In der Höhle der Theater-Löwen – Diskussion über Kulturfinanzen im dritten Programm

TV-Kritik: „Mittwochs um acht“ (West 3; 20.00 Uhr)

In die „Höhle des Löwen“ wagte sich gestern abend NRW-Kultusminister Hans Schwier. Die Live-Diskussion aus dem Essener Grillo-Bau (Thema: Theaterkrise in NRW) führte ihn mit finanziell gebeutelten Theatermachern, darunter Essens Schauspielchef Hansgünther Heyme, zusammen.

Schwier hatte unlängst den Theatern „Versorgungsempfänger-Mentalität“ vorgeworfen, Heyme war am entschiedensten gegen Etateinschnitte aufgetreten. Als lautester „Löwe“ erwies sich jedoch Bochums Schauspielleiter Frank-Patrick Steckel, der zunächst – was man vielleicht noch ganz gut nachvollziehen kann – gegen Glitzer-Kultur à la „Starlight Express“ wetterte („Schrott“, „schäbiges Profitinteresse“), sich dann aber vollends in Unsachlichkeit hineinsteigerte: „Ich hab‘ Ihnen doch schon mal gesagt, Herr Schwier: Treten Sie zurück!“ Weitere Rundumschläge folgten.

Die anderen Theaterleute (Heyme aus Essen; Roberto Ciulli vom Mülheimer „Theater an der Ruhr“; Willi Thomczyk von der freien Truppe „Theater Kohlenpott“ in Herne) sowie der Kritiker Ulrich Schreiber argumentierten bedächtiger, waren aber auch nicht eben gut auf Politiker zu sprechen. Schwier stand praktisch „allein gegen alle“. Allerdings wurden, je nach Subventionslage (Thomczyk bekommt keine Zuschusse, Ciullîs Truppe arbeitet ohne Tarifverträge) auch Differenzen zwischen Schwiers Widersachern sichtbar. Thomczyk bezeichnete die Debatte um Zuschußkürzungen gar als Gerede um „Kräuterbutter auf dem Schnitzel“, mithin als Luxus.

Die 90-Minuten-Sendung, aufgelockert mit Unterhaltungs-Einschüben und kurzen Filmeinspielungen, erfüllte ihren Zweck: Sie versammelte kompetente Gesprächspartner, deren Positionen deutlich zum Ausdruck kamen. Das ergab einen recht guten Überblick zur derzeitigen Theater-Situation. Die Moderatoren, Bernd Müller und Ines Jacob, griffen im Sinne des Zuschauers ein und sorgten dafür, daß man nah am Thema blieb. Mehr konnte man nicht erwarten.

Bernd Berke




Totentanz und Trauermarsch – Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Bochum

Von Bernd Berke

Rostrote Häuserwände, Fenster wie Totenaugen; darüber ein fahlgelber Himmelsausriß. Die freudlose Gasse (Bühnenbild: Susanne Raschig) ist in Bochum Schauplatz von Ödön von Horváths Totentanz „Glaube Liebe Hoffnung“.

Zu Chopins Trauermarsch zieht eine aus, die Hoffnung zu verlernen: Elisabeth (Martina Krauel) betritt die Bühne voller Zuversicht, mit „Kopfhoch-Mentalität“. Doch sofort bricht sie zusammen. Ein stummer Prolog, der ihr Schicksal vorzeichnet.

Von bedrohlicher Unwirklichkeit die nächste Szene: Dem anatomischen Institut will Elisabeth ihre Leiche im voraus vermachen – und sofort 150 Mark kassieren. Im Elend der Wirtschaftskrise (das Stück wurde 1932 geschrieben) ist Elisabeth auf einen Wandergewerbeschein angewiesen. Aber die Gebühr dafür bekäme sie nur durch Arbeit, die dieser Schein ja erst ermöglichen soll – Teufelskreis der Gesetze, in dem sie schuldlos schuldig wird.

Elisabeth kaspert anfangs herum, Clownin mit aufgeschminktem Optimismus, ihr blaues Käppi leuchtet Hoffnung. Doch dann beginnt ihr Leidensweg durch eine fühllose Macht- und Männerwelt, die Horváths Dementi zum Trotz, viele satirisch-überspitzte Seiten hat.

Diesmal keine durchweg düstere Veranstaltung in Bochum: Benjamin Korns Regie kostet komische Momente aus, treibt manche Szenen gar zur Klamotten-Turbulenz voran, als sei’s ein Stück von Sean O’Casey. Da bleibt das Lachen oft nicht, wie jene abgenutzte Formel lautet, „im Halse stecken“.

Doch schon die Schweigepausen des Stücks reißen abgrundtiefe Gräben zwischen den Personen auf. Und fast überfallartig, also desto stärker, wirken dann die tragischen Szenen. In schmerzhafter Wortlosigkeit hat die Inszenierung, hat auch die Hauptdarstellerin der Elisabeth ihre allerstärksten Momente: Wie Martina Krauel, als alle Hoffnung geschwunden ist, in ein stummes Lachen ausbricht – das ist greifbar der grelle Wahn, Vorbote ihres Selbstmords. Dichte Studie der Verzweiflung auch, wenn sie im unsichtbaren Kerker der Verhältnisse (zwischen Männern auf der Polizeiwache) als Gefangene taumelt.

Keine „Ausfälle“ im Ensemble, ganz im Gegenteil: Nicole Heesters z. B., als geldgierige Geschäftsfrau Irene Prantl – sie „hat es“ (und uns) sofort, als müsse sie sich ihre Wirkung gar nicht erst erspielen, als wirke sie durch bloße Präsenz. Bemerkenswert auch Peter Roggisch als Präparator. Prasselnden Beifall gab’s (auch für die Regie), für Martina Krauel verdiente Bravos.




Kambodschas Geschichte als fünfstündiges Bühnendrama – Hansgünther Heyme inszeniert Hélène Cixous in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Verkehrte Verhältnisse im Essener Grillo-Theater: Die Sitzreihen befinden sich im Bühnenraum, die Szene ist dort, wo sonst die Zuschauer Platz nehmen.

Wenn das Publikum die umgebaute Theaterstätte betritt, platzt es mitten in den Prolog der Gemüseverkäuferin Khieu Samnol (Astrid Gorvin) {Astriâ ‚Gorvin), die – wie auf einem Jahrmarkt – die Leiden des kambodschanischen Volkes ausruft. Gedränge und Geschiebe der Zuschauer, die Plätze sind nicht numeriert; und wenn man sitzt, muß man sich recken, um etwas zu sehen. Man kommt sich vor wie inmitten einer Volksmenge. Doch mit diesem Gefühl und den Klagen der Khieu Samnol hat das Volk auch schon ausgespielt. In den folgenden fünf Stunden ist es nur noch Manövriermasse.

„Die schreckliche, aber unvollendete Geschichte von Norodom Sihanouk, König von Kambodscha“, das Stück von Hélène Cixous, 1985 im Pariser „Théâtre du Soleil“ der Ariane Mnouchkine uraufgeführt und am Samstag in Hansgünther Heymes Regie erstmals deutschsprachig gezeigt, ist (auch) ein Schnellkurs in kambodschanischer Historie. Was zur Premiere als Doppelabend (Epoche 1955-1970/1970-1979) herauskam, wird später auf zwei Abende verteilt.

Wer sich nicht gerade einen Südostasienexperten nennen kann, tut gut daran, die theatralische Tour durch 24 Jahre kambodschanischer Geschichte anhand der Nacherzählung im Programmheft zu verfolgen. Vom feudalen Gerichtstag Sihanouks (1955) bis zum Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha (1979) verdichtet sich das Netz politischer Intrigen im Kräftefeld zwischen USA, UdSSR, China, Vietnam und den Roten Khmer. Die von Prinz Sihanouk angestrebte Neutralität Kambodschas gerät zur Farce. Das Land wird in den Vietnam-Krieg hineingezogen und später von Pol Pots Revolutionsgarden mit Terror überzogen.

Dabei scheint anfangs alles wie ein Spiel: Sihanouk (großartig: Volker K. Bauer) schlängelt sich körperlich wie stimmlich zwischen den Fronten hindurch, bedient sich der geschichtlichen Bedingungen, als lägen sie frei verfügbar in einer Spielzeugkiste. Doch das Ziel einer weltpolitisch neutralen, sozialistischen Monarchie erweist sich sehr bald als naiv. Sihanouk, zunehmend eine tragische Figur, muß Konzessionen nach allen Seiten machen und Geister anrufen, die er nicht mehr loswird.

Das große Welttheater, in dem Kissinger, Kossygin und Tschu Enlai die Fäden ziehen, endet im Geisterreich. Tote (u. a. Sihanouks Eltern, gespielt von Wolfgang Robert und Margit Carstensen) huschen gespenstisch durch den zweiten Teil.

Cixous Geschichtsdrama (passend: Alfons Nowackis Musik, die oft an Brechtsche Songs erinnert), ist streckenweise zu geschwätzig, um die Größe des mehrfach beschworenen Shakespeare zu erreichen, liefert aber viele Szenen für pralles Theater, das in Essen auch Rauch und Theaterdonner nicht verschmäht. Die Ensemble-Leistung kann sich sehen lassen. Sehr zu loben: Wolf Münzners Bühnenbild und Kostüme, die jeden falschen Exotismus meiden.

Immenser Beifall, der sich für Hauptdarsteller Volker K. Bauer zum Bravo-Orkan steigerte und auch die Regle einschloß.




Provokation ohne Ertrag – Franz Xaver Kroetz‘ „Stallerhof“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

In der Geisterbahn bekommt die geistig „zurückgebliebene“ Stallerhof-Tochter „Beppi“ dermaßen Angst, daß ihr etwas höchst Peinliches passiert. Der alte Hofknecht Sepp heißt sie die Unterwäsche ausziehen und beseitigt hilfreich die Spuren des Malheurs. Dann geschieht’s, wie in einem Anfall: „Nimmt sie, entjungfert sie“, heißt es lakonisch in Franz Xaver Kroetz‘ Szenenanweisung.

Auf dem Wuppertaler Bühnenboden folgt die Andeutung eines hastig-bizarren Beischlafs. Einem praktizierenden Zyniker im Parkett reichte das quicke Tempo noch nicht: „Schneller!“, feuerte er die Darsteller lautstark an. Auch andere wollten es hinter sich haben: Diese Szene der „Stallerhof“Inszenierung (Regie: Ulrich Greiff) sorgte bei der Premiere für einen veritablen Publikums-Exodus. Dutzende verließen zornig das Elberfelder Schauspielhaus. Hier kann Theater noch schockieren.

Der Inhalt des 1972 uraufgeführten Kroetz-Stücks ist rasch erzählt: Besagter Knecht schwängert die debile Beppi; deren Eltern jagen Sepp vom „Stallerhof“ und vergiften seinen Hund. Sie überlegen, ob sie Beppis Leibesfrucht abtreiben sollen (hier flüchteten erneut einige Zuschauer), können sich aber nicht dazu durchringen. Schlußbild: Die Wehen setzen ein.

Das Fatale an der Aufführung ist gar nicht die Drastik einiger Szenen (die schließlich im Text stehen), sondern der geringe künstlerische Ertrag der Provokation. Das Bühnenbild (Rosemarie Krines) zeigt simultan alles her, was zur engen bäuerlichen Welt gehört: Riesenbett mit Kruzifix, Heuballen, Herdstelle samt Eßtisch, ländliches Ausflugslokal.

Bei Kroetz heißt es zum Bühnenbild: „Äußerst sparsam. Nur Versatzstücke“. In Wuppertal wird zu vieles vorgezeigt, beinahe wie in einem Museum bäuerlicher Kulturdenkmale; ganz so, als fürchte man, vor dem Publikum sonst „mit leeren Händen“ dazustehen bzw. als mißtraue man der Phantasie der Zuschauer. Ähnliches gilt für die Musik (Heinz Becker/Karl-Heinz Stegmann), die jedes Körnchen des Geschehens zu Tönen verarbeitet – vom Katzengejammer bis hin zum Jahrmarktsrummel. Und: Die Geisterbahn-Fahrt wird durch albernes Lichtgeflacker „verdeutlicht“.

Auch der Text wird über weite Strecken schlicht ausgebreitet, nicht ausgelotet. Die bayerischen Dialekt-Tupfer vermitteln hier allenfalls blasses Kolorit, nicht aber Schärfe und Kontur. Auch in den langen Redepausen der „sprachenteigneten“ Figuren klingt wenig nach, oft ist es nur die schiere Leere statt gezielt quälender Stille.

Franz Träger und Isabel Zeumer als Stallerhof-Ehepaar vermögen ihren Figuren kaum Tiefenschärfe zu verleihen. Dörte Steindorff (Beppi) und besonders Günther Delarue (Sepp) stehen hingegen für ein paar anrührende Szenen ein, in denen spürbar wird: Es ist zwar eine trostlose Liebe zwischen den beiden. Aber es ist eine Liebe.




Auf dem Karussell der Gefühle – Marivaux‘ „Die falsche Zofe“ in Essen

Von Bernd Berke

Die Komödien des Pierre Carlet de Marivaux sind in den letzten Jahren wieder in Mode gekommen. Der französische Rokoko-Dichter wurde als früher Kronzeuge für eine gleichermaßen verspielte wie eiskalte Mechanik der Gefühle herangezogen, Ähnlichkeiten mit heutigen „Beziehungen“ waren augenscheinlich.

Dass Marivaux ein Neuerer der italienischen Commedia dell’arte war, der diese Typenkomödie mit „Innenleben“ und fein gesponnener Psychologie anreicherte, geriet dabei in den Hintergrund. In Essen, wo jetzt Marivaux‘ Stück „Die falsche Zofe“ Premiere hatte, spielt man weder „Commedia“ noch Gefühlslabor, sondern einfach eine publikumswirksame Komödie, die mit leichtem Wort-Florett oft tiefer trifft als mancher verquälte Grübeltext.

Kurz zum Inhalt: Eine junge Dame aus Paris verkleidet sich als „Chevalier“, um in solch männlicher Gestalt das Gefühlsleben Lelios zu testen, der um sie freit, vor allem jedoch auf ihr Geld scharf ist, wie sich herausstellt. Als strahlender Jüngling mit Dreispitz und Degen gewinnt sie Lelios Freundschaft und entlockt ihm nach und nach die niederen Motive. Lelio stiftet den vermeintlichen Chevalier sogar an, die Gräfin in sich verliebt zu machen, damit er – Lelio – sich schadlos aus seiner Liason mit der Gräfin lösen und sich der weitaus reicheren Dame aus Paris zuwenden kann. Für zusätzlichen Schwung auf dem Karussell der Empfindungen sorgen die Diener der Hauptpersonen. Ein glückhaftes Ende gibt es nicht, keine Liebesverbindung kommt zustande: Alle waren auf Gewinn aus, am Ende sind sie betrogene Betrüger, jede(r) für sich allein.

In der Essener Aufführung (Regie: Herbert König) gibt es ein eindeutiges Opfer des Intrigenspiels, nämlich die Gräfin (Elisabeth Krejcir), die – ersichtlich nicht mehr in voller Jugendblüte – als einzige Person auf Liebesbezeigungen angewiesen zu sein scheint. So wird sie zum Spielball der anderen, weil sie Gefühle investiert. Immerhin denkbar wäre eine Inszenierung, in der auch die Gräfin zu den kühl berechnenden „Mitspielern“ zählt.

Brigitte Horn als Chevalier kann gut auf Stimmverstellung in Richtung Männerbaß verzichten. Sie spielt so frisch und frech, daß man ihr den kecken Jüngling, wüßte man’s nicht anders, beinahe abnimmt. Dietrich Adam als Lelio gibt einen gerissenen, aalglatten Vorteilsnehmer. Während Ulrich Wiggers als Chevalier-Diener Trivelin eine erdnahe Gestalt verkörpert, spielt Klaus von Mirbach in der köstlichen Paraderolle des Lelio-Bediensteten Arlequin einen naiven Luftikus, der sich immer wieder Schrammen auf dem Boden der Tatsachen holt.

Bühnenbildner Hans Brosch hat seine Phantasie-Produkte enorm ausbreiten dürfen. Die Spielfläche ist vollgestellt mit allerlei unpraktischen Aufbauten, die zwar optische Effekte erzielen, die Darsteller aber behindern. Dazu gehört auch die offenbar unvermeidliche Schräge, die die Schauspieler zu „Bergtouren“ nötigt.




Im Sog der Verzweiflung – „Minna von Barnhelm“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Kriegsheimkehrer ist halb verkrüppelt. Ohne Geld, in Erwartung eines infamen Gerichtsverfahrens wegen angeblicher Bestechlichkeit, gibt er sich dem Sog der Verzweiflung hin. Das klingt fast wie ein bitterer Vietnam-Blues, doch es steht in Lessings „Minna von Barnhelm“. Der Mann, dessen „preußische Ehre“ beschmutzt wird, ist der entlassene Major von Tellheim.

In Urs Trollers Bochumer Inszeniemng bleibt freilich von Preußen keine Spur. Tellheim (Wolfgang Michael) ist ein Leidensmann, verhärmt, verhuscht, verwirrt, verwahrlost – ein Schatten von einem Menschen. In schäbiger Montur, das Haar strähnig, „wildgrubert“ er über die Bühne, ein Misanthrop, ein Monster des Menschenhasses; einer, der sich geradezu autistisch in sein Unglück vergräbt und sich einpanzert, der Genuß aus dem Leiden zieht. Nur manchmal blitzt, grotesk verzerrt, ein Rest von Glücksgier auf. Eine Figur wie von Dostojewski.

Die Behandlung solcher Seelenleiden kann, so ist das in einer Komödie, natürlich nur in Liebe bestehen. Strahlend schön, mit schwellendem Busen, betritt „Minna von Barnhelm“ (Andrea Clausen) die Szene. Durch Zufall findet sie Tellheim, dem sie seit langem versprochen ist, in einem Gasthof. Doch Tellheim will sie nicht mit seinem Unglück belasten, er sperrt sich – in vehementer Leidens-Wollust – beharrlich gegen das nahe Glück.

Fraglich ist hier, was Minna eigentlich an ihm findet. Dieser Tellheim kann wohl niemais ein „Held“ gewesen sein. Auch sein Edelmut, zu Teilen eine Utopie der Gleichheit und Freiheit (von Geldzwängen), ist so gar nicht von dieser Welt. Seine lakonischen Einwürfe wirken oft nachgerade kindlich-naiv. So scheint es, als versteige sich Minna nur in ein willkürliches Lieben-Wollen. Wenn sie ihre Intrigen spinnt, um Tellheim gegen alle Widerstände in ihren Bann zu ziehen, so hat das viel Willküriich-Spielerisches, es paßt sehr gut zum Jungmädchen-Gekicher, dem sie sich mit ihrer Dienstmaid Franziska (Micheline Herzog) anfangs ausgiebig überläßt. Doch als sie – darin stimmen Text und Inszenierung überein – das Spiel schließlich bis zur Grenzlinie des Erträglichen treibt, wandelt auch sie Verzweiflung an.

Die schauspielerischen Leistungen, mit denen dies vorgeführt wird, sind sehenswert, es gibt sogar ein paar wahrhaft packende Szenen, bei denen es im Publikum atemlos still wird.. Auch die Nebenrollen sind gut besetzt. Zwar: Diener bleibt hier Diener, ohne Bewußtsein von Knechtschaft, höchstens mal maulend, ansonsten jedoch ums Glück ihrer Herrschaften brav mitzitternd. Aber recht hübsch machen sie das schon: Micheline Herzog als „Franziska“, Thomas Anzenhofer als „Just“ und Ivo Dolder als Wachtmeister „Paul Werner“. Abermals herausragend: Sven-Eric Bechtolf – auch er eine Art „Dostojewski-Charakter“, als Glücksspieler „Riccaut“.

Der Schattenriß des Lessing-Kopfs auf dem weißen Vorhang ist Programm: In der ganzen Inszenierung ist ein Respekt vor dem Text spürbar, eine Tendenz, die Worte „stehen zu lassen“. Auch das Bühnenbild (Florian Parbs) ist keiner Weise kunsträumlich-visionär, sondern schlicht und zweckmäßig.

Kein Regietheater also, aber (inzwischen schon Bochumer Spezialität) mal wieder ein  Régiewechseltheater, denn Urs Trailer übernahm die Produktion mitten im Entstehungsprozeß.




Schurken, Helden und Kurtisanen auf edlem Büttenpapier – Holzschnitte zeigen japanisches Kabuki-Theater

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. Im Teehaus ging es oft zu wie in „Dallas“. Dort konnte man, anders als hinter papierdünnen Wänden daheim, in sonorer Lautstärke üble Intrigen einfädeln – und das womöglich in Gegenwart kluger und schöner Kurtisanen. Solche Situationen waren und sind der Ausgangspunkt für Stücke des japanisehen Kabuki-Theaters, das – im Gegensatz zum höfischen No-Theater – für die breiten Volksmassen gespielt wurde.

Einen faszinierenden Einblick in diese fremdartige Bühnenweit der „Helden, Schurken, Kurtisanen“ (Ausstellungstitel) gewähren jetzt im Schloß Cappenberg 294 Holzschnitte nach Kabuki-Aufführungen. Zusammengetragen hat sie der Essener Sammler Hendrick Lühl (52), im Hauptberuf Jugendrichter.

Lühl hat sich auf Arbeiten der Holzschnitt-Meister aus dem Osaka des 19. Jahrhunderts spezialisiert und verfügt auf diesem Gebiet über eine bundesweit einzigartige Kollektion, die in Cappenberg erstmals zugänglich gemacht wird. Selbst in Japan gibt es nur eine Sammlung, die auf diesem begrenzten Felde mehr zu bieten hat.

Hintergrund: „Rund 98 Prozent“ (Lühl) aller Kabuki-Illustrationen entstanden in Edo (heute Tokio), der rare Rest in Osaka. Bis vor einiger Zeit waren diese Varianten, da von der Fachwelt sträflich vernachlässigt, noch relativ preiswert zu haben. Stilkennzeichen für Darstellungen aus Osaka sind – respektlos gesagt – die rundlichen „Hängebacken“, mit denen die Schauspieler auf den Bildern erscheinen, während in der Edo-Variante kantig-eckige Gesichter „Vorschrift“ sind.

Und so entstanden die Bilder: Schon während der Proben fertigte ein Künstler Szenen- und Porträt-Skizzen an, die hernach dem Holzschnitzer als Vorlage dienten und oft farbenprächtig auf schweres Büttenpapier gedruckt wurden – so zeitig, daß sie schon zum Start einer neuen Aufführung vorlagen. Auch vergötternde Gedenkbilder für verstorbene, besonders berühmte Schauspieler entstanden in Osaka.

Die in Cappenberg versammelten Exemplare zeigen durchgehende Merkmale. Besonders ins Auge fällt die – für unsere Begriffe – kämpferisch-verkrampfte, posierende Haltung der abgebildeten Schauspieler. Tatsächlich galten derlei Posen, ja selbst das gekonnte Schielen als absolute Gipfelpunkte der Kabuki-Schauspielkunst. Die Darsteller erstarrten mitunter, von ihren Fans im Publikum angefeuert, minutenlang in diesen kunstvollen „Verrenkungen“.

Traum heutiger Schauspieler: Die Mimen standen so hoch auf der sozialen Leiter, entfalteten so viel Luxus, daß sie – neben den Kurtisanen – als die Modefürsten der Gesellschaft gelten konnten. Solche Pracht findet sich auch auf vielen Kabuki-Holzschnitten wieder.

Frauen durften bei den oft ganztägigen Volksfesten des Kabuki übrigens nur in der Gründerphase (bis ca. 1650) mitspielen. Im 19. Jahrhundert standen längst nur noch Männer auf der Bühne – auch als Kurtisanen. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Die Cappenberger Ausstellung, bislang größtes Projekt des Kreises Unna am Platze, soll – so hoffen die Veranstalter – international Wirkung zeigen. Vorsichtshalber ließ man schon eine englische Übersetzung des informativen Farbkatalogs (28 DM) anfertigen. Ein Museum in Boston (USA) signalisierte bereits Interesse. Durchaus denkbar, daß auf dieseift Umweg auch ein japanisches Kultur-Institut die Schau übernimmt.

„Helden – Schurken – Kurtisanen“ (Schloß Cappenberg, bis 28. Februar 1988, täglich 10 bis 17 Uhr außer montags; 24., 25., 26. und 31. Dezember sowie 1. Januar geschlossen).




Handkes „Kaspar“ ertrinkt in einer Flut von Bildern – Roberto Ciullis Inszenierung in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Peter Handkes „Kaspar“ auf die Bühne zu bringen, zeugt heute von erlesener Kühnheit. Sehr zeitgebunden erscheinen Bau und Rhythmen des 1967 geschriebenen Textes. Längst zum Klischee verfestigt hat sich die Einschätzung, die Maschinerie dieses Sprechstücks werde von skandierten Demo-Sprüchen und dem „Beat“ jener Jahre mit angetrieben.

Umso spannender die Frage: Wie geht das Theater heute mit dieser – eigentlich untheatralischen – Vorlage um? Roberto Ciullis Inszenierung, die jetzt in der Mülheimer Stadthalle Premiere hatte, gibt, wie kaum anders zu erwarten, eine höchst eigenwillige Antwort. Handke ging es noch um die pure Materialität der Sprache und darum, wie mit Wort- und Satzmaterial Kaspars Identität erschaffen und sodann stromlinienförmig normiert, also zerstört, wird.

Die „Einsager“, die „Kaspar“ durch „Sprechfolter“ zurichten, sollten dabei nur (technisch verfremdete) Stimmen bleiben und keine Rollen für Darsteller abgeben. Ganz anders bei Ciulli. Am Anfang war Handkes Wort, Ciulli aber sprach: „Es werde Bild!“ Figuren des Surrealisten Magritte vergleichbar, werden hier die „Einsager“-Stimmen lebendig, betreten als Trio die Bühne und spielen „Kaspars“ Wortwerdung bildreich durch.

Zu Beginn stöbern sie Kaspar in einer rostigen Tonne auf (kein Diogenes-Faß, eher schon die Urne bzw. Mülltonne aus Becketts „Spiel“ und „Endspiel“) und behandeln ihn wie ein Objekt: erkennungsdienstlich. „Kaspar“ – hier von einer Frau, Maria Neumanft, gespielt – wird mit Kopfhörer-Musik ruhig gehalten, in aufgenötigten Verrenkungen fotografiert, muß medizinische Tests über sich ergehen lassen.

Der/die letzte Unangepaßte, der/die Zuflucht bei einem letzten, elenden Baum gesucht hat, ist „erwischt“ worden. Eine grell den Baum überstrahlende Bahnhofsuhr zeigt, was die Stunde geschlagen hat. Die Einsager nehmen den grünen Waldboden wie einen Teppich weg. Die Natur ist erledigt, das letzte Spiel kann beginnen.

Es ist eine Mischung aus Folter und Kinderspiel: Die Einsager montieren eine Kinderpuppe, stecken „Kaspar“ in einen großen Spielwürfel, setzen Worte mit einem bunten Puzzlespiel zusammen. „Kaspar“ wird nackt auf einen Tisch gelegt, desinfiziert und sieht hernach so aus wie die Puppe: ein niedliches kleines Frauenzimmerchen, das seine Sprechlektionen lernt.

Dazu eine wahre Bilderflut, in der der Text zu ertrinken droht. Ciulli hat die Gabe, bannende Bilder zu finden, gewiß. Doch im zweiten Teil verselbständigen sich die optischen Reize. Da bleibt Handkes Text fast ganz auf der Strecke, nur noch einige kurze Passagen werden zum Schluß gesprochen.

Zuvor wird man Zeuge einer ins schmerzhaft-endlose gedehnten Zeitlupen-Szene. Auf schwarzer, leergefegter Bühne (Apokalypse!) wallfahrtet eine groteske Biedermeier-Gesellschaft zu Kaspar, dem letzten Sprachkundigen, der auf seiner Tonne wie eine Heiligenstatue postiert ist. Die Damen und Herren aus dem 19. Jahrhundert, auf der Basis von uberdeutlich ritualisierten Herr-Knecht-Verhältnissen vegetierend, spielen (gleichsam Erbsünde) die Erschlagung des historischen Findlings Kaspar Hauser.

Bewundernswert die Leistungen, auch die Duldsamkeit der Darsteller: allen voran Maria Neumann, die eine tote Leere um die Worte herum „mitspricht“, als sei das Ende allen Sprechens greifbar nah.




„Maria Stuart“ und die Lust an der Buße

Von Bernd Berke

Wuppertal. Aus dunklem, augenscheinlich königlich teuren Holz sind die Wände in Maria Stuarts Gefängnis und in den Räumen ihrer Widersacherin, der Königin Elisabeth. Der Vorhang: kostbares violettes Tuch. Die Musik: Streichquartett von Franz Schubert. Durchweg edel eingefaßt wie ein Kleinod, wie ein sorgsam verwahrtes Text-Geschmeide, sieht man in Wuppertal Schillers „Maria Stuart“ – im wahrsten Wortsinn ein Schmuck-Stück.

Adelheid Müthers Inszenierung behandelt die Vorlage äußerst schonend, fast scheu. Rena Liebenow spielt die Elisabeth. Würde oder Herrscherstolz sind bei ihr nur in Ansätzen zu spüren. Auch wird sie gar nicht so sehr von erotischer Frustration umgetrieben, wie dies Text und Aufführungskonvention nahelegen könnten. Nein, eigentlich ist sie – man kann es kaum anders ausdrücken – eine „ganz patente Frau“. Wenn nur die hohe Politik nicht wäre! Auf diesem Felde wird sie zum Opfer ihrer kleinen Unsicherheiten und derer, die diese Schwächen ausnutzen: ihrer Ratgeber bei Hofe.

Elisabeths Gefangene, Maria Stuart (Sabine Schwanz), Konkurrentin in politischer, erotischer und religiöser Hinsicht, wird in dieser Aufführung weitaus mehr stilisiert. Eine religiös Verzückte ist sie, gleich zu Beginn filigrane Fingerbewegungen vollführend wie eine entrückte Prophetin oder Heilsbringerin. Sie wirkt, als sei sie einem alten Gemälde entstiegen, als sei sie längst nicht mehr von dieser Welt. Ihre sinnliche Kraft, ihre Vergangenheit als Verführerin – weit liegt das alles zurück.

Die zentrale Szene, Marias Begegnung mit Elisabeth, ist denn auch vorherbestimmt. Diese Maria hat sich längst innerlich vom Leben gelöst. Wenn sie um Gnade bittet, so fast nur der Form halber. Erst, als sie den Tod vor Augen hat, erglüht sie wieder in Liebe: Angetan mit einem tief dekolletierten roten Kleid schreitet sie in beinahe schon frivoler Büßerinnen-Lust zum Schafott.

Die Inszenierung ist über weite Strecken eher ein Geschehenlassen; weder tritt sie dem Text zu nahe, noch zwängt sie die Darsteller in ein Korsett. Die auf Aktualisierung hindeutende Anspielung im Programmheft, nach der Barschel-Pfeiffer-Affäre verdienten die klassischen Tragödien und Staatsaktionen wieder neues Interesse, ist nur Koketterie.

Grenzen und Beengungen setzt also weniger die Regie, sie liegen hier eher im schauspielerischen Vermögen. Streckenweise erlebt man Aufsagetheater nach altbekanntem Schema: Wer gerade Text hat, tritt vor, spricht, tritt zurück, verharrt still, als habe er/sie nun mit dem Stück nichts mehr zu tun. Die besseren, dichteren Szenen sind daher meist jene, in denen nur eine oder zwei Personen auf der Bühne stehen.

Die Nebenrollen sind in sehr unterschiedlicher Güte besetzt. Die Spannweite reicht von Holger Scharnberg, der mit dem Part des Sekretärs Davison höchst präsent ist, über Publikumsliebling Heinz Voss, der als Shrewsbury einfach bruch- und geheimnislos als der „Gute Mensch von Fotheringhay“ auftritt, bis hin zu Herbert Ecker („Graf von Kent“), der sehr blaß bleibt. Alles in allem war die Ensembleleistung aber passabel.




Erinnerungs-Fahrten durch Tod und Traum – Reinhild Hoffmanns Tanztheaterstück „Verreist“

Von Bernd Berke

Bochum. Eisblöcke überall: In derSchultüte (statt Süßigkeiten); hoch aufgetürmt als Trennwand absoluter Kälte zwischen Mann und Frau; aber auch als kofferförmiges Reisegepäck und als „Schlitten“, auf denen man lustvoll die abgeschrägte Bühne hinuntersausen kann. Eisblöcke für Spiel und Schrecken.

„Verreist“ heißt Reinhild Hoffmanns Tanztheaterproduktion, 1986 in Bremen gezeigt und am Samstag (unter brausendem Premierenbeifall) erstmals in neuer Bochumer Fassung zu besichtigen. Statt „Verreist“ (sprich: unterwegs) könnte der Abend auch wortspielerisch in „Vereist“ (sprich: gefroren) umgetauft werden. Es friert nicht nur Wasser zu Eis, sondern auch Bewegung zur Starre. So werden in einer der wenigen Szenen, die sich direkt auf die touristische Form des Reisens beziehen, die Gesten einer Schar von Strandbesuchern immer wieder angehalten und als todesstarre Imponier-Posen „ausgestellt“.

Reisen aber ist hier mehr als bloßer Ortswechsel, es ist Spurensuche und Erinnerungs-Reise, in deren Verlauf Biographie-Splitter konfettibunt aufgewirbelt werden (Ziel: Kindheit), die Reise in den Schlaf (Ziel: Traum) und überhaupt die Lebensreise (Ziel: Tod).

Bühnen-Ort solcher Aufbrüche in die Fremde ist ein von Johannes Schütz entworfener, in Richtung der Zuschauer schräg abfallender Raum mit riesigen Tapeten und überdimensionalem Fensterkreuz. Darin sind die Akteure wie Kinder in einer zu groß geratenen Welt. Aus dieser Perspektive ergeben sich helle, fast „sprühende“ Darstellungs-Bilder. So vieles geschieht gleichzeitig und durcheinander, wie im fröhlichen Tohuwabohu eines Kindergeburtstags. Die Reise führt dabei gleichsam auch durch eine, freilich surrealistisch ausgeleuchtete „Sesamstraße“: Ein zotteliger Eisbär tappt niedlich über die Bühne (wird dann aber – desto unbegreiflicher – erschossen), ein toter Fisch bekommt eine Narrenkappe aufgesetzt.

Die spielerische Unmittelbarkeit wird auch sonst häufig gebrochen. „Vorboten“ der Unwirklichkeit sind Requisiten wie die erwähnten Eisblöcke, Spiegelscherben und Glasscheiben. Die Häufung von Todes-Zeichen ist unübersehbar: Eine Art Fährmann. mit seiner Rabenmaske (wie aus Zeiten der Pest) gewiß dem Reich des Nichtmehr-Seins zugehörig, ist „Reiseleiter“. Rituale mit Kerzen, Kreuzen, Kränzen und Asche sowie Kreuzigungs-Szenen sind Stationen der Fahrt.

Aber es ist keine „Schwarze Messe“, denn zwisehen derlei Düsternis blühen immer wieder helle Szenen auf, die von – wenngleich mühsam errungener – Lust und Befreiung erzählen. So auch ganz am Schluß, wenn Julie Shanahan mit knallroten, hochhackigen Schuhen auf einen Eisblock tritt, den kalten Würfel immer mehr zerkleinernd. In einer verzweifelten Mischung aus Trotz und Triumph ruft sie ins Publikum: „Ich tanze! Ich tanze!“

Zu elektronischen Klang-Collagen (Christina Kubisch) und einem breiten Musik-Spektrum (u. a.: Ligeti, Rossini, Mahler, Tanzmusik, Italo-Schnulze „Santa Lucia“) bewegt sich Reinhild Hoffmanns fabelhaftes Ensemble auf einern Grat zwischen Tanztheater und meist wortlosem Spiel. Tanz ist Ziel-, nicht Ausgangspunkt. Die Reise dorthin hat viele fesselnde Momente.

Kleiner Einwand: An einigen Stellen wird es doch ein wenig zu geschmäcklerisch. Da scheinen, bis hin zur Abstimmung der Farben, einzelne Szenen im Sinne bloßer Selbstzweck-Ästhetik entworfen zu sein – und nicht im Zeichen von Dringlichkeit.




„Romeo und Julia“: Die Liebe zwischen Schlafwandlern – Wolf Redls Inszenierung zum Saisonstart in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Ein gigantisches Viereck lastet schwer über der Szene. Es ist dunkelrostrot besprenkelt. Längst eingetrocknetes Blut? Zeichenspur einer Gewalt, die sich seit altersher eingerichtet und unüberwindbar verewigt hat? Dann wäre die Tragödie von „Romeo und Julia“ nur eine unter vielen und man müßte nicht gar so viel Aufhebens darum machen. In diese Richtung scheint denn auch Wolf Redls vierstündige Bochumer Inszenierung des Shakespeare-Klassikers zu zielen.

An „Romeo und Julia“ haben sich in den letzten Jahren kaum noch große Bühnen gewagt. Das wird wohl seine guten Gründe haben. Tatsächlich gibt es hier ja zahlreiche Klischee-Klippen. Über die Abfolge von Selbstmordmonologen und -vollzügen muß man sich erst einmal mit Anstand hinwegretten.

Für Bochumer Verhältnisse und Erwartungshaltungen ist es eine sehr konventionelle Inszenierung geworden, die sich eher in Zurücknahme und Reduktion gefällt als darin, Überraschendes aus dem Stoff hervorzutreiben. Selbst die zahlreichen Degenfecht-Szenen werden in keiner Weise stilisiert, sondern nach „alter Schule“ vorgeführt.

Schon die Musikbegleitung deutet auf „Sparflamme“ hin: eine Art Minimal-Musik vom orgelstimmigen Sythesizer, ein stetes An- und Abschwellen, hier und da mit Geräuschen elektronischer Apokalypse angereichert. Sanfte Bedrohung und ein Hauch von schlechter Ewigkeit.

Auch die Gefühlslage ist kaum einmal leidenschaftlich oder gar hitzig. Es scheint, als sei man unschlüssig, ob man (noch oder wieder) die „ganz großen“ Emotionen riskieren soll und darf. Romeo (Thomas Wittmann) ist kein glühender Liebhaber, sondern ein schlafwandlerischer Jüngling, der gleich in seiner ersten Szene wie zwischen Watte gepackt und wie auf einer Wolke „hereinschwebt“. Ein somnambuler Märtyrer, der nichts bewirken wird. Wenn er plötzlich mit zwei Degen auf Tybalt losstürmt, wirkt dieser Furor wenig glaubhaft. Ähnliches gilt für Capulets unvermittelten Wutausbruch gegen seine Tochter Julia. Auch diese Julia (Micheline Herzog) ist eher ein seelisches Leichtgewicht; sie wird eben erst 14 Jahre alt. Mitleidig und nachsichtig, nicht aufgewühlt sieht man Ihrer Tragödie zu.

Schlüsselfigur dieser Inszenierung ist der Fürst Escalus (hier von einer Frau, Hildegard Kuhlenberg, gespielt). Kein machtvoller Souverän, der die verfeindeten Familien Montague und Capulet zur Versöhnung drängen könnte. Eher schon eine schwarze Klagegestalt, die die offenbar immer schon unvermeidlichen, furchtbaren Ereignisse lediglich schaudernd konstatiert und Strafen nur noch der „Ordnung“ halber zumißt.

Die Versöhnung der Grafen Montague und Capulet angesichts der Selbstmorde Romeos und JUlias wirkt denn auch eher wie eine Pflichtübung. Kurz, beinahe achselzuckend wird der Tod der jungen Liebenden bedauert. Dann gehen die beiden Grafen ab, als wollten sie nunmehr ihre Untaten gemeinsam ins Werk setzen.

Dankbare Nebenrollen: Stefan Hunstein (Mercutio) und Hedi Kriegeskotte (Julias Amme) bekamen den meisten Premierenbeifall. In der Tat schienen die Nebenrollen schlüssiger besetzt als die tragenden Parts.

Fazit: Halbwegs gutes Stadttheater (ohne Herablassung gesagt), aber gewiß keine Aufführung, die den – doch wohl noch vorhandenen? – Bochumer Anspruch einlöst, zu den „ersten“ Häusern der Republik zu gehören.




Zwischen Lyrismen und Kalauern – Lünen: Das Theaterpathologische Institut mit „Die Raupe versteht den Schmetterling nicht“

Von Bernd Berke

Lünen. Samtbedeckt die ganze Bühne, im Hintergrund ragt einsam ein Riesenkaktus auf. Doch die trostlose Einöde ist nicht unbelebt. Hierher hat es drei Frauen verschlagen, die unter heißer Sonne ihre bundesrepublikanisch-verkühlten Seelchen auslüften wollen.

Pseudophilosopische Bröckchen, hartnäckig-oberflächliehe „Beziehungs“-Analysen, viel Psycho-Geschwätz, eine kleine Portion Frauenpower, Aufschwünge in falsche Bedeutsamkeit, halblinker Muff und minimal-Reste von sozialem Gewissen vermengen sich da zu einer wohlvertrauten Mixtur. Roland Rebers Theaterprojekt „Die Raupe versteht den Schmetterling nicht“, neueste Produktion seines .„Theaterpathologischen Instituts“ (TPI) in Lünen und Saisonauftakt daselbst, läßt dieses Gemisch freilich nicht nur im Habitus seiner Figuren aufgehen, sondern ist selbst davon durchdrungen.

„Das Stück entstand in Südspanien im Sommer 1987″, verrät der Programmzettel. Wenn Reber und die Seinen Urlaub machen, dann jedenfalls nicht Urlaub vom Theater. So wird man denn in Lünen quasi zum „Mitleser“ von Urlaubsnotizen, die nur leider recht ungeglättet auf die Bühne gerieten.

Es sind eher Vorarbeiten und Materialien zu einem Stück, weder sprachlich noch im Hinblick auf Bühnenwirksamkeit hinreichend aufbereitet. Sonderlich theatergerecht ist das Projekt über weite Strecken schon deshalb nicht, weil die zahlreichen Monologe nur im Falle schauspielerischer Spitzenleistungen nicht ermüden würden. Sprachlich schwankt das Ganze – ohne sinnvolles Kalkül – zwischen erhabenen Lyrismen und Kalauern.

Wie es sich für eine rechte Spanienreise gehört, ist viel von Stierkampf und (seiner Todestheatralik) die Rede, natürlich fehlt nicht die einschlägige Hemingway-Lektüre im Gepäck, und Don Quijote kommt auch vor.

Aus dem Arsenal der Wahrheiten und Bilder zieht Reber häufig das hervor, was zu oberst liegt. Vom Süden berauscht, versteigen sich seine drei Frauen ins Nächstliegende: Im Süden begann, so dozieren sie, die Renaissance, im Norden gedieh der grüblerisehe „Faust“. Alles eine Frage des Klimas.

Auch sonst hält man sich eher an Natur und Zoologie: So leitet sich der Projekttitel von der Abfolge „Raupe Puppe-Schmetterling“ her, deren Dreiheit mit den drei Frauen in Bezug gesetzt wird. Die Raupe gilt dabei als begriffslos-lnfantiler Beginn, der Schmetterling als Schönheit zum Tode, als Dekadenz; die Puppe aber, einzig lebensgerecht, versinnbildlicht den Schwebezustand dazwischen. Ein möglicherweise ergiebiges Bild, das aber hier nicht wirklich freigesetzt wird.

‚Überhaupt der Umgang mit Bildern und Vergleichen. Da steht eine Agave offenbar nur deswegen auf der Bühne, damit es heißen kann, sie blühe nur ein einziges Mal – und eine Frau sinniert: „Wie wir.“ Wer da nicht ins faustische Grübeln kommt…

Wie schon in der TPI-Produktion „Friedrich“ heißt es auch diesmal (frei nach Beuys): „Zeige deine Wunde“. Kam Friedrich als eine Art Gekreuzigter auf die Bühne, so diesmal in einer Szene die halbnackte Gun Oehlert als abgestochener Stier. Ein arg verrutschtes Bild, Dämonie wie vom Rummelplatz.

Und wo bleibt das Positive? Nun, es wog im Grunde gar nicht wenig. Das Bühnenbild (Reber) war ansehenswert, und die schauspielerischen Leistungen von Ute Meisenheimer, Gun Oehlert und Fee Sachse verdienen auch nicht mehr das Prädikat „Laientheater“.




„Das weite Land“ der Menschenseele – Luc Bondy hat Schnitzlers Drama verfilmt

Von Bernd Berke

Köln. In der Menschenseele regiert das Chaos: „So vieles und so verschiedenes hat zugleich Raum in uns. Liebe und Trug, Treue und Treulosigkeit; Anbetung für die eine und dennoch wildes Verlangen nach der anderen. (…) Die Seele (…) ist weites Land.“

Dieses wildzerklüftete Laiidschaftsbild, das man für banal, aber auch für unterschwellig ironisch halten kann, entwarf der österreichische Dramatiker Arthur Schnitzler 1910 in seiner Tragikomödie „Das weite Land“. Luc Bondy, noch Mitdirektor der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, hat daraus einen Film gemacht, der heute in ausgewählten Kinos anläuft.

Bondy, der das Stück 1984 in Paris fürs Theater inszenierte, leuchtet nicht etwa gesellschaftliche Hintergründe (Stichwort: „Bürgerdämmerung“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs) aus. Er konzentriert sich ganz auf die „Chemie“ der Gefühlsregungen, aufs treulose Spiel der Emotionen, das jedoch unvermittelt in tödlichen Ernst umschlagen kann. Komische Akzente sind äußerst sparsam und zurückhaltend gesetzt, eine Stimmung der Vergeblichkeit herrscht vor.

Im Mittelpunkt steht der Glühlampenfabrikant Friedrich Hofreiter (Michel Piccoli), der sich auch bei glanzvollen Soireen nur mäßig vom Geschäftsleben erholt. Allgemeine Leere und Künstlichkeit (mehrfach formieren sich die Filmdarsteller zu kühlen Tableaus nach Art eines Wachsfigurenkabinetts) verlangen nach Aufstachelung, nach Kitzel. Hofreiter sucht solchen „thrill“ auf erotischem und sportlichem Felde. Das „weite Land“ seiner Seele führt Eroberungskriege. Piccoli zeigt eindrucksvoll, wie dieser Mann – unfähig zur Liebe – nur den Schauer vor der Erfüllung sucht. Nach solchen Aufwallungen stößt er die Frauen buchstäblich und brüsk zurück – eine eigentümlich hitzige Mischung aus gewaltsamer „Keuschheit“ und galoppierender Gier. In diesen Strudel reißt Hofreiter auch andere mit hinein: seine Frau, deren vermeintliche Liebhaber, seine eigenen Geliebten.

Bondy hat ersichtlich um bildkräftige Umsetzung gerungen. Vielen Bildern sieht man es an, wie überlegt sie durchkomponiert sind. Da gibt es Symmetrien oder ins Bild ragende Diagonalen, die genau so stimmen und nicht einen Deut anders sein dürften. Künstlichkeit allenthalben, wir sind im Museum der Gefühle, in dem, es zwar auch für den Kinozuschauer nicht ganz ohne Langeweile abgeht, aber es ist doch stets edle, gepflegte Langeweile.

Hinzu kommt eine ausgeklügelte Choreographie der Gänge und Verrichtungen, vorgeführt mit häufigem Tempowechsel. Mal hält die Kamera (Thomas Mauch, oft Kameramann bei Werner Herzog), erbarmungslos geduldig, auf unscheinbarste Gesichtsregungen, dann verfolgt sie ruhelos die Figuren, die mit ihren willkürlich aufgepeitschten Emotionen in stille Naturwinkel einfallen und sie mit Chaos anfüllen: der Mensch als Störenfried der Welt.

Neben Michel Piccoli bleibt vor allem Bulle Ogier als Hofreiters Frau Genia in Erinnerung, die vor Resignation ganz hell, fast wie eine Heilige, erstrahlt.




Überlebende durch Traum und Lüge – Gorkis „Nachtasyl“ an neuer Spielstätte in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Szenen aus der Tiefe“ lautet der Untertitel von Maxim Gorkis Elends-Drama „Nachtasyl“. In Helmut Palitschs Wuppertaler Inszenierung (zeitnahe Übersetzung von Thomas Brasch) wird diese Frühform von „Ganz unten“ wirklich ins Kellergeschoß verlegt.

Die „alte Küche“ unter der Stadthalle am Elberfelder Johannisberg, erstmals als Spielstätte genutzt, ist ein öder, verkommener Raum, rundum mit Kacheln ausgekleidet und wie geschaffen, eine trostlose letzte Zuflucht der Ausgestoßenen darzustellen. Dieser Spielort erspart das Bühnenbild, er ist aussagekräftig genug. Wenige Requisiten, etwa Bierflaschen und Zigarettenkippen, die am Schluß den Boden übersäten, reichen aus. Die Entscheidung für diese Spielstätte ist richtig. Man sollte „Nachtasyl“ nicht im schmucken Schauspielhaus vor gepolsterten Sesseln spielen. Auch daß hier ohne Pause gespielt wird, hat seinen Sinn. Snacks, Sekt und Smalltalk wären fehl am Platze.

Noch eine sinnvolle Entscheidung: Die Inszenierung zeigt das Elend nicht naturalistisch ausgekleidet vor, sie legt es nicht darauf an, beim Zuschauer wohlfeiles Mitleid hervorzurufen, in dem er sich womöglich sogar sonnen könnte. Mindestens so sehr wie um die materielle Verelendung geht es hier um psychische Defekte. Damit liegt Palitsch auf der Linie wichtiger „Nachtasyl“-Inszenierungen der letzten Jahre.

Reste der Arbeitsgesellschaft (im Stück werkelt ein Schlosser vor sich hin) sind getilgt. Die Figur des Kürschners fehlt ganz, der Schlosser (Günter Delarue) putzt – für eine Zukunft, die nie kommen wird – nur noch seine Werkzeuge und trägt sie sinnlos hin und her. Herausgehoben wird denn auch Satins „Tunix“-Utopie, die Vorstellung, alle würden aufhören zu arbeiten.

Überhaupt spielt der Umgang mit Utopien hier eine wichtige Rolle: Betrug und Selbstbetrug sind die – freilich arg beschädigten – Anzeichen einer Vorstellungskraft, die hinaus will. Zugleich hat der laxe Umgang mit der bitteren Wahrheit handfeste Funktion: er sichert das Überleben. Wer aus Lüge und Traum erwacht, ist schon verloren.

Das Handlungsgewoge, in dem mal die Illusionen, mal die unerbittlichen Einsichten die Oberhand gewinnen, wird schauspielerisch auf unterschiedlichem Niveau dargestellt. Manche Szenen (Mord am Nachtasyl-Besitzer) würde ich mir stärker stilisiert wünschen. Zum Glück werden schwächere Leistungen durch Ensemble-Spiel „aufgefangen“. Positiv fallen Wolfgang Packhäuser als Satin und Jochen Fahr in der kleinen Nebenrolle des „Aljoschka“ auf.

Asylherr Kostylew (Herbert Ecker) ist hier nicht ein Vollblut-Ekel, sondern ein schmalbrüstiger Hausmeister; der Pilger „Luke“ (Bernd Kuschmann) wirkt nicht wie ein weiser Greis, sondern wie eine Mischung aus Sozialarbeiter und Aasgeier des Elends, der das Unglück der anderen braucht und immer ein paar humane Sprüche parat hat.

Eindrucksvoll das eher komödiantisch angelegte Paar „Baron“ (Gerhard König) und „Satin“, das von Beckett oder O’Casey stammen könnte. Nur: Die langen und tiefsinnigen Reden am Schluß („Der Mensch ist die Wahrheit“) nimmt man „Satin“ dann nicht leicht ab. Hier hätte man mehr straffen sollen.




Duisburg als Vorreiter beim Kulturaustausch mit der DDR – Bilanz nach dem „Akzente“-Festival

Von Bernd Berke

Duisburg. Einen gewaltigen „Bammel“ hatten alle Beleiligten vor dem Duisburger Kulturfeslival „Akzente“. Bei einer bisher beispiellos vielfältigen West-Präsentation von DDR-Kultur hätte ja so vieles „schiefgehen“ können. Doch gestern, nach vollbrachten Taten, konnten Duisburgs Kulturdezernent Konrad Schilling und seine Mitstreiter hörbar aufatmen.

„Kein einziger Flop“ (Schilling) sei ihnen unterlaufen, die Besucherzahl von 73 000 könne sich hören lassen, und praktisch alle Veranstaltungen seien von hoher Qualität, ja meist richtig „aufregend“ gewesen. Schilling zitierte bei seiner Bilanz den DDR-Kulturminister Hoffmann, der gesagt habe, dies sei „ein Festival des Lernens“ gewesen – für beide Seiten.

Die insgesamt rund 110 Veranstaltungen, die – vom Deutschen Theater Ost-Berlin bis hin zu Autoren wie Christa Wolf – zahlreiche „Einblicke“ (FestivaI-Untertitel) in die Kultur des zweiten deutschen Staates ermöglichten, brachten auch zahlreiche „informelle Kontakte“ mit sich. Wie Duisburgs Oberstadtdirektor Richard Klein gestern befriedigt feststellte, haben solche Begegnungen bleibende NachWirkungen. Klein zeigte sich vom Verlauf des gesamten Festivais „überwältigt“.

Kulturdezernent Schilling ließ anklingen, daß Duisburg den Ruhm nicht ganz allein ausschöpfen wolle. Man habe dermaßen viele und wichtige Kontakte in die DDR geknüpft, daß auch andere (Revier-)Städte davon profitieren könnten. Freilich müsse festgehalten werden, daß Duisburg im Kulturaustausch mit der DDR eine Vorreiterrolle gespielt habe. Das Akzente-Festival sei dabei lediglich ein Höhepunkt. Im Grunde vollziehe sich hier ein langer, tiefgreifender Prozeß, gleichsam das langsame Wachstum eines „zarten Pflänzchens“, dessen erstes Aufkeimen man in Duisburg gesehen habe. Ein erfreulichesÄnzeichen sei zum Beispiel,daß man eine Duisburger Ausstellung mit DDR-Leihgaben durch ein schlichtes Telefonat mit dem DDR-Kulturministerium habe verlängern können. So etwas sei vor einem halben Jahr noch ganz undenkbar gewesen,

Auch für das nächste Akzente-Festival im Jahr 1988 erwarten die Duisburger eine starke Beteiligung von DDR-Künstlern. Im nächsten Jahr soll das Schwerpunktthema „Die Kulturleistungen des deutschsprachigen Judentums“ lauten. Der Rat der Stadt muß die Planung noch bestätigen.

Duisburg als „Eisbrecher“ im west-östlichen Kulturbetrieb – so könnte auch die Schlagzeile für die zweite Großunternehmung lauten, die gestern im Rathaus der Revierstadt bilanziert wurde. Die Rede ist vom Gastspiel der „Deutschen Oper am Rhein“ (Duisburg/Düsseldorf) und der Duisburger Sinfoniker in Moskau. Die Sowjets hätten den Klangkörper aus Duisburg geradezu enthusiastisch gefeiert, hieß es dazu. Das Orchester aus dem Ruhrgebiet habe sich vor einem verwöhnten und daher kritischen Publikum selbst übertroffen.




Überraschung in Mülheim: Dramatikerpreis an Volker Ludwig für „Linie 1″ – Jury und Publikum votierten für Revue des Grips-Theaters

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Überraschung ist perfekt, doch sie konnte bei Licht besehen gar nicht ausbleiben. So paradox könnte man den Beigeschmack der Jury-Entscheidung bei den Mülheimer Theatertagen „stücke ’87“ umschreiben. Der mit 20.000 DM dotierte Dramatikerpreis geht an Volker Ludwig. Mit diesem Votum für „Linie 1″ (Rock-Revue des Grips-Theaters), wolle man, so die Jury-Begründung, „eine auf deutschsprachigen Bühnen seltene Form des kritischen Unterhaltungstheaters“ fördern.

Das U-Bahn-Stationenstück, so die Jury weiter, verbinde Elemente der musikalischen Revue und des  Sprechtheaters, um „Probleme großstädtischer Lebenswirklichkeit und der Jugendkultur“ zu thematisieren. Gewürdigt werde mit dieser Entscheidung auch „die Kontinuität der Theaterarbeit des Autors Volker Ludwig und des Grips-Theaters“.

Fünf von acht Jury-Experten – drei stimmten für Elfriede Jelineks Vampir-Stück „Krankheit“ – haben damit dem Geschmack der Publikumsmehrheit entsprochen (was in den vergangenen Jahren längst nicht immer der Fall war). „Linie 1″ war der eindeutige Favorit bei den Zuschauern, sowohl, was die Besucherzahlen in Mülheim, als auch, was die Stimmzettel anging.

In der mitternächtlichen Diskussion nach Bekanntgabe des Jury-Entscheids erhoben sich einige Stimmen, die das Urteil für unseriös erklärten, von einem „Wende-Signal“ sprachen oder polemisierten, hier zeige sich eine Tendenz zur flachen Unterhaltung wie im Privatfernsehen.

Es ließen sich tatsächlich stichhaltige Einwände gegen „Linie 1″ erheben, etwa der, daß gesellschaftliche Randgruppen hier auch zum Objekt der Unterhaltung werden. Andererseits stecken in der kalkuliert kitschigen und witzigen Verpackung des Stücks auch kritische Inhalte.

Von einem „Signal“ der Jury kann man tatsächlich sprechen. Ausformuliert und an die Adresse der Theaterautoren gerichtet, könnte es in etwa lauten: „Entfernt euch nicht zu sehr vom Publikum!“ Ein Appell, der mit Blick auf die Gesamtheit der Mülheimer Wettbewerbsbeiträge einiges für sich hat, kam doch vielfach sprachlich überladene, stockdüstere Endzeit-Prosa auf die Bühne, die allenfalls unter dem Aspekt „publikumswirksam“ war, daß sie für Unklarheit in den Köpfen sorgte, was – wie sich in den Mülheimer Diskussionen nach den Aufführungen zeigte – von einigen Theatermachern bereits als das Nonplusultra ihrer Arbeit angesehen wird. Motto: „Was ich verstehe, damit bin ich fertig.“

Als letztes der sechs Stücke wurde am Donnerstag Abend Horst Wolf Müllers „Komarek“ in der Karlsruher Inszenierung von Hagen Mueller-Stahl gezeigt. Die Geschichte eines Arbeitslosen spielt 1932 und soll die Durchdringung des Privaten durch das Politische (Aufkommen des Nationalsozialismus) vorführen. Ob der Text dies leisten kann, ist nach dieser Inszenierung nur sehr schwer zu sagen. In der beinahe naturalistischen Darbietung, die in Mülheim zu sehen war, wird eher eine Vernebelung des Politischen durchs Private daraus. Die Frage bleibt, ob das sprachlich sehr zurückhaltende Stück mit feinem Instrumentarium unterschwellige Vorgänge erfaßt oder ob es einfach nur halbherzig und harmlos ist. Das Stück, dessen Autor übrigens als Angestellter im Bundespresseamt arbeitet, konnte in der gezeigten Darbietung noch nicht den Verdacht ausräumen, daß es eher eine entlastende und versöhnliche Tendenz à la Kempowski als die Schärfe eines Horváth hat.




Essen: Studienzentrum für Bühnenberufe geplant – Konzept von Prof. August Everding

Von Bernd Berke

Essen. Die Folkwang-Musikhochschule in Essen soll zu einern bundesweit beachteten Zentrum für Darstellende Kunst, Bühnenbild und Dramaturgie ausgebaut werden. Kein Geringerer als Prof. August Everding, der umtriebige Generalintendant der Bayerischen Staatstheater, wurde von der NRW-Landesregierung zum „Geburtshelfer“ des ehrgeizigen Projekts auserkoren.

Gestern legte Everding in Essen ein 46-seitiges Gutachten vor. Danach soll ein entsprechend erweitertes Institut in enger Kooperation mit Revier-Bühnen (vor allem Essen und Bochum) arbeiten und bislang verstreute Ausbildungsangebote des Theatersektors bündeln. Ein besonderer Schwerpunkt, so schwebt es Everding vor, soll dabei die Ausbildung von Musical-Darstellern werden. Diese Sparte sei bislang eher ein Stiefkind der bundesdeutschen Theaterlandschaft und damit auch der Ausbildung. Es sei sicherlich kein Zufall, daß gegenwärtig rund 60 Prozent der Musical-Mitwirkenden aus dem Ausland kommen.

Für sein Gutachten nahm Everding den derzeitigen Zustand der Musikhochschule, die ihr Domizil im idyllischen Essener Stadtteil Werden hat, unter die Lupe. Everding („Das Revier ist ein hervorragender Standort für eine solche Einrichtung“) befand, daß einige zusätzliche Ausbildungszweige eingerichtet werden müßten (Kostüm, Maske, Bühnentechnik, Bühnenverwaltung); andere Tätigkeitsfelder müßten nur mehr Gewicht bekommen (Dramaturgie, Musical). Er plädiert für eine umfassende Ausbildung im Sinne des „Gesamtkunstwerks“ Theater. Hochqualifizierte Absolventen eines solchen Studiengangs seien übrigens, so Everding, nicht nur bei Theatern, sondern auch beim WDR und vielleicht auch beim Privatfernsehen gefragt.

Nach Everdings Vorstellungen soll allerdings nur eine „Elite“ in den Genuß der allseitigen Theaterausbildung kommen. Für den Studienschwerpunkt „Bühnenbild“ dürfe man beispielsweise maximal sechs Studenten aufnehmen, denn: „Überproduktion wollen wir nicht.“ Und: Die Lehrenden sollen sich gar nicht erst auf unverrückbaren Professorenstühlen einrichten. Everdings Konzept sieht für sie vor allem Zeitverträge und Gastdozenturen vor. Man habe zwar die „beste Theaterlandschaft der Welt“, doch mit der Ausbildung des Nachwuchses liege vieles im argen, sie sei zu theoretisch orientiert. Daher sei auch eine „Ausbildung der Ausbilder“ nötig. Everding: „Der geniale Regisseur oder Sänger muß nicht unbedingt ein guter Vermittler sein“. Eine Folge der jetzigen Misere sieht Everding darin, daß sich in Sachen Theaterausbildung zahlreiche dubiose Privatschulen andienen.

Möglichst frühe und regelmäßige „Praxisnähe“ soll für die künftigen Essener Studenten also das „A und O“ sein: Wenn im August 1988 die neue Oper (Aalto-Bau) in Essen eröffnet, soll den Folkwang-Studenten ein Opernstudio zur Erprobung des Gelernten zur Verfügung stehen. Wünschenswert sei auch eine hochschuleigene Probebühne. All dies könne man relativ kostengünstig in die Tat umsetzen. Beim Thema Finanzen war NRW-Wissenschaftsministerin Anke Brunn gefragt, die gestern Everdings Thesenpapier in Empfang nahm und mit Lobeshymnen auf die Kultur im Ruhrgebiet nicht geizte. Frau Brunn stellte Grundsatz-Entscheidungen bis Mitte dieses Jahres in Aussicht, so daß man Vermutlich 1988 die ersten Schritte einleiten könne. Von Everdings Konzept zeigte sie sich angetan.




Die Banalität des Bösen zwischen Pathos und Witz – Andrea Breth inszeniert Edward Bonds „Sommer“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der deutsche Jugoslawien-Tourist salbadert selbstgerecht von NS-Massenerschießungen im Zweiten Weltkrieg, an denen er hier selbst beteiligt war – und mampft dazu ein Sandwich. So abgründig banal kommt in Edward Bonds „Sommer“ und in Andrea Breths Bochumer Inszenierung des Stücks das Böse, kommt die vielzitierte „Unfähigkeit zu trauern“ daher.

Sommerurlaub. Wie in vielen Jahren zuvor, so sind auch diesmal Xenia (übersetzt: „Die Fremde“) und ihre Tochter Ann aus England gekommen. Xenia ist hier aufgewachsen, ihrem Vater gehörte einst die halbe Gegend samt Fabriken und Zeitungen. Im Krieg spielte er, sich immer liberal und freundlich gebend, eine Doppelrolle: Kollaboration mit den mörderischen Nazi-Besatzern und gleichzeitig Tipps an die Partisanen.

Xenia besucht Marthe, die ehemalige Haushälterin der Familie, die damals von den Nazis erschossen werden sollte, von Xenia aber „großmütig“, wie es nur Besitzende sich leisten können, gerettet wurde. Marthe, der längst das Haus gehört, ist nun todkrank. Sie kann Xenia nicht vergeben. Aus dem daraus folgenden Ringen um die Vergangenheit, von der es keinen Urlaub gibt, bezieht das Stück Sprengkraft, die aber vielfach „zugeredet“ wird.

Andrea Breth hat sich leider nicht zu Streichungen entschließen können, sie läßt sich (Spielzeit: dreieinhalb Stunden) sozusagen auf jede Windung ein, weder Pathos noch Karikatur scheuend. Diese Einläßlichkeit ist Stärke, wird aber auch zur Schwäche, weil das Stück doch vielfach in einen langatmigen, beinahe dozierenden Tonfall gerät. Da reiht sich Satz an Satz, Beispiel an Beispiel, wenn etwa ein ganzes medizinisches Kolleg abgehalten wird, mit dem natürlich nur eine Wahrheit des Todes auf den Begriff gebracht werden kann. Vor allem in den Passagen über die Nutzlosigkeit von Freundlichkeit unter kapitalistischen Verhältnissen wünscht man sich die Prägnanz eines Bert Brecht, der zielstrebiger „auf den Punkt“ kam.

DasBühnenbild (Wolf Redl): eine südländische Terrasse, blendend weiß, Ausblick in nebelhafte Ferne. In einer späteren Szene: schwarze Wände (die ehemalige Erschießungsmauer), gespenstische Echos. Ein Bild wie von Böcklins „Toteninsel“.

Marthe (Katharina Tuschen) spricht zunächst tonlos, in lauter Brüchen und die Worte wie aus unendlichen Grabestiefen hervorholend. Nach einem befreienden Akt (sie spuckt Xenia im Namen der Erschossenen an) tanzt sie zur Musik aus der nahen Hotel-Dicso – eine wunderbare, zerbrechliche Szene. Xenia (gleichfalls beeindruckend: Nicole Heesters) kommt großspurig auf Stöckelschuh’n, das vermeintlich rückständige Land durch West-Brille wie eine Kolonialherrin betrachtend („Hier heißen doch alle Iwan!“) und darin doch sehr dem deutschen Touristen (Rolf Schult) verwandt, der – eine Witzfigur des Schreckens – bis an die Grenze des Sagbaren gehen muß.

Doppelgesichtig: Marthes Sohn David (Stefan Hunstein), einmal „cool“, dann eruptiv besorgt um seine Mutter, und Xenias Tochter Ann (Andrea Clausen), anfangs nervös ihren Text hervorstoßend, dann plötzlich niedliche Strandmaus, schließlich – in eventueller Erwartung eines Kindes von David – Hoffnungs- und Lebensträgerin, allem vergangenen Tod ein Pathos-Zeichen entgegensetzend.




Dichtes und konzentriertes Schauspielertheater – Ibsens „Gespenster“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Schon Theatertradition hat die Spöttermeinung, nach der mit dem medizinischen Fortschritt ein Großteil der Konflikte in Henrik Ibsens „Gespenster“-Drama sich von selbst erledigt hätte. Das schlimme Erbteil des alten Lüstlings Alving, der seinem Sohn Osvald Syphillis und Hirnparalyse „vermacht“, hätte quasi ausgeschlagen werden können, und der ganze Familienabgrund, den dieses 1881 uraufgeführte Stück aufrührt, wäre bedeckt geblieben.

Man muß gar nicht an „Aids“ denken, um dem Stück neue Aktualität aufzuzwingen. Es handelt natürlich nur nebenbei auf medizinischer, vor allem aber auf psychologischer und gesellschaftlicher Ebene von den „Gespenstern“ einer Vergangenheit, die „nicht einmal vergangen ist“, mächtig das Heute überschattet und „späte Geburt“ eher zum Fluch macht.

Ulrich Greiffs Wuppertaler Inszenierung riskiert keine Neudeutung, sie ist konventionell wie ihr Bühnenbild (Rosemarie Krines), das Ibsens Anweisungen sehr getreulich folgt und so ähnlich schon vor Jahr und Tag hätte gebaut werden können. Greiff erliegt diesmal nicht den Versuchungen jener Art von Regietheater, mit dem er schon manches Mal Schiffbruch erlitten hat; er stützt sich hier ganz auf die Schauspieler. Und siehe da: es wird gutes Schauspielertheater, wie man es in dieser Dichte und Konzentration in Wuppertal lange nicht gesehen hat. Guten Gewissens kann man diesmal auch von wirklicher „Sprechkultur“ reden, die die Aufmerksamkeit zusätzlich in Bann schlägt.

In einer langen Reibe von „Aussprachen“ wird der Kampf der tödlichen Wahrheiten wider die verlogenen Ideale ausgetragen, wird das Trugbild der gutsituierten Familie Alving gnadenlos demontiert: Hervorragend Lin Lougear als Witwe Helene Alving, die stets bedrohte Balance zwischen Stolz und Verzweiflung haltend; auch Siegfried Maschek als Osvald hütet sich, die Anzeichen seiner Hinfälligkeit zu sehr zur Schau zu stellen. Günther Delarue als „Tischler Engstrand“ – ein Kabinettstück dummschlauer Verschmitztheit, etwas auch von jener Uneindeütigkeit einlösend, die Ibsen mit seiner legendären Antwort auf die Frage erzielte, ob denn Engstrand das Kinderasyl der Helene Alving in Brand gesteckt habe: „Zuzutrauen wär’s dem Kerl schon!“

Gerd Mayen als „Pastor Manders muß eine schwierige Gratwanderung absolvieren; allzu gestrig wirken die ordnungsfrommen Sittenthesen Kirchenmannes, so daß stellenweise Gelächter im Zuschauerraum aufkommt. Doch es wird auch deutlich, daß Manders ein großes Kind ist, das an Idealen hängt wie an Rockzipfeln; nur sind es die falschen, und der ganze Mann ist bemitleidenswert.

Es gab langen, herzlichen, beinahe erleichterten Beifall. Im Publikum klafften größere Lücken. Haben manche, nach der Kündigung des Wuppertaler Intendanten, das Theater bis auf weiteres aufgegeben?




Plötzlicher Sinneswandel: Wuppertals Intendant Fabritius gibt auf

Von Bernd Berke

Wuppertal. Kehrtwende um 180 Grad: Während noch bei der Spielplan-Pressekonferenz am Mittwoch beim Wuppertaler Theater alles in schönster und stabilster Ordnung zu sein schien (WR berichtete), brach gestern unverhofftes Chaos aus. Generalintendant Jürgen Fabrilius, der am Mittwoch noch in „voller Gewißheit“ (Fabritius) seine Bereitschaft zur Vertragsverlängerung um fünf Jahre angekündigt hatte, warf wenige Stunden später das Handtuch.

In einem gestern bekannt gewordenen Brief an den Kulturdezernenten Heinz Theo Jüchter schrieb Fabritius: „Ich möchte Ihnen mitteilen, daß ich für eine weitere Abstimmung über meine Vertragsverlängerung nicht mehr zur Verfügung stehe.“ Er sehe keine Basis für eine weitere Zusammenarbeit, weil der Kulturausschuß eine bereits empfohlene Vertragsverlängerung abgelehnt habe.

Anlaß für den urplötzlichen Sinneswandel war eine offenbar turbulente Sitzung des Wuppertaler Kulturausschusses am Mittwoch abend, bei der harte Kritik an Fabritius laut wurde. Die Schelte bezog sich auf die Qualität einzelner Schauspiel-Inszenierungen (vor allem: „Dreigroschenoper“), auf die Stagnation der Besucherzahlen im Schauspiel und auch schon auf den frisch veröffentlichten Spielplan ’87/’88. Der Ausschuß mochte dem Rat nicht empfehlen, Fabritius‘ Vertrag über 1988 hinaus zu verlängern.

Als er von dieser Stimmungslage erfuhr, schrieb der konsternierte (seit 1983 in Wuppertal tätige) Generalintendant des Dreispartentheaters  seine zitierte Absage. Kulturdezernent Jüchter, dem das Schreiben gestern-zuging, trocken: „Ich nehme den Brief zur Kenntnis“. Man werde nicht versuchen, Fabritius zu halten.

Meinungsumschwung im Kulturausschuß „auf kaltem Wege“?

Während Jüchter betont, die Kritik an Fabritius sei quer durch alle Fraktionen (SPD, CDU, FDP, „Grüne“) gegangen, wittert man am Theater das Schlimmste. Fabritius zur WR: Der „erdrutschartige Meinungsumbruch“ im Kulturausschuß müsse „auf kaltem Wege“ zustande gekommen sein. Das Ensemble sei „maßlos überrascht und brüskiert“.

Bühnen-Pressesprecher Hanns-Peter Keßler vermutet gar einen „politischen Deal“, der erst in den letzten Tagen hinter den Kulissen stattgefunden haben könne und die bisherige Mehrheit im Kulturausschuß gekippt habe. Danach hätten nur noch die „Grünen“ hinter Fabritius gestanden.

In der Tat hatte es bis Mittwoch den Anschein gehabt, als sei alles „in trockenen Tüchern“. Die Bühnenkommission hatte dem Intendanten noch im Juli 1986 die Vertragsverlängerung nachdrücklich angetragen. Der hatte sich, um Verhandlungen über den Bühnenetat abzuwarten, Bedenkzeit erbeten. Als sich nun eine Etat-Steigerung abzeichnete, war Fabritius zur Annahme bereit und ging mit dieser Mitteilung am Mittwochmorgen auch an die Öffentlichkeit.

Allerdings: Schien er auch relativ sicher im Sattel zu sitzen, sowar Fabritius doch – wie auch Pressesprecher Keßler einräumen muß – ein durchaus umstrittener Intendant.

Fest steht, daß sich die Wuppertaler eilig auf Intendantesuche begeben. Kulturdezernent Jüchter: „Im Sommer ’87 wollen wir den ,Neuen‘ verpflichten.“ Fabritius schwant Böses: Hoffentlich, so der Noch-Intendant, werde man seinem Nachfolger keine Etat-Verschlankung oder eine Sparteneinschränkung aufnötigen.




Wuppertal: Theater hofft auf Früchte der Beständigkeit – Stabiles Ensemble, zum Bleiben entschlossener Intendant

Von Bernd Berke

Wuppertal. Am Wuppertaler Theater stehen die Zeichen ganz auf Beständigkeit. Generalintendant Jürgen Fabritius will, wie er gestern vor der Presse bekräftigte, seinen Vertrag um fünf Jahre (bis 1992) verlängern, wenn die – fest in Ansicht gestellte – Aufstockung des Bühnenetats um rund 1,2 Mio. DM erwartungsgemäß vom Rat der Stadt gebilligt wird.

Eine bessere finanzielle Polsterung seines (1986 zu 74,8 % „ausgelasteten“) Dreispartenhauses hatte Fabritius zur Bedingung seines Verbleibs gemacht. Weiteres Signal für Kontinuität: Personell gibt es kaum Änderungen, das Schauspielensemble geht gar gänzlich unverändert in die Saison 1987/88. Fabritius äußerte sich befriedigt über diese Stabilisierung, denn in den 70er Jahren habe eine personelle Fluktuation geherrscht, die – mit Ausläufern bis heute – an der künstlerischen Substanz gezehrt habe.

Auf solch solider Basis also wagt das Schauspiel einen gemäßigt-„modernen“ Spielplan für die nächste Saison, die am 18. September 1987 mit Peter Weiss‘ „Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats…“ eröffnet werden wird. Es folgen: das kinoerprobte Musical-Stück „Cabaret“, für Kinder der unlängst in Dortmund so erfolgreiche „Lebkuchenmann“, Schillers „Maria Stuart“, Lorcas „Bernarda Albas Haus“, sowie im Februar 1988 die Uraufführung von „Tausend Rosen“, eines Beziehungsdramas aus dem Kleinunternehmermilieu – geschrieben vom Österreicher Gustav Ernst.

Außerdem geplant: Shakespeares „Komödie der Irrungen“, O’Neills „Ein Mond für die Beladenen“ und vermutlich eine klassische Komödie. Pina Bauschs Tanztheater, für das so viele Einladungen aus aller Welt vorliegen, daß man beim besten Willen nicht nachkommen kann, arbeitet u. a. an Glucks „Orpheus und Eurydike“. Josephine Ann Endicott gehört dem Ensemble wieder an.

Im Opernbereich tritt in der nächsten Spielzeit die Kooperation mit dem Gelsenkirchener „Musiktheater im Revier“ in Kraft. Die Gelsenkirchener zeigen – im Rahmen des Wuppertaler Abos – die Böll-Oper „Katharina Blum“ von Tilo Medek, im Gegenzug präsentieren die Wuppertaler Volker David Kirchners Auftragswerk „Orestie“ nach Aischylos – in der Saison’88/89.

Weitere neue Musiktheater-Projekte: Franz Schrekers „Spielwerk“, Künneckes „Vetter aus Dingsda“, Cherubinis „Medea“, Mozarts „Zauberflöte“, Massenets „Manon“ und Strauss‘ „Rosenkavalier“.




Zwischen Himmel und Hölle – Roland Rebers krudes Stück „Friedrich“ in Lünen

Von Bernd Berke

Lünen. Wie benimmt sich ein „Grüner“, falls er in den Himmel kommt? Er geht – Macht der Gewohnheit – in die Alternativabteilung und demonstriert für den Frieden. Welche Farbe hat das Licht, wenn’s erotisch wird? Rot!

Und wer sollte, Goethes „Faust“ allzu wörtlich nehmend, mal so richtig in „Auerbachs Keller“ aufräumen? Na, Götz George alias „Schimanski“ natürlich. So fix und fraglos klappen einige Schubladen auch in „Friedrich“, der neuen Produktion von Roland Rebers Theaterpathologischem Institut (TPI), wieder auf und zu.

Reber, dessen schauspielerische Mittel gar nicht zu verachten sind, möchte partout auch Autor sein. Als solcher hat er sich, wie zuletzt bei „Merlin“, erneut versucht. Die Struktur der losen Szenenfolge „Friedrich“ ist abermals proportionslos und ungefüge. Erst wird nach Vermögen kabarettelt, nachher will man unvermittelt in Bedeutsamkeit abheben, doch wo sind die Flügel? Es geht ein abrupter Riß mitten durch das Stück.

Die Auftaktszene spielt, wie nachträglich suggeriert wird, in einer Anstalt für psychisch Kranke. Mit überzogenem Zeitmaß wird das Irrsinnspotential der Personalfürwörter, besonders die Verwechselbarkeit von „er“ und „Er“ (jener Anrede aus feudaler Zeit) ausgereizt. Einige ganz passable Ideen hat Reber hier investiert, die Stimmungslage bewegt sich in einem Kraftfeld etwa zwischen Karl Valentin, lonesco und Ohnsorg-Theater.

Düpiert ist man freilich nicht, wenn die Anstaltsärztin (Jule Vollmer) diese Szene abbricht, wie denn überhaupt die Erwartungshaltung des Publikums nirgendwo wirklich angekratzt oder gar provoziert, sondern oft geradezu leichtfertig bedient wird.

Die folgenden Szenen führen ins Zwischenreich von Himmel und Hölle, deren jeweilige Türwächter trefflich mit den etwas angestaubten Klischees ihrer gegensätzlichen Reiche jonglieren. Doch mancher Scherz (so auch die kreuzbiederen Seitenhiebe gegen politische Parteien) wirkt hier – Verzeihung – ein bißchen platt oder gar pubertär. Es regiert das Naheliegende, Feinsinn ist fern. Auch Themen wie Selbstmord werden hier noch auf Juxebene abgehandelt, so daß man denken könnte, dies alles müsse uns gar nicht weiter bekümmern.

Durch alle Szenen geistert die Titelfigur „Friedrich“ (Friedrich Gaus), der in seinem ausgiebig bloßgestellten, verhuscht-tonlosen Autismus tatsächlich irritiert. „Friedrich“ wird von Reber, der in der Rolle des Autors die Bühne betritt, gegen das Restensemble verteidigt, weil Friedrich existentiell sonderbar sei und Verschrobenheit eben nicht nur spiele. Wer auf nichts aus ist, kann durch nichts und niemanden gedemütigt werden – diese Botschaft wäre auch verständlich, ohne daß man Friedrich zum quasi-christlichen Erdulder stilisiert und dann noch – es raschelt das Lexikonpapier – mit einem bescheidenen König (Friedrich V., 1596-1632) in eine Verbindung zwingt.




„Dreigroschenoper“ ohne Zähne

Von Bernd Berke

Wuppertal. War es Lust- oder Hilflosigkeit? Regisseur Brian Michaels jedenfalls hat Brechts „Dreigroschenoper“ in Wuppertal nur „an“-inszeniert und sonst den Dingen freien Lauf gelassen. Hier wurde ein bißchen choreographiert, da etwas verorpert, dort ein wenig verrockt und aufgegagt, aber nichts konsequent durchgehalten. Brechts Stück als Selbstbedienungsregal, wahllos geplündert.

Es fehlen auch Schärfe und Widerspruchsgeist. Letzterer könnte sich ja notfalls auch am Autor selbst reiben. Doch hier wird weder getreulich mit Brecht noch widerborstig gegen Brecht, sondern – und das ist am schlimmsten – ohne Brecht agiert. Daß man auf den revolutionstrunkenen Schlußchoral von 1948 verzichtet, mag angehen. Daß aber sogar die gedämpft aggressive „Abbitte“-BaIlade von Machheath „entfällt, legt den Verdacht nahe, daß hier ein entkernter Brecht „für die ganze Familie“ dargeboten wird. Beredt war in diesem Zusammenhang der Premieren-Versprecher von Gerd Mayen (Macheath), der fälschlicherweise den Einbruch in eine Bank mehr brandmarkt als die Gründung einer solchen (Brecht meinte, auf Ehr‘, das Gegenteil!).

Hinzu kommen Geschmacksverirrungen, besonders bei den Songs. Vieles wird im Entertainer-Stil vorgetragen, was nur in einem tragfähigen Gesamtkonzept schlüssig sein könnte. Unerträglich aber: Macheath stülpt sich zur „Ballade vom angenehmen Leben“ einen Cowboyhut auf und macht einen Country-Heuler daraus.

Macheath steigt anfangs von einem Denkmalssockel herunter. Kaum hat er diesen Schritt ins Bühnenleben getan, zeigt sich auch schon, daß dieser Haifisch keine Zähne hat. Er ist zu abgehalftert, um Unterwelt, Polizei und Damenwelt in Atem zu halten. Siegfried Maschek als Bettlerkönig Peachum macht bessere Figur. Er tänzelt als zynisch-geschmeidiger Impresario durch die Szene, dem das Elend nur als Manövriermasse im Spiel der Macht dient.

Rena Liebenow als Frau Peachum hält sich tapfer, ihre Songs haben zumindest Pfiff. Als naives Püppchen mit Kieksstimme war hingegenWiebke Frost als „Polly“ eine schwache Besetzung. Franz Träger als Polizeichef Brown zeigte nichts von Zerrissenheit, sondern wirkte einfach fahrig. Die Viererbande der Ganoven schlug kaum Funken aus der Hochzeitsszene. Die Huren durften nur seufzen und mit den Pos wackeln. Beste Darsteller waren noch Horst Fassel („Münz-Matthias“), Silvia Kesselheim („Jenny“) und Andrea Witt („Lucy“). Es gab Anstandsbeifall für die Schauspieler und etliche Buhs für die Regie.

An der Wuppertaler Darbietung zeigen sich im nachhinein erst recht die Qualitäten der Essener Inszenierung Hansgünther Heymes (noch auf dem Spielplan). Bei der Essener Premiere war seinerzeit Wuppertals Intendant Jürgen Fabritius zugegen. Jetzt kann er vergleichen.




Ring frei zum großen Ehekrach – „Offene Zweierbeziehung“ von Dario Fo in Wuppertal

Von Bernd Berke

Keine Frage, daß eine Premiere von Dario Fos Ehekrach-Stück „Offene Zweierbeziehung“ zum Silvesterabend paßt, denn es brennt am letzten Tag des Jahres eben nicht nur Feuerwerk ab, auch in „Zweierkisten“ wird’s da zuweilen brenzlig.

Auf die Honigmond-Fassade, die übers Jahr die Risse im Beziehungs-Gebälk oft besser verbirgt, spielt Rosemarie Krines‘ Bühneneinrichtung der Wuppertaler Inszenierung (Regie: Helmut Palitsch) sattsam mit Kitsch- und Harmonie-Signalen an: Die Aufbauten leuchten rosarot und himmelblau, auch ein Tannenbäumchen fehlt nicht; die beiden Akteure bewegen sich gar durch ein Bodengewölk von zahllosen Bettfedern, die freilich im Eifer des Streitgefechts aufgewirbelt werden und bis weit in den Zuschauerraum driften. Doch derlei wattierte Niedlichkeit täuscht natürlich: Die Souffleuse schlägt immer mal wieder auf einen Gong: Ring frei zur nächsten Runde im Ehekampf!

Die Geschichte ist schnell erzählt: Der Mann will endlich ungestraft fremdgehen, nennt dies aber – mit pseudolinken Sprüchen gewappnet – „die Zweierbeziehung öffnen“. Allerdings soll die „Öffnung“ nur auf seiner Seite erfolgen. Kaum macht seine Frau ebenfalls Ernst, wird ihm mehr als mulmig zumute. Garniert ist das Ganze mit turbulenten Einblicken in den alltäglichen Geschlechterkampf, wobei die einander zausenden Eheleute zuweilen episch aus ihren Rollen fallen und das Publikum zum Zeugen anrufen.

Maria Pichler und Erich Leukert lassen sich das Spiel-„Futter“ des Stücks nicht entgehen und sorgen für herrliches Lachtheater, das auch nicht eine Minute langweilig wird. Bewundernswert auch ihre physische Leistung: Zu Silvester spielten sie das temporeiche Zweipersonen-Stück gleich zweimal hintereinander.




Die Psyche ist nur noch eine ferne Erinnerung – Fritz Marquardt inszeniert Ibsens „Klein Eyolf“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Ehrgeiz, es mit kaum noch spielbaren Stücken dennoch zu versuchen, regiert derzeit den Bochumer Spielplan. Nachdem Frank Patrick Steckel „Die Nibelungen“ von Hebbel auf die Bühne gestemmt hat, inszenierte nun DDR-Regisseur Fritz Marquardt „Klein Eyolf“, ein von mancherlei Symbolismen durchwabertes Spätwerk Henrik Ibsens.

„Klein Eyolf“ ist ein neunjähriger Junge, gehbehindert durch die Verantwortungslosigkeit der Eltern, Alfred und Rita Allmers (Eyolf fiel vom Wickeltisch, da sie es miteinander trieben). Als er nun im Fjord ertrinkt (die „Rattenjungfer“ soll ihn hineingelockt haben), brodelt das Thema „Verantwortung“ ehebedrohend hoch, hinzu kommt – in Gestalt von Alfreds (Halb)-Schwester Asta – inzestuöse Verlockung. Am Schluß läßt Ibsen sein Ehepaar gipfelwärts blicken und sich zur menschlichen Verantwortung bekennen. Bis dahin sind viele düstere Dialoge zu absolvieren.

Sich auf verquere Psycho-Symbolik naiv einzulassen, geht nicht mehr, Naturalismus auf voll möblierter Bühne noch weniger. Marquardt und sein Bühnenbildner Karl Kneidl verpacken den ersten Akt gleichsam in Plastik (halbhohe Plexiglasbande vorn, Folie hinten) und „frieren ihn ein“.

Alle Gesten sind wie abgestorben

Das gesamte Gesten-Repertoire (Ibsens Regieanweisungen) stirbt ab. Statt Händedruck, Umarmungen und Zuwendungen, die ja die wirklichen Beziehungen in diesem Stück auch nur kaschieren, herrscht Gefühlseiszeit. Wie fremdgesteuert rucken die Personen über die Bühne, und zwar allzu offensichtlich, sogleich einem verborgenen Gesetz größtmöglicher Blick-Abirrung gehorchend, sich aneinander vorbeidrückend wie Nicht-Vorhandene und-meist tonlos redend, mitunter grotesk ausbrechend – ohne Umschweife die kommunikative „Null-Lösung“ ansteuernd. Immer wieder ist davon die Rede, daß man seine Gefühle, den Partner, ja sich selbst mit niemandem teilen könne. Das erledigt sich hier quasi auf mathematischem Wege. „Null“ ist nicht teilbar.

Das Stück wirkt wie skelettiert, zudem – als sei die allgemeine Katastrophe schon geschehen – auch bar jeder individuellen Psychologie, die nur wie ferne Erinnerung durchschimmert. Desto befremdlicher wirken altbackene Worte wie etwa „Lusthaus“.

„Und nichts, um das Leben zu füllen“

Zum zweiten Akt fällt der Vorhang wie eine Guillotine herab. Das glänzende Parkett, auf dem sich zuvor Rita als fühllose Luxusfrau rekelte, ist aufgebrochen: Erdschollen-Verwerfung nach dem Beben. „Jetzt sitze ich hier in Wohlstand und Herrlichkeit“, wähnte Alfred anfangs. Damit ist es jetzt ganz vorbei, fortan geht es nur noch darum: „Das Leben, ja! Und nichts, um das Leben zu füllen“. So ist hier am Ende Rita Entschluß, Kinder zu sich zu holen, Verantwortung zu übernehmen, nur die verzweifelte Absicht, die große Leere zu füllen. Kein Gipfel ist da in Sicht.

Jochen Tovote spielt den schwächlichen Allmers mit abstrusen Gefühlsaufwallungen, Hedi Kriegeskotte als „Rita“ ist gleichermaßen unterkühlt in Lust und Trauer, Hildegard Kuhlenberg als „Asta“ gibt ihrer Figur noch die meisten individuellen Züge, Ivo Dolder als Ingenieur und Straßenbauer „Borghejm“ sorgt mit seinem trockenen Lob des Zubetonierens für Lacher, Ulrike Schloemer als „Rattenjungfer“ ist hexenhaft grell, wie aus einem Kinderstück herbeigesprungen.




Konflikte aus der Ferne: Adelheid Müther inszeniert Hebbels „Maria Magdalena“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“ ist weniger ein Schau-Spiel als ein Sprach- und Denkstück, das in der stickigen Enge rigoroser Moral nicht theatralisch bildreich erblüht, sondern in oft doppeldeutigen, ja fast sphinxhaften Redefiguren befangen bleibt, die mehr Gefühle verbergen als erhellen.

Auch der Konflikt – eine „Affäre“ mit Schwangerschaftsfolge, aber ohne Ehe-Absicherung bedeutet unweigerlich den gesellschaftlichen Tod – liegt uns fern. Adelheid Müthers sehenswerte Wuppertaler Inszenierung des (klein)-bürgerlichen Trauerspiels läßt denn auch keine falsche Nähe aufkommen. Am Beginn und am Schluß erklingen kurze Opern-Ausschnitte – ein „Rahmen“, der das Stück wie ein museales Bild einfaßt und „wegrückt“. Auch vor dem Pathos tragischer Tode hütet man sich. Gestorben wird da ganz achtlos und beiläufig; ein oder zwei bewußt überkünstelte Gesten, dann ist es geschehen.

Gleich beim ersten Auftritt des strengen Familienvaters und Tischlermeisters Anton (Gerd Mayen) ist das Verhängnis für seine Tochter, die „Sünderin und Büßerin“ Klara (daher das biblische „Maria Magdalena“), absehbar. Mayen spielt einen alten Patriarchen, der sogleich die Stühle im Haus zu fürchterlich steriler Ordnung zurechtrückt. Mit jeder Bewegung schafft er einen Raum und eine Atmosphäre um sich, als befinde man sich schon im Totenreich. Verbliebene Gefühlsregungen (so, wenn er seine Frau und Tochter eigentlich streicheln möchte) verbietet er sich mit ruckhaftem Zurückweichen. Der kümmerliche Rest von Zärtlichkeit verbindet sich mit seiner Handwerksehre: Liebevoll streicht er über den Holztisch, den er selbst angefertigt hat.

Sabine Schwanz als Klara wirkt gerade nicht hinfällig, devot und bußfertig, sondern bis zum Schluß eher gesund, realistisch und entschlußkräftig. Sie geht in den Tod, weil sie sich das genau überlegt hat, nicht kopflos. Ihr Bruder Karl (herausragend: Holger Scharnberg), der aus dem muffigen Elternhaus ausbrechen will, tritt als Mischung aus frühem Aussteiger und „Penner“ mit Weinflasche und zerknittertem Mantel auf. Uns Zweckrationalisten von heute am nächsten steht jedoch der Verführer „Leonhard“ (Gregor D. Höppner), der sonst oft als ausgemachter Schurke die Bühne betrat, hier jedoch durchaus „vernünftig“ für sein Fortkommen sorgt. Nicht abgründig böse ist er, allenfalls angekränkelt von Karriere-Blässe. Nicht nur hier erreicht die Deutung eine zeitgerechte Dimension, und zwar ohne vordergründig-brachiale Aktualisierung.

Die zum Zuschauerraum hin abschüssige, sparsam möblierte Holzdielen-Bühne (Lilot Hegi), auf der der zeichenhaft angedeutete Hauseingang windschief steht, als sei er allen Elementen schutzlos ausgeliefert, ist die schiefe Ebene, auf der gleichsam das Schicksal sich beschleunigen kann.

Es gab verdienten Beifall für Regie und Ensemble.




Ganz im Dienst von Brecht – Hansgünther Heyme inszeniert die „Dreigroschenoper“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Krach mitden Brecht-Erben bekam Hansgünther Heyme vor rund elf Jahren, als er die „Dreigroschenoper“ (die bekanntlich den Räuber als Bürger zeigt und den Umkehrschluß nahelegt) zum Fallbeilspiel für den Aufstieg des Nationalsozialismus ummünzen wollte. Solche Konflikte stehen jetzt bestimmt nicht ins Haus. Heymes Essener Inszenierung fällt gerade durch Unauffälligkeit des Zugriffs auf, es ist eine „dienende Einrichtung“, ohne krampfhafte Deutungshuberei und ohne Zeitgeistereien wie bei Jürgen Flimm, der das Stück 1983 in die fünfziger Jahre verlegte.

„Seinem“ Bert Brecht nimmt Heyme eben doch mehr ab als Schiller, welchem er mit Vorliebe „nachhilft“. Dabei enthält die „Dreigroschenoper“ aus heutiger Sicht fast ebenso geflügelte Worte (vom Fressen, das vor der Moral kommt bis hin zu den Verhältnissen, die nicht „so“ sind) wie etwa der „Tell“. Die „Dreigroschenoper“ ist in erhebliche historische Distanz gerückt. Heymes lnszenierung, die ihrer Vorlage offenkundig vertraut und in dieser Art schon vor Jahr und Tag denkbar gewesen wäre, stellt diesen Abstand kaum dar.

Mit einem durchschnittlichen Ensemble würde solche Behutsamkeit vielleicht Langeweile auslösen. Doch in Essen agieren die meisten Schauspieler exzellent, woran natürlich auch Heymes Figurenführung ihren Anteil hat. Wolfgang Robert als Bettlerkönig „Peachum“, das Elend und seine Bedingungen vorführend wie ein Zirkusdirektor, aber immer wieder gezielt aus seiner Rolle fallend und sie brechtisch „vorzeigend“ – das ist eine Spitzenleistung. Gleichfalls sehenswert: Franz Boehm als „Macheath“, eine Mischung aus Kraftmaxe und Gigolo mit jenem leicht blasierten Zug ins „Höhere“, sowie Volker K. Bauer als Polizeichef „Tiger-Brown“, eine umwerfende Kugelbauch-Karikatur der (Ohn)macht.

Auch sonst gibt es keine nenneswerten Schwachstelle im Ensemble. Bedernswert, was Peter Kaghanovitch („Münz-Matthias“) oder Inge Andersen (Lucy) noch aus ihren Nebenrollen machen. Mit Kurt Weills Musik (Einrichtung: Alfons Nowacki) gibt es ebenfalls keine Instrumentierungs- unxl Stilexperimente, sie bewegt sich im Rahmen des Tradierten und Erwartbaren. Einige Songs („Pollys“ Lied der Seeräuberjenny) kommen nicht recht über die Rampe, andere („Kanonensong“) zählen zu den Höhepunkten der Aufführung.

Im Bühnenbild (großflächige Verhängungen mit armutsgrauem Tuch oder Showflitter-Folie) prangt ein Gestell, das mittels Leuchtröhren Bert Brechts-Gesicht samt Zigarre stilisiert, als blicke der Meister wohlgefällig auf die Inszenierung. Eine weitere Funktion hat dieser monströse Aufbau wohl nicht.

Als Schlußchoral hat Heyme erwartungsgemäß die Fassung von 1948 gewählt, in der pathetisch zum Sturm gegen die großen Räuber, sprich Kapitalisten, aufgerufen wird. Wenn die graue Masse der Bettler, über die man zuvor buchstäblich hinweggeschritten ist, sich erhebt und diesen Choral anstimmt, klingt das viel zu emphatisch, siegesgewiß und bruchlos.

Verdient war der frenetische Beifall, in dem ein paar kraftvolle Buhs für den Regisseur Heyme untergingen.




Wenn die Bundeswehr „Gesellschaft“ spielt – Stefan Dähnerts Stück „Herbstball“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein Theaterstück über die Bundeswehr – das tat wirklich not. Bemerkenswert, daß erst jetzt eins auf die Bühne kommt: „Herbstball“, geschrieben vom 25jährigen Stefan Dähnert, wurde am Samstag gleichzeitig in Wuppertal und Köln uraufgeführt.

Dähnert, Sohn eines Offiziers und selbst als „Kasernenkind“ aufgewachsen, verfährt nach erprobter Manier: Jedwede Ideologie läßt sich am besten da entlarven, wo man die Zügel schießen läßt, nämlich im Freizeitbereich. Also führt er uns auf besagten Herbstball im Offizierskasino, wo Alkohol die Zunge löst und die Gegenwart von Damen auch das „Thema Nummer eins“ ins Spiel bringt.

Bei dieser Festivität kann es natürlich nicht so subtil abgezirkelt zugehen wie etwa im Paare-Passanten-Reigen von Botho Strauß‘ „Trilogie des Wiedersehens“. Dähnerts Militär-Party ist schrill, grell und grotesk; am Ende des zweiten Teils rinnen gar Urin und Erbrochenes über die verheerend zugerichtete Bühne. Die stetige Steigerung des „Säuischen“ bleibt aber eine der wenigen „Entwicklungslinien“ in diesem Stück, das seltsam unstrukturiert und wie in einem Zug hingeschrieben wirkt. Es fehlen einfach die Spannungsbögen, die den Zuschauer drei Stunden lang in Atem halten könnten. Versuche, diesem Mangel (z. B. durch die Jagd auf einen Deserteur) abzuhelfen, bleiben schüchtern.

Der fast aphoristische, knappe Zugriff scheint hingegen Dähnerts Sache zu sein. Einzelne Passagen, messerscharfe Merksätze manchmal, weisen ihn als unerbittlichen Beobachter und Zuhörer aus. Die besten Szenen hat „Herbstball“ im ersten Teil, wenn noch nicht alles unterschiedslos in der Orgie ersäuft, sondern im geläufigen Party-Plausch die latente Gefàhrlichkeit reaktionärer Gesinnungen und Verhaltensweisen gerade erst durchschimmert. Ganz verkorkst ist aber die Schlußszene, in der ein idyllisches „Heimat-Konzept“ (Rekrut sehnt sich nach der Weinlese) als Gegenbild entworfen wird.

So desolat sieht Dähnert die Bundeswehr: Sie ist schizophren, weil auf etwas wartend, was nicht eintreten soll – auf den Ernstfall nämlich. Und: Sie ist immer noch von der Gesellschaft isoliert, quasi in der Wiederbewaffnungs-Zeit der 50er Jahre steckengeblieben. „Gesellschaft“ wird da eben nur gespielt, am deutlichsten bei Gelegenheiten wie diesem herbstlichen Ball. Gerade der enthüllt aber letztlich den Urgrund aus sexueller Verklemmung, Kampflust und Chaos.

Gastregisseurin Barbara Bilabel hat ein Gespür für Dähnerts grelle Bilder. Sie inszeniert in Wuppertal fast „filmisch“, in Totalen und Nahaufnahmen sozusagen: Sie wechselt zwischen dem Blick auf die ganze Party-Gruppe und intimeren Perspektiven, für die jeweils Einzelfiguren und Paare nach vorn „gezerrt“, vorgeführt und schließlich wieder in die Gruppe „zurückgestoßen“ werden. So wird das Stück wenigstens teilweise gerettet. Das gelungene Bühnenbild (Roger von Moellendorf) zitiert mit Clubsesseln und Bartresen die 50er Jahre.

Unter den Darstellem vor allem zwei, die einem den erforderlichen Schauer über den Rücken jagen: Horst Fassel als Oberst und – neu in Wuppertal – Andreas Peckelsen als Major.




In fünf Fabrikhallen wird Revier-Kultur produziert – „Flottmann“-Eröffnung am Wochenende in Herne

Von Bernd Berke

Herne. Alle Künste unter einern Dach – dieser Wunsch ist ab sofort auch in Herne, das bislang eher den Stiefkindern der Revierszene zuzurechnen war, keine Utopie mehr. „Flott nach Flottmann“ heißt der saloppe Slogan. Gemeint sind die Flottmann-Hallen, denkmalgeschützte Jugendstilarchitektur aus dem Jahr 1908 und ehemalige Fabrikgebäude. Früher wurde hier vor allem Bergmannsgerät hergestellt.

Ein flott laufendes Männchen mit Bohrhammer wurde denn auch zum Signet der neuen Einrichtung erkoren. Am heutigen Samstag (ab 16 Uhr) und Sonntag (ab 11 Uhr) – jeweils Ende offen – wird die Kulturschmiede mit großem Zirkus-, Theater- und Musikprogramm ihrer vielfältigen Bestimmung übergeben.

Der Komplex am Südrand Hernes umfaßt insgesamt fünf Hallen. Die Hallen 1 und 2 sind für vor allem Ausstellungen reserviert. Besonders freut dies den Leiter des örtlichen Emschertalmuseums, Dr. Alexander von Knorre, der hier, anders als im angestammten und beengten Hause, auch einmal größere Objekte vorzeigen kann. Den Auftakt machen elf Bildhauer aus dem Ruhrgebiet. „Skulptur Ruhr“ dauert bis zum 16. November und zeigt dreidimensionale, zumeist revierspezifische Arbeiten, vor allem künstlerische Auseinandersetzungen mit Massenprodunkten und industriellen Werkstoffen wie Metall.

Halle 3 soll – mit rund 250 Sitzplätzen – vor allem als feste Spielstätte für Willi Thomczyks „Theater Kohlenpott“ dienen, aber auch Gastspiele anderer (freier) Truppen sind geplant. Der Theater-Etat für 1987 beträgt 50000 DM („Kohlenpott“) plus 25 000 DM (Gastspielbetrieb). Konzerte, so u.a. eine Jazz- und eine Folk-Reihe, sollen gleichfalls Besucher in Halle 3 locken. Die Hallen 4 und 5 schließlich stehen u. a. für Breitensport und Spiel, eventuell für größere Kulturveranstaltungen zur Verfügung.

Umbaukosten von 3,4 Mio. DM (davon 2,2 Mio. Landeszuschüsse) waren erforderlich, um ehemalige Versandhallen, Schmiede und Schlosserei zu einem Kultur- und Begegnungszentrum umzubauen, das seine industrielle Vergangenheit ganz bewußt nicht unter den Scheffel stellt. Kein schnieker, aufpolierter Kulturpalast also, sondern ein durchweg robust sich gebender Bau, wie geschaffen für das anvisierte Zielpublikum der 16- bis 30jährigen, die – so wünscht man sich – möglichst aus der gesamten Region hierher strömen sollen. Der Programmbeirat (Vertreter der Stadt und Künstler) hat sich einiges vorgenommen: 22 Veranstaltungen sollen noch in diesem Jahr über die Bühne gehen, im nächsten Jahr sollen es rund 120 sein. Ein Kraftakt, ja ein Kunststück, auf das man ziemlich gespannt, sein darf – bei einem Gesamt-Jahresetat von gerade mal 95.000DM…

Mit Rock-Veranstaltungen gehobener Lautstärke wird man übrigens nicht aufwarten können. Die Hallen liegen nämlich mitten in einem Wohngebiet, und schon der Umzug der Flottmann-Fabrik von hier in ein Gewerbegebiet erfolgte 1983 vor allem aus Lärmschutzgründen.

Aus dem Raum Dortmund ist die Fabrik z. B. über die A 43 (Richtung Recklinghausen), Abfahrt Bochum-Riemke, dann Bochumer Straße in Richtung Herne, zu erreichen. Auf der rechten Seite, kurz hinter der Stadtgrenze Bochum/Herne, geht’s zur Flottmannstraße.




Das Mädchen-Pensionat von Theben – Aischylos in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wer das „siebentorige Theben“ erbaut hat, ist spätestens seit Bert Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ kein großes Geheimnis mehr: Nicht Herrscher waren es (die ließen bauen), sondern das gemeine Volk. Von jenen, die die Stadt hernach in tödliche Gefahr brachten, handelt Aischylos um 467 v. Chr. uraufgeführtes Stück „Die Sieben gegen Theben“, mit dem das Wuppertaler Theater jetzt die neue Saison eröffnete.

Auf dem Geschlecht von Eteokles und Polyneikes, den Söhnen des Ödipus, lastet der Fluch der Götter. Die Brüder haben eine Art „Rotations-System“ vereinbart: Jeder soll abwechselnd ein Jahr in Theben regieren. Doch – und damit setzt die Tragödie ein – Eteokles verweigert die Übergabe der Herrschaft und läßt die Stadt verbarrikadieren.

Von allem abgehoben, sitzt – in Ulrich Greiffs Wuppertaler Inszenierung – Gregor Höppner als „Eteokles“ auf einem hohen Metallgerüst; ein Usurpator, der sich ums Niedere nicht kümmert und in luftiger Höhe Kriegs- und Machtpläne schmiedet. Zu Beginn trägt eine graue Schar von Männern, wort- und also widerspruchslos gehorsam, Steine über die Bühne: Vorbereitungen zur großen Schlacht.

Widerstand formiert sich allein im zwölfstimmigen Chor der „thebanischen Jungfrauen“. Mit Klagen und Anrufungen der Götter (und Göttinnen!) wollen die Mädchen Eteokles von seinen Kriegsplänen abbringen. Daß dies Unterfangen vergeblich sein muß, wird in Wuppertal schmerzlich klar, wirken doch die Chorpassagen hier nur selten aufrüttelnd, sondern eher wie die Aufsage-Übungen einer Schulklasse. Man spürt manchmal förmlich, wie die Gruppe die Taktzeiten der Sprechpausen innerlich mitzählt, um dann gemeinsam wieder einzusetzen. Gewiß stecken viel Fleiß und Disziplin dahinter, aber ein Theater-Ereignis ist das nicht.

Anfangs, vor der Katastrophe des gegenseitigen Brudermords, wird da auch noch gestrickt und gekichert, so daß man sich in einem Mädchen-Pensionat wähnt. Und nun gar: Als hantierten sie mit Bauklötzen, setzen sie kurz vor der Pause Schachteln zu immer wieder stürzenden Türmen aufeinander. Symbolhandlung für die Nutzlosigkeit von Geduld oder eher ein hilfloser Einfalt der Regie?

Es gibt plausiblere Ideen: Etwa in der Szene, in der Eteokles vom „Boden“ redet, der zu verteidigen sei, dann aber erst vom Gerüst herabsteigen und drunten eine Luke öffnen muß, um an Thebens Erde zu geraten. Da wird bildhaft deutlich, wie absurd weit sich der Mann von den Realitäten entfernt hat. Aus dem Mittelmaß ragt auch Holger Scharnberg als „Späher“ heraus, der Eteokles die Stärke der anrückenden Feinde ausmalt. Scharnberg macht daraus ein Kabinettstück nach Art Shakespear’scher Narren.




Theatermacher im nächtlichen Medienkäfig

Von Bernd Berke

Selbst hartgesottene Bühnenfans – andere dürften kaum ausgeharrt haben – verspürten da wohl eine gewisse Mattigkeit: Die erstmals anberaumte ARD-„Theaternacht“, jene Diskussion von Regisseuren, Darstellern und Kritikern zum Saisonauftakt, zog sich bis nachts gegen 1.40 Uhr hin.

Die Beteiligten (u.a. Hans Neuenfels, Arie Zinger, Heiner Müller, Eva Mattes, Ivan Nagel, Jürgen Flimm) saßen in einem Studio, das jedem Geschmack spottete – auf allerlei Gestühl vom Manager-Drehsessel bis zum „antiken“ Sofa, dazwischen eine Batterie von Monitoren. So viel zur ästhetischen Aufbereitung der Sendung, in der sich etwa die ausgeklügelten Bühnenbilder in den Filmeinspielungen (wichtige Szenen der letzten Theatersaison) wie Fremdkörper ausnahmen. Überhaupt wurde deutlich, daß die Theaterleute sich gleichsam in einem „Medienkäfig“ befanden, in dem ihre spontanere und direktere Art, mit der Wirklichkeit umzugehen, kaum Platz hat.

NDR-Redakteur Gerd Kairat und seine beiden Mit-Moderatoren, die Kritiker Hellmuth Karasek (geschmeidig-verbindlich) und Peter Iden (um Worte ringend und stets die Endzeit im düsteren Blick) hatten der Runde kein griffiges Thema vorgegeben. Da standen Stichworte wie Bedrohung (Tschernobyl), Liebe und Veränderung unvermittelt im Raum – und daraus sollte sich dann eine Diskussion entwickeln. Erstaunlich genug, daß tatsächlich eine in Gang kam, die sich jedoch gottlob auch wiederholt in anderen, konkreteren Bahnen bewegte.

Es wurden die Fragen angeschnitten, die eh die Theaterdiskussion bestimmen: Ob man die „heiße Ware“ der Gegenwartsdramatik veräußern oder sich an sperrigen Klassikern abarbeiten solle; ob man ganz einfach mit Lust spielen dürfe oder immer erst seine historische Position zu überdenken habe, usw.

„Gag“ am Rande: Eva Mattes sah sich genötigt, die Schauspieler gegen Heiner Müllers Vorwurf zu verteidigen, sie nähmen beim heutigen Theater „zu viel Raum“ ein. Vom „Spitzentrio“ des deutschsprachigen Theaters war Claus Peymann (grantig) nur per Monitor gegenwärtig, Peter Stein und Peter Zadek waren nicht erschienen: letzterer wohl mit gutem Grund, hätte er doch vermutlich wegen dringenden Verdachts auf Förderung des Boulevard-Trends auf der Anklagebank gesessen.




Der kalte Traum des Mittdreißigers „Manfred K.“ – Performance zu „Maskenball“ von Harald Weiss ging zeitweise im Regen unter

Von Bernd Berke

Hamm. Strömender Regen im Hammer Maximilianpark. Vor einem künstlichen Teich stehen Kinderwagen, mit toten Blättern gefüllt. Eine bizarre Gruppe, ganz in Schwarz gekleidet, betritt eine Beton-Plattform im Innenkreis des Gewässers.

Die Gesten gefrieren wie auf einer Fotografie, dann folgt ein allgemeines Zurechtmachen, Lockern und Lächeln, das erneut erstirbt, usw. Schließlich zerstreut sich die Gruppe und schwärmt aus. Einer hält eine flammende Predigt, ein anderer zückt spitzelhaft-verstohlen ein Notizbuch, ein dritter trägt mit fahrigen Gesten einen Kassettenrecorder umher.

Dann geht nichts mehr. Petrus mag an diesem Abend keine Performance, der Rest des, simultanen Aktionstheater-Prologs zu Harald Weiss‘ „Maskenball (Vergib mir meine Träume)“ fällt ins Wasser, nachfolgendes Stück findet im Saale, genauer in der ehemaligen Waschkaue der Zeche Maximilian statt.

Endlich, nach einer Stunde Pause (in der die im Park weit verstreuten Requisiten eingesammelt und getrocknet worden sind) beginnt, zwischen Bistro-Stühlen, abschüssigem Steinwall und bildlos flimmerndem TV-Gerät, der Traum des Mittdreißigers „Manfred K.“ in 16 Bildern.

„Manfred“, er steckt voller Lebensangst und bewegt sich linkisch durch das Geschehen, schleppt nur kümmerliche Fetzen einer „Biographie“ mit sich herum, die sich zu Floskein („Eigentlich bin ich ganz verträglich“) verfestigt haben. Anfangs will er denn auch seine Träume aussperren, mit einem Schlüssel hetzt er herum, um alle Türen zu verschließen. Doch die Figuren, Frauen vor allem, dringen durch alle Fugen und beginnen ihr Eigenleben in Szenen wie „Maskenball“, „Party“, „Ausbruch“ oder „Hetzjagd“.

Die eng mit dem Geschehen verwobene Minimal-Musik von Harald Weiss (Komposition und Regie), vielfach ein bloßes Anschwellen, Hinschmelzen oder Daherplätscheren einer kaum differenzierten Tonfolge, ist von kühler Perfektion. Den Kontrast bilden Gefühlsausbrüche der menschlichen Stimme: Vom Atemhauch über Winseln und gestammelte Silbenstücke bis zum Schrei reichen die Modulationen.

Für diese sinnlichen Entäußerungen stehen vor allem die weiblichen Figuren, während der „letzte Mann“ (Szenentitel) sich ihnen im Caféhaus lediglich mit schweinischen Absichten nähert. Zu den phasenweise gefrierenden Zeitlupengesten kommen Synchronstimmen vom Tonband, das immer wieder abgebremst wird, so daß die Worte brummelnd in Schweigen übergehen. Das Gerede wirkt lachhaft verloren zwischen lauter Leere.

Die ganze Darstellung strahlt eine fremde Kälte aus, auch die komischen Effekte sind gänzlich durchkalkuliert, nichts bleibt dem Zufall überlassen. Die Traumwelt ist gleichsam eingezäunt. Sie war, so zeigt sich, nur eine Fernsehpause.




Rätselhafte Appelle an die dunkelsten Schichten der Seele – Augusto Boal inszeniert die Uraufführung von Garcia Lorcas „Das Publikum“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Roms Kaiser grunzt und kotzt aus vollem Halse. „Julia“ vergeht nicht vor Liebe, sondern hebt kurzerhand den Rock, windet sich dann in Sturzbächen von Pferde-Urin. Auch „Helena“ ist alles andere als klassisch, sie kommt als verruchte Salondame daher. Irgendwann leiert dann noch der Gekreuzigte seine bekanntesten Bibelsprüche herunter, und zwei elfenhafte Schwuchteln, die auf einem griechischen Säulenstumpf herumturnen, kommen – klar doch! – auch vor.

Befremdliche Dinge begeben sich im „Theater unter dem Sand“, in dem man alle Masken ablegen will, um die Untiefen der Existenz direkt auf der Bühne auszuleben. „Herr Direktor, das Publikum ist da!“ So vermeldet es der „Diener“, schon halb resignierend. Es folgt circensischer Klamauk: Vier Menschenpferdchen tänzeln trompetend herein. Hernach wird jenes „Theater unter dem Sand“ (es ist wohl dem Strand benachbart, der „unter dem Pflaster“ liegt, aber auch nah an Gräbern) entfesselt – in Federico Garcia Lorcas 1930 bis 1936 geschriebenem Stück „Das Publikum“, das jetzt uraufgeführt (!) wurde. Und zwar nicht, wie zu vermuten stünde, beim „Theaterpathologischen Institut“ Roland Rebers in Lünen, sondern bei den Städtischen Bühnen Wuppertal.

Regie (und dies kommt einer Sensation gleich) führt Augusto Boal, brasilianischer Theatermacher im Pariser Exil, bekannt durch sein „Theater der Unterdrückten“ (nicht nur) in den Slums von Sao Paulo, wegen dessen subversiver Wirkung ihn frühere Regimes verfolgten und foltern ließen.

Boal bringt in sieben rätselvollen Bildern ein surrealistisches Kaleidoskop des 1936 im spanischen Bürgerkrieg von den Falangisten erschossenen Lorca auf die Bühne, das an dunkle Tiefenschichten der Seele appellieren will, nicht an den Verstand. Es stelle nur niemand die Bedeutungsfrage, das ist zwecklos, soll zwecklos sein!

Es ist, als taumele man durch ein labyrinthisches Bild von Salvador Dalí. Verwandlungen und Metamorphosen zuhauf. Was ist Wirklichkeit, wieviel davon darf oder muß, zumal in umstürzlerischer Zeit, auf die Bretter des Theaters? Solche Fragen schälen sich immerhin schemenhaft heraus.

Lorcas Wort- und Spielarsenal des Surrealismus wirkt hie und da noch „irgendwie“ poetisch, aber doch auch angestaubt, historisch, zitathaft. Das reicht von der weidlichen Zurschaustellung jeglicher menschlicher Körperausscheidung bis zur Verknüpfung entferntester Gegenstände nach dem surrealistischen Muster jenes notorischen Regenschirms, der einer Nähmaschine auf dem Operationstisch begegnet.

Lorca meinte 1936, Zeit und Publikum seien noch nicht reif für dies Stück. Es sei ein Stück zum Auspfeifen, nicht zum Aufführen. Womöglich ist es so, vielleicht aber auch umgekehrt: Das Stück kommt um Jahrzehnte zu spät. In Wuppertal jedenfalls verließen einige Zuschauer während der Premiere fluchtartig den Raum.

Doch der Uraufführungsehrgeiz hat die Wuppertaler nun einmal geritten: Das Stück fällt ganz aus dem Rahmen des sonst eher gefälligen Schauspielplans, es paßt überhaupt nicht zur bisher erarbeiteten Spielpraxis des Ensembles, das sich denn auch mehrfach in Gefilde platter Komik retten muß. Der Exodus beim „normalen“ Abo-Publikum wird vermutlich noch weit deftiger ausfallen als bei der Premiere. Neben stellenweise aufblitzender Schauspielkunst positiv hervorzuheben: Helio Eichbauers Bühnenbild; einfach, klar, hellsichtig-zeichenhaft.




Heyme verlegt Schillers „Wilhelm Tell“ in die Zeit der Ruhrbesetzung

Von Bernd Berke

Essen. So wie er im Buche steht, ist Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ längst unspielbar. Und so entledigt sich denn auch Hansgünther Heymes „Tell“ (Walter Kreye) solch güldener Worte wie „Durch diese hohle Gasse muß er kommen“, ganz hastig, als lasse er eine heiße Kartoffel fallen.

Der „Tell“ verfolgt Heyme seit Mitte der 60er Jahre, zunächst in Wiesbaden, dann nach Stuttgart, jetzt bis nach Essen. Oder besser: Heyme verfolgt den „Tell“, und zwar mit Kardinalfragen aus der neueren deutschen Geschichte. Unerbittlich.

Schon bei Schiller stand ja jener Kampf der Schweizer Kantone gegen Habsburg für deutsches Mißbehagen an französischer Besatzung im Vorfeld der Befreiungskriege. Heyme verpflanzt die Handlung ins Jahr 1923, als abermals Franzosen über den Rhein kamen und diesmal das Ruhrgebiet besetzten, um sich verweigerte Reparationsleistungen zu sichern. Bei Heyme geht das anfangs nach Art des „Grand Guignol“: Wie in einer Art Kasperltheater bespringt der gallische Hahn die blonde Germania, nach dem Gewaltakt galoppieren Marionettenpferdchen auf, es züngeln Flämmchen aus Pappe.

Zur Ruhrkampf-Zeit war „Tell“ im Revier eine Symbolfigur des Widerstands. Heyme wiederum will, was bis zu einem gewissen Grad legitim ist, zeigen, daß reaktionäre Kräfte diesen Widerstand ins Nationalistische umbogen, wodurch der NS-Ideologie der Boden bereitet wurde. Ob man all dies unbedingt an Schillers Stück demonstrieren muß, bleibt die Frage.

„Tausendjähriges“ Volkserbe und „Heil“-Rufe

Aus den verschiedenen Zeit-Ebenen ergibt sich auf der Bühne des Essener Grillo-Baus eine historische Collage, die mitunter ausfranst, zum „Flickerlteppich“ wird. Heyme mag die von Schiller positiv besetzten Freiheitskämpfer durch Streichungen und neue Betonungen noch so sehr ins Zwielicht zerren, er mag noch so nachdrücklich Satzfetzen wie die vom „tausendjährigen“ Volkserbe oder „Heil“-Rufe (die ja im Stück vorkommen) hervorheben – direkte Parallelen ergeben sich nur punktuell; wo Heyme mehr will, wirkt es zwang- und thesenhaft. Freilich: Reibflächen produktiven Widerspruchs hat Heyme dem Klassiker abgewonnen. Einige Aha-Erlebnisse kommen aber allzu früh und fraglos: Der Bühnenhintergrund ist schwarz-weiß-rot; also die Farben der Deutschnationalen und der NS-Fahnen. Damit’s überdeutlich wird, gleicht das rote Feld einem Blutspritzer.

Tell ist hier der brav-blauäugige Proletarier, äußerlich von Brecht’schem Zuschnitt. Auch Heyme kann Arbeiterposen nur noch ironisch zeigen, sozialistischen Realismus parodierend. Tell ist letztlich bloßes Werkzeug der Besitzenden, die bei der bündischen Sonnenwendfeier des Rütli-Schwurs die Widerstands-Fäden ziehen – allen voran der wohlhabende Stauffacher, der hier Krupps Rolle im Ruhrkampf durchscheinen lassen muß. Teil hat folglich „blaß“ und ausnutzbar zu erscheinen, Vogt Geßler (Michael Enk) kommt als eher trockener Funktionär daher, der „edle“ Attinghausen (Karl-Heinz Pelser) als Altgeneral aus preußischem Junkertum. Der im Stück ausdrücklich als Biedermann bezeichnete Stauffacher ist hingegen Brandstifter. Dies zu zeigen, gelingt dem weitaus besten Darsteller, Wolfgang Robert, mit beachtlicher Nuancierung.




Bewegungs-Bilder aus unterirdischer Endzeit – Pina Bauschs Tanzabend II („Viktor“) uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. Die Erde ist nur mehr ein „umgestürzter Hafen“; Büchners mächtiges Einsamkeits-Wort aus dem „Woyzeck“ wird gesprochen. Die Bühne für Pina Bauschs „Tanzabend II“ („Viktor“) ist Todesstätte. Oder: Katakomben, Ort des allerletzten Überlebens.

Erdwälle ringsum, meterhohe Aufschüttungen; drei Stunden lang wird von droben Erdreich heruntergeschippt. Begräbnis? Wir Zuschauer – eine imaginäre vierte Erdwand liegt hinter unseren Rücken – sind mit drunten, wo „das Ungeordnete“ geschieht, wo das Unbewußte sich Bahn bricht in Wiederholungs-Ritualen aus Kindheit, Alltag und Wahnsinn. Immer wieder werden autistisch in sich selbst rasende Bewegungsabläufe von Hereinkommenden abgebremst, unterbrochen oder allmählich ruhiggestellt, wie von einem Wachpersonal.

Pina Bauschs Körpertheater, dessen „Sprache“ die Beherrschung des Tanzes voraussetzt, unternimmt, dabei oft über Gebühr sich selbst zitierend, einmal mehr alle Anstrengungen, uns fremdeste, uner-„hörte“ Bewegungs-Bilder vor Augen zu stellen. Auch hier wieder Gesten flüchtigen Begehrens, Entblößungs-Posen der Selbstverliebtheit und sexueller Herrschaftsanmaßung, die in einer Flut von Wiederholungssequenzen ausgestellt werden. Nicht auf eine wörtlich zu fassende „Aussage“, sondern auf die Bildlichkeit selbst kommt es da an. Keine zusammenhängende Geschichte, sondern die Entäußerung untergründig wirkender Bewegungs-Strukturen. Um diese Muster herum öffnen sich für den Zuschauer äußerst weite Assoziationsfelder, öffnet sich verstörende Leere, die sich – wenn überhaupt – erst in Kopf und Bauch des Betrachters füllt, die aber auch hilflos, ratlos und aggressiv machen kann.

Der Beginn (am Ende wird diese Szenenfolge wiederholt, ohne an Geheimnis verloren zu haben): Eine Frau betritt die Bühne, im knallroten Kleid, armlos wie eine antike Statue, sie lächelt „wissend“ und herausfordernd ins Publikum. Ein grelles, unerträgliches Bild, eine wohlkalkulierte „Zumutung“, ärger als eine spätere, ausdrückliche Publikums-Beschimpfung („Haut alle ab!“). Dann Teppiche: in den einen rollt man achtlos eine Frau ein, vor dem zweiten wird ein leblos liegendes Paar getraut. Die Hände werden zum Ringtausch zueinander gezwungen, die Gesichter zwecks Kuß zueinander gebogen.

Überhaupt: Tote, Halblebendige. Da versichert sich einer seines Lebensrestes, indem er – Beckett grüßt – seinen bloßen Atemhauch übers Mikrophon abläßt. Die Endzeit ist da: Zwei Steine wie Scheuklappen haltend, irrt eine Frau über die Bühne, regelmäßig hüstelnd, dann markerschütternd schreiend. Eine andere dient (sie speit Sprudel aus, den man ihr eingeflößt hat) als Waschbrunnen, weitere werden begossen wie Pflanzen. Lebendiger scheinen da jene Dinge, die mehrmals in einem irrwitzigen Vermarktungskreislauf „versteigert“ werden.

Das irritierende Stück mit seinen Bildüberblendungen entstand nach einer Rom-Reise des Ensembles. Gruppen-Prozesse haben da sicher eine Rolle gespielt, die der Zuschauer schwerlich nachvollziehen kann. Vor allem italienische Musik der 30er Jahre, „billig“ kreischend wie in einem drittklassigen Lokal, erfüllt den Raum.




Der „Weg nach Mekka“ führt durch einen bizarren Garten der Symbole – Arno Wüstenhöfer inszenierz Athol Fugards neues Stück

Von Bernd Berke

Wuppertal. „In unserem Alter brauchen wir frisches Gemüse … Nein, nein. Sie brauchen es nicht zu waschen!“ Bemerkenswerte Bühnensätze in diesen „strahlenden“ Tagen, die vom Publikum teils mit bitterem Gelächter quittiert wurden. Die Sätze stehen, natürlich nicht auf Tschernobyl gemünzt, in Athol Fugards Stück „Der Weg nach Mekka“, das jetzt in Wuppertal seine deutschsprachige Erstaufführung erlebte (Regie: Arno Wüstenhöfer).

Eine Pyramide von Spiegeln und glitzernde Glassplitter an der rückwärtigen Wand, davor Batterien von leeren Flaschen und Legionen von Kerzen, die das Ganze beizeiten illuminieren. Der Blick nach „draußen“ weist in einen bizarren Skulpturengarten, in dem morgenländische Weise, Meerjungfrauen und ein Hahnen-Mann, der mit lüstern gesenktem Schnabel seine Hose rauf- oder runterzieht, ihr steinernes Wesen treiben. Dieter Flimms beeindruckend wucherndes Bühnenbild steht über die volle Distanz des Dreipersonen-Zweiakters für das Innenleben der alten Witwe „Miss Helen“ (Ursula von Reibnitz).

Helen führt in dem südafrikanischen Halbwüsten-Nest New Bethesda seit vielen Jahren ein einsames Außenseiterleben. Ihre quer stehende Existenz paßt den calvinistisch-bigotten Buren ganz und gar nicht ins Einheitsbild. Zumal sie, mit ganzer Seele ihren „Weg nach Mekka“ suchend, eine ureigene „Religion“ hat.

Besuch kommt aber doch. Zunächst „Elsa“, junge Lehrerin aus dem fernen Kapstadt. Eine „Liberale“, die wegen ihrer Kritik an der Apartheid ständig Ärger mit der Schulbehörde hat und die in Miss Helens Leben mit Inbrunst ein politisches Widerstands-Fanal sehen möchte. Und Pfarrer Marius Byleveld (Heinz Voss), der Helen den Umzug ins Altenheim nahelegt. Ob aus Sorge um ihr Befinden oder als ausführendes Organ ihrer Gegner, bleibt in der Schwebe.

Während der Südafrikaner Fugard rassistische Herrschaft in „Master Harold und die Boys“ noch ins Zentrum rückte, liegt diese Problematik nur noch am äußersten Rand des „Wegs nach Mekka“. Freilich: Quasi-religiöse Transzendenz und entschiedene Überhöhung des Sichtbaren dominieren hier wie dort. Diesmal sind es besonders die Kerzen, deren Licht-Symbolik in immer neuen; manchmal altbacken wirkenden;Reden wortreich strapaziert wird. Sie stehen etwa dafür, daß man „sein Licht leuchten läßt“, ganz „man selbst ist“ und aus dem Dunkel findet. Mitunter wähnt man sich da in einer Selbsterfahrungsgruppe od&r in einem symbolschweren Stück von Ibsen, Strindberg oder Noren.

Die meisten dieser Klippen werden in der Wuppertaler Inszenierung glücklich umschifft. Arno Wüstenhöfer (1963-70 Intendant in Wuppértal, dann in Bremen „Entdecker“ der Tanztheater-Leitsterne Pina Bausch und Reinhild Hoffmann) erreicht dies durch eine unaufdringliche, sinnvolle Figurenführung, die auch über Längen hinwegträgt. Hervorragend die Darsteller, allen voran Ursula von Reibnitz, die es fertigbringt, die Wunschweit des „kleinen Mädchens“ in der alten Helen aufscheinen zu lassen. Dann Heinz Voss, der mit einem Schuß Komödiantik den Zwiespalt offen hält, in dem der Pfarrer steckt. Schließlich: Antje Birnbaum als zornige junge Frau „Elsa“ mit einem Anflug früher Gebrochenheit.




Dortmund: Neues Büro hilft der „Freien Szene“ von NRW – Sprachrohr und Finanzierung

Von Bernd Berke

Dortmund. Noch’n Kulturbüro für Nordrhein-Westfalen: Nach den Literaten, die mit Anlaufstellen in Düsseldorf, Unna und Gladbeck bedacht wurden, und den Filmemachern, die in Mülheim ihre Zentrale bekamen, ist jetzt die „freie Szene“ der übrigen Sparten mit einer Einrichtung in Dortmund an der Reihe.

Das neue „Kulturbüro NW“ soll sich landesweit um Beratung und Förderung der „Freien“ in Sachen Theater, Musik und bildender Kunst kümmern. Träger ist die (gleichfalls in Dortmund ansässige) „Landesvereinigung für freie Kulturarbeit e. V.“, jener Dachverband der lokalen Kulturkooperative,. deren älteste seit nunmehr 12 Jahren in der Westfalenmetropole wirkt. Jochen Brockstedt, Vorsitzender des Landesverbandes, der rund 400 Künstler und Kulturgruppen vertritt, hält Dortmund für den idealen Büro-Standort: „Hier gibt es die vielfältigste freie Szene des ganzen Landes“. Dieses Argument „zog“ auch offiziell, obgleich Dortmund in unmittelbarer Nachbarschaft agile Konkurrenz erwachsen war. Unna hatte sich nämlich ebenfalls beim Kultusministerium beworben.

Das Dortmunder Büro soll den „Freien“ nicht nur zu einer vernehmlicheren Lobby-Stimme verhelfen, sondern auch zu Geld. Bisher freilich fließen die Mittel aus Düsseldorf noch spärlich. 150.000 DM sind es im Startjahr 1986 (Zum Vergleich: Die örtliche Dortmunder Kooperative verfügt im Jahr über rund 200.000 DM). Doch immerhin: Mit dem genannten Betrag können bereits sechs Projekte auf die Beine gestellt werden, darunter ein Landesrockfestival (Dortmund, im Herbst), ein Treffen „alternativer“ Blasorchester (Dortmund, zu Pfingsten), ein Straßentheaterfestival in Bielefeld und der Aachener Kulturspaß „Gaudimax“. Einstweilen „gestorben“ ist das Vorhaben, ein umfassendes Handbuch der freien Szene zu erstellen.

Jochen Brockstedt hofft, daß das neue Büro in Dortmund bald auch hauptamtlich besetzt werden kann. Vorerst wird man sich per Arbeitsbeschaffungsmaßnahme behelfen müssen. Dennoch will man das Fernziel nicht aus den Augen verlieren. Brockstedt träumt von einem „kulturpolitischen Zentrum“, das in Dortmund viele einschlägige Aktivitäten unter einem Dach versammeln soll.

Hier die Adresse der neuen Einrichtung, die übrigens auch Projekte von Nichtmitgliedern der Landesvereinigung fördern will: „Kulturbüro NW“. Ruhrallee86, 4600Dortmund 1. Tel.: (0231)12 27 45.




Oberhausen: Schwimmbad soll Kulturzentrum mit Theater und Kino werden – Privater Verein treibt einmaliges Projekt voran

Von Bernd Berke

Oberhausen. Fast 400 Zuschauer sitzen im Schwimmbecken und schauen gespannt aufwärts. Droben, im Bereich der Startblöcke, wird nämlich Theater gespielt.

So oder ähnlich könnte es bald aussehen, wenn es nach einem privaten Verein geht, der in Oberhausen etwas Einmaliges vorantreiben will: Das stillgelegte Ebertbad (Baujahr 1896) soll zum Kulturpalast mit festen Spielstätten furs Theater (TIP) und Stadtkino sowie Zentrum für zahlreiche weitere Aktivitäten werden.

Die Kultur soll also keinesfalls „baden gehen“ – im Gegenteil. Und: Das Riesenprojekt soll die finanzschwache Stadt keinen Pfennig kosten. Durch Teilverkauf des Grundstücks bei Erhalt des Schwimmbads käme die Kommune gar zu Geld.

Der Verein, erst im Dezember ’85 gegründet, hat bereits ein vorläufiges Nutzungskonzept entworfen. Man will unbedingt verhindern, daß kommerzielle Interessenten das Schwimmbad erwerben und dann eventuell sogar abreißen. Beim „Verein Ebertbad e. V.“ rechnet man sich gute Chancen aus, sitzen doch (u. a. neben renommierten Architekten) Angehörige aller Ratsfraktionen (SPD, CDU, „Bunte Liste“) in seinen Reihen. Vereinsvorsitzender Michael Groschek, Mitglied der SPD-Ratsfraktion, nennt drei Möglichkeiten:

• Die optimale Lösung würde voraussetzen, daß für den theatertauglichen Umbau des Schwimmbades Mittel aus dem NRW-Städtebauministerium (Minister: Christoph Zöpel) fließen. Mindestbedarf: 120 000 DM. In der Tat existiert ein 40-Millionen-Topf „für beispielhafte Umnutzungen“ im Kultur- und Freizeitbereich. Heute sollen erste Vorgespräche mit einem Zöpel-Referenten beginnen.

• Die Normal-Lösung sieht vor, daß sich das TIP (Theater im Pott) mit seinem eigenen Etat sowie der Gastronomie- und Saunabereich mit ihren Erlösen jeweils selbst „tragen“, so daß auch keine Folgekosten auf die Stadt zukämen. Neueste Variante: Eine große Mülheimer Tanzschule bekundet ernsthaftes Interesse, einen Trakt zu kaufen.

• Bei einer „Notlösung“ (an eine „Null-Lösung“ mag man gar nicht denken) würde man zähneknirschend mit kommerziellen Nutzern kooperieren müssen.

Bis zum 15. Februar will jedenfalls der Verein der Oberhausener Stadtverwaltung ein ausgefeiltes Konzept samt Wirtschaftlichkeitsberechnung vorlegen. Vorüberlegun— gen lassen ein wahrhaft buntes Treiben erwarten. Prof. Roland Günther („Bunte-Liste“) vom Vereinsvorstand glaubt, daß man zahlreiche Kulturformen „durcheinanderwirbeln“ müsse, um dem Kulturgetto zu entrinnen. Neben Kino, Theater und Tanz schweben ihm und seinen Mitstreitem u. a. vor: eine „Traumgrotten“-Landschaft im Gewölbe unter dem Schwimmbecken, ein Miniatur-Theatermuseum (in den früheren Umkleidekabinen!), eine Theaterschule, eine Buchhandlung, Studios für lokalen Rundfunk (Voraussetzung: Neues Landesmediengesetz) und für Sprühfans sogar eine „Sprayer“-Wand im Hof. Kurz: Oberhausen soll eine „Theater-Vision“ (Günther) selten gekannten Ausmaßes erleben.

Was das Projekt für eine Revierstadt außerdem bedeuten könnte, erläutert Michael Groschek: Da Arbeitslosigkeit oft soziale Isolation und somit kulturelle Verarmung nach sich ziehe, könne hier ein Gegenzeichen gesetzt werden, auf daß „die ökonomische Krise nicht noch auf weitere Bereiche übergreift“. Drängt Roland Günther: „Im April sollten wir anfangen.“




Horváths Nazis als Hampelmänner

Von Bernd Berke

Wuppertal. Das Stammlokal der Republikaner ist Schauplatz politischer Machtkämpfe. Die NS-Horden haben hier schon mehr als nur den Fuß in der Tür. Ausgerechnet hier wollen sie ihren „Deutschen Tag“ begießen. Noch dazu an }enem Abend, an dem auch die „Italienische Nacht“ der Demokraten steigen soll. Besorgt um seinen Schweinebraten-Absatz, gibt der Wirt allen eine Zusage.

Kaum haben die Nazis ihre Krüge geleert, heißt es also hastig die Tischfähnchen auswechseln (schwarzweiß-rot raus, schwarz-rotgold rein) – und schon wiegen sich die Demokraten in der Illusion, es „denen wieder mal gezeigt zu haben“.

Ödön von Horváths „Italienische Nacht“, uraufgeführt 1931, gehört auf die Spielpläne. Marx ohne Freud ging schon damals nicht mehr: Das Stück erhellt die innige Verschränkung von Politik und Privatleben; es spürt im Freizeitbereich politisch bestimmte Strukturen, in der Politik wiederum das Wirken der Sexualtriebe auf, stellt auch noch die Volksfrontidee sowie die Unterdrückung der Frauen zur Diskussion – und bleibt bei all dem unterhaltsam.

In Petra Dannenhöfers Wuppertaler Inszenierung werden die sieben Szenen so statuarisch durchgespielt, als müsse man illustrierend nachstellen, was eigentlich ganz fern ist. Vielleicht gäbe das ein Zeichen für gesellschaftliche Erstarrung, wären da nicht das gefällige Bühnenbild (Alois Galle), in das sich sogar die NS-Embleme eher dekorativ einfügen, und die durchweg etwas brave Spielweise.

Nur in der ersten Szene (da spielen die Republikaner selbstzufrieden Karten – und sitzen im Keller, während droben die Nazis marschieren) wird nennenswerte Bedrohung spürbar. Die Nazis erweisen sich nachher als lächerliche, offenbar gar nicht so gefährliche Hampelmänner, die etwa mit heruntergerutschter Hose dem Kaiserdenkmal einen „deutschen Gruß“ entbieten. So preiswert ist Klamauk zu haben.

Möchtegern-„Führer“ allenthalben, auch auf der Gegenseite. So wollte es wohl auch Horváth. Ob deshalb aber der Proletarier Martin (Gregor Höppner) gleich ein solches Arbeiterdenkmal von anno dazumal abgeben muß? Die Hände stets tief in die Taschen versenkt, nur die Daumen draußen, einwärts zur Körpermitte weisend – wenn das keine sexuelle Nebenbedeutung hat! Dazu, schon glaubhafter, der Stadtrat als protzender Schwächling (Gerd Mayen) und der drauflos philosophierende „Betz“ (Günther Delarue).

Das meiste wirkt auf mich entschärft, geglättet, letzten Endes versöhnlich. Besonders einige Paar-Szenen, über Gebühr ins „Intime“ abgehoben, haben etwas von schmachtender Penetranz.

Von zahlreichen Schlußvarianten hat man diese gewählt: Als Antwort auf die selbstgefällige Behauptung, die Demokratie könne nunmehr wieder „ruhig schlafen“, ertönt ein ironisches „Gut‘ Nacht“! Aber auch das klingt hier, als wolle man den Zuschauern eine gute Heimfahrt und angenehme Bettruhe wünschen.




Hansgünther Heyme will in Essen „Verkrustungen aufbrechen“ – Neuer Schauspieldirektor stellt seine Pläne vor

Von Bernd Berke

Essen. Es war viel von Strategie die Rede, als Essens neuer Schauspieldirektor Hansgünther Hemye gestern seine Spielplan-Vorstellungen für die Zeit bis Ende 1987 unterbreitete. Die Spielstätten- und Finanzlage erzwinge vorerst reduzierte Saisonplanungen. Gerade dies, so Heyme, wolle man nutzen, um profilierteres Programm zu machen.

Wer die heftigen Diskussionen um Heyme-Projekte an seinem vormaligen Wirkungsstätten Köln und Stuttgart verfolgt hat, ahnt, daß es dabei nicht zuletzt um politisch aufstörende, Utopie einfordernde Akzentsetzungen geht.

Die nächste Essener Premiere (9. Januar ’86) ist noch eine (leicht variierte) Übernahme aus der Stuttgarter Zeit, Heymes Inszenierung von Lessings „Nathan“. Am 26. Januar folgt Athol Fugards „Die Insel“. Ein neues Doppelprojekt, Heyme inszeniert selbst, hat am 16. März Premiere: Schillers „Iphigenie in Aulis“, „ein weimarisierter Euripides“ (Heyme) sowie „Die Troerinnen“ des Euripides werden am Premierentag hintereinander, später auch schon mal separat aufgeführt.

Erstmals am 23. April kommt „Alles beim Alten – Alles in Ordnung“ auf die Bühne: Unter Heymes Leitung werden vornehmlich Lessing-Texte gespielt, die – unter bewußtem Bezugauf den Skandal umFaßbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ – von Juden handeln. Die Produktion soll „Verkrustungen aufbrechen“, so daß man sich eventuell zur Jahreswende 1987/88 direkt an den Faßbinder-Text wagen könne (was Heyme zur Zeit für nicht opportun hält).

Für die Spielzeit 1986/87 plant Heyme u. a. Christoph Heins „Cromwell“ (erstmals außerhalb der DDR), Brechts „Dreigroschenoper“ (es wäre Heymes erste „Wiederbeschäftigung“ mit Brecht seit rund zehn Jahren), Heiner Müllers „Mauser“ und „Bildbeschreibung“, Tschechows „Kirschgarten“ und – als deutsche Erstaufführung – David Hares „Map of the World“, ein Stück über UNESCO und Nord-Süd-Konflikte.

Heyme wiederholte nachdrücklich seine Forderungen: Erhalt und später Umbau des jetzigen Opernhauses fürs Schauspiel, mehr Geld, Mitsprache bei der Mützel-Nachfolge. Andernfalls werde seine Ära in Essen vorzeitig enden.