Islam im Blut – Theater Dortmund zeigt „Geächtet“ von Ayad Akhtar im Megastore

Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Auf den ersten Blick eint sie die Eigenschaftslosigkeit. Amir, Emily, Isaac und Jory sind in der Dortmunder Inszenierung von Kay Voges farblos-weiße Gestalten mit roten Albino-Augen (Kontaktlinsen), frei von störenden Eigenschaften (des Blutes?) oder Hypotheken einer ungemäßen Herkunft. Wechselseitige Wertschätzung speist sich aus der Höhe sechsstelliger Jahresgehälter, rhetorische Nähe zum Islamismus hier und larmoyantes Judentum dort werden bestenfalls als folkloristische Apercus empfunden, die die lockeren Gespräche eines entspannten Abends zu viert ein wenig zu würzen versprechen. Kleine Provokationen unter guten Freunden, harmlose, gut gemeinte Späße: Was soll da schon passieren?

Bettina Lieder Merlin Sandmeyer

Emily (Bettina Lieder), Abe (Merlin Sandmeyer) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nun gut; wenn jemand wie der 1970 geborene amerikanische Autor Ayad Akhtar in bester Yasmina-Reza-Tradition vier so grundverschiedene Protagonisten auf die Broadway-Bühnen schickt, dann wird es böse enden, das ist von vornherein klar. Und blickt man auf das Personaltableau, kommt einem die Konstellation fast ein wenig hölzern vor, sind in diesem Stück zur politischen Lage doch alle üblichen Verdächtigen traulich vereint.

Da ist der erfolgreiche indische Anwalt Amir (Carlos Lobo), der eigentlich pakistanisch-islamische Wurzeln hat, was er bestreitet, weil es ihm berufliche und gesellschaftliche Nachteile brächte und weil, überhaupt, sein Vater das heutige Pakistan schon lange vor der Abtrennung von Indien verließ.

WASPs haben die besten Karten

Seine Frau Emily (Bettina Lieder) zählt zu den WASPs, den „White Anglo-Saxon Protestants“, die in der keineswegs klassenlosen amerikanischen Gesellschaft ein gewisses Herkunftsoptimum darstellen. Emily malt Bilder, bewundert islamische Kultur und versucht, etwas davon in ihrer Kunst einzufangen. Isaac (Frank Genser) ist ein jüdischer Kunstkurator, den Emily nachgerade hündisch um Aufmerksamkeit für ihre Bilder anhechelt und der mit ihr schläft. Vierte ist – na, wer fehlt noch? – genau, eine Afroamerikanerin, die Juristin Jory (Merle Wasmuth), die in der selben jüdischen Anwaltfirma arbeitet wie Amir, aber noch erfolgreicher als dieser ist. Nummer 5 im Stück ist Amirs Neffe Abe, ein Sidekick eher, der zum Ende hin Salafistentracht tragen wird.

Von links: Isaac (Frank Genser), Emily (Bettina Lieder), Amir (Carlos Lobo), Jory (Merle Wasmuth) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Geschichte zieht sich über einige Wochen hin, und ihren desaströsen Ausgang nimmt sie bei der Verteidigung eines radikalen Imams, an der sich Amir in einem Anwaltskollektiv auf Drängen Abes nur höchst widerwillig einläßt. Er ahnt, was kommen wird. Man stellt ihn in die Islamistenecke, und in seiner Firma, deren Chef Steven Fundraiser für Netanjahu ist, kann er einpacken. Aber hatte man ihn nicht lange vorher schon diskriminiert, Jory goldene Brücken gebaut und ihn auf die Ochsentour geschickt?

Etliche Whiskeys

Es kommt halt alles zusammen, und das dauernde Sich-Verstellen zehrt. In angespannter Partyheiterkeit, befeuert von etlichen Whiskeys und von Isaac provoziert, kann Amir nicht länger mehr an sich halten, gesteht seine klammheimliche Sympathie für islamistische Anschläge, erinnert sich – der Gipfel! – an seine Glücksgefühle beim Fall der „Türme“ in New York. Schluß mit lustig, Amir verliert Freundeskreis, Ehefrau, Job und Wohnung in beliebig wählbarer Reihenfolge.

Carlos Lobo  Bettina Lieder  Frank Genser

Von links: Amir (Carlos Lobo), Emily (Bettina Lieder), Isaac (Frank Genser) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wenn das Stück beginnt, hat jeder der nach und nach auftretenden vier Partygäste seinen festen Bereich auf der eher breiten als tiefen Bühne (Michael Sieberock-Serafimowitsch). Die Sätze werden ins Publikum hinein gesprochen, selbst das Begrüßungs-Bussibussi landet im Zuschauerraum.

Intensive Videoarbeit (Mario Simon) macht inhaltliche Positionen deutlich, zeigt, wenn es grundsätzlich wird, Davidstern, grüngrundigen Halbmond, Sternenbanner oder auch Karten des „alten“ Indiens flächendeckend in leuchtenden Farben. Diese Dekonstruktion des Dialogischen hat durchaus Schlüssigkeit und Reiz, und vielleicht verlangt dieser abgründige Stoff, das Monströse andeutend, gar danach.

Allerdings ist die Dekonstruktion der Spielhandlung nicht durchzuhalten. Heftige Diskussionen und finale Gewaltszenen verlangen einfach nach körperlicher Nähe.

Carlos Lobo

Amir (Carlos Lobo) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Verfremdungseffekt

„Geächtet“ erlebte vor einigen Wochen seine deutsche Uraufführung in Hamburg in der Regie von Karin Beier, etliche weitere Theater gaben sich an Inszenierungen.

Kay Voges’ Albino-Interpretation dürfte im nationalen Vergleich ein Alleinstellungsmerkmal sein, ein gewiß zulässiger Verfremdungseffekt in einem aus dem Ruder laufenden Boulevardstück. Gleichwohl hat man nicht das Gefühl, durch „Geächtet“ wirklich an Erkenntnis zu gewinnen, was weder dem Stück noch der Inszenierung anzulasten ist. Eher scheint es, als stünde auch der Autor hilflos vor seinem Personal, vor Amir vor allem, den er eigentlich doch so gut versteht.

Regisseur Kay Voges hat seine Darsteller nicht geschont. Vor allem Bettina Lieder ist als Emily (zunächst jedenfalls) pausenlos in sportlicher Bewegung, hypermotorisch, AHDS-verdächtig, offenbar die Verkörperung eines allgegenwärtigen unterschwelligen Stresses. Auch Carlos Lobo, wiewohl mit Neigung zum Übergürtelbauch, zeigt als hin- und hergerissener Amir viel mobilen körpersprachlichen Ausdruck. Merlin Sandmeyer, Frank Genser und Merle Wasmuth dürfen es als Abe, Isaac und Jory etwas ruhiger angehen lassen, doch sportlich sind auch sie.

Reicher Applaus für einen furiosen Theaterabend.

  • Termine: 21.2., 9., 26.3.
  • Informationen und Karten: Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de

Infos zur neuen Spielstätte Megastore: https://www.theaterdo.de/service/anfahrt/megastore/




RuhrTriennale-Chef Johan Simons soll ab 2017 das Bochumer Schauspielhaus leiten

Dieser überraschenden Personalie dürfte nicht mehr allzu viel im Wege stehen: Wie WAZ und WDR übereinstimmend berichten, soll der renommierte holländische Theatermacher Johan Simons ab 2017 Intendant des Bochumer Schauspielhauses werden.

Am Freitag dieser Woche (5. Februar) muss der Verwaltungsrat des Schauspielhauses noch zustimmen. Das Plazet gilt jedoch als sicher. Damit scheint eine längere Hängepartie beendet zu sein, in der sich die Stadt mit der Suche nach einem neuen Theaterchef recht schwer getan hat. Zwischenzeitlich war dabei auch Kritik am Bochumer Kulturdezernenten Michael Townsend geäußert worden.

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Wird vermutlich Chef des Bochumer Schauspielhauses: Triennale-Intendant Johan Simons. (Foto: Stephan Glagla/RuhrTriennale)

Johan Simons könnte damit jedenfalls ganz in der Nähe seiner jetzigen Wirkungsstätte(n) bleiben. Just bis 2017 ist er bekanntlich Intendant der RuhrTriennale. Er verfügt somit nicht nur über überregionale, sondern auch über regionale Netzwerke. Beste Voraussetzungen also.

Die Nachricht von Simons’ höchstwahrscheinlicher Berufung ist denn auch eine erfreuliche – nicht nur für Bochum, sondern fürs Revier insgesamt. Endlich bekommt das ehedem weitaus wichtigste Schauspiel der Region, das in goldenen Zeiten u.a. von Peter Zadek und Claus Peymann geleitet wurde, wieder einen Chef mit bundesweiter, ja internationaler Ausstrahlung. Bei allem Respekt vor seiner Leistung: Anselm Weber, der 2010 von Essen nach Bochum geholt wurde und 2017 nach Frankfurt wechselt, hat das Haus nicht in die allererste Reihe führen können.

Das Bochumer Schauspielhaus (Foto: Bernd Berke)

Das Bochumer Schauspielhaus (Foto: Bernd Berke)

Der vielfach preisgekrönte Simons (69), der seine Ursprünge im freien Kollektivtheater hatte, hat an etlichen deutschen Bühnen inszeniert, außerdem u. a. in Zürich und beim Festival in Avignon. Von 2010 bis 2015 war er Intendant der Münchner Kammerspiele.

Schon lange vor seiner Triennale-Intendanz hat Simons ab 2002 Regiearbeiten bei diesem Ruhrgebiets-Festival gezeigt, so auch seine geradezu legendär gewordene Produktion „Sentimenti“ (2003), von der noch heute viele Theaterfreunde mit freudig funkelnden Augen sprechen. Simons vermag es, neben allen anderen Fähigkeiten, die Magie von Spielstätten zu wecken und auch musikalische Mittel höchst wirksam einzusetzen. Man darf davon ausgehen, dass Bochums Schauspiel unter seiner Leitung die Kategorie „routiniertes Stadttheater“ bei weitem überschreiten wird.

Simons, der im kommenden September 70 Jahre alt wird, ist zwar nicht mehr der Allerjüngste, doch bringt dieser erfahrene Mann sicherlich die Energie und Leidenschaft mit, um das Bochumer Theater zu einer mindestens bundesweit bedeutsamen Kulturstätte zu machen. Vielleicht erscheint dann ja auch wieder mal öfter der eine oder andere Rezensent aus Berlin, München, Hamburg oder Frankfurt, um davon zu künden.




Schrecklich nette Familie: „Umbettung“ von Jens Albinus in Köln uraufgeführt

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Die Familie sitzt um das hölzerne Podest wie um einen überdimensionalen Küchentisch. Darüber hängen dänische Designerlampen. Doch die geschmackvolle Idylle (Bühne und Kostüme: Rikke Juellund) trügt: In dieser Patchwork-Familie ist nichts harmonisch.

Anlässlich der Umbettung der verstorbenen ältesten Tochter treffen Lili und Jorgen und ihre Töchter Katie und Liv nach langer Zeit wieder zusammen. Sofort gibt es Streit. Doch die wahren Familiengeheimnisse werden lieber verschwiegen…

Das neue Stück des dänischen Schauspielers und Dramatikers Jens Albinus wurde jetzt, von ihm selbst inszeniert, am Schauspiel Köln uraufgeführt. „Umbettung“ ist seine zweite Arbeit für das Haus und beleuchtet die Befindlichkeitsstörungen einer europäischen Mittelschichtfamilie. Doch vielleicht ist das zu zaghaft ausgedrückt, denn unter dem dünnen Firnis der Zivilisation lauert latent die Gewalt. Erst boxt Vater Jorgen den Freund seiner Jüngsten spielerisch in die Seite – plötzlich wird er rabiat, obwohl er eigentlich ein kranker Mann ist.

Ronald Kukulies spielt diese Gratwanderung zwischen selbstmitleidig und brutal grandios. Man kann sich durchaus vorstellen, dass er vor Jahren der ältesten, bei einem Unfall verunglückten Tochter Alma zu nahe gekommen ist. Doch dieser Verdacht wird nie wirklich ausgesprochen, die Geschichte nie aufgearbeitet in dem knapp zweistündigen Theaterabend. Und doch steht das Ungesagte unmittelbar und mächtig im Raum, denkt man sich als Zuschauer diesen Missbrauch und die rabiate Reaktion von Mutter Lili unweigerlich hinzu. Das ist eine magische Qualität dieses Textes, der vordergründig so normal und alltäglich daherkommt.

Denn Lili, berühmte Fotografin, hat es, während ihre drei Töchter (von drei verschiedenen Männern) klein waren, nie lange zu Hause ausgehalten. Ihr war das zu eng, zu familiär und vielleicht wollte sie eben auch nicht hinsehen, dass ihr Mann die Älteste ein wenig zu sehr mochte? Ihre Schuldgefühle münzt sie aber sofort in Aggressionen um, brüllt Jorgen an, der ihr nach vielen Jahren Trennung in nur wenigen Minuten sofort so schrecklich auf die Nerven fällt, dass sie sich erst einmal von Toby einen Joint schnorren muss. Birgit Walter spielt diese immer noch arrogante und egozentrische Frau so realistisch wie im Fernsehkrimi. Ihre Eloquenz aber auch ihre Unsicherheit, die sich offenbart, wenn sie es nicht einmal schafft, ihre Töchter einfach in den Arm zu nehmen.

Katie (Melanie Kretschmann), die Mittlere, hat es eigentlich am Schlimmsten erwischt: Jede Zurückweisung der Mutter führt zur prompten Selbstverletzung: Mit dem Feuerzeug versengt sie sich den Unterarm, mit dem Autoschlüssel ritzt sie sich die Handgelenke. Nur Liv (Henriette Nagel), die Jüngste, will auf heile Welt machen: Trauerrituale durchführen, alte Filme schauen, zusammen essen. Doch auch sie kann dem Familienwahnsinn schlecht entkommen. Statt mit Freund Toby (Sean McDonagh) eine eigene Zukunft zu planen, lässt sie sich vom Vater einwickeln und bleibt bei ihm. Da hilft auch ihr verzweifelter Versuch nicht, das Haus anzuzünden, um Geld von der Versicherung zu bekommen und damit in die Unabhängigkeit zu starten. Denn ihr Vater verschenkt dieses gleich an die Flüchtlingsinitiative nebenan, der er zuvor noch misstrauisch gegenüberstand. Er fürchtete immer, Kabelbrände von dort würden auf sein Haus überspringen. Dabei hat seine eigene Familie den Brand selbst gelegt.

Fast hat man den Eindruck, Albinus‘ abgründiges Kammerspiel sei zu perfekt gebaut. Das Netz, in das diese Familie verstrickt ist, wirkt so eng geknüpft, dass es beinahe unrealistisch anmutet. Nur eines nutzt der Autor und Regisseur nicht: Videofilme. Wir hören nur das Geräusch des ratternden Projektors, wie er die Super-8-Streifen von damals abspielt, die Bilder werden uns vorenthalten. Doch das verstärkt nur die Horrorvorstellungen in unseren Köpfen…

Infos und Termine: www.schauspielkoeln.de

 




Von leichter Kost bis zur Flüchtlingsnot – das Pogramm der Ruhrfestspiele 2016

Das letzte maritime Motto der Ruhrfestspiele lautete 2014 „Inselreiche: Land in Sicht – Entdeckungen“ und bot, wenn ich mich recht erinnere, vor allem gute Gelegenheiten, das eine oder andere Shakespeare-Stück auf die Festspielhausbühne zu stellen. Nun, nach dem französischen „Tête-à-tête“-Intermezzo 2015, ist wieder ein Meer das Thema, das Mittelmeer, das „Mare Nostrum“.

(Auch) wir im kalten Deutschland dürfen es „unser Meer“ nennen, weil (unsere) abendländische Kultur ebenso wie die monotheistische Religionen dort, im Mittelmeerraum, entstanden. Das soll nicht vergessen werden, auch nicht in Zeiten, in denen dieses Meer zum Symbol für massenhafte Flucht und für massenhaftes Sterben auf dieser Flucht geworden ist.

Burgtheater macht den Anfang

Wie bei den Ruhrfestspielen der Vergangenheit ist die Betitelung recht unverbindlich, und sicherlich hätte auch ein anderes Banner gehißt werden können, schaut man auf die Auswahl der Stücke. Die ersten Produktionen im Großen Haus verbindet mit dem Mittelmeer kaum mehr als der Ort des Entstehens beziehungsweise der Ort des Handelns.

Den Anfang macht die 1747 erschienene und überaus süffige Komödie „Der Diener zweier Herren“ von Carlo Goldoni, eine Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater mit Peter Simonischek in der Titelrolle, Spielort ist Venedig.

Es folgt, als Regiearbeit des Hausherrn Frank Hoffmann, „Das Leben ein Traum. Caldéron“. Die Inszenierung des Luxemburger Nationaltheaters und des Schauspiels Hannover steht sozusagen auf zwei Füßen, verwendet die Originalvorlage Pedro Calderón de la Barcas ebenso wie Pier Paolo Pasolinis Filmadaption, die Calderóns bedrohlichen Königssohn durch eine Protagonistin ersetzt, in deren Schicksal der vermeintlichen Befreiung sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen spiegelt. Das verspricht im beste Sinne interessant zu werden und ist zudem mit Dominique Horwitz, Jacqueline Macaulay, Hannelore Elsner, Wolfram Koch und anderen hervorragend besetzt.

Der experimentierfreudige Romeo Castellucci

Nach so viel Theaterwucht ist für Mitte des Monats, den 16. und 17. Mai, im großen Haus ein wenig tänzerische Leichtigkeit sicherlich hoch willkommen. Romeo und Julia, deren berühmter Balkon bekanntlich in Verona hängt, kommen aus Biarritz nach Recklinghausen und tanzen zur Musik von Hector Berlioz eine Choreographie von Thierry Malandain, denn man hier aus dem letzten Jahr noch in guter Erinnerung hat.

Doch dann naht Romeo Castellucci mit einer „Orestie“ – in der Bearbeitung von Romeo Castellucci und in der Regie von Romeo Castellucci. „Castelluccis Inszenierung arbeitet mit Bildern, die wie ein Schock wirken“, verkündet das Programmheft.

Bei der vorletzten Ruhrtriennale, noch unter der Ägide von Heiner Goebbels, der eine oder andere wird sich erinnern, gab es schon einmal eine Begegnung mit Romeo Castellucci. Da brachte er Igor Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“ ohne menschliche Mitwirkung mit einer Maschinerie zur Aufführung, die rhythmisch Knochenmehl von der Decke herabrieseln ließ. Das Knochenmehl stammte aus industrieller Produktion und von geschlachteten Tieren, sollte in dieser szenischen Installation aber auch Zusammenhänge insinuieren zwischen Tieropfer und Fleischverzehr und Schuld und was nicht sonst noch allem. Wenigstens war das Publikum durch eine Folie vor dem Bühnenstaub geschützt. Diesmal gibt es, wird verheißen, lebende Tiere auf der Bühne. Was ist davon zu halten, wenn im Programmheft „Empfohlen ab 16 Jahren“ steht?

Asylsuchende aus der Antike

Sodann betritt Elfriede Jelinek die Bühne – sinngemäß jedenfalls, persönlich gilt sie ja eher als scheu. „Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen“ von Aischylos stehen auf dem Programm, aus dem Griechischen übersetzt von Dietrich Ebener/Elfriede Jelinek. Die Töchter des Danaos sind, um Versklavung und Zwangsheirat zu entkommen, über das Mittelmeer geflohen; Argos gewährt Asyl, Ägypten droht. Der Plot wirkt aktuell, mal sehen, was das Schauspiel Leipzig daraus gemacht hat. Immerhin reisen sie mit „46 Leipzigerinnen und Leipzigern im Chor“ an. Regie führt Enrico Lübbe.

Houellebecq mit Edgar Selge

Von Namedropping halte ich generell nicht viel, aber hier reizt es einen schon: Michel Houellebecq, Karin Beier, Edgar Selge, Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Bedeutet: Karin Beier hat Michel Houellebecqs immer noch aktuelles Buch „Unterwerfung“ in Hamburg zu einem Einpersonenstück mit Edgar Selge in der Hauptrolle verarbeitet. Der Plot, man erinnere sich, war der, daß bürgerliche und sozialistische Politiker nach erschütternden Wahlerfolgen des populistischen „Front national“, um diesen zu verhindern, Islamisten den Weg in die Regierung ebneten und Frankreich zu einem Land der Scharia machten. Durch den islamistischen Mordanschlag auf die Redaktion der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ kurz nach Erscheinen von Houellebecqs Buch erhielt dieses eine gespenstische Aktualität. Nun also, wie auch immer, Edgar Selge. Ich bin sehr gespannt!

Es gibt einen „Nathan“ vom Deutschen Theater Berlin, bei dem Andreas Kriegenburg Regie führt und der, wie Intendant Frank Hoffmann versichert, durchaus auch humorvoll sein soll. „Rocco und seine Brüder“ ist eine Bühnenadaption des Visconti-Films durch das Schauspiel Hannover und paßt thematisch fraglos gut zum Thema Mittelmeer-Migration. Übrigens spielt Cosma Shiva Hagen mit.

Symposium zum 70. Geburtstag

„Don Giovanni. Letzte Party“, eine Produktion des Hamburger Thalia-Theaters, wird angekündigt als „ziemlich stückgetreue, ziemlich durchgeknallte Okkupation der Oper aller Opern“. Schauspieler spielen und singen, als Autoren werden Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo da Ponte genannt, Antú Romero Nunes gar sei ein wahrer „Regiewunderknabe“. Alles klar? Jedenfalls verheißt die Ankündigung Kurzweil.

Mitte Juni, so ist es Brauch, neigt sich das Festival dem Ende zu. Das ist seit 70 Jahren so und somit Grund genug, ein Symposium darüber abzuhalten. Am 14. und 15. Juni also feiert man den Siebzigsten, und Klaus Peymann, der Unermüdliche, hält einen großen Vortrag.

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Cosma Shiva Hagen spielt in „Rocco und seine Brüder“ mit. (Foto: Ruhrfestspiele)

Aus Berlin kommt die Volksbühne

Was haben wir noch? Zweimal Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, immerhin, einmal sogar mit einem Stück, bei dem deren Chef Frank Castorf Regie führt. Castorf, Ältere werden sich erinnern, war für ein Jahr selbst einmal Intendant der Ruhrfestspiele, Nachfolger von Hansgünther Heyme, und in diesem Jahr bescherte er dem Festival mit seinen – nennen wir sie: unorthodoxen – Ideen einen Einbruch beim Kartenverkauf um rund ein Viertel. Klar war, daß Castorf und Ruhrfestspiele nicht zueinander paßten, nach etwas Krisenmanagement übernahm Frank Hoffmann 2004 das Zepter, und er schwingt es erfolgreich bis heute.

Wenn Frank Castorf jetzt trotzdem mit „Die Kabale der Scheinheiligkeiten. Das Leben des Herrn Molière“ auf Recklinghausens grünem Hügel gastiert, so hat das Stil und wir verneigen uns. Das Stück – laut Programmheft nicht „von“, sondern „nach“ Michail Bulgakow, umfiebert eine Episode, die es angeblich wirklich gegeben hat: Nachdem Bulgakow Stalin, dem schrecklichen, allmächtigen, doch auch geliebten Stalin einen Brand- und Klagebrief geschrieben hatte mit der Bitte, ihn von Angst und Terror zu erlösen und aus der noch jungen Sowjetunion ausreisen zu lassen, rief dieser ihn persönlich an. Und danach nie wieder.

Der Künstler und sein Überleben

Doch wenigstens überlebte Bulgakow, Verfasser des weltberühmten Romans „Der Meister und Margarita“, schrieb, und die Beinahebegegnung mit Stalin verpflanzte er dramatisch an den Hof den Sonnenkönigs Ludwig XIV, wo ein Hofdichter Molière ganz ähnlich zu empfinden scheint wie weiland Bulgakow unter Stalin. Es geht, man sieht’s, um Künstler, Staat und Zensur und um das nackte Überleben. Und da Frank Castorf mit seinem 64 Jahren mittlerweile zu den „Altmeistern“ gezählt werden kann und da er sich viele Jahre lang sehr intensiv an Dostojewkij-Stoffen abgearbeitet hat und als Russenversteher gilt, möchte man nun wissen, was er ganz altmeisterlich aus der Geschichte macht. Premiere war übrigens letztes Jahr schon in Berlin.

Das zweite Berliner Volksbühnenstück ist eine „Apokalypse“ nach dem Johannesevangelium in der Regie von Herbert Fritsch. Grell und slapstickhaft, so Intendant Frank Hoffmann, soll es hier (auch) zugehen, es spielen Wolfram Koch und Ingo Günther, und am Ende ist klar, daß die Apokalypse ein treuer Begleiter und ein zeitloses Phänomen ist.

Zwei aktuelle Stücke zum Thema Migration

So, damit wäre das Programm im Großen Haus durchgearbeitet. Die weiteren Spielstätten Kleines Theater, Halle König Ludwig 1/2, Theater Marl und Theaterzelt in gleicher Intensität durchzuarbeiten, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, er ist ja jetzt schon viel zu lang. Deshalb nur einige mehr oder weniger subjektive Hinweise. Zwei Produktion beschäftigen sich ganz aktuell mit dem Thema Migration, „Zawaya. Zeugnisse der Revolution“ von der Compagnie El Warsha Kairo und „Am Rand“ von Sedef Ecer, das Hansgünther Heyme, der alte Kämpe, im Hamburg als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen inszeniert hat, beide im Kleinen Theater.

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Anklagebank? Symbolhaftes Bühnenbilddetail aus „Zawaya. Zeugnisse der Revolution“. (Foto: Tamer Eissa/Ruhrfestspiele)

In „Zawaya“ läßt Regisseur Hassan El Geretly fünf Personen sich an den „arabischen Frühling“ erinnern, an die ägyptische Revolution: einen Kleinkriminellen und Spitzel, einen Offizier, die Mutter eines toten Rebellen, einen arbeitslosen Fußballfan und eine Krankenschwester. Was ist die Wahrheit, was ist die Zukunft? Arbeitsprinzip der Compagnie El Warsha ist es laut Programmheft, zu den einfachen Menschen auf der Straße zu gehen, sie reden zu lassen und sie zu authentischen Chronisten des Geschehenen zu machen. Das Stück läuft in arabischer Sprache mit deutschen Untertiteln.

„Am Rand“, die Geschichte der türkischen Autorin Sedef Ecer, dreht sich um Menschen aus Afrika, die anderswo das Paradies suchen und im Vorstadtslum landen, eben am Rand. Paris ist nicht das Paradies (ein wohlfeiles Wortspiel), sondern die Banlieue. Und statt Paris könnte es Istanbul, Kairo oder Tripolis sein. Auch wenn man nur gedämpfte Erwartungen an den Inszenierungsstil Heymes hegt, scheint diese Produktion doch gut geeignet zu sein, das Publikum jenseits der üblichen Tagesthemen-Stanzen etwas klüger zu machen über das, was junge Menschen aus Afrika in die Migration treibt.

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Der Chor ist in Aufruhr. Szene aus „Die Schutzflehenden/die Schutzbefohlenen“ von Aischylos, Dietrich Ebener und Elfriede Jelinek. (Foto: Bettina Stöß/Ruhrfestspiele)

Der Intendant versteckt sich

In der Halle König Ludwig 1/2 versteckt, so muß man fast sagen, Frank Hoffmann eine weitere eigene Regiearbeit. In Luxemburg brachte er Sergio Blancos Zweipersonendrama „Theben-Park“ heraus, die Reinszenierung eines Vatermords auf der Theaterbühne, ein Stück im Stück mithin. Wie erzählt man eine solche Geschichte, wie verändert sie sich, wenn man sie erzählt? Ödipus, Dostojewski und Siegmund Freud grüßen von der Empore, wir dürfen auf eine spannende psychologische Studie hoffen. Maik Solbach und Nicolai Despot spielen, und da Luxemburg nicht Deutschland ist, ist dies jetzt sogar eine deutsche Erstaufführung.

Winkelmanns neuer Film

Am 12. Mai läuft Adolf Winkelmanns neuer Film „Junges Licht“ in der Essener Lichtburg. Vorlage war Ralf Rothmanns Nachkriegskindheitsroman gleichen Titels, es spielen unter anderem Charly Hübner, Lina Beckmann, Peter Lohmeyer und Stephan Kampwirt. Und sicherlich wird er Film auch andernorts zu sehen sein.

Erstmalig gibt es Kooperationen mit dem Gelsenkirchener Ballett im Revier („Prosperos Insel“ nach Motiven von William Shakespeare) und dem Dortmunder Theater („Die Simulanten“ von Philippe Heule) und auch Rimini Protokoll fehlen nicht. In ihrer Aktion „Truck Tracks Ruhr # 2 Album Recklinghausen“ bitten sie das geneigte Publikum auf die Ladefläche eines Lastkraftwagens, wo es – sichtgeschützt – zu markanten und fest versprochen so noch nie wahrgenommenen Besichtigungspunkten des Reviers gefahren wird, die man dann klangvoll präsentiert. Klingt gut, schaun mer mal.

Bemerkenswert ist, was diesmal fehlt: Es fehlt der glamouröse Gast (jeglichen Geschlechts) aus dem Filmgeschäft, in einer glamourösen Produktion. Keine Ute Lemper, keine Heike Makatsch und erst recht kein Philip Seymour Hoffman seligen Angedenkens. Werden wir die internationalen Stars vermissen? Einst standen sie für die Weltläufigkeit der Ruhrfestspiele, doch seit Jahren schon wirkten sie etwas verloren in einem Programm, das doch ganz unübersehbar seinen Schwerpunkt beim deutschsprachigen Theater setzt. Schlimm wäre es, wen aktuelle Themen und Diskussionen nicht mehr Eingang in das Programm fänden. Doch diesen Vorwurf kann man den Ruhrfestspielen 2016 nicht machen.

Glück auf!

Weitere Informationen: www.ruhrfestspiele.de




Aus dem Leben eines Trinkers – „Die Reise nach Petuschki“ im Dortmunder Schauspiel

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man weiß sofort, was mit Wenja los ist. Er ist ein Trinker, immer auf der Suche nach dem nächsten Schluck; einer, der in Hausfluren schläft und klaffende Gedächtnislücken hat. Wenja macht keinen Hehl aus alledem, sondern erzählt (wie man hier vielleicht nicht mehr sagen sollte) frei von der Leber weg.

Wenja hat auch Stil. Und Kultur. Die Abfolge der Getränke, des Wodkas, des Bieres, des Rosés, will bemessen und durchdacht sein. Auch wenn längst schon klar ist, daß nicht Wenja über den Alkohol, sondern der Alkohol über ihn gebietet. Besonders dann, wenn er nach Moskau reist; dann richtet sich sein Pfad nach den Kneipen und Restaurants, die geöffnet haben, weshalb er den Kursker Bahnhof schon oft, den Kreml aber noch nie gesehen hat.

1973 schrieb Wenedikt Jerofejew seinen Roman „Die Reise nach Petuschki“, dessen Hauptperson und Ich-Erzähler Wenja ist (in dem man sicherlich auch einen Wiedergänger des Romanautors erkennen kann). Lange blieb das Buch verboten, und im Westen scheint der Stoff erst in den letzten Jahren so richtig angekommen zu sein, wurde er zu Hörbüchern und einem Hörspiel verarbeitet und fand seinen Weg nun auch ins Dortmunder Theater.

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Sehnsuchtsort Petuschki

Wenja denn also, den Uwe Rohbeck herausragend gibt, will vom Kursker Bahnhof aus nach Petuschki reisen, wo Frau und Kind auf ihn warten und der Himmel blau ist und es auch im Winter nach Lavendel riecht. Geschenke hat er dabei, die indes eher Alkoholika zu sein scheinen, und irgendwie landet er am Ende wieder in Moskau. Was da unterwegs passiert ist, kriegt er nicht mehr zusammen, es verliert sich im Nebel der Trunksucht.

Das so in groben Zügen Skizzierte gibt es nun also auf der Studiobühne zu sehen – in einer rigoros zusammengestrichenen, gut einstündigen Textfassung von Stephen Mulrine (deutsch von Hein Marecek) und in der Regie von Katrin Lindner. Eine sehenswerte Personenstudie ist es geworden, ein in sich schlüssiges Theaterprodukt, ein schöner, amüsanter Theaterabend.

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck): (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Verhältnisse in der Sowjetunion

Wer allerdings das Glück hat, Jerofejews Vorlage zu kennen, ist möglicherweise ein wenig enttäuscht. Denn die Geschichte lebt ja nicht nur vom Wenja-Plot, sondern von den vielen, mehr oder weniger alkoholdurchtränkten Gesprächen, von den beiläufigen Beschreibungen gesellschaftlicher Abgründigkeiten und der allgegenwärtigen Absurdität des erstarrten Breschnew-Sozialismus.

Manches wird in der Dortmunder Kompaktversion erwähnt, wie die Geschichte rund um den stets betrunkenen Eisenbahnkontrolleur, der sich von ertappten Schwarzfahrern mit Wodka bezahlen läßt; doch bleibt das sich in diesem Macht- und Korruptionsverhältnis spiegelnde Gesellschaftsbild anders als im Buch ungemalt. Auch die zahlreichen liebevollen Beschreibungen der einfachen russischen Menschen, die sich ihre Wirklichkeit gern zusammenphantasieren (der Alkohol hilft dabei), sind weggefallen. Nun denn.

Trinker mit Schlips und Kragen

Uwe Rohbecks grandioses Spiel vermag für diesen Mangel reich zu entschädigen. Seine Figurenzeichnung ist brillant. Nie sieht man ihn mit Glas oder Flasche in der Hand. In Anzug, Schlips und Kragen steht er auf der kargen Bühne (Bühne und Kostüme: Tobias Schunck), ein Mann offenbar, der auf sein Äußeres hält. Und doch sind kleine Zeichen der Verwahrlosung in der Kleidung unübersehbar. Zudem weiß Rohbeck, zierlich, hager und gelenkig, gekonnt die kleinen Bewegungsunsicherheiten des Trinkers zu geben, und auch die Sprache läßt den Alkoholpegel ahnen, doch ist sie weit vom Lallen der Betrunkenen entfernt. Dieser Alkoholiker wahrt Haltung und hat Benehmen – was ihn nicht vor dem Delir bewahren wird.

Begeisterter Applaus. Und Dank dem Haus für ein feines Stückchen Schauspielertheater.

  • Nächste Termine: 22.1., 18.2. (15,- Euro/ 10,- Euro ermäßigt)
  • Karten und Informationen Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de

 




Vier Teufel aus dem Luftschacht: Faust I am Düsseldorfer Schauspielhaus

FAUST I, v.l.n.r. Thiemo Schwarz, Konstantin Bühler, Stefan Hunstein, Karin Pfammatter, Katrin Hauptmann,  Jakob Schneider, Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

FAUST I, v.l.n.r.
Thiemo Schwarz, Konstantin Bühler, Stefan Hunstein, Karin Pfammatter, Katrin Hauptmann, Jakob Schneider, Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Die Teufel sind unter uns, sie wohnen in den Wänden. Und dann kommen sie als böse Geister aus den Luftschächten gekrochen und verbreiten Unheil, Gier und Schmerz. Dabei machen sie teuflisch gute Musik (Volker Zander), um uns zu verführen.

Die Teufel, vier an der Zahl, heißen alle Mephisto und sind Goethes Faust I entsprungen, wie ihn Georg Schmidtleitner für das Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert hat. Zwei Stunden ohne Pause dauert Goethes Klassiker hier nur, manches Mal rattert der Text dabei ein wenig schnell an uns vorüber.

Vor allem im Studierzimmer, das Bühnenbildner Harald Thor als einen Betonbunker konzipiert hat, der an die heruntergekommenen Räumlichkeiten einer Massenuni erinnert. Hier sitzt Faust (Stefan Hunstein) am Laptop (derweil der altmodische Nadeldrucker in der Ecke quietschend Papiermüll produziert) und nuschelt fahrig vor sich hin. „Philosophie, Theologie“ – das bringt ihm alles nix mehr, diesem Professor in Zeiten des akademischen Prekariats einer geisteswissenschaftlichen Fakultät im Abseits. Depressiv schwitzt er sein Schlabber-T-Shirt voll, dann krabbelt auch noch Wagner (Konstantin Bühler), übereifrig und mit Nerd-Brille, aus dem Papierstapel hervor und nervt mit schlauem Geschwätz.

Zum Glück sorgt gleich die Teufelsband, bestehend aus zwei Frauen (Karin Pfammatter und Katrin Hauptmann) und zwei Männern (Jakob Schneider und Thiemo Schwarz) für Abwechslung: Im schwarzen Grufti-Outfit versuchen sie Faust zu becircen, doch nachdem er ein Video von Gretchen gesehen hat, können ihm die ganze Walpurgisnacht sowie Auerbachs-Keller gestohlen bleiben und uns im Zuschauerraum auch, denn für uns bleiben davon nur ein paar Zitate. „Besonderer Saft? Hexeneinmaleins? Ach, ja, ach, ja, genau!“

Allerdings wird Fausts Verjüngungskur, um für Gretchen fit zu werden, aufgepeppt mit einem Wagnerschen Vortrag zur Gentechnik und ein wenig Nietzsche, was der Sache eine originelle Note verleiht.

Der Star des Abends aber ist Gretchen. Seltsam, denn als sie so hinterwäldlerisch im Rüschenkleidchen und komischer Mädchenfrisur die Bühne betritt, denkt man erst mal „Ach nee, so ein Trampel“. Doch Katharina Lütten interpretiert die Rolle ganz eigenartig und vielschichtig: naiv, aber gleichzeitig nüchtern-geradeaus, linkisch und doch klug. Warum fällt sie überhaupt auf den Idioten herein, das pragmatische Bauernmädchen? Wahrscheinlich, weil sie noch nie in ihrem jungen Leben irgendjemand beachtet hat.

Das ist psychologisch glaubwürdig und macht den verhexten Faust im Grunde austauschbar. So leidet Gretchen nicht so sehr daran, von ihm verlassen worden zu sein, sondern wider den eigenen Menschenverstand in den sozialen, moralischen und existenziellen Abgrund zu sinken. Wahnsinn und Tod im Kerker erträgt sie als logische Konsequenz und Flucht mit Heinrich ist keine Option mehr. Der geht dann mit der Teufelsband auf Tour.

Ich habe nachgezählt, es war jetzt mein fünfter Faust. Zum tieferen Textverständnis hat er nur teilweise beigetragen, aber ich fand ihn ganz unterhaltsam – also, wenn man weiß, worum es geht, reicht die Light-Version für zwischendurch. Frohe Weihnachten!

Karten und Termine: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Ein Wrack namens Scarpia – Gelsenkirchen zeigt „Tosca“ in ungewöhnlicher Lesart

Für Scarpia (Aris Argiris, v.) ist das "Te Deum" ein einziges Höllenspektakel. Foto: Pedro Malinowski

Für Scarpia (Aris Argiris, v.) ist das „Te Deum“ ein einziges Höllenspektakel. Foto: Pedro Malinowski

Der Mann ist am Ende. Ein Wrack, wie er dasteht, etwas gebeugt, mit strähnigen Haaren, von Dämonen besessen, von einer Obsession getrieben. Sein erster Auftritt ist so, als hätte ihn die nahe Menschenmasse ausgespien. Und dieser müde Außenseiter soll der gefürchtete Baron Scarpia sein? Der Polizeichef Roms als fieser Strolch? Das ist mal eine Umdeutung in Giacomo Puccinis Oper „Tosca“, die wir so noch nicht gesehen haben.

Regisseur Tobias Heyder zeichnet am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (MiR) für diese Lesart verantwortlich, und so wie Scarpia ganz artfremd als schmieriger, gebeutelter Strippenzieher dasteht, sind auch die anderen Hauptfiguren dieses Dreiecksdramas mit politisch-historischem Hintergrund relativ frei ausgestaltet. Tosca zeigt kaum Spuren innerer Verletzbarkeit, ihre Eifersucht ergeht sich bisweilen in seltsam maskulinen Posen, ihre Rache (Scarpias Ermordung) speist sich nur aus milder Verzweiflung und gebremstem Furor. Ihr Geliebter, der Maler Cavaradossi schließlich, ist ein eher ungelenker, fast nüchterner Antiheld, ein Freigeist der naiven Art, der seinem politisch verfolgten Freund Angelotti nahezu geschäftsmäßig hilft.

Jeder leidet für sich allein, scheint das Fazit der Regie, zumal die Interaktion der Beteiligten mehr nebeneinander her läuft, mit geringen Blickkontakten und einer nahezu aseptischen körperlichen Nähe. Tosca in Scarpias Armen, die Erfüllung seiner Obsession, wirkt wie pure Hilflosigkeit, nicht wie die pralle Gier. Und wenn die Frau ihrem vermeintlichen Bezwinger das Messer in die Rippen stößt, fehlt der Szene die Eiseskälte der Täterin ebenso wie die Schockstarre des Opfers.

Toscas Paralyse hingegen setzt erst ganz zum Schluss ein. Wenn sie feststellen muss, dass ihr Geliebter nicht zum Schein, sondern tatsächlich erschossen wurde. Dann zieht und zerrt sie an ihm herum, die Menge, die bereit ist, sie zu lynchen, nicht mehr beachtend. Der Sprung der Tosca von der Engelsburg fällt aus.

Tosca (Petra Schmidt) und der von der Folter gezeichnete Cavaradossi (Derek Taylor). Im Hintergrund Scarpias Helfer Spoletta (William Saetre). Foto: Pedro Malinowski

Tosca (Petra Schmidt) und der von der Folter gezeichnete Cavaradossi (Derek Taylor). Im Hintergrund Scarpias Helfer Spoletta (William Saetre). Foto: Pedro Malinowski

Darüber mag mancher im Publikum die Nase rümpfen wie auch über Scarpias Deformation, die bisweilen in tranceartige Zustände mündet. Verbunden damit sind indes starke, teils verstörende Bilder. Nicht nur in dem Sinne, dass der Maler Cavaradossi riesige Gemälde mit nackten Frauen produziert – Ausstatter Tilo Steffens hat ein entsprechend großformatiges Exponat auf die Bühne gewuchtet, das „Nudes“ im Stile Helmut Newtons zeigt. Sondern auch dergestalt, dass das berühmte „Te Deum“ zum Finale des 1. Aktes zum Höllenspektakel wird, als hätte Hieronymus Bosch seine Gespenstergestalten losgelassen. Scarpia, so ist wohl die Botschaft, hat sich dunklen Mächten hingegeben. Die Symbolkraft des Katholizismus ist für ihn einzige Pein.

Dazu passt, dass im 2. Akt, in seinem Palast, die Gemälde alter Meister abgehängt sind. Der Gott anrufende Chorgesang, der zwischenzeitlich erklingt, dröhnt dem Finsterling in den Ohren. Mag er auch Trost suchen in den Armen einer Nonne (eines Engels?) und dabei der „Erbarme Dich…“-Arie aus Bachs „Matthäuspassion“ lauschen, Frieden findet dieser Mensch im Diesseits wohl nicht mehr. Und sein Tod wird einhergehen mit dem Ende der Despotie in Rom, eingeleitet durch Napoleons Sieg. Die Exekution Cavaradossis, das Übermalen seiner Nackten, ist nur ein letztes Aufzucken des alten Regimes.

Tosca, die kühle Diva, mit dem armselig schmachtenden Scarpia. Foto: Pedro Malinowski

Tosca, die kühle Diva, mit dem armselig schmachtenden Scarpia. Foto: Pedro Malinowski

Insofern hat diese Produktion durchaus politischen Charakter. Wenn dieser auch durch die Personenführung nicht explizit beglaubigt wird. Andererseits versagt sich Regisseur Tobias Heyder die konsequente Psychologisierung.

Neben Scarpia wirken seine Gegenspieler blass. Sollte also Puccinis Oper hier lieber „Scarpia“ heißen? Ganz falsch wäre das nicht. Denn ein musikalisches Gerüst dieser Verismo-Oper sind gewiss die wuchtigen Akkordschläge, die den Bösewicht kennzeichnen. Andererseits hat der Komponist sein Werk mit sanfter Liebeslyrik ausklingen lassen – ein Zeichen der Hoffnung gegen die brutale Despotie.

Wuchtige Dramatik und sensible, leidenschaftliche Schwingungen: Das klingende Spektrum ist bei Dirigent Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen in allerbesten Händen. Hier spielen sich aller Hass, alles Aufbegehren und innige Liebe ab. Entäußerungen, die der Regisseur den Figuren teils versagt, haben ihren Platz in der musikalischen Umsetzung. Der tönende Bruitismus ist von unglaublicher Schärfe. Die Mordszene (Tosca-Scarpia) gewinnt nur im Orchester wirklich erschreckende Kontur. Im Graben wüten die emotionalen Wechselbäder.

Mithalten kann da nur Aris Argiris als Scarpia. Die baritonale Mittellage verfügt über schneidende Kraft. Doch fehlt der Stimme einerseits dämonische Tiefe, zum anderen das schmierige Parlando eines Gauners. Derek Taylor singt den Maler höhensicher, wirkt gleichwohl angestrengt. Große, frei gestaltete Legatobögen sind seine Sache nicht. Da hat Petra Schmidt in der Titelpartie durchweg mehr zu bieten. Leuchtende Glut, ein Mezzoton zum Fürchten, schöne Stimmführung. Schade nur, dass ihre große Arie „Vissi d’arte“ so gleichförmig und introvertiert klingt. Aber das passt ja wohl zum Ansatz der Regie.

Der große, in sich gerundete Wurf ist die Gelsenkirchener „Tosca“ also nicht. Eher der, durchaus diskussionswürdige, Versuch einer unkonventionellen Annäherung. Gleichwohl gilt: Unbedingt hingehen, allein schon wegen des famosen Orchesters.

Nächste Aufführungen: 27. Dezember 2015 (15 Uhr), 2. Januar, 14. Januar, 16. Januar und 5. Februar 2016 (jeweils 19.30 Uhr). Infos: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Tosca/




Trashiger Kirchen-Trip – Wenzel Storchs „Maschinengewehr Gottes“ in Dortmund

Thorsten Bihegue Leon MŸller Finnja Loddenkemper

Drei Meßdiener suchen einen Priester: Egon (Thorsten Bihegue, vorn), Lutz (Leon MüŸller) und Erika (Finnja Loddenkemper). Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Geschichte muß man nicht glauben, aber sie erzählt sich gut: Nesselrodes Kaplan Buffo ist komplett ausgeflippt, hat sich in der Dorfkneipe betrunken, auf den Tischen getanzt und schließlich die Gemeinde samt Kirche und Schäfchen beim Knobeln an Bauer Hümpel verloren.

Jetzt fehlt von ihm jede Spur, zurück bleiben im Beichtstuhl der Oberministrant, die Meßdienerin und der Meßdiener in ihren roten Gewändern. Am nächsten Morgen kommt Bauer Hümpel mit dem Trecker und pflügt die Kirche erstmal unter, um Erbsen anzubauen. Es sieht nicht gut aus für den örtlichen Katholizismus in Wenzel Storchs neuem Stück „Das Maschinengewehr Gottes“, das jetzt im Studio des Dortmunder Schauspiels und in der Regie des Autors seine Uraufführung erlebte.

Was also tun, um Gottes Willen? Die verschreckte Meßdienerschaft schmeißt ihr Geld zusammen und erwirbt im Christlichen Kaufhaus einen neuen Priester, der sich indes bald als schießender Automat entpuppt und explodiert. Vorher hat er noch, ein Kassettenrekorder ist eingebaut, markige Sprüche von Pater Leppich abgelassen, der (das ist jetzt nicht erfunden) in den 50er Jahren die katholische Christenheit mit sexualfeindlichen, repressiven Brutalbotschaften missionierte oder besser vielleicht: einschüchterte. Man nannte ihn so, wie Wenzel Storch nun auch sein neuestes Stück genannt hat: „Das Maschinengewehr Gottes“.

Andreas Beck Thorsten Bihegue

„Das Maschinengewehr Gottes“ (Andreas Beck, vorn) und Meßdiener Egon (Thorsten Bihegue).(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kloster-Domina und Hostinettenbär

Ich erzähl die Geschichte noch ein bißchen weiter, sie ist wirklich witzig. In den Überresten des explodierten Priesters denn also finden die Meßdiener Hinweise auf ein Damenkloster im fernen Schlesien, wo bei der Oberin Ejaculata die Lösung der Probleme liegen könnte. Übrigens heißt die Oberin dort Domina, kommt aus dem Lateinischen, was keiner mehr versteht.

Durch das gefährliche Rote-Bete-Gebirge machen sich die frommen Nesselroder Meßdiener auf zum legendären schlesischen Kloster, wo sich die Oberin, wie sich bald nach der Ankunft herausstellt, weitgehend von den anderen zurückgezogen hat und nur noch ganz spezielle Hostien zu sich nimmt. Die Hostien bringt der Hostinettenbär, und immer, wenn er da war, geht’s der Mutter Oberin besonders gut. Dann hat sie wohl, wie wir Altvorderen zu sagen pflegten, ein saures Köpfchen, dann ist sie auf dem Trip. Liegt in dieser Erkenntnis die Lösung der Probleme?

Die Trips der Mutter Oberin – mit der Nacherzählung soll es an dieser Stelle sein Bewenden haben – fügen sich gleichsam nahtlos ein in diese fiebrig irrlichternde, trashige und meistens auch recht lustige Geschichte, in der alle irgendwie und irgendwo auf einem Trip sind, die Personen des Stücks ebenso wie die realen Vorbilder, allen voran der schon erwähnte Pater Leppich.

Zum Schluß tanzen die Bäume

Doch auch Schriftsteller, die jungen katholischen Seelen mit Buchtiteln wie „Satanella oder die Rache des Geissler“ den rechten Weg weisen wollten, waren wohl auf ihrem speziellen Trip, jedenfalls recht schräg drauf. Das „Einführungsreferat“ des Gemeindereferenten gibt zu Beginn der Aufführung einen kleinen Überblick über katholische Jugendbücher der Adenauerzeit. Vielleicht hat sich Storch sogar ein bißchen von ihnen inspirieren lassen, doch wir wollen nichts unterstellen.

Julia Schubert Nonnen (Mitglieder des Dortmunder Sprechchors) Thorsten Bihegue Finnja Loddenkemper Leon MŸller

Schwester Adelheid (Julia Schubert, vorn mit Notenblatt) und einige schlesische Nonnen (Damen des Dortmunder Sprechchors). Rechts im Bild die wackeren Meßdiener. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Und schon gar keinen Drogenmißbrauch! Aber das Theaterstück ist ein Trip, und man muß dankbar sein, daß der Horror sich nur von Ferne andeutet. Denn sonst wäre das ein Horrortrip, und die gibt es bekanntlich ja auch. Hier aber wird alles gut, und gegen Ende der Veranstaltung tanzen wunderschön gestaltete, knorrige alte Bäume, für deren Herrichtung Heike Scheika genannt wird, mit Nonnen und Meßdienern über die Bühne (Pia Maria Mackert). Frohsinn pur? Lucy in the Sky? Ist doch egal.

Pädagogisches Streben

Die katholische Kirche, ein zentrales Motiv in Wenzel Storchs Weltsicht, verfügte in den 50er, 60er Jahren (und vielleicht noch immer) über ein höchst problematisches Personal, das in seinem pädagogischen Streben unsägliche Bizarrerien hervorbrachte, viele junge Menschen nachhaltig schädigte. Diese Verhältnisse will Storch offenbar dem Vergessen entreißen, sie geißeln und über sie lachen lassen. Für eine bessere Erkennbarkeit des Unsäglichen setzt er gern noch einen drauf, fügt beispielsweise kirchlichen Benamungen solche aus der Phantasie hinzu, führt etwa die frommen Schwestern vom Orden der barmherzigen Seepferdchen ein, die die Heilige Limousine anbeten.

Julia Schubert Ekkehard Freye

Julia Schubert und Ekkehard Freye im Nonnengewand, außerdem einige entzückende Bäume, mit denen man sogar tanzen kann. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Natürlich stimmt es nachdenklich, daß dieser Autor (Jahrgang 1961) so unerbittlich ist, es nicht gut sein läßt, nicht die Makel einer dunklen Vergangenheit zuschreibt, die heute überwunden ist, sondern jetzt schon sein zweites Stück über diese problematische Institution verfaßt. Letztes Jahr lief in Dortmund sein Stück „Komm in meinen Wigwam“.

Doch ist es, wie es ist. Also nehmen wir dem Storch das, was er sagt, einfach mal ab und erfreuen uns an dem überaus geschmeidigen, komödienhaften Abend, der dieser Obsession entspringt.

Im Spiel der Mimen ist unaufgeregte Heiterkeit der Grundton, freundliche Gespräche reihen sich, niemals verliert jemand die Beherrschung, und häufiger ertappt man sich bei der Frage, ob die mit kraftvollen Kalauern reich garnierten Dialoge komplexe Doppeldeutigkeit prägt oder ob sie nur blühender Nonsens sind. Bemerkenswert ist schließlich die sorgfältige, stets jedoch moderat bleibende Garnierung mit stimmigen Sounds, Melodien und Schlagern (Gertfried Lammersdorf).

Andreas Beck Leon Müller

Andreas Beck und Leon Müller (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein starkes Ensemble

Nun aber, endlich, gilt es die starke Darstellerriege zu preisen, aus der Thorsten Bihegue hervorragt, denn wir ja schon aus dem Wigwam kennen. Als gehemmter, dürrer und immer etwas enthoben daherschreitender Oberministrant ist er mit seinem scheuem Lächeln nichts weniger als die Idealbesetzung und die Hauptfigur des Abends.

Andreas Beck verkörpert mit beeindruckender Leibesfülle gleich fünf Personen, Bruder Stanislaus, das Maschinengewehr Gottes, Schankwirtin, Weihbischof und Bauer Hümpel. Heinrich Fischer, der Senior aus dem Seniorenclub des Schauspiels Dortmund, hat mit seinem kehlig–westfälischen Zungenschlag ebenfalls fünf Personen zwischen Kaplan Buffo und Doktor Drammammapp auf der Liste und meistert das problemlos.

Finnja Loddenkämper und Leon Müller, beide Mitglieder des Jugendclubs „Theaterpartisanen“, überzeugen als Meßdiener Erika und Lutz, Ekkehard Freye schließlich ist als sportlicher Postbote auf dem Klappfahrrad so etwas wie der „Sidekick“, ein guter Geist mit frischen Postnachrichten, die die Handlung immer wieder vorantreiben.

Schließlich zu nennen bleiben Maximilian Kurth (Gemeindehelferin), Maximilian Steffan (Hostinettenbär) und Julia Schubert (Schwester Adelheid) sowie acht Damen des Dortmunder Sprechchors (Namen unten), die hier die schlesischen Nonnen geben. Und alle, alle spielen sie dieses Stück in einer schauspielerischen Qualität, die man sich auf dieser Studiobühne immer wünschen würde.

Begeisterter Applaus.

(Die Damen des Dortmunder Sprechchores sind Annette Struck, Birgit Rumpel, Sabine Kaspzyck, Regine Anacker, Solveig Erdmann, Heike Lorenz, Katrin Osbelt und Ulrike Wildt).

  • Weitere Termine: 17., 27. Dezember 2015, 17. Januar 2016.
  • Infos und Karten Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de



Erste Premiere im „Megastore“: Jelineks NSU-Drama „Das schweigende Mädchen“

Frank Genser Bettina Lieder Marlena Keil Friederike Tiefenbacher Uwe Schmieder

Theater für ein stehendes Publikum im „Megastore“ mit (von links) Frank Genser, Bettina Lieder, Marlena Keil, Friederike Tiefenbacher und Uwe Schmieder (Foto: Birgit Hupeld/Theater Dortmund)

Die Ankündigung der Angeklagten Beate Zschäpe, auszusagen, verhalf dem Stück zu ungeahnter Aktualität. Doch eingeplant worden war „Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek schon vor Monaten, als erste Premiere im „Megastore“, der neuen temporären Spielstätte des Dortmunder Schauspiels. So richtig aktuell geriet die Produktion daher letztlich auch nicht.

Trotz einiger kleiner textlicher Anpassungen an jüngste Entwicklungen im sogenannten NSU-Prozeß blieb der nachrichtliche Stand September 2014 (oder noch ein bißchen früher), als das Stück seine Uraufführung in München erlebte. Es ist, wie man hier wieder sieht, das Los aktueller Themen, daß sie sehr schnell verblassen.

Indes: Erledigt ist das Thema ja nicht. Noch immer fragen viele Experten gerade so wie das Stück – wenn auch nicht in dessen auffahrendem, hochmoralisch anklagendem Ton -, wie es zu einem derart desaströsen Versagen der ermittelnden Behörden, in Sonderheit des Verfassungsschutzes, kommen konnte. Und nicht nur die üblichen Verschwörungstheoretiker halten weitere Täter und eine Vernetzung des NSU innerhalb der rechtsradikalen Szene allemal für vorstellbar.

Das Problem eines Prozesses gegen die einzige Überlebende des Terror-Trios ist nur, daß er eben nicht solche Fragen in den Mittelpunkt stellen darf, sondern die Schuld der Angeklagten ermitteln muß, um sie angemessen verurteilen zu können. Und da gibt es nichts Neues. Offenbar auch nicht, nachdem die Angeklagte ihr Schweigen brach.

Wut und Fassungslosigkeit

Elfriede Jelineks Stück wußte vor gut einem Jahr ebenfalls nichts Neues zu erzählen, und auch Michael Simon (Inszenierung/Bühne) kann in seiner Dortmunder Megastore-Einrichtung nichts Neues erzählen, kann das Bekannte nur mit Wut und Fassungslosigkeit deklamieren lassen und die von Jelinek behaupteten Bezüglichkeiten zwischen deutscher Identität und rechtem Terrorismus in Szenen und Bilder einpassen.

Aus einstmals 224 Seiten Jelinek-Text wurden in Dortmund etwa 70 Minuten Theater, die vom Publikum in der ersten Hälfte stehend, in der zweiten sitzend wahrgenommen werden. Es geht da, fast wörtlich zu verstehen, zunächst ziemlich durcheinander, wenn skandalöse Details diverser Tathergänge zornig nachvollführt und nacherzählt werden, wenn beispielsweise von jenem Verfassungsschutzagenten berichtet wird, der einen Mord nicht bemerkt haben will, obwohl er praktisch daneben saß.

Teil zwei, das Publikum sitzt nun auf den neuen, hinlänglich bequemen „Megastore“-Rängen (die sicherlich flexibel eingesetzt werden können), beginnt mit der Gerichtsverhandlung, in der der Schauspieler Uwe Schmieder zunächst den Richter gibt, unwillig, vorurteilsbeladen, und sodann, nachdem er den Prozeßtag schnell beendet hat, in eine Art Alptraum stürzt, in dem Monsterwesen ihm arg zusetzen und in dem er schließlich gar Fäkalien essen muß, die ihm eine Putzfrau verabreicht, die ihren Durst aus der Reinigungsmittelflasche löscht.

Flecken, die nie wieder rausgehen, waren schon in Teil 1, raunend beschworen vom Dortmunder Sprechchor, von zentraler Bedeutung, hier tauchen sie sehr real wieder auf, zumal der arme Alpträumende auch noch bedeutungsschwer mit geschredderten Aktenseiten bestreut und von einem Monsterzwerg bepinkelt wird.

Assoziative Elemente

Das Altarbild einer Kreuzigung im Hintergrund wird von den Figuren (Rollen gibt es auf dem Programmzettel nicht) pantomimisch nachgestellt und scheint Terroristen-Phantasien von bibelgleicher Dreieinigkeit im nationalistischen Martyrium bedeuten zu sollen; es gibt der assoziativen Elemente etliche mehr, doch bleiben sie im wilden Gang des Geschehens häufig zu unscharf, um tiefen Eindruck zu hinterlassen. Schließlich schreien die Darstellerinnen dem Publikum Einzelheiten der Mordtaten voll Wut und Vorwurf in die Gesichter, stellen sich sodann eine nach der anderen unter die Namen der Opfer, die auf die Wand geschrieben sind, und schließlich geht, Lampe für Lampe, langsam das Licht aus.

Dortmunder Sprechchor

Dortmunder Sprechchor (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nun ja.

Die große Halle ist eine Chance

Wenn ein Theater bespielt werden muß, das eigentlich ein Baukörper aus zwei modernen Industriehallen und einigen Nebenräumen ist, so verlangt dies nach neuen Ideen. Simon und seine Regie-Mitarbeiterin Ariane Andereggen haben, zumal im ersten Teil, mit beweglichen Podestelementen und rollenden Requisiten wie beispielsweise einem geschrotteten Polizeiwagen da durchaus einiges entwickelt, und schön wäre es, wenn auch in weiteren Produktionen diese Räume vor allem als Chance und Herausforderung begriffen würden. Teile des Raumes durch „Abhängen“ mit Stoffbahnen verkleinern, das kann man immer noch machen, als ultima Ratio. Daß aber auch ganz andere Sachen in solchen Hallen möglich sind, beweist ja seit vielen Jahren schon die Ruhrtriennale.

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Mitwirkende: Marlena Keil, Bettina Lieder, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth, Frank Genser.

  • Die nächsten Termine: 17. Dezember, 27. Dezember 2015, 16. Januar 2016.
  • Informationen und Karten Tel. 0231 / 50 27 222
  • http://www.theaterdo.de/detail/event/16586/



„Was ich mag? Das Leben!“ – Vor 100 Jahren wurde der Schauspieler Curd Jürgens geboren

„Sechzig Jahre – und kein bisschen weise“. Das geflügelte Wort stammt aus einem Schlager, den Curd Jürgens 1975 auf einer „Polydor“-Schallplatte eingesungen hat. Der Satz könnte auch über dem Leben des blonden Publikumslieblings stehen: Denn Jürgens wurde nie „weise“. Seine schweren Herzoperationen hielten ihn nicht davon ab, weiter gut zu essen, ordentlich zu trinken und viel zu rauchen. Und so starb er mit nur 66 Jahren in Wien während der Dreharbeiten zum Film „Teheran 43“.

Cover der neuen, im Aufbau-Verlag erschienenen Curd-Jürgens-Biographie von Heike Specht - Daten siehe am Schluss dieses Artikels. (© Aufbau-Verlag)

Cover der neuen, im Aufbau-Verlag erschienenen Curd-Jürgens-Biographie von Heike Specht, 480 Seiten, 22,95 € – Daten siehe auch am Schluss dieses Artikels. (© Aufbau-Verlag)

„… und kein bisschen weise“ ist auch der Titel seiner 1976 erschienenen Autobiografie. Ein Zeugnis eines lebensgierigen Mannes, der vor 100 Jahren – am 13. Dezember 1915 – in München geboren wurde und 45 Jahre lang ein Star war. Auf alles, so zitierte er Oscar Wilde, könne er verzichten, nur auf Luxus nicht. Den gönnte sich Curd Jürgens, wie er ihn von Beginn seines Lebens an gewöhnt war: Wohnsitze in den Pariser Champs-Elysées, in Zürich, Wien, der Schweiz und auf den Bahamas; in den Garagen Nobelmarken wie Rolls-Royce und Bentley, Mercedes und Porsche für den „Alltag“, fünf Ehefrauen und eine heiße Affäre mit Romy Schneider, dazu unzählige Bewunderinnen: Curd Jürgens brachte den Glamour des Lebemanns in die graue Nachkriegszeit in Europa.

Nicht nur ein schnoddriges Raubein

Die raue Hülle, die zupackende Energie, der grenzenlose Optimismus seiner Ausstrahlung: Jürgens zeigte der Welt die Seite seiner Persönlichkeit, die sie gerne sehen wollte. Die andere, intime offenbarte sich erst aus seinem Nachlass: In den privaten Aufzeichnungen erleben wir einen Jürgens, der vor dem Gedanken an den Tod erschrickt, der um seine verlorene Liebe trauert, der betet. Aber wir finden auch das schnoddrigen Raubein, als das er sich auch in seinen Filmen gerne inszenieren ließ, und den nach dem Leben fiebernden, glamourösen Bonvivant.

Um ein Haar hätten wir nie von Jürgens‘ verborgenen Seiten erfahren: Seiner letzten Frau Margie hatte er aufgetragen, nach der Beerdigung ein großes Fest zu feiern und am Ende im leeren Swimmingpool der Villa bei Nizza den Nachlass anzuzünden. Margie Jürgens folgte dem nicht, sondern überließ den Stapel von Zeitungsartikeln, Kritiken, Filmplakaten, Fotos, (Liebes-)Briefen und Tagebüchern dem Deutschen Filmmuseum in Frankfurt. Zum 100. Geburtstag des Schauspielers gestaltet das Museum eine virtuelle Ausstellung im Internet: http://curdjuergens.deutsches-filminstitut.de/

Jürgens‘ Vater war ein wohlhabender Hamburger Kaufmann, seine Mutter eine Lehrerin aus Frankreich. Die Karriere als Schauspieler strebte er bereits als Jugendlicher an. Jürgens arbeitete als Journalist und nahm parallel Unterricht; als Anfänger wurde er 1935 ans Dresdner Metropoltheater engagiert, wechselte aber ein Jahr später ans Theater am Kurfürstendamm in Berlin.

Bereits als Zwanzigjähriger wirkte er in seinem ersten Film „Königswalzer“ mit. Rund 160 sollten es in den folgenden vier Jahrzehnten werden. Um seinen aufwändigen Lebensstil zu finanzieren, scheute Jürgens nicht vor banalen Rollen zurück. Von „Küssen ist keine Sünd‘“ bis zur „Rose vom Wörthersee“ tingelte er sich durch das belanglose deutsche und österreichische Nachkriegskino. Titel wie „Käpt’n Rauhbein aus St. Pauli“ (1971) spielten perfekt mit dem Image des blonden, blauäugigen Hünen.

Doch seine Qualitäten zeigte Jürgens in anderen Zusammenhängen. Auf dem Theater zum Beispiel: Da spielte er am Wiener Burgtheater etwa in Brechts „Das Leben des Galilei“ oder in München in „Liliom“ von Franz Molnár. Bei den Salzburger Festspielen war er von 1973-1977 ein legendärer „Jedermann“. Und zum letzten Mal stand er in einer Oper auf der Bühne: 1980 gab er die Sprechrolle des Bassa Selim in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ bei einem Gastspiel der Bayerischen Staatsoper in Japan.

Ein Sozialist im Rolls Royce

Sein feudaler Lebensstil hielt Jürgens nicht davon ab, sich politisch als links einzuordnen: Willy Brandt begeisterte ihn ob seiner moralischen Integrität und der Gegnerschaft zu den Nazis. Brecht spielte er nicht nur, weil er die Rollen hervorragend fand, sondern auch aus politischer Überzeugung. „Ich bin Sozialist“, sagte er einmal, „und wenn man mir dies hin und wieder zum Vorwurf macht, auch dass ich dazu noch einen Rolls Royce fahre, so meine ich: Besser ein Sozialist im Rolls als ein Faschist im Panzerwagen.“

1955 spielte er in Helmut Käutners Film „Des Teufels General“ nach Carl Zuckmayers Theaterstück den General Harras – eine Rolle, in der sich sein eigener ambivalenter Lebensstil widerspiegelt. Der leichtlebige, politisch eher holzschnittartig denkende, aufrichtige Militär, der am Ende seinem Gewissen verpflichtet den Tod wählt, hat Jürgens in die erste Riege internationaler Schauspielkunst aufrücken lassen; mit Robert Siodmaks „Die Ratten“ nach Gerhart Hauptmann bestätigte er seinen Rang als Charakterdarsteller.

„Was ich mag? Das Leben!“, sagte er einmal in einem Interview. Seinem Tod am 18. Juni 1982 folgte ein Begräbnis in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof.

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Virtuelle Ausstellung, TV-Sendungen und neue Biographie

Die virtuelle Ausstellung des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt zum 100. Geburtstag von Curd Jürgens wird zum 13. Dezember freigeschaltet: http://curdjuergens.deutsches-filminstitut.de/

Sein bekanntes Lied „Sechzig Jahre – und kein bisschen weise…“ ist hier zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=BqfvLP–4Ew

Das Fernsehen würdigt Jürgens mit der Ausstrahlung von Filmen. „Katja, die ungekrönte Kaiserin“ von Robert Siodmak (1959) mit Romy Schneider als Katja zeigen das Bayerische Fernsehen am 13. Dezember, 13.50 Uhr, und das ARD-Vormittagsprogramm am 14. Dezember um 10.05 Uhr.

In einigen dritten Programmen zu sehen ist am 12. Dezember, 23.20 Uhr, Helmut Käutners „Der Schinderhannes“ nach Carl Zuckmayer, u.a. mit Maria Schell, Siegfried Lowitz und Eva Pflug. Der MDR zeigt am Montag, 14. Dezember, 23.40 Uhr die legendäre Zuckmayer-Verfilmung „Des Teufels General“.

Der Westdeutsche Rundfunk widmet seine „Flimmerkiste“ auf WDR 4 am 13. Dezember, 17.25 Uhr, dem Jubilar. http://www.wdr4.de/musik/liebhabersendungen/flimmerkiste/geburtstag-curd-juergens-100.html

In der Sendung wird auch die neue Curd-Jürgens-Biografie von Heike Specht vorgestellt, die im Aufbau-Verlag erscheint. http://www.aufbau-verlag.de/index.php/sachbuch/kunst-kultur/curd-jurgens.html




Kindermorde als Gruselshow – WLT bringt den Filmklassiker „M“ von Fritz Lang auf die Bühne

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M (Heiko Grosche) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Vor wenigen Tagen lief er noch mal im Fernsehen: „M – eine Stadt sucht einen Mörder“, der Kinoklassiker von Fritz Lang aus dem Jahr 1931. Sein Thema ist von ungebrochener Aktualität. Immer wieder muss man in der Zeitung von Männern lesen, die Kinder sexuell missbrauchen und ermorden, in 80 Jahren hat sich da offenbar kaum etwas geändert.

Lange auch, bevor Fritz Lang mit „M“ seinen ersten Tonfilm drehte, gab es schon die schaurigen Geschichten von den unsichtbaren Kindermördern. Die Bühnenfassung des Westfälischen Landestheaters, die jetzt in der Stadthalle Castrop-Rauxel ihre Uraufführung erlebte, verweist mit einem an die schwarzen Wände geschmierten „Kinderlied“ darauf: „Warte, warte nur ein Weilchen…“ (Ausstattung: Manfred Kaderk).

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Der Conférencier (Thomas Zimmer) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Hamann war ein Vorbild für M

Doch anders, als dort notiert, geht es in dem gruseligen Liedchen nicht allgemein um den „schwarzen Mann“, sondern um Fritz Hamann, den Hannoveraner Serienmörder von 24 Knaben und jungen Männern, der dafür zum Tode verurteilt und 1925 hingerichtet wurde. Das gruselige Thema fasziniert die Massen, und in Castrop singen sie es auf der Bühne, ausgelassen, gar zur Polonaise.

Der Film bleibt erkennbar

Die Polonaise aber ist eher ein Ausreißer; für den größten Teil des Abends folgt die Inszenierung brav der filmischen Vorlage, bis in manche altertümelnden Formulierungen hinein. Hier wie dort ist man beispielsweise noch „auf eine Zeitung abonniert“, was so ja kein Mensch mehr sagen würde.

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Der blinde Luftballonverkäufer und der Mörder (Guido Thurk und Heiko Grosche) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Szene um Szene wird abgearbeitet, was Fritz Lang damals auf die Leinwand brachte: Die Geschichte eines Störers, den die Polizei ebenso unschädlich machen will wie die vorzüglich organisierte Verbrecherschaft der Hauptstadt, deren kriminelle Aktivitäten unter der hektischen Fahndungsarbeit der Polizei leiden. Die Kriminellen fangen den Mörder, stellen ihn vor ein Tribunal, und erst in letzter Sekunde verhindert die Polizei einen Lynchmord; dem Gesetz ist Genüge getan, doch auf beunruhigende Weise ging es im Ganoven-Prozess um „wertes“ und „unwertes“ Leben eines Täters, postuliert der Film eine gewisse Gleichrangigkeit von Ganoven und Staatsgewalt, die beide mit mehr oder weniger Legitimation ihr Ding machen. Die Nazis nahmen, wie man weiß, solche gesellschaftlichen Unmutsäußerungen der Weimarer Republik dankbar auf und machten sie zu Bestandteilen ihrer Ideologie.

Kinderbälle auf der Bühne

Meistens freut man sich ja, wenn Stücke und Vorlagen im Theater erkennbar bleiben; hier jedoch hätte in der Regiearbeit (Markus Kopf) gern ein bisschen mehr Gewichtung sein können, etwas mehr energische Inszenierung. Szene für Szene treibt die Geschichte ihrem Ende zu, und was der Film etwa in furiosen Gegenschnitten erzählt, reduziert sich auf der Bühne zu laut vorgetragener Erregtheit.

Dabei fängt die Bühnenfassung vielversprechend an, wenn zunächst nur einige rote und blaue Kinderbälle aus der düsteren, verwinkelten, vollgekritzelten Kulisse rollen, wenn Menschen eilig durch das Bild huschen und offenbar nicht erkannt werden wollen und auch noch, wenn Passanten von einer hysterischen Menschenmasse gestellt und der Kinderschändung bezichtigt werden.

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M (Heiko Grosche) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Der Conférencier weckt Erwartungen

Auch die Einführung eines öligen „Conférenciers“, den der Film nicht vorsieht und dem Thomas Zimmer mit viel Einsatz Kontur verleiht, erscheint zunächst sinnhaft, übernimmt er doch Teile der filmischen Erzählung wie etwa einige Telefonmonologe, die auf der Bühne sicherlich äußerst steif wirken würden.

Die große Kindermördershow denn also? Warum nicht, wenn es das Thema trifft. Vielleicht hätte man zudem einen ehemaligen Bundeskanzler auftreten lassen sollen, der etwas von „Wegsperren, und zwar für immer“ knurrt.

Doch leider bleibt diese Inszenierung nicht nur gänzlich ironiefrei, sondern sie glaubt erkennbar auch nicht an die eigene Idee von der peppig moderierten Bühnenunterhaltung. Die Auftritte des Conférenciers, die zu Beginn spielbestimmend sind, reduzieren sich bald schon stark und machen dem schlichten Nachspiel Platz. Es fällt schwer, darin ein Konzept oder eine Regieidee zu erkennen.

Überzeugendes Ensemble

Der munter aufspielenden Darstellerriege ist zu danken, dass dieser Theaterabend trotzdem eher in angenehmer Erinnerung bleibt. Samira Hempel macht vor allem als berufspolitisch engagierte Hure (wieder einmal) eine gute Figur, Burghard Braun, wenngleich seinem filmischen Vorbild Gustaf Gründgens nicht eben aus dem Gesicht geschnitten, ist ein überzeugender „Schränker“. Pia Seiferth und Vesna Buljevic wissen in verschiedenen Frauenrollen (Frau Beckmann, Wirtin u.a.) ebenso für sich einzunehmen wie Guido Thurk als Bettler und Bülent Özdil als Kommissar Lohmann. Heiko Grosche schließlich ist der Mörder, die Idealbesetzung geradezu für den netten Nachbarn von nebenan, dem niemand so etwas zutrauen würde.

Herzlicher Applaus.

  • Weitere Aufführungstermine:
  • 14.12.2015  20.00h   Versmold Aula der Hauptschule
  • 17.01.2016  18.00h   Hameln Theater
  • 26.02.2016  20.00h   Dormagen Gymnasium
  • 02.03.2016  19.30h   Radevormwald Bürgerhaus
  • 11.03.2016  19.30h   Witten Saalbau
  • 13.03.2016  19.00h   Herford Stadttheater
  • 14.03.2016  19.30h   Bottrop Josef-Albers-Gymnasium
  • 14.04.2016  19.30h   Rheine Stadthalle
  • 26.04.2016  20.00h   Heinsberg Stadthalle-Begegnungsstätte
  • 04.05.2016  19.30h   Bad Oeynhausen Theater im Park
  • www.westfaelisches-landestheater.de

 




Zwischen Talkshow und Happening – die Triennale auf musikhistorischer Lesereise

Blick auf die skandalträchtige Uraufführungschoreographie von Strawinskys "Sacre". Foto: Christoph Sebastian

Blick auf die skandalträchtige Uraufführungschoreographie des  „Sacre“. Foto: Christoph Sebastian

Ach Du lieber Gott! Da hopsen und tanzen seltsame Hutzelmännchen, mit Vollbart verziert und Bärenfell behangen, wie Indianer auf dem Kriegspfad umeinander, und das zu Igor Strawinskys archaischer, brutaler, rhythmusgesättigter „Sacre“-Musik.

Es sei gestattet, ein wenig zu lachen, auch wenn hier, als filmisches Dokument, die Rekonstruktion der Uraufführungschoreographie gezeigt wird (1913 in Paris, von Waslaw Nijinsky), die immerhin einen der größten Theaterskandale des beginnenden 20. Jahrhunderts ausgelöst hat. Sodass die Musik im tumultuösen Lärm des erhitzten Publikums beinahe unterging.

Nicht zuletzt auf Eklats dieser Art hat der amerikanische Musikkritiker Alex Ross wohl bei der Titelgebung seines Buches geblickt: „The Rest is Noise“ erzählt eine Geschichte von der tönenden Moderne, die nicht wenige Zeitgenossen als Lärm abtaten, von einer Moderne, die andererseits den Lärm der Welt durchaus spiegelte. Der Autor entwirft dabei ein großformatiges Gemälde, das die musikalische Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts in Beziehung setzen will zu politischen, philosophischen, soziologischen Strömungen jener Epoche. Ein überquellendes Kompendium, nicht frei indes von steilen Thesen, „Vielleicht“- und Konjunktivsätzen, Halbwahrheiten.

Sei’s drum: Triennale-Intendant Johan Simons hat das Buch ins Herz geschlossen und schon als Chef der Münchner Kammerspiele szenische Lesungen erarbeitet. Die finden nun ihre sechsteilige Fortsetzung in Schauspielhäusern des Ruhrgebiets. Diese Kooperation mit Theatern des Reviers, anfangs vollmundig beschworen, vereinzelt realisiert, dann aber schmählich fallen gelassen, erfährt also nun eine gewisse Renaissance. Das ist nur recht und billig: dass die Triennale sich bei allen europäischen Leuchtturmprojekten noch der Leistungsfähigkeit der traditionsreichen städtischen Bühnen und ihrer Ensembles bewusst wird.

Stephanie Schönfeld in der Rolle des Buchautors Alex Ross. Foto: Christoph Sebastian

Stephanie Schönfeld in der Rolle des Buchautors Alex Ross. Foto: Christoph Sebastian

Johan Simons’ Musikvermittlung der besonderen Art startet im Essener Grillo-Theater und verhandelt zunächst die letzte Jahrhundertwende, das Fin de Siècle, mithin die Komponisten Mahler und Strauss, um sich dann im 2. Teil hauptsächlich eben des „Sacre“ anzunehmen.

Der eingangs erwähnte Videoschnipsel bleibt alleiniger Filmbeitrag, ansonsten wird fleißig rezitiert. Doch längst nicht alles, was wir in der Lesefassung von Julia Lochte und Tobias Staab zu hören bekommen, entstammt direkt dem Buch. Manche Zitate gehen weit darüber hinaus. Ross’ Werk wird zum Steinbruch, andere Quellen (zu erschließen aus den Anmerkungen des Buches?!) kommen hinzu. Das Schöne ist: Wenn in Simons’ Inszenierung die Figuren selbst sprechen, wenn also die Zeitzeugen etwa über den „Sacre“-Skandal in Form einer aufregenden Collage berichten, gewinnt die Geschichte weit mehr Authentizität als durch die Einlassungen von Alex Ross.

Da gibt Axel Holst einen fein formulierenden Harry Graf Kessler, Stefan Diekmann einen spitzzüngigen Jean Cocteau, und die resolute Ingrid Domann zitiert im Agitpropstil harsche Kritiken aus der zeitgenössischen Weltpresse. Der wunde Punkt von Strawinskys Musik ist schnell benannt: die Dissonanz. Sie ist im übrigen in Ross’ Buch das Element, das die Entwicklung der tönenden Moderne geprägt hat. Sie emanzipiert sich indes nicht erst, das sei nur am Rande angemerkt, seit den späten Stücken eines Franz Liszt. Es gibt Werke der Renaissance, die würde der arglose Hörer im 20. Jahrhundert verorten.

Gestatten: Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler (Thomas Büchel, Janina Sachau, Jens Winterstein, v.l.n.r.). Foto: Christoph Sebastian

Gestatten: Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler (Thomas Büchel, Janina Sachau, Jens Winterstein, v.l.n.r.). Foto: Christoph Sebastian

Vieles von Ross’ Text, der, wie erwähnt, mit Strauss und Mahler beginnt, wird von Stephanie Schönfeld gelesen. Sie sitzt auf der T-förmigen Bühne auf einem Drehstuhl, fungiert als Wegbereiterin für den Einsatz der jeweiligen „Zeitgenossen“. Thomas Büchel (Strauss) und Jens Winterstein (Mahler) wirken dabei eher verhalten, lümmeln sich auf ihren Plätzen, wollen hintersinnig witzig sein, verleihen dem Abend aber leichte Zähigkeit. In der hinteren Reihe weitere Akteure: etwa Axel Holst als nöliger Kaiser Wilhelm oder Jan Pröhl als teils bärbeißiger, teils gesetzter Debussy.

Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Talkshow und studentischem Happening. Es ist ein unterhaltsamer Abend mit Stärken und Schwächen. Musiker der Bochumer Symphoniker streuen hier und da klingende Beispiele ein, etwa zwei Sätze aus Debussys Streichquartett.

Über allem schwebt die Frage zur Rolle des Publikums, das einst etwa Strauss’ modernistische „Salome“ bejubelte, das „Sacre“ aber erst allmählich goutierte. Debussy und Schönberg wiederum hatten für ihre Zuhörer mitunter nur Verachtung übrig. Die Vorstellung im „Grillo“ indes wird einhellig beklatscht. Dennoch bleiben Zweifel inhaltlicher Art. Die amerikanische Sicht auf einen Teil der europäischen Musikgeschichte mutet nicht zuletzt etwas salopp an.

Die weiteren Stationen der Lesereise finden sich unter www.ruhrtriennale.de




Diktator im Dosenmüll: Theresia Walsers böse Hitler-Komödie in Düsseldorf

Wer hat sich nicht schon einmal darüber gewundert, wer alles Hitler spielt? Wie viele Filme und Bücher dem „großen Diktator“ gewidmet sind?

Sicher hängt das auch mit dem Trauma zusammen, dass eine ganze Gesellschaft sich verführen ließ und wieviel Unheil und Barbarei der Naziterror über die Welt gebracht hat.

Doch 70 Jahre nach Kriegsende ist eine humoristische Herangehensweise längst kein Tabu mehr: Gerade kletterte die Filmparodie „Er ist wieder da“ auf Platz 1 der Kinocharts. Im Düsseldorfer Schauspielhaus hatte jetzt eine kleine böse Komödie von Theresia Walser Premiere, in der drei Hitlerdarsteller über ihre Rolle diskutieren.

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

In „Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm“ sitzen drei identisch gekleidete „Hitlers“ mit dem typischen Bärtchen auf einer großen Resopalplatte auf Ledersesseln in einer Art Warteraum, vielleicht vor einem Filmcasting. Vor ihnen türmt sich ein Haufen ausgetrunkener Mineralwasserblechdosen auf. Wollen die Hitlers einmal einen Schritt tun, müssen sie sich durch den Dosenberg pflügen, dass es rauscht.

Seine geniale Komik entfaltet dieses Bühnenbild (Pia Maria Mackert) aber erst, als die Plattform beginnt, sich zu bewegen. Das korrespondiert mit dem Stücktext, in dem öfter ein wackeliger Tisch thematisiert wird, und gibt der Inszenierung (Marcus Lobbes) einen Dreh ins Slapstickhafte. Denn wenn der Boden wackelt, gerät auch der Müllberg in Bewegung und die Dosen kullern und scheppern bis in den Zuschauerraum. Die drei Hitlers haben Mühe, sich auf ihrer Spielfläche zu halten und klammern sich am Mobiliar fest, was sie einmal mehr zu Karikaturen der Karikatur von Adolf werden lässt.

In der Vorhölle gefangen

Ihr Gespräch kreist dabei hauptsächlich um Schauspielereitelkeiten und Nöte: Soll und darf man den Hitler naturalistisch anlegen wie H1 (Jonas Gruber)? Oder macht sich moralisch angreifbar, wer ihn als einen Menschen darstellt, wie H2 (Heisam Abbas) findet? Er legt Wert darauf, „seinen Hitler“ aus der Distanz heraus zu spielen. Ganz anders sieht das G (Andreas Helgi Schmidt), der überhaupt noch nie den Hitler gespielt hat, sondern bisher nur Goebbels. Er hat aus Göttingen, wo er in seinem derzeitigem Engagement nackt auf der Bühne kniend Abend für Abend mit den Zähnen die Seiten aus dem Koran reißen muss, ganz moderne, gesellschaftskritische Regie-Ideen mitgebracht: Warum Hitler nicht auf sieben Schauspieler aufteilen, für jede Facette des Bösen einen? Vielleicht mit Video-Einspielungen? Für H1 ist das eine neumodische Horrorvorstellung. Gereizt verlangt er, der in seinem Habitus ein wenig an Bruno Ganz erinnert, nach einem „Hahnenwasser“, hierzulande würde man sagen „Kranenburger“ – doch das wird nie gebracht.

Überhaupt beginnt das Casting oder Vorsprechen oder die Talk Show im ganzen Stück nicht mehr. Die drei Hitlers sind unrettbar in der Vorhölle gefangen, in Erwartung, den Teufel selbst darzustellen. Doch es will gar niemand ihren Teufel sehen. So endet die Farce wie bei Beckett im Wartestand auf etwas, das nicht eintritt: In diesem Falle, weil es ja schon vergangen ist…

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




„Eine Familie“ und „Besessen“ – zwei alptraumhafte Stücke in Dortmund

Wenn die Familie im Mittelpunkt des Stückes steht, wenn das Stück gar „Eine Familie“ heißt, dann weiß der erfahrene Theaterbesucher: Es wird dramatisch. Und es geht bestimmt nicht gut aus.

Da grüßen amerikanische Handlungsreisende und russische Dorfschullehrer in (könnte man fast sagen) reicher Zahl. Nun hatte Tracy Letts Stück im Großen Haus des Dortmunder Schauspiels Premiere. Und das auf Katastrophe eingestellte Publikum kann sich bestätigt sehen.

Frank Genser Bettina Lieder Janine Kre§ Friederike Tiefenbacher Merle Wasmuth

Leichenschmaus mit (von links) Frank Genser, Bettina Lieder, Janine Kreß, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Drei Schwestern

Wenngleich: So viel Schreckliches passiert eigentlich gar nicht, sieht man vom Suizid des Patriarchen Beverly Weston ab, der dessen Nachkommenschaft im elterlichen Haus – und in der brütenden Augusthitze des amerikanischen Mittelwestens – zusammenbringt. Er, früher mal erfolgreicher Autor, ist zum Trinker geworden, seine Frau Violet schluckt Psychopharmaka und hat Mundhöhlenkrebs, und zusammen, aber auch miteinander, waren sie unausstehlich.

Drei Schwestern (!) also treffen sich, Barbara, Karen und Ivy, zwei von ihnen mit Familie, und daß sie wie auch ihre desolaten Eltern problembeladen sind, versteht sich von selbst. Barbaras Mann Bill, Hochschullehrer, betrügt seine Gattin mit Studentinnen, die gemeinsame vierzehnjährige Tochter Jean wird von Steve, dem Verlobten Karens, zu Rauschgift und Sex verführt, Ivy schließlich liebt Little Charles, den desolaten Sohn von Violets Schwester Mattie Fae, der aber, wie sich späterhin herausstellt, nicht ihr Cousin, sondern ihr Halbbruder ist.

Unglück allerorten, und man spürt zu jeder Zeit, daß es weitergehen wird, von einer Generation an die nächste weitergereicht wird, zwangsläufig. Auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels spielen sie es in erwartetem Furor und mit streckenweise eindrucksvollem Körpereinsatz.

Frank Genser Andreas Beck (Projektion)

Große Leuchtbuchstaben; Szene mit Frank Genser als Sheriff und Andreas Beck als Bev in der Videoprojektion. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld))

Kränkungen

Aber muß das alles so schrecklich so sein, kann man denn da gar nichts machen? In einer zentralen Szene, in der die Töchter mit ihrer Mutter für kurze Zeit eine fast zärtliche Nähe entwickeln, erzählt diese die Geschichte von den Stiefeln, die sie als Dreizehnjährige so wahnsinnig gerne gehabt hätte, um einem jungen Musiker zu gefallen. Ihre Mutter hat sie damals verhöhnt, ihr statt der Stiefel ein Paar dreckige Arbeitsschuhe unter den Weihnachtsbaum gestellt. Wie kann man sein Kind so hassen?

Wahrscheinlich ist Violet viel öfter so tief gekränkt worden, als sie erinnert, und ihre gekränkte Seele weiß sich nicht anders zu helfen als damit, andere zu kränken, vor allem ihre Töchter – ein Perpetuum Mobile des Unglücks, in dem es Moral, Respekt, Vertrauen oder behütende Liebe nicht gibt.

Natürlich hätte ihr zur richtigen Zeit eine Therapie helfen können, doch dafür ist es längst zu spät, und in ihren lichten Momenten weiß Violet das auch. Friederike Tiefenbacher gibt dieses menschliche Wrack, das zwischen psychedelischem Wahn, aggressiven Attacken, irrer Destruktionslust und glasklarer Erkenntnis irrlichtert, erschreckend überzeugend. Ihre Violet ist so konsequent durchgeformt und charakterisiert, daß man Angst vor bekommt und vor ihr flieht, wie es die Töchter Barbara und Karen auch getan haben. Oder wie Ivy es plant.

Bettina Lieder Merle Wasmuth

Zwei Schwestern auf der Suche nach Nähe: Bettina Lieder (links), Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Leuchtbuchstaben

Zum Sympathieträger wird diese Violet es nicht bringen, aber das Stück ist eh nicht sonderlich reich an sympathischen Figuren. Am ehesten noch fühlt man mit der Schwesternriege (Merle Wasmuth, Julia Schubert, Bettina Lieder), die mitten im Leben steht und damit nichts anfangen kann.

Die Bühne von Wolf Gutjahr macht einen recht unaufgeräumten Eindruck. Der Bücherstapel vorne links verweist auf die intellektuelle Vergangenheit des Hausherrn, ab und an wird ein roter Vorhang hervorgezerrt, die Drehbühne dreht sich zu den Szenenwechseln. Dominiert wird die Optik durch eine Wand aus brutal dastehenden, raumhohen Leuchtbuchstaben auf der Drehbühne, die den ganzen Abend lang wechselnde englische Fünfbuchstabenwörter zeigen, EMPTY, DREAM, SHAPE, DEATH, GROPE und so fort, also: LEER, TRAUM, FORMEN, TOD, BETASTEN… Das suggeriert Prozeßhaftes, ohne daß man den zwingenden Eindruck hätte, es im eigentlich doch recht konservativ aufgebauten Stück wiederzufinden.

Das Stück macht eher den Eindruck einer Momentaufnahme, oder besser vielleicht einer Langzeitbelichtung, die aber doch nur ein einziges Bild ergibt. Gleichwohl funktioniert Sascha Hawemanns Inszenierung in diesem Bühnenbild, denn auch er bevorzugt offenbar den kraftvollen Zugriff auf den Stoff. Eine verhaltene Anlage der frühen Szenen, in denen sich entwickelt, was dann beim Leichenschmaus kulminiert und die man sich für dieses Stück durchaus auch hätte vorstellen können – das ist Hawemanns Sache nicht.

Julia Schubert Bettina Lieder Friederike Tiefenbacher Merle Wasmuth

Mutter hat geduscht. Von links: Julia Schubert, Bettina Lieder, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Cowboyhut

Das Dortmunder Ensemble ist klein, und möglicherweise auch deshalb gibt es in dieser „Familie“ einige Doppelbesetzungen: Andreas Beck ist sowohl der bald schon abtretende Selbstmörder Beverly (praktisch nur ein Monolog) und später dessen stotternder Schwiegersohn Charlie; Frank Genser gibt Karens Verlobten Steve und außerdem, mit schwarzem Cowboyhut, den Sheriff. Alexander Xell Dafov, der das Geschehen oft mit E-Gitarre und Akkordeon musikalisch sehr schön untermalt, ist zudem die serbische (!) Haushaltshilfe Johanna, die Beverly kurz vor seinem Abgang noch in einem merkwürdigen Anflug von Fürsorglichkeit eingestellt hat.

Bleiben vier Einzelbesetzungen: Carlos Lobo gibt Barbaras Mann Bill, Julia Schubert spielt Tochter Ivy, die angesichts der maroden Mutter die eigene Weiblichkeit verleugnet, Janine Kreß ist Violets Schwester Mattie Fae, Marlena Keil schließlich spielt den pummeligen Teenager Jean. Und wieder einmal ist festzustellen, daß das Gelingen dieses Abends zu einem erheblichen Teil dem homogen aufspielenden Ensemble zu danken ist.

„Der Exorzist“

Sarah Sandeh Ekkehard Freye

Rosemarie, Baby, Gerd: Szene mit Sarah Sandeh und Ekkehard Freye (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Am Abend zuvor hatte es in Dortmund eine Studio-Premiere gegeben, „Besessen“ von Jörg Buttgereit. Buttgereit gilt als „Horrorspezialist“ des Hauses, und in dieser Funktion lieferte er mit „Besessen“ jetzt schon seine fünfte Regiearbeit ab. Aber sehr fürchterlich war der Abend eigentlich nicht, eher unterhaltsam und am Schluß geradezu niedlich.

Übrigens war hier der neue Dortmunder Bühnenmusikus T.D. Finck von Finckenstein (auch bekannt als Tommy Finke), der die Nachfolge Paul Wallfischs angetreten hat, mit einer ersten recht passablen Sound-Arbeit zu hören.

VHS-Kassette

Zurück zum Stück, wo das Übel seinen Lauf nimmt, als die beiden Kumpels Gerd und Marian (Ekkehard Freye und Björn Gabriel) sich zu einem gemütlichen Hororfilm-Videoabend mit Pizza und Bier treffen. Die Geschichte spielt in den 80er Jahren, und deshalb ist es geradezu sensationell, daß Gerd den ganzen Film „Der Exorzist“ auf VHS-Kassette hat. So etwas gab es bis vor kurzem nämlich nicht, da war schon glücklich, wer 18 Minuten „Best of“ auf Super 8 sein eigen nannte.

Die beiden Männer reden sich heiß, malen sich (eher harmlos) weitere Exorzismen aus – und plötzlich, Blitz Donner, liegt Linda (Sarah Sandeh) im Bett, das Mädchen aus dem Film. Und ganz fraglos ist sie von Dämonen besessen. Sarah Sandeh führt die Stadien der Besessenheit sehr schön vor, brüllt Obszönitäten, kotzt grün, Körpereinsatz und Kondition sind bewunderungswürdig.

Einige Male schaut Das Böse in Gestalt des diabolisch geschniegelten Uwe Rohbeck vorbei, und die beiden Männer, die schon bald das Grausen packt, versuchen einen lächerlichen Exorzismus mit wandhängendem Kruzifix, um aus dem Alptraum herauszukommen.

Bjšrn Gabriel Ekkehard Freye

Zwei Horrorfreunde und ein Super-8-Streifen: Bjöšrn Gabriel (links), Ekkehard Freye. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Horror endet nicht

Aus dem Film „Der Exorzist“ kommen sie tatsächlich raus, jedoch nur, um in Polanskis „Rosmaries Baby“ zu landen. Weiter geht es mit Larry Cohens „Die Wiege des Bösen“, schließlich kommt das Stück, wenn man so sagen will, bei David Cronenbergs Scifi-Thriller „Videodrome“ an, was diesem Horrortrip dann auch (aber wie, wird nicht verraten) zu einem Ende verhilft. Ganz lustig, zumal dann, wenn man die zitierten Filme kennt (und schätzt).

Wenig Video

Bemerkenswert ist, daß an diesem Dortmunder Theaterwochenende kaum Videoprojektionen zu sehen waren, die Handkamera in der Schublade blieb und auch nicht mit Mikrophonverstärkung („Mikroports“) gespielt wurde. Zufall? Höchstwahrscheinlich schon. Aber doch auch recht angenehm. Man hatte zu keiner Zeit das Gefühl, daß dem Theater die Ausdrucksmöglichkeiten fehlten.

  • „Eine Familie – August: Osage County“. Weitere Termine: 30. Okt., 11. und 22. Nov. 2015, 19.30 Uhr (9,- bis 23,- ).
  • “Besessen”. Weitere Termine: 30. Okt., 11. und 22. Nov. 2015, 20 Uhr (19,- €, 12,50 € erm.)
  • www.theaterdo.de



„Terror“ als Stück der Stunde: Gerichtsdrama am Düsseldorfer Schauspielhaus

Ferdinand von Schirach. Foto: Michael Mann/Copyright F. v. Schirach

Ferdinand von Schirach. Foto: Michael Mann/Copyright F. v. Schirach

Ein Gerichtsprozess trägt eine Menge dramatisches Potential in sich, man muss es nur entdecken.

Jemand hat ein Verbrechen begangen und sitzt auf der Anklagebank. Ein Anwalt versucht, ihn rauszuhauen, während dessen Gegenspieler, die Staatsanwaltschaft, den Delinquenten verurteilen will. Die Zeugen schildern die Tat aus ihrer Sicht und offenbaren gerne einmal abgründige Details und haarsträubende Beobachtungen. Zuletzt urteilt über alles der Richter, der das Gesetz vertritt – oder die Gerechtigkeit?

Der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach, dessen Bücher zu ungewöhnlichen Straftaten schon lange auf der Beststellerliste stehen, hat jetzt aus diesem Stoff sein erstes Stück gemacht. Es kommt in dieser Saison nahezu zeitgleich an 16 Bühnen heraus, in Düsseldorf feierte es am Schauspielhaus Premiere.

„Terror“ entwirft ein hochaktuelles Szenario: Ein Passagierflugzeug mit 164 Insassen wurde entführt, der Terrorist droht, es in ein vollbesetztes Fußballstadion mit 70.000 Besuchern stürzen zu lassen. Ein Bundeswehrpilot steigt in seinem Kampfjet auf, will die Maschine abdrängen, keine Chance, schließlich schießt er das Flugzeug ab. Die Passagiere sterben, die Stadionbesucher leben, der Pilot kommt vor Gericht. Denn er hat gegen seinen Befehl gehandelt: Zwar erlaubt das Luftsicherheitsgesetz eine solche Maßnahme, doch das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärt, also ordnete niemand den Abschuss an. Der Pilot entschied nur aufgrund seines Gewissens.

Die Bühne (Heinz Hauser) wird komplett von einer nüchternen, grauen Richterbank eingenommen, hier sitzen in der Mitte der vorsitzende Richter (Wolfgang Reinbacher) mit der Protokollführerin (Eva-Maria Voller), links davon Anwalt (Andreas Grothgar) und Angeklagter (Moritz von Treuenfels), auf der rechten Seite die Staatsanwältin (Nicole Heesters) und die Nebenklägerin (Viola Pobitschka).

Publikum befindet über die Schuldfrage

Der Clou: Das gesamte Publikum findet sich in der Rolle des Schöffen wieder und muss am Ende entscheiden. Nach der Pause schreitet jeder nach Art des „Hammelsprungs“ entweder durch das „Schuldig“ oder das „Nicht schuldig“-Tor, die Stimmen werden gezählt. Auf der Website www.duesseldorfer-schauspielhaus.de lässt sich dann nachschauen, wie das Publikum der jeweiligen Vorstellung entscheiden hat. Die Ergebnisse der anderen Theater stellt der Verlag unter http://terror.kiepenheuer-medien.de ins Netz. Die Pause ist ans Ende des Theaterabends verlegt, so dass nur noch die Urteilsverkündung folgt. Tatsächlich hat man selten ein Publikum erlebt, dass derartig mitgeht und so leidenschaftlich eine Schuldfrage diskutiert.

Obwohl Regisseur Kurt Josef Schildknecht die künstlerischen Mittel extrem sparsam einsetzt und sich ganz auf die Kraft des Prozesses verlässt, funktioniert dieser Theaterabend. Er hat nichts Poetisches an sich und seine Sprache entstammt dem Gerichtssaal. Aber Ferdinand von Schirach erreicht etwas anderes: Er zeigt die Brisanz und die Bedeutung auf, die unsere Gesetze und unsere Verfassung für unser Leben haben. Und sie lässt uns die ethischen Dimensionen unseres Wertesystems erfassen: Wird jemand schuldig, der 70.000 Menschen rettet, weil er ein Prinzip verletzt hat? Wer entscheidet über den Wert eines Menschlebens? Wiegen 164 Leben 70.000 auf?

Nicht zuletzt hauchen die großartigen Schauspieler dem Thesenstück Leben ein: Wie Staatsanwältin Nicole Heesters mit Leidenschaft, ja Furor die Prinzipien unsere Grundgesetzes verteidigt, das lässt an das Ethos der Gründungsväter und –mütter der Bundesrepublik denken. Wie Moritz von Treuenfels als Pilot die Seelenlage des Soldaten ausgestaltet, der in Sekunden entscheiden muss und im Ernstfall keine Vorlesung mehr in Rechtsphilosophie besuchen kann. Wie seine Vorgesetzten in Person des Zeugen Christian Lauterbach (Lutz Wessel) ihn mit dieser Entscheidung im Regen stehen lassen und Alternativen wie die Räumung des Stadions gar nicht bedenken. Wie unfassbar Schock und Trauer einer Angehörigen sind, die keineswegs gefragt wurde, ob sie ihren unschuldigen Mann der Staatsraison opfern möchte, zeigt Viola Pobitschka als Franziska Meiser.

In Düsseldorf wurde der Pilot Lars Koch am Premierenabend frei gesprochen. Doch das moralische Dilemma nimmt jeder mit nach Hause.

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Konzentrierter Alptraum – „Der Prozess“ nach Franz Kafka im Westfälischen Landestheater

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Bülent Özdil in der Rolle des Franz K. (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Keine Requisiten, keine Farben. Die Einrichtung ist pure Konzentration, nichts soll ablenken von der unglaublichen Geschichte, die hier erzählt wird. Das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel zeigt Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ in einer geradezu analytischen Bühnenfassung von Christian Scholze (auch Regie), die durchaus überzeugend geraten ist.

Häufig birgt es Probleme, dicke Romane zu Bühnenstücken von wenigen Stunden Länge einzudampfen. Offenbar eignet sich Kafkas „Prozess“ jedoch gut dafür, folgt er doch einem linearen und deshalb recht schlüssig umsetzbaren Erzählstrang. Wie in einem Alptraum taumelt Josef K. durch absurde Szenen, in denen er Mal um Mal nicht verstehen kann, was alle anderen sicher zu wissen scheinen: Daß ihm ein Prozeß bevorsteht, daß er seine Unschuld beweisen muß.

Szenen des Abstiegs

Den Abstieg, wie hier, in einer Abfolge kleiner, begrenzter Szenen zu zeigen, ist naheliegend. Anders als K., der trotz wachsender Verunsicherung doch lange überzeugt ist, daß alles sich noch klären wird, sind die anderen Figuren recht burlesk gezeichnet: die Gerichtsdiener Franz und Willem (Felix Sommer und Thomas Tiberius Meikl), die Aufseherin (Samira Hempel), die Vermieterin Frau Grubach (Vesna Buljevic) und die Frau des Gerichtsdieners (Pia Seiferth).

Spätere Figuren wie der Advokat (Thomas Zimmer) und der Kunstmaler Titorelli (Guido Thurk) spielen differenzierter auf, was ebenfalls sinnvoll ist, da die Absurdität des Geschehens sich ja nicht auflöst, sondern immer monströser und somit auch immer erklärungsbedürftiger wird. Natürlich ohne daß sich irgend etwas klärte.

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Der Termin beim Anwalt bringt auch nichts; Szene mit (v.l.) Bülent Özdil, Thomas Tiberius Meikl, Thomas Zimmer und Pia Seiferth. (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Als Bühnenbild (Ausstattung: Anja Müller) dienen einige hochformatige Leinwände, die technisch in ihrer Größe verändert werden können und als Projektionsflächen dienen. Auf ihnen tauchen zwischen den Szenen einige Male Personen auf und berichten nachrichtlich von Fortgang der Handlung. Und weil das alles in Castrop-Rauxel so nüchtern und ohne inszenatorische Kinkerlitzchen vorgespielt wird, öffnet sich gleichsam ein gedanklicher Freiraum, in dem sich entlang der Handlung trefflich über Herrn K. und sein eigentümliches Schicksal nachdenken läßt. Das hat das Publikum natürlich auch früher schon getan, es hat den Fall Franz K. als eine Art moralische Reflexion gewertet oder auch als die Geschichte einer mißlungenen Emanzipation.

Den „Prozess“ gleichsam naturalistisch als Drama eines Menschen zu verstehen, dem sein gutes Recht vorenthalten wird, greift sicherlich zu kurz. Christian Scholzes Umsetzung legt in ihrer Schnörkellosigkeit eine psychologische Sicht nahe, die Franz K.s Nöte als einen dissoziativen Prozess deutet, in dem Situation und Wahrnehmung nicht mehr zusammenpassen wollen, in des Wortes wörtlicher Bedeutung „ver-rückt“ worden sind. Die Anfang des 20. Jahrhunderts noch aufregend neuen Erkenntnisse der Psychoanalyse Sigmund Freuds waren Kafka nicht unbekannt, als er dieses Buch schrieb.

Intensiver Darsteller

Bülent Özdil gibt den Franz K., und ihm verdankt diese Inszenierung ihr Gelingen zu einem großen Teil. Wie er zwischen dem forschen Fordern eines Dreißigjährigen und der wachsenden Verzweiflung des schuldlos Beschuldigten zu jedem Zeitpunkt die richtige Balance hält, wie er, ohne zu überspielen, mit anrührender persönlicher Intensität K.s Niedergang gibt, wie er in seinem Spiel den Spannungsbogen bis zum Zusammenbruch nahtlos hält, das ist großartige, fast ein wenig unerwartete Schauspielkunst.

Viel freundlicher Applaus. Allerdings blieben beim Premierenabend im Studio einige Plätze leer.

 




Megatheater im Megastore – Schauspiel Dortmund präsentiert Teil II des Spielplans

megastore innen

Gut, da denkt man nicht sofort an prickelnde Theateratmosphäre – doch wenn es im Dezember hier im Megastore losgeht, sieht es  bestimmt schon ganz anders aus. (Foto: Theater Dortmund)

Natürlich haben sie jetzt doch noch was gefunden, und die Angst vor einer spielstättenfreien zweiten Halbzeit in der diesjährigen Dortmunder Theatersaison hat sich als unbegründet erwiesen. Der neue Ort heißt „Megastore“, und der Name ist so stark, daß sie ihn gelassen haben. Was man gut verstehen kann: „Megatheater im Megastore“ klingt doch um Klassen besser als „Vorstellungen in der Ausweichspielstätte“, oder?

Der Megastore befindet sich in Dortmund Hörde im Gewerbegebiet nahe Wilo-Pumpen, an der Felicitasstraße, also quasi eine Straße vor oder hinter dem Recycling-Hof der Stadt, je nach dem, aus welcher Richtung man kommt. Bis vor einiger Zeit wurden hier Fanartikel von Borussia Dortmund verkauft, und einen Schönheitspreis wird der zweckmäßige Baukörper vermutlich nie bekommen. Das Theater spielt ab Dezember – wenn das Große Haus renoviert wird – also quasi am A… der Welt, jedoch mit Bus und Bahn halbwegs passabel erreichbar.

Und was wird hier gespielt?

Nun, man gibt zum Auftakt, was in Dortmund nicht alle Tage passiert, das Stück einer renommierten Dramatikerin. „Das schweigende Mädchen“ von Elfriede Jelinek soll erstmalig am 11. Dezember über die Bühne gehen. Es dreht sich um Beate Zschäpe, die seit Mai 2013 in München vor Gericht steht – und schweigt. Sie ist, wie bekannt, die einzige Überlebende des Mördertrios, das sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) nannte und aus rassistischen Motiven zehn Menschen umbrachte. Regie führt Michael Simon, und es wird wohl ein sehr ernster Abend werden.

Ensemble

Szene aus „Eine Familie (August: Osage County)“. Das Stück von Tracy Letts ist die letzte Premiere im Schauspielhaus, bevor dort die Arbeiten beginnen (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Zwei Ehepaare streiten

Richtig spaßig ist auch das nächste Stück nicht, wenngleich das Setting zunächst ein bißchen an Yasmina Rezas Aufstellungen erinnert. In „Geächtet (Disgraced)“ treffen zwei Ehepaare aufeinander. Hier der erfolgreiche Anwalt Amir, Muslim mit pakistanischen Wurzeln und verheiratet mit Emily, weiß und protestantisch; dort der amerikanische Jude Isaac und seine afroamerikanische Gefährtin Jory, die als Anwältin eine Kollegin von Amir ist. Sie machen den Fehler, über Politik zu reden, und spätestens beim Thema „9-11“, dem Terrorangriff auf die New Yorker Twin Towers im Jahr 2001, ist die gute Stimmung dahin. Doch der Streit geht dann erst richtig los, und laut Ankündigung ist nachher nichts mehr so wie vorher.

Angesichts auch der doch recht exemplarischen Biographien ahnt man die anstehenden Konflikte; und wünscht sich, daß es nicht allzu pädagogisch wird, oder moralisch, oder beides. Regie in diesem Stück von Ayad Akhtar führt Hausherr Kay Voges selbst (ab 6. Februar 2016).

„Die Liebe in Zeiten der Glasfaser“ blickt aus verschiedenen Winkeln auf das Skypen. Ed Hauswirth hat das Stück als „ein Stück Skype“ geschrieben und bringt es im Megastore, auch Regie führend, am 12. Februar 2016 zur Uraufführung. Falls jemand das Wort nicht kennt: Statt Skypen hätte man früher vielleicht „Bildtelefon“ gesagt, aber natürlich geht das heutzutage über Computer und Internet. Nun denn, man wird sehen.

Merle Wasmuth Frank Genser

Merle Wasmuth und Frank Genser in „Besessen“ von Jörg Buttgereit. Das Stück hat am 23. Oktober im Studio Premiere. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Alles gleichzeitig

Statt um eigene originelle Formulierungen zu ringen, folgt jetzt ein längeres Zitat aus dem Pressetext: „Ein Kind wird geboren. Ein Schiff mit Geflüchteten versinkt im Mittelmeer, und du bist zum Abendessen eingeladen. Über Twitter wird vermeldet: Enthauptung in Syrien, in Ungarn ist der Stacheldraht fertig, die Grenzpolizei setzt Wasserwerfer ein gegen den Ansturm der Verzweifelten. Die Steuererklärung ist fertig. Peter will heiraten, Urs zum IS, und aus dem Radio dröhnt das Versprechen von Sonne und Abenteuer: Kreuzfahrt in der Adria. Ein Thalys-Zug wird evakuiert. Terrorgefahr. Radiotalk zur Angst vor Flüchtlingen. Der erlösende Führungstreffer in der Nachspielzeit, ein Sonntagsschuß. Frau Dingsbums von nebenan hat Krebs, in der Ukraine wird geplündert, in Florida schneit es. Meine Freundin hat sich von ihrem Mann getrennt. Facebook präsentiert seine neue Selfie-App für unterwegs. Die Kanzlerin besucht ein Flüchtlingsheim…“

Erkennbar geht es also um die Gleichzeitigkeit der Geschehnisse, der ungeheuerlichen wie der banalen, und das Ensemble wird sich diesem Ansturm der Ereignisse stellen. Methodisch soll „Die Borderline Prozession“ irgendwie den Projekten „Das goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ (2014) und „Die Show – Ein Millionenspiel um Leben und Tod“ aus diesem Jahr nahestehen, aber was Voges da nun genau vorhat, ist noch nicht so recht erkennbar. Das heißt aber auch, daß man auf die Uraufführung am 8. April 2016 gespannt sein muß. Ko-Autoren des Dortmunder Schauspielchefs sind hier Dirk Baumann und Alexander Kerlin.

Übrigens hat der Schriftsteller Walter Kempowski vor etlichen Jahren in seinem Bücherzyklus „Das Echolot“ mit seiner Methode einer gleichzeitigen Notation sehr eindrucksvoll die Zeit des deutschen Nationalsozialismus beschrieben. Aber dies nur am Rande.

Wenn die Spielzeit fast schon zu Ende ist, kommt noch einmal der Dortmunder Sprechchor zum Einsatz. Mit ihm erarbeiten Thorsten Bihegue und Alexander Kerlin ihre Version von Oscar Wildes Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“, Premiere ist am 18. Juni 2016. Und spätestens dann werden die Freunde des Dortmunder Theaters Bilanz ziehen, wie sie denn war, die erste Spiel(halb)zeit im „Megastore“.

Nicht ohne Buttgereit und Storch

Im (regulären) Großen Haus steht mit dem Drama „Eine Familie“ von Tracy Letts am 24. Oktober noch eine Premiere an, im Kleinen Haus gibt es als Nächstes Neues von, wie man vielleicht sagen könnte, zwei sehr eigenwillige Dortmunder „Hausautoren“ zu sehen. Horror-Experte Jörg Buttgereit stellt, inspiriert vom Film „Der Exorzist“ und unterstützt von Anna-Kathrin Schulz, das Stück Besessen“ auf die Bretter (Uraufführung am 23. Oktober 2015), Wenzel Storch steuert „Das Maschinengewehr Gottes“ bei. Bei diesem am 10. Dezember zur Aufführung gelangenden Bühnenwerk soll es sich um „Eine Kriminal-Burleske aus dem Meßdiener-Milieu“ handeln; ältere Leser werden sich bei dem Titel sicher an den amerikanischen Prediger Billy Graham erinnern, der auch in Deutschland mit Donnerhall missionierte.

König Alkohol

Und schließlich: „Die Reise nach Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew in einer Bühnenfassung von Kathrin Lindner (ab 16. Januar). Es ist die Geschichte eines Bahnreisenden, dessen Hauptaugenmerk dem alkoholischen Nachschub gilt, es ist die Beschreibung einer russischen Gesellschaft, in der der Alkohol die Hauptrolle spielt, und es ist sicher auch eine Verbeugung vor einem herzlichen russisches Volk, das den Zumutungen des Lebens immer wieder mit Menschlichkeit zu begegnen weiß. Mit russischer Seele meinetwegen. Ich bin sehr gespannt, was das Dortmunder Theater aus dieser Vorlage macht.

Übrigens gibt es „Moskau – Petuski“ von Venedikt Erofeev (so schreiben sie es hier) auch als grandioses Hörbuch bei „Kein & Aber Records“. Abwechselnd lesen hier Bochums Homeboy Frank Goosen, Harry Rowohlt und Heinz Marecek, und Letzterer, Marecek, hinterläßt mit seinem wienerisch-balkanesischen, kehlig krähenden Zungenschlag den stärksten und irgendwie auch kongenialsten Eindruck. Aber dies nur am Rande.

Daß das Megatheater für den Megastore einen Megaspielplan hat, versteht sich also von selbst. Hoffen wir also, daß Megaintendant Kay Voges und die Seinen uns eine Megazweitspielzeit an der Nortkirchenstraße bieten werden. Hals- und Beinbruch!

Mehr Information: www.theaterdo.de




Triennale-Nachlese: „Die stille Kraft“ des Niederländers Louis Couperus in Essen

Europa-Dämmerung: Kokerei Zollverein in Essen, Schauplatz der Triennale-Aufführung von Louis Couperus' "Die stille Kraft". Foto: Werner Häußner

Europa-Dämmerung: Kokerei Zollverein in Essen, Schauplatz der Triennale-Aufführung von Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“. Foto: Werner Häußner

Das Wasser, dieses unheimliche Wasser, diese kraftvolle, unausweichliche Urgewalt: Zu Beginn der Aufführung ist die Grenze zwischen Trocken und Nass exakt über die Bühne gezogen; genau an der Trennlinie spielt jemand Klavier. Doch wenn das geregelte Leben zerbricht, stürmt das Wasser die Bühne, tobt sich in einem Gewitter aus, lässt die Planken aus Tropenholz dampfen, dünstet aus den Ritzen und hüllt die Welt in Nebel.

Ein Bild, das nicht die Atmosphäre des Monsunregens in Indonesien – dem Schauplatz von Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“ – illustrieren will, sondern das als große Metapher die Bühnen-Einrichtung von Jan Versweyveld im Salzlager der Kokerei Zollverein in Essen dominiert. Das Wasser, ein naturhafter Akteur, der für das Unbewusste ebenso stehen kann wie für die unheimlichen, unaufhaltsamen Dynamiken, die in dem Schauspiel nach dem Roman des niederländischen Autors Krisis und Katastrophe hervorrufen.

„Die stille Kraft“ gehört zu den letzten Produktionen der ersten Triennale von Johan Simons. Ein vergessener Stoff, geschrieben im Jahr 1900 von einem damaligen Erfolgsautor, der wie Thomas Mann in Deutschland in großen Romanen den Zerfall der bürgerlichen Kultur und Familie in Augenschein nimmt.

„De stille Kracht“ spielt zwar in Indonesien, thematisiert aber ebenso die Brüchigkeit europäischer Lebenskonzepte wie eine Kolonialgeschichte oder den „Clash“ unvereinbarer Kulturen. Das Unbehagen an der ach so dauerhaft scheinenden, sich selbst so sicheren Gesellschaft Europas wird greifbar im Kontrast zu der geheimnisvollen, sich nicht rational aussprechenden asiatischen Welt.

Der Ruhrtriennale ist zu danken, auf diesen Autor aufmerksam gemacht zu haben, der in Deutschland ziemlich unbekannt ist. „Die stille Kraft“ ist 1993 einmal in deutscher Sprache erschienen, beim Aufbau-Verlag, aber längst nicht mehr erhältlich. Simons plant, auch 2016 und 2017 Bühnenadaptionen von Romanen Couperus‘ zu spielen und leistet damit, was eine vornehmes Ziel der Triennale ist: den Blick zu weiten für andere kulturelle Welten.

Es würde zu kurz greifen, die Geschichte auf einen vermeintlich unvermeidbaren Konflikt westlicher und östlicher Kulturen zu reduzieren, so reizvoll das unter aktuellen Vorzeichen auch wirken mag. Und Regisseur Ivo van Hove meidet folglich allzu explizite Anspielungen, deutet nur in Kostümen (An D’Huys) oder durch asiatisch geprägte Schauspieler den „exotischen“ Aspekt an. Denn tatsächlich geht es um das Scheitern eines europäischen Rationalismus, der heute zum ökonomisch-pragmatischen Utilitarismus degeneriert ist.

Der Unterschied wuchert in der Seele

Der Protagonist Otto von Oudijck, Kolonialverwalter der (erfundenen) Region Labuwangi auf Java, verbindet positivistisches Denken mit einer protestantischen Ethik, die das Wohl der Menschen will, es aber auf „vernünftige“ Aspekte reduziert: Als die Eingeborenen einen Brunnen mit einem Opferfest einweihen wollen, verweigert er die Zustimmung, weil er ein Ritual einige Wochen nach Inbetriebnahme für sinnlos erachtet.

Gijs Scholten van Aschat gibt diesem Mann, der sich im zufriedenen Mittelmaß eingerichtet hat, keine unsympathischen Züge, im Gegenteil: Er will das Beste für Land und Leute, aber er sieht und hört nicht, was sich außerhalb seines rational abgesteckten Horizonts zusammenbraut. Wir sehen ihn, wie er vor seinem Schreibstuhl kniet, wie er seine Akten aus dem Wasser zieht, wie er versucht, sich mit den Kladden gegen den Regen zu schützen. Noch am Ende, als er von der „stillen Kraft“ überwältigt, in einem einheimischen Dorf lebt, versucht er, das Wasser zu bändigen, zu ordnen: Er gießt es in Gefäße, die er in einer exakt geraden Linie voreinander setzt. Ein wunderbares Bild des Scheiterns – und des inneren Vorbehalts.

Louis Couperus‘ „Die stille Kraft“ – und das ist, zumindest in dieser klugen Einrichtung Peter van Kraaijs für die Bühne, ein Vorzug – verteilt keine Moralwerte, urteilt nicht, lässt seine Menschen in einer Ambivalenz, die auch tragische Züge ihres Unvermögens nicht verdeckt. Leonie van Oudijck etwa, die Frau des wackeren Kolonialbeamten, glüht in der wunderbaren Darstellung durch Halina Reijn vor sexueller Gier, lebt sie ungeniert und schrankenlos aus mit ihrem Stiefsohn Theo und dem dunkel-geheimnisvollen Halbindonesier Addy de Luce. Aber in dem Moment, in dem ihr Mann die javanische Prinzessin (formvollendet: Marieke Heebink) demütigt, weil er „dem Recht“ zum Sieg verhelfen, die „Ordnung“ bewahren will, appelliert sie voll Menschlichkeit und Anteilnahme an seine Barmherzigkeit – vergeblich.

Mag sein, dass Couperus nur einen Weg sah, den „in der Seele wuchernden Unterschied“ zwischen Europäern und Einheimischen zu überwinden – den einer intimen Begegnung. in den Kindern aus beiden Kulturen ließe sich so etwas wie Hoffnung festmachen. Aber sie werden verachtet und verleugnet: Auf den sinnlichen Addy (Mingus Dagelet) werden alle Vorurteile projiziert; der illegitime Sohn Oudijcks wird totgeschwiegen. Als der blonde, „reinblütige“ Theo von seinem Halbbruder erfährt, führt seine Rebellion zum finalen Umsturz: Er wirft den Stuhl um, an dem sein Vater sich festgehalten hat, das Instrument der Weltordnung und des Realitätsverlustes. Jip van den Dool spielt in dieser Szene bravourös die mühsam im Zaum gehaltene innere Wut des jungen Mannes, die sich nun endlich Bahn brechen kann.

Die Jugend macht die Heuchelei und die Verdrängungsspiele der Alten nicht mehr mit – auch das ein Krisensymptom. Ein anderes manifestiert sich in der Sekretärin von Oudijck, Eva Eldersma. Maria Kraakman verkörpert eine gebildete Frau, die den Abgrund spürt. Sie fühlt „die Kraft, die gegen die ganze Westlichkeit vorgeht“. Sie registriert, wie hohl die europäische Kultur an der Schwelle des Ersten Weltkriegs tönt: „Das Kunstgetue ist eine Seuche ….“. Dem Fremden, Unwirklichen, das mit Mücken, Termiten und Kakerlaken das westliche Gebäude unterminiert, hat sie nichts entgegenzusetzen.

Eine pessimistische Sicht, die sich im 20. Jahrhundert und bis heute bitter bewahrheiten sollte. Eva wird das Land verlassen, hin zu europäischen Zielen, die eher in Träumen und Visionen einer dynamischen Kultur eine Rolle spielen – wie Paris. Dass sie zum Abschied den „Feuerzauber“ aus Wagners „Walküre“ spielt, ist bezeichnend: Die „Götterdämmerung“ wird nicht auf sich warten lassen.

So wird Peter van Kraaijs Couperus-Adaption zu einer bitteren Bestandsaufnahme, die aber auch als Appell gelesen werden kann: Ein Appell zur europäischen Selbstbesinnung und für ein Reinforcement europäischen Selbstbewusstseins. Simons ist mit dieser Produktion der Toneelgroep Amsterdam, die noch bis Februar 2016 in Amsterdam und bei einem Gastspiel in Antwerpen zu sehen ist, eine wichtige Entdeckung gelungen. Ein gutes Zeichen für die beiden nächsten Jahre.




Kleiner Raum für ein großes Thema: „Herz der Finsternis“ im Theater Rottstr. 5 Bochum

Regie: Alexander Ritter Foto: Theater Rottstraße

Szenenbild aus „Herz der Finsternis“ (Foto: Theater Rottstraße)

“Nach ein paar Minuten war der Film wieder in meinem Kopf“, sagt ein Zuschauer nach der Premiere der Buchadaption von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, inszeniert von Alexander Ritter. Er meint den Film „Apocalypse Now“ von Francis Ford Coppola, der die Handlung nach Vietnam verlegte. Ursprünglich geht es um eine Novelle, die die europäische Kolonialpraxis am Ausgang des 19. Jahrhunderts thematisiert.

Das Theater Rottstraße 5 Bochum hat also wieder einmal ein Buch auf die kleine Bühne gebracht, eindringlich dargestellt und beklemmend in den Raum gestellt. Matthias Hecht lässt den Zuschauer seine Erfahrungen, sein Trauma miterleben. Sein Bühnenpartner ist Mark Tumba, dessen Figur keine klare Zuordnung zulässt, was dem Ganzen gut tut. Matthias Hecht verzweifelt an seiner eigenen Erinnerung, lässt uns teilhaben am grauslig Menschlichen in der Katastrophe der Seinsbewältigung, der Unzulänglichkeiten und Rätsel der menschlichen Existenz.

Die ausverkaufte Vorstellung zeigte, dass selbst kleine Räume für große Themen geeignet sind. Das Interesse daran, wie der Mensch „tickt“, scheint ungebrochen und wird sicher nicht nachlassen, denn er ist kompliziert und die Weltlage zeigt, dass die Komplexität eher zunimmt. Wir sehen uns das an, was wir auf keinen Fall wollen: Mord, Krieg, Zerstörung, Wahnsinn.

Zitat:

„Der Mensch ist ein bösartiges Tier. Seine Bösartigkeit muß organisiert werden. Das Verbrechen ist eine notwendige Bedingung der organisierten Existenz. Die Gesellschaft ist ihrem Wesen nach kriminell, sonst würde sie nicht existieren. Der Egoismus rettet alles – absolut alles –, was wir hassen, was wir lieben. Und alles bleibt so, wie es ist. (…) Es ist wie ein Wald, in dem niemand den Weg kennt. Man ist verloren, während man noch ruft: ‚Ich bin gerettet!‘“ (Joseph Conrad: Brief an Robert Cunningham Graham, 2. Februar 1899)

Infos zur Inszenierung: http://www.rottstr5-theater.de/index.php/herz-der-finsternis




Die Illusionen sind dahin – „Raketenmänner“ von Frank Goosen in Oberhausen

Raketenmänner, Theater Oberhausen

„Raketenmänner“ in Oberhausen, Szene mit Torsten Bauer und Anja Schweitzer (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Wie soll man sie nennen? Mitmenschen, Nachbarn, Allerweltsgestalten, Normalos? Das Personal wirkt ziemlich durchschnittlich.

Eine Frau, die weiß, dass ihr Mann fremdgeht, ein Mann, der gerne fremdgehen würde, ein unglücklicher Angestellter, den der Vorgesetzte mobbt, ein alternder Platzwart, zwei alte Freunde, die sich nicht mehr richtig verstehen, eine Demente, ein sterbender Kinobesitzer – sie bevölkern das erste Theaterstück des Bochumer Autors und Kabarettisten Frank Goosen, das in Oberhausen Premiere hatte und, auf den ersten Blick etwas unverständlich, „Raketenmänner“ heißt.

Eine alte Schallplatte

Doch ist der Titel flugs auch im Stück erklärt: „Raketenmänner“ lautet der Titel einer fiktiven Langspielplatte, die ein gleichfalls fiktiver Stefan Moses in den 70er Jahren aufnahm. Dieses Album geistert nun durch die sich reihenden Szenen, ist für den jungen Wenzel (Thieß Brammer), der mutig einen Laden mit Vinyl-Schallplatten übernommen hat, eine unerwartete Begegnung mit familiärer Vergangenheit, ist für die meisten anderen eine verklärende Erinnerung, Sinnbild für Träume und Sehnsüchte. „Bass, Gitarre, Schlagzeug, manchmal ein Klavier. nichts Besonderes“, erinnert sich Gaby (Anja Schweitzer) im Verlauf des Stücks, „ich kann das irgendwie nicht richtig erklären“. Es war wie eine Verheißung, gleichwohl: Die Raketen zündeten nicht, sie alle blieben auf der Erde mit ihren tiefgrauen Problemen.

Raketenmänner, Theater Oberhausen

Hartmut Stanke pflegt das Grün als Platzwart (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Stellenweise lustig

Eine gewisse Nähe zum Kabarett ist in der Inszenierung des Oberhausener Intendanten Peter Carp unübersehbar, und würde Frank Goosen selber vortragen, kämen einige Episoden wohl noch kerniger über die Rampe.

Doch muss einem Missverständnis vorgebeugt werden: Trotz des Personals, das einem aus Goosens Themenkosmos bekannt vorkommt, trotz einer zumindest vorstellbaren Verortung im Ruhrgebiet und trotz Dialogen, die kurz und klar sind und oft auf Pointen zielen, ist dieses Stück nicht wirklich lustig. Wenn schon nicht eine Lebensbilanz à la Becketts „Das letzte Band“, so ist es doch so etwas wie die illusionslose Ermittlung eines Zwischenstandes der „Generation Goosen“, die jetzt so um die 50 Jahre alt ist. Und wer in dem freien Journalisten Kamerke (Torsten Bauer), der wie zufällig durch die Episoden treibt und mit den Leuten redet, ein Alter Ego des Autors zu erblicken glaubt, liegt sicher nicht ganz falsch.

Raketenmänner, Theater Oberhausen

Im Plattengeschäft gibt es noch richtiges Vinyl, auch die Platte „Raketenmänner“. Szene mit Thieß Brammer und Torsten Bauer. (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Sehnsucht nach den Sternen

Das Theaterstück ist die Fortschreibung eines gleichnamigen Romans und, wenn man so will, eine Variation auf die Geschichte „The Rocket Man“ des amerikanischen Science-fiction-Autors Ray Bradbury, der durch den später verfilmten Roman „Fahrenheit 451“ berühmt wurde. Sie erzählt 1951 bereits von einem Astronauten und seiner Sehnsucht nach den Sternen und der Unendlichkeit des Alls, während er noch daheim im trauten Kreis der Familie sitzt. Der Elton John-Hit „Rocket Man“ ist ebenfalls von dieser Geschichte inspiriert.

Eine verwahrloste Bühne

Nach der Pause, wenn die Zahl der Einzelepisoden abnimmt und die Gespräche länger werden, hat sich auch das Bühnenbild (Manuela Freigang) geändert. Die alte plüschige Guckkastenbühne, die in der ersten Hälfte nur einen schattigen Hintergrund bildete, dominiert nun die Szene, und deutlich erkennt man jetzt ihre völlige Verwahrlosung. Die Bühne des Lebens, plakativ ruiniert – ist die Bilanz denn wirklich gar so düster?

Raketenmänner, Theater Oberhausen

Junge Menschen, alte Platte: Laura Angelina Palacois, Eike Weinreich. (Foto: Klaus Fröhlich/Theater Oberhausen)

Nun, zumindest träumt hier keiner mehr, und in diesem Punkt unterscheidet sich Goosens Personal grundlegend beispielsweise vom dem Yasmina Rezas („Der Gott des Gemetzels“), die in ihren Stücken ja auch sehr sorgfältige Gesellschaftsbilder zeichnet, deren Personal jedoch immer wieder in Widerspruch zwischen eigenen (mitunter absurden) Idealvorstellungen und den Widrigkeiten der Welt gerät.

In den eigenen Stiefeln sterben

Doch wenn die Menschen keine Träume mehr haben, dann muss eben ein Wunder geschehen. Oder zumindest etwas Wunderbares. Deshalb darf der todkranke Kinobesitzer, dessen Liebe zu den guten alten Wildwestfilmen sich auf nachfolgende Generationen übertrug, in seinen Stiefeln sterben, wie es im Westen halt Brauch war. Und schließlich singen alle zum leisen, treibenden Trommelschlag „Do Not Forsake Me, Oh My Darlin“ aus Fred Zinnemanns Western-Klassiker „High Noon“ („Zwölf Uhr mittags“) mit Gary Cooper in der Hauptrolle. Will vielleicht auch sagen: Das haben wir zusammen erlebt, das kann uns keiner nehmen.

Ein gefühltes Viertelstündchen dauerte es, bis sich das Oberhausener Ensemble mit dem neuen Stück warmgespielt hatte, dann aber war sein Auftritt überzeugend. Dankbarer, anhaltender Applaus.




44.000 Tickets – Intendant Johan Simons zieht positive Bilanz seiner ersten Ruhrtriennale

Pressekonferenz anlässlich der Programmvorstellung der diesjährigen Ruhrtriennale durch die Kultur Ruhr GmbH Intendant Johan Simons Bild: Stephan Glagla | pottMEDIA

Triennale-Intendant Johan Simons hat Bilanz gezogen. (Foto: Stephan Glagla/pottMEDIA/Ruhrtriennale)

Die Ruhrtriennale nähert sich ihrem Ende. Deshalb zog Intendant Johan Simons jetzt eine erste Bilanz. Wie nicht anders zu erwarten, war das Festival sehr erfolgreich, alles in allem wurden 44.000 Eintrittskarten verkauft.

Es gibt der Zahlen etliche mehr; genannt sein sollen noch die Verkäufe für Simons’ großformatige eigene Regiearbeiten „Accattone“ (6500 Karten) und „Das Rheingold“ (6020 Karten). Bemerkenswert ist die kurzfristige Vermehrung der Zeit-„Slots“ bei „Orfeo“ in der Kokerei Zollverein von 400 auf 460. Zur Erläuterung: Pro Zeitslot wandern in Viertelstundenabstand acht Zuschauer durch eine fein installierte Alltagshölle, in welcher (Haus-) Frauen mit ausdruckslosen Gummimasken ein freudloses Dasein fristen. Der Durchgang dauert rund eine Stunde, an zentraler Stelle spielt ein Orchester ebenfalls mit Gummimasken Monteverdi-Musik, und diese Installation von Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot ist für die einen banal und für die anderen ein geniales Kunstwerk. Auf jeden Fall ist es ein Kunstwerk mit arg begrenzter Kapazität.

Portale der Maschinenhalle nach der Restaurierung: Portal im Südgiebel

Spielt hier im nächsten Jahr die Ruhrtriennale? Portal der Jugendstil-Maschinenhalle auf Zeche Zollern. (Foto: Martin Holtappels/LWL)

Dortmund darf hoffen

Die nächste Triennale findet vom 12. August bis zum 25. September 2016 statt. Was Johan Simons schon in der Pipeline hat, verrät er natürlich nicht. Ein bißchen hat er aber doch gesagt, beispielsweise zu der Frage, ob es im nächsten Jahr neue Spielorte geben wird: „Ich hoffe, es wird Dortmund!“

An der Jugendstilhalle auf Zeche Zollern hatte die Triennale ja beizeiten Interesse gezeigt, letztlich wurde es 2015 aber nichts mit diesem Spielort. Jetzt scheint die Halle als markanter Dortmunder Ort wieder in der Diskussion zu sein, zusammen mit der Phoenix-Halle am Phoenixsee, die ihrer Bestimmung als Eventstandpunkt entgegendämmert.

Kein Dinslaken, kein Wagner

Zeche Lohberg in Dinslaken, das Hallenmonstrum, in dem „Accattone“ lief, hat 2016 Pause. Da derzeit aber wieder fraglich ist, was dauerhaft aus dem gigantischen Schuppen werden soll, will Simons für 2017 noch keine Prognosen wagen.

Und was macht der Triennale-Ring? Nach „Rheingold“ ließe sich doch trefflich weiter an im bosseln. Doch eine Wagner-Inszenierung sei für 2016 definitiv nicht auf dem Plan, so der Intendant.

Musikalische Lesereise durch die Theater des Ruhrgebiets

Bis zur nächsten Triennale ist jetzt bald Pause – aber doch nicht ganz. Mit einer kleinen Tournee durch die Theater des Reviers möchte Johan Simons dem Publikum in Erinnerung bleiben. Deshalb gibt es – die Termine stehen unten – musikgeschichtliche Lesungen aus dem dicken Sachbuch-Bestseller „The Rest is Noise“ des Musikkritikers Alex Ross. Lesen werden Mitglieder der jeweiligen Ensembles unter Simons’ Regie; zudem spielen Musiker der Bochumer Symphoniker unter Leitung von Carl Oesterhelt bei dieser „literarisch-musikalischen Etappenreise“. Ein Abend soll um die drei Stunden dauern, eine Pause haben und 15 Euro Eintritt kosten. Und entspannt soll es zugehen, sagt Simons, gerne mit Getränken und ein paar Tischchen im Zuschauerraum.

Wir sind gespannt. Und die Kontaktaufnahme zu den Theatern der Region, die in der Planung früherer Triennale-Intendanten schlichtweg nicht vorkamen und sich deshalb übergangen fühlten, ist eine ausgezeichnete Idee, aus der mehr werden könnte.

Hier noch die Termine von „The Rest is Noise“:

  • Schauspiel Essen 5.11.2015
  • Schloßtheater Moers 3.12.2015
  • Schauspiel Dortmund 21.01.2016
  • Theater Oberhausen 04.02.2016
  • Theater a.d. Ruhr Mülheim 17.03.2016
  • Schauspielhaus Bochum 07.04.2016

www.ruhrtriennale.de




Ein Held wird versteigert – „Peer Gynt“ im Bochumer Prinzregenttheater

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Helge Salnikau spielt Peer Gynt (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Der Auktionator spricht die hereinströmenden Gäste persönlich an. Gleich beginne die Versteigerung von Erinnerungsstücken Peer Gynts, vom Rentier bis zum Papierschiff. Zudem komme eine Skulptur des Helden aus Fleisch und Blut unter den Hammer.

„Peer Gynt – Memorabilia 1867 bis heute“ heißt die Auktion in dem Vierpersonenstück, das Romy Schmidt als ihre jüngste Regiearbeit nun auf die Bühne des Bochumer Prinzregenttheaters stellt. Doch der Zweieinhalbstündler, der hier gespielt wird, ist nach wie vor „Peer Gynt“. Und stammt von Henrik Ibsen, mehr oder weniger.

Der Wert der Liebe

Vielleicht war es ja so: Romy Schmidt, die neue Chefin des Prinzregenttheaters, fragte sich, wie man dieses Stück heute dem Publikum „verkaufen“ könnte. Da es ja durchaus um Werte geht, letztlich um den unermesslichen Wert des Geliebtseins, kam sie auf die Idee mit der Memorabilia-Versteigerung als Rahmenhandlung. Die Lose und ihr Aufruf markieren nun Abschnitte der Handlung, und diese preiswerte Methode ist sicherlich auch den begrenzten finanziellen Möglichkeiten des Hauses geschuldet.

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Corinna Pohlmann ist als Aase, Solveig, Ingrid, die Grüngekleidete und Kapitän zu sehen. Im Hintergrund: Ismail Deniz als Versteigerer (links), Helge Salnikau. (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

So beginnt der Abend mit verwobenen Aktionssträngen: Zum einen sind da der grandiose junge „Nichtsnutz“ (Helge Salnikau) und seine Mutter (Corinna Pohlmann), die ihn schilt, weil er sich um nichts kümmert und die reiche Bauerntochter Ingrid verschmäht. Zum anderen ist da der etwas sinistre Auktionator (Ismail Deniz), der immer wieder unterbricht, Rentier, Festtagstrollschwanz oder Solveigs Blumenkranz als Lose aufruft und sie dann einem anonymen Telefonbieter aus Norwegen zuschlägt.

So geht das eine ganze Weile, garniert mit einigen amüsanten Kabbeleien. Corinna Pohlmann schlüpft je nach Bedarf in die Rollen von Solveig, Ingrid, Trollprinzessin und Schiffskapitän.

Unglaublicher Körpereinsatz

Vierte Person auf der Bühne ist Yotam Schlezinger, Sidekick in den Auktionsszenen und daneben zuständig für Musik (Gitarre) und Sound. Herzige Schlager („Dreams are my reality“) und einige Male Motive aus Griegs Bühnenmusik sind mit gutem Sinn für Proportion eingearbeitet, kurzum: Das Konzept wird schnell deutlich und hat Unterhaltungswert.

Letztes Versteigerungslos, um auch das noch zu erzählen, ist der verarmte, gealterte Herumtreiber Peer Gynt selbst, für den die immer noch liebende Solveig 15.000 Euro auf den Tisch legt und ihm so das Leben rettet. Das konnte man sich natürlich denken, da er ja als letzte Position auf der Liste stand. Immerhin hat sie ihm zum Schätzpreis bekommen, quasi ein Schnäppchen.

Helge Salnikau zeigt in der Titelrolle einen unglaublichen Körpereinsatz, erklimmt wiederholt scheinbar mühelos ein steiles, im Zentrum des Spielraums errichtetes Gebilde aus Gerüststangen (Bühne und Kostüme: Sandra Schuck). Mal steht es für eine Berglandschaft, mal für eine Behausung, je nachdem. Sein mimisches Repertoire indes bleibt übersichtlich. Für die selbstverliebten Schwärmereien des jungen Helden scheint ihm nur ein Gesichtsausdruck zur Verfügung zu stehen, während ihm die differenzierte Zeichnung des alten Mannes nach der Pause besser gelingt. Doch bleibt das unerfreuliche Gefühl, dass Romy Schmidts Inszenierung an der Durchzeichnung dieses doch auch prototypischen Menschen Peer Gynt wenig Interesse entwickelt hat.

Zu preisen ist in jedem Fall der Fleiß der Darsteller, die während der gesamten Aufführung mit nur kurzen Unterbrechungen auf der Bühne stehen oder aus dem Zuschauerraum heraus agieren. Insbesondere Corinna Pohlmann zeigt mir vielen flotten Rollen- und Bekleidungswechseln echte Kondition. Ihr und ihren Kollegen galt sicherlich der größte Teil des freundlichen Beifalls.

 




Unter Kriminellen – Johan Simons inszeniert „Das Rheingold“ bei der Ruhrtriennale

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Über dem Orchester schwebt Walhall, Amtssitz von Götterchef Wotan. Doch die Baufinanzierung bereitet Probleme. (Foto: Ruhrtriennale/ Michael Kneffel)

Bochum. Als bekannt wurde, daß Johan Simons sich gleich in seiner ersten Triennale-Spielzeit an Wagners Oper „Das Rheingold“ wagen würde, ging ein Raunen durch die Reihen. Simons galt bis dato nicht unbedingt als Opern-Experte.

Doch wer so flockig wie Simons mit spröden Jelinek-Stoffen umzugehen weiß, der kann wahrscheinlich auch Wagner. Nun ist „Das Rheingold“ einige Male über die Bühne der Bochumer Jahrhunderthalle gegangen, und man kommt nicht umhin, dem Theatermann aus den Niederlanden zu bestätigen, daß er seine Arbeit wirklich gut gemacht hat.

Ein wenig Gigantomanie

Vieles an der Produktion ist gigantisch: Der wuchtige Klangkörper von MusicAeterna aus Perm im Ural mit Teodor Currentzis am Dirigentenpult, der seine Musiker aufstehen läßt, wenn sie maximalen Schalldruck erzeugen müssen; die Jahrhunderthalle selbst natürlich, aber ebenso auch das Bühnenbild von Bettina Pommer, das von einer über alles sich erhebenden weißen Schloßfassade dominiert wird, die in die Jahrhunderthalle paßt wie vor hundert Jahren schon eingeplant. Nun neigen, wie man hört, Wagner-Inszenierungen immer wieder einmal zu einer gewissen Gigantomanie, so daß diese in Bochum für sich genommen damit noch nichts Besonderes wäre.

Simons und Wagner passen gut zueinander

Was aber wirklich unerhört ist (und jemanden in die Tasten greifen läßt, der sich sonst eher im Sprechtheater zu Hause fühlt), ist die unglaubliche Konvergenz von Wagners Kunst und dem Inszenierungsstil Johan Simons, der seine Herkunft vom Straßentheater weder verleugnen kann noch will. Seine Methode, die durch grelle Überzeichnungen der Akteure geprägt ist, wendet er auch hier an, und sie funktioniert prächtig. Das hier ist Oper, aber ebenso ist es Schauspiel. Unvergeßlich bleibt Leigh Melrose, der den Alberich gibt, den notgeilen, frustrierten und leider auch ein bißchen blöden Nibelungenfürsten. Sogar ohne Gesang wäre Melrose ein Erlebnis mit seiner sorgfältigen Rollenzeichnung und seinem athletischen, präsenten Spiel. Und wie er vor, während und nach wüsten Raufereien mit den Rheintöchtern, mit Wotan (Mika Kares) oder mit Loge (Peter Bronder) noch so wundervoll singen kann, ist geradezu unbegreiflich.

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Die Rheintöchter heißen Woglinde, Wellgunde und Floßhilde (Anna Patalong, Dorottya Láng und Jurgita Adamonyté). und sie necken Alberich (Leigh Melrose), der sich an Gummipuppen anbarbeitet. (Foto: Ruhrtriennale/JU/Julian Röder)

Kohlenpott-Metapher

Während das sinnbildhafte Oben des Stoffes von der weißen Schloßfassade symbolisiert wird, läßt der Urgrund, wo die Nibelungen in ewiger Nacht hausen, ein Bergwerk assoziieren. Nicht Rheingold, sondern schwarzes Gold wird hier gewonnen, die üblich Kohlenpott-Metapher. Und da Alberich nun im Besitz des goldenen Ringes und einer geilen Tarnkappe ist, kann er mit schier unermeßlicher Macht viel Böses anrichten.

Die Ordnung der Welt bricht zusammen, in einem (insgesamt gesehen etwas schwachen) Intermezzo mit Gesellschaftskritik aus dem Megaphon verlassen viele Musiker die Bühne, weil sie’s irgendwie leid sind, erheben sich auch die Zuschauer links und rechts vom Bühnengeschehen, um dem Elend nicht weiter beiwohnen zu müssen. Hallo, liebe Frau Kritikerin von einer bedeutenden überregionalen Tageszeitung: Das sind Statisten! Das gehört zum Stühück! Das ist Absicht! Und deshalb geht es nach einigen Minuten auch mit Wagner wieder weiter, und alle Zuschauer sind wieder auf ihren Plätzen. Und die Musiker auch.

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Blick aus der Vogelperspektive auf das zerklüftete Bühnenbild von Bettina Pommer (Foto: Ruhrtriennale/JU/Julian Röder)

Ungeklärte Baufinanzierung

Spätestens mit diesem Zwischenspiel werden zwei konkurrierende erzählerische Linien erkennbar, die letztlich nicht verwoben sind. Da ist zum einen die globale Kapitalismuskritik (wenn es denn eine war) im kühnen Break, da ist zum anderen eine veritable Krimihandlung, die sehr viel stärker überzeugt. Trefflich ließe sich darüber streiten, wer in dieser wüsten Fantasy-Handlung der größte Schurke ist. Nichts Göttliches gibt es hier zu sehen, eher schon eine Parabel krimineller Inkompetenz.

Der Plot, mit Verlaub, ist irre: Obergott Wotan hat sich von den Riesen Fasolt und Fafner (Frank van Hove und Peter Lobert, beide ganz toll) die Götterresidenz Walhall errichten lassen, ohne auch nur einen Gedanken an die Baufinanzierung zu verschwenden. Sein alter Kumpel Loge hatte angedeutet, daß ihm schon irgendetwas einfallen würde, um sich vor der Zahlung zu drücken. Als Sicherheit dient den Riesen einstweilen Wotans Schwägerin Freia, die in nuttigem Outfit auf der Terrasse steht und immer deutlicher spürt, daß die Sache übel ausgehen wird.

Schließlich kommt Loge, doch eine Idee hat er nicht, außer eben, dem Nibelungen den Schatz abzutricksen. Was schließlich auch gelingt. Und das ist eigentlich eine Geschichte aus dem Luden-Milieu, wo Frauen geldwert hin und her verschoben werden. Hier haben alle Dreck am Stecken und zumindest einer (Alberich) sinnt auf Rache – so ein Mafia-Film schreit nach Fortsetzung.

Der Gesang der  Rheintöchter, einfach nur schön

Das Niederträchtige in dieser Handlung hat Johan Simons deutlich herausgearbeitet. Fast könnte man meinen, er und Wagner hätten sich vorher zusammengesetzt und das alles, stilvoll bei einigen Flaschen Rheingau-Riesling, zusammen ausbaldowert.

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Freia (Agneta Eichenholz, links) und Fricka (Maria Riccarda Wesseling) haben angesichts der Riesen kein gutes Gefühl. (Foto: Ruhrtriennale/JU/Julian Röder)

Der Stoff hätte auch noch brachialere Umsetzungen zugelassen; vermutlich, aber das ist eine Spekulation, hat sich Johan Simons zurückgehalten, um nicht der Schönheit der Musik zu schaden. Ach, der Gesang der Rheintöchter, fließend und schwerelos, nur schön. Woglinde, Wellgunde und Floßhilde heißen sie übrigens, gesungen werden sie von Anna Patalong, Dorottya Láng und Jurgita Adamonyté. Den übergrifflichen Raufereien mit dem geilen Alberich leihen sie übrigens nur ihre schönen Stimmen, während für das Physische täuschen echt gemachte Gummipuppen zur Verügung stehen (resp. liegen).

Bettina Pommers Bühne, eher eine dreigeteilte Pfütze als ein Strom, läßt im Wasser Reste einer Stuckdecke erahnen, und schief und tief baumelt ein Kristalllüster darüber. Hätte man es vorher nicht gelesen, käme man wohl nicht darauf, daß es sich hier um die Reste eingestürzter Altbauten handeln soll. This is the end, doch ein imaginiertes Ende mit dem Anbeginn der Welt, um das es vorgeblich im „Rheingolds“ geht, zu verknüpfen, ergibt nicht wirklich einen Sinn, ist höchstens dialektisch wertvoll.

Ein Fall von Wagner-Delir?

Man weiß manchmal ja auch gar nicht, ob Richard Wagner das alles so bierernst gemeint hat. Verfolgt man (mühelos, dank tadellos funktionierenden elektronischen Texttafeln in Deutsch und Englisch) das gnadenlos alliterierende Libretto in seiner altertümelnden Künstlichkeit, vermeint man manches Mal den Meister vom grünen Hügel augenzwinkernd vor sich zu sehen. Ist vielleicht auch nur Wagner-Delir; doch das soll sich ja erst nach der achten Stunde einstellen. Aber bei Ungeübten…?




Fast ein Krimi – „Das Fleischwerk“ von Christoph Nußbaumeder in Bochum

Das Stück beginnt, wie könnte es heutzutage anders sein, mit großen Köpfen auf einer Videowand. Andrei aus Bulgarien skypt mit seiner schwangeren Frau im heimischen Dorf.

Erst auf den zweiten Blick gewahrt man den echten Andrei (Matthias Kelle), der sein Telefonat rechts in der Kulisse offenbar heimlich führt, geschützt unter einem Blätterdach. Er wähnt sich in Gefahr; von Unruhe im Fleischwerk erzählt er seiner Frau daheim, von nicht ausgezahltem Lohn und von geheimen Streikplänen. Und schon wissen wir, wo Christoph Nußbaumeders sein neuestes Stück „Das Fleischwerk“ angesiedelt hat.

"Das Fleischwerk": Szene mit Andrei (Matthias Kelle, li.) und Akif (Roland Bayer). (Foto: Arno Declair)

„Das Fleischwerk“: Szene mit Andrei (Matthias Kelle, li.) und Akif (Roland Bayer). (Foto: Arno Declair)

Immer wieder findet der aus Niederbayern stammende Bühnenautor des Jahrgangs 1978 die Themen seiner Dramen bei den kleinen Leuten, den Ausgebeuteten und Entrechteten. Hier sind es osteuropäische Arbeitskräfte, die in der deutschen Fleischindustrie für Hungerlöhne schuften und überdies noch um ihren Lohn betrogen werden. Und bei einem so didaktisch daherkommenden Einstieg fragt man sich als Zuschauer schon, was das wohl werden wird: Investigative Theaterarbeit, Bildungsfernsehen, Schulfunk? Zunächst sieht es durchaus danach aus.

Ein LKW-Fahrer lernt dazu

Nachdem das Videogespräch beendet ist, schickt Regisseur Robert Schuster nämlich seinen Star auf die Bühne, den Schauspieler Bernd Rademacher, der rein optisch etwas von Mike Krüger hat und den LKW-Fahrer Daniel Rabanta gibt. Er saß, stellt sich nach und nach heraus, wegen eines Totschlagsdelikts im Gefängnis und fand nach der Entlassung einen Job als Schweinekutscher. Für ihn ist das eine ganz neue Welt, die ihm (und uns) sogleich mit Nachdruck erklärt wird – vom unglücklichen Schweinemäster Weidenfeller (Günter Alt), vom Schlachthof-Vorarbeiter Georgi (Matthias Eberle) und in gewisser Weise auch von seiner Schwester Gabi (Anke Zillich), die sich um ihren antriebsschwachen Bruder sorgt und ihm damit auf die Nerven geht.

Doch dann verlässt die Handlung den Pfad der Belehrungen. Der zwielichtige Schlachthof-Subunternehmer Akif (Roland Bayer) kommt ins Spiel, der mit Rabanta Schnaps trinkt und vorsätzlich den Tod des aufrührerischen Andrei in der Gaskammer des Fleischwerks herbeiführt. Angetrunken fährt Rabanta des nachts eine junge Frau an, er nimmt sie mit zu sich nach Hause und versorgt ihre Wunden. Bald stellt sich heraus, dass sie Andreis Witwe Susanna (Minna Wündrich) ist, die von der Arbeiterin Valentina (Veronika Nickl) einen Brief bekam. Sie nimmt blutige Rache an Akif. Rabanta stirbt an Lungenkrebs, Gabi spricht letzte Worte, das Licht geht aus (und wieder an). Und das Publikum ist etwas unschlüssig, was es da in zwei Stunden ohne Pause eigentlich zu sehen bekommen hat.

Schauspielhaus Bochum   Foto: Jürgen Landes

Im Schauspielhaus Bochum erlebte „Das Fleischwerk“ von Christoph Nußbaumeder seine Premiere – genau genommen allerdings auf der Rückseite des Gebäudes, in den Kammerspielen. (Foto: Jürgen Landes/Schauspielhaus Bochum)

Subunternehmer, Frauenarzt

Eine aktionsreiche Handlung, ganz ohne Frage, hat Nußbaumeder sich ausgedacht, einen Krimi im Fleischverarbeitungs-Milieu. Doch ein Krimi ist dies nur, weil es Verbrechen gab, nicht etwa, weil deren Auflösung zu irgendeinem Zeitpunkt spannend gewesen wäre. Der fade Nachgeschmack hat sicherlich aber auch mit der Inszenierung zu tun, die sich personell zu sehr auf den tadellos aufspielenden Bernd Rademacher verlässt. Auf eine ähnlich differenzierte Zeichnung des verbrecherischen Subunternehmers Akif Kral verzichtet sie jedoch leider. Hart und unnahbar gibt ihn Roland Bayer und blendet so die tragischen Dimensionen der Person weitgehend aus. Was wäre er geworden, wenn sich die Dinge normal entwickelt hätten, fragt Rabanta ihn bei einem ihrer Schnapstreffen. „Frauenarzt in Teheran“ antwortet Akif, und das scheint er ernst zu meinen. Doch dieser Wortwechsel bleibt ein textlicher Solitär.

Blutleerer Schlachthof

Eigentümlich wirkt das durchaus aufwendige Bühnenbild (Sascha Gross, auch Kostüme), das einerseits aus Rabantas etwas verwahrloster Junggesellenbehausung besteht, andererseits aber auch diverse elektrische Förderanlagen aufbietet. Sie werden nach vorne gezogen, prominent aufgestellt und in Gang gesetzt, wenn Fleischwerkszenen zur Vorführung gelangen. Sie bleiben im wörtlichen wie im übertragenen Sinne völlig blutleer, wirken zudem auch im Betrieb kaum bedrohlicher als eine Tiefkühltruhe, und man fragt sich nach dem Sinn des erheblichen technischen Aufwands.

Nicht zu sehen gab es an diesem Abend, was man nach Titel und Inhaltsankündigung auch hätte erwarten können: den empörten Aufschrei der Tierschützer, der Globalisierungsgegner, der Veganer, und man hat ihn auch nicht vermisst. Überhaupt hatten nicht sehr viele Menschen irgendwelche Erwartungen an dieses Stück. Die Zahl der leeren Plätze im Zuschauerraum war am Premierenabend beunruhigend hoch.




Das Unheil der Liebe – Auftakt zu Luc Percevals Zola-Trilogie bei der Ruhrtriennale

Foto: C.Smailovic

Szene aus „Liebe. Trilogie meiner Familie 1“ (Foto: Carmin Smailovic)

Luc Perceval, seit Jahren Garant für außergewöhnliche Inszenierungen, baut für die Ruhrtriennale eine Trilogie nach dem Romanzyklus von Emile Zola, „Les Rougon-Macquart“ (1893). Teil 1 – „Liebe. Trilogie meiner Familie 1“ wurde jetzt in der Gießhalle im Landschaftspark Duisburg-Nord aufgeführt.

Man sitzt im Halbfreien, zwar ein Dach über dem Kopf, aber der Wind fegt etwas Wirklichkeit in die unglückselige Szenerie. Es geht im ersten Teil um Liebe und die ist in diesem Fall ein reiner Unglücksfall. Oder ist das Unglück programmiert? Wird man in Situationen hineingeboren? Sind Herkunft und Stand von vorneherein Schicksal, dem kaum zu entkommen ist? Das Thema klingt heutig und es wird in der Bildungsstatistik täglich betont.

Auf der Bühne gibt es ein Oben und ein Unten, allerdings bewegen sich die Figuren auf dem oberen kleinen Hügel immer am Rande des Abrutschens. Unten ist mehr Ruhe, herrscht halbwegs vornehmes Unglück. Wie ein verbeultes Schiff, festgeklemmt in unruhiger See, im Auf und Ab – zeigt uns die Szenerie Versatzstücke von Beziehungen.

Gabriele Maria Schmeide gibt die Gervaise, eine Wäscherin. Wenige glückliche Momente werden vom Überlebenswillen überdeckt, der sich ums Brot dreht, also ums Auskommen mit dem Einkommen. Da liebt man, wen man braucht und sie ist auf der ewigen Suche nach Glück, das anhält. Ihre Männer sind kein Halt, ihre Kinder kommentieren das zerrüttete Familienbild. Allein sie zu erleben in dieser Rolle, ist ein Erlebnis.

Die besser gestellte Familie des Dr. Pascal ist auf dem absteigenden Ast. Stephan Bissmeier vergöttert seine Ziehtochter vergöttert und gibt sein Geld gedankenlos für Schönes aus. Auch hier Unheil – Verzicht, Verzweiflung, Verstoß. Der Ruf ist hin und somit auch die Liebe. Welch ein Sittenbild!

Die Inszenierung ist gutes Stadttheater mit ausgezeichneten SchauspielerInnen des Hamburger Thalia-Theaters. Die Aufführung in der Gießhalle gibt dem Ganzen einen atmosphärischen Mehrwert. Moderner Schnickschnack findet nicht statt. Es ist, wie es war oder vielleicht immer noch ist. Paare verlassen das Stück in engerer Nähe als vorher. Haltet Euch fest und genießt die glücklichen Momente!




Kochen vs. Theater 40:2

Jeglichen Tag liest man in der Zeitung von Phänomenen, die sich beispielsweise binnen Jahresfrist um 1,8 Prozent gesteigert haben. Donnerlittchen!

Und dann knüpfen die Redaktionen schwerwiegende Überlegungen an diese Entwicklung, denn sie ziehen stets gern die „Immer mehr“-Nummer durch. Auch wenn’s nur schmale 1,8 Prozentpunkte sind. Andernfalls gäb’s ja manchmal wenig zu schreiben. Irgendwie muss man ja für Panik sorgen, für Exaltation und dampfenden Betrieb. „Welchen Aufreger haben wir denn heute?“

Werden Kinder, die heute die Theater-AG verschmähen, später z. B. ins Bochumer Schauspielhaus (Bild) gehen? (Foto: Bernd Berke)

Der Kulturpessimist fragt: Werden Kinder, die heute die Theater-AG verschmähen, später z. B. ins Bochumer Schauspielhaus gehen? (Foto: Bernd Berke)

Nun aber die grazile Überleitung zu einem wirklich exorbitanten Zahlenverhältnis. Als es jetzt in einer Dortmunder Grundschule daran ging, sich für bestimmte nachmittägliche Arbeitsgemeinschaften zu entscheiden, haben gleich rund 40 Kinder (bzw. ihre Eltern) die „Koch-AG“ gewählt – und nur ganze zwei die „Theater-AG“.

Welche Bewandtnis es wohl damit hat?

Man kann sich in wildwüchsigen Mutmaßungen ergehen. Wird das Wort „Theater“ schon so selbstverständlich mit diffiziler Hochkultur assoziiert, dass die Vielen lieber nicht nähertreten mögen? Erinnert es sogleich an Streit und Hader („Jetzt mach’ hier kein Theater!“)? Hat hier der reine Nützlichkeits-Aspekt überwogen, der zunächst einmal fürs Kochen sprechen mag? Hat gar der schnöde Elternwunsch obsiegt, die Kleinen sollten öfter in der Küche helfen? Haben die zahllosen Kochshows im Fernsehen die Wahl beeinflusst?

Dabei hat man doch immer gedacht, dass Kinder sich gerne verkleiden und Rollenspiele lieben.

Die Folge des auffälligen Votums ist jedenfalls eine Aufstockung auf zwei Koch-AGs – und die Streichung der Theatergruppe. Sollen wir nun das alte Lied vom Kulturverfall anstimmen? Gemach! Nicht von ungefähr spricht man auch von Kochkultur. Aber man stutzt dennoch.

Um die Leser(innen) zu schonen, belassen wir es bei diesem kurzen Beitrag. Es gibt freilich Leute, die mit diesem Thema ein ganzes Feuilleton zu füllen vermöchten. Um es mal stilblütenhaft zu wenden: Hierbei könnte man den Klammeraffen des Kulturpessimismus reichlich Zucker der Zukunftsangst geben. Hehe, gut gesagt, wie?




Nachtstücke und falscher Jubel – Martin Schläpfer choreographiert Mahlers 7. Sinfonie

"Die Reise nach Jerusalem" als beklemmende Raserei zu Mahlers wilder Musik. Foto: Gert Weigelt

„Die Reise nach Jerusalem“ als beklemmende Raserei zu Mahlers wilder Musik des Finales. Foto: Gert Weigelt

Paukengedröhn, Fanfarengetön: Im Orchestergraben bricht sich ein protzender, prunkender Jubel Bahn, als wären dort Streicher und Bläser und Schlagwerker ganz kirre geworden. Die Musik überschlägt sich, kommt kaum zu Atem, knallt plakativ die Freudenausbrüche aneinander. Und oben, auf der Bühne? Da stehen einige Tänzer im Halbdunkel, wohlgeordnet in Reih’ und Glied, und machen – erstmal nichts.

Jetzt ahnen wir zumindest, im Duisburger Haus der Rheinoper sitzend, vom letzten Satz aus Gustav Mahlers 7. Sinfonie klanglich überwältigt, dass diese ganze Happy-end-Stimmung offensichtlich eine Farce ist, falsches Getöse, um den Jubel an sich zu denunzieren. Zwar lichtet sich alsbald die Szenerie, das vortreffliche Corps de ballet weiß so elegant wie sprungmächtig, so dynamisch wie anmutig, bisweilen in ganz klassischer Manier, den Überschwang zu zelebrieren.

Doch mit dem Einbruch des düsteren Trauermarschthemas aus dem ersten Satz der Sinfonie kippt die Stimmung: eine blonde Ballerina (Anne Marchand) ringt mit einem Hocker, unter dem sie bisweilen wie gefangen liegt. Nichts mehr von gleißender Glückseligkeit. Dann setzt Mahlers Finale zur letzten Raserei an. Auf der Bühne hetzt sich eine Menge bei der „Reise nach Jerusalem“ fast zu Tode. Hinten plötzlich Menschen in langen Mänteln, wie Aufseher in einem Lager, die Musik zieht noch einmal Luft, ein Schlag, Licht aus.

Es ist durchaus logisch, dass Martin Schläpfers Choreographie „7“, die tänzerische Deutung von eben Mahlers 7. Sinfonie, dieses Pseudo-Jubelfinale in Düsternis und Verzweiflungsraserei enden lässt. Geben doch die vier Sätze zuvor allen Anlass, die dunkle, groteske Seite des Daseins auf die Bühne zu bringen. Der Komponist selbst spricht ja in zwei Fällen von Nachtmusiken, das derbe Scherzo nennt er schattenhaft, und der dumpfe Trauermarsch des Beginns, mit der traurigen Tenorhornmelodie, ist eine klare Vorgabe.

Derber Tanz in Stiefeln zum schattenhaften Mahler-Scherzo mit Yuko Kato, Wun Sze Chan, Camille Andriot (v.l.). Foto: Gert Weigelt

Derber Tanz in klobigen Stiefeln zum schattenhaften Mahler-Scherzo mit Yuko Kato, Wun Sze Chan, Camille Andriot (v.l.). Foto: Gert Weigelt

Schläpfer lässt zur schaurigen Einleitung Tänzer auf die Bühne kriechen, ungelenke gekrümmte Wesen, schmerzbeladene und zerbrochene Gestalten. Nach und nach erst finden sie gewissermaßen zum aufrechten Gang. Später, im skurrilen Scherzo, stürzt ein Trio herbei, von Ausstatter Florian Etti in Stiefel gesteckt, die Füße auf den Boden knallend, teils in gebückter Haltung, als führten sie einen derben Bauerntanz auf.

Wenn Mahler nun seine wilde Welt mit ihren Banalitäten und ihrem Schmerz verlassen will, driftet er ab ins Sphärische. Streicherklang, Harfenglissando, Kuhglocken, über allem Trompetenseligkeit in höchsten Höhen. Dann führt Schläpfer Paare zusammen, zeigt glückliche Menschen. Doch ach: Mitunter entpuppen sich die Partner als die falschen, durchzieht Rivalität und Eifersucht, bis hin zur Machismo-Brutalität, die Szenerie.

Selbst die 2. Nachtmusik, eigentlich eine hübsche Serenade mit Mandoline und Gitarre, entwickelt ihre Schattenseiten. Zwei Paare necken sich wie im idyllischen Schäferspiel, und doch gibt es, wenn die Musik sich dunkel färbt, sanfte Zweifel.

Schläpfers Mahler-Deutung ist eine, die den Pessimismus, das Leid aus der Musik herausliest. Nur ab und an gibt es Hoffnungsschimmer, als winzige Inseln von Glückseligkeit. Diese Interpretation verdeutlicht zudem, dass die 7. des Komponisten weit mehr im Schatten der „Tragischen“ (Nr. 6) steht als im Faustischen der Nummer acht.

Entsprechend derb naturalistisch, teils brachial in den Klangballungen, oder mit herbem Serenadenton spielen die Duisburger Philharmoniker unter Wen-Pin Chien das Stück. Ziemlich analytisch geht der Dirigent dabei zu Werke, die Strukturen betonend, alles Skurrile, Groteske, Dunkle, Schmerzbehaftete teils überdeutlich herauskehrend. Manchmal leiden darunter die dynamischen Proportionen, andererseits bleibt noch im dichtesten polyphonen Geflecht alles transparent.

Mögen auch hier und da die Trompeten Mühe haben, Mahlers höchste Höhen sicher zu erreichen, bleibt doch der Gesamteindruck einer hochspannenden, in sich geschlossenen Interpretation. Bildmacht und orchestrale Kraft fügen sich zum aufregenden Ganzen. Großer Applaus.

Weitere Infos: http://operamrhein.de/de_DE/repertoire/b-17.1045217

Video-Ausschnitt aus der Produktion: https://www.youtube.com/watch?v=O72cLnIWxKE




Verführung durch die Macht: Klaus Manns „Mephisto“ im Düsseldorfer Schauspiel

Wenn Theaterfotos honorarpflichtig sind, zeichnet schon mal die Rezensentin: "Mephisto"-Ansicht von Eva Schmidt.

Wenn Theater-Pressefotos honorarpflichtig sind, dann zeichnet schon mal die Rezensentin selbst: „Mephisto“-Ansicht von Eva Schmidt.

Der Schauspieler lebt in der Garderobe. Die Lämpchen am Frisierspiegel leuchten, wenn er mit wechselnden Gesichtern hineinblickt.

Manchmal ist es die weiße Maske des Teufels mit eckigen Augenbrauen, die ihm entgegengrinst. Da schaudert es den Schauspieler vor der dunklen Seite in sich selbst und er führt lieber einen lustigen Stepptanz auf. Denn es ist für ihn ein Leichtes, die Charaktere zu wechseln wie die Kostüme.

Seine Beziehung zur Außenwelt besteht ohnehin nur in einem roten Vorhang, der sich manchmal öffnet. Dann blickt der Schauspieler in einen dunklen Raum, geblendet von den Scheinwerfern, die auf ihn gerichtet sind. Die Menschen, die dort sitzen, sind für ihn nur Schemen. Doch er muss für sie leuchten – wie ein Glühwürmchen.

Die Theatergarderobe als Schauplatz für ein Stück über die Verführung des Künstlers durch die Macht: Am Düsseldorfer Schauspielhaus hat Regisseur Thomas Schulte-Michels diese Szenerie gewählt, um Klaus Manns Roman „Mephisto“ in Szene zu setzen. Er erzählt die Geschichte von Hendrik Höfgen, der im dritten Reich zum Star wird, weil er Karriere auf der Bühne machen will. Das gelingt ihm auch, doch verstrickt er sich: Wen verrät er, wem hilft er in der Diktatur?

Kann man sich als Künstler einfach raushalten aus der Politik? Gewiss nicht. Und so wird aus dem Komödianten ein Mitläufer. Als Vorbild für „Mephisto“, die Paraderolle von Höfgen, galt Gustaf Gründgens, der Goethes Teufel auf unvergleichliche Weise interpretierte – während der Nazizeit und nach dem Krieg. Nach ihm ist der Platz am Düsseldorfer Schauspielhaus benannt, wo er von 1947 bis 1955 Intendant war. In der zweiten Premiere der Saison steht dort nun wieder ein Stoff zur Nachkriegsgeschichte und Nachkriegsschuld auf dem Programm, der ebenfalls im Umfeld der Familie Mann angesiedelt ist.

Foto: E. Schmidt

Das Düsseldorfer Schauspielhaus (Foto: E. Schmidt)

Moritz Führmann spielt Höfgen als cleveren Manipulator: Für seinen Vorteil schlüpft er in jede Rolle, sei es die des Schmeichlers, Liebhabers oder Bewunderers. Er macht sich klein, er bläst sich auf. Doch er kann auch arrogant und fordernd sein, zum Beispiel wenn es um seine Gage geht. Wenn es ihm opportun erscheint, liebäugelt er mit dem Kommunismus, doch lieber wäre er vom Großbürgertum anerkannt. Leider kann er in diesen Kreisen nicht wirklich reüssieren, denn er bleibt doch immer nur ein Komödiant.

Lustvoll spielt Führmann auch die quälende, die ausschweifende Seite dieser im Grunde unsicheren Existenz aus. Wenn er sich von seiner Geliebten und Domina mit der Peitsche traktieren oder vor seiner Frau Barbara die Hosen runterlässt, genießt er die Scham, ergötzt er sich an der eigenen Demütigung. Führmann setzt das ganz physisch um, dieses Sich-klein-Machen, aber auch das Über-sich-Hinausschießen. Die Schwäche und ihre Zwillingsschwester, die Grausamkeit.

Menschen umschwirren „Mephisto“ wie Motten das Licht: Da die Hauptfigur Höfgen so sehr im Mittelpunkt steht, bleiben für den Rest des Ensembles leider nur Nebenrollen übrig, die Aufstieg und Fall der Hauptrolle illustrieren müssen. Dirk Ossig, Sven Walser, Andreas Weissert, Maya Alban-Zapata, Anna Beetz, Katharina Lütten, Louisa Stroux und Hanna Werth geben Kollegen, Weggefährten, Ehefrau, Geliebte und den Theaterdirektor mit Hingabe und Spiellust, doch Höfgen ist ihr Hexenmeister bei diesem Tanz auf dem Vulkan. Er ist der Geist, der stets verneint, so ist denn alles, was man Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, sein eigentliches Element…

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Videospiele, Spiegelungen: „Glückliche Tage“ und „Das letzte Band“ im Dortmunder Theater

Merle Wasmuth mit Publikum

Merle Wasmuth als Winnie, Publikum (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Glückliche Tage“ und „Das letzte Band“ – zwei kurze, intensive Stücke von Samuel Beckett, düstere Lebensbilanzen alle beide, haben jetzt den Weg auf die Studiobühne des Dortmunder Theaters gefunden.

Merle Wasmuth ist die monologisierende Winnie in ihrem halben Erdengrab, Ekkehard Freye ihr im Publikum sitzender, sie mit einigen sparsamen Stichworten versorgender Mann Willie. Freye ist im Anschluß auch Krapp, der Mann mit den alten Tonbändern, und beide Darsteller muß man für ihr intensives, nuanciertes Spiel loben. Denn leicht haben sie es nicht.

Den Ausstattern des Bühnenspiels – das Programm nennt Pia Maria Mackert für Bühne und Kostüme, Michael Deeg für Video, Rolf Giese für Licht und Joscha Richard für Videoassistenz – hat es gefallen, den Bühnenraum vom Zuschauerraum mit einer Spezialfolie vollständig abzuteilen, in der sich das Publikum spiegelt, wenn es beleuchtet wird, die aber auch durchsichtig ist, wenn die Szenerie dahinter Licht bekommt und die Zuschauer im theatergemäßen Dunkel sitzen.

Spiel mit Licht und Technik

Man ahnt die Möglichkeiten: Mit unterschiedlichen Beleuchtungen lassen sich Bühnengeschehen und Publikum – oder Teile davon – zu einer Art Gesamtbild mischen, was verblüffende Effekte zeitigt und durchaus nicht immer sinnfrei ist. Wenn etwa Winnies stilisierter Erdhügel sich im Verlauf des Monologs unmerklich von rechts nach links über die Bühne bewegt, um schließlich an einen Haufen von Totenschädeln zu stoßen, dann verschwindet das Bild der blaß geschminkten Frau am Ende der Fahrt, löst sich auf im Spiegelbild des Publikums. Wirklich bemerkenswert, was technisch heute alles möglich ist.

Ekkehard Freye

Ekkehard Freye als junger Krapp in der Videoprojektion (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Doch verbessert diese ausgebuffte Lichttechnik das Stückverständnis? Oder schärft sie die Intensität? Gemeinhin bieten gerade diese beiden Beckett-Einakter Schauspielerinnen und Schauspielern Möglichkeiten für fulminante Auftritte, für die Darbietung intensiver Bühnenkunst, wobei dahingestellt bleiben muß, wie diese Rollen „richtig“ anzulegen sind.

Hier jedoch stellt sich zunächst der Eindruck ein, Merle Wasmuth müsse gegen die inszenatorischen Zauberkunststückchen anspielen, um Intensität zu gewinnen. Das geht zu Lasten der Charakterisierung Winnies, sie bleibt nicht nur im wörtlichen Sinne blaß. Schuld an der Blässe hat aber auch die Lichtführung, die wohl wegen der technischen Zwänge recht steil von oben erfolgen muß und das Gesicht der Darstellerin deshalb stets etwas verschattet zeigt. Immerhin jedoch ließ Marcus Lobbes (Regie) ihr ihren Text, dem konzentriert zu folgen auch in dieser Inszenierung noch ein Gewinn ist.

Anders als Winnie hat Krapp im „Letzten Band“ keine Probleme, erkennbar zu bleiben; den alten, verbitterten, sich als einen Gescheiterten Erlebenden spielt Ekkehard Freye gut ausgeleuchtet und gespiegelt in der ersten Stuhlreihe sitzend; als jungen, arroganten Krapp erlebt ihn das Publikum per Videoprojektion. Kann man machen.

Weitergehende Aktualisierungsversuche sind nicht festzustellen, wofür man dankbar sein muß. Krapp und Winnie überzeugen auch so – wenn man sie nur läßt. Das Publikum dankte mit reichem Applaus.

Weitere Termine: 11., 23. September, 1., 25., 28. Oktober
Informationen und Karten Tel. 0231 5027 222
www.theaterdo.de




Thomas Mann auf der „Kö“: Unterhaltsame Saisoneröffnung in Düsseldorf

Foto: E. Schmidt

Das Düsseldorfer Schauspielhaus (Foto: Eva Schmidt)

Ein Teil des „Kö“-Bogens ist immer noch eine Baustelle, im Moment haben die Graffiti-Künstler den Gustav-Gründgens-Platz am Stadttheater im Griff und sprühen bunte Bodengemälde aufs Pflaster. Doch zur Saisoneröffnung unternimmt das Düsseldorfer Schauspielhaus eine Zeitreise ins Jahr 1954: Damals sah die „Königsallee“, so der Titel des gleichnamigen Stückes nach dem Roman von Hans Pleschinski, noch ein wenig anders aus, obwohl sie schon lange Düsseldorfs „Prachtstraße“ war.

Auch das Hotel Breidenbacher Hof, in dem die Handlung größtenteils angesiedelt ist, steht nach wie vor am gleichen Platz. Doch um Mode, High Society oder Shopping geht es in „Königsallee“ gar nicht, sondern um deutsche Nachkriegsgeschichte und dies am Beispiel des Nobelpreisträgers Thomas Mann. Tatsächlich war der Autor im August 1954 auf kurzer Lesereise im Rheinland, in Köln und Düsseldorf, wo anschließend ihm zu Ehren ein Empfang im Künstlerverein Malkasten gegeben wurde, wie der „Zauberer“ in seinem Tagebuch notiert.

Diese wohl nicht ganz so zentrale Begebenheit in Thomas Manns Leben hat der Autor Hans Pleschinski zu einem Roman aufgeblasen, indem er eine Begegnung zwischen Thomas Mann und einem ehemaligen jugendlichen Schwarm Klaus Heuser hinzugedichtet hat, der ursprünglich aus dem Rheinland stammte. Außerdem treten Weggefährten und Widersacher sowie enttäuschte Familienmitglieder wie zum Beispiel Golo Mann (Jakob Schneider) auf, die alle in mehr oder weniger schwieriger Beziehung zu dem bewunderten Genie stehen.

Ilja Richter hat den Roman für das Düsseldorfer Schauspielhaus dramatisiert, Wolfgang Engel führte Regie. Und dies ist ganz unterhaltsam geraten, denn die Verdichtung für die Bühne führt zur Konzentration des Stoffes gegenüber dem etwas weitschweifigen Roman. Zudem gelingt es der Inszenierung, die Atmosphäre der 50er Jahre und das Ringen mit der Nazi-Vergangenheit plausibel zu machen. Wie die Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin stehen wuchtige schwarzgraue Quader auf der Bühne (Olaf Altmann), die zugleich als Hotelgänge fungieren. Denn Klaus Heuser (Harald Schwaiger) und sein Freund Anwar Batak Sumayputra (Yung Ngo) aus Asien haben unwissentlich im selben Hotel wie Thomas Mann Quartier genommen.

Heuser, seit fast zwanzig Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen, machen sogleich die Stickigkeit und spießige Nachkriegsmoral zu schaffen, die er durch sein freieres Leben in Asien gar nicht mehr gewohnt ist. Auch bekommen ihm und seinem Liebhaber die scharfen Schnäpse und großen heimatlichen Biere nicht besonders; Schwaiger und Ngo spielen dieses Pärchen mit Leichtigkeit und Ironie und bieten mit ihrem Bekenntnis zur schwulen Lebensweise ein Gegenbild zu Thomas Manns „geheimer“, sublimierter Homosexualität. Zudem gelingt ein Blick von außen auf die Verstrickungen der Nazi-Zeit, die beispielsweise durch die Figur des Mitläufers Prof. Betram (Artus-Maria Matthiessen) verkörpert wird.

Bücherverbrennung, Exil, anti-intellektuelle Ressentiments: Nur schwach übertüncht von kriecherischer Bewunderung für den Groß-Schriftsteller schwappt die ganze braune Soße wieder nach oben, was besonders Erika Mann (Claudia Hübbecker im charakteristischen Hosenanzug) zu schaffen macht. Dramatisch fassbar wird dies durch die Figur des Conférenciers (Martin Reik), der mit einer transportablen Musikanlage zwischen den Szenen schauerliche Medleys von „Wenn bei Capri die rote Sonne…“ bis „An allem sind die Juden schuld“ abnudelt.

Und Thomas Mann selbst? Tatsächlich hat die Hauptfigur, distinguiert gespielt von Reinhart Firchow, gar nicht mal so übermäßig viel Text, abgesehen von einer Ansprache an die Nachkriegsdeutschen gegen Ende. Doch wie dabei sein Gesicht mit der runden Brille im Halbschatten liegt, fühlt man sich in eine der zahlreichen Spielfilme oder Dokumentationen zur Familie Mann versetzt, so dass der Dichter von den Toten auferstanden scheint. Bei Abercrombie&Fitch auf der „Kö“ ist er allerdings noch nicht gesichtet worden…

Karten&Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Auf zur fröhlichen Menschenjagd: Schauspiel Dortmund zeigt Spiel um Leben und Tod

"Wetten dass" war gestern: Für Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann) geht es um alles (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

„Wetten, dass…?“ war gestern: Für Bernhard Lotz (Sebastian Kuschmann) geht es um alles. (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Das Kommando hat Pistolen, es hat Kalaschnikows, es hat Handgranaten. Es besteht aus drei Auftragskillern, die den Kandidaten einer TV-Show sechs Tage lang quer durch die Stadt jagen. Je später sie ihn töten, desto mehr erhöht sich ihr Preisgeld.

Schafft es der Kandidat hingegen, die mörderische Hatz zu überleben und noch während der Live-Show auf einen roten Knopf zu drücken, erhält er zur Belohnung eine Million Euro. Die Bevölkerung ist dabei ausdrücklich dazu aufgerufen, ihm entweder zu helfen oder ihn auffliegen zu lassen.

Das sind die Spielregeln der „Die Show“ („Die“ spricht sich dabei wie das englische Wort für Sterben). Es handelt sich um eine bitterböse Mediensatire, mit der das Dortmunder Schauspiel jetzt die neue Spielzeit eröffnete. Intendant Kay Voges hat das Stück gemeinsam mit den Dramaturgen Alexander Kerlin und Anne-Kathrin Schulz entwickelt. Ihre Vorlage war ein Fernsehspiel von Tom Toelle aus dem Jahr 1970. Wolfgang Menge schrieb dazu ein Drehbuch, das so realistisch wirkte, dass manche Zuschauer das Spiel für echt hielten und die fiktive Telefonnummer des Senders anriefen.

Der Theaterversion, die nun in Dortmund zu sehen ist, muss ein ungeheurer Aufwand vorangegangen sein. Wie viele Arbeitsstunden mag allein das Drehen der Videos gekostet haben? Beleuchter, Kostümbildner, Techniker, Kameramänner, die Band von Tommy Finke und nicht zuletzt die Schauspieler müssen bis an ihre Grenzen gegangen sein, um das Spektakel auf die Bühne zu bringen.

Ulla (Julia Schubert) und Bodo (Frank Genser) sind ein aalglattes Moderatoren-Duo (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Ulla (Julia Schubert) und Bodo (Frank Genser) sind ein aalglattes Moderatoren-Duo. (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Im Studio richtet Carlos Lobo das Publikum zum Klatschvieh ab, bevor das aalglatte Moderatoren-Duo Bodo (Frank Genser) und Ulla (Julia Schubert) die vergangenen sechs Tage resümiert. Sie lassen ein Feuerwerk von Video-Einspielungen, Expertengesprächen, Schleichwerbung und Studiogästen auf uns los.

Live kommt es dann zum Showdown zwischen Kandidat Bernhard Lotz (eine kolossale Kampfmaschine: Sebastian Kuschmann) und dem Killer-Trio, das uns aus Film und Fernsehen nur zu bekannt vorkommt (wunderbar schräg: Andreas Beck, Björn Gabriel und Bettina Lieder).

Bis ins kleinste Detail führen Voges und sein Team uns den täglichen TV-Wahnsinn vor: die ausgeweideten Emotionen, den auf Quote schielenden Menschen-Zirkus, das Gehechel des Echtzeit-Journalismus, sabbernd vor Gier nach jedem neuen Nachrichten-Schnipsel – fein beobachtet und virtuos persifliert. Doch je länger die „Die Show“ dauert, desto mehr stellt sich die Frage nach dem Erkenntnisgewinn. Natürlich ist das alles widerlich. Aber haben wir das nicht schon vorher gewusst?

Baeby Bengg (Eva Verena Müller) beglückt uns mit  dem japanischen Top-Hit "Surimi Sushi Bang" (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Baeby Bengg (Eva Verena Müller) beglückt uns mit dem japanischen Top-Hit „Surimi Sushi Bang“. (Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Dortmund)

Schon nach der dritten dilettantischen Gesangseinlage von Castingshow-Stars sehnen wir uns nach der Fernbedienung. Es geht uns wie im wirklichen Leben: Wir möchten umschalten, oder besser gleich ganz ausschalten. Aber diesmal sind wir machtlos, können uns nicht entziehen. Hier heißt es durchhalten bis zum krachenden Finale. Feuerwerk, Konfettiregen, Zusammenbrüche, Siegerposen. Würg.

Das Publikum lacht an den richtigen Stellen. Es scheint die Satire zu goutieren und amüsiert sich dabei wie Bolle. Uns aber beschleicht der Verdacht, dass ein hoher Prozentsatz der Besucher sich privat exakt so verhält wie die Passantin auf dem Dortmunder Westenhellweg (die natürlich von einer Darstellerin gespielt wird). Vom Moderatoren-Team nach ihrer Meinung zur „Die Show“ befragt, sagt sie mit Nachdruck in die Kamera, dass diese natürlich entsetzlich sei, ein menschenverachtender Dreck, der eigentlich verboten werden müsste. „Sie werden die Sendung also nicht sehen?“, hakt das TV-Team nach. Da lächelt die Frau verschmitzt: „Das habe ich nicht gesagt…“

Bis 24. Januar 2016. Ticket-Hotline 0231/50 27 222. Informationen: www.theaterdo.de/detail/event/die-show/




Von Fledermäusen und Menschen: „Die Franzosen“ nach Proust auf der Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Ein letztes Mal blendet das Licht, das durch die alten Fabrikfenster hereinscheint, grell die Augen. Dann senkt sich die Dämmerung über die Zeche Zweckel in Gladbeck, Spielort von Krzysztof Warlikowskis „Die Franzosen“ nach Marcel Proust bei der diesjährigen Ruhrtriennale.

Nun übernehmen die Nachttiere die Herrschaft über den Raum. Ein flinker Schwarm Fledermäuse durchflattert eine Szenerie, in der sich der Abgesang auf ein dekadentes Europa in nahezu fünfstündiger Spieldauer entfaltet. Nun, Europa ist ja auch sehr alt, so braucht ebenfalls sein Niedergang einige Zeit; Zeit, bis die materiellen, seelischen, psychologischen, politischen und gesellschaftlichen Zersetzungsprozesse greifen und ihr Gift entfalten.

Die kleinen Vampire und unfreiwilligen Mitspieler kümmert dies indes nicht, sie haben auch kein Sprachproblem: Die polnische Aufführung ist zwar deutsch und englisch übertitelt, doch in dialogreichen Szenen werden hohe Anforderungen an die Lesegeschwindigkeit der Zuschauer gestellt, wenn sie gleichzeitig die Aktionen der Schauspieler mitverfolgen möchten. Doch wer sagt, dass Proust einfach sein sollte? Dazu ist sein Werk schlicht zu komplex und fordert, dass man sich darauf einlässt, sonst hat man nichts davon.

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Warlikowski hat denn auch einige Themen aus dem vielschichtigen Romanzyklus stärker gewichtet und sich auf diese konzentriert: Die Dreyfus-Affäre und der damit zusammenhängende Antisemitismus nehmen reichlich Platz ein, zumal diese Fragen heute unter anderen Vorzeichen wieder virulent sind. Auch das Thema Homosexualität und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft beschäftigt die Inszenierung.

Nicht zuletzt blicken wir auf die Nachtseite der menschlichen Begierden, seien sie auf Männer oder Frauen gerichtet, und die Gewalt, die dies zwischen Menschen erzeugt. Tatsächlich wird hier in mancher Szene, beispielsweise zwischen Swann (Mariusz Bonaszewski) und Odette (Maja Ostaszewska), statt mit Prousts psychologischem Florett mit gröberen Waffen gekämpft und handgreiflich gerungen, wenn es um Eifersucht geht.

Die Lebedame ist nicht mehr in Musselinstoff gehüllt, sondern trägt rote Dessous und Stöckelschuhe und Oriane de Guermantes (Magdalena Cielecka), die vornehmste aller adeligen Damen, sieht mit Designer-Mini, blondiertem Haar und High-Heels eher nach rotem Promi-Teppich mit einem Schuss ins Gewöhnliche aus, denn nach wahrer Aristokratie. Aber wo sind sie überhaupt geblieben, die Aristokraten? Aus Baron de Charlus (Jacek Poniedzialek) wird im Laufe des Stücks eine Art Karl Lagerfeld-Verschnitt, mehr haben wir Heutigen nicht mehr aufzubieten. Wenn das schon der Gipfel der europäischen Kultur und Lebensart sein soll…

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Deswegen tickt denn auch überm Bartresen, der die ganze Länge der Bühne einnimmt, unweigerlich die Uhr und der Geiger Morel (Piotr Polak) ist ganz profan zum DJ geworden. Die Aristokratie sitzt derweil in einer Art gläsernem Salonwagen wie in einer Zeitkapsel und ergeht sich in Klatschgeschichten.

Merkt denn keiner, dass draußen schon der Erste Weltkrieg heraufdämmert? Seine Auswirkungen muten dann eher an wie die der Tschernobyl-Katastrophe und der Berserker im Ganzkörper-Schutzanzug fegt den letzten Rest edles Porzellan mit einem Wisch vom Tisch. Da kann auch Phädra (Agata Buzek) nicht mehr helfen, die, wie um einen Rest klassische Bildung hochzuhalten, verzweifelt ihre Rolle deklamiert. Einst spielte Rachel diese Glanzrolle, die Geliebte Saint-Loups (Maciej Stuhr), der dann aber Gilberte, die Tochter von Odette und Swann heiratete…aber, ach, was, wer kennt noch diese alten Geschichten und diese längst vergessenen Leute? Selbst die Fledermäuse nicht und wenn, dann könnten sie es uns nicht erzählen, denn sie funken auf einer ganz anderen Frequenz als wir, für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar, diese feinen Töne in lärmenden Zeiten…

Karten und Termine:
www.ruhrtriennale.de




Passionsspiel in der großen Halle – „Accattone“ nach Pasolini bei der RuhrTriennale

„Accattone“ in der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken: die erste große Produktion der diesjährigen Ruhrtriennale, bei der Festspiel-Intendant Johan Simons Regie führt und Philippe Herreweghe das Collegium Vocale Gent dirigiert. Vorlage des Stücks ist der gleichnamige Film von Pier Paolo Pasolini aus den 60er Jahren, in dem Gewalt, Prostitution und Armut allgegenwärtig sind. Am Wochenende war Premiere: Ein großes Spektakel, das die große Wirkung indes schuldig bleibt.

Johan Simons (c) Julian Röder

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons hockt auf Schienen, die zum Bühnenbild von „Accattone“ in der Kohlenmischhalle in Dinslaken gehören. (Foto: Ruhrtriennale/Julian Röder)

Im Mittelpunkt steht der Zuhälter Accattone und sein Niedergang bis zum suizidalen Unfalltod, den er, sterbend, als seine Befreiung empfindet. Eine düstere Geschichte in Gestalt einer christlichen Passion, was anzunehmen in Sonderheit die vom Collegium Vocale vollendet schön dargebotenen Bachschen Kantaten nahelegen. Sie trösten über einen Abend hinweg, der davon abgesehen wenig Erbauliches bietet.

Zugige Kohlenmischhalle

Das Theaterspiel – zu sehen gibt es eine Fassung von Koen Tachelet – hat Johan Simons gerade so inszeniert, wie man es von ihm kennt, frontal, burlesk und mit einigen grotesk überzeichneten Charakteren ausstaffiert. Mit solchen hemdsärmelig wirkenden Stilmitteln weiß Simon erstaunlich subtile Geschichten zu erzählen, weiß bedrückend klarzumachen, wie nah sich Liebe und Gewalt, Sexualität und Einsamkeit sein können.

Doch die riesige, zugige Kohlenmischhalle mit an die 200 Metern Raumestiefe braucht er dafür nicht wirklich. Die wenigen Situationen, in denen überhaupt einmal die Tiefe des Bühnenraums für Abgänge und ähnliches genutzt wird, hätte man ohne dramatische Verluste auch anders realisieren können. Das Collegium Vocale sitzt in den ganzen zweieinhalb Stunden der quälend langsam sich voranbewegenden Inszenierung auf seinem Podest, friert (wie die zahlreichen zum Einsatz gelangenden schwarzen Schals vermuten lassen) und musiziert – wie gesagt – vorzüglich.

Ein schmutziges Spiel

Eine Bühne im eigentlichen Sinn gibt es nicht, Darstellerinnen und Darsteller müssen sich auf staubiger Schotterfläche abarbeiten, fallen, liegen, hocken auf dieser unwirtlichen Unterlage und werden im Lauf der Vorführung immer dreckiger. Man hat Mitleid mit ihnen und fragt sich immer wieder, ob das für ein vollständiges Stückverständnis wirklich sein muß. Um so anerkennenswerter indes, daß das Ensemble hier eine durchaus respektable Leistung abliefert, allen voran Steven Scharf in der Titelrolle. Nicht so schön ist, daß die Deutschkenntnisse der niederländischen Darsteller ihre Grenzen haben, was dem Fluß der Dialoge nicht eben guttut.

Das soll mal reichen. Das Collegium Vocale Gent war am 16. August noch einmal zu hören, „Ich elender Mensch“ war der Abend überschrieben, und dies ist auch der Titel der ersten Kantate in „Accattone“. Ein weiterer Auftritt des Collegiums ist am 21. August, Titel: „Ich hatte viel Bekümmernis“. Beides in der Bochumer Jahrhunderthalle.

  • Weitere Termine: 19., 20., 22., 23. August, 20 Uhr, Kohlenmischhalle, Zeche Lohberg, Dinslaken
  • www.ruhrtriennale.de



RuhrTriennale: „Nomanslanding“ im Duisburger Hafen überwindet alles Trennende

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Sie kommt genau auf uns zu: Die andere Hälfte von „Nomanslanding“ (Foto: rp)

Auf den ersten Blick wirkt das Ganze wenig spektakulär. Zwei halbierte Rieseneierschalen stehen da irgendwie auf dem Wasser und erinnern an Konzertmuscheln, was aber keinen Sinn ergibt, weil sie sich ja gegenüber stehen und deshalb kein Publikum beschallen können. Stege führen ans Ufer. Die Installation, um eine solche handelt es sich also offenbar, befindet sich im „Eisenbahnbassin“, einem Hafenbecken in Duisburg Ruhrort, das früher einmal der Eisenbahnhafen war und heute mehr oder weniger funktionslos ist. Hier steht das Wasser sehr still, was ein Grund gewesen sein mag, „Nomanslanding“ hier aufzubauen.

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Installation im Duisburger Eisenbahnbassin. Ab und zu schaut ein Ausflugsboot vorbei. (Foto: rp)

„Nomanslanding“ heißt das Gebilde, für das sich eine deutsche Übersetzung nicht eben aufdrängt. „Niemandes Landung“ vielleicht, „keines Menschen Landung“? Jedenfalls sind die beiden Rieseneierschalen im Duisburger Hafen neben Joop van Lieshouts phantasievollem Siedlungsgewürfel vor der Bochumer Jahrhunderthalle die bedeutendste skulpturale Arbeit der diesjährigen Ruhrtriennale. Der Begriff Skulptur indes hilft dem Verständnis nur begrenzt. Vor allem nämlich funktioniert „Nomanslanding“ als Inszenierung.

Und die läuft so ab: Bevor das Publikum sich (abgezählt und sicherheitstechnisch instruiert) über die beiden Stege zu den Muscheln begibt, wird es mit Schwimmwesten ausgestattet, muß es die Teilnahmebedingungen unterschreiben. Dann wird man im Rund der Halbkugel auf einer Sitzbank plaziert – und gewahrt kurze Zeit später fast zufällig, daß sich die eigene Halbkugel auf die andere zu bewegt. Aus einem unsichtbar bleibenden Soundsystem sind derweil Kriegsklänge und vielsprachige Textzeilen zu hören. Immer näher kommt die eine Halbkugel der anderen, schließlich berühren sie einander, es wird dunkel, der Soundtrack bleibt bedrohlich.

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Schwimmwesten sind für den Besuch der beiden Muscheln vorgeschrieben. Sie machen ein etwas mulmiges Gefühl. (Foto: rp)

Klagender Gesang ertönt, nach einer weiteren Kunstpause wird es heller im runden Raum, schließlich ergeht die Aufforderung die Hälften zu tauschen. Und nicht unberührt verläßt man das Geschehen, das kaum 30 Minuten dauerte, durch die Halbkugel von gegenüber.

Breit ist der Fundus an Metaphorik, der zur Deutung bereitsteht. An die Überquerung des Flusses Styx ist zu denken, der die Welt der Toten von der der Lebenden trennt, und wenn einem außerdem noch afrikanische Flüchtlingsboote und die dazugehörigen Katastrophennachrichten einfallen, liegt man sicher auch nicht falsch.

Indes, der teilnehmende Künstler Andre Dekker hebt es in seinen Erläuterungen zum Werk ausdrücklich hervor, ist der Bezug ein Gutstück konkreter. Die Arbeit bezieht sich auf den Ersten Weltkrieg, der 1914 ausbrach, will indes nicht Anklage sein, sondern Klage, will der Trauer um die vielen Todesopfer Raum geben. „Ein Klagelied, vielleicht auch ein Wiegenlied“, sagt Dekker. Nämlich dann, wenn aus der traurigen Gewißheit des Geschehenen die vergewissernde Geborgenheit des „Nie wieder!“ sich formt. Sinnliche Symbolhaftigkeit, wenn man so will – und sei es auch nur die Querung von etwas Wasser in einem Duisburger Hafenbecken.

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Gleich wird es duster. Die beiden Hälften stoßen aneinander. (Foto: rp)

Als die Arbeit 2014 zum ersten Mal in Sydney installiert wurde, jährte sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Das war auch für die Australier ein wichtiges historisches Datum, denn als Teil des Commonwealth hatte das Land auf britischer Seite an dem Krieg teilgenommen und hohe Verluste erlitten. Die Duisburger Zweitverwertung 2015 muß nun leider ohne runde Jahreszahl auskommen, und Glasgow im kommenden Jahr (die dritte Station) erst recht. Da kann man sich schon mal fragen, ob der erhebliche Aufwand gerechtfertigt ist. Die Antwort fällt nicht leicht.

Jedenfalls hat der Duisburger Hafen bis zum 13. September eine Attraktion zusätzlich zu bieten, und der Eintritt ist frei. Allerdings bleiben Zweifel, ob die komplizierte Besichtigungsprozedur mit großer Nachfrage, vor allem an Wochenenden, fertig wird. Und ob die alles in allem doch recht komplexe Technik bis zum Ende durchhält und kein Vandalismusopfer wird. Aber man soll nicht unken. Halten wir es mit Kaiser Franz und schau’n wir mal.

Noch ein paar Fakten: Die Künstlerinnen und Künstler, die sich „Nomanslanding“ ausgedacht haben, sind Robyn Backen (Australien), Andre Dekker (Niederlande), Graham Eatough (Großbritannien), Nigel Helyer und Jennifer Turpin (beide Australien).

  • Die Adresse ist Duisburg, „Am Eisenbahnbassin“, Autoparkplätze sind rar.
  • Geöffnet bis 13. September tgl. 13 bis 23 Uhr, Eintritt frei, „wetterfeste Kleidung empfohlen“.
  • Mehr Informationen: www.ruhrtriennale.de, www.urbanekuensteruhr.de

 

 

Zwei Strophen des Klageliedes, dem Programmzettel entnommen:

Verse 1

We will meet you at the river

We’ll draw closer on the tide

You can hear us in the water

From the shore to the other side

 

Verse 2

All our lives brought here together

To flow before your eyes

At last on Nomanslanding

Cast off the line untied




Die besondere Kraft des Körpertheaters – ein sommerliches Festival in Essen

Jos Houben

Die Kunst des Lachens: Jos Houben (Foto: Giovanni Cittadini Cesi)

In Großbritannien ist der Begriff „physical theatre“ eine feste Größe für alles, was sich bewegt, also weder reiner Tanz noch reines Schauspiel ist. Körpertheater – wenn man so will. Die Folkwang-Hochschule ist ein Beispiel für die Lehre dazu. Im Essener Maschinenhaus findet (erst) seit 2012 die „Internationale Plattform Physical Theatre“ statt.

Begründet wurden die Tage internationalen Ausdrucks von Fabian Sattler (Vorstand des Maschinenhauses) und Thomas Stick (Studiengang der Universität Folkwang). Unter dem Titel „Full Spin“ entstand eine Festivalatmosphäre, wie man sie sonst kaum noch kennt. Rund um den Ort der Veranstaltungen konnte man abhängen, KünstlerInnen treffen, mit anderen nach- oder vorbereiten. Alle eingeladenen Gruppen waren vor Ort und teilten ihre Erfahrungen mit dem Publikum, das überwiegend aus jungen Leuten bestand.

Vom 1. bis 5. Juli zeigten Gruppen aus ganz Europa, dass dieses „Genre zwischen den Stühlen“ inzwischen überall eine feste Größe ist. Interdisziplinär, multimedial – so nennen es die meisten Off-Theater noch in ihren Anträgen auf Förderung.

Ganz eigener „Stallgeruch“

Sie sind selten geworden, die Festivals mit einem eigenen „Stallgeruch“. Hier wird nicht der post-akademischen Versuchsanordnung gehuldigt, werden keine Forschungsansätze in Performances umgesetzt, sondern man erlebt pures Körpertheater, das es seit Jahrhunderten gibt und keinen Staub angesetzt hat. Im Gegenteil.

Physical Theatre in Essen

Pia Alena Wagner mit Ensemble (Foto: Mats Südhoff)

Das Gast gebende Institut ist naturgemäß auch vertreten. Nachwuchskünstler aus dem Studiengang Physical Theatre der Folkwang Universität der Künste zeigten zwei 35-Minuten-Stücke. Zum einen sah man einen Versuch, clowneskes Handwerk zu vermitteln, wobei sogar nicht vor der roten Nase zurückgeschreckt wird. Leider war dieses Spiel um einen Popcornautomaten in nostalgischem Kirmeswagenkitsch von einem technischen Fauxpas begleitet, der die agierende Akteurin in verzweifelte Improvisationen trieb. Eine gute Übung, kann an sagen, der Abend bleibt für sie unvergesslich. Am Ende brutschelten dann doch ein paar Maiskörnerchen.

Bewegungen mit Botschaft

Pia Alena Wagner zeigte im Anschluss ihr Stück „GUT“. Das war es auch. Vier Musiker in Bademänteln, auf Sessel flätzend, begleiten eine Text und Performance-Mischung mit der jungen Frau, die mit ihrem Bewegungsrepertoire immer wieder überraschte, die witzig und intelligent daher kam und es gar schaffte, eine Botschaft zu vermitteln: „Was ist gut? Was ist schlecht? Was ist mit der Menschheit los? Warum denke ich öfter darüber nach, ob ich gut aussehe, als darüber, was wohl mit Kindern in einer eingestürzten Textilfabrik geschieht? Aber was bringt es schon, sich zu zerfleischen? Zusammen sind wir stark! Oder geht es wieder nur um mich? Was zu tun ist? Keinen blassen Schimmer.“  Alles wirkte lässig – wie das gesamte Festival.

Was zum Lachen reizt

Ein Highlight war sicherlich die Soloperformance oder Lecture Demontration (oder wie immer man es nennen will) des Belgiers Jos Houben. Er bildet Schauspieler aus und berät Comedy- und Opernensembles, Zirkusschulen, Tanzakademien, Universitäten, Zauberer. Seit 2000 ist er Ausbilder an der »École Jacques Lecoq« Paris. Er zeigt in seiner Show Mittel, die zum Lachen führen, einfach, archaisch, allesamt nicht neu und dennoch verblüffend, als sähe man diese Slapstick oder Situationskomik zum ersten Mal. Erfrischend einfach und mit großer Wirksamkeit zeigt der schlaksige Mann, wie leicht es ist, die Lachmuskeln zu animieren, wenn man es kann, wenn man Menschen beobachtet und eine Bewegungstechnik hat, die die kleinen Unfälle des Lebens zu einer großen Story machen kann.




Die Erkundung der Elemente: Tanztheater Cordula Nolte ganz „natürlich“

sandra luft

Die Kraft des Atmens – Szene mit Sandra Bolen. Foto: Jochen Riese

„Natürlich“, „biologisch“, „organisch“ – die Adjektive sind zu Schlagworten der Werbung geworden, denen man kaum mehr vertrauen mag. Was bedeutet das wirklich: Natürlichkeit? Das Dortmunder Tanztheater Cordula Nolte geht mit seinem neuesten Stück „natürlich“ an die Basis und erforscht tänzerisch die vier Elemente. Feuer, Wasser, Luft und Erde – natürlicher geht es nicht.

Wie fühlen wir uns in den Elementen? Was machen sie mit uns? Und was passiert, wenn sie fehlen? Um das herauszufinden, hat sich das elfköpfige Ensemble unter Leitung von Cordula Nolte in die Natur begeben, hat mit Bewegungsabläufen im Wasser oder auf dem Erdboden experimentiert. Herausgekommen sind vier Szenen ganz unterschiedlichen Charakters, die jeweils ein Element in Szene setzen – tänzerisch und (schau)spielerisch, musikalisch, farblich – und am Ende sogar olfaktorisch.

Foto: Jochen Riese

Ein Feuerwehrschlauch bannt die Flammen. Foto: Jochen Riese

Orange- und Rottöne haben die leichten, flatternden Kleider des Feuers. Nicht die Bedrohung und Gefahr, die vom Feuer ausgeht, ist das Thema, sondern seine Schönheit und Faszination. Als blicke der Zuschauer in ein Lagerfeuer, entdeckt er auf der Bühne an der Rheinischen Straße lodernde Flammen, die sich nach oben recken, rhythmisch züngelnde und zitternde Flammen, die dann langsam ersterben, sieht Funken zur Seite stoben.

Ein Feuerwehrschlauch, der die Bühne kreuzt, ist das einzige Accessoire in diesem Teil; an ihm bzw. unter ihm ziehen sich die Tänzerinnen und Tänzer liegend über die Bühne – ein Spiel mit dem Feuer, bis der Schlauch die Flammen schließlich umwickelt und damit bannt. Doch es geht auch das sprichwörtliche Feuer der Liebe, die Nähe und Vertrautheit, das Aufeinander-Eingespielt-Sein, das die Tänzer paarweise erkunden.

Foto: Jochen Riese

Wassermangel und Verschwendung: Szene mit Olaf Nowodworski. Foto: Jochen Riese

Auf das Feuer folgt Wasser, hier steht der Mangel im Vordergrund: Dürstende stecken zu zweit in einer Regentonne, strecken ihre Arme aus in Richtung eines schwarz gekleideten Mannes (Olaf Nowodworski) auf der anderen Seite der Bühne, der zwischen mehreren gefüllten Wasserflaschen steht. Gespielt großmütig spendet der Geizige den Leidenden nur wenige Tropfen.

Die Szene ändert sich: Drei Tänzerinnen formieren sich singend in einer Reihe: „Ein kleiner Pinguin steht auf dem Eis – jetzt ist es weg, so’n Scheiß“, während  von allen Seiten Plastiktüten auf die Bühne fliegen. Die Tänzerinnen, nun in türkis-blau-grün, werden zu großen weiche Wellen, sie drehen sich wie Strudel am Boden umeinander und gehen rhythmisch mit Po oder Oberkörper auf und ab wie kleine Wellen, die am Ufer anlanden.

Der schwarz Gekleidete taucht wieder auf, der Mensch, der das Wasser braucht und es dennoch bekämpft. Das Wasser ist kraftvoll, die Naturgewalten siegen über den Menschen, ringen ihn zu Boden – und doch bleibt das Wasser verschmutzt und voller Plastik-Müll zurück.

Weiß und transparent sind die Kostüme beim Luft-Thema, das dem Atmen gewidmet ist. Die Tänzerinnen und Tänzer werden ganz Atem, vollziehen mit dem Körper nach, wie die Luft sie durchströmt, wie sich Brust und Bauch und Körper heben und senken. Bunte, mit Sauerstoff gefüllte Luftballone werden zum begehrten Gut, nach dem eine Hatz entsteht.

Wachsendes, loderndes Feuer. Foto: Jochen Riese

Wachsendes, loderndes Feuer. Foto: Jochen Riese

Nach der Pause das Thema Erde, die das Ensemble in Mengen auf die Studio-Bühne geschafft hat. Dieser letzte Teil ist der sinnlichste des Abends: Langsam und hingebungsvoll streicheln die Tänzerinnen und Tänzer die Erde oder graben die Füße ein, riechen an ihr und reiben sich mit ihr ein, verspeisen sie gar genüsslich mit Messer und Gabel in Gartenhandschuhen. Nach und nach zieht der kühle Duft frischer Erde ins Publikum. Leichtfüßig springen zwei Tänzer in hüfthohe Papiertüten wie Samen, die sich Platz zum Keimen suchen, Wurzeln schlagen, wachsen, sich in die Luft recken. Andere erkunden mit ihren Körpern die Schwere und die Anziehungskraft der Erde, stampfen sitzend mit den Füßen.

Plötzlich bewegt sich etwas in dem Erdhügel hinten auf der Bühne, den man gar nicht mehr im Blick hatte: Ein Bein bohrt sich aus der Erde, dann zwei, dann der ganze Mann (Holger Quiering), der sich durch das Erdreich schneckt, wühlt, kriecht, auf dem Kopf stehend mit den Beinen wie mit Fühlern die Umgebung erkundet – ein starke Übersetzung dafür, „ganz in seinem Element“ zu sein.

Ganz in seinem Element: Die Erkundung der Erde (Holger Quiering). Foto: Jochen Riese

Ganz in seinem Element: Die Erkundung der Erde (Holger Quiering). Foto: Jochen Riese

Jeder Szene und jedem Element hat Ensemble-Mitglied Olaf Nowodworski einen eigenen Sound verpasst: fließend sanft und voller Obertöne beim Thema Wasser, ätherisch beim Thema Luft, rhythmische Percussion beim Feuer, schweres Schlagwerk bei der Erde. So wird der Abend zu einem sinnlichen Gesamtkunstwerk, von dem kraftvolle Bilder im Kopf bleiben.

Nächste Termine hier.




Europäische Erstaufführung: Ruhrfestpiele mit Taboris Frühwerk „Flucht nach Ägypten“

Foto: Bohumil_Kostohryz

Gestrandet in Ägypten: Flüchtlingsfamilie Engel (Heikko Deutschmann, Tatjana Nekrasov, Yuri Schmitz). Foto: Bohumil_Kostohryz

Zum Abschluss der Ruhrfestspiele hat Intendant Frank Hoffmann noch ein Bonbon für Theaterfreunde: die europäische Erstaufführung eines Tabori-Stücks, das Erstlingswerk des großen Theatermannes.

Schon 2012 hatte Hoffmann sich als Theater-Archäologe ums Werk von George Tabori verdient gemacht und dessen „Abendschau“ in Recklinghausen uraufgeführt. Nun bringt er die „Flucht nach Ägypten“ auf eine deutsche Bühne – ein Stück, das Tabori in der Hoffnung auf eine spätere Verfilmung geschrieben hatte, das bei seiner Uraufführung 1952 in der Regie von Elia Kazan am Broadway aber durchgefallen war.

Es ist ein Flüchtlingsdrama aus der Nachkriegszeit: Tabori, der wegen seiner jüdischen Herkunft selbst aus Deutschland fliehen musste, lässt Familie Engel aus Wien in einem ägyptischen Hotel stranden. Man will von dort nach Amerika übersiedeln, unter erschwerten Bedingungen: Vater Franz Engel (TV-Schauspieler Heikko Deutschmann) kam unheilbar krank aus dem KZ zurück und macht sich Illusionen über seine Genesungsaussichten. Seine Frau Lilli (Tatjana Nekrasov) ist die Mutter Courage, die mit wachsender Verzweiflung versucht, angesichts längst leerer Konten Haltung zu bewahren und die Familie samt des neunjährigen Bubi (Yuri Schmitz) bis zum ersehnten Visum durchzubringen. Eigentlich will Lilli nicht auswandern – doch nach zwei Jahren Odyssee durch Europa hat sie sich längst in ihre Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft verrannt.

Foto: Bohumil_Kostohryz

Eine Frau am Rande des Zusammenbruchs: Lilli (Tatjana Nekrasov, mit Raoul Schlechter, Marco Lorenzini, Arash Marandi, v.li.). Foto: Bohumil_Kostohryz

Das Stück spielt an einem Tag, in dessen Verlauf sich die Schlinge für die mittellosen Flüchtlinge immer weiter zuzieht: Der korrupte Polizeichef (Raoul Schlechter) will Geld für die abgelaufene Aufenthaltsgenehmigung kassieren, der gnadenlose Hotelbesitzer (Marco Lorenzini) seine ausstehende Miete eintreiben, und der kranke Franz stöhnt nach Morphium, das der Arzt (Ulrich Kuhlmann herrlich diabolisch) nur gegen Sex herausrücken will.

Immer wieder blitzt Hoffnung auf, und immer wieder stößt Lilli auf eine Mauer aus Geldgier und Geilheit. Tabori setzte das ernste Thema um, indem er – wie auch häufig in seinen späteren Stücken – ein Panoptikum komischer (Stereo-)Typen schuf. Gut und Böse sind also klar verteilt, was die Handlung schnell vorhersehbar macht: Der kranke Franz erhält nach seinem verzweifelten, tragikomischen Auftritt vor dem Konsul kein Visum („Ein Krüppel wäre eine Belastung für unser Land“). Er überzeugt seine Frau daraufhin, ihn in Ägypten zurückzulassen und mit dem Sohn zurück nach Wien zu gehen.

Foto: Bohumil_Kostohryz

Der geile Arzt (Ulrich Kuhlmann, re.) hat die unheilbare Krankheit seines Patienten verschwiegen. Foto: Bohumil_Kostohryz

Hoffmann entschied sich dazu, das 130-minütige Stück ungekürzt und ganz in seiner Entstehungszeit verhaftet in großer Besetzung auf die Bühne zu bringen – verständlich für eine Erstaufführung. Zu den zeitgenössischen Kostümen (Jasna Bosnjak) passt die sparsam eingerichtete, offene und dunkle Drehbühne, auf der bewegliche Scheinwerfer-Spots Szenen und Figuren ausleuchten. Doch so wie die Drehbühne ächzt und rumpelt, so kommt auch das Stück zu langsam in Gang. Was als Filmstoff tatsächlich gut taugen könnte, bräuchte für die Bühne Straffung und Konzentration.

Hoffmanns theaterhistorisches Verdienst ist, ein Tabori-Frühwerk belebt zu haben, das erst seit 2014, zum 100. Geburtstag des 2007 verstorbenen Autors, überhaupt in deutscher Sprache vorliegt. Ein Bühnenerfolg wird die „Flucht aus Ägypten“ jedoch auch 63 Jahre später sicher nicht.

Stückseite mit Terminen




Recht viel beachtliches Theater – eine subjektive Bilanz zu den Ruhrfestspielen

Die Ruhrfestspiele neigen sich ihrem Ende entgegen. Isabella Rosselini und die Jungfrau von Orleans werden noch im Großen Haus auftreten, doch die bilanzierende Abschlußpressekonferenz ist bereits angesetzt. Dort wird in Zahlen dargelegt, wie erfolgreich auch in diesem Jahr wieder das Traditionsfestival war – nehmen wir jedenfalls an und behaupten auch nichts anderes. So gilt es nun, die Frage zu stellen: Wie war denn dieses „tête-à-tête“ so? War es überhaupt eins? „Ein dramatisches Rendezvous mit Frankreich“, wie der diesjährige Untertitel der Veranstaltung behauptete?

ICH ICH ICH von Eugène Marin Labiche Premiere am 3. Mai 2015 im Rahmen der Ruhrfestspiele Recklinghausen, Münchner Premiere am 21. Mai 2015 im Residenztheater Mit Markus Hering (Dutrécy), Johannes Zirner (Armand, sein Neffe), Nora Buzalka (Thérèse, seine Nichte), Thomas Gräßle (Aubin, sein Diener), Oliver Nägele (De la Porcheraie, ein Geschäftsfreund), Götz Schulte (Doktor Fourcinier, sein Arzt), Wolfram Rupperti (Fromental, ein Bankier), Thomas Lettow (Georges, Fromentals Sohn), Katharina Pichler (Madame de Verrières, Fromentals verwitwete Tochter) Regie Martin Kušej Bühne Annette Murschetz Kostüme Heide Kastler Musik Bert Wrede Licht Tobias Löffler Dramaturgie Angela Obst v.l.  Katharina Pichler (Madame de Verrières), Thomas Gräßle (Aubin), Nora Buzalka (Thérèse), Markus Hering (Dutrécy), Thomas Lettow (Georges), Wolfram Rupperti (Fromental), Johannes Zirner (Armand)

Türenkomödie vor weißen Stoffbahnen: „Ich ich ich“ von Eugène Marin Labiche mit (v.l.) Katharina Pichler (Madame de Verrières), Thomas Gräßle (Aubin), Nora Buzalka (Thérèse), Markus Hering (Dutrécy), Thomas Lettow (Georges), Wolfram Rupperti (Fromental) und Johannes Zirner (Armand) (Foto: Andreas Pohlmann/Ruhrfestspiele)

Containerbuntes Festspielhaus

Jedenfalls war an Französischem einiges auszumachen im recht opulenten Programm. Das begann schon mit der künstlerischen Ausgestaltung des Festspielhauses durch Daniel Buren, eine hübsche Symbiose aus formalem Minimalismus und Üppigkeit des gestalterischen Eingriffs. Wer weiß, was als nächstes an die Reihe kommt? Der Gasometer in Oberhausen, der Reichstag?

Man muß die Sachen ja nicht unbedingt à la Christo in Stoff packen, man könnte sie auch mit farbigen Flächen restrukturieren. Ist nur so ein Gedanke. Das bunte Festspielhaus war eine gute Idee, hatte bei geringem Betrachtungsabstand die Anmutung eines Containerfrachters, und viele Besucher sind der Ansicht, daß der transparente Glasvorbau des Festspielhauses auch ohne künstlerische Intervention sehr schön ist.

Betuliche Komödie

Mehr als bunte Fassadenkunst interessierte das Kulturvolk natürlich, was hier gespielt wurde. Und sah, beispielsweise, ein Stück von Eugène Labiche unter dem Titel „Ich ich ich“. 1864 war es als „Die Egoisten“ uraufgeführt worden, was auch kein schlechterer Titel gewesen wäre: Eine muntere Türenkomödie in der Regie von Martin Kusej, die weitestgehend ohne Türen auskommen mußte, da sie lange Zeit in einem Halbrund aus Stoff spielte, der sozusagen Türen und Wände ersetzte (Ausstattung: Annette Murschetz). Kann man (frau) machen, allerdings entstand mehrfach der Eindruck, dieses in der Form häufig eher kleine, in Dialogen kammerspielhaft erzählende Stück müsse gegen das große, kalte Bühnenbild anarbeiten und tue sich damit schwer.

Abgesehen davon, kam „Ich ich ich“ sehr brav und betulich daher, man schreit nicht unbedingt nach Fortsetzung. Andererseits jedoch wurde manierlich und humorvoll gespielt, eine nette Komödie, warum auch nicht.

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Gehen, gehen, gehen: Szene aus „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ von Peter Handke (Foto: Ene-Liis Semper/Ruhrfestspiele)

Handke-Stück hinterließ starken Eindruck

Ohne Umschweife: Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“, entstanden in einer Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater, war wohl die stärkste Arbeit der diesjährigen Ruhrfestspiele, kongenial in Szene gesetzt von Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper, choreographiert von Jüri Nael und von Lars Wittershagen mit einem anmutigen Sound- und Musikteppich unterlegt.

Das Stück aus den 90er Jahren kommt ohne Text aus, es erzählt durch die Menschen, die einen Raum, eine Piazza, einen (französischen?) Boulevard bevölkern, durcheilen, okkupieren. Es bringt Aspekte des Absurden und des Bedrohlichen ein – und ist in seiner genialen sprachlosen Erzählstruktur für manche Menschen offenbar unerträglich. Die Idioten (jawoll: Idioten!) im Publikum, die meinten, das Bühnengeschehen mit ihren dämlichen Kommentaren belegen zu müssen, sollten zu Hause bleiben und Casting-Shows gucken. Ihnen zum Trotz ein toller Theaterabend.

MADAME BOVARY von Albert Ostermaier nach dem Roman von Gustave Flaubert in der Übersetzung von Elisabeth Edl Uraufführung am 21. November 2014 im Marstall Mit Sophie von Kessel (Emma Bovary), René Dumont (Charles Bovary), Gabriele Dossi (Madame Bovary), Thomas Grässle (Monsieur Homais), Alfred Kleinheinz (L'abbé Bournisien), Thomas Lettow (Monsieur Léon Dupuis), Wolfram Rupperti (Monsieur Lheureux), Bijan Zamani (Rodolphe Boulanger) Regie Mateja Koležnik Bühne Henrik Ahr Kostüme Alan Hranitelj Musik Mitja Vrhovnik-Smrekar Licht Uwe Grünewald Choreographie Matija Ferlin Dramaturgie Götz Leineweber v.l. Thomas Lettow (Monsieur Léon Dupuis), Sophie von Kessel (Emma Bovary)

Sophie von Kessel ist die unglückliche Madame Bovary. Hinter ihr: Thomas Lettow als Monsieur Léon (Foto: Thomas Dashuber/Ruhrfestspiele)

Die Seele der Madame Bovary

Nina Hoss, in Yasmina Rezas neuem Stück „Bella Figura“ grandios aufspielend, war die eine; die andere große Blonde des deutschen Theaters, und das darf hier wörtlich genommen werden, ist Sophie von Kessel, die im Kleinen Haus als Madame Bovary den Weg auf die Theaterbühne findet.

Albert Ostermaier hat Gustave Flauberts dicken Gesellschaftsroman aus dem 19. Jahrhundert zu einer dramatischen Fassung verknappt, die viel Nebenhandlung, Zeitgeist und ländliches Lokalkolorit wegläßt und gleich mit dem finalen Bankrott der Frau einsteigt. Bankrott und Gifttod, wollen uns Stück wie Inszenierung (Mateja Koleznik) weismachen, sind so etwas wie der logische Schluß einer Kaskade von desaströsen Handlungen, die darauf gerichtet waren, den zwangsläufigen (Frei-) Tod ein ums andere Mal aufzuschieben. Denn tot ist man – eine Interpretation – zu Lebzeiten schon, wenn man existieren muß wie Madame Bovary.

Allerdings bleibt bei dieser Sicht auf die Dinge die Frage weitgehend unbearbeitet, warum die Bovary so ist, wie sie ist. Dem Roman gelang die Beschreibung dieser unbotmäßigen Figur grandios. Auf der Bühne jedoch ist die Gattin des braven Landarztes Bovary nicht mehr als ein Parasit. Nichts ist hier zu spüren vom Versuch, Verständnis und Empathie für die Seele der Unzufriedenen zu entwickeln, für eine Person, die unter Begrenztheit und Dumpfheit einer kleinbürgerlichen, unfreien Existenz leidet, die sich nach leidenschaftlicher Liebe sehnt, wie sie in diesem Milieu unvorstellbar ist.

Vergnügliche Nashörner, nachdenkliche Yasmina Reza

Über weitere Produktionen der Ruhrfestspiele war in den Revierpassagen schon zu lesen gewesen; über Frank Hoffmanns gleichermaßen gelungene wie vergnügliche Inszenierung von Eugène Ionescos „Nashörnern“ mit Wolfram Koch und Samuel Finzi ebenso wie über „Bella Figura“ von Jasmina Reza. So folgt nun der Versuch eines kleinen, subjektiven Fazits.

Wertschätzung für Texte und Darsteller

Mehr noch als in den Vorjahren waren die Ruhrfestspiele 2015 geprägt von konzentriertem Theaterspiel, von Wertschätzung für Texte und Darsteller. Der unbändige Selbstdarstellungsdrang mancher Regisseure (zumal aus dem Stuttgarter Raum) blieb dem Publikum erspart. Allerdings wirkte die eine oder andere Produktion auch etwas blutarm. Ansichtig der Labiche-Komödie zum Beispiel ertappte man sich schon bei dem Gedanken, wie das alles wohl in einer Inszenierung von Robert Wilson ausgesehen hätte. Wie dem auch sei – es bleibt die Gewißheit, in Recklinghausen in den vergangenen Wochen wieder eine Menge gutes Theater gesehen zu haben, wie man es im Ruhrgebiet in dieser Dichte sonst nicht geboten bekommt.




„Die Nashörner“ bei den Ruhrfestspielen: Spielstark und bedeutungsarm

Wolfram Koch, Samuel Finzi  Foto: (c) Birgit Hupfeld

Wolfram Koch, Samuel Finzi
Foto: (c) Birgit Hupfeld

Der Vorhang bleibt geschlossen, den ganzen ersten Akt lang. Stattdessen disputieren Behringer und Hans in Reihe 8, mitten im Publikum, was sie da gesehen haben: indische einhornige oder afrikanische zweihornige Nashörner.

Bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen hat sich Intendant Frank Hoffmann „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco vorgenommen, das beliebteste Stück des rumänisch-französischen Dramatikers und ein Klassiker des absurden Theaters. Auf der Bühne bzw. mitten im Publikum: Wolfram Koch (neuer „Tatort“-Kommissar in Frankfurt) und Samuel Finzi, das Dreamteam der Berliner Volksbühne. Die perfekt aufeinander eingespielten Akteure so nah und intensiv zu erleben, ist das Geschenk Hoffmanns an sein Publikum – die Inszenierung ist es eher nicht.

Das Stück handelt in drei Akten von der allmählichen Verwandlung einer Stadt – der Gesellschaft – in Nashörner, sprich: in eine uni- und konforme Masse. Arbeiter und Akademiker, Männer und Frauen, Chefs und Angestellte lassen sich von der Aussicht auf Stärke und die Macht der Mehrheit korrumpieren. Übrig bleibt nur Behringer (Wolfram Koch) – der letzte Mensch und Aufrechte, eingesperrt in seinem Haus, das er am Ende nicht mehr zu verlassen wagt.

Das Stück ist hochkomisch schon beim Lesen. Das liegt am absurden Setting, aber auch an den Figuren und ihrer Sprache: Ionesco hat keine Charaktere geschaffen, sondern Typen, die beispiel- und klischeehaft für gesellschaftliche Gruppen stehen. Bevor sie sich selbst verlieren, verlieren sie den Bezug zur Sprache, die nicht mehr zur Verständigung taugt.

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Hans (Samuel Finzi, oben) bei der Nashorn-Werdung, Behringer (Wolfram Koch) schaut entsetzt zu. Foto: Birgit Hupfeld

 

Regisseur Hoffmann setzt noch einen drauf, lässt seine Akteure die überzeichneten Figuren und Situationen auskosten. Sekretärin Daisy (Jacqueline Macaulay) wackelt penetrant mit dem Popo, der verschwundene Herr Ochs wird umständlich unterm Tisch gesucht, Bürokollege Wisser (Steve Karier) kämmt und stutzt beim Redigieren der Gesetzestexte mit Hingabe einen Kaktus.

Handwerklich macht Hoffmann alles richtig. Er schafft starke Bilder, die Inszenierung läuft wie am Schnürchen, hat Tempo und Dynamik. Zu den stärksten Szenen gehört im ersten Akt die stark rhythmische, teils gesungene Nashorn-Sichtung im völlig dunklen Theater aus dem Publikum heraus.

Das Grundproblem der Inszenierung ist allerdings ihre fehlende Idee. Bei seiner Uraufführung 1959 in Düsseldorf waren die Nashörner ein Riesen-Erfolg – im Nachkriegsdeutschland erinnerte Ionesco schmerzhaft-wahr an die Verführung, die von der Kraft der Masse ausgeht.

Was kann das 2015 bedeuten? Das Programmheft, das an eine Lektürehilfe für Oberstufenschüler erinnert, enthält zwar einen zarten Hinweis auf die Informationsgesellschaft und die Dynamik der Digitalisierung. In der Inszenierung findet das jedoch keine Entsprechung. Stattdessen werden in Gestus und Intonierung dann und wann Anklänge an den Nationalsozialismus hör- und sichtbar. Ein Spielmannszug, der einmal lautstark spielend, einmal still das Musizieren andeutend, von links nach rechts durchs Bild läuft, verweist zaghaft auf fortgesetzte Traditionen und der Deutschen Liebe zum Militärischen. Naja…

Was verführt uns? Wer oder was sind die zeitgenössischen Nashörner? Bei Hoffmann sind die Tiere anderthalb Stunden lang nicht zu sehen – die Verwandelten verschwinden aus dem Sichtfeld und landen in der Publikumsmenge. Hoffmann setzt ganz auf die Publikumslieblinge Koch/Finzi, die schon im vergangenen Jahr in Recklinghausen als Wladimir und Estragon begeisterten. Zu sehen ist ein leicht angestaubter Klassiker, souverän gemacht und gespielt, aber letztlich bedeutungslos.

Hier gibt‘ s die nächsten Termine und Details




Nixen im Badezuber – Dvoráks Oper „Rusalka“ findet in Essen den Weg in die Psychiatrie

Rusalka (besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Szene aus der Anstalt. Rusalka (Sandra Janusaite) besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Da bringt die junge Braut ihren Zukünftigen um. Weil sie den schlimmen Finger im erotischen Techtelmechtel mit einer anderen erwischt hat. Für ihn war das eine Art Flucht: weg von einem Wesen, das ebenso faszinierend wie rätselhaft ist, spröde und stumm wie ein Fisch, hin zu einer richtigen Frau. 

Derartiges kommt in den besten Familien vor. Selbst in jenen der vorletzten Jahrhundertwende, im großbürgerlichen Gefüge des Fin de Siècle. Zu jener Zeit also, als Sigmund Freud die „Traumdeutung“ herausbrachte und Antonin Dvorák seine Märchenoper „Rusalka“ komponierte. Und so hat die niederländische Regisseurin Lotte de Beer eins und eins zusammengezählt: Im Essener Aalto-Theater zeigt sie uns eine Nixe unter freudscher Beobachtung – im klinisch kühlen Ambiente, mit Anstaltsbadewannen und Gewölbezellen, nicht zu vergessen die berühmte Couch des Analytikers.

Klapse statt irrlichterndes Dasein ist das Los dieser Rusalka. Die Geschichte wird dabei gewissermaßen von hinten aufgerollt, vom Tod des Prinzen und ihrer Internierung aus – die einleitende Szenerie zu Dvoráks Vorspiel macht es deutlich. Dieser dramaturgische Kniff ist wohl auch erforderlich, um die Doppelung von Märchenzeit und Therapiezeit zu verstehen. Hilfreich wäre im übrigen ein Hinweis im Programmbüchlein gewesen, auf eine Schrift Freuds aus dem Jahr 1913, „Märchenstoffe in Träumen“. Oft nämlich verknüpften seine Patientinnen Erinnerungen und Träume mit dem Durchleben von Märchen.

Nun also: Die Nixen necken den Wassermann im Badezuber, Rusalka beklagt in der Wanne nebenan ihr seelenloses Dasein. Die Hexe Jezibaba rauscht nicht als schmuddeliges Hutzelweibchen heran, sondern gibt sich rauchend mondän im dicken Pelz. Die Menschwerdung Rusalkas gleicht einem Beschneidungsritus. Im übrigen gilt: Wer schön sein will, muss leiden – und stumm bleiben wie ein Fisch. Entsprechend herzig die Begegnung mit dem Prinzen, ein Tändeln zweier Backfische, ein Fremdeln zweier Zagender. Zuletzt aber doch: Küsse der Leidenschaft.

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Was so intim klingt, ist auf der Riesenbühne des Aalto gleichwohl angenehm proportioniert in Szene gesetzt. Das eingespielte Duo Clement&Sanou schafft Atmosphäre durch Farbe, stellt die feine Festgesellschaft im 2. Akt aufs Podest, während unten Rusalka angstvoll deren patriarchalische Riten beobachtet, wuchtet Badewannen in den Raum oder kerkert die Nixe im mächtigen Gummizellengewölbe ein. Manches wirkt gelungen, anderes aber gehörig plakativ. Wie denn auch die Regie immerhin in sich schlüssig ist. Die Frage, die bleibt, ist eher grundsätzlicher Art: Ob nicht manche Frauenfigur der Opernliteratur sich neuerdings beständig der Psychoanalyse aussetzen muss.

Eines aber ist gewiss: Mit Sandra Janusaite hören und sehen wir eine Rusalka, die sich die Seele aus dem Leib spielt und singt. Fast körperlos, fahl und verhangen klingt zunächst ihr Mondlied, dann aber trägt ein dramatisch-emphatischer Sehnsuchtston ihre Empfindung. Die Stimme mag in der Mittellage etwas spröde wirken, gleichwohl verfügt die Sopranistin über Farbreichtum sowie flammende Verzweiflungsgröße. Und wenn sie sich, im Angesicht des untreuen Prinzen auf die Beine schlägt, als Symbol ihres fluchbeladenen Daseins, wenn sie im Zellengewölbe in ihrer Zwangsjacke dahinleidet, dann ist das gleichermaßen mitreißend wie anrührend. Bis ihr Dr. Freud eine Spritze geben lässt – sie sinkt hernieder, ob schlafend oder sterbend oder im Wagnerschen Sinne erlöst, bleibt unserer Fantasie überlassen.

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Dagegen wirken alle anderen Akteure beinahe blass. Ladislav Elgr verleiht dem Prinzen zwar ein kultiviertes tenorales Timbre, wirkt in hoher Lage aber leicht nervös und lässt mitunter Eleganz vermissen. Markant Almas Svilpa als ewig mahnender und klagender Wassermann, nur bedingt verschlagen die Hexe der Lindsay Ammann.

Das eigentliche Wunder des Abends spielt sich ohnehin im Orchestergraben ab. Mit Tomás Netopil am Pult zaubern die Essener Philharmoniker die Idiomatik von Dvoráks Musik aufs Schönste herbei. Sie spinnen silberhelle Melodiefäden, geben der Dramatik, die schon auf Janáceks Realismus verweist, kantiges Gewicht, ohne zu überzeichnen. Und alles Böhmisch-Musikantische hält sich im Rahmen. Nichts von Verharmlosung eines bis dato immer noch unterschätzten Komponisten.

Noch einige Termine im Juni. www.aalto-musiktheater.de

(Der Text ist zuerst in ähnlicher Form im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen.)