„Welttheater“ auf nur einem Kontinent

Von Bernd Berke

Was ist davon zu halten: Wenn ein Band schon „Welttheater“ heißt – und ganze Kulturkreise wie Ostasien, Indien oder Südamerika werden überhaupt nicht berücksichtigt; wenn das Buch (nach Auflagen in den 60er Jahren) vollständig umgeschrieben, aktualisiert worden ist – und es fehlen vollständig die „freien Truppen“, sogar jene von Format und Wirkkraft des „Living Theater“, des „Squat Theater“, von „La Mama“. Was davon zu halten ist? Die Verfasser scheinen ein ganz schön elitäres Verständnis von Theater zu haben!

Die „großen“ Bühnen der Bundesrepublik, der DDR, besstenfalls noch Englands, Frankreichs, Italiens beherrschen alles – und was „groß“ ist, versucht Henning Rischbieter, rühriger Mitherausgeber dieses Wälzers (unlängst legte er ein „Theaterlexikon“ bei Orell & Füssli vor), schon seit langem auch in seiner Fachzeitschrift „Theater heute“ zu bestimmen. Dortmund, unter vielen anderen Städten, ist nach solchem Verständnis ein weißer Fleck auf der Theaterlandkarte, ein Nicht-Ort sozusagen. Selbst Claus Peymanns Bochumer Ära rangiert unter „ferner liefen“, während seine Stuttgarter Zeit noch Gnade findet. Ganz erstaunlich, daß auch Theater-Großtaten von Ariane Mnouchkine oder Robert Wilson nicht vorkommen.

Der Band lebt von überquellender Bebilderung. Höhepunkte zahlloser Inszenierungen werden, auf meist packenden- Fotos, dokumentiert. Die Textbeiträge stammen zum Teil von Kritikerpäpsten wie Hellmuth Karasek und Joachim Kaiser. Sie referieren nicht, sondern wagen – vom Verriß bis zur Hymne – Wertungen, was ein Vorzug ist. Aufs Ganze gesehen, ergibt sich eine Mixtur aus Bilderbuch, Theatergeschichte, Schauspielführer und Lexikon (dafür ist freilich das Register zu dünn geraten, es fehlen etwa Orts- und Schauspielernamen).

Die meisten Stücke werden inhaltlich nur knapp umrissen, deutlicher wird hingegen ihr Sinnpotential für Inszenierungen bloßgelegt. Effekt: Die Dramen erscheinen eher als „Rohmaterial“ im Sinne des Regietheaters, das mit den Vorlagen frei verfährt. Eine Glaubensfrage.

Henning Rischbieter / Jan Berg (Hrsg:): Welttheater. Westermann-Verlag, Braunschweig, Großformat, 496 Seiten, 98 DM




Was Vaganten auf die Straße treibt

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Die Herrschenden „mit der Zunge zu durchbohren“, sei Sache der Vaganten. So heißt es an zentraler Stelle der neuen Ruhrfestspiel-Produktion „Vaganten Leben“ (Regie: Bernd Köhler) über die fahrenden Spielleute. Gar so bohrend ist es denn aber doch nicht geworden.

Im ..Malersaal“ des „Depots“, vergleichbar einer Kneipe, bestellt man noch Getränke, da setzt unvermittelt an drei Tischen anschwellendes Gemurmel ein. Es sind schon die ersten drei von 15 Texten dieses Programms. Weil sie gleichzeitig und also durcheinander gesprochen werden, versteht – je nach Lage des Sitzplatzes – jeder Besucher etwas anderes. Stichworte beschädigten Lebens fallen – von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Ausbeutung, Erniedrigung ist da die Rede.

Die Worte verweben sich vage, als erlausche man sie an Nebentischen im Lokal, zu einer Ahnung von biographischen Katastrophen. Dergestalt, das macht der folgende, schon auf der kleinen Bühne gesprochene Text von Dario Fo klar, sind die Verhältnisse, die die Vaganten überhaupt erst auf die Straße treiben. Keine Romantik also, sondern härteste Realität.

Es handelt sich hier nicht um die (gemeinhin als „Vaganten“ bezeichneten) Theologieschüler des 11. bis 13. Jahrhunderts, die mit Texten und Liedern voller Lebens- und Liebeslust sowie drastischer Kirchenkritik durch die Lande zogen. Schade, denn es gibt z. B. vom „Archipoeta“ („Erzpoet“) neue Übersetzungen, die so frech und frisch klingen, als wären sie erst in den Revolten unseres Jahrhunderts entstanden.

In Recklinghausen widmet man sich den mehr oder weniger legitimen Nachfolgern des „Archipoeta“. Natürlich sind Lieder von François Villon dabei – keine Entdeckung mehr. Den größten Teil des Programms, das Texte aus den Jahren zwischen 1447 und 1982 (!) versammelt, nimmt Dario Fo ein. Gleich zweimal gar vernimmt man aus seiner Feder stammende Witzeleien über Päpste, als sei im Vatikan noch immer die ärgste Form von Herrschaft beheimatet.

Neben einigen anonymen Texten, etwa dem märchenhaften „Der größte Räuber im Lande“, erklingt auch das altvertraute „Nur nicht aus Liebe weinen“, ein Fremdkörper in diesem Zusammenhang.

Umgesetzt wird das vom Darsteller-Trio (Ursel Schmilz, Nedim Hazar und Heinz Kloss) als Unterhaltung, die nur hier und da bissig wird. Anstöße, blitzartig Erhellendes oder Überraschendes sind Mangelware.

Übrigens: Die intensiven Vorstudien im real existierenden Penner- und Strichermilieu, die einen Darsteller (die WR berichtete) sogar kurz in Polizeigewahrsam brachten, wären für diese Produktion nicht nötig gewesen. So wörtlich muß man Naturalismus nicht verstehen.




„Hohn der Angst“: Gag-Potential weidlich ausgeschöpft

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auf die rundum weiß verhangene Bühne wird ein gigantischer Lastwagen (Marke: Fiat) gewuchtet. Das Riesenspielzeug enthält sämtliche Bühnenaufbauten für die kommenden Szenen. So gebiert der Blech-„Bauch“ des Konzerns die ganze Farce.

Um Fiat-Boß Agnelli geht es in Dario Fos „Hohn der Angst“. Scheinbar von Terroristen entführt, ist Agnelli ausgerechnet von einem seiner stramm kommunistischen Arbeiter, Antonio, gerettet und in der Klinik abgeliefert worden. Während Antonio sich aus Angst vor allgemeiner Hatz versteckt, wird das zur Unkenntlichkeit zerschundene Gesicht Agnellis nach dem Paßbild des Arbeiters chirurgisch modelliert. Das Foto steckte in der Jacke, die Antonio ihm vor dem Krankenhaus überwarf. Der Herr als Doppelgänger des Knechts – das Verwechslungsspiel kann beginnen.

In der Wuppertaler Aufführung (Regie: Helmut Palitsch) wird das kaum zu verfehlende Gag-Potential weidlich ausgeschöpft. Das Unterhaltungspensum, kein Zweifel, wird absolviert. Leider nicht immer im wünschenswerten Wahnsinns-Tempo, sondern gelegentlich breit und genüßlich auswalzend. Immerhin gelingen besonders nach der Pause einige Szenen, in denen heller Irrsinn wetterleuchtet.

Auf Sparflamme flackert hingegen das Feuer politischer Provokation. Wir sind eben nicht im Italien des Jahres 1981, als Fos Stück nach dem Mord an Aldo Moro die Gemüter erhitzte. Wir sind auch nicht auf dem Volksfest oder im Kneipensaal, den eigentlichen Orten für Fos dröhnenden Klamauk. Und wer macht sich denn noch, im ordentlich bestuhlten Stadttheater, so viele Illusionen, daß es nötig erscheint, mehrfach die Fiktion des Theaters zu betonen, wie dies hier geschieht (die Souffleuse kräht extra laut das Stichwort heraus, demonstrativ wird aus leerer Flasche eingeschenkt).

Bernd Kuschmann ist letztlich in jeder Rolle jungenhaft sympathisch. So auch hier als Antonio und „Doppelgänger“ Agnelli, die er zu undeutlich voneinander absetzt. Das Ensemble chargiert nach Kräften, die freilich nicht allen in gleichem Maße gegeben sind. Viele Faxen bleiben purer Selbstzweck.




Die Bühne, das monströse Wahnsystem – Thomas Bernhards „Theatermacher“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Ein fast dreistündiger Wahnwitz-Monolog, eine qualvoll in sich selbst kreisende, alles unterschleifende Haß-Litanei gegen die rundum „widerwärtige“, „absurde“, „perverse“ Welt, unter besonderer Berücksichtigung der kunstfeindlichen „Eiterbeule Österreich“ – das muß ein Stück von Bernhard sein.

Thomas Bernhards „Der Theatermacher“, in Claus Peymanns Inszenierung jüngst zu Salzburg uraufgeführt (die WR berichtete), war am Samstag erstmals an Peymanns Noch-Wirkungsstätte Bochum zu sehen. Und wenn sich auch die zahlreich wiederholten Bösartigkeiten gegen das Alpenvolk hier abstrakter ausnehmen als eben beispielsweise in Salzburg, so sind doch immerhin große Teile des Bochumer Publikums durch langjährige Aufführungspraxis „Bernhard-geschult“. Verständnisbereitschaft, ja streckenweise auch Nachsicht für diesen eher schwachen Text sind denn auch nötig.

„Der Theatermacher“ Bruscon (Traugott Buhre), der sich gern in einem Atemzug mit Shakespeare und Goethe nennt, ist mal wieder in der hinterletzten Provinz gelandet. Die von ihm tyrannisch geführte Familientruppe (Gattin mit Dauerhusten, zwei Kinder zwischen natürlicher Widerspenstigkeit und andressierter Unterwürfigkeit) soll Bruscons monströse Welthistorien-Komödie „Rad der Geschichte“ im schmutzstarrenden Saal der Dorfkaschemme von Utzbach aufführen. Hochfliegende Ideen treffen auf widrigste Umstände. Da liegt die Wut auf alles Wirkliche nah. Bruscon unterwirft jegliche Realität seiner gigantischen Schmieren-Dramaturgie, will alles seiner Scheinwelt einverleiben. Er formt alles zum künstlichen Zeichen, zum Anlaß für Theatralik.

Der Wirt (hervorragend als fast stummer Widerpart: Hugo Lindinger), ein Alltagstölpel aus solcher Sicht, wird flugs zum bühnentauglichen Opfer eines „Pächterschicksals“ umschwadroniert. Jedes Ausstattungsstück muß millimetergenau nach Bruscons Willen plaziert werden – er setzt die Zeichen oder läßt sie setzen. Was nicht in dieses Wahnsystem, das letztlich in Theatervernichtung mündet, integrierbar ist, wie der nahebei stinkende Schweinestall und dito Misthaufen, wird verbal niedergemetzelt.

Traugott Bahre gestaltet seine Rolle wie ein überlebensgroßes Monument. Kirsten Dene hustet und keucht sich geradezu virtuos durch ihre wortlose Rolle, Josefin Platt als „Tochter Sarah“ und Martin Schwab als „Sohn Ferruccio“ sind Musterbilder der Gespaltenheit. Aus diesem scheinbar nur nörgeligen Stück so viel herauszuholen, ist bewundernswert. Darsteller (besonders Buhre und Lindinger) und Regisseur Peymann bekamen verdientermaßen einen donnernden Schlußapplaus.




„Dantons Tod“: Die Revolution als Kasperltheater

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Dantons Tod“ ist von der ersten Szene an eine Tatsache, die nur noch nicht ganz eingetreten ist.

Der ehedem revolutionäre Melancholiker verbirgt sich vor der elenden Schreckensherrschaft Robespierres unter Julies weißem Rock – und der ist schon ein symbolisches Leichentuch. Mit Georg Büchners Stück, dessen Untertitel „Die Revolution frißt ihre Kinder“ lauten könnte, eröffnete das Wuppertaler Schauspielhaus die neue Spielzeit.

Von „Revolution“ ist nichts mehr zu spüren in Ulrich Greiffs Inszenierung. Robespierres Guillotinen-Terror, im Namen einer genußfeindlichen „Tugend“ rasend geworden, hat nicht nur die politische Vernunft, sondern die ganze Realität ausgelöscht. Simon (Holger Schamberg) hockt, dem Publikum zugewandt, wie ein Shakespearscher Narr in seinem Souffleurkasten und pocht – zum Ersten, zum Zweiten, zum Letzten – die Stationen des Unaufhaltsamen ab. Ausverkauf der Utopie.

Die Bühne (Einrichtung: Wolf Münzner) ist diagonal geteilt. Vom rechts spielen sich die traumwandlerischen Szenen aus Dantons Sphäre ab, hinten links gibt ein zweiter Vorhang sodann den Blick aufs „Volk von Paris“ frei. Rund 160 Statisten nennt das Programmheft. Sie haben keinen echten Aktionsraum, sondern verharren meist auf einer riesigen schwarzgrauen Treppe, die schräg in die Bühne hineinragt und so beengend ist, wie das ganze Konzept dieser Aufführung.

Dieses Volk ist in erster Linie tumbes „Beifallsvieh“, die Revolution ein Kasperltheater: Wer immer von den Führern „Seid ihr auf meiner Seite?“ ruft, kann alsbald mit einem vielstimmigen „Ja“ rechnen.

Alles nur Traum und Theater also. Und so erlebt man auch Szenen künstlicher Erstarrung, die nur hin und wieder weiterrücken, um dann gleich wieder einzurasten. Triebkräfte gibt es da nicht. Alles, was geschieht, „geschieht eben“.

Die Revolution ist längst keine mehr. Danton soll geopfert werden, um das hungernde Volk noch einmal anzustacheln. Heiner Stadelmann spielt den „Danton“ als schwerblütigen Fatalisten, der seinen letzten Antrieb, die Früchte der politischen Umwälzung genußreich zu verzehren, freilich nicht recht glaubhaft machen kann. Lebendig darf er nicht sein, nur kurze Augenblicke des Aufloderns kann er zeigen. Eine schwierige Rolle. Siegfried Maschek gibt Dantons Widersacher Robespierre als vereinsamten Demagogen. Insgesamt bietet das Ensemble eine geschlossene Leistung. Ohne schlimme Schwachpunkte, aber auch ohne Szenen, die wirklich betroffen machen könnten. Trotzdem: orkanartiger Beifall.




Operettenhaft: Stück über Katastrophe auf Zeche Radbod

Von Bernd Berke

Hamm. Der 12. November 1908 war einer der schwärzesten Tage in der Geschichte des Revierbergbaus. Um 4.20 Uhr früh kostete eine gewaltige Schlagwetter-Explosion 350 Bergleute das Leben. Ort der Katastrophe: Zeche Radbod in Bockum-Hövel, dem heutigen Hammer Ortsteil.

Alfons Nowackis Revier-Ballade „Auf in den Westen, wo schwarz ist das Gold“ macht den schrecklichen Vorgang, an dem Bergwerksbosse die Hauptschuld trugen, zum Dreh- und Angelpunkt eines Ruhrgebiets-BiIderbogens mit Szenen aus dem Alltag der „Kumpel“.

Im Schatten der Unglückszeche von 1908, nämlich im Saalbau Bockum-Hövel, hatte am Freitagabend die Inszenierung des Westfälischen Landestheaters (WLT) Premiere. Sei es, daß die Castroper Truppe die Werbetrommel zu leise rührte, sei es, daß Frei-Haus-Unglücke im Fernsehen sich heute mehr aufdrängen als die Vorgeschichte der eigenen Region – die Veranstaltung fand jedenfalls vor halbleeren Rängen statt.

Nowackis Stück birgt Gefahren. Hauptsächlich die, in Revierkitsch zu verfallen. Dagegen ließe sich anspielen: derb, direkt, aggressiv. Bernd Krzistetzkos WLT-Einstudierung wirkt – ganz im Gegensatz zur Essener Uraufführung im Januar 1984 – über weite Strecken operettenhaft.

Die Geschichte einer polnischen Familie, die zu Beginn des Jahrhunderts mit goldenen Verheißungen ins Revier gelockt wird und dort zwischen Ausbeutung und Ausländerfeindlichkeit heimisch werden muß, wird – alles in allem – zu gefällig vorgetragen. Immerhin gibt es Szenen des Innehaltens, bei denen Zorn und Trauer aufblitzen. Bevor sich solche Momente wirklich verdichten können, ist jedoch oft schon das nächste schmissige Lied angestimmt.

Episode bleibt auch jene Gerichtsszene, die man neu hinzugefügt hat und in der die Ursachen der Radbod-Katastrophe ganz im Sinne der Unternehmerseite unter den Tisch gekehrt werden. Der Ausgang freilich steht schon beim ersten Wort fest, und zwar nicht im Brechtschen Sinn, so daß nun etwa das „Wie“ dieser Ungeheuerlichkeit schärfer hervortreten würde. Vielmehr schnurrt die Szene spannungslos ab, statt daß sie entwickelt wird und Bruchstellen offenlegen kann.

Aus dem Ensemble ragen Rose Hegenscheidt und Moritz Dürr deutlich heraus, die ahnen lassen, daß in Nowackis durchschnittlichem Stück dennoch Sprengstoff steckt.




Mordgelüste – eine alltägliche Krankheit / Shakespeares „Macbeth“ beim Theaterpathologischen Institut in Hattingen

Von Bernd Berke

Hattingen. Die obszönen Hexen schänden ein Kreuz, ein bluttriefender Krieger dient als Lustobjekt, sein Kampfschwert desgleichen. Kein Zweifel: Wir befinden uns im „TPI“, im „Theaterpathologisehen Institut“ des Roland Reber zu Hattingen an der Ruhr.

D o c h Zweifel! Denn mit besagten Szenen hat die Truppe nur jene Erwartungshaltung ironisch zitiert, mit der ein Gutteil der Zuschauer zur „Schulenburg“ gepilgert sein mag. Schließlich war Shakespeares „Macbeth“ (Titelrolle: Reber) angesagt, dessen diverse Metzeleien um den schottischen Königsthron das Ensemble wahrlich mühelos in eine seiner berüchtigten Gewaltorgien hätte umsetzen können. Es kommt aber alles ganz anders, nämlich über weite Passagen so bieder, als müsse man ein kreuzbraves Publikum beschwichtigen.

Der TPI-Chef hat für dieses Projekt sein Ensemble um einige Bühnenlaien verstärkt. Das merkt man. Streckenweise ist die vollständig mit lehmigklumpigem Erdreich bedeckte, „L“-förmige Bühne Schauplatz von „Schülertheater“. Die tragenden Rollen sind hingegen diskutabel besetzt.

Der Untertitel lautet „Die vom Tod Befallenen“. Tatsächlich grassieren Mordlust und ihre Begleiterscheinungen hier als eine alltägliche Krankheit, fast einem Schnupfen vergleichbar. Das zynische Endlos-Spiel der Macht spielen nämlich ausnahmslos alle mit. Bereits Banquos Söhnchen bedroht den alten König Duncan (Thomas Rech als kümmerlich-lächerlicher „Papiertiger“) hinterrücks mit dem Schwert, was sein Papa, der im Grunde auch keine edleren Gedanken hegt, grad mal mit einer Backpfeife quittiert.

Keinesfalls ist Macbeth allein der große Usurpator. Höchstens ist er derjenige, der den tödlichen Intrigen noch die meisten Gelegenheiten zu ausgiebiger Theatralik abgewinnt – sei es, daß er alle Geschehnisse demonstrativ auf die leichte Schulter nimmt, sei es, daß er gestenreich vorgibt, monumentale Wahnsinnsanfälle zu haben. Am Ende findet er in Macduff, dem die Hexen unheilvollen Ehrgeiz einflüstern, einen mutmaßlich ebenbürtigen Nachfolger.

Bei genereller Zurückhaltung wirken einige Regieeinfälle desto greller – so der Auftritt eines öligen Muskelmanns, so verschiedene pyrotechnisch-circensische Effekte, so die Sturzflut von Tischtennisbällen, die zum Schluß eine Treppe hinabprasselt und das Geräusch des Beifalls vorwegnimmt. Schließlich Banquos Geist, der – was eigentlich verpönt sein sollte – körperlich erscheint. Solche Ideen liegen oft dicht an der Geschmacksgrenze (was der Aufführung gar nicht einmal zum Nachteil gereicht). Daß aber Macbeth’s Widersacher das Horst-Wessel-Lied anstimmen, kommt für meine Begriffe denn doch zu unvermittelt.

Warum diesmal „großes“ Theater beim TPI? Vermutlich wollte sich Reber – es ist seine erzwungenermaßen letzte Theaterproduktioft in Hattingen – einen beeindruckenden Abgang verschaffen, um andernorts Fürsprecher zu finden. Müßte er ganz aufgeben, wäre das Revier um einen kulturellen Reibungspunkt ärmer; man mag zu seiner Arbeit stehen, wie man will.




Kipphardts „Oppenheimer“ zu aktueller Geltung gebracht

Von Bernd Berke

Wuppertal. Gleich zu Beginn wird offenbart, welche Laufbahn die Mitglieder des Untersuchungskomitees hinter sich haben. Angebliche kommunistische Umtriebe und vermeintliche „Bremsertätigkeit“ Robert Oppenheimers beim Bau der H-Bombe sollen keinesfalls von Unparteiischen ans Licht gebracht werden: Einer ist Direktor einer Atomfirma, ein anderer Ex-Staatssekretär im Kriegsministerium. Schon ist klar, daß das Verfahren zu Lasten des Physikers Oppenheimer ausgehen muß. Jetzt geht es nur noch um das „Wie“.

Auch 21 Jahre nach der Uraufführung sind die in Heinar Kipphardts Dokumentarstück „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ verhandelten Sachverhalte alles andere als „erledigt“. Das Stück behandelt am Beispiel Oppenheimers virulente Themen, obgleich es auf Dokumenten der McCarthy-Ära basiert: die Verantwortung des Wissenschaftlers, die Schnüffelpraxis eines sicherheitsbesessenen Staates, den Rüstungswettlauf.

Der Strenge des Stücks entspricht in Wuppertal das nüchterne Bühnenbild: Ein symmetrischer, beinahe „klinischer“ Raum, karge Sitzgelegenheiten. Auch die Regie (Martin Ackermann) drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern läßt behutsam den Text zur Geltung kommen. stülpt ihm richtigerweise keine ehrgeizigen szenischen „Erfindungen“ über. Dennoch sind die Gerichts-Szenen meist packend, obwohl doch „nur“ Argumente oder (Vor)-Urteile ausgesprochen werden und kaum Aktionen die Szene beleben.

Es überzeugt ein homogenes Ensemble ohne „Ausfälle“. Bernd Kuschmann spielt den Oppenheimer als weltgewandten Mann, der immer einsilbiger und passiver wird, weil er merkt, daß er sich an der falschen Front verteidigt. Nicht seine linksliberalen Sympathien belasten ihn, sondem seine Blauäugigkeit, die Atombombe aus „rein wissenschaftlicher“ Begeisterung zu bauen, ihre Anwendung aber bekämpfen zu wollen.

Der Sicherheitsausschuß: Rene Schönenberger als die Korrektheit in Person, Heiner Stadelmann als kalkulierender Manager, den die menschliche Seite nicht schert, dazu als Widerpart Publikumsliebling Heinz Voss, der – eine Art gütiger Großvater – die scheinbar naivsten, in Wahrheit aber scharfsinnigsten Fragen des Verfahrens stellt.

Idealbesetzungen im Rahmen des Wuppertaler Ensembles auch die Anwälte beider Seiten: Erich Leukert als Oppenheimer-Verteidiger, der seine Ungeduld zügeln muß, obwohl er die Absurdität des Verfahrens erkennt, Gregor Höppner als junger, fühlloser Karrierist, der Oppenheimer partout in die kommunistische Ecke drücken will, dazu Gerd Mayen und Günther Delarue mit weniger spektakulären, doch ebenbürtigen Leistungen. Unter den Zeugen ragen Hans Richter als Physiker Bethe und Horst Fassel als H-Bomben-Produzent Edward Teller hervor.

Zu kritisieren sind allerdings die Diaprojektionen. Solch‘ wohlfeile und naheliegende Bildeinblendungen hätte man nicht nötig gehabt. Mehrfach sehen wir den kriegslüsternen Ronald Reagan. Solche Verbindungslinien zu ziehen, gestattet das Stück von selbst. Ohne Bild-„Nachhilfe“.




Mit Gebrüll ins Unvermeidliche – Pavel Mikulastik inszeniert „Macbeth“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Auf der Bühne ein Schlachtfeld, „verbrannte Erde“. Im Hintergrund liegen nackte Stilpuppen mit grotesk verrenkten Gliedern. Dem Bösen ist von Anfang an buchstäblich „der Boden bereitet“, als zehn Männer in Zivil die Szenerie betreten.

Diese „Einberufenen“ entnehmen ihren Plastiktüten Militärhosen und stehen einander bald als „blaue“.und „rote“ Partei gegenüber. Sie wollen weinen, sich verbrüdern, aber das Gemetzel findet doch statt. Wie auch anders, wo doch kein guter Herrscher in Sicht ist? König Duncan etwa, von William Shakespeare noch mit allen Attributen natur- und gesellschaftsgemäßen Lebens ausgestattet? Auch er ist in Pavel Mikulastiks Dortmunder Inszenierung des „Macbeth“ nur läppischer Vorsteher einer Militärmonarchie. Mit ihm wird kaum einer Mitleid haben, wenn Macbeth ihn erdolcht. Und Duncans rechtmäßiger Erbe Malcolm? Ein blasierter Jüngling, auch er ein möglicher Usurpator der Macht, weit entfernt von der hehren Lauterkeit, deren Demonstration Shakespeare eine eigene Szene widmete (die hier nicht gespielt wird).

Duncan (Günter Knecht) umgibt sich selbstgefällig mit einer Schar von Hofschranzen, die einem absurden Wachsfigurenkabinett entsprungen zu sein scheinen. Bei ihren dümmlichen Ritualen und Rokoko-Spielchen werden sie erst durch Macbeth (Fritz Eggert) gestört. Der soll denn in diesem Umfeld wohl auch keine Inkarnation des Bösen sein, sondern nur der Herrscher, der – und vor allem darum muß er am Ende auch „weg“ – das Wesen der Herrschaft am konsequentesten hervorkehrt und sie so entlarvt, ja erschüttert, darin vielleicht ein Vetter von Camus‘ „Caligula“.

Leider gewinnt Eggert aber nicht die dazu nötige Titanen-Statur. Weder geht er mit analytischer Kälte zu Werke, noch zeigt er uns die tieferen Abgründe der Macbeth-Seele. Eher schickt er sich, mal seufzend, mal brüllend, ins gleichsam „Unvermeidliche“. Freilich, Eggert hat es schwer, wird ihm doch kein leuchtender Widerpart entgegengestellt, von dem er sich dunkel abheben könnte. Daß macht die dreieinviertelstündige Aufführung über weite Strecken konturlos, kontrastarm.

Lady Macbeth (Ines Burkhardt), die sich „entweihen“ und ihren Mann zu Mordtaten anstacheln will, sieht man zuallererst in einem metallisch glänzenden Kasten, in schimmernder Wehr aus Kälte und Isolation. Da ohnehin alles seinen Gang geht, muß auch kaum ihre Durchtriebenheit aufflattern. Sie wäscht dem wie ein Knäblein in einer Wanne kauernden Macbeth den „Pelz“. Schon spurt er. Danach wird die Lady zum eigentlichen Geist der Inszenierung und hat denn auch ihre beste Szene als Schlafwandlerin, wenn sie Schwäche zeigen darf.

Höchst real kommen, allem wallenden Rauch und Lichtgewitter zum Trotz, hingegen die drei Hexen daher, die Macbeth mit orakelhafter Doppeldeutigkeit Aufstieg und Fall prophezeien. Drei kichernde alte Damen mit Mantel, Hut und Handtäschchen. Offenbar ein biederees Kaffeekränzchen, das sich mal einen Jux machen will. Mit Budenzauber, dessen Ingredienzen aus dem Warenhaus um die Ecke zu stammen scheinen.




Schaubudeneffekte für Puntila – Alfred Kirchner inszeniert Brechts Herr- und Knecht-Stück in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Die Tür zur Bühne knallt mehrmals laut, dann wird das widerstrebende „Kuhmädchen“ gewaltsam vor die Zuschauer geschubst.Heulend nölt sie Brechts Vorspruch zu „Herr Puntila und sein Knecht Matti“; Man habe ein komisches Spiel gemacht, und zwar nicht zu knapp.

Schon die allererste Zeile ist verändert: „Geehrtes Publikum, die Zeit ist trist“. Bei Brecht hieß es: „Geehrtes Publikum, der Kampf ist hart“. Widerwille, der sich an Brechts klassenkämpferischen Optionen oder Gewißheiten reibt; Mißtrauen gegen einen Text von 1940, der denn auch eher mit Vorsicht genossen (aber doch genossen, also ausgekostet) wird.

Nach dem Vorspiel betritt „Puntila“ (Traugott Buhre) das leicht erhöhte Podest der Spielfläche (Bühnenbild: Peter Bausch). Man denkt an billige Schaubudeneffekte. Und so ist es denn auch: Für Puntila, den finnischen Großgrundbesitzer, der im Suff „menschlich“ wird, bei „Anfällen von Nüchternheit“ aber im Sinne seines Klasseninteresses bedrohlich „zurechnungsfähig“ wird, findet in Alfred Kirchners Deutung die Welt als läppische Inszenierung statt.

Wenn Puntila sich mit den Fühaufsteherinnen verlobt, treten die ihm, von vornherein gewitzt, als wandelnde Kulissen entgegen, als Sinnbilder von Menschen, die auf ihre Arbeitsfunktion reduziert sind. Sogar die Vogelstimmen im finnischen Birkenwald werden mit einem Pfeifchen imitiert. Auch die Puntila-Tochter Eva (Lisi Mangold) kommt unwirklich daher – ein im „Puppenheim“ gefangenes Kind mit dem Appeal eines UFA-Mädels der 30er Jahre. Puntila lebt in einer Irr- und Scheinwelt. Nüchtern geworden, findet er nur deren Reste vor: in den Staub geworfene Brautkränze, demoliertes Mobiliar.

Dieser Puntila wird auch im Rausch nur „fast“ Mensch. Er bleibt bramarbasierender Menschen-Darsteller. Als er eine seiner guten Taten herausstreicht (er hat einen Hirschkäfer von der Straße getragen), zieht Buhre ein Mikro hervor und verkauft seine Menschlichkeit nach Art eines Conférenciers.

Von Anfang an gewappnet gegen Puntilas humane Duseleien ist denn auch sein Chauffeur Matti (Branko Samarovski). Er spielt das üble Spiel nur als überlegener Hofnarr mit. Es vermischen sich schwejkisches Erbteil und Commedia dell’Arte. Samarovski gelingt das bewundernswerte Kunststück, die brachiale Präsenz Puntilas über weite Strecken auszubalancieren. Und gegen wieviel Verve muß er da, äußerlich ruhig bleibend, angehen: Buhre spielt ja a u c h den vor Lebenslust berstenden, momentweise eine Utopie vom verwirklichten „Vollmenschen“ vorlebenden Mann.

Es gibt atemberaubende Szenen: Etwa wenn Puntila mit seinem Nobelschlitten vor einen Telegrafenmasten gerauscht ist: Eine impressionistische Landschaftskulisse, der Mast, der mit Aquavit abgefüllte, fluchende Puntila – alles befindet sich in horrender, liebevoll komponierter Schräglage. Großartig auch, wie Matti die Volksspeise Hering mit Abendmahls-Feierlichkeit verteilt und an der bloßen Reaktion der zum Essen Genötigten ihre Klassenzugehörigkeit ablesbar wird.

Frenetischer Beifall. Verdient haben ihn nach meinem Empfinden – neben Buhre und Samarovski – besonders Eleonore Zetzsche („Schmuggleremma“), Thomas Schendel („Attaché“) und Tana Schanzare für ihr Puntila-Lied.




Endloses Trauma der Verfolgten – Judith Herzbergs „Schadenfreude“ in deutscher Erstaufführung

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mut zum eigenwilligen Spielplan beweisen die Wuppertaler Bühnen. Binnen zehn Tagen gab es nun schon die zweite deutsche Erstaufführung. Nach Ayckbourns „Stromaufwärts“ jetzt: Judith Herzbergs „Schadenfreude“ (Regie: Ulrich Greiff).

Judith Herzberg (50), geboren in Amsterdam, ist Jüdin. Ihr Stück (Originaltitel: „Leedvermaak“) führt eine Anzahl von Menschen bei einer Hochzeitsfeier zusammen. Die jüdischen Eltern der Braut haben zwar die KZ-Haft überlebt, sind aber seelisch zerstört. Unauslöschliehe Nachwirkungen auch bei der Braut „Lea“, die „damals“, ihrer Identität beraubt, zu einer christlichen „Kriegsmutter“ kam. Dazu die Eltern des Bräutigams, die jeweiligen Ex-Ehepartner der Brautleute; schließlich „Daniel“, der wie eine Leidensfigur aus den Kriegstagen in die Jetztzeit hereinragt.

Hochzeiten veranlassen für gewöhnlich die Älteren zur Bilanz, die Jüngeren zur Zukunftsschau. Doch wenn da keine nennenswerte Zukunft ist, sondern nur übermächtige Vergangenheit, dann weiten sich die üblichen Beziehungskatastrophen in neue Dimensionen. Das Trauma der Verfolgung bricht immer wieder durch, macht jedes Gespräch zur Verletzung, jede Annäherung zur Entfernung.

Gespielt wird auf der breiten Fläche des Foyers, gleichsam in „Cinemascope“. Die Fassade: üppiges Buffet, Hut- und Mantelablage, blaue Sitzgarnitur, große Zimmerpflanze. Und Treppen, die ausgiebig genutzt werden. Es herrscht ein unaufhöfliches Kommen und Gehen. In Dutzenden von Mini-Szenen defilieren die Figureneinzeln, paar- oder gruppenweise vorbei. Auf scheinbar unverbindliches Party-Gewäsch folgt Ehezerwürfnis, auf Jux und Dollerei tiefgründelnde Lebensphilosbphie, und zwischendurch – beinahe wie ungewollt – obsessive Erinnerung an die Kriegszeit. Schaden, ja und Freude auch, hie und dort. Aber „Schadenfreude“? Bei uns Zuschauern?

In Wuppertal wird die Nummern-Dramaturgie recht unelegant umgesetzt. Merklich aufs Stichwort hin erscheinen manche Darsteller, liefern Szenen ab. Manchmal wird über den Text sinniert, anstatt daß er „gegeben“ wird. In der Konversation raschelt Papier. Rühmlichste Ausnahmen: Ursula von Reibnitz als Leas Mutter Ada, Siegfried Maschek als Bräutigam Nico.

Das Stück verweigert Herleitungen und psychologische Stimmigkeit, es führt seine Personen nur punktuell vor. Unmerklich haben sich von Szene zu Szene die Beziehungen verschoben, Erdverwerfungen gleich. In Wuppertal aber bleibt das meist schimärenhaft, ungreifbar, wirkt wie aneinandergepappt.

Verständlich, daß ein deutsches Theater bei diesem Thema nicht den Mut zum possenhaften Vaudeville aufbringt, das doch im Programmheft so zustimmend als Ingredienz des niederländischen Theaters bezeichnet wird. Folge aber: Da das Lachen sich nicht einstellt, kann es auch nicht im Halse steckenbleiben.




Bootsfahrt in die Tyrannei – Ayckbourn-Stück „Stromaufwärts“ als deutsche Erstaufführung in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Diese Idee des Briten Alan Ayckbourn ist schon ein mittelschwerer Geniestreich: Theateraktion ganz auf ein begrenztes Bootsdeck zu konzentrieren, auf dem zwei Ehepaare „stromaufwärts“ fahren. Symbolische Überhöhung liegt nahe. Die Flußreise steht für die „Lebensfahrt“. Auch schaffen Bedrängnis und Isolation auf dem Boot ideale Anlässe für Konfliktexplosion. Der Kahn wird zum schwimmenden Sozial-Labor.

Wie schwer all dies jedoch auf die Bühne zu bringen ist, das bekam das Wuppertaler Ensemble bei seiner deutschsprachigen Erstauffûhrung von Ayckboums „Stromaufwärts“ (Regie: Dieter Reible) zu spüren. Denn die Beschränkung des Spiels auf das Boot erzwingt eine Übermittlung fast aller „bewegenden“ Momente durch Gestik und Sprache. Über derlei Erfordernisse triumphieren in Wuppertal oftmals bühnentechnische Mätzchen. Das Boot kreuzt munter über die Bühne, und seitwärts, am imaginären Festland, gleiten auf einer elektrischen Schiene gar Gegenstände und Personen vorüber, als könne man nichts der Vorstellungskraft überlassen.

Zum Inhalt: Besagte Ehepaare, die Männer Compagnons in einer Firma, entern erholungshalber das Boot. Urlaub verheißt Freiheit, doch das Gegenteil ist hier der Fall. Keith schwingt sich zum Käpt’n auf, kommandiert herum. Er zehrt von hohl gewordener Autorität – ein Unternehmer alten Schlags, kampfbereit gegen „Gewerkschafts-Umtriebe“, die derweil seinen Betrieb bedrohen. Keith‘ Frau June ist ein an jeder Reiseunbill herummäkelndes Luxusweib. Der schwächliche Alistair und seine schutzbedürftige Frau Emma vervollständigen das Unglücksquartett.

Zunächst geht die Wuppertaler Aufführung recht zügig vonstatten. Komödien-Effekte, freilich weniger die hintergründigen, werden so recht herausgebracht. Maria Pichler als vom Ehe-Ekel angewiderte „June“ setzt Akzente.

Aber diesen Ayckbourn darf man nicht nur leicht nehmen. Gleichsam Flußgott und Seeungeheuer in Personaluniuon, so taucht bei einer Bootspanne „Vince“ als teuflischer Retter aus den Wassern auf. Der kraftstrotzende Naturbusche mit dem Appeal eines Fremdenlegionärs bringt die überkommene „Ordnung“ auf dem Schiff zum Einsturz und errichtet daselbst ein Terrorregime. Daß er sich dazu anfangs nautischen Fachwissens bedient, wird offenbar unterschätzt. Denkbar nämlich, diese Figur mit Merkmalen eines durch Expertentum herrschenden Haifischs unserer Tage auszustatten.

Das Stück müßte nun jedenfalls eine bedrohliche, fast surreale Dimension gewinnen. Dies aber geschieht nur umrißhaft, nicht zuletzt weil Bernd Kuschmann als „Vince“ sein Draufgängertum eher als lässiger Frauenverfûhrer denn als Furcht gebietender Tyrann ausleben darf.




Die Zukunft als Vorwand: Lauter irrwitzige Verwicklungen im Revier des Jahres 2000

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Das Revier im Jahr 2000: Alles ist aus dem Ruder gelaufen. Die Bundesregierung stümpert mit Notverordnungen, in den Verkehrshinweisen wird empfohlen, das Ruhrgebiet „weiträumig zu umfahren“, denn dort rebelliert die Bevölkerung mit Fabrikbesetzungen und Plünderungen.

Fast alle, in vorderster Front die Frauen der Arbeitslosen, machen mit – bis auf die Männer vom Schlage Mani Mack. Der ist sogar drauf und dran, sich von einem Betrüger für „fünf Blaue“ (500 DM) eine vermeintlich goldene Arbeitszukunft im Musterländle Baden-Württemberg aufschwatzen zu lassen.

„Fünf Blaue und ein Mann im Schrank“, vom Ruhrfestspiel-Ensemble im Recklinghäuser „Depot“ uraufgeführtes Stück von Jürgen Fischer, vermehrt nicht die Inflation der im Einheitsmuster gestrickten Ruhrgebiets-Revuen, bezieht dafür aber Anregungen vom italienischen Farcenschreiber Dario Fo. Keine Frage: Jürgen Fischer hat sich besonders von der Personenkonstellation in Fos „Bezahlt wird nicht“ inspirieren lassen. Das führt weg vom Revier-Klischee, mitunter aber auch weg vom Revier.

75 Minuten lang turbulente Verwicklungen ohne Verschaufpause, aber kaum einmal der Versuch einer konkreten Zukunftsschau ins „Revier 2000″. Letztere bleibt Vorwand für Kabinettstückchen und erschöpft sich in einer bloßen Vergrößerung, ja Vergröberung des heutigen Ist-Zustands.

Immerhin liefert der Text reichlich Spielmaterial für publikumswirksame Komik. Besonders die Szenen, in denen groteske Körperverwicklungen den aberwitzigen Verzweigungen der Handlung entsprechen, verraten intensive Probenarbeit und Lust am Detail (Regie: Wolfgang Lichtenstein). Beifall auf offener Szene erhalten vor allem Heinz Kloss („Mani“) und Petra Afonin („Angela“). Gekonnt auch die scheinbare Unbedachtheit, mit der die Darsteller immer wieder neben Rollen treten und gleichsam die eigene Künstlichkeit und Bedingtheit karikieren.

Der „Revierschwank mit beschränkter Hoffnung“ (Untertitel) verwehrt zwar am Ende eindeutige Antworten, hat aber zuvor schon so angelegentlich und pflichtschuldigst auf Solidarität sowie 35-Stunden-Woche verwiesen, daß dem Sinnverlangen Genüge getan ist.




Vom Trauma des Lebens in der Fremde – Helmut Ruges „Wer bezahlt die Zeche?“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Waren im 19. Jahrhundert polnische Zuwanderer die „Türken des Reviers“? Um diese Frage kreist die neuen Szenencollage des Satirikers Helmut Ruge (Allerweltstitel: „Wer bezahlt die Zeehe?“), die am Samstag im Recklinghäuser „Depot“ als Produktion der Ruhrfestspiele uraufgeführt wurde.

Berge von Koffern sind die Hauptrequisiten, Zeichen für „Heimat“-Losigkeit – und das nicht nur im Hunsrück. Im kohlenschwarzen Bühnenboden klafft ein glühender Riß, als habe sich die Erde aufgetan. Ursache: „soziale Beben“.

Der Türke Erdal führt in fliegendem Rollenwechsel das epochenübergreifende Trauma des Lebens in der Fremde vor. Mal bleibt er der Erdal der „Wende“-Zeit in den 1980ern, mal wird er zum Polen Josef, der hundert Jahre zuvor ins Ruhrgebiet gekommen ist und bei den großen Bergarbeiterstreiks noch mehr Solidarität erfährt, als sie sich heute über Nationalitätsschranken hinwegzusetzen wagt. Zwei Zeitprofile werden ausschnittweise kontrastiert und treten wechselseitig deutlicher hervor: zuweilen verlaufen sie nahezu parallel: Was für den Sozialdemokraten von dazumal der kaiserliche Büttel, ist für den Türken heute der vom heimischen Militärregime beauftragte Spitzel.

Regisseur Bernd Köhler läßt die Szenen vielfach durch harte Ausblendung des Lichts abreißen. Die Einzelteile stehen für sich. Ständiger Neu-Ansatz also, denn Ruges Text zielt in gar viele Richtungen. Manchmal scheint es, als ginge es darob resignativ zu, wie bei einem aussichtslosen Kampf gegen Windmühlenflügel. Doch geht immer wieder gleichsam ein Ruck durch das Stück, und es folgen unvermittelt lustvolle Folklore-Einschübe oder (auch türkischsprachige) Bänkelgesänge. Fluchtreaktion oder Sinnenfreude, die sich nicht unterkriegen läßt?

Uneinheitlich wie der Aufbau ist auch der Inhalt: Es steht Vielsagendes neben vielfach Gesagtem. Daß die Szenenfolge nicht heillos in Resignation hie und Klamauk dort zerföllt. dafür sorgt Hauptdarsteller Erdal Merdan, der den Erdal bzw. Josef mit einer gehörigen und notwendigen Portion aggressiven Beharrungsvermögens spielt und so das Stück zusammenhält. Auch die weiteren Beteiligten aus dem Festspiel-Ensemble (u.a. Jürgen Mikol, Vesna Bujevic, Lydia Billiet) erhielten reichlichen Beifall.




Die Angst des Dorfrichters vor der Revision – Kleists „Zerbrochener Krug“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Der zerbrochene Krug“ steht und fällt – wörtlich wie im übertragenen Sinn – mit dem Dorfrichter Adam. Wird auch nur diese eine Rolle unzureichend besetzt, kann man Kleists Lustspiel-Klassiker, salopp gesagt, „vergessen“.

Ein Glück also, daß die Wuppertaler Bühnen Horst Fassel haben. Er verleiht dem fleischgewordenen Justizskandal, der ausgerechnet am Prüftag des Revisors über seine eigenen Eskapaden zu Gericht sitzen muß, das unabdingbare Komik-Profil, ohne in die Klamotte abzugleiten. Wie Fassel, bis in Haar- und Fingerspitzen elektrisiert, zwischen selbstgefälliger Seligkeit des Nicht-Ertapptseins und flatternder Angst hin und her hastet, ist sehenswert.

Daß Petra Dannenhöfers Inszenierung auf die Hauptfigur bauen muß, zeigt sich gegen Schluß. „Adam“ ist endgültig entlarvt und betritt die Bühne nicht mehr. Was folgt, ist ein langatmiges Aufdröseln nebensächlicher Aspekte. Die Luft ist ‚raus. Hier hätte man, zum Wohle des Stücks, Textkürzungen vornehmen sollen. Außer der Komik arbeitet diese Wuppertaler Einstudierung nur wenig „Überschuß“ heraus. Die herbe Justizkritik Kleists etwa, die das Recht als zwischen vielerlei Interessen relativiert und zerrieben beschreibt, wird eben nur „mitgeliefert“.

Die Darsteller lassen ihre Figuren mit unterschiedlicher Fortune lebendig werden. Während Maria Pichler mit Elan die resolute „Frau Marthe“ gibt und Gregor Höppner („Schreiber Licht“) als junger Ehrgeizling seine Aufgabe löst, bleiben René Schönenberger („Gerichtsrat Walter“) und besonders Sabine Schwanz („Eve“) eher blaß.

Das Bühnenbild Sigrid Greils ist (was die Aufbauten betrifft) zweckmäßig und schlicht. Reichlich herbeigezerrt scheint mir jedoch die Bedeutung zu sein, die dem Bühnenboden beigemessen wird. Vier Keile weisen, abwechselnd rot und blau, ins Zentrum. Sie sind, wie sich erst bei Lektüre des Programmhefts enthüllt, dem Papierfalt-Spiel „Himmel und Hölle“ abgeguckt und sollen offenbar eine optische Entsprechung zum Hin- und Hergerissensein der Handelnden abgeben.




Büchners „Woyzeck“ in Wuppertal – Inszenierung lässt vieles offen

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit Georg Büchners „Woyzeck“ ist das so eine Sache. Seit Generationen streiten sich die Philologen, in welche Reihenfolge die Szenen gehören (wovon u. a. abhängt, ob Woyzecks Gang ins Wasser als Selbstmord oder als Reinigung anzusehen wäre), ja die Gelehrten sind sich noch nicht einmal einig, ob es sich um ein „Fragment“ handelt oder ob die offene Dramenform als in sich abgeschlossen zu gelten hat.

Wuppertals Bühnen haben sich in Gestalt des Regisseurs Ulrich Greiff und seines Dramaturgen Lothar Schwab dafür entschieden, die Sache nicht gar so ernst zu nehmen. Im Programmheft läßt Schwab durchblicken, daß man die Szenen nahezu beliebig umstellen könne, was während der Proben auch mehrfach geschehen sei.

Und so läßt denn diese Inszenierung vieles offen. Sie umkreist gleichsam ihre Hauptfigur (den nicht nur mit medizinischen Versuchen geschundenen Franz Woyzeck), greift den oder jenen roten Faden auf, läßt ihn fallen, faßt an anderer Stelle wieder zu. So kommt es, daß auch die Motivationen sich auffächern. Ist nun, so fragt man sich, Woyzeck das Opfer sozialer Umstände oder seiner eigenen Seelenverwirrung oder gar der allgemeinen Unzuträglichkeit menschlicher Existenz? Auch Ansätze, Woyzeck überhaupt nicht mehr als unbedarftes Opfer, sondern als messerscharf denkenden (und träumenden) Menschen darzustellen, sind vorhanden.

Manches wirkt umständlich. Heftigst werden Kulissen geschoben,  ja einmal rollt mitten in der Szene, die ganze graue Silhouette einer Stadt weg. Den Protagonisten werden zuweilen Laufleistungen abverlangt, die das Stück nicht um ein Jota vorwärtsbringen. Und wenn ein wallendes Tuch, mit blutrot verlaufendem Fleck besprenkelt, zunächst die ganze Bühne bedeckt und sich wie ein wörtlich zu nehmendes „Verhängnis“ bläht, sodann aber als bodenlose Rutschbahn für eine Bühnenleiche (die von Woyzeck erstochene Marie. de ihn betrogen hat) dient, dann schlägt Umständlichkeit in Abwegigkeit und unfreiwillige Komik um.

Eher ablenkend als sinnerhellend wird auch die Figur des „Idioten Karl“ eingesetzt. Im Text nur mit wenigen Sätzen ausgestattet, ist sie hier – das Haupt bandagiert – ständig anwesend, trinkt, raucht und vollführt pantomimische Darstellungen.

Auf Heiner Stadelmann, der die Titelrolle spielt, lastet viel; er entledigt sich seiner Aufgabe bemüht, wenn auch nicht immer zureichend (sein Mord etwa wirkt wie ein Zufall, der auch hätte unterbleiben können); Isabell Zeumer als „Marie“ tritt gar nicht recht in Erscheinung. Glanzpunkte hingegen im grotesken Panoptikum rund um Woyzeck: Gerd Mayen als „Doktor“ liefert einen wahnsinnigen Wissenschaftler – immer hart am Rande des Klischees, aber doch glückhaft daran vorbei. Heinz Voss als Hauptmann setzt seine Mittel ökonomisch ein und erzielt viel Wirkung. Für Wuppertaler Verhältnisse gab’s nur mäßigen Beifall.




Ein Mensch wird neu montiert – Bert Brechts „Mann ist Mann“ beim WLT

Castrop-Rauxel. Einer ist keiner. Jeder ist wie der andere: „Mann ist Mann“. Das ist Bert Brechts lehrstückhafter Abgesang auf „Charakterköpfe“, aufs Individuum überhaupt.

Wie ein Zahnrad ins andere greift, wird hier der Beweis geführt: Der Mensch kann neu montiert wereden – wie Galy Gay, der Packer vom Hafen, der zum Massenprodukt „Soldat“ umgepolt wird. Mit „Mann ist Mann“ startet das Westfälische Landestheater (WLT) in die neue Saison.

Nicht mehr die britische Armee in Indien ist Gegenstand des Beweisführungs-Spiels. Aus dem Tempel ist die glitzernde Spielhalle mit elektronischem Kriegsgerät geworden. Ein metallenes Gerüst beherrscht den Spielort.

Mann ist Mann, aber Brecht nicht immer gleich Brecht. Allzu bereitwillig hakt die Inszenierung (Regiedebüt in Castrop: Kurt Lambrigger) bei Stichworten ein, die Unterhaltungswert signalisieren. Wenn von Wetterunbill die Rede ist, singt die laszive Witwe Begbick (rollengerecht: Ingrid Franckenstein) postwendend den Schlager „Am Tag, als der Regen kam“, wenn die irische Stadt Tipperary aufs Tapet kommt, folgt sogleich die entsprechende Volksweise. Unterhaltung, die sich glatt anschmiegt, sich an nichts reibt. Komik, die sich an Widersprüchen entfaltet, wirkt allemal nachhaltiger.

Beste Szene: Galy Gay, genüßlich frähstückend, während drei MG-Soldaten ihn über die Vorzüge des Militärlebens aufklären wollen. Heldengeschwätz contra Frühstücks-Ei. Ein hervorragender Einfall auch, den Rüssel des „falschen Elefanten“, durch dessen Versteigerung Galy Gay endgültig zum Soldatsein gezwungen werden soll, mittels Gasmaske zu imitieren. Solche Doppelverweise setzen etwas in Gang.

Heinrich Cuipers als Galy Gay – ein Hans-im-Glück-Typ. Nur selten merkt man, daß etwas zumindest Zwiespältiges mit ihm geschieht – Ununterscheidbarkeit der Menschen als Fluch, aber auch als Chance zur Gleichheit. Blaß bleibt Wolfgang Schneider als Sergeant Fairchild, der „Blutige Fünfer“, während  das Soldatentrio – auch mehr „lustiger Haufen“ denn Schreckenstrupp – gut aufeinander eingespielt ist und Alfons Wecker als Bonze Wang durch kühle, zurückgenommene Präsenz überzeugt.

Auf der Bühne wird Dortmunder Bier getrunken. „Wir danken der XX-Brauerel für ihre freundliche Unterstützung.“ Die Marke steht im Programmheft. Kein Kommentar.




Saufen und sauigeln – „Richards Korkbein“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Im Foyer konnten sich die Premierenbesucher mit Guinness und Irish Whiskey auf Geistigkeit von der Grünen Insel einstimmen.

Der Extra-Anwärmung hätte es diesmal nicht unbedingt bedurft. Auf der Bühne gab’s nämlich wohl die erfreulichste Wuppertaler SchauspielAufführung dieser Saison: „Richards Korkbein“, jenes vom irischen Saufbold und knasterfahrenen IRA-Kämpfer Brendan Behan unvollendet hinterlassene Potpourri aus Saufgelagen, Hurengesängen und Religionslästerung, in dem immer wieder republikanisches Pathos aufflackert.

Nachlaßverwalter haben das 1961 verfaßte Fragment ergänzt und auf abendfüllende Länge gebracht. Von Struktur kaum eine Spur. Die Brüche fallen bei einer Nummern-Dramaturgie allerdings nicht übermäßig ins Gewicht. Vor allem nicht, wenn mit so leichter und sicherer Hand inszeniert wird wie von Jürg Low. Er führt das Ensemble zu einer soliden Gesamtleistung, aus der Erich Leukert als „Mr. Cronin“ herausragt.

Andernorts mag man das weniger glatt zu spielen versuchen. Da dem Stück schwerlich ein durchgängiger, „tieferer“ Sinn zu entlocken sein dürfte, ist es legitim, gleich ganz auf die unterhaltenden Elemente zu setzen. Die Schocks von ehedem (sauigeln und saufen auf dem Friedhof) sind sowieso keine mehr, sie können getrost nebenbei hingesagt werden. Und auch die wenigen politischen Aussagen Behans haben Patina angesetzt.

Im Bühnenbild von Helmut Stürmer wird der Hauptort der Handlung, der Friedhof, vermittels einiger „Rostlauben“ in die unmittelbare Nachbarschaft eines Autofriedhofs gerückt. Eine Girlande bunter Glühbirnen erzeugt Tingeltangel-Effekte. Stimmige Kulisse für die Song-Auftritte, die vor allem Horst Fassel („Bonnie Prinz Charlie“) und Andrea Witt („2. Nutte“) zu liegen scheinen. Die Musik (Hansgeorg Koch) freilich klingt in den wenigsten Momenten „irisch“, sie kommt in einem etwas unentschiedenen „übernationalen“ Idiom daher.

Verdienter, wie gewohnt minutenlanger Beifall des Publikums in Wuppertal.




Ausufernde Collage über Gewalt – „Mama Papa Zombie“ im Jugendtheater

Von Bernd Berke

Dortmund. Eine „Collage“ wollte das Dortmunder Kinder- und Jugendtheater mit „Mama Papa Zombie“ anbieten – 32 Nummern mit rockmusikalischer „power“. Themenkreis: Gewalt von Jugendlichen, unter Jugendlichen, gegen Jugendliche.

Was sich konzentriert anhört, ufert freilich aus. Daß auch eine „Collage“ keine dem Spielglück überantwortbare Zusammenwürflung ist, geriet mitunter in Vergessenheit. Mit gar zu vielen Ausprägungen des Phänomens „Gewalt“ wird man hier theatralisch traktiert.

Da treten auf: Der „Cowboy“, der mit Atom-Keulen jongliert, der Polizist, der die „Notwehrsituation“ fingiert, die Nutte, die in der Heilanstalt ihre erbarmungswürdige Biographie herausschreit, die inhaftierte Ulrike Meinhof usw.

Das Ensemble, so wird’s ehrlicherweise auch im Programmheft angedeutet, war wohl ratlos angesichts der Breite und Fülle ihres Gegenstands. Nun, wer wäre das nicht? Kapituliert hat die Truppe um Klaus D. Leubner, Hannes Sänger und Konrad Schräge aber nicht. Im Gegenteil, sie führt ihren Rundumschlag mit Elan und schauspielerischem Können.

Es beginnt konkret: Mit einer Geburt (gewaltsam schon dieser Vorgang) sowie einem Blick in die Kindheit (Kriegsspielzeug) und hätte als Revue einer Biographie fortgesetzt werden können, in der sich Politisches allemal spiegeln ließe.

Außerdem: So naheliegend die vorgeführten Perspektiven scheinen mögen – an maneher Stelle hätte ich mir gewünscht, daß man nicht ein so flinkes und wohlfeiles Einverständnis mit dem Publikum herstellt. Beispiel: Wenn hier Polizist oder Arbeitsamtsleiter die Bühne entern, weiß man gleich, daß sie dem allgemeinen Gelächter anheimfallen sollen. Müßten die Zuschauer nicht auch einmal mit irritierenden Widersprüchen konfrontiert werden?




Kultur-Rummel mit Niveaugefälle – Dritter „Marktplatz Ruhrszene“ in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Hawaii-Klänge made in Duisburg, Karibik-Sound aus Dortmund – so exotisch kann’s im Revier zugehen, wenn der „Marktplatz Ruhrszene“ zum Kulturrummel bittet.

Regionaltypisch hingegen die Orte des Geschehens: die ehemalige Waschkaue und die Werkstatthalle der seit langem stillgelegten Hammer Zeche Maximilian wurden am Wochenende von über 1000 Mitwirkenden in einen betriebsamen Börsenplatz der heimischen Künste verwandelt. Doch der „Börsenkursindex“ deutete auf Stagnation. Die zum drittenmal vom Verein Pro Ruhrgebiet aufgezogene Veranstaltung war ganz offensichtlich nicht so verlaufen, wie die Vorgänger in Dortmund und Essen. Mögliche Gründe: Der Reiz des Erstmaligen ist verflogen, das Landesgartenschaugelände im Hammer Osten befindet sich in äußerster Randlage des Reviers, und das Wetter wollte auch nicht so recht mitspielen.

Präzise Besucherzahlen für den Marktplatz dürften diesmal nur geschätzt werden können (der Veranstalter spricht von 18 000), galten doch die am Wochenende verkauften Eintrittskarten sowohl für die Gartenschau als auch für das Kulturspektakel. Daraus resultierte immerhin eine erfreuliche „Durchmischung“ des Publikums: Viele, die ansonsten wohl selten mit Rockmusik oder freiem Theater in Berührung geraten, schauten bei Gelegenheit ihrer Gartenschau-Visite auch mal in die Hallen oder ließen sich zur „Aktionsmulde“ auf dem Freigelände locken.

Während die Waschkaue zwei Tage lang im Rhythmus aller möglichen (bisweilen unmöglichen) Spielarten von Rock- und Popmusik sanft erzitterte, ging es auf Bühne III in der Werkshalle quer durch den Garten der Epochen und Kulturen: von Barockmusik über keltische Lieder bis hin zu Schnulzen im Stil der vierziger Jahre, dazu jede Menge Theater – es gab beinahe nichts, was es nicht gab.

In 80 Marktkojen stellten sich überwiegend Literaten und Freizeitkünstler (Spannweite von Nippes bis zur Avantgarde) dar. Zur in Hamm beabsichtigten Gründung einer „Literatur-Initiative im Revier“ kam es wegen organisatorischer Probleme noch nicht.

Im hektischen Getriebe des Marktes blieb den meisten Beteiligten wieder nur Zeit für Stichproben ihres Könnens, und das vor einem Publikum, dessen Aufmerksamkeit vielfach zerstreut wurde. Dies und das beträchtliche Niveaugefälle waren einmal mehr der Preis für den ehrgeizigen Versuch, die Revierkultur binnen zwei Tagen massiv vorzuführen und dabei jedem etwas bieten zu wollen. Daß es auf einem „Marktplatz“ auch marktschreierisch zugehen muß – geschenkt! Werbemätzchen wie das Verteilen von Wegwerffeuerzeugen mit dem Namenszug einer Rockband aber erinnern eher an kulturferne Branchen der freien Wirtschaft. Manche bereichern eben nicht nur die Revierszene.




„Roncalli“ hält sich ans Erfolgsrezept – Clownsnummern als Höhepunkte

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wer schon mal im „Circus Roncalli“ war, wird manches wiedererkennen. Auch die „Dritte und letzte Reise zum Regenbogen“, die derzeit im Zeit am Recklinghäuser Adenauer-Platz Station macht, führt durch ähnliche Gefilde wie ihre beiden Vorläufer. Warum hätte man auch das Erfolgsrezept – atemberaubende Artistik plus optische Opulenz plus einige Prisen populärer Poesie – entscheidend ändern sollen?

Am Zelteingang aus vollen Händen mit Konfetti beworfen (auch dies schon traditionell), finden sich die Zuschauer bald darauf im „Land des Drachens“ wieder. Der so betitelte, altchinesisch „angehauchte“ Teil des Programms, im Vorjahr Glanzstück der Show, wurde merklich gestutzt und büßt an Wirkung ein.

Weit stärker als vor Jahresfrist sind hingegen die Clownsnummern. Dies gilt vor allem für „David“, der als Fotograf und beim „Rendezvous“ mit einer ins Manegenrund geholten Zuschauerin für die Höhepunkte des Abends sorgt. In seinen allerbesten Momenten kommt er der legendär-chaotischen Komik der „Marx Brothers“ nahe.

Alle Zirkus-Standards sind vertreten: Magier, Seiltänzer, „fliegende Menschen“, Dressurreiterin und natürlich die „Rastellis“. Für meinen Geschmack wird im Verlauf des etwa dreistündigen Programms allerdings zu häufig jongliert. Mit immer anderen Gegenständen natürlich, doch irgendwann hat man halt die Variationsbreite solcher Kunststücke durchmessen. Die mit Raubkatzen und Bären (letztere an Stelle des Nashorns vom Vorjahr) vollführte Dressur bewegt sich zwar auch im Rahmen des Üblichen, fesselt aber – perfekten Sicherheitsmaßnahmen zum Trotz – durch jenen untergründigen Kitzel, dem man sich nie ganz entziehen kann.

Zur besten „Roncalli“-Tradition gehören die Übergänge zwischen furiosen und leisen Nummern sowie die mit überbordender, aber meist geschmackssicherer Phantasie entworfenen Szenerien und Kostüme. Eine Ausnahme bilden die drei Kraftprotze „Les Olympiads“ – lebende Bilder mit Anleihen bei der griechischen Antike, über den unpassenden Leisten der Pop-Art gezogen.




„Susi-Piep-Show“: WLT-Revue zum Lehrstellen-Mangel

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Die Lage ist beinahe hoffnungslos, aber nicht ernst. So etwa könnte das Motto zur neuesten Jugendtheater-Produktion des Westfälischen Landestheaters (WLT) lauten. Die „Susi-Piep-Show“, eine Revue über die Lehrstellen-Katastrophe, hält mehr, als der alberne Titel verspricht.

Das zweistündige Opus der beiden WLT-SchauSpieler Regina Nölke und Alois Banneyer wurde gestern in der Recklinghäuser Aula Kuniberg vor einigen hundert Schülern uraufgeführt und mit Beifall aufgenommen. Die Revue, leider noch gespickt mit einigen abgegriffenen Bildern (Kanzler Kohl zum aberhundertsten Mal als „Birne“, Rennen um Lehrstellen als sportlicher Wettkampf), lädt auf unterhaltsame Weise zum Denken ein.

Ehrlicherweise verzichtet man auf Patentrezepte und Parolen, läßt vielmehr hier und da auch Ratlosigkeit durchblicken. Zwei Seiten der Medaille werden hergezeigt: Die Zumutung, sich vor der Lehrstellenvergabe stromlinienförmig anpassen zu müssen, deformiert die Persönlichkeit; scheinbare Auswege aber, ob sie nun das Etikett des „Aussteigens“ tragen (Drogen, Sekten) oder erzkonventionell sind (Unterschlupf in der Bundeswehr), führen letzten Endes in ähnliche Sackgassen.

Um diese Erkenntnisse „über die Rampe“ zu bringen, haben sich die WLT-Leute allerhand einfallen lassen: Neuere Ausprägungen der Jugendkultur (Breakdance, Rap-Gesang) spielen eine dominierende Rolle. Sie halten das jugendliche Publikum bei der Stange. Die Modeerscheinungen bleiben aber „Transportmittel“ fürs eigentliche Thema und gleiten nicht in überhebliche Persiflage oder pure Kopie ab.

Die groteske Lage auf dem Lehrstellenmarkt findet ihre Entsprechung in grotesken Szenen, mit denen das siebenköpfige Ensemble immer wieder glänzen kann. Gipfelpunkte sind in dieser Hinsicht der Auftritt eines „Psychologen“, der den Jugendlichen die Körpersprache des Lehrstellenerfolgs antrainiert und ein „Angestellter des Arbeitsamtes“, der Vertröstungssprüche abspult und mit Antragsformularen nur so um sich wirft.




Bochums OB: Aussichten für Peymanns Bleiben gestiegen – „Krisensitzung“ mit Kultusminister Schwier

Von Bernd Berke

Bochum/Düsseldorf. Ist er mit dem Wiener Burgtheater handelseinig geworden, oder bleibt Claus Peymann doch am Bochumer Schauspielhaus? Es darf weiter gerätselt werden – auch nach der dreistündigen „Krisensitzung“, zu der Bochums Oberbürgermeister Heinz Eikelbeck Peymann und (als Vermittler) NRW-Kultusminister Hans Schwier am späten Montagabend nach Wattenscheid gebeten hatte.

Manfred Gutzmer, Pressesprecher der Stadt Bochum: „Der Oberbürgermeister ist optimistisch und beziffert die Chancen dafür, daß Peymann bleibt, jetzt wieder auf über 50 Prozent.“ Das Gespräch mit dem OB und dem Kultusminister habe „Eindruck auf Peymann gemacht“.

Nach Auskunft von Michael Rüdell, Pressesprecher des Kultusministeriums, sind Peymann von keiner Seite aus bindende Zusagen gemacht worden. Insbesondere Peymanns kostspielige Forderung nach einer zweiten Schicht seiner Technik (nötig für häufige Auswärts-GastspieIe) könne vom Land ebensowenig erfüllt werden wie sein Wunsch, die Bühne zu einem höher bezuschußten „Staatstheater“ zu machen. Rüdell: „Zur Bereitstellung von ein paar Hunderttausend Mark würden sich Mittel und Wege finden.“ Man könne, um die notwendigen Mittel freizumachen, notfalls den gesamten Haushalt des Kultur-Ressorts auf Einsparmöglichkeiten durchforsten oder auch beim Finanzministerium sogenannte „überplanmäßige Mittel“ beantragen. Die Hauptlast der finanziellen Zugeständnisse müsse gegebenenfalls aber die Stadt Bochum tragen. Dort war zu erfahren, daß man sich „über gewisse Steigerungsraten“ beim 17,5-Mio.-Zuschuß fürs BO-Theater durchaus verständigen könne.

Bochums OB Eikelbeck ging gestern auf Reisen – dem Vernehmen nach nicht in Richtung Wien, sondern rein privat nach Paris. In Wien jedenfalls gehen alle beteiligten Stellen davon aus, daß Peymann an die „Burg“ kommt; es ist gar von einer „Zusage“ die Rede, wobei in der Schwebe gelassen wird, ob bereits Unterschriften geleistet wurden.

Schwiers Sprecher Rüdell faßt die in Wattenscheid gewonnenen Eindrücke bündig zusammen: „Ein Pokerspiel, und zwar auf fallen Seiten.“ Minister Schwier, der in Begleitung eines Finanzexperten erschienen war, habe Peymann nahegelegt, sich genau zu überlegen, „was er da eigentlich gegen seine Tätigkeit in Bochum eintauschen würde.“ Der Kultusminister wolle Peymann zwar in NRW halten, werde dem Intendanten aber „nicht nachlaufen“. Schwier habe mit seiner Vermittlerrolle Oberbürgermeister Eikelbeck „eine Gefälligkeit erweisen wollen“. Nun erwarte man in Kürze eine von Peymann angekündigte Erklärung. Da Peymann Eikelbeck versprochen hat, zuerst ihn persönlich von seiner Entscheidung in Kenntnis zu setzen, wird die Erklärung vermutlich frühestens nach der Rückkehr Eikelbecks am 5. April erfolgen. Bis dahin soll Rolf Paulin, Verwaltungsdirektor des BO-Theaters, mit Schwiers Finanzexperten Vorverhandlungen aufnehmen.




An der Grenze zur Klamotte – Friedrich Wolfs „Koritke“

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Kunst ist Waffe!“ Mit Stücken, die dieser Parole zu Bühnenwirksamkeit verhelfen sollten, war Friedrich Wolf (1888-1953; das Programmheft verrät so gut wie nichts über ihn) einer der meistdiskutierten Arbeiter-Schriftsteller der Weimarer Republik.

Wolf, im Brotberuf Arzt, ab 1928 Mitglied der KPD, schrieb nach expressionistischen „Oh-Mensch“-Anfängen Agitprop-Stücke immer reineren Wassers. In Wuppertal, wo man jetzt Wolfs „(Die Zeche zahlt) Koritke“ (Regie: Dieter Reible) ausgrub, kam freilich ein grundbiederes Stück auf die Bühne. Arbeitertheater hart an der Grenze zur Klamotte.

Allerdings hat bereits der Text deutliche Schwächen, so zum Beispiel die aus heutiger Sicht überaus dick aufgetragehe Symbolik des Oben und Unten, die überdies um Begriffe wie „Blut“ und „Licht“ kreist. Sprachlich steht dazu ein abgehackter Telegrammstil in seltsamem Kontrast.

Inhaltlich dreht sich alles um Mia, die mit Vater Koritke und Stiefmutter in einem Kellerloch haust. Doch dann wird sie allenthalben „entdeckt“: Fabrikdirektor Lomm (wie sich später herausstellt: Mias eigentlicher Vater) will aus ihr eine propere Chefsekretärin machen; der Student Miltiz jubiliert über ihre tänzerische Begabung, mit der sie gewiß „hinauf ans Licht“ kommen werde; Koritke und die Industrielle Lis Benz schließen sich ihm an. Ein jeder will sie nach seinem Bilde formen.

Doch halt! Erst kommt, frei nach Brecht, das Fressen, dann die Kunst. Die Tanzausbildung kostet Geld, und das ist bei Direktor Lomm zu holen: Vom Platin-Diebstahl bis zum Mordversuch – fortan ist der Mann seiner Habe und seines Lebens nicht mehr sicher. Am Schluß bleibt jedoch Koritke auf der Strecke.

Wo immer Wolf Zähne (sprich: Klassenverhältnisse) zeigt, da hat man sie ihm in Wuppertal „gezogen“. Einzig Norbert Kentrup als muskulöser Proletarier, der sich als Rausschmeißer und Ringer verdingt, ließ etwas von den Triebkräften ahnen, die auch Friedrich Wolf bewegt haben mögen. Kentrup setzte Wolfs Forderung, das Theater solle auch „Muskelentladung, Akrobatik, Gymnastik“ sein, überzeugend um und gab auch verhaltenere Szenen intensiv. Während Andrea Witt als „Die Koritkin“ und Gerd Mayen als Direktor Lomm solide spielten, war Noemi Steuer mit ihrer zentralen Rolle nach meiner Ansicht überfordert.

Ob Rena Liebenow (hier als Industrielle Lis Benz) sich danach drängt, Boulevardstil zu spielen, ob die Regie es ihr abverlangte oder ob sie gar nicht anders kann – sie selbst mag es am besten wissen. Zu diesem Stück paßt es jedenfalls nicht – ihr stets verbindliches Lächeln, das vielleicht „Ist ja alles halb so schlimm“ besagen soll. Dazu Alexander Pelz als Student Miltiz. Nun ja. Ob er Jubel oder Trauer mimt, man weiß jedenfalls sofort genau, was gemeint ist. Weniger Nachdruck wäre mehr. Franz Träger als Filmregisseur trat so auf, wie Klein Mäxchen sich früher einen solchen vorgestellt hat.

Die Bühneneinrichtungen (Peter Werner) verrieten immensen Aufwand, sie huldigen wenigstens keinem platten Abbildungs-Naturalismus. Zwar getreulich nachgebautes Interieur zeigend, werden sie doch so hingestellt, daß keine falsche Illusion aufkommt. Rundum bleibt die Bühnentechnik sichtbar.

Der Beifall, mächtig angeheizt von strategisch verteilt sitzenden „Freunden des Hauses“, war beinahe frenetisch. Als das Regie-Team sich auf der Bühne zeigte, ertönten auch vereinzelte Buh-Rufe.




Hang zur Hysterie: Roberto Ciulli inszeniert Tschechows „Möwe“ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Saison für „Die Möwe“. Am nächsten Wochenende kommt eine Inszenierung von Anton Tschechows Künstlerdrama in München heraus, an diesem Wochenende hatte es Premieren in Augsburg und in Mülheim (Regie: Roberto Ciulli). Das Theater an der Ruhr liegt mit der Wahl des Stücks offenbar im Trend.

Zu Beginn völlige Dunkelheit. dann Scheinwerfer auf einen schweren roten Vorhang, der zwischen Metallgerüsten hängt. Davor, dem Zuschauerrum abgewandt, sieben Stühle. Nach und nach lassen sich die Protagonisten, zugleich Zuschauer eines „Stücks im Stück“, darauf nieder: Die aufgedrehte, sich gegen das Altem sträubende Bühnendiva Irina, die wie ein Kind (oder: ein Besitz, ein Ding) hereingetragen wird von ihrem Liebhaber, dem vielgelesenen Schriftsteller Trigorin; dann Irinas Sohn Konstantin Treplev, Trigorins Kunst verwerfend, mit eigenen Schreibversuchen aber Gelächter hervorrufend; ferner Irinas Bruder, ein Arzt, ein Lehrer, ein Gutsverwalter, die Alkoholikerin Mascha und schließlich die verwundbare „Möwe“ Nina (gute Besetzung: Veronika Bayer), die Opfer Trigorins werden wird.

Eine Wartezimmersituation also, sinnreiche Vergegenwärtigung des für Tschechow-Personal typischen, ziellosen Wartens. In einer späteren Szene liegen die Schauspieler, todweiß geschminkt, so unterm Vorhang, daß nur ihre kalkigen Gesichter unterm Saum hervorlugen. Unbeweglichkeit, Starre, verfehltes Leben. Ein Theaterbild von Becketts Gnaden. So weit, so eindrucksvoll. Aber: Weil gleich alle Personen auf der Bühne versammelt sind und ihre – im Text zu Einzelszenen parzellierten – Dialoge jeweils in Gegenwart der anderen absolvieren, wird das filigrane Beziehungsgeflecht zu entschieden, zu kraftvoll gebündelt. Der elegische Grundton der Vorlage wird übertönt.

Löst sich endlich jemand aus den langen, oft genug funktionsarmen Schweigepausen (Spieldauer: drei Stunden), so gerät das vor allem bei zwei Figuren gleich zur expressiven Selbstdarstellung, zur schrillen, unvermittelten Ausrufung: Gordana Kossanovic als Irina spielt um entscheidende Grade zu überdreht. Hysterisch geht sie mit eitlen Kapricen schwanger, doch da ist – Scheinschwangerschaft eben – viel heiße Luft.

Hannes Hellmann als ihr Sohn Konstantin steht dem kaum nach. Unzulänglicher Prophet eines Traumtheaters, der er laut Text zu sein hätte, krächzt er seine Sätze lautstark heraus, als wolle er sie nur loswerden und nichts damit ausdrücken. Beide zusammen begraben sie die prekäre Mutter-Sohn-Beziehung unter ihrem Schwall.

Zweifellos wohnt Tschechows Figuren eine Neigung zum Ausbruch, zur Hysterie inne. Diese latent vorhandende Prägung aber als Quintessenz hervortreten zu lassen, rührt nach meiner Meinung an die Substanz des Stücks.

Ciullis Experiment mit Tschechow fördert viele richtige Ansätze zutage. Die Aufführung krankt aber daran, daß allzu forsch abstrahiert und überbetont wird. Das gilt auch für die Langeweile des russischen (in Mülheim eher ortlosen) Landlebens: Statt daß sie mit Bedeutung aufgeladen wird, wird sie durch Zerdehnung verdoppelt.




Gute Geschäfts beim Weltuntergang

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Was auf der Erde vorgeht, mißfällt der übrigen Planetengemeinschaft. Ein Ungeziefer namens „Mensch“ soll sich auf dem blauen Ball eingenistet haben und nichts als Unfug treiben. Also beschließen Venus, Mars und Saturn unter Vorsitz der Sonne, einen vorbeisausenden Kometen auf die Erde zu hetzen, auf daß der unbotmäßige blaue Planet untergehe. Der Komet aber verliebt sich beim Anflug in sein Opfer und dreht im letzten Moment ab.

„Der Weltuntergang“, am Sonntagabend vom Ensemble der Ruhrfestspiele im ehemaligen Straßenbahndepot Recklinghausen aufgeführt, stammt von einem Autor, der jetzt allenthalben wiederentdeckt wird: Jura Soyfer, 1912 in Charkow als Sohn eines jüdischen Industriellen geboren, Emigration nach Wien, in den 20er Jahren einer der wichtigsten Satiriker in Österreich, 1939 im KZ Buchenwald mit 26 Jahren an Typhus gestorben.

Soyfers Weltuntergangs-Visionen, seinerzeit durch den Faschismus heraufbeschworen, sind für Recklinghausen aktualisiert worden. Nicht mehr die Hitlerei, sondern die Weltmächte und ihre Atomwaffenarsenale, so muß man wohl interpretieren, stellen nunmehr die virulenteste Bedrohung der Menschheit dar.

Nach dem planetarischen Vorspiel geht es um die Reaktionen, die die Entdeckung des herannahenden Kometen hienieden auslöst. Professor Guck ortet die Katastrophe als erster und findet gar ein Mittel, sie abzuwenden, doch davon will niemand etwas wissen. im Gegenteil: Es herrscht „business as usual“, die Geschäfte gehen besser denn je, es werden fleißig „Weltuntergangs-Anleihen“ gezeichnet, die Sorgen der Politiker und Diplomaten müssen sich somit nur noch auf die Erhaltung der freien Marktwirtschaft, der heimischen Wahlkreise und ihrer Tennisplätze richten.

Ein Prediger beschwört unterdessen eindringlich das nahende Ende, ruft zur Umkehr auf und offeriert dann Hosenknöpfe, die jegliches Inferno überstehen sollen. Und auch die Journalisten bekommen ihr Fett ab. Nicht das drohende Ende der Menschheit macht die Reporterin nervös, sondern der Drucktermin für ein Extrablatt, das 5 Minuten vor dem großen Knall erscheinen soll.

Das allgemeine Chaos wird adäquat in Szene gesetzt (Bearbeitung und Regie: Bernd Köhler). Die Zuschauer, wie auf zwei Stadiontribünen einander gegenübersitzend, zwischen, neben und über denen sich das Spiel als Musik-Revue der großen Dekadenz entfaltet, müssen ständig die Sitzhaltung wechseln. Schlagartig verlagert sich das Geschehen auf immer andere Spielflächen, dehnt sich auch schon mal auf die ganze Halle aus. Im Prinzip ist es sinnvoll, gerade dieses Stück nicht in einer herkömmlichen „Guckkastenbühne“ zu spielen. Im generellen Szenen- und Schauplatzwechsel gehen jedoch einige verhaltenere Szenen unter.

Die schauspielerischen Leistungen überzeugen. Heinz Kloss und Meinhart Zanger tun sich besonders hervor, speziell in einer gemeinsamen Szene als deutscher und amerikanischer Diplomat. Jürgen Mikol als Professor Guck vermeidet zu recht, einen spleenigen Wissenschaftler darzustellen. Seine Gesangseinlagen sind jedoch kein Ohrenschmaus.




Das Revier als Heimat und Hölle – Ruhrgebiets-Ballade „Auf in den Westen, wo schwarz ist das Gold…“

Von Bernd Berke

Essen. „Rote Erde – Land unserer Träume, rauchende Schlote sind unsere Bäume“. Der Liedtext von Wilhelm Steffens, den das sechsköpfige „Schauspiel-Mobil“ der Essener Bühnen vorträgt, könnte als bloße Revier-Romantik mißdeutet werden. Und tatsächlich enthält Alfons Nowackis Ruhrgebiets-Ballade „Auf in den Westen, wo schwarz ist das Gold…“, am Samstag im Essener Ruhrlandmuseum uraufgeführt, auch solche Anklänge.

Die musikalisch untermalte Textcollage aus Originalzitaten (Dokumente und Bergmanns-Dichtung) zeigt, daß das Revier seit seiner Geburtsstunde auch Heimat ist – Heimat, die jedoch zur Hölle werden kann: Am 12. November 1908 starben auf der Bockum-Höveler Zeche „Radbod“ 350 Bergleute. Es hätten weit weniger sein können, hätten sich nicht die Bergwerksbosse dazu entschlossen, die Rettungsarbeiten vorzeitig abzubrechen und den Schacht luftdicht zu verschließen, um Sachwerte vor einer drohenden Explosion zu retten. Auf diese Katastrophe kommt die „Ballade“ immer wieder zurück.

In sieben dichtgefügten Szenen aus den Gründerjahren des Reviers – schauspielerisch fesselnd dargeboten – wird deutlich: Der Tod im Bergwerk ist allgegenwärtig, er prägt die Menschen, die im Pütt arbeiten. Der harte Alltag läßt die an Goldgräber-Mentalität appellierenden Verlockungen, die das Revier anfangs verheißen hat, schnell vergessen.

Die Produktion hat auch ihre Schattenseiten: Die Texte, die Alfons Nowacki zusammengestellt hat, tendieren leider vielfach zu einer gewissen Heroisierung des Bergmanns als eines Helden, der dem Tod täglich ins Auge sieht. Zwar kommen auch ironisch-drastische Darstellungen der Ausbeutungsverhältnisse vor, doch die Tatsache, daß sich die Arbeiterschaft dagegen organisiert hat, wird äußerst stiefmütterlich behandelt. Wehmut dominiert über Gebühr.

Zehnmal wird die (trotzdem sehenswerte) „Ballade“ im Ruhrlandmuseum gezeigt, danach gastiert man in der „Zeche Carl“ und geht schließlich auf Tournee durchs Revier.




Bert Brecht seziert und kenntlich gemacht – Pina Bauschs Tanzabend „Die sieben Todsünden“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wer geglaubt hat, „seinen“ Brecht genau zu kennen, kann ihn jetzt anders, nämlich noch genauer kennenlemen. Kaum jemand hat, wie der als „Frauenverbraucher“ selbst notorische „B.B.“, derart illusionslos und präzise Zusammenhänge zwischen Besitzverhältnissen und Sexualität formuliert. Und wie ließen sich die Gesten solcher, in Geld- und Werteinheiten abzurechnenden Tauschverhältnisse ausdrücklicher darstellen als im Tanz? Pina Bauschs Brecht-Tanzabend „Die sieben Todsünden“ stand schon 1976 bis 1979 auf den Spielplänen. Er erlebte nun eine glanzvolle Wiederaufnahme.

Das Ensemble – Pina Bausch arbeitet seit 10 Jahren in Wuppertal – „schreibt“ zugleich seine eigene Geschichte nach, aber auch fort. Die Rekonstruktion der Erstfassung gerät nicht zur faden Reprise, sondern gewinnt im neuen Zugriff neue Unmittelbarkeit.

„Die sieben Todsünden der Kleinbürger“, von Brecht (Musik: Kurt Weill) als Ballett gedacht, schildert die profitable Zurichtung eines Menschen. Anna I (Ann Höling), nüchtern planend, deformiert ihre sexuell attraktive, „unvernünftige“ Schwester Anna II (Josephine Ann Endicott) auf Geheiß der Familie – hier ein sonores Männer-Quartett – zur Ware für den Geschlechter-Markt. Der „weiße Hintern“ soll Geld einbringen, von dem ein Haus gebaut werden soll. Im Verlauf der Objektwerdung verkehren sich die vom Christentum gebrandmarkten „Todsünden“ zu Tugenden. Nicht Faulheit ist von Übel, sondern nur Faulheit im Begehen des Unrechts; Käuflichkeit ist nicht länger verwerflich, sondern nötig usw. So sind die Verhältnisse – und sie hinterlassen Spuren.

Pina Bausch setzt hier geradezu mikrochirurgisch an, seziert und isoliert kleinste gestische Einheiten sexueller Inbesitznahme, die in dichter Reibung vorgeführt werden. Die serielle Struktur fügt sich zu traumatischen Szenen. Da „nimmt“ man sich die Frau, indem man etwa ihr Hinterteil zigfach im Gewaltrhythmus hin- und herreißt. Anna II, vermessen, gewogen wie Fleisch und für brauchbar befunden, umgeben von lauter Charaktermasken, windet sich bis in die Zehenspitzen, wird durch und durch geschüttelt von den Zumutungen ihrer „Käufer“.

Der zweite Teil dessen, was man wohl einen „großen Abend“ nennt, ist eine Art Brecht-Revue. Hervorragend vorgetragene Songs, u.a. aus der „Dreigroschenoper“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, bilden den Ausgangspunkt für grelle Travestie, aber auch für hauchzart seelenzerstäubende Szenen. Auch hier wird man ganz Auge für diverse Erbärmlichkeiten aus dem Umgang der Geschlechter.

Erniedrigt und beleidigt: Die Frauen – abhängig, anhänglich, ichlos und kaum einmal selbst (auf)begehrend. Ein Mann (Erich Leukert) nähert sich als „Gottes Stellvertreter“, verheißt im Singsang „Fürchtet euch nicht“ Trost und Rettung, bevor er über „Sie“ (Beatrice Libonati) herfällt. Zwei Erlebnisse unter vielen: Das Lied von der Unzulänglichkeit („Der Mensch lebt durch den Kopf…“), gesungen und getanzt in zeitlupenhafter Dehnung, oder das zum schrillen Quartett verdoppelte Eifersuchts-Duett aus der „Dreigroschenoper“. Obwohl man an Brecht auch (selbst)ironisch herangeht, werden seine Texte nicht denunziert. Sie werden – mit Brecht zu reden – „kenntlicher“.

Im tosenden Schlußbeifall, der gewiß 10 Minuten dauerte, zeigte sich Pina Bausch nur widerstrebend im Kreis des Ensembles.




Traumreise zum müden Monarchen – „Insel des König Schlaf“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Manuel lebt in einem kleinen Fischerdorf, irgendwo im Süden Europas. Seine Tante drängt ihn keifend, er solle sich den Realitäten selten, vor allem aber Schularbeiten machen. Alles, was den Jungen beschäftigt, tut sie als „spinnert“ ab.

Er aber braucht nicht einmal Phantasie, um Phantastisches zu erleben. Ein Boot wird ihm geschenkt, das ihm als „Traumschiff“ dient. Und ab geht die Reise zur „Insel des König Schlaf“. Das gleichnamige Stück des Portugiesen Norberto Avila hatte am Samstagmorgen in Wuppertal Premiere. Für die von Gerhard Kelling erstellte deutsche Fassung war es sogar eine Uraufführung.

Besagte Insel ist ein Schlaraffenland. Nur einige Probleme, die der pfiffige Gast Manuel (Boris Voland) nach und nach löst, gibt es: Der König (Heinz Voss) hat seit Monaten nicht geschlafen, dem Dr. Scharlatanski (Tjaart Potgieter) will es nicht gelingen, ein Schlafmittel zu kreieren. Dafür wird er von einer roboterhaften „Kitzelmaschine“ bestraft. Dem Flötisten Liebton (Gregor Höppner) ist eine Melodie abbanden gekommen, „Dienstag“ und „Donnerstag“ (groteskes Duo: Alexander Pelz und Hans Richter) streiten über die Zeitspanne, in der die gebratenen Tauben in die Mäuler der Insulaner zu fliegen haben –  dienstags oder donnerstags. Nach Schluß der Vorstellung bilden sich rasch Kindergruppen, die lautstark der einen oder anderen Auffassung Ausdruck verleihen…

Überhaupt geht der Nachwuchs, gut vorbereitet durch das Wuppertaler Bühnen-Projekt „Kinder erzählen ihre Träume“, so richtig mit. Beispielsweise, als der König – er hat endlich eine volle Woche durchschlafen können – der unterdessen liegengebliebenen Arbeit überdrüssig ist und Staats-Depeschen in Form von Papier-Schwalben ins Publikum wirft. Klar, daß jeder eine ergattern will und das Gerangel auf den Rängen groß ist. Und wenn, nach Manuels Rückkehr ins Dorf, die Tante seinen abenteuerlichen Bericht bezweifelt, ergreifen alle empört Partei für ihn.

Regisseurin Sylvia Richter richtete das Stück konsequent als „Traumspiel“ ein, das die von der Tante (Sabine Schwanz) vertretene, platte Realität übel aussehen läßt. Vielleicht hat ihr Carrolls „Alice im Wunderland“ als leuchtendes Beispiel vorgeschwebt. Entsprechende Freude an hintersinnigen Absurditäten vermittelt jedenfalls diese Inszenierung. Bühnenbild und Kostüme (laut Programmzettel von „Rosalie“) zeugen von greller Phantasie, die üppig ins Kraut schießt. Die Schauspieler agieren durchweg überzeugend.




Nach mancher Qual doch noch Glanzlichter – Ruhrfestspiel-Ensemble fünf Stunden lang im „Depot“

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Gleich vier neue Produktionen stellte jetzt das Ensemble der Ruhrfestspiele vor – und das erstmals in seiner neuen Spielstätte, einem ehemaligen Straßenbahndepot.

Das Depot ist ein vorzüglicher Ort fürs Theater. Es umfaßt eigentlich drei Spielstätten, so daß zur Einweihung zwei Stücke zeitlich parallel gegeben werden konnten (im „Magazin“ und in der „Werkstatt“). Das fünfstündige Mammutprogramm startete jedoch im Theatersaal des früheren Tramschuppens, und zwar mit „Prometheus und Herakles 5″ von Heiner Müller. An diesem gewichtigen Brocken hat man sich überhoben. Mag sein, daß die wahre Fließbandarbeit des Ensembles, deren erste Ergebnisse hier im Zusammenhang zu sehen waren (künftige Aufführungen erfolgen separat), einen Großteil jener Energie aufgesogen hat, die Müllers Aischylos-Bearbeitung kosten müßte.

Wolfgang Lichtensteins Inszenierung konzentrierte kaum, brachte wenig „auf den Punkt“. Im Prometheus-Teil (Hauptrolle: Bernd Köhler) mühte man sich, nicht immer sinnvermittelnd, mit Müllers hochkomplizierter, klassizistischer Sprache ab. Dann kam Herakles 5 (Meinhardt Zanger) mit Blaumann und Schutzhelm, befreite den Lichtbringer Prometheus und setzte zu einem Solo über die Reinigung des Augias-Stalls an, das wohl als Kabinettstückchen zu werten wäre, mit dem Beginn aber so gut wie nichts mehr zu tun hatte. Durch den allzu jähen Sturz auf die Alltagsebene wurden kaum fruchtbare Widersprüche aufgetan. Statt sich dialektisch zu entfalten, geriet das ganze Stück gleichsam in Schieflage.

Weiter ging’s mit „Die Wende“, einer mit Bochumer Opel-Arbeitern entwickelten Produktion, Szenen zum Thema Arbeitszeitverkürzung. Da zeitgleich „Antreten zum Doppelbeschuß“ (Produktionsleitung: Jürgen Fischer) lief, mußten sich die Besucher entscheiden. Meine Wahl fiel auf den „Doppelbeschuß“. Die Qual folgte prompt. Neckische Vergleiche gewisser Beate-Uhse-Produkte, die den Pershing-Raketen in punkto Stab-Form ähneln, mit eben jenen Atomwaffen, waren da noch das – in jeder Hinsicht – Harmloseste. Die gemeinsam mit Oberhausener Gewerkschaftern erarbeitete Szenenfolge läßt zwar hie und da „die Muskeln spielen“, erwägt gar Generalstreik gegen Stationierung, bleibt aber im Grunde bieder. Über die zentrale, immer wiedergekäute These „Kapitalismus = Krieg“, an der gewiß „etwas dran“ ist, kommt das nicht hinaus. So bleiben gut gemeinte Ansätze flach und eindimensional.

Doch noch ein versöhnender Ausklang: Im Hauptsaal beendet die 100-Minuten-Revue „Wer andern eine Grube gräbt“ (Leitung: Wolfgang Spielvogel) den Marathon. Schwachpunkte fallen hier weniger ins Gewicht. Mit insgesamt 20 „Nummern“, Texten so unterschiedlicher Autoren wie Loriot, Franz Xaver Kroetz oder Peter Alexander (seine Bergmannsschnulze „Schwarzes Gold“ wird der verdienten Lächerlichkeit preisgegeben), werden immer wieder Glanzlichter gesetzt. Vielleicht liegt in solchen Produktionen eine ganz spezielle Stärke und Zukunft des Ensembles.




Halbherzig: „Ada und Evald“ von Monika Maron in Wuppertal uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. Monika Maron DDR-Autorin, Jahrgang 1941, hat ein Prosastück geschrieben, einige Mono- und Dialoge hineinverwoben und das Ganze ..Ada und Evald. Ein Stück“ genannt. Wuppertals Bühnen nahmen das Titelanhängsel „Ein Stück“ wörtlich und brachten „Ada und Evald“ als Uraufführung.

Schon im Vorfeld dieses Ereignisses hatte es Auseinandersetzungen gegeben. Schauspieldirektor Dieter Reible zog, unzufrieden mit erreichten Resultaten, die Regie-und Bühnengestaltung an sich, die Premiere mußte verschoben werden. Man ahnt nun, wo die Probleme gelegen haben könnten. Das „Stück“ ist eher zum Lesen geeignet, es wirkt im Theater deplaziert.

Schriftstellerin Ada (Andrea Witt) liebt den Schriftsteller Evald (Michael Wittenborn), weil der sich ihr entzieht. Evald übertüncht seine innere Leere, indem er Weltschmerz- und Geniephantasien nachhängt. Ada will, „daß etwas passiert“, will Leben und Hoffnung, Evald werden hingegen alle Weltübel zum Anlaß für Texte, die er sich abringt. Beziehungs-Elend also, die Frau vornehmlich Opfer. Zwei (von Schauspielern dargestellte) Wachsfiguren spiegeln als „zweite Ichs“ das Titelpaar wider.

In einer mehrfach aufgegriffenen Kneipen-Szene erscheint ein Herr „X“ (Bernd Kuschmann), der den Humanismus für tot erklärt und düster über „Schuld und Geschichte“ palavert. Angeblich soll DDR-Dramatiker Heiner Müller bei dieser Figur Pate gestanden haben. Er wird’s verwinden. Ferner treten auf: die Figur „Suizi“ (Franz Träger), in Ada verliebter Selbstmordkandidat, ein versoffener Prediger (Johannes Schütz), geschwätzig das Weltende zum Neubeginn erklärend und – Berliner „Pflanze“ – die Malerin Clairchen (Rena Liebenow mit dem meisten Applaus), die in einer naturmagischen Szene mit einem Baum vermählt wird.

Das Stück hat einige lichte Momente, doch vielfach fallen nur sprachlich kraftlose Gedankenbröckchen und ausgelaugte Bilder ab. Unsäglich erscheint mir jene gereizte Szene über geraubte Wörter: „Freiheit, Sehnsucht, Hoffnung, Glück. Wir hol’n die gestohlenen Wörter zurück“, heißt es mehrfach im Chor. Dazu Ringelpiez mit Anfassen. Das provozierte höhnischen Beifall auf offener Szene.

Einige starke Einfälle (zu Beginn auf erhöhter, rundum schwarz verhangener Bühne eine Szene „in Breitwandformat“) können den insgesamt halbherzigen Zugriff der Regie nicht verhüllen. Ob dieser Text überhaupt mit Theatermitteln greifbar ist – diese Frage konnte die Uraufführung noch nicht befriedigend beantworten.

Monika Maron, über die das Programmheft sträflicherweise nichts mitteilt, und das Ensemble nahmen einen eher höflich zu nennenden, den schauspielerischen Leistungen angemessenen Durchschnittsbeifall entgegen.




Vertrackter Hintersinn: Ionescos „Unterrichtsstunde“ als Jugendstück

Von Bernd Berke

Dortmund. Wo etwas eingeweiht wird, fehlen selten Künste als Dekor. So auch gestern: Zur Eröffnung einer neuen Jugendfreizeitstätte im Dortmunder Ortsteil Rahm steuerte das DO-Kindertheater sogar eine Premiere bei.

Als „Vor-Ort“-Vorstellung ‚gab’s „Die Unterrichtsstunde“ von Eugène lonesco (Inszenierung: Klaus D. Leubner). Dieses Werk eines der Vertreter des „Absurden Theaters“ als Jugendstück anzubieten, ist riskant.

Der Raum, zwischendurch leichter ohne Aufsehen zu verlassen als ein Theater, leerte sich zusehends, obwohl die unter 13-jährigen schon zuvor von Detlev Redinger hinauskomplimentiert worden waren („Vom ,Tapferen Schneiderlein‘ habt ihr mehr!“).

Ein alter Professor (Redinger zwischen Verklemmtheit und Dämonie) erteilt in seiner Wohnung Privatunterricht. Er verwickelt eine junge Schülerin (Gabriele Hintermaier) tief und tiefer in die abgründig-abstrusen Labyrinthe des Wissens. Immer aufgebrachter reagiert er auf ihre Unkenntnis in Sachen Arithmetik und „vergleichender Sprachwissenschaft“ – bis er sie am Ende erdolcht und von der Haushälterin (Erika Halm) erst zurechtgewiesen und dann an den mütterlichen Busen gedrückt wird.

Auf einer Ebene schnurrt das banal ab wie ein Uhrwerk, auf einer anderen wird es so vertrackt hintersinnig, daß z.B. manche Dreizehnjährige überfordert sein dürften. Ob sie sich von den guten schauspielerischen Leistungen fesseln lassen, bleibt daher fraglich.




Zugeständnisse an den Zeitgeist – Goldonis „Diener zweier Herren“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Die Handlung soll in Venedig spielen: Truffaldino, stets hungriger Diener, will Kost und Lohn verdoppeln. Also verdingt er sich bei zwei Herren zugleich. Einer von beiden ist aber kein Herr, sondern eine verkleidete Dame und in den anderen verliebt. Bis beide „sich kriegen“, sorgt Truffaldinos doppelte Dienerschaft für tollste Verwicklungen.

Zugeständnis an den Zeitgeist in Wuppertal: Carlo Goldonis „Diener zweier Herren“, Rohfassung anno 1745 (in der Überarbeitung Roberto Ciullis; Regie: Petra Dannenhöfer), wird in die 50er Jahre unseres Jahrhunderts transportiert.

„Neue“ deutsche Welle, wohin man blickt. Da kämmt man ölige Haarsträhnen mit Halbstarken-Geste nach hinten, da gibt’s – zum „Capri-Fischer Lied – den Verlobungskuß auf roter Hollywood-Schaukel, das blaßblaue Bühnenbild (Sigrid Greil) wird von Leuchtstoffröhren begrenzt, die Kostümierung (Barbara Kolodziej) ist beim Geldadel trostlos grau, bei den jüngeren Personen schrill und „punkig“. Auch Tango wird getanzt. Es verwundert beinahe, daß es im Gefolge des „Carmen“-Films nicht doch noch Flamenco geworden ist.

Die in sich weitgehend stimmige Optik erzielt vordergründige Effekte, verdichtet sich aber kaum zum einprägsamen Gesamtbild. Auch hängt sie nur lose mit der Darstellung zusammen. Der Text wird, dem oberflächlich zeitnahen Kulissenzauber zum Trotz, konventionell gegeben. Ausnahme: Holger Scharnberg (Silvio) mit sehenswerten Slapstick-Einlagen.

Eleganz und Leichtigkeit – Fehlanzeige. Dafür ist schon der wuchtige Truffaldino-Darsteiler Thomas Plock nicht der Typ. So geht es eher derb zu, nach dem Muster, daß der Diener kopfüber im Wackelpudding landet. Beifall auf offener Szene bestätigt das Konzept. Einige Szenen werden zerdehnt, bis auch der letzte mögliche Gag heraus ist. „Heraus“ im doppelten Sinne. Die Sozialkritik am Schluß – der Diener und seine Geliebte bewegen sich zur Rampe, die etablierten Geldmenschen erstarren im Halbdunkel – kommt nach all dem überraschend, wirkt aufgesetzt.

Das Stück, angesiedelt zwisehen dem Stegreifspiel der Commedia dell’Arte und der Typenkomödie, gehört zum Standard-Repertoire. Vielleicht wäre eine Aufführung von Goldonis „La Guerra“ (Der Krieg) aus naheliegenden Gründen aktueller und spannender gewesen.




Reise ins Innenleben der Natur – Tag des Improvisationstheaters in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Der Raum ist voller Menschen. Einige haben die Schuhe ausgezogen, lassen sich barfuß und mit geschlossenen Augen durch Holzkästen führen, in denen Zweige, Walderde oder Steine liegen.

Andere riechen hingebungsvoll an kleinen Fläschchen mit natürlichen und künstlichen Düften, wieder andere spielen auf einem Xylophon aus Ästen oder greifen „blind“ in aufgehängte Beutel. Inhalt: z. B. Blätter, Reiskörner, Erbsen. Partyspielchen? Selbsterfahrung? Eher Letzteres: Was sich gestem im Recklinghäuser Ruhrfestspielhaus abspielte, stand unter dem Titel „Improvisationstheater Mensch und Natur“. Ein Ziel: unmittelbare, in Theaterarbeit umsetzbare körperliche Erfahrung durch Tast- oder Geruchssinn, ohne „Umweg über den Kopf“.

Das Projekt, seit dem Frühjahr von der NRW-Landesarbeitsgemeinschaft für Spiel und Theater vorbereitet (die WR berichtete), hatte ursprünglich in eine ganze Umwelt-Theaterwoche in Recklinghausen münden sollen. Im Lauf der Zeit sprangen jedoch derart viele Amateur- und Schülergruppen ab, daß der gestrige Tag zur Präsentation der Ergebnisse ausreichte. Am Vormittag wollten nur 120 Zuschauer wissen, wie sich die Umwelt mit theatralischen Mitteln erfassen läßt, erst in den Nachmittagsstunden ging es lebhafter zu. Hermine Bredeck, Vorsitzende der Landes-AG, ist über den „Zuschußbetrieb“ trotzdem nicht enttäuscht: „Viele wollen unabhängig von uns weitermachen.“ Hauptgrund für den kargen Zuspruch ist nach ihrer Meinung die Inflation freier Theaterfestivals, die es in den letzten Jahren im Revier gegeben habe.

Den Anfang machte gestern die Theater-AG des evangelischen Gymnasiums Siegen mit ihrer „Odyssee der Vögel“ – alles, was Federn hat, flüchtet vor der rohen Menschen-Zivilisation auf eine unberührte Insel. Später luden Aktionsräume wie der zu Beginn beschriebene zum Mittun ein. Am Abend führten Gruppen aus ganz NRW (Altersdurchschnitt ca. 17 Jahre) vor, was sie in monatelanger Arbeit und unter wissenschaftlicher Hilfe eines Biologen der Landesanstalt für Ökologie zur Improvisationsreife vorangetrieben haben – so etwa eine Pantomime über die Versklavung des Mensehen durch technische Apparaturen oder eine Darstellung der Jahreszeiten in einem Garten. Vielfach stellen Menschen Pflanzen dar. Es sind Versuche, sich ins „Innenleben der Natur“ zu versetzen statt dutzendfach „vorgekaute“ Argumente der Umweltdiskussion nachzubeten. Hermine Bredeck: „Das ist erst der Anfang. Im nächsten Jahr geht’s weiter“.




Finanzknappheit: Dunkle Wolken über den NRW-Freilichtbühnen

Von Bernd Berke

Im Westen. „Allmählich stellt sich die Frage, ob den Behörden die Laienkunst noch etwas wert ist!“ Karl Voss (59), Vorsitzender des Verbands der NRW-Freilichtbühnen, sieht dunkle Wolken am Horizont. Das bis Ende Juni von ihm geleitete „Bildungswerk zur Förderung des Freilichtspiels“ (BWF, mit Sitz in Hamm) geht schweren Zeiten entgegen.

Beliefen sich die Landeszuschüsse 1980 noch aufvergleichsweise stattliche 280 000 DM, so verfügt man in diesem Jahr nur noch über 120 000 DM. Folge: Die Zahl der Kursstunden (z. B. Bewegungs-, Sprech- und Atemübungen), in denen sich Laiendarsteller schauspielerisch fit machen sollen, sank im gleichen Zeitraum von 9000 auf 4000 pro Jahr. Das jetzt erschienene NRW-Kursheft geriet merklich schmaler als frühere Ausgaben.

In der Bildungswerk-Außenstelle Dortmund (Naturbühne Hohensyburg) beispielsweise, wo 1982 immerhin 366 Kursstunden abgehalten wurden, sind in diesem Jahr nur noch 192 Stunden im Angebot – ganze zwei Kurse furs zweite Halbjahr. Seufzt Ingo Mallée, ehrenamtlicher Leiter der Dortmunder Freilichtbühne: „Wenn das so weitergeht, müssen wir die Weiterbildung in unserer Außenstelle ganz aufgeben. Der bürokratische Aufwand ist für das dürftige Restprogramm zu groß.“

Geradezu absurd erscheint ein weiterer Sachverhalt. Obgleich 14 NRW-Freilichtbühnen das bundesweit einmalige Bildungswerk eingerichtet haben, darf in dessen Kurstiteln das Wort „Freilicht“ nicht mehr auftauchen. Eine Stelle beim Regierungspräsidenten in Arnsberg wacht streng über die Einhaltung dieser Vorschrift. Grund: Da das BWF als „Einrichtung der Erwachsenenbildung“ firmiert, muß es – gleichsam eine VHS im Kleinformat – jedermann offenstehen und darf niemanden durch Themen-Spezialisierung abschrecken. Da ersetzt denn der unverfängliche Nähkurs auch schon mal die theatralische Übung.

Bedenklicher sind freilich die Auswirkungen der Finanzknappheit. Kursleiter müssen für immer geringere Honorare tätig werden. Da etliche Stunden ganz wegfallen, geht ein wichtiges Rekrutierungsinstrument für den Nachwuchs verloren. Ingo Mallée: „Viele sind erst durch die Kurse zu uns gestoßen und haben dann angefangen, Theater zu spielen.“ Somit sind – auf indirektem Wege – langfristig sogar eine Ausdünnung des Spielbetriebs bzw. ein sinkendes Niveau zu befürchten. Karl Voss, der sich sparsamkeitshalber kürzlich selbst seines Postens als hauptamtlicher BWF-Leiter entheben mußte: „Dabei wird heute gerade den Amateurtheatern eine höhere Leistung abverlangt als früher“.




Theaterthema Umwelt: In den Wald statt an den Schreibtisch

Von Bernd Berke

Recklinghausen. „Saurer Regen“, „Waldsterben“, „Atomstaat“ – kein Mangel an Schlagworten zum Thema Natur- und Umweltpolitik! Daß es nicht beim wohlfeilen Wortgeklinge bleibt, ist Ziel eines beispielhaften Projekts in Recklinghausen: Auf theatralischem Wege sollen Profi-, Schüler- und andere Laiengruppen bis zum Herbst die ökologie im Wortsinn „an der Wurzel“ packen.

Bei Waldgängen und Wochenendseminaren bereiten sich derzeit 15 Theaterspielkreise auf die dem Umweltthema gewidmeten Recklinghäuser Theatertage (24. bis 30. Oktober) vor. Selbsterfahrung ist beabsichtigt: Wie weit hat sich der Mensch selbst mit seiner Lebensweise von natürlichen Ursprüngen entfernt, so daß er mit Schlagworten vorsichtiger umgehen sollte? Projektpartner sind die „Landesanstalt für Ökologie, Landschaftsentwicklung und Forstplanung“ sowie die für pädagogisch wirksame Darstellungskunst zuständige „Landesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater“.

„Umwelt- und Friedensparolen werden meist gedankenlos nachgeplappert“, klagt Hermine Bredeck (50), Studiendirektorin und Vorsitzende der Spiel- und Theater-AG. Es komme darauf an, solche Aussagen durch sinnliche Erfahrung tragfähig zu machen. Zur Umsetzung seien gerade die Ausdrucksmittel des Theaters geeignet.

Beispiel: An einem Wochenende beschäftigte man sich mit dem Begriff „Wurzel“. Der Aufbau von Pflanzen kam dabei ebenso zur Sprache und zur mimischen Darstellung wie etwa die „Entwurzelung“ im sozialen Bereich. Und schon war man mitten im komplexen Thema „Mensch und Natur“ (Arbeitstitel des Projekts).

Auch das unmittelbare Naturerlebnis gehört für die Akteure (u.a. Günter Stahlschmidt aus Lüdenscheid) zum Pensum. So streifte man gemeinsam durch die Haardt, „um den Wald mit allen Sinnen zu erleben, zu fühlen und zu riechen“ (Hermine Bredeck). Dabei erfuhr man, „daß alles noch viel schlimmer ist, als man es vom Fernsehen her kennt“ (so eine Teilnehmerin). Ein Vertreter der Landesforstbehörde schilderte die traurige Historie der Haardt-Waldungen. Früher ein buchenreiches Gebiet, nimmt der Boden heute gar keinen Samen dieser Baumart mehr an. Die Nutzholzindustrie hat eine ganze Landschaft binnen 40 Jahren vollständig umgemodelt. Der arglose Spaziergänger merkt von all dem nichts. Für ihn sieht’s nach „Natur“ aus.

Mit konkreten Erfahrungen versehen, machen sich die Theatergruppen an die Improvisation. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Pantomime ist ebenso erlaubt wie Multi-Media-Einschübe. Die Aufführungen entstehen also nicht am Schreibtisch, sondem aufgrund direkter Erfahrungen. Bekräftigt Hermine Bredeck: „Erst wenn Kopf und Bauch übereinstimmen, machen politische Aussagen Sinn.“

Zu den Theatertragen im Oktober sollen auch Gruppen aus dem Ausland eingeladen werden. Das Projekt (Gesamtkosten etwa 60 000 DM) wird u. a. aus dem Landesjugendplan und durch die Landesanstalt für Ökologie bezuschußt.

Anschrift für Interessenten: Landesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater NW e. V., Klarastraße 9, 4350 Recklinghausen (Tel.: 02361/81601). Die Teilnahme an den vorbereitenden Seminaren ist kostenlos.




Suchtverhalten aller Art: „Mensch ich lieb dich doch“ eröffnet NRW-Kinder- und Jugendtheatertreffen

Von Bernd Berke

Dortmund. Dortmunds Kindertheater hat’s mit der „Roten Grütze“.

Nachdem bereits das Aufklärungsstück „Darüber spricht man nicht“ aus dem Repertoire der Berliner übernommen worden war, folgte nun die Premiere von „Mensch ich lieb dich doch“, ebenfalls aus der „Grütze“-Werkstatt und schon (mittlerweile hinlänglich bekannter) „Klassiker“ des Jugendtheaters. Die Aufführung im nicht ausverkauften Theater am Ostwall eröffnete zugleich das NRW-Kinder- und Jugendtheatertreffen.

Es geht um Sucht und Drogen: Wer ist wann, wo und warum high, „bedröhnt“, „knülle“ oder „schicker“? Die Dortmunder haben das ursprünglich vier Stunden lange Stück gekürzt und zu einer Schlag-auf-Schlag-Revue mit vielen, zuweilen kabarettistischen „Nummern“, typisierten Figuren und jeder Menge Rockmusik (auch so eine Droge!) umgebaut. Das garantiert Kurzweil, birgt aber auch die Gefahr, das Publikum mit bloßen Oberflächenreizen bei der Stange zu halten.

Bestens eingespieltes Ensemble

Dem Thema versucht man auf breitester Front beizukommen: Arbeits- und Liebesrausch sowie Vaters Fernsehsucht, die er sich mit Schnaps und Kettenrauchen verschönt, kommen ebenso vor wie Mutters „kleine Helfer“ (Tabletten), Alkohol auf der Baustelle oder Haschisch in Schule und Jugendheim. Effekt: Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Beabsichtigtes Fazit: Alles kann süchtig machen, wenn’s im Leben nicht stimmt. Etwas zu kurz kommen die „Mechanismen“, die zur Sucht führen; in diesem Punkt wirkt die Aufführung etwas hilflos, weil sie im Großen und Ganzen darauf hinausläuft, simplen „Frust“ oder Gleichgültigkeit als Auslöser zu unterstellen.

Dennoch ist es ein Vergnügen, dem gut eingespielten Ensemble zuzusehen. Den Schauspielern (besonders Ulrike Heucke und Ludwig Paffrath) merkt man an, daß sie nicht irgendeinen beliebigen Stoff herunterspielen, sondern an der Thematik selbst interessiert sind. Auch die Musik, die sie abliefern, ist nicht übel, besonders die Parodien auf die „Neue Deutsche Welle“.

Kleine Anmerkung: Ist der gedankenlose Zuruf Gabriele Hintermaiers („Hallo, Spasti!“) unbedingt vonnöten, wenn Ludwig Paffrath in einer Szene wild herumhampelt?




Der Staub der vielen Jahre – John Osbornes „Blick zurück im Zorn“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wie auf einer verlassenen Baustelle erhebt sich das ärmliche Zimmer der Porters. Bescheiden möbliert, leben die Anti-Helden von John Osbornes „Blick zurück im Zorn“ auf unsicherem Grund: Bühnenbildner Raimond Schoop hat die realistisch ausstaffierte Ein-Zimmer-Hölle auf eine zerfetzte Beton-Armierung gesetzt.

Dort läßt Jimmy Porter (Peter Hommen) seine mittlerweile etwas angestaubten Haßtiraden auf Gott und die Welt der 50er Jahre vom Stapel, ein „abgebrochener Student“, der seinen Unterhalt als Bonbonverkäufer bestreitet. Die aus Verbitterung und Resten von Sehnsucht nach wilder Lebendigkeit gespeisten Zorn-Monologe verschonen niemanden. Jimmys phlegmatische Frau Alison (Claudia Gehre), sein hilflos um Frieden bemühter Freund Cliff (Alexander Pelz) und Helena (Claudia Amm) werden zu Zielscheiben verbitterter Rede.

In Wuppertal geht das auf biedere Weise seinen theatralischen Gang. Es scheint, als habe die Regie (Karl-Heinz Kubik) den 27 Jahre alten Text nur noch einmal illustrieren wollen, ohne jeglichen Verweis auf Weiteres. Als sei seit 1956 nichts Nennenswertes geschehen, wird auf viele Möglichkeiten verzichtet: Beispielsweise darauf, die verschiedenen 50er-Jahre-Modewellen, die seitherüber uns hereingebrandet sind, mitzureflektieren oder auch darauf, dem Stück neue Dimensionen über das Verhältnis zwischen den beidenFrauen abzugewinnen, deren verzichtreicher Edelmut in dieser wenig ambitionierten Inszenierung ein Rätsel bleiben muß.

Offenbar aus Angst, Osbornes Text zu denunzieren, hat man ihn wie etwas Unantastbares, Abgestorbenes behandelt. Tot bleiben auch Teile des Inventars: Funktionslos steht ein Flipperautomat herum. Man weiß nicht: was soll er bedeuten? Amerikanisierung oder „Das Leben ein Spiel?“ Oder kam es auf die Lichteffekte des Geräts an?

Den Schauspielern fiel es sichtlich schwer, sich im Nicht-Konzept der Inszenierung zu bewegen, am besten gelang dies noch Alexander Pelz als Cliff. Peter Hommen gab angestrengt vor, zornig zu sein, Claudia Gehre blieb auch am Schluß blaß, als sie gereift hätte wirken müssen, Claudia Amm konnte Möglichkeiten nicht ausschöpfen.

Der Beifall war herzlich: man hat hier ein dankbares, unverwöhntes Publikum.




„Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ – weit mehr als eine Besessenheit

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Ein ehrgeiziges Projekt macht Station in der Landeshauptstadt: „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“, bisher lediglich in Zürich und dann nur noch in Wien zu sehen, dokumentiert ab heute in der Düsseldorfer Kunsthalle eine „Besessenheit“ europäischer Künstler in den letzten 150 Jahren: „Aufs Ganze“ zu gehen, alles zugleich ausdrücken zu wollen, universelle Utopien zu entwerfen, sämtliche Kunstformen (Dichtung, Musik, Malerei, Theater, Film, Architektur usw.) zu verschmelzen und damit in alle Bereiche des Gemeinwesens hineinzuwirken.

Der Ausstellungsmacher Harald Szeemann faßt den ohnehin kaum definierbaren Begriff des Gesamtkunstwerks (Urheber: Richard Wagner) weit: Goethes humanistisches Bildungsideal zeugt danach ebenso vom Hang zur Totale wie etwa die Anfänge des „Bauhauses“ (bevor es zur Stil-„Schule“ wurde), JosephBeuys‘ Arbeiten ebenso wie die eines Philipp Otto Runge, der das Einssein des Künstlers mit dem Universum ersehnte (Außerdem u.a.: Duchamp, d’Annunzio, C.D. Friedrich, Lissitzky, Schlemmer).

Merkwürdig genug: Der unübersehbare „Hang“ entstand, als die Künstler aus dem Mäzenatentum der Kirchen und des Hochadels „entlassen“ und ihrer Individualität überantwortet wurden. Seit dem Verlust eines einheitlichen Weltbilds also ist die Vorstellung von Gesamtkunst lebendig, sie wird somit zu einem Rettungsversuch.

„Einladung zur Meditation über die totale Freiheit“

Harry Szeemann, der dem Besucher „eine Einladung zur Meditation über die totale Freiheit“ anbieten möchte, trug eine Fülle von Beispielen für Kunst mit Totalanspruch zusammen: Zu Richard Wagner (der der Verwirklichung eines Gesamtkunstwerks immerhin nahekam), finden sich monumentale Entwürfe für Bühnenbilder und für das Bayreuther Festspielhaus. Wahlverwandt: Filmregisseur Syberberg, z. B. mit Modellen zu seinem „Hitler“-Film.

Von Robert Wilson, Großmeister des sprachlosen Theaters, sieht man Skizzen für eine Multimedia-Oper, die er in Los Angeles (Olympia ’84) ins Werk setzen will. Der Anthroposoph Rudolf Steiner ist u. a. mit Architektur-Entwürfen vertreten, Joseph Beuys mit 21 angebohrten Basaltblöcken (Titel: „Das Ende des 20. Jahrhunderts“). Walter Gropius entwarf für Erwin Piscator ein „Total-Theater“, Wladimir Tatlin für die junge Sowjetmacht einen schneckenförmig gedrehten Turm als „Monument für die III. Internationale“. Beide Projekte verblieben im Stadium der „Kopfgeburt“, wie vieles in dieser Ausstellung. Um die Entwürfe dennoch dreidimensional vor Augen zu führen, hat man eigens Modelle nach den Vorlagen gefertigt. Manches ist bereits in der Verkleinerung so monströs, erhebt einen so gebieterisch-totalitären Anspruch, daß man für die Nicht-Verwirklichung dankbar sein muß.

Anderes, so der rekonstruierte „Merzbau mit der Kathedrale erotischen Elends“ (das Original wurde 1943 im Bombenhagel zerstört), wirkt eher andächtig als aggressiv. Die Ausstellung verlangt Vorkenntnisse und ist ohne Zusatzinformationen kaum sinnvoll zu bewältigen. Da sie einen wesentlichen Aspekt der europäischen Moderne vergegenwätigt, lohnt sich der Weg an den Rhein aber unbedingt.

„Der Hang zum Gesamtkunstwerk“. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz: bis 10. Jli, di-so 10-18 Uhr, Katalog 45 DM




Mülheimer Dramatikerpreis an George Tabori für „Jubiläum“ – Jury und Publikum einmütig

Von Bernd Berke

Mülheim. Der Gewinner des Mülheimer Dramatikerpreises 1983 heißt George Tabori. Sein Wettbewerbsbeitrag „Jubiläum“ wurde bei „stücke 83″ sowohl von der achtköpfigen Jury als auch vom Publikum als bestes der vier gezeigten Stücke bewertet.

Daß Experten und „Normalverbraucher“ diesmal übereinstimmten, darf als kleine Sensation gelten. Die Entscheidung für das Stück des 69-jährigen Tabori kann kaum überraschen: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus endlich einmal nicht mit rational vorgefertigten Rechthabe-Schablonen, sondern vor allem emotional zu führen – das fehlte bisher. „Jubiläum“ stellt eine wichtige, ja unverzichtbare Ergänzung zu Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ oder zu faktenverarbeitendem Theater wie Peter Weiss‘ Auschwitz-Stück „Die Ermittlung“ dar.

Tabori, dessen Familie in den Gaskammern von Auschwitz umkam, verfaßte eine „schwarze Totenmesse“: Auf einem Friedhof durchleben Opfer des Naziterrors das ihnen zugefügte tödliche „Schicksal“ als wiederkehrenden Alptraum. Ein Neonazi, eher von Disney, Donald Duck und Zack-Wumm-Motorik denn von Nietzsche angetrieben, erstürmt die traumatischen Szenen und verwirrt die Begriffe: Was ist heutig, was ist gestrig am Nazi-Unwesen – und hat nicht jeder einen „kleinen Hitler“ in sich? Das beklemmende Stück (Bochumer Version, Regie: Tabori), verlor durch die mißlichen Aufführungs-Verhältnisse in Mülheim nichts von seiner Kraft.

Vom erst 22jährigen Kunststudenten Thomas Strittmatter war ein erstaunliches Debüt-Stück zu sehen: „Viehjud Levi“ schildert, wie die Bewohner eines Schwarzwalddorfs unter dem Anpassungsdruck der Nazi-Ara immer distanzierter mit einem jüdischen Viehhändler umgehen, umspringen. Schwäche des von Jury und Publikum auf den „zweiten Platz“ gesetzten Kurzdramas: Das Dorf erscheint als ideologieanfälliger Nährboden, zuweilen aber auch als dialektsprechendes Idyll, das von hochdeutsch-tümelnden Zentralgewalten nur „vergiftet“ wird.

Daß Peter Handke mit „Über die Dörfer“ nicht in die engere Wahl kam, verwundert kaum. Gar zu abgehoben ist der Text seines vor/nach aller Geschichtlichkeit angesiedelten Mysterienspiels.

Volker Brauns Schiller-Aktualisierung „Dmitri“ fiel glatt durch. Das Stück bezieht seine Problematik hauptsächlich aus Vorgängen im „realen Sozialismus“, so daß es hier nur zum Teil verstanden wird. Braun verzettelt sich in einem quasi-wissenschaftlich angelegten Experiment zum Thema „Rechtfertigung und Entstehung von Macht“. Ein „Kopf-Stück“, fernab der neueren Stimmungen im Westen.