschütternde Gelegenheit. Unter diskretem Polizeischutz (erst am Wochenende war hier ein Polizist erschossen warden) besichtigte die Schwier-Delegation unter anderem das „Phoenix-House“, in dem ehemalige Drogenabhängige wieder an ein bewußtes Leben herangeführt werden sollen. Die harte Realität haben sie täglich vor Augen: Direkt gegenüber liegt eine Häuserzeile, in der unverhüllt mit der tödlichen Droge „Crack“ gehandelt wird. Anderwärts in der Bronx versucht man mit Schulprogrammen die Drogenflut einzudämmen. Auch kulturelle Angebote wie Theaterspielen und Musikmachen spielen hier eine zentrale Rolle.

Mit dem in Amerika vorherrschenden Ansatz, nur auf die Willenskraft der Betroffeneu zu setzen und nicht auch das gesellschaftliche Umfeld ins Visier zu setzen, konnte sich Minister Schwier allerdings nicht zufriedengeben, Fest steht für ihn jedenfalls: „Wenn wir nicht jetzt etwas tun, bekommen wir auch solche Probleme.“ Die Reise nach New York hat auch dafür den Blick geschärft.




Theater vor dem Landgericht – Stadt Lünen und Reber-Truppe streiten um Kündigung

Von Bernd Berke

Dortmund/Lünen. „Theater im Gericht haben wir öfters, aber um Kultur dreht es sich selten“. Launig eröffnete gestern Richter Homann eine nicht alltägliche Verhandlung in Dortmund. Es ging um die fristlose Kündigung des (bis Mai 1990 laufenden) Vertrages, die die Stadt Lünen dem „Theater-Institut“ (TI) ausgesprochen hatte.

TI-Chef Roland Reber, der mit seiner Truppe das Lüner Hilpert-Theater bespielt(e) und gegen die Kündigung klagte, war gar nicht erst im Dortmunder Landgericht erschienen, dafür einige seiner Schauspieler nebst Anwalt.

Die Stadt Lünen, vertreten durch ihren KulturdezernenHen Wolf-Rüdiger Zellmann, begründete ihre Kündigung u. a. mit der Premierenverzögerung des „Ägypten-Projekts“ von Oktober auf Dezember ’88 sowie mit einer „eigenmächtigen“ Verringerung des Stückpersonals seitens des TI, ohne daß die städtischen Subventionen neu berechnet (sprich gekürzt) worden wären. Außerdem sei einmal statt des Projekts ein Brecht-Abend gespielt worden.

Von den Subventionen kein Auto angeschafft

Für Richter Homann standen solche Argumente auf tönernen Füßen. Er könne und wolle nicht die Qualität von Stücken beurteilen, aber: Premierenverschiebungen seien doch in der Theaterpraxis gang und gäbe. Auch könne sich bei Projekten mit experimentellem Charakter die Besetzung durchaus ändern. Und: „Von den Subventionen hat sich doch kein Schauspieler ein Auto angeschafft“. Eine ernsthafte Image-Schädigung für die Stadt Liinen könne er ebenfalls nicht erkennen. Die fristlose Kündigung erscheine da doch etwas voreilig. Der Anwalt der Stadt Lünen hielt dagegen, die Theaterleute hätten die Stadt lächerlich gemacht: „Das Verhältnis ist auf Dauer kaputt“.

Gegen die Möglichkeit des gütlichen Vergleichs sperrten sich beide Seiten. Die TI-Leute wollen im Herbst unbedingt noch eine Produktion (neues Stück von Reber) in Lünen herausbringen. Darauf wollte sich die Stadt nicht mehr einlassen. Sie bot nur Gastspiele an, was wiederum den TI-Leuten nicht reicht.

Die richterliche Entscheidung soll beiden Seiten heute schriftlich zugehen. Gestern fühlen sich alle als Sieger. Die Schauspieler, weil sie glauben, vorerst doch in Lünen weiter arbeiten zu können. Die Stadt, weil sie die nächste Instanz anstrebt, die den Vorgang terminlich bis hinter den Vertragsablauf verschleppen würde.




Neues Theaterfestival mit „Tatort“-Mann Eberhard Feik – und das ganze Dorf Münzenberg hilft mit

Von Bernd Berke

Münzenberg/Hessen. 4600 Einwohner, Ackerbürger-Städtchen. So unaufgeregt hakt das große Meyers-Lexikon den idyllischen Flecken Münzenberg im Wetteraukreis ab. Doch jetzt weht frischer Wind durch die hessische „Provinz“: Der kleine Ort will sein eigenes Theaterfestival „aus dem Landboden stampfen“, wie man dort kernig formuliert.

Gespielt wird ab 14. Juli, dem 200. Jahrestag der Französischen Revolution, in der pittoresken Ruine der 800 Jahre alten Stauferburg am Ort. Als Mitwirkende geben sich gleich einige Prominente die Klinke in die Hand: Eberhard Feik (als „Tatort“-Kommissar Thanner Götz Georges TV-Partner) ist Hauptdarsteller in Jo Straetens großer Festspiel-Inszenierung von Georg Büchners „Dantons Tod“. Beim Eröffnungsfest am 13. Juli treten u. a. Konstantin Wecker und der Jazzer Wolfgang Dauner auf; auch Franz Josef Degenhardt und der bekannte Berliner Schauspieler Hermann Treusch sagten Auftritte zu.

„Danton“-Regisseur Jo Straeten war es, der das Münzenberger Festival ins Leben rief. Vor längerer Zeit mal in Dortmund und Umgebung tätig, war er später Regisseur in Gießen, Stuttgart und Kaiserslautern. Straeten ist Mitgründer des seit dem 19. Februar – Büchners Todestag – bestehenden „Burgtheaters Münzenberg e. V.“ Besonderheit: Dieser Verein finanziert das Festival aus eigener Kraft, mit Sponsorenhilfe – ganz ohne öffentliche Subventionen. Straeten: „Wir haben praktisch die gesamte heimische Wirtschaft eingespannt“.

Geldgeber zu finden war gar nicht übermäßig schwer, denn mit Georg Büchner konnten die Festival-Macher auch engen Regionalbezug geltend machen. Für die Gegend rund um Münzenberg verfaßte Büchner seinen berühmt-aufrührerischen „Hessischen Landboten“ („Friede den Hütten, Krieg den Palästen“).

Das ganze Städtchen half denn auch nach Kräften: Ein Verein stellte seine Reithalle für die „Danton“-Proben zur Verfügung, das Rathaus wurde sogar kurzerhand zum Festival-Büro umfunktioniert. Auf der langen Danksagungsliste des Festivals tauchen sogar „Bauer Kissler“, alle hilfsbereiten Pferdebesitzer des Ortes sowie die „Münzenberger Spargelstecher“ auf. Und das Volk im „Danton“ besteht aus Laienspielern, die mit Feuereifer bei der Sache sind.

So kommt es, daß man nach nur sechs „Danton“-Vorstellungen finanziell aus dem Schneider sein wird. Diese sechs Abende sind schon jetzt beinahe ausverkauft (Kartenanfragen kamen auch bereits aus dem nahen Südwestfalen und dem Ruhrgebiet). Erst danach, also von der siebten bis zur abschließenden sechzehnten Vorstellung am 20. August, bekommen die Schauspieler Geld. Sie werden am Erlös des Kartenverkaufs beteiligt.

Um so erstaunlicher: daß ein Mann wie Eberhard Feik mitmischt, der sicherlich schon mal bessere Gagen gesehen hat. Doch Feik fand es gerade reizvoll, unter ganz anderen als den gewohnten Bedingungen zu arbeiten. Neue Ideen seien halt wichtiger als das Schielen nach Subventionen, befand er – und gab Jo Straeten seine Zusage. Das Hessen-Dorf dankt es ihm. Liebevoll kredenzt man ihm auch jene Vollwertkost, die Feik seit seinem Infarkt braucht.

Jo Straeten denkt derweil – trotz Probenstreß – bereits an die nächsten Jahre. Er plant Festspiel-Inszenierungen von Shakespeares „Macbeth“ und Büchners „Leonce und Lena“, auch Opern sind nicht ausgeschlossen.

Vorstellungen jeweils 20.30 Uhr. Auskünfte: Burgtheater/Rathaus, 6309 Münzenberg (Tel. 06004-512).




„Gespenster“ des verfehlten Lebens – Andrea Breth inszeniert Ibsen in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Henrik Ibsens „Gespenster“ gehen nicht in Leintüchern über den Friedhof, sie geistern durch die Seelen. Verdrängtes oder ungelebtes Leben wirkt aus der Tiefe nach und taucht Gegenwart in Unwirklichkeit.

Transparente Wände aus hauchfeinem Stoff (Bühnenbild: Susanne Raschig) machen die Bochumer Kammerspiele in Andrea Breths Inszenierung zum flirrenden Auftrittsort geisterhafter „Wiedergänger“. Behutsame Lichtwechsel lassen allmählich immer wieder andere Schattierungen hervortreten; zu leisen, fernen, glaszarten Klängen gleitet das Geschehen sanft wie zwischen Traum und Erwachen. Auch die Figuren wirken hier gleichsam durchsichtig, hinter ihrem gründlich falschen Leben scheint momentweise ein anderes auf, das vielleicht glücklicher gewesen wäre.

Ibsens Stück, 1882 uraufgeführt, ist immer noch spannend. Analytischer Seelen-„Krimi“, enthüllt es nach und nach die Vergangenheit der Familie Alving: Der längst verstorbene Vater hat seiner Frau Helene 19 Ehejahre zur Hölle gemacht und – in der Enge der Fjord-Provinz – seine Lebensgier u. a. mit der Haushälterin ausgetobt. Die gebar Regine, in die sich nun Alvings Sohn Osvald verliebt hat, ohne zu wissen, daß sie seine Halbschwester ist. Und: Osvald, der gescheiterte Maler, hat vom Vater eine Hirnparalyse geerbt, die ihn zerfrißt. All dies und mehr kommt nun Gesprächsweise zum Vorschein, die schlimme Wahrheit bricht in Schüben durch.

Andrea Breth und das Ensemble haben ein filigranes Gespinst von Gesten gewoben. Spürbar wird dabei eine große Geduld, ein bis zum letzten Augenblick und in feinste Regungen reichendes Interesse an den Figuren, ihren Beschädigungen und zerstörten Hoffnungen. In gezielt eingesetzten Sprechpausen scheint es, als sickere ein Gift in ihre Beziehungen, deren Stand schon durch Körperhaltungen, Fußstellungen und durch die Sitzpositionen auf einem überlangen Sofa markiert wird. An den Leerstellen ihrer Beziehungen suchen diese Menschen immer wieder Halt bei den Gegenständen; sie führen, ganz selbstvergessen in sich versponnen, stumme Zwiesprache mit Hüten, Taschen, Pflanzen, Gläsern.

Dezent und doch wirksam bereits die Charakterisierung durch Kleidung (Kostüme: Ulrike Obermüller): Helene Alving (Nicole Heesters) etwa, in fahlen Wehmuts-Farben: verblühtes Leben, ausgebleichte Hoffnungen, ein schwacher Rest von Tapferkeit.

Die anderen stehen kaum nach: Rolf Schult als Helenes erzkonservativer, manchmal aber auch liebenswert naiver Jugendfreund Pastor Manders, dessen ganze Gestikn etwas zwanghaft Zurückgehaltenes, Abgezirkeltes und mühsam Beherrschtes hat. Auch Willem Menne als Tischler Engstrand, ungeschlacht und doch wendig wie ein Aal, Sylvester Groth als lebensüberdrüssiger Osvald sowie Andrea Clausen als leichtfertige Regine haben große Anteile an diesem bewegenden Theaterabend.

Ungeheuer verdichtet die Schlußszene: Das Licht im Zuschauerraum geht schon an, auf der Bühne windet sich Osvald in einem Anfall, Helene kämpft mit sich, ob sie ihm mit Morphiumkapseln Erleichterung schaffen soll. Diese Situation wird sehr lange angehalten, ohne in ihrer unentschiedenen Intensität nachzulassen. Atemlose Stille im Publikum.

Als schließlich alle Lichter verlöschen, verschafft sich die Anspannung in zahllosen Bravo-Rufen Luft. Sie gelten sämtlichen Beteiligten.




Langes Ringen um Stückepreis: Knapper Mülheimer Jury-Entscheid für Tankred Dorst mit Pfuirufen quittiert

Von Bernd Berke

Mülheim. Abgekämpft betraten die acht Herren der Jury gegen 0.15 Uhr die Mülheimer Stadthallen-Gaststätte und ließen ihr Urteil hören: Nach sechsstündiger, kontroverser Diskussion hatten sie Tankred Dorst für sein Stück „Korbes“ den Mülheimer Dramatikerpreis 1989 verliehen.

Die unter Zeitdruck unglücklich formulierte Begründung (Dorst behaupte in seinen „holzschnittartigen“ Szenen „das Böse als unveränderbare Macht“) ging beinahe in Pfiffen und „Pfui“-Rufen unter. Fünf zu vier lautete das denkbar knappe Abstimmungsergebnis; die neunte Stimme kam vom Publikum und ging (einmal mehr) an Botho Strauß, für dessen Stück „Besucher“.

Es war eine wirklich schwere Entscheidung. Keines der sechs vorgeführten Stücke drängte sich ohne weiteres auf, wie auch Jury-Mitglied Guido Huonder (Dortmunds Schauspielchef) betonte. Doch mit dem Votum für Dorst kann man, wie ich finde, einverstanden sein. Wie an dieser Stelle bereits beschrieben, ist „Korbes“ ein Passionsstück von irritierender Kraft.

Ästhetizisten mögen Gisela von Wysockis Theater-Analyse „Schauspieler, Tänzer, Sängerin“ vorziehen, doch hier klaffen essayistischer Text und sinnliche Aufführung dermaßen auseinander, daß man den Stückepreis geradezu neu hätte definieren müssen. Dann aber könnte er künftig z. B. auch für Choreographien von Pina Bausch vergeben werden. Gänzlich indiskutabel erschien mir Rainald Goetz‘ spätpubertäres Gezeter namens „Kolik“, ein Pfusch nach Art mancher „Neuer Wilder“ in der Malerei. „Besucher“ von Botho Strauß, den manche ja gern als „unseren besten Boulevard-Autor“ bezeichnen, ist gewiß das unterhaltsamste Stück, verliert sich aber passagenweise allzu sehr in raunender Bedeutsamkeit.

Der kleinste gemeinsame Nenner für Jury und Publikum wäre vielleicht Peter Turrinis Stahlkocher-Stück „Die Minderleister“ gewesen. Dieser Text geht am entschiedensten auf die uns umgebende Wirklichkeit – die nicht unbedingt Wahrheit bedeuten muß – ein. Freilich steigert Turrini die Realität bis ins Kabarettistische oder überblendet sie mit Schockbildern aus dem Trivialbereich. Alfred Kirchners Burgtheater-Inszenierung und den Darstellern ist es zu danken, daß Turrinis Einläßlichkeit auf Sichtweisen von Horror- und Porno-Videos nicht in bloße Pein abgleitet. Überdies hat der Text einige Längen und – mit dem Werksbibliothekar „Shakespeare“ – eine im Grunde verzichtbare Figur, die das Ganze offenbar doch noch künstlich in literarische Höhen hieven sollte.

Mit einer Entscheidung für Thomas Braschs „Frauen — Krieg — Lustspiel“, das bis zuletzt in der Jury-Diskussion war, hätte man auch leben können. Der pazifistische, aber keineswegs flach-propagandistische Text, in Mülheim am Schlußtag von „stücke ’89“ in George Taboris Wiener Inszenierung (wunderbar in den Hauptrollen: Angelica Domröse, Ursula Höpfner) gezeigt, ist schon von der Struktur her friedlich. Er steuert weder linear auf sein Thema zu noch ist er von einem beherrschenden Sinnzentrum aus organisiert, sondern sammelt Bruchstücke über die Opferrolle von Frauen im Krieg, über die Dialektik von Liebe im Krieg und Krieg in der Liebe, gleichsam spielerisch „am Wegesrand“ ein. Brasch ist vielleicht unterwegs zu einer zukunftsweisenden Dramaturgie, löst dieses Versprechen aber noch nicht ein. Ein Endlos-Monolog im zweiten Teil grenzt an Schauspieler-Quälerei.

Insgesamt fiel bei „stücke ’89“ ein Übergewicht an stationenartig gereihten Passionen und an Texten auf, die auf das Theater selbst bezogen sind. Und: Keines der Stücke wirkt so robust und widerständig, daß es auch nur mittelmäßige Inszenierungen ertrüge.




Das Theater zertrümmert sich selbst – Drei Stücke beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb

Von Bernd Berke

Mülheim. Da kann man nicht hadern: Die bisherigen vier Inszenierungen beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb waren durchweg hochklassig. Doch die Texte , um die es hier ja geht, sind von recht unterschiedlicher Qualität. Nach dem Auftakt mit Botho Strauß‘ „Besucher“ (die WR berichtete) waren jetzt Stücke von Tankred Dorst, Rainald Goetz und Gisela von Wysocki zu sehen.

Passionsspiel zwischen Bibel, Kroetz und Beckett: Tankred Dorsts „Korbes“ ragt wie ein einsamer Findling in die Stücke-Landschaft. Der Text überspringt kühn die Zeiten: Ein zylindrisches Halbrund, mit kargem Stubenmobiliar schief in ein steinzeithaftes (und apokalyptisches) Bühnen-Universum gestellt, ist passender Spielort der Aufführung des Münchner Residenztheaters (Regie: Jaroslav Chundela).

„Korbes“ (großartig: Wolfgang Hinze) ist ein gottloser Hiob in einer gottverlassenen Welt. Das Stationenstück seiner Leiden wird – Kontrast wie von einem anderen Stern – immer wieder unterbrochen durch Passagen aus Händels „Brockes-Passion“. Doch der „Kreuzweg“ ist alles andere als fromm. Seine soeben gestorbene Frau liegt noch schauerlich verrenkt auf dem Bett, da bespringt Korbes schon die Nachbarin. Erschütternd dann die Szene, in der er merkt, daß er über Nacht erblindet ist. Fortan wird er verlacht und bestohlen, und am Ende kehrt seine als Kind von ihm gequälte Tochter zurück, um eine innige Symbiose aus Pflegedienst und Rache mit ihm einzugehen. Leiden zufügen und selbst leiden werden eins, ballen sich höllisch zusammen. Händels Passion. Trostversuch der Kunst und der Religion zugleich, verhallt da ungehört.

Irritierend, wie das Böse in diesem Stück „einfach da“ ist, ohne jede Erklärung – ganz wie im titelgebenden, rätselhaften Grimm-Märchen über den Herrn Korbes, der von Gegenständen und Tieren zu Tode gepiesackt wird. Dorsts Stück entfaltet in theaterwirksamen Szenen beinahe alttestamentarische Kraft.

Kraftvoll gebärdet sich auch Rainald Goetz mit seinem Einpersonenstück „Kolik“. Doch hier ist es eher kraftgenialisehe Attitüde, die sich in einen Wortschwall sondergleichen ergießt. Die gleichwohl achtbare Bonner Inszenierung (Regie: Peter Eschberg) beginnt mit einem Countdown, dann zischt die Sprachrakete ab. Geleitet von einer Art Wahn- und Zwangssysstem, das er mit siebzehn auf die Tafei geschriebenen Worten markiert, legt der „Mann“ (Giovanni Früh) los, vom Geburtsschrei bis zum Todesröcheln: Er doziert vom Katheder herunter, salbadert, sondert allgemeinsten, zuweilen pubertären Weltschmerz ab und (einzige Regieanweisung) „trinkt“ wie ein Loch. Seine Sätze schwellen an und krampfen sich zusammen: Kolik der Sprache und des Hirns. Ein sehr „deutsches“ Stück, unerbittlich-expressives Trümmerfeld aus Worten. Goetz schlägt wahllos um sich – und trifft doch selten. Wie vermißt man da den Strudel von Thomas Bernhards langsam, aber stetig anbrandenden Haß-Tiraden.

In Gisela von Wysockis „Schauspieler, Tänzer, Sängerin“ (gezeigt vom Schauspiel Frankfurt) zerschmettert das Theater seine Mittel nicht, sondern seziert Techniken und Obsessionen der genannten Bühnenberufe gleichsam bei lebendigem Leibe; ein höchst artifizieller und intellektueller Vorgang. Die Textvorlage enthält essayistische Einsprengsel und einen Fußnoten-Apparat. Regisseur Axel Manthey setzt sich darüber hinweg und macht faszinierend sinnliches, subtile Kraftlinien nachzeichnendes Bilder- und Körpertheater. Frappant die Körperbeherrschung des Tänzers (Stephen Galloway), von genialer „Naivität“ Ulrich Wildgruber als tapsiger Schauspieler. Dieser König der Nuschler, der die Theatermittel eben nicht wie aus dem Bilderbuch beherrscht, kann sie desto befremdlicher ausstellen. Ein interessantes Experiment, doch wohl kein „Stück des Jahres“.




Theaterprobe als Modell eines flüchtigen Lebens – „Besucher“ von Botho Strauß eröffnet Mülheimer Stücketage

Von Bernd Berke

Mülheim. Frenetisch bejubelter Auftakt der Mülheimer Theatertage „Stücke 89″: Der Dramatiker-Wettbewerb begann mit „Besucher“ von Botho Strauß. Dieser Text wandelt kreuz und quer durch alle Ebenen von (Un-)Wirklichkeit und verwendet kunstvoll die Probensituation des Theaters als Modell des vorläufigen, flüchtigen und austauschbaren Lebens.

Leben spiegelt das Theater, Theater das Leben. Schauspieler stehen plötzlich sogar als Theaterbesucher auf der Bühne, und wir geraten immer tiefer in das verschachtelte Spiegelkabinett eines Stücks im Stück im Stück…

Die Proben für einen Gentechnik-Schocker werden beherrscht von „Karl Joseph“, einem berühmten Mimen alten Schlages. Es wird nie ganz gewiß, ob er ein spieltechnischer Virtuose ist oder doch nur ein Deklamations-Scharlatan, der sich vor den Zumutungen des Lebens großmäulig in alte Bühnen-Anekdoten rettet. Heinz Bennent spielt seine ganze Bühnenerfahrung mit, er hält – wahres Wunder an Präsenz – diese herrliche Rolle (unbestreitbare Stärke auch des Textes) bis zum Schluß offen.

Seine Mit- und Gegenspieler: Cornelia Froboess als nymphomane Tierschützerin, die man nach langen Jahren wieder zum Theater geholt hat, und Axel Milberg als junger Bühnenanfänger; er stammt aus der DDR, scheint aber aus der gesamten Wirklichkeit „ausgebürgert“. Auf den Stationen seines Einsamkeits-Weges kommen traumartige Passagen ins Spiel. Sie verleihen dem Stück leider einen Zug ins Ungefähre, ins bloß noch Geraunte. In Dieter Doms Inszenierung (Kammerspiele München) ergibt das einen scharfen Kontrast zu Szenen, die auch handfesten Klamauk nicht scheuen: „Joseph“ (Bennent) hat Dauerprobleme mit seinem Gebiß und vollführt auch schon mal einen Handstand.

*

Zur Eröffnung der „stücke ’89“ hat NRW-Kultusminister Schwier eine Rückbesinnung des Theaters auf seine wesentlichen Elemente gefordert. Theater werde nicht allein für Rezensenten veranstaltet, um den „Marktwerkt des jeweiligen Intendanten zu steigern“. Abwerbeverhandlungen sollten der Fußball-Bundesliga vorbehalten bleiben. Sie dienten der Qualitätssteigerui des Theaters nicht.




Es siegt die Liebe zur Macht – Kotzebue-Stück „Der weibliche Jacobiner-Club“ bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

August von Kotzebues „Der weibliche Jacobiner-Club“ ist, auf Ehre, ein erzreaktionäres Stück. Der Vielschreiber sah in der Französisehen Revolution von 1789 wohl nur eine pöbelhafte Störung der öffentlichen Ordnung. Das verdient, als bornierte deutsche „Antwort“ auf die Vorgange jenseits des Rheins, bestenfalls historisches Interesse.

Kotzebue projiziert seine Ängste ins Familiäre: Bei den Duports hängt der Segen schief. Töchterlein liebt Adligen, Vater ist angetan, Mutter – als glühende Anhängerin der Republik – hingegen gar nicht. Ihr „weiblicher Jacobiner-Club“ ist ein Hühnerhaufen und kräht Parolen, weil’s Mode ist. Eine Intrige des Dienstmädchens verhilft (so Kotzebue) der „Macht der Liebe“ zum Sieg. Doch eigentlich hat die Liebe zur Macht gewonnen.

Diesen Schmarren kann man nur noch schrill denunzieren. Michael Baumgarten/Horst Schäfer (Regie) tun das in ihrer Ruhrfestspiel-Inszenierung auch. Wacklige Pappmaché-Bühne, grotesk überdrehte Spielweise. Zudem wird das Ganze als Aufführung für Kaiser Joseph II. 1791 in Prag deklariert. Eben die hat es, bezeichnend genug, damals tatäachlich gegeben. Doch derlei Distanzierung und eine machtvolle Sexualattacke auf die Jacobinerinnen am Schluß helfen wenig. Man muß doch Kotzebue folgen, der den Männern den „Vemunft“-Part zuweist.

Helmut Löwentraut-Motschull als tumber Diener ragt heraus, Ingeborg Wolf als Madame Duport darf nach Herzenslust chargieren, Claus Iffländer gibt den Monarchisten Duport noch zu würdevoll.




Über die Revolte wird nur geredet – Roland Gall inszeniert Hauptmanns „Weber“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Unter der gebieterischen Titelzeile „Schluß jetzt mit Hauptmann?“ bezeichnete der Kritiker Peter Iden („Frankfurter Rundschau“) 1987 die Beschäftigung unserer Bühnen mit Gerhart Hauptmanns Dramen als überflüssig. Das sei „totes Theater“, ganz von gestern.

Nun gibt es immer mal wieder Sternstunden, in denen angeblich „unspielbare“ Stücke sich als überraschend spielbar erweisen. Eine solche Sternstunde wurde Wuppertal, wo Roland Gall (1980-84 Dortmunder Oberspielleiter) Hauptmanns „Die Weber“ in Szene setzte, allerdings nicht zuteil.

Die Bühne (Frank Chamier) ist naturalistisch gestaltet, die Dinge bedeuten nur sich selbst: Szenen wie Genre-BiIder, insgesamt zu harmlos. Auch eine Symbolik der Art, daß die Fabrikantenwohnung sich als Luxus-Gehäuse über einer Weberhütte befindet, ist gar zu offensichtlich.

Zudem wird das Elend der schlesischen Weber von 1844 durch die Kostüme (Angelika Uhlenbruch) eher behauptet als im Spiel beglaubigt. Es kommt zu keiner – womöglich erhellenden – Neu-Begegnung mit dem Text, der Zugriff durchdringt das Stück nicht. Kaum wird deutlich, warum man sich gerade für diesen Text interessiert hat.

Gespielt wird in Wuppertal nicht Hauptmanns dialektdurchsetzter Text von 1892, sondern eine hochdeutsche Neubearbeitung von Karl Otto Mühl. Das bedeutet einen Zugewinn an Verständlichkeit, poetisch aber einen Verlust. Man vermißt nicht nur berühmte Seufzer à la „Nu ja ja – nu nee nee!“, sondern vor allern die soziale Differenzierung nach Sprach-Schichten: Je näher einer den Herrschenden steht, desto eher versucht er sich in der Hochsprache. Hier aber redet der Weber fast so wie seine Ausbeuter.

Ein paar Eingriffe hat Roland Gall gewagt: Er verzichtet praktisch ganz auf Massenszenen, ersetzt sie durch skandierte, mit Trommelmusik (Heinrich Huber) untermalte Rebellions-Rufe vom Band – Revolte aus der Konserve? Auch als die Weber ins Haus des Fabrikanten Dreißiger eindringen, schlagen sie nicht etwa alles kurz und klein, sondern erstarren zum Gruppen-Tableau. Somit laufen all die vielen Reden, die rund um die Rebellion geführt werden, ins Leere, beziehen sich auf keine konkrete Tat, nähern sich einern bloßen Revolutions-Geschwätz. Der Aufstand wird nur noch herbeigeredet, nicht wirklich vollführt. Auch auf der Gegenseite steht keine echte Macht: Hans Christian Seeger als Fabrikant Dreißiger ist nur ein Schmalspur-Herrscher und führt eine Ideologie im Munde, an die er wohl selbst nicht mehr glaubt.

Ein Großteil des Ensembles, viele in Mehrfach-Rollen, wirkt mit. Die Leistungen reichen vom gelegentlichen Chargieren über ordentliche „Ablieferung“ der Rolle bis hin zur „Erledigung“ (letzteres im Doppelsinn). Einige schöne Gestaltungen ragen aber doch heraus, zumal in Nebenrollen: Besonders Josef Ostendorf (Reisender, Chirurg) und Karin Neuhäuser (als debiler Webersohn August Baumert), der es für einige Momente gelingt, dem Geschehen einen geradezu idiotischen Schrecken zu verleihen. Auch Dietmar Bär als brutaler Revolten-Karrierist Moritz Jäger und Bernd Kuschmann als Lumpensammler Horig machen ihre Sache recht gut. Horst Fassel (Weber Baumert) und Günther Delarue (Hilse) agieren solide, wie man es von bewährten Stutzen des Ensembles erwartet.

Herzlicher Beifall für die Schauspieler, ein paar zaghafte Buhs für die Regie.




Beschwerlicher Aufstieg im Gebirge der Sprache – Wolf Redl inszeniert Ernst Barlachs Drama „Der Tote Tag“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. „Ich war geringer als ein Gott – und als der Gott vor dem Weibe stand – da war meine Menschlichkeit schuld, daß sie des Gottes wurde.“ – Das ist keine Sprache, die zur Theaterwirksamkeit drängt. Der gewundene Satz ist nicht untypisch für Ernst Barlachs Stück „Der Tote Tag“.

Bochums Theater riskiert eine Aufführung des Sprachgebirges, die erste an einer größeren Bühne seit vielen Jahren. Vielleicht sind solche Wagnisse ja dem Reiz vergleichbar, einen selten bezwungenen Achttausender zu besteigen. Doch die Luft da oben ist dünn.

Das Figureninventar wurzeit in Mythen und vorzeitlichen Archetypen: Mutter und Sohn; Vater als blinder „Seher“, Alb (Verkörperung der Alpträume), Pferd, Gnom („,Steißbart“), Hausgeist mit Wischer-Füßen („Besenbein“). Kern-Geschichte: Die erdhafte Mutter hält den Sohn im finsteren Haus zurück; der Vater – ferne Licht- und Göttergestalt – schickt ein Roß, mit dem der Sohn in die helle Freiheit des Geistes reiten soll, doch die Mutter ersticht das Tier und setzt es dem Sohn als Braten vor. Bevor der nun anbrechende „tote Tag“ zum endlosen Schuld-Martyrium wird, gesteht die Mutter die Tat und erdolcht sich. Der Sohn folgt ihr nach.

Barlach entwarf die Urform des Stücks, als er um das Sorgerecht für einen unehelichen Sohn stritt. Schicht um Schicht hat er über dem Vorgang eine Privat-Mythologie angehäuft; mit Anleihen aus Antike, nordischem Mythos, wohl auch aus christlicher Religion – und doch ganz „eigen“. Naiv-gottsucherische „Kinderfragen“ wechseln mit philosophischen wie sprachlichen Kraftakten. Passagenweise hat das düstere Macht, doch dann wieder schleppt es sich dahin, wirkt verquast und verzwirbelt.

Schattengestalten führen Gespenster-Gespräche

Schwer lastende, riesige Balken durchstreben die Bochumer Kammerspiel-Bühne, Dunkel und Dämmer umhüllen die Figuren, nur eine Tür führt ins Freie. Es ist wie im Innern der Erde oder wie in Platos Höhlengleichnis: Als sähen die Menschen nur die Schatten der Dinge, als seien sie selber Schattengestalten, die Genspenster-Gespräche führen.

Regisseur und Bühnenbildner Wolf Redl hat, sich offenbar an Barlachs Lithographien zu dem Stück orientierend, die Szene karg gelassen; von Akt zu Akt verschieben sich Balken und Treppen, verzieht sich die Perspektive – ein ins Irreale weisender Raum, passend für ein Denk- und Kopfdrama wie dieses. Redl läßt karg, tastend und behutsam, dabei wunderbar detailsicher und formbewußt in der Personenführung spielen. Dem Text werden keine Deutungen aufgepfropft, vor allem keine Verweise auf inzestuös-sexuelle Nebenbedeutungen.

Dennoch wird das Stück dem Theater nicht triumphal zurückgewonnen, man arbeitet sich an ihm ab. Von diesem Text können sich die Schauspieler nicht „tragen“ lassen, sie müssen gleichsam gegen ihn anspielen. Sie tun es mit allem Bemühen, suchen auch – mit wechselndem Erfolg – den Text zu gliedern, ihn überhaupt sprechfähig zu machen.

Hildegard Kuhlenberg (Mutter) verleiht ihrer Figur überdies eine interessante Brüchigkeit, sie verkörpert keine reine Furie oder Megäre, sondern spielt menschliche Not und Angst vor Einsamkeit immer mit. Ivo Dolder (Sohn), ansonsten passabel, neigt gelegentlich zum Nuscheln. Großartig Oliver Nägele (Alb), der auch mit dem Text am besten zurechtkommt.

Beflissener Beifall, in den sich zur Premiere weder Buhs noch Bravos mengten.




Der dumpfe Untergrund bürgerlicher Spießigkeit – Kotzebues „Die deutschen Kleinstädter“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Goethe, in Weimar auch Theaterdirektor, wußte, warum er mehr Stücke von August von Kotzebue als etwa von Schiller spielen ließ. Weil, so befand Goethe, Kotzebue uns Mittel „in die Hand gegeben hat, die Zuschauer zu unterhalten und der Kasse zu nutzen“.

Das Kassen-Argument wird auch in Wuppertal eine Rolle gespielt haben. Dies ist legitim, aber ist es auch hinreichend, um Kotzebue (1761-1819) heute noch mit Zipfelmützen und Schlafröcken zu spielen, ganz so, als müsse es uns lediglich um „Die deutschen Kleinstädter“ (Stücktitel) von Anno 1800 gehen?

Titelsucht, Prinzipienreiterei, Engstirnigkeit, Kleinigkeitskrämerei, lachhafter (Lokal)-Patriotismus und eine „christliche“ Moral, die man festtags wie eine Monstranz vor sich herträgt, während man alltags als Prozeßhansel um Nichtigkeiten streitet – das alles ist das sprichwörtlich gewordene Städtchen Krähwinkel. Durch Ehrsucht und ein paar schlichte Mißverständnisse halten die Kleinstädter den angereisten Olmers für ein ganz hohes Tier, sie hofieren ihn aufs Unterwürfigste. Zwischendurch wird er als vermeintlich titelloser Scharlatan „entlarvt“; allerdings: man weiß dann doch nicht so recht. Schließlich besitzt er das Empfehlungsschreiben eines Ministers.

Aus all dieser Unentschiedenheit und weil Olmers eigentlich gekommen ist, um die Tochter des Krähwinkler Bürgermeisters zu heiraten, um sie auch so vor einer Zwangsehe mit dem „Riesenbaby“ Sperling zu bewahren, bezieht das routiniert gebaute Lustspiel noch heute wirksame Komik – und da bleibt das Wuppertaler Ensemble vor allem vor der Pause auch kaum etwas schuldig.

Jeder, allen voran Dietmar Bär (Sperling), Gerd Mayen (Bürgermeister) und Rena Liebehow (Großmutter), hat da seine fulminanten Momente. Nur gelegentlich gibt es (Regie: Johannes Klaus) noch kleine Tempoprobleme, „Durchhänger“, Leerstellen. Im komischen Detail und in überlegten Gruppierungen der Schauspieler hat die Aufführung ihre Stärken. Insgesamt aber bleibt sie bieder und kleinmütig, was wohl auch daran liegt, daß Markus Hoffmann (Olmers) zu brav agiert. Sonst nämlich hätte man womöglich die Umstände seiner Eheschließung, die er sich schließlich auch durch Anpassung an die Krähwinkelei erkauft, boshafter hervorheben können.

Kotzebue, 1819 aus politisehen Motiven von dem Studenten Sand ermordet (was eine Art „deutschen Herbst“ nach sich zog), hat an einigen Stellen hellsichtig den dumpfen Untergrund der Spießigkeit und ihren Zwangscharakter erfaßt. Wenn da etwa Krähwinkels Hauptweg „eine anmutige Promenade bis hin zum Galgen“ genannt wird, legt dies eine unbequeme Schärfe nahe, die man in Wuppertal vermißt.

Schon das Bühnenbild (Birgitta Weiss) ließ freilich ahnen, daß man dem Stück nicht biestig zuleibe rücken wollte: ein Podest, mit hellgelbem Stoff ausgeschlagen wie ein heimeliges Körbchen; nur ein paar Schadstellen in der Tapete deuteten vorsichtig auf Risse in der Gemütlichkeit.




Ein Mann spielt um sein Leben – Tankred Dorsts „Ich, Feuerbach“ am WLT

Von Bernd Berke

Schäbige Theaterwelt: Wie Gemmpel türmen sich die Requisiten, alles wirkt wie „von gestern“, als sei die Farbe abgeblättert. Aus Schweigen und Finsternis – wie am ersten Schöpfungstag – taucht einer auf, der hierher paßt: schlecht sitzender Anzug, abgetragene Schuhe, loser Schlips — eine leicht „verrutschte“ Figur, umgeben von einem Hauch der Verwahrlosung.

Der Mann heißt Feuerbach, ist Schauspieler und zum Vorsprechen geladen. Doch der Regisseur, ein gewisser Lettau, läßt – fast wie Becketts „Godot“ – auf sich warten, nur sein Assistent ist da. Daraus entwickelt sich in Tankred Dorsts Stück „Ich, Feuerbach“, das jetzt im Studio des Westfälischen Landestheaters (WLT) Premiere hatte, ein Quasi-Monolog.

Feuerbach spielt – zwei Stunden ohne Pause – um sein Leben. Sogar vor dem Assistenten, den er eigentlich verachtet, versucht er, sein ganzes Rollen-Register abzuspulen; doch es sind nur noch Rollensplitter, die Wahrheit seines verpfuschten Lebens bricht immer wieder durch. „Feuerbach“ war, wie sich schließlich herausstellt, einige Jahre in einer Heilanstalt; den Anschluß an das Theater, an die dort erforderliche Kunst-Disziplin, sucht er mit wachsender Verzweiflung.

Regisseur Manfred Repp setzt kräftige Kontraste. Offenbar um den Anschein zu verstärken, „Feuerbachs“ Wahn könne entstelltes Anzeichen von Genialität sein, bleiben der Regie-Assistent (Peter Dobrowolski), „Frau Angermeier“ (Gabriela Leinitzer) sowie zwei mürrische Bühnenarbeiter geheimnislose Karikaturen, nur durch wenige „Running Gags“ gekennzeichnet: Der Assistent, amusisch wie eine Mohrrübe, kratzt sich beständig dummlich-obszön zwischen den Beinen, „Frau Angermeier“ nestelt ebenso hartnäckig an ihrem Halstuch.

Schwierig die Titelrolle: Sie verführt zu lauter Bravourstückchen, doch der Darsteller muß sein eventuelles Virtuosentum zügeln, gilt es doch, einen Schauspieler zu zeigen, von dem man eben nie eindeutig wissen darf, ob das Flackern zwischen Hochmut und Depression womöglich auf Genie hindeutet. Feuerbach-Darsteller Norbert A. Muzzulini gelingt die Gratwanderung über weite Strekken überzeugend, nur gelegentlich verfällt auch er zu sehr in Extreme: Schreie und Flüstern. Das mindert die subtile Spannung des Stücks.




Köln: Asbest sorgt für Theaterchaos – auch Revierbühnen betroffen?

Von Bernd Berke

Köln. Die Schließung des Kölner Schauspielhauses wegen Asbestgefahr (die WR berichtete) droht sich für die Theaterleute der Domstadt zur Katastrophe auszuweiten. Wie Schauspieldirektor Alexander von Maravic der Rundschau gestern auf Anfrage sagte, ist zu befürchten, daß das Haus für den Rest der Saison, also bis Juni/Juli 1989, nicht mehr bespielbar sein wird.

Derzeit, so Maravic, führe man fieberhaft Verhandlungen um Ersatzspielstätten. In Frage kämen – wenn auch durch deren Eigenprogramme eng begrenzt – z. B. Oper, Philharmonie und Musikhochschule. Wahrscheinlicher aber ist die Notlösung, daß vor dem Schauspielhaus wieder jenes Theaterzelt aufgeschlagen wird, das während der Intendanz von Jürgen Flimm im Jahr 1980 schon einmal als Ausweichquartier diente.

Auf jeden Fall drohen auf Dauer große Einnahmeverluste, denn das Zelt faßt nur rund 300 Besucher, während das Schauspielhaus 918 Plätze bietet. Auch die Spielstätte „Schlosserei“, die weiterhin zur Verfügung steht, ist erheblich kleiner als das angestammte Haus. Maravic zum befürchteten Finanzdebakel: „Das muß die Stadt ausgleichen.“

Fatal sei die Situation auch für die Schauspieler. 1990 wird Günter Kremer den jetzigen Intendant Klaus Pierwoß ablösen. Schauspieler, die dann an andere Bühnen wechseln wollen, haben bis dahin wohl nicht die erwünschte Möglichkeit, neue Arbeitgeber auf sich aufmerksam zu machen. Maravic gibt sich dennoch optimistisch: „Wir spielen weiter. Vielleicht gibt uns der Zwang zur Improvisation sogar neue kreative Kraft.“

Die Asbest-Partikel-Konzentration von 700 mg pro Kubikmeter Luft war vom TÜV im Zuschauerraum des Kölner Stadttheaters gemessen worden. Gelöste Asbest-Partikel schweben stundenlang durch den Raum und setzen sich z. B. im Theatervorhang und in Teppichböden fest.

Maravic glaubt übrigens, daß Asbest in Theaterbauten nicht nur ein Kölner oder Münchner Problem ist (an der Isar waren kürzlich die Staatstheater geschlossen worden): „Auch im Ruhrgebiet könnte da einiges bevorstehen“.




Geisterhafte Szenen aus der russischen Provinz – Christof Nel inszeniert Tschechows „Onkel Wanja“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Immer mal wieder bewegt sich die Drehbühne ein wenig; erst nach links, dann – vielleicht eine halbe Stunde später – rechts herum. Da spüren wir: Die Zeit vergeht, aber nicht richtig. Sie windet sich in sich selbst zurück, ausweglos.

Eine spiegelnde, nur schemenhaft durchsichtige Wand (Bühnenbild: Susanne Raschig) dreht sich mit, gibt der Szenerie ein doppelbödiges Geheimnis. Christof Nel hat in Bochum „Onkel Wanja“ inszeniert, Anton Tschechows Stuck mit dem so traulich klingenden Titel, das aber schonungslos vom Lebensüberdruß russischer Provinzler kündet.

Wanja und seine Nichte Sonja haben lange Jahre auf dem Landgut geschuftet und die Gewinne an Wanjas Schwager, Professor Serebrjakov, abgeführt, einen hypochondrischen Scharlatan, wie Wanja schließlich erkennen muß. Auch das Leben der anderen ist gründlich verpfuscht: Sonja liebt den Landarzt Astrov – vergebens, denn der wendet sich Serebrjakovs zweiter Frau Jelena zu, die wiederum (obgleich mit ihrem greisenhaften Gatten sterbensunglücklich) dem Werben nicht nachgibt. Es geschieht einfach nichts; Selbst die Schüsse, die Wanja auf den Professor abfeuert, verfehlen ihr Ziel.

Vergeblichkeit und Versäumnis grundieren da letztlich jedes Wort. Die Zeit zum wirklichen Leben ist für Tschechows Figuren abgelaufen, ihre Sehnsüchte verblühen, verwelken, gehen ins Leere. Es liegt leider nahe, daß man diese Leere – statt sie in empfindlicher, dann doch auch einmal leichtfüßiger und spannender Schwebe zu halten – auf der Bühne direkt wiedergibt, daß man sich sozusagen tief in die vielen Text-„Löcher“, sprich Redepausen, fallen läßt. Das hat man in Bochum getan. Bereits die Abstände zwischen den Personen auf der Bühne (nur deren Maße begrenzen die Distanz) markieren innere Entfernung voneinander, jeder steht „auf seinem eigenen Planeten“.

Zudem ist dies eine Inszenierung der stockenden Schritte, Gesten und Worte. Jede Bewegung kann gleich wieder zurückgenommen werden. Vielfach werden Widerspüche Personen zu „wörtlich“ in Körpersprache übersetzt. Das Hin und Her entspricht den Bühnendrehungen und dem Schwingen des Requisits Kinderschaukel.

Jedenfalls entsteht kein dichtes Beziehungs-Geflecht zwischen den Personen, die denn oft auch gar nicht, monofogisch oder beiläufig unbeteiiigt aufeinander reagieren. Sie hören mehr auf innere Stimmen als auf die anderen; das gibt den Szenen zuweilen etwas Geisterhaftes, nach Art einer Séance. Weniger lebendige Menschen begegnen uns da, die uns dauerhaft interessieren könnten, als erkünstelte und erklügelte Figuren.

Gut, daß manche Schauspieler sich darüber hinwegsetzen, allen voran Tana Schanzara als alte Kinderfrau Njanja, die die endlosen Reden der anderen begütigend wie Kindereien kommentiert. Auch Jochen Tovote als pockennarbiger Telegin vermag seiner Figur den Umriß eines erahnbaren Schicksals zu verleihen. Peter Roggisch als Wanja scheint manchmal aus einem anderen Stück zu stammen, seine Tiraden wirken, als stammten sie von Thomas Bernhard.

Die jungen Frauen (Angela Buddecke als Jelena; die für die als häßlich gedachte Sonja zu hübsche Annelore Sarbach) haben es am schwersten, sie sind offenbar enger in das Konzept eingespannt. Schön aber der Anblick im zweiten Akt, wenn sie beide vor ein in die Szenerie gekipptes, tiefblaues Flächengebilde treten und wie in eine andere Dimension entrückt erscheïnen. – Beifall gab’s für die Darsteller, teilweise zornige Buhs für die Regie.




Theaterbüro vertritt nun die freien Gruppen – Neue Einrichtung in Herne hofft auf Landesgelder

Von Bernd Berke

Herne. Ein Magier aus der freien Theaterszene ließ sich von Dr. Eugen Gerritz (SPD-Mitglied des NRW-Kulturausschusses) einen Zehnmarkschein aushändigen. Das gute Stück verschwand unter einem Tuch und kam in einer Apfelsine wieder zum Vorschein. Der Auftritt hatte Symbolwert: So frei möchten die Theatermacher gern über Landesgelder verfügen, doch da sind die knappen Kassen vor.

So war man gestern schon heilfroh, als man in Herne ein Büro eröffnen konnte, das die Interessen der professionellen freien Gruppen in NRW wirksam vertreten soll. Besagter Finanz-Zauber war Beiwerk zum „Gründungsakt“.

Schon 50 von rund 100 freien Theatergruppen in NRW sind Mitglieder in der „Kooperative professioneller freier Theater“, die seit 1984 besteht und nun das genannte Büro in der Castroper Straße 184 (Herne-Börnig/Tel.: 02323/32379) betreibt. Die Stadt Herne unterstützte das Büro zweimal mit 6800 DM. Pro Mitgliedstruppe kassiert die Kooperative außerdem 250 DM Jahresbeitrag – ein schmales Polster, denn davon werden u. a. Kataloge über freie Produktionen bestritten. Auch das zweimal in Dortmund veranstaltete und für 1989 erneut angesagte Festival „Theaterzwang“ ist ein Werk der Kooperative.

Zukunftspläne, die das Büro vorantreiben soll: eine „Theaterbörse“ in Herne, eine Kabarett-Reihe in den dortigen Flottmann-Hallen – und die große „Fouché“-Produktion mit Willi Thomczyks Herner „Theater Kohlenpott“ zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution. Solche Projekte und die Beratung der Mitglieder erfordern so viel Arbeit, daß man die Bürostelle von Jörg Berger, die zunächst als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme läuft, möglichst bald in eine Festanstellung umgewandelt und durch eine Pädagogenstelle ergänzt wissen möchte. Erst dann, so Gerd Bührig von der „Kooperative“, könne die Einrichtung wirklich zum Forum werden und sich auch in die NRW-Kulturpolitik einmischen. Vorbilder sind bestehende Büros anderer Sparten: das Rockbüro (Wuppertal), das Filmbüro (Mülheim), die Literaturbüros in Unna, Gladbeck, Düsseldorf.

Dr. Eugen Gerritz, als Vertreter des Landtags-Kulturausschusses zur Eröffnung geeilt, stellte eine faire Überprüfung der Effektivität dieses Büros in Aussicht. Er sehe gute Chancen, daß ab 1991 Landesmittel fließen. Bis dahin müsse man noch von einem „platonischen Verhältnis“ des Landes zum Büro sprechen.

An Eros dachte auch Gerd Bührer: „Ohne Subventiônen bleibt das freie Theater wie ein Liebesbrief ohne Briefmarke.“ Viele gute Ansätze seien aus Geldmangel „gestorben“, existierende Gruppen hielten sich meist durch „Selbstausbeutung“ über Wasser. Freie Produktionen mit kurzfristig zusammengekauften Crews seien ein Greuel. Wenn sich keine festen Ensembles bilden könnten, komme es zur „Dequalifizierung“.

Eugen Gerritz hingegen überraschte mit seiner Warnung an die freien Gruppen, sich allzusehr zu etablieren: „Suchen Sie sich keine festen Spielstätten. Tingeln Sie lieber!“ Seine Hoffnung: Die „Freien“ sollen die Stadttheater beflügeln.

Der Gesprächston zwischen freien Theatermachem und Politikem war übrigens sehr höflich. Man weiß; was man aneinander hat. Vom Land wird „Staatsknete“ erwartet, von den Schauspielern, daß sie gegen Ödnis in den Städten anspielen




Manege frei für die blutige Geschichte der Deutschen – Frank-Patrick Steckel inszeniert in Bochum Heiner Müllers „Germania Tod in Berlin“

Von Bernd Berke

Bochum. Heiner Müllers fragmenthafte Szenen-Collagen wie „Germania Tod in Berlin“ sind große Herausforderungen an das Theater: Jede Szene hat ihren speziellen Charakter und muß, soll sie ihre Kraft entfalten, mit je besonderen Mitteln auf die Bühne gebracht werden. Da wird denn rasch deutlich, wie groß die Ideenfülle eines Regisseurs ist und wieviel Phantasie er wirksam freisetzen kann.

In Bochum, wo am Samstag mit dem „Germania“-Stück die Schauspielsaison recht verheißungsvoll eröffnet wurde, zeigte sich, daß Frank-Patrick Steckel in dieser Hinsicht aus dem Vollen schöpft. Mittel des Straßen- und Clownstheaters setzt er ebenso ein wie Formen der Pantomime und des Tanzes (Choreographie: Gerhard Bohner).

Zu Beginn eine Toncollage (Ronald Steckel): Marschtritte und der verzerrte „Heil“-Schrei einer ekstatischen Masse. Ein knallroter Vorhang (Bühnenbild: Johannes Schütz), auf dem Tuch die verblassenden Worte des Kommunistischen Manifestes von Karl Marx, am unteren Ende gar nicht mehr lesbar, ungültig sozusagen. Der Vorhang spannt sich um einen halbrunden Platz mit Sand. Manege frei für die blutige deutsche Geschichte.

Der Tod (Agnès Moyses) ist ein machtvoller Magier: Seine weißen Handschuhe leuchten aus der Vorhangspalte hervor, dann schwingt er die Sense zu seinem Tanz um einen abgerissenen Arm, dessen Hand sich noch um ein Gewehr krampft. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Wie in einem schlechten Endlos-Witz betritt er auch später immer wieder auf die Bühne, wortlos die Ernte des deutschen Elends einbringend.

Dieses im allfälligen Kriegswahn gipfelnde Elend, das sich – Heiner Müller zufolge – fortzeugt von Germanen und Nibelungen über Preußen und die NS-Zeit bis ins Jetzt, betrifft die Deutschen insgesamt, also auch die DDR. Am Tresen der DDR-Kneipe anno ’53 (Stalins Tod) ist in der Bochumer Inszenierung eine notdürftig überklebte Ecke abgeblättert, darunter sieht man wieder das Hakenkreuz. Auf die DDR-Straßenszenen (1949) senkt sich symbolisch eine bedrohliche Kanone mit Sowjet-Stern. Solche Verweise sind legitim, sie bringen Irritationen in die Handlung, die ja auch schemenhafte Hoffnung auf einen „besseren“ als den real existierenden DDR-Sozialismus erkennen läßt.

Anders als Hans Peter Cloos, der letzte Woche in Wuppertal Heiner Müllers „Leben Gundlings“‚mit starkem Endzeit-Akzent auf die Bühne brachte, „ködert“ uns Steckel anfangs mit stellenweise bravourös überbordender Komik, er läßt einen da kaum zur Besinnung kommen. Die Straßen- und Clownsszenen sowie die brodelnde Groteske aus dem „Führerbunker“ (mit schwangerem Goebbels, masturbierendem Wolfsmenschen) enthalten freilich – erst unterschwellig, dann schreiend deutlich – auch schon jenen Stoff, aus dem der Tod gewirkt ist und der die Szenen nach der Pause in zunehmende Düsternis hüllt. Ein Ereignis ist dabei das getanzte „Nachtstück“, die Selbstzerfleischung eines Puppenmenschen (Frank Prey).

Im vielköpfigen Ensemble gab es keine besonderen Schwachpunkte. Den größten Sonderbeifall erhielt Armin Rohde für seinen Auftritt in der Clownsszene. Herausragend übrigens auch die Arbeit der Kostümbildnerin Andrea Schmitt-Futterer, die manche Figuren so treffend ausgestattet hat, daß sie lange im Gedächtnis bleiben werden.




Geisterbahn preußischer Geschichte – Heiner Müllers „Leben Gundlings…“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Das Licht im Zuschauerraum ist noch nicht verloschen, da staksen auf der Bühne schon zwei laszive Krankenschwestern herum. Stehen die Handelnden der folgenden Szenen allesamt unter Kuratel, sind sie Insassen eines verrückten Hospitals? Wohl möglich!

Heiner Müllers „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ ist ja eine drastisch-haßgesättigte Psychopathologie des Preußentums, seines Machtgebarens und seiner ohnmächtigen Intellektuellen.

Anfangs ist „Friedrich der Große“ noch klein und trägt kurze Hosen. Die Szenen, in denen sein Vater, Friedrich Wilhelm, dem Knaben jegliche Lust aus- und eiskalte Gewalt eintreibt, könnte man sich als bitterböse Komödie im täuschend leichten Konversationston denken; doch in Wuppertal, wo Hans Peter Cloos das Stück inszeniert hat, befinden wir uns gleich wieder mitten in der Endzeit. Sofort beginnt der (doch etwas nervzehrende) Minimalmusik-Teppich mit „Apokalypse“-Klängen; wie aus einem Volksempfänger ertönt kriegslüsternes Gekrächze, ein Alarmton schnarrt, als sei jetzt die atomare Katastrophe ausgebrochen.

Fortan steht alles „unter Verdacht“: Die Fässer auf der von Jean Haas gestalteten Bühne – sicherlich enthalten sie Gift oder Atommüll; die Kisten – bestimmt ist Munition darin. Ein in die Szenerie gestürztes Flugzeugheck entspricht solchen Ahnungen.

Zu ihren schrecklichen „preußischen Spielen“ erheben sich die Figuren aus dem dumpfen Schlaf der Historie. Wie Zombies bewegen sie sich, ihre Totschlag-Sätze kommen hart und fremd via Mikrophon und Lautsprecher. Später scheinen sie aus allen Ritzen hereinzudrängen. Türen und Durchgänge öffnen sich wie von Geisterhand und geben den Blick frei auf Schreckensszenen vor einer Zerrspiegelwand: Eine Geisterbahn voller Geschichts-Müll, sprich unerledigter Historie. Und dann ist in der Bühnenlandschaft noch jener Durchbruch nach oben, der für ein bedrohliches Aufsteigen dieser Geschichtsreste in die Gegenwart stehen könnte.

Regisseur Cloos ist in Frankreich inzwischen bekannter als bei uns. Vielleicht hat er in Paris auch Varieté schätzen gelernt. Häufig gibt es im „Gundling“ revuehafte Einschübe, Tänze gefrorener Erotik. Ein scharfkantiger, aber wohl bewußt eingesetzter Stilbruch auch, wenn da plötzlich Rockmusik ertönt.

Ein schwieriges Stück in einer oft chaotisch-bildversessenen, „unübersichtlichen“ Inszenierung – das war in Wuppertal, wo man bisher vom Theater kaum auf Heiner Müller eingestimmt war, nicht jedermanns Sache. Dutzende flüchteten, als die Figur „Heinrich von Kleist“ als Transvestit auftrat. Dabei hatte Cloos, ansonsten recht texttreu, diese Stelle eher noch entschärft.

Die Darsteller – die meisten absolvierten mehrere Rollen – agierten ansehnlich. Eike Gercken als kindlicher und erwachsener „Friedrich“ (eine Frau als König – warum eigentlich?) hatte den gichtgeplagten Gang des „Alten Fritz“ perfekt eingeübt und verlieh auch der gealterten Figur einen Stich ins Infantile. Horst Fassel (Friedrich Wilhelm/Irrenarzt/Lessing) fand zur passenden, schneidenden Bösartigkeit. Eine Verstärkung für das Wuppertaler Ensemble: Karin Neuhäuser. Ihr Auftritt im „Irrenhaus“ mit dem Mörderinnenlied war die bewegendste Szene des Abends.




Am Ende aller Mythen – Roberto Ciulli inszeniert „Die Bakchen“ des Euripides in Mülheim

Von Bernd Berke

Jesus stirbt am Kreuz und preßt seine letzten Worte hervor: Unser ailer Seelen seien verhärtet. Wir verschlössen Augen und Ohren vor dem Leid.

Der Messias ist nicht allein. Ton ab, Kamera läuft; wie beim Gladbecker Geiseldrama? Doch dann zeigt sich, daß hier das Leben Jesu verfilmt wird. Die Kameras werden schließlich abgebaut, der Gottessohn steigt über eine Leiter vom Kreuz. Auch er ist nur ein Schauspieler. Kult und Mythen sind vergangen, sie existieren allenfalls noch auf Zelluloid.

So beginnt in der Mülheimer Stadthalle Roberto Ciullis Inszenierung des Euripides-Dramas „Die Bakchen“. Das Stück entstand etwa 406 v. Chr. Der Jesus-Auftritt zeigt mithin, wie überaus frei Ciulli abermals mit seiner Vorlage umgegangen ist. „Nach Euripides“ heißt es im Programmheft. Roberto Ciulli und Helmut Schäfer haben das Griechenstück mit Texten von Baudelaire, Pavese, Nietzsche und Hölderlin „angereichert“.

Ciulli hat erneut ausufernd-bildkräftige szenische Phantasie walten lassen. Der Fotorealist Howard Kanovitz hat mit antikisierenden Versatzstücken einen Traumraum aus Grüften und Grabsteinen entworfen – ein Bühnenbild beinahe im Geiste von Giorgio de Chirico, dessen Arbeiten das Programmheft füllen. In diesem unwirklichen Raum verlagert sich alles Geschehen ins Innerseelische, wird zum (Alp)-Traumspiel.

Der Rausch-Gott Dionysos will, von Asien kommend, Theben erobern. Einige Frauen sind – wie man hört, aber nicht sieht – seinem Lockruf schon gefolgt, haben die Webstühle verlassen und geben sich orgiastischen Riten hin. Es sind die „Bakchen“ (Bacchantinnen). Thebens Machthaber Pentheus (knittrig auf verlorenem Vernunft-Posten: Volker Roos) ist die Gegenfigur. Der Rationalist sieht die Felle der Ordnung davonschwimmen. Er nimmt Dionysos, der Menschengestalt angenommen hat, gefangen. Doch der Gott stellt Pentheus eine furchtbare Falle, die rasenden „Bakchen“, darunter Pentheus‘ Mutter, reißen ihn in Stücke. Auch davon erfährt man nur durch einen „Botenbericht“. Bis heute ein Rätsel: Wollte Euripides der Vernunft oder dem Rausch das Wort reden? Geht es gar darum, daß das Rauschhafte nicht verdrängt werden darf, wenn es nicht zerstörerisch wiederkehren soll?

Ciulli jedenfalls macht über weite Strecken kein großes Drama daraus: Sein „Dionysos“ (Hannes Hellmann) ist nicht magisch-göttlich, sondern ein etwas überdrüssiger „Typ“ mit wallendem Langhaar. Seine Wein-Seligkeit wirkt nicht sehr lustvoll. Er schleppt die Flasche eher wie ein „Penner“ mit sich herum. Auf dem Todestrip ist er auch noch. Sein erster Monolog („Der frohe Tote“), in dem er sich den Raben und Würmern zum Fraß anbietet, stammt von Baudelaire. Die Götter müssen verrückt sein.

Nach dem Ende aller Tragödien folgt die Farce: In einer langen Szene geht es zu wie auf dem Jahrmarkt. Schwebende Jungfrau, Kasperltheater, King-Kong-Affe, Orient- und Feuerzauber. Da wirkt Dionysos‘ Befreiung aus Pentheus‘ Ketten wie der Auftritt eines Kirmes-Entfesselungskünstlers, sein Ringkampf mit Pentheus hat etwas von Boxbuden-Atmosphäre.

Nach der Pause: Pentheus‘ Mutter Agaue (Veronika Bayer) will ihren Wahn aufrecht erhalten, sie habe einen Löwen und nicht ihren eigenen Sohn zerfleischt. Ihr Vater Kadmos schlägt sie, will ihr die Wahrheit einbleuen. Die Szene wiederholt sich, es könnte endlos so weitergehen. Ein ewiger Kreislauf aus Schuld und Lüge. Dionysos schläft darüber ein, Wein rinnt aus seiner Flasche. Die Mythen sind vergangen.

 




Wo die Gewalt ihre Spuren zieht – Reinhild Hoffmann mit „Von einem, der auszog… / Horatier“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Quer über die gänzlich graue Bühne ist Draht gespannt. Wenn die Tänzerin Reinhild Hoffmann ihn mit den Füßen berührt, wird er zum bedrohlich schnarrenden „Saiteninstrument“.

Diese Töne sind fast die einzige Musik zum Bochumer Tanztheater-Abend „Von einem, der auszog…/Horatier“, den Reinhild Hoffmann als Choreographin und Tänzerin solo bestreitet. Sprachrhythmen („deutsche Urworte“, durchkreuzt von US-Sprachpartikeln) setzen einen weiteren, quasi-„musikalischen“ Akzent.

Die Grenzen zur Performance (Körper als „lebendes Kunstwerk“) werden von Reinhild Hoffmann oft überschritten. Überhaupt könnte man sich dem Auftritt mit Begriffen von Mischformen darstellender und bildender Kunst nähern – von „Spuren-Suche“ könnte man sprechen, zuweilen auch von „privater Mythologie“.

Textgrundlagen sind im wesentlichen das Grimmsche Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ sowie Heiner Müllers Text „Der Horatier“. Solch kühne Verknüpfung muß wohl auf verschlungenen Assoziationswegen zustande gekommen sein; sie verlangt jedenfalls nach Cäsur, sprich Theaterpause.

In dem Geisterbahn-Märchen geht es letztlich um die innige Verwandtschaft von Dummheit und abgestumpfter Angstlosigkeit. Ein junger Spund mordet sich munter durch, bis er die Prinzessin erringt; über Leichen lacht er nur, statt sich zu gruseln. Heiner Müllers Horatier-Text beschreibt – am antiken Beispiel – eine unauflösbare Verquickung von (Kriegs)-Ruhm und Schuld. Kleinster gemeinsamer Nenner und Verbindungspunkt beider Texte ist wohl der dümmlich-gewaltbereite Marsch in Krieg und Gemetzel.

Und so beginnt denn auch der Abend: Reinhild Hoffmann, maskiert als bärtiger, scheinbar gemütlicher Greis. Doch da ist sein Brustpanzer, sein martialisches Stampfen. Der Panzer platzt ab, darunter kommt – historisch eingrenzender Aha-Effekt – ein Volksempfänger zum Vorschein. Kurz darauf steht Reinhild Hoffmann maskenlos und in aschgrauer Gefangenen-Montur vor uns. In einer atemberaubenden Folge sozusagen „gepanzerter“ Bewegungen – hastiges Kreuzzeichen, zackige Wehr-Ertüchtigung, aufschießender „Meldefinger“ eines Schulkinds – stellt sie Stühle auf, räumt sie an eine Art Konferenztisch, verkleidet sich plötzlich als Weihnachtsmann, der wiederum zum Messerwerfer wird und auf den Umriß einer Menschenfigur auf dem Tisch zielt. Abermals eine Alptraum-Metamorphose zur Gewalt, die sich hinter jeder Maskerade zu verbergen und überall ihre rituellen Spuren zu ziehen scheint.

Rätselhaft-schöne Traumszene: Aus Papierlagen, die auf ein Metallbett geschichtet sind, entsteht wie durch Zauber ein Prinzessinnen-Kleid. Schließlich barbusig, nimmt die Hoffmann eines der Messer und schneidet Brot – ein Friedens-Bild? Der Teil nach der Pause, viel näher am Text, ist deutlich schwächer, tendiert zur Illustration, die kaum über die Wirkung von Heiner Müllers Worten hinausgreift. Theater wie „aus der Wundertüte“: Nach und nach schlitzt Reinhild Hoffmann fünf Säcke auf – einzig spannende Frage jeweils: Was ist diesmal drin? Sie kippt den Inhalt (Erde, blutverwaschene deutsche Fahne, Schwerter, Haarnadeln) aus. Ratlosigkeit und Beifall hielten sich im Premieren-Publikum die Waage.




Cleverer Onkel und ein Kultur-Eckchen für die Damen – Carl Sternheims „Tabula rasa“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Diese Farbsymbolik ist schon reichlich dick aufgetragen: Wenn in der Wuppertaler Inszenierung von Carl Stemheims Stück „Tabula rasa“ wirtschaftlich-politische Dinge verhandelt werden, spielen sie sich in Wolf Münzners Bühnenbild auf einer großen grauen Fläche ab, die bis in die Tiefe der Bühne reicht und fast nur den Herren der Schöpfung vorbehalten bleibt.

Für die dienenden Damen gibt’s links vorn, schräg nach hinten gekippt, ein kleines rosarotes „Kultur-Eckchen“ mit Klavier, Staffelei, Ballettstange und Spiegel. Die Verbindung beider Sphären ist denkbar gering und wacklig: Mit einem Bein ragt ein Tisch aus dem grauen in den rosaroten Bereich, nur gestützt von einer winzigen Klassiker-Büste.

An dem Tisch residiert Wilhelm Ständer, Sozialdemokrat auf Abwegen: Heimlich ist er zum Mitaktionär der Rodauer Glasfabriken geworden. Nach wie vor kehrt er den kämpferischen Arbeiter heraus, doch hinter verschlossenen Türen und Vorhängen läßt er sich von einer Magd bedienen und lebt wie ein Bourgeois. Die Geschichte: Um von diesem Widerspruch, der bei einer Generalrevision zum Betriebsjubiläum ans Licht zu kommen droht, abzulenken und schließlich „reinen Tisch“ zu machen (sprich: sein egoistisches Selbst ausleben zu können), setzt er ein Scheingefecht um eine Arbeiterbücherei in Gang und spielt dabei radikale und gemäßigte Sozialdemokraten gegeneinander aus; Revolte und Rückzug halten so einander aufs Prächtigste die Waage und verschaffen Ständer den nötigen Handlungsspielraum.

Das Fatale an Sternheims 1919 uraufgeführtem Stück: Es baut als Gegner Ständers nur kleine Popanze und Phrasendrescher auf, die furchtbar leicht zu überwinden sind – und es billigt Ständers rigorose Selbstverwirklichung; ganz im Sinne Nietzsches.

Satirische Spitzen abgebrochen

Doch wild-entschlossen geht es hier keineswegs zu: In Ulrich Greiffs Wuppertaler Inszenierung ist Ständer (redlich bemüht wie auch die anderen Darsteller, die alle mehr können, als sie hier zeigen dürfen: Gerd Mayen) alles andere als ein selbstsüchtiger Dämon. Er wirkt wie ein netter, cleverer Onkel, der halt weiß, wie man ans Geld rankommt, und dies dem Publikum augenzwinkernd mitteilt. Diese Haltung billigt sich, weil nett und „harmlos-alltäglich“, noch viel leichter. So hat denn die ganze Sache einen Grundgestus von Versöhnlichkeit, satirische Spitzen sind abgebrochen.

Komik überhaupt stellt sich in dieser – über weite Strecken erschreckend hilflosen – Inszenierung nur in Ansätzen ein (am ehesten noch bei Andreas Peckelsen als gemäßigtem „Sozi“ Artur Flocke), sie bleibt meist äußerlich: Die teilweise abstrusen Kostüme wirken eher wie „Narrenschellen“, die man den Figuren angehängt hat.

Überdies sind Raum- und Zeiteinteilung ungeschickt gehandhabt: Der weitläufige Bühnenraum verlangt unnötig lange Wege von den Schauspielern; dabei wird sinnlos Zeit verbraucht, es entstehen ungefüllte „Textlöcher“, die Aufführung findet keinen Rhythmus. Extrem wird das, wenn ein ganzes Arbeiterstatisten-Heer gemächlich Einzug hält und noch umständlich Stühle bereitgestellt werden. Die nachfolgende Massenszene ist die ärgste des Abends, sie erhebt sich nur wenig über Laienspielniveau.

Nur höflich-wohlwollender Beifall für die letzte Schauspiel-Premiere der Intendanten-Ära Fabritius.




„Strukturwandel auch für die Kultur nutzen“ – Dortmunds Schauspielchef Guido Huonder im Rundschauhaus

Dortmunds Schauspielchef Guido Huonder (4. von links) im Kreise von Rundschau-Redakteuren. (WR-Bild: Franz Luthe)

Eigener Bericht

Dortmund. (bke) Der Strukturwandel im Revier habe auch ein Bewußtsein für die Wichtigkeit von Kultur geweckt: „Dieses neuerwachte Bewußtsein müssen wir nutzen, um den Politikern klarzumachen, daß Kultur kein freiwilliger Geschenkartikel, sondern eine Pflichtaufgabe ist.“ Das sagte Dortmunds Schauspielchef Guido Huonder bei einem Redaktionsbesuch im Dortmunder Rundschauhaus.

Huonder, dessen Ensemble bundesweit gefragt ist und bei mehreren renommierten Festivals die Stadt repräsentiert (heute, Samstag, 20 Uhr, gibt’s im Dritten TV-Programm die Dortmunder Fassung von Taboris „Mein Kampf“ beim NRW-Theatertreffen), erklärte sich im Kampf gegen Etatkürzungen „total solidarisch mit den anderen Revier-Theatern“, denn „im Ruhrgebiet gibt es kein einziges Theater zuviel“. Der gebürtige Schweizer ist da fürs: „Kantönlidenken“: „In der Schweiz ist jede Stadt stolz, daß sie alles hat.“

Früher 45 Ensemblemitglieder, heute nur noch 25

In Dortmund, so Huonder, habe man zuerst die bittere Erfahrung gemacht, die nun z. B. auf Essen zukomme. Die in Dortmund vor Jahren veranlaßten Einschnitte „werden jetzt erst eigentlich spürbar“. 1975 habe das DO-Ensemble noch aus rund 45 Schauspielern bestanden, heute seien es 25. Folge: So gerne man auf Festivals für die Stadt werbe, so schmerzlich sei es, daß man an den betreffenden Tagen daheim nicht mehr spielen könne. Die Personaldecke sei einfach zu kurz. Huonder: „Ich kann meine Leute nicht auswringen.“ Ohnehin müsse man „am Rande der Ausbeutung“ arbeiten: „Unsere Erfolge sind ein Ding von Arbeit und Maloche“.

Die oft als Spar-Chance erwogenen Kooperationen mit anderen Bühnen brächten erfahrungsgemäß gar keine Einsparungen, sondern sogar Mehraufwand. Eine zentralisierte Werkstatt für mehrere Revier-Theater könne hingegen sinnvoll sein. Weitere Konsequenz der Festival-Verpflichtungen sei ein höherer Erwartungsdruck. Es sei aber eine Qualitätsgrenze erreicht, die mit den jetzigen Mitteln nicht überschritten werden könnc.

Gerne mal einen Widerhall aus Politikermund hören

Der gute überregionale Ruf ist hochwillkommen, aber: „Ich bleibe gern auf dem Teppich“. Allerdings, so Huonder, würde er gerne öfter mal einen Widerhall der Erfolge aus Politikermund hören. „Das würde etwas in der Öffentlichkeit bewirken“. Viele Politiker hätten aber immer noch nicht gemerkt, daß „Kultur eine feste Größe ist, die man eigentlich gar nicht anrühren darf.“

Man müsse eben endlich weg von der Diskussion, ob Kultur nötig sei, und lieber darüber reden, welche Kultur man wolle. Denn: „Kultur ist der Humus einer Stadt“. In einer der reichsten Nationen der Welt müsse doch einfach das Geld dafür vorhanden sein. Vorsicht sei jedenfalls beim Anzapfen mäzenatischer Geldquellen geboten. Im Erfolgsfall könnten Politiker versucht sein, die Kulturschaffenden vollends auf private Geldgeber zu verweisen.

Theatermann vermißt ein übergreifendes Konzept

Huonders rhetorische, bislang noch zu verneinende Frage: „Gab’s einmal ein kulturpolitisches Konzept in Dortmund?“ Der Theatermann träumt jedenfalls von einem solchen Konzept, das – gleichsam eine große Inszenierung auf der „Bühne Stadt“ – die gesamte örtliche Kultur einbezieht und bündelt, aber dennoch das Einzelne, Individuelle „zum Blühen bringt“.

Auch zum Bochumer Musical-Unternehmen „Starlight Express“ äußerte sich Huonder. Er glaubt – „wenn wir gutes Theater machen“ – nicht an Besucherschwund in Dortmund, fürchtet aber eine „Amerikanisierung“, die als Vorbild in Politiker-Köpfen spuken könnte. „Starlight“ das sei bloße Importware ohne rechte Ecken und Kanten – „und ohne Revier-Power“.