Spannend wie ein Krimi: „Schuld und Sühne“ im Hamburger Schauspielhaus

Foto: Klaus Lefebvre

Foto: Klaus Lefebvre

Passionierte Leser kennen das Gefühl: Wenn einen ein Buch fesselt, wandert man darin herum wie in einem Haus, betritt neue Räume, trifft verschiedene Leute und hört ihre Stimmen. Im eigenen Kopf entfaltet sich die fremde Welt, die der Autor erdacht hat.

Ganz ähnlich inszeniert Karin Henkel Fjodor M. Dostojewskis großen Roman „Schuld und Sühne“ für das Hamburger Schauspielhaus. Auf die Drehbühne ist eine Art Bretterbude gezimmert, in deren Räumen sich das ärmliche Leben des Studenten Raskolnikow in einem Millieu aus Hungerleidern, Säufern, Huren und Proletariern abspielt. Seine Kammer ist karg, die gestreifte Matraze liegt auf einem kümmerlichen Drahtgestell.

In den anderen Zimmern sieht es auch nicht besser aus: Der lange Tisch ist überladen mit Schnapsflaschen, Jesus schaut mit blauen Augen von der Wand herab und ewige Lichtlein leuchten ihm. Männer in Kaftan und Pelzmützen schrummeln Livemusik.

Raskolinkow, ein dünner nervöser Hänfling mit strähnigem Haar, erinnert inmitten seiner verkramten Bude an Jonathan Meese. Denn er hält sich für ebenso genial wie ein Künstler und leitet aus diesem Umstand das Recht ab, „minderwertige“ Mitmenschen in Person der halsabschneiderischen Pfandleiherin Aljona Iwanowna ins Jenseits zu befördern.

Soweit die Theorie – in der Praxis ist er seiner eigenen Bluttat mit dem Beil von Anfang an nicht gewachsen und nun schauen wir ihm vier Stunden beim Kampf mit seinem Gewissen zu: Das ist, bis auf ein paar überflüssige Dehnungen, aber keineswegs langweilig, sondern mit ganz eigenem Rhythmus, beinahe musikalisch in Szene gesetzt.

Denn Raskolnikows inneres Ringen ist auf mehere Schauspieler verteilt (Jan-Peter Kampwirth, Lina Beckmann, Angelika Richter), die jeweils die widerstreitenden Stimmen in seinem Kopf verkörpern. Und in dem Untersuchungsrichter Porfiri Petrowitsch (Charly Hübner) hat der schuldige Student einen bühnenpräsenten Gegenspieler: So wird die Literaturinszenierung zu einem spannenden Krimi, obwohl man den Mörder die ganze Zeit kennt.

Foto: Klaus Lefebvre

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Was man aber nicht weiß: Wird Raskolnikow sich verraten? Schon bei seiner ersten Begegnung mit der Polizei fällt das nervöse Hemd sofort in Ohnmacht, im Laufe der Inszenierung wird er immer wieder von der Fallsucht, eine Anspielung an Dostojewskis Epilepsie, heimgesucht. Hilflos versucht er, ein paar gute Taten zu begehen, um sich von der Schuld reinzuwaschen. Einer verarmten Familie bezahlt er die Beerdigung des verunfallten Säufer-Vaters, seine Schwester möchte er aus den Klauen eines sadistischen Hausherrn retten.

Doch all das fruchtet so recht nichts: Das Muttersöhnchen zeigt immer mehr Nerven und die Dämonen in seinem Kopf setzen ihm unablässig zu. Jesus an der Wand werden schon die Augen schwarz übermalt, weil auch er das Elend nicht mehr ansehen kann: Nicht das soziale der Armen in St. Petersburg und nicht das seelische des Delinquenten, den seine Gewissensqualen zu einem letzten „Fall“ bringen.

Das Ende ist kurz und schmerzlos: Der Kommisssar sagt ihm die Tat auf den Kopf zu, Raskolinkow gesteht. Aus ist es mit dem Möchtegern-Revolutionär, dessen Visionen von einer besseren Welt sich gegen ihn selbst gewendet haben. Es war Mord.

Karten und Termine:
www.schauspielhaus.de




Großes Unbehagen: Jelineks „Schutzbefohlene“ bei den Mülheimer Stücketagen

Foto: Michael Kneffel/www.stuecke.de

Foto: Michael Kneffel/www.stuecke.de

Das Unbehagen ist groß, wir winden uns auf unseren Theatersesseln in der Mülheimer Stadthalle. Im Mittelmeer ertrinken die Menschen und wir laborieren an unseren Luxusproblemen. Dabei stehen „Die Schutzbefohlenen“, so der Titel des Stückes von Elfriede Jelinek, direkt vor uns auf der Bühne.

Sie kommen aus dem Iran, aus Eritrea, aus Syrien, aus Afghanistan und erzählen die Geschichte ihrer Herkunft und ihrer Flucht. Regisseur Nicolas Stemann hat sie in einem Projekt mit dem Hamburger Thalia Theater und dem Theater der Welt mit Schauspielern zusammengebracht. Gemeinsam arbeiten sie sich ab an dem Theatertext der Österreicherin Elfriede Jelinek. Die Inszenierung wurde in diesem Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen und ging nun in den Wettbewerb der Mülheimer „Stücke“.

Im realen Leben suchten die „Schutzbefohlenen“ Asyl in einer Hamburger Kirche, hier auf der Bühne sind sie immer wieder hinter Stacheldrahtrollen verbannt, deren symbolisches Muster auf ihren T-Shirts wiederkehrt. Und sie stellen Forderungen: nach Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen – und nicht nur für die Europäer; nach Chancengleichheit für alle, nicht nur für die, die innerhalb des europäischen Rechtssystems stehen; nach der Aufhebung der Unterscheidung zwischen legal und illegal. Im Hintergrund schwappt das Mittelmeer über die Videoleinwand.

Eine aktuellere Inszenierung gibt es wohl zurzeit kaum. Sie macht das Dilemma in aller Schärfe greifbar, zeigt Ursachen wie Kolonialismus, Krieg, Kapitalismus und Globalisierung auf und spricht nicht nur über die Betroffenen, sondern lässt sie für sich selbst sprechen. Und doch macht sie gleichzeitig schmerzlich bewusst, wie schwierig eine Lösung ist. Es wird auch hier keine gefunden. Vielleicht ist das von einer Theaterinszenierung aber auch zu viel verlangt: Wenn schon Politiker nicht recht wissen, was sie tun können oder wollen…

Wir, die wir hier schuldbewusst in unseren Theatersesseln sitzen, sind nicht so leicht bereit, unseren Wohlstand zu hinterfragen. Ihn zu teilen, ja darüber könnte man reden – doch wo ist hier die Grenze? Wo ist deine persönliche Grenze? Was bist du bereit zu geben, wo möchtest du helfen, wo schaust du lieber weg? „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, hat Bertolt Brecht einst in der Dreigroschenoper geschrieben. Der Wunsch, sicher und gut zu leben, etwas aus sich und seinen Möglichkeiten zu machen, verbindet alle Menschen. „Doch die einen stehen im Dunkeln und die anderen stehn im Licht; und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“

Unser Reichtum ist ein Magnet, unser Rechtssystem mit allen seinen behördlichen Auswüchsen ist ein besserer Garant für Freiheit als viele andere Systeme. Deswegen sind wir ein Fluchtpunkt, ein Ziel. Das macht uns stolz, das macht uns Angst. Das weckt die hässlichen Seiten in uns: Den Wunsch, sich abzugrenzen, sich an seinen Besitz zu klammern. Wenn in Hamburg Pöseldorf Bürger skeptisch gegen ein Flüchtlingsheim sind und sagen: „Die Leute könnten hier ja nicht mal einen Kaffee trinken, das wäre für sie doch viel zu teuer“, dann zeigt Stemanns Inszenierung die zynischen Seiten des Phänomens.

Und Elfriede Jelineks Text? Manchmal wirkt er zu glatt, zu wortspielerisch, der existenziellen Schärfe des Themas nicht angemessen. Auf jeden Fall klingt dieser Abend noch lange nach, er geht über die bloße Kunst hinaus.

Die Mülheimer „Stücke“ laufen noch bis zum 4. Juni:
Karten und Termine:
www.stuecke.de




Wenn alle Fassaden einstürzen: Yasmina Rezas „Bella Figura“ bei den Ruhrfestspielen

Nina Hoss als labile Andrea. Foto: Arno Declair

Nina Hoss als labile Andrea. Foto: Arno Declair

Und wieder hat sie es geschafft, uns mit nur wenigen Sätzen mitten hinein zu werfen in das komische, traurige Drama der Bürgerlichkeit, in unser aller Drama: Yasmina Reza, die meistgespielte lebende Theater-Autorin („Kunst“, „Der Gott des Gemetzels“). Ihr jüngstes Stück „Bella Figura“ schrieb sie für die Berliner Schaubühne und für Regisseur Thomas Ostermeier, der es Mitte Mai am Lehniner Platz uraufführte. Nun folgte die Premiere bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, in Star-Besetzung.

Yasmina Reza habe den mitleidlos-analytischen Blick einer Insektenforscherin, findet Ostermeier und lässt im Hintergrund wieder und wieder Krabbeltierchen projizieren, im Getümmel und in imposanter Nahaufnahme. Sie tun das Unvermeidliche, folgen ihrem Instinkt und machen sich keine Gedanken über Schein und Sein. Ganz anders das Personal auf der Bühne. Knapp zwei Stunden lang ringen sie darum, „Bella Figura“ zu machen, eine gute Figur – dabei greifen sie immer wieder ins Klo, und zwar nicht nur sprichwörtlich.

Eigentlich sollte es ein romantischer Abend in einem teuren Restaurant werden: Boris (Mark Waschke, der neue Berliner „Tatort“-Kommissar) hat seine langjährige Affäre Andrea (Nina Hoss) eingeladen. Doch der Streit beginnt schon auf dem Parkplatz im Auto, einem französischen Kleinwagen, der real auf Jan Pappelbaums Bühne steht: Andrea findet heraus, dass die Restaurant-Empfehlung von Boris‘ verreister Ehefrau stammt. Als das Paar dann auch noch auf Francoise und Eric trifft, die den Geburtstag seiner leicht dementen Mutter Yvonne feiern wollen, ist das Katastrophen-Setting komplett: Francoise (Stephanie Eidt) ist eine alte Freundin der betrogenen Gattin.

Auch die Männer sind im Clinch: Boris (Mark Waschke) und Eric (Renato Schuch). Foto: Arno Declair

Auch die Männer sind im Clinch: Boris (Mark Waschke) und Eric (Renato Schuch). Foto: Arno Declair

Anstatt sich schnell aus dem Staub zu machen, drängt die labile, tablettensüchtige Andrea aufs Bleiben. Mehrfach an diesem Abend gäbe es potentielle Wendepunkte, Notausgänge für alle Beteiligten. Aber nein: Unausweichlich steuern die vier auf  den Abgrund zu – Spielfiguren, die im Abwärtstaumel immer neue Schlenker nehmen, sich anziehen und abstoßen, neue Konstellationen bilden – und schließlich erschöpft ganz unten ankommen.

Man geht mit Fischmessern aufeinander los, hat Sex auf dem Klo, vergräbt Essen im Blumenkübel und versucht hilflos, sich die strapaziöse Außenwelt mit Mückenspray von Leib zu halten. Man hat gegenseitig in dunkle Abgründe geblickt und kann nicht viel mehr tun als: weitermachen.

Rezas Konversations-Pingpong funktioniert auch diesmal bestens. Wenige Worte legen Anschauungen bloß, die im Alltag tunlichst übertüncht werden. „Soll ich jetzt den modernen Mann geben und deine ekelhafte Emanzipation feiern?“, fragt Boris, als Andrea ihm von einer anderen Liebschaft berichtet. „Man kann deine Mutter nirgendwo mit hinnehmen, ohne dass es ein Drama gibt“, ätzt Francoise. „Bevor du dich in die Garonne stürzt, mein Schatz, könntest du an deinem letzten Abend Bella Figura machen“, wünscht sich Andrea von ihrem Hass-Liebhaber.

Die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza.

Die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza.

Reza hat mit Andrea eine Borderline-Figur geschaffen, die Nina Hoss bewundernswert meistert. Sie ist das Opfer, die auf Distanz und hingehaltene Affäre. Sie ist Verbal-Täterin, die ihren Lover (passiv-)aggressiv angeht. Sie ist liebende Mutter einer Neunjährigen, mit der sie im Laufe des Abends mehrfach telefoniert, und geduldige Ratgeberin der dementen Yvonne (grandios: Lore Stefanek). Sie ist erotisch, aufreizend, Halt suchend auf ihren 480-Euro-Pumps und den vielen Pillen in ihrer Handtasche, aber absolut zerstörerisch in ihrem Drang, schlafwandlerisch genau das Falsche zu tun. Oder ist es am Ende das einzig Richtige, alle Fassaden zum Einsturz zu bringen?

Das Publikum leidet mit und schämt sich fremd, amüsiert und erkennt sich, ist fasziniert und abgestoßen von dieser Figur, die von ihrer Autorin weder erklärt noch bewertet wird. Ein schillerndes Insekt, das am Ende Schein und Sein wunderbar zusammenfasst: „Man bildet sich ein, die Welt zu erobern, aber man verkümmert an Ort und Stelle.“

Weitere Vorstellungen: 29. Mai (20 Uhr), 30. Mai (17 Uhr), 31. Mai (15 und 20 Uhr). Infos: https://www.ruhrfestspiele.de/de/veranstaltungen/veranstaltung_detail.php?ver_id=529&ort=95

(Der Text erschien auch im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Viel mehr als die Frau von „Ekel Alfred“: Zum Tod der Schauspielerin Elisabeth Wiedemann

Elisabeth Wiedemann in der legendären WDR-Fernsehserie "Ein Herz und eine Seele". (Bild: WDR)

Elisabeth Wiedemann in der legendären WDR-Fernsehserie „Ein Herz und eine Seele“. (Bild: WDR)

Gustaf Gründgens spürte ihr gewaltiges Talent auf, holte sie ans Düsseldorfer Schauspielhaus. Diesem Ensemble blieb die gelernte Tänzerin (Staatsoper Berlin) bis 1955 verbunden. Seither beschritt sie viele berufliche Wege.

Ihre Karriere im Sprechtheater, dessen Faszination sie erst 1947 einfing, verlief weiträumig. Sie war in Frankfurt, Hamburg, München, Hannover, Köln, Wien und beim Deutschen Theater in Santiago de Chile, wo sie allerdings Regie führte. „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch servierte sie den Auswanderern der Nachkriegszeit, die damals recht zahlreich einer politischen Provenienz entstammten, die ihr zutiefst zuwider war. Die Rede ist von Elisabeth Wiedemann, der Kaufmannstochter aus Bassum bei Bremen, deren hochempörtes „Alfred!“ mir heute noch in den Ohren klingt. Sie starb im Alter von 89 Jahren.

Es ist ein böses Schicksal, wenn eine so wandlungsfähige Schauspielerin wie sie die Lebensbühne verlässt und dann vom zeilenversessenen Boulevard mit der Überschrift verabschiedet wird: „Die ‚dusselige Kuh‘ ist tot“. Elisabeth Wiedemann, die „Else“ von Vater „Alfred Tetzlaff“ (Heinz Schubert) in Wolfgang Menges wunderbarer Serie „Ein Herz und eine Seele“, sie wird eben heute noch von der Bunten-Blätter-Oberflächlichkeit mit den Abfälligkeiten des Chauvi-Ekels Alfred identifiziert. Und noch lieber bildhaft auf diese reduziert, auf seinen Gipfelspruch, wenn sie mal wieder so sehr naiv-entlarvend hinterfragte, was der weltgewandte (Soldat an der Ostfront) Alfred so alles fabulierte.

Nun lebt keiner mehr von der Erststaffel-Besetzung. Auch Hildegard Krekel (Tochter Rita) und Diether Krebs (Schwiegersohn Michi), die sich während der Dreharbeiten wechselseitig ganz toll fanden, sind tot. Aber lebendig blieb die widerborstige Grundhaltung dieser Episoden über den bundesdeutschen Spießer, dessen angebräunte Innereien immer noch nicht verdauten, dass ihr Land von der Demokratie eingenommen war. Alfreds Lieblingsfeinde waren die SPD und Willy Brandt. „Dieses Kellerkind aus Lübeck“, der „Mann mit dem Künstlernamen“, „uneheliches Kind“; mit seiner „Machtübernahme“, habe „eine ganze Nation Selbstmord begangen“. So rüpelte sich das nationale TV-Ekel durch die Dialoge vieler Folgen.

Dabei war jeder aus dem Familienquartett das krasse Gegenteil dessen, was politisch aus dem kleinen Giftzwerg quoll. Da machte Elisabeth Wiedemann keine Ausnahme. Ob in „Die Geschwister Oppermann“ oder „Das Tagebuch der Anne Frank“ (Bühnenfassung): Auseinandersetzungen mit der Nazi-Vergangenheit und der der antisemitischen Spießermentalität gehörten fest zu ihrem künstlerischen Lebensweg. Nicht zuletzt auch „Ein Herz und eine Seele“, die durch Wolfgang Menges boshafte Treffsicherheit, gepaart mit der Improvisationslust seiner Truppe, Einschaltquoten in Schwindelhöhe bekam. Und der Franz Xaver Kroetz von Ferne attestierte, die Sendereihe sei einzustellen, weil sie den kruden Sprüchen des Ekels zu viel Raum gebe, die üblen Löcher wieder in den Köpfen öffne.

Elisabeth Wiedemanns Lebensleistung war es, Zuschauer und Zuhörer zu unterhalten und dabei den Menschen was zum Nachdenken zu hinterlassen, auch wenn es mal etwas länger dauerte, bis die auf den Trichter kamen. Sie hatte wesentlich mehr verdient, als diese blöde Zeile von der „dusseligen Kuh“. „Alfred“ konnte machen, was er wollte, am Ende behielt „Else“ immer mit ihrer entwaffnenden Naivität die Oberhand.




Ruhrfestspiele: Klatschen wie Bolle – Brambach liest Bukowski, die Zucchini-Sistaz swingen

Frankreich ist, wie bekannt, in diesem Jahr der kulturell-regionale Schwerpunkt der Ruhrfestspiele. Viel Französisches allerorten im Spielplan, aber doch nicht nur. In den Randbereichen des üppigen Programms blüht einiges, was mit dem Schwerpunkt auch beim besten Willen nichts zu tun hat.

Zwei Veranstaltungen, beide auf kleinerer Bühne, interessierten besonders. Wenn man nun wiederum zwischen ihnen etwas Gemeinsames suchte, so könnte man vielleicht sagen, daß sie beide in US-amerikanischer Kultur wurzeln. Aber das ist schon etwas gequält herbeigezaubert. Schauen wir also mal – erst auf Herrn Brambach nebst Gattin Christine Sommer, sodann auf die Zucchini-Sistaz.

„Roter Mercedes“ – Martin Brambach, Christine Sommer, Matthes Fechner (von links) Foto: Ruhrfestspiele/Peter Kallwitz

Brambach und Bukowski

Martin Brambach also, den man vom Fernsehen kennt und vielleicht auch aus früheren Zeiten vom Bochumer Schauspielhaus, ist ab und zu mit einem Bukowski-Abend unterwegs. Allzu oft aber wohl nicht, auch intensivste Internet-Recherchen förderten nicht mehr zu Tage als einen vorhergegangenen Auftritt 2014 in Dorsten. Jetzt war das Paar Brambach/Sommer in Begleitung des Gitarristen Matthes Fechner im FRinge-Zelt bei den Ruhrfestspielen zu erleben.

Die Veranstaltung hinterließ, sagen wir es zurückhaltend, einen uneinheitlichen Eindruck. Grandios waren die ausgesuchten Bukowski-Texte, gleichnishafte, auf den Punkt durchformulierte graue Alltagsgeschichten über Suff, Sex und Gewalt, durchlebt und durchlitten von alternden Losern beiderlei Geschlechts. Da eskaliert die Eifersuchtsnummer im abendlichen Ehebett zum mörderischen Finale mit der Zweiundzwanziger, da vergewaltigen und ermorden Einbrecher eine junge Frau, der sie zufällig im Haus begegnen, und mit dem prügelnden Ehemann, der aus den ehelichen Gewaltexzessen so etwas wie Selbstbewußtsein zieht, hat man fast Mitleid.

Ein bißchen wie in Hoppers Bildern

Doch obwohl die Brutalität vieler Szenen schwer erträglich ist und Bukowski auch in den schlimmsten Momenten nicht wegsieht, wohnt ihnen atmosphärisch so etwas wie ein unbeteiligtes Schweben inne, eine Globalsicht auf Männer und Frauen und die Einsamkeit und den Gang der Welt. Man fühlt sich an Hoppers trostlose Bilder erinnert, im Glauben an die Unveränderlichkeit der Verhältnisse sind Maler und Autor sich recht nah.

Auch Martin Brambach ist ganz nahe dran an den Elendsbildern aus der Bukowski-Welt. Meistens liest er den Text nur vor, doch immer wieder auch wechselt er – für einen einzelnen Ausruf oder auch für eine ganze dramatische Passage – ins Schauspielen. Dann gibt er nicht nur, nein, dann ist er der verspannte, gehemmte, gehetzte amerikanische Mittelstandsbürger, immer um Fassung bemüht und immer dazu verurteilt, in diesem Streben zu scheitern. Wenn er die Beherrschung verliert, schreit und um sich schlägt und sich im nächsten wieder einzufangen versucht, voll von schlechtem Gewissen über den selbstverschuldeten Kontrollverlust, dann ist das im Kleinen ganz großes Schauspieler-Theater.

Angeschrägter Charakter

Martin Brambach gehört zur kleinen Schar der etwas angeschrägten Charaktere, die in ihren Interpretationen meisterlich zwischen persönlichen Eigenheiten und dem Streben, äußerlicher Erwartung zu genügen, switchen können, ohne (scheinbar) beides in Einklang zu bringen. Ihr sperriger Charakter steht ihnen sozusagen immer im Weg, wenn sie eigentlich kühl, beherrscht und hundertprozentig auftreten wollen; Künstler wie Wolfgang Michael oder Michael Maertens sind Brambachs Brüderchen im Geiste.

Womit das Beste über diesen Abend allerdings auch gesagt wäre. Preisen wollen wir noch Christine Sommer, die nicht nur beim Lesen mit verteilten Rollen eine gute Figur macht, sondern auch als (mitunter männlicher) Dialogpartner.

Nicht preisen wollen wir den Gitarristen, dessen fingerpickendes Spiel zwar handwerklich untadelig ist, dessen Interpretationen gleichwohl sehr viel Gewolltheit innewohnt. Zur Schärfung der Authentizität rauht Matthes Fechner sich die Stimme, doch zum lebensgegerbten Blues-Barden wird er so noch lange nicht. Relativ kurze Textvorträge wechseln ab mit relativ langen „bluesigen“ Klassikern aus dem American Songbook, in Sonderheit der 60er- und 70er-Jahre.

Dem, der gekommen war, um Brambachs Kunst zu schauen, mißfiel die Menge der Musik und die Art ihres Vortrags, die ihren Tiefpunkt übrigens mit der Darbietung von Janis Joplins „Red Mercedes“ als Klatschmarsch erreichte. Oh Lord, – klatsch – won’t you buy me – klatsch – a Mercedes-Benz – klatsch. Mit dunklem Humor könnte man fragen, was wohl Herr Bukowski von einem solchen Liederabend gehalten hätte.

Mit Fahrrad und Münsteraner Hintergrund: die Zucchini Sistaz
(Foto:Ruhrfestspiele/Markus Hauschild)

Gute Musikerinnen

Die Zucchini-Sistaz nun, die mit Brambach/Bukowski, wie gesagt, nichts zu tun haben, sind Teil des kurzweilig-juvenilen „Fringe“-Programmes, treten aber in der Sparkasse Recklinghausen auf, wo das Publikum zu einem beachtlichen Teil der Generation Silberlocke, 50 plus X, entstammt. Das ist an sich auch nicht verwunderlich, wenn man ein Programm à la Andrew-Sisters erwartet, denn die hatten ihre großen Erfolge vor 70, 80 Jahren (Kinder, wie die Zeit vergeht!).

In Kürze: die Drei, die jetzt in Münster wohnen, sind erstaunlich gute Musikerinnen und haben, wenn man einmal so sagen darf, eine Menge Swing und Backbeat im Blut. Sinje Schnittker bläst ins Blech, Jule Balandat, übrigens aus Dortmund gebürtig, zupft am Kontrabaß und macht die Conference, Tina Werzinger weiß mit Banjo und Gitarre umzugehen, und singen können sie alle drei, auch dreistimmig. Und Andrew Sisters könnten sie auch, ganz bestimmt.

Deutsche Texte

Leider aber bevorzugen die drei Zucchini-Frauen in ihren zucchinigrünen Nostalgiekleidern deutsche Texte und Inhalte, die in Sonderheit die Westfalenmetropole Münster preisen. Die Texte sind nicht völlig schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Es wird nicht ganz klar, warum gerade sie zum Vortrag gelangen, die schlüssigen Pointen fehlen.

Befremdlich ist weiterhin, daß das Publikum heftigen Mitmach-Appellen ausgesetzt ist, befremdlicher aber noch, daß es ihnen so freudig nachkommt. Begeistert rufen sie den Damen auf Nachfrage ihre Wohnorte zu, imitieren kaputte Autohupen und klatschen wie Bolle den Rhythmus mit.

Na gut, man will ja nicht den Miesepeter spielen. Wenn’s den Leuten gefällt… Trotzdem hätten die Sistaz doch auch ein paar Klassiker aus den Vierzigern singen können, „Rum & Coca Cola“ zum Beispiel, oder „Bei mir bis du schön“. Aber das ist zugegeben schon keine Kritik mehr, sondern nur noch Ausdruck persönlicher Enttäuschung, wozu die Damen nichts können. Jedenfalls: Wenn sie sich noch einmal künstlerisch umorientieren sollten – mehr Musik, weniger Ringelpiez – ginge ich gerne wieder hin.

So viel, für den Moment, vom munteren Rand der Ruhrfestspiele. Selbstverständlich gibt es hier noch viel mehr zu hören und zu sehen, man kann ja nicht überall sein. Bei nächsten Mal geht es wieder ins große Haus, zu Yasmina Reza und „Bella Figura“.




Ruhrfestspiele: Historisches Thesentheater nach Zolas Roman „Das Geld“

Saccard (Georg Mitterstieler), Glücksritter an der Börse. Foto: Björn Hickmann

Saccard (Georg Mitterstieler), Glücksritter an der Börse. Foto: Björn Hickmann

Kapitalismuskritik gehört längst zu den klassischen Theaterstoffen. Dass schon im Jahr 1890 Émile Zola, der französische Naturalist und Romancier, die Mechanismen des Marktes und der menschlichen Gier literarisch offenlegte, ist zumindest dem Theatergänger weniger präsent: Bislang hatte seinen Roman „Das Geld“ niemand für die Bühne adaptiert. Das Saarländische Staatstheater hat es getan, die Uraufführung war nun als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen im Theater Marl zu sehen.

Und er ist eine Entdeckung, dieser Stoff: Obwohl er im Zweiten Kaiserreich unter Napoléon spielt, erscheint er doch in seiner Anlage wundersam zeitlos. So zeitlos, dass Regisseurin Dagmar Schlingmann den berechtigten Mut zu historischen Kostümen hatte (Bettina Latscha).

Es geht um den charmanten, impulsiven Zocker Saccard (Georg Mitterstieler), der davon träumt, den Mittleren Osten wirtschaftlich zu erschließen. Zur Finanzierung gründet er eine Bank und geht an die Börse, manipuliert und intrigiert, verdreht Anlegern und Frauen den Kopf. Nach einer schwindelerregenden Hausse verliert er sich im Rausch des Geldes, will immer mehr und erlebt, wie soll es anders ein, Schiffbruch. Während die Anleger ihr Geld rechtzeitig ins Trockene bringen, geht Saccard mit zahllosen Kleinanlegern baden.

Schiffbruch erleidet die Inszenierung nun nicht – doch zum Ende hin kommt sie mächtig ins Schlingern und verirrt sich irgendwo zwischen Brechtschem Thesentheater und Historismus.

Die Bühne (Sabine Mader) visualisiert die Kernaussage trefflich: Sie steigt nach hinten hin steil an wie eine Kletterwand, an der ein nach oben weisender Aktienkurs angebracht ist. Saccard kraxelt als einziger schwindelfrei hinauf und hinab, öffnet Türen und geriert sich als Allmächtiger: „Hätte ich“, ruft der Unbelehrbare am Ende, „mehr Geld gehabt, dann wäre ich jetzt der König der Welt!“ Ständig rutscht jemand aus auf dem allzeit rutschigen Börsenparkett und den umherflatternden Papieren.

Eine digitale Anzeigetafel zeigt Kurse an, dient aber vor allem der dramaturgischen Verdichtung: Die Laufschrift führt Personen ein, gibt Hintergrundinformationen zu ihren Beweggründen und fasst Entwicklungen zusammen. Ein Hilfsmittel, das der Zuschauer angesichts der Vielzahl von mehr als 20 Figuren dankbar annimmt, das Theater aber eigentlich nicht nötig haben sollte

Schlingmann und ihre Dramaturgin Ursula Thinnes wollten das ganze politisch-ökonomisch-gesellschaftliche Panorama der damaligen Zeit abbilden, samt käuflicher Journalisten, nickelbebrillter Kommunisten und verarmter Großgrundbesitzer, hemmungslosem Neureichtum und hochmütigem Geldadel. Dabei bleibt es zwangsläufig bei der reinen Abbildung, die uns heute zwar amüsiert, aber kaum mehr berührt. Das Geschehen in den Kindertagen der Börse taugt dann doch nicht als Kommentar oder gar Analyse zum globalen, entfesselten Kapitalismus.

Zeitlos und übertragbar an Zolas Roman ist die unberechenbare Gier und irrationale Angst der Menschen in Gelddingen; die ewige Sorge, zu kurz zu kommen und die Skrupellosigkeit auf der Jagd nach dem eigenen Vorteil. Diese menschlichen Ab- und Beweggründe jedoch werden in den Figuren nur als Klischees, als Karikaturen sichtbar. Etwa die der Familie Rothschild nachempfundene Baronin Sandorff (Saskia Taeger), die das Zucken der Börsenkurse fieberhaft am ganzen Körper nachzuempfinden scheint. Auch 160 Minuten reichen nicht aus, um Einzelnen Profil und Tiefe zu geben, dazu hätte der Stoff noch stärker verdichtet werden müssen. So lernt man im Marler Theater immerhin etwas von Émile Zolas Roman kennen.




„Hier bin ich! Hier darf ich!“ – Wie Robert Wilson und Grönemeyer „Faust“ verjuxen

Während das Publikum noch Platz nimmt, wabern schon wilde Rock-Rhythmen und Folk-Balladen durch den Saal. Auf der Bühne posieren aufgekratzte Mimen, trällern ein Liedchen, wirbeln munter durcheinander.

Sie suchen sich und ihre Rolle, wollen auffallen und gefallen, denn „ihr wisst, auf deutschen Bühnen / probiert ein jeder, was er mag“. Goethes „Vorspiel auf dem Theater“ als chaotische Casting-Show und „Faust I und II“, die deutscheste aller deutschen Theater-Tiefbohrungen als munteres Musical. Das kann ja heiter werden.

Konfrontation: Faust (Fabian Stromberger, li.) und Mephisto (Christopher Nell). (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Konfrontation: Faust (Fabian Stromberger, li.) und Mephisto (Christopher Nell). (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Wird es auch. Denn der Theater-Regisseur, Möbel-Bauer und Licht-Designer Robert Wilson bolzt gut gelaunt und frei von jedes Gedankens Blässe im Berliner Ensemble die absolute Kurzversion eines überdimensional langen Textes auf die Bühne. Wofür Dichterfürst Goethe 500 Druckseiten und über 12.000 Verse benötigte und was in der legendären Expo-2000-Inszenierung von Peter Stein 14 Stunden dauerte: Bei Bob Wilson fliegt Goethes Mysterien-Ritt – vom Himmel über die Erde in die Hölle – in knappen vier Stunden dahin.

Dramaturgin Jutta Ferbers hat ganze Arbeit geleistet und mit der Axt alles weggeholzt, was nicht in Gesang und Tanz umgedeutet werden kann. Was es auf sich hat mit dem Gelehrten, der sich mit dem Teufel einlässt, warum Leidenschaft und Verstand, Genie und Wahnsinn, Versuchung und Verfehlung miteinander ringen: alles einerlei. Wer Goethes „Faust“ nicht kennt, wird ihn hier nicht finden.

Dafür aber (und das mutet paradox an, hatte doch BE-Intendant Claus Peymann jüngst wieder heftig gegen „Event“-Kultur polemisiert) bescheren Regisseur Wilson und Musiker Herbert Grönemeyer dem unterhaltungswilligen Publikum einen äußerst kurzweiligen Szenen-Reigen, bei dem deutscher Rock und kerniger Chorgesang einen faustischen Pakt eingehen und alle laut jubilieren: „Hier bin ich! Hier darf ich! Hier bin ich Mensch! Hier darf ich´s sein!“: Yeah! That´s Great! Gimme Five!

Szene mit (v. li.) Alexander Wanat, Joshua Seelenbinder, Nicolaas van Diepen, Marvin Schulze und Christopher Nell. (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Szene mit (v. li.) Alexander Wanat, Joshua Seelenbinder, Nicolaas van Diepen, Marvin Schulze und Christopher Nell. (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Faust gibt es gleich in vierfacher Ausführung, Grete wird verdreifacht, Valentin verdoppelt: Das macht zwar keinen Sinn, wirkt aber irgendwie dynamisch. Da kann man die Text-Happen auch noch kleiner hacken und aufteilen und zudem mehr Akteure punktgenau mit dem Scheinwerfer ausleuchten und aus dem sinnfreien Bühnen-Gemurkse ein geheimnisvolles Gemälde aus Licht und Schatten machen.

Außerdem fällt dann nicht so ins Auge, dass Bob Wilson diesmal vor allem mit Schauspiel-Schülern arbeitet und sich weder für das komplizierte Stück noch für die komplexe Sprache Goethes interessiert.

Einzig Mephisto, gespielt von Christopher Nell, gewinnt Kontur und Farbe: ein androgyner, sanft salbadernder und hinterhältig grinsender Spielleiter, der alle anderen, vielfach geklonten Menschen-Monster durchs Geschehen schubst. Mal greift Mephisto den süffisant singenden Engeln an die Brüste, mal schaut unter dem Gewand eines Bischofs ein riesiger Penis hervor.

Das soll komisch sein, ist aber doch nur bieder. So wie die Musik von Grönemeyer, die schenkelklopfend lustig und selbstironisch sein möchte, aber doch nur mit ein paar wenigen Noten und simplen Melodien auf der Stelle tritt. „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wird´s Ereignis“, singt der „Chorus Mysticus“ zum großen Finale. Besser hätte man die Kritik an der ziellos durchs Faust-Mysterium flatterten Inszenierung nicht formulieren können.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 17., 18., 19., 22. Mai., 14.,15.,16. Juni, Karten unter 030/28 40 81 55.

  • „Faust I und II“ ist die zweite Zusammenarbeit des 1941 geborenen US-amerikanischen Regisseurs, Architekten und Licht-Designers Robert „Bob“ Wilson mit dem 1956 geborenen deutschen Musiker und Schauspieler Herbert Grönemeyer.
  • Wilson und Grönemeyer begegneten sich zum ersten Mal 1978 am Schauspielhaus Köln, wo Wilson sein „CIVILwarS“-Projekt inszenierte und Grönemeyer als Schauspieler und Musiker tätig war.
  • Bereits für Bob Wilsons Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“ (2003 am Berliner Ensemble) schrieb Grönemeyer die Songs.
  • Grönemeyer befindet sich damit in einer Tradition von bekannten Singer-Song-Writern, die für Bob Wilsons Inszenierungen Lieder schrieben: David Byrne („The Forest“, 1988), Tom Waits („The Black Rider“, 1990, „Alice“, 1992, „Woyzeck“, 2000), Lou Reed („POEtry“, 2000, „Lulu“, 2011).



Dem Schauspiel droht eine Zwangspause – Dortmunder Theater präsentiert Programm

HŠuptling Abendwind und Die Kassierer: Eine Punk-Operette

Weiterhin im Programm des Schauspiels: „Häuptling Abendwind und die Kassierer“. Szene mit (v.l.) Wolfgang Wendland, Mitch Maestro und Uwe Rohbeck (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Schauspiel-Chef Kay Voges wirkte etwas angeschlagen. Nicht sein Tag: Auf dem Weg zur Spielplan-Pressekonferenz des Theaters Dortmund hatte ihn die Polizei angehalten, wegen Fahrens ohne Gurt. Deshalb war er auch etwas zu spät gekommen.

Das dickere Problem des Intendanten indes hat nichts mit dem Führen von Kraftfahrzeugen zu tun. Wie es aussieht, stehen er und sein 16-köpfiges Ensemble ab dem 20. März 2016 ohne Theater da, zumindest ohne Großes Haus. Ab dann nämlich werden die Werkstätten im Haus grundlegend renoviert, ist der Zuschauersaal blockiert.

Sechs Monate ohne Garantie

Mit der Spielzeit 2016/2017 kommt es dann noch ärger: Dann ist nämlich auch das Studio dicht, und wann das Große Haus in Spätsommer/Herbst 2016 wieder verfügbar sein wird, steht in den Sternen. Wer schon einmal mit Bauvorhaben zu tun hatte, weiß um die Unsicherheit planerischer Zeithorizonte. Dauert die Werkstättenrenovierung also länger als die veranschlagten sechs Monate, geht auch in der Saison 2016/2017 erstmal gar nichts im Großen Haus.

GPZauberberg198

Weiterhin im Programm ist das Ballett „Zauberberg“ von Xin Peng Wang (Foto: Theater Dortmund/Bettina Stöß/Stage Picture)

Umbaupläne waren bekannt

Nun ist das alles nicht neu. Schon vor einem Jahr, ebenfalls anläßlich der Spielplanvorstellungen, hatte Bettina Pesch als Geschäftsführende Direktorin die Renovierung der Werkstätten angekündigt. Es gab auch, seitens der Stadt in Sonderheit durch Kulturdezernent Jörg Stüdemann, Vorstöße zur Ersatzraumbeschaffung.

Doch weder im ehemaligen SAT.1-Studio am Phoenixsee noch im Gebäude des (mittlerweile verzogenen) Ostwall-Museums lassen sich aus verschiedenen Gründen Spielstätten realisieren. Zudem sind im Etat des Schauspiels keine Umzugskosten eingepreist, so daß jetzt keiner so genau weiß, wie es weitergehen soll.

Alles nur Show

Muß der Intendant mit einer „temporären Spartenschließung“ rechnen, sozusagen seine Leute nach Hause schicken? „Das Klima im Ensemble und bei den Mitarbeitern ist sehr beunruhigt“, berichtet Kay Voges. Sein Spielplan ist denn auch, der Sachlage geschuldet, zum Ende hin noch etwas unfertig.

Doch am Anfang wird geklotzt. Am 23. August spielt das komplette Ensemble mit, wenn „Die Show“ über die Bühne geht. Das „Millionenspiel um Leben und Tod“ (Untertitel), geschrieben von Voges, Anne-Kathrin Schulz und Alexander Kerlin, nimmt auf den gleichnamigen TV-Klassiker von Tom Toelle und Wolfgang Menge aus dem Jahr 1970 ebenso Bezug wir auf den aktuellen Wahn der Casting- und Container-Shows, und ist natürlich selber eine Mega-Show, die spannend zu werden verspricht.

Heiner Müller und Sylvester Stallone

Das Berliner „Zentrum für politische Schönheit“ wagt in „2099“ den Blick zurück auf unsere Jetztzeit und erzählt dem Publikum, wie alles weiterging, Jörg Buttgereit, dem Haus als „Splatter-Kultregisseur“ treu verbunden, steuert, inspiriert vom Film „Der Exorzist“, seine Studioproduktion „Besessen“ bei. Erwähnt seien noch „RAMBO plusminus ZEMENT“ – Heiner Müller meets Sylvester Stallone in einem „Live-Film“ von Klaus Gehre – und „Das Maschinengewehr Gottes“, eine Kriminal-Burleske von Wenzel Storch, dem Katholizismus-Geschädigten aus dem Wigwam.

Etwas einsam schaut aus all dem neumodernen Premieren-Material Becketts „Glückliche Tage“ als einziger Klassiker hervor. Das Programm wirkt hochgradig spannend, auch wenn keinem alles gefallen wird. Bleibt also zu hoffen, daß die Dortmunder Schauspielerinnen und Schauspieler ihr Programm auch spielen können, im Schauspielhaus und anderswo.

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„Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber bleibt im Spielplan der Oper. Im Bild Alexander Klaws als Jesus (Foto: Theater Dortmund/Björn Hickmann/Stage Picture)

Paul Wallfisch geht

Ach, eins noch, der Intendant hätte es angesichts der prekären Raumsituation fast zu sagen vergessen: Obermusikus Paul Wallfisch verläßt Schauspielhaus und Dortmund und kehrt nach New York zurück.

Wechseln wir zur Oper, von der Intendant Jens-Daniel Herzog freudig zu berichten weiß, daß die Auslastung die 80-Prozent-Marke in der letzten Spielzeit deutlich übersprungen hat.

Zu den Schwergewichten unter den Premieren zählen hier Richard Wagners „Tristan und Isolde“ (Regie Herzog, musikalische Leitung Generalmusikdirektor Gabriel Feltz) oder auch Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“, für die der renommierte Regisseur Tilman Knabe gewonnen werden konnte.

Auffällig unter den Premieren ist neben Verdis „La Traviata“ und Händels „Rinaldo“ ein Musical-Dreiklang aus Cole Porters Klassiker „Kiss me, Kate“, dem Repertoire-Dauerbrenner „Jesus Christ Superstar“ und dem 2009 uraufgeführten Broadway-Rockmusical „Next to normal“ von Tom Kitt und Brian Yorkey. Gleichsam drei Musical-Epochen kommen also nacheinander auf die Bühne, Herzog hält eine solche Schwerpunktsetzung beim angloamerikanischen Musical für erfolgversprechend und trendgemäß.

Roxy ist weg

Indes ist Paul Abrahams Fußball-Operette „Roxy und ihr Wunderteam“ vom Dortmunder Spielplan verschwunden, ein Werk aus dem deutschsprachigen Repertoire der 30er Jahre nicht im Angebot. Der Trend zur Neu- oder Wiederentdeckung von Operetten verfemter Künstler, zumal des Juden Paul Abraham, der wesentlich von der Berliner Komischen Oper und ihrem sendungsbewußten Intendanten Barrie Kosky ausgeht, hat in Dortmund offenbar keinen langen Nachhall ausgelöst.

Aber „Der Rosenkavalier“ ist unsterblich! 1966 erklang Richard Strauss’ „Komödie für Musik“ zur Eröffnung des Opernhauses, am 12. März 2016 erklingt sie wieder, denn dann wird Dortmunds größte Spielstätte 50.

Im Ballett wagt sich Xin Peng Wang an eine Choreographie für „Faust“, Untertitel „Die Geburt der Gnade“. Kollege Benjamin Millepied stellt Tschaikowskys „Nußknacker“ auf die Bretter. „Drei Farben: Tanz“ und „Zauberberg“ werden wiederaufgenommen, im September 2015 und im Juni 2016 ist Internationale Ballettgala Nr. XXII und XXIII.

Musik für Charlie Chaplin

Die Dortmunder Philharmoniker und ihr Chef Gabriel Feltz wissen von allen Künstlern wohl am genauesten, was in der nächsten Saison gespielt wird. Die Programme der zehn philharmonischen Konzerte unter dem Rubrum „liebes_gefühls_rausch“ stehen fest, ebenso jene der Konzertreihen „Wiener Klassik“ und „Sonderkonzerte“, der Kammerkonzerte, Babykonzerte, Kinderkonzerte und Familienkonzerte.

Kraftvoll arbeiten sich die Musiker durch das klassische Repertoire, unterstützt von etlichen stattlichen Chören. Eine Ausnahme bildet das 2. Sonderkonzert am 29. (Schaltjahr!) Februar 2016. Da sorgt Gabriel Feltz nämlich für den Soundtrack zu Charlie Chaplins Stummfilm-Klassiker „City Lights – Lichter der Großstadt“ aus dem Jahr 1931. Übrigens verkündete auch der Generalmusikdirektor gute Auslastungszahlen: 75 Prozent im Durchschnitt, mehr, als in den vergangenen zehn Jahren erreicht wurden.

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Das Stück „Frau Müller muß weg“ – hier eine Szene mit Bettina Zobel – bleibt im Programm des Kinder- und Jugendtheaters (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Angst um die Spielstätte

Schließlich das Kinder- und Jugendtheater – KJT. Direktor Andreas Gruhns Programm ist gekennzeichnet durch das Bemühen, jugendlichen Themen möglichst nahe zu sein. „In was für einer Welt wollen wir leben?“ wabert als eine Art universeller Leuchtschrift über der Liste recht unterschiedlicher Produktionen.

Da gibt es in zielgruppengerechter Adaption zum Beispiel Schillers „Wilhelm Tell“ zu sehen, und gänzlich unkaputtbar ist Oscar Wildes „Gespenst von Canterville“ auch im Dortmunder KJT eine Stütze des Repertoires. Es gibt etwas für Kinder ab 3 („Als die Musik vom Himmel fiel“) und etwas Religiöses für „Kommunionkinder“, es gibt Kooperationen und ein mobiles Stück für Klassenräume („Gespenstermädchen“ von Christine Köck und Rieke Spindeldreher) – und es gibt bei den Wiederaufnahmen weiterhin Lutz Hübners Erfolgsgeschichte „Frau Müller muß weg“.

Auch über Andreas Gruhns gefurchter Stirn schwebte unübersehbar ein mittleres Besorgniswölkchen, während er sein Programm vortrug. Denn auch ihm, dem altgedienten Kämpen vom Kinder- und Jugendtheater, droht gleich seinem Kollegen Kay Voges der Verlust der Spielstätte. Schon seit vielen Jahren gilt die Bühne an der Skellstraße als suboptimal, und der Mietvertrag läuft bald aus. Doch blieb die Suche nach einem neuen Ort bislang erfolglos.

 Infos: www.theaterdo.de

 Das neue, ausführliche Programmbuch „15/16“ weist eine muntere, orange dominierte Farbgestaltung auf. Es liegt im Theater und an vielen anderen kulturaffinen Orten aus.




Höllisch ist das Leben, das Paradies fällt aus: „Die göttliche Komödie“ am Schauspiel Köln

Hat heute wirklich noch jemand Angst vor der Hölle? Glaubt einer noch ans Fegefeuer als Übergangsstadium ins Paradies? Wo man von seinen Sünden gereinigt wird, z.B. von Wollust, Völlerei, Geiz oder Neid?

In Zeiten von Fifty Shades of Grey oder öffentlichen Abspeck-Sows im TV sind alle Sünden total normal und deren Läuterung hat sich – wenn überhaupt – komplett ins Diesseits verschoben. Die Selbstoptimierung findet hier und jetzt statt und nicht erst nach dem Tod wie noch in Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“.

Foto: Matthias Horn/Schauspiel Köln

Foto: Matthias Horn/Schauspiel Köln

Die Hölle haben wir auch bereits auf Erden, wenn man an Krieg, Terror und das Leid denkt, das in vielen Weltgegenden herrscht. Folgerichtig also, dass Sebastian Baumgarten in seiner neuen Inszenierung des spätmittelalterlichen Stoffes am Schauspiel Köln einen Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung als Dante (Guido Lambrecht) in den Mittelpunkt des Geschehens stellt.

Abgerissen und seelisch abgestumpft kommt er aus irgendeinem Krisengebiet nach Hause und muss feststellen, dass seine geliebte Frau Beatrice (Yvon Jansen) gestorben ist.

Statt dessen trifft er auf seltsame Leute, die ihn auf eine Art Expedition durch die Hölle schicken, denn wenn es e i n Ausgewählter durch das Inferno hindurch ins Paradies schafft, dann vielleicht alle? Zum Glück hat er einen Kollegen an der Seite (denn eigentlich ist der Krieger Schriftsteller), Vergil aus dem alten Rom. In einer Art antikem Pluderhöschen steigt dieser (gespielt von Seán McDonagh) aus einem schrottreifen Auto und nutzt für seine philosophischen Vorträge die Leinwand wie ein Tablet, über das er flink hinwegwischt.

Die Bühne (Thilo Reuther) behauptet die Hölle als ein gesichtsloses Vorstadt-Mietshaus in einer schlechten Gegend. Die Bewohner sind Huren, Haie, Zuhälter. Statt eines Sandkastens schmilzt vor dem Haus eine Schneefläche vor sich hin, die langsam zu Matsch wird. Vor allem, weil in der Hölle dauernd ein Video-Feuer brennt.

Dantes erste Begegnungen mit Höllenbewohnern sind denn auch rasant erzählt und theatralisch aufgeladen: Das ehebrecherische Pärchen aus Rimini beispielsweise wird effektvoll und in Mafia-Manier direkt im Auto erschossen. Die Zweifler tragen Regenmäntel und werden zu den Haien ins Aquarium geworfen. Diejenigen, die sich der Völlerei schuldig gemacht haben, sind in Fatsuits gezwängt und sehen aus wie extrem übergewichtige Unterschichtsparodien, die zu viel bei McDonald’s gegessen haben. In der Hölle müssen sie deswegen in den Schnee kotzen.

Foto: Matthias Horn/Schauspiel Köln

Foto: Matthias Horn/Schauspiel Köln

Danach schlafft der Spannungsbogen leider ab: Schon mit dem Fegefeuer kann Sebastian Baumgarten so recht nichts mehr anfangen. Etwas langatmig werden die sieben Todsünden von einer Art Putztrupp durchdekliniert, wie Schürzen werfen sie die Laster ab, wischen ein wenig im Schnee herum und sind plötzlich geläutert. Etwas unvermittelt sprechen sie die historischen Texte der „Göttlichen Komödie“, deren Auswahl man nicht so genau nachvollziehen kann, wenn man sie nicht kennt. Die Rahmenhandlung schreitet indes weiter fort und man begreift, dass Dante wohl im Sanatorium sitzt und die Höllenfahrt in einem Betäubungsmittelrausch erlebt.

Das Paradies schließlich fällt komplett aus: Es erscheint zwar die verstorbene Beatrice und die Höllenbewohner bringen weiße Luftballons mit. Doch Dantes Gesang am stummen Klavier ist nur noch Gestammel. Er klatscht, er will singen, doch er kann die Worte nicht mehr artikulieren und er hat jede Melodie verloren. Er ist versehrt durch die Hölle des Krieges, ein menschliches Wrack, das nicht mehr ins Leben zurückfindet. Schauspielerisch eine starke Leistung von Guido Lambrecht, insgesamt aber eine düstere Deutung: Das Paradies gibt es nicht mehr, die Gegenwart ist die Hölle.

Termine und Karten:
www.schauspielkoeln.de




Wer tötete Gregor Samsa? Kafka trifft Krimi und Mystery am Prinz Regent Theater

Scully (Maria Wolf) und Mulder (Helge Salnikau) auf der Suche nach Samsas Mörder. Foto: Sandra Schuck

Scully (Maria Wolf) und Mulder (Helge Salnikau) auf der Suche nach Samsas Mörder. Foto: Sandra Schuck

An Franz Kafkas „Verwandlung“ haben sich Generationen von Schülern die Zähne ausgebissen: Wie ist die Erzählung zu deuten, in der sich Gregor Samsa nach und nach in einen Käfer verwandelt, zum Entsetzen seiner Familie, die er nun nicht mehr ernähren kann, woraufhin die familiäre Situation eskaliert und Samsa schließlich verwahrlost und verhungert?

Schlüssige Deutungen gibt es viele, auch auf der Bühne, etwa 2012 in Oberhausen, wo sich nicht Gregor, sondern vielmehr seine parasitären Angehörigen in Tiere verwandelten. Nun bringt das Bochumer Prinz Regent Theater die Erzählung aus dem Jahr 1915 als popkulturelles Mysterien-Spiel – und das gnadenlos überzeugend.

Frank Weiß‘ Fassung liefert dabei keine neue Interpretation, sondern quasi die Meta-Studie: Vorhandene Deutungsmuster aus 100 Jahren Rezeptionsgeschichte werden auf ihre Plausibilität untersucht – in kriminalistischer Manier.

Als Folie dafür dient „Akte X“, jene US-TV-Serie, in der die FBI-Agenten Dana Scully und Fox Mulder mysteriöse Fälle aufklären – doch Autor und Dramaturg Frank Weiß sowie Regisseurin Romy Schmidt verwursten mit großem Spaß auch andere (pop)kulturelle Motive, etwa aus David Lynchs Kult-Serie „Twin Peaks“, aus Werbung, Musical und Science Fiction.

Zu Beginn jedoch begrüßt das Publikum schon im Foyer der Schriftsteller Vladimir Nabokov („Lolita“), der sich als Literaturwissenschaftler eingehend mit Franz Kafka beschäftigt hat: „Sie sollten Phantasie und Wirklichkeit auf ihre Wechselwirkungen untersuchen!“ Nabokov sei der Pathologe, der den Untersuchungsbericht geschrieben habe, erfährt man, doch Nabokov widerspricht: „Ich bin kein Pathologe, ich bin Literaturwissenschaftler!“ Gibt es da einen Unterschied? Ist Literatur tot?

Mutter Samsa (Marla Kiefer) beim Verhör. Foto: Sandra Schuck

Mutter Samsa (Marla Kiefer) beim Verhör. Foto: Sandra Schuck

Der Tatort, die Wohnung der Samsas, erweist sich jedenfalls als recht lebendig. Die Silhouette vom Fundort der Käfer-Leiche auf dem schwarz-rot gestreiften Fußboden (Ausstattung: Sandra Schuck) scheint eine Art Kraftfeld zu sein, wer ihm zu nahe kommt, dem kann es passieren, dass der Geist des toten Samsa in ihn fährt. Auch hinter den drei Türen lauert Unerklärliches.

In drei Verhören versuchen die kühle, rational denkende Scully (Maria Wolf auf High Heels) und der esoterischen Ideen nicht abgeneigte Mulder (herrlich irre: Helge Salnikau), die Wahrheit herauszufinden: War es Mord, wie der Untersuchungsbericht nahelegt? Oder Selbstmord, wie die Familie behauptet? Litt Gregor Samsa unter dem „Stockholm-Syndrom“ und solidarisierte sich mit seinen familiären Folterern? Oder arbeitete er in einem geheimen Militärprojekt, in dem es um Teleportation ging? „Sie sehen zuviel Fernsehen“, kanzelt Scully ihren Partner ab. „Wir müssen andere Fragen stellen“, beschwört Mulder sie.

Mutter, Vater und Tochter Samsa werden gespielt von der erst 14-jährigen Bochumerin Marla Kiefer – ein großes Talent, das schon mit 9 Jahren erste Bühnen-Erfahrungen sammelte. Ihr kindliches Gesicht und die Zahnspange nimmt man kaum mehr wahr, wenn sie als Mutter Samsa in gebückter Haltung, „Ay ay ay ay ay“ jammernd, beim Verhör schließlich hyperventiliert. Oder als kokette Grete Samsa den Kommissar abwechselnd mit Schmollmund, Augenrollen und Tränen bezirzt.

Die Ermittler visualisieren ihre Untersuchungsergebnisse auf der Bühnenwand, kombinieren, malen Verbindungen – bis das Wandbild die Form eines menschlichen Kopfes annimmt. Es ist der Kopf Kafkas, der als des Rätsels Lösung am Ende aufleuchtet. „Wir müssen langsam davon ausgehen, dass alle Beteiligten die Wahrheit sagen“, schließt man die Ermittlungen – es gibt im Fall der Literaturdeutung eben keine Wahrheiten, die vor Gericht standhalten könnten. Plötzlich segelt ein Brief von der Decke – Agent Mulder ist verhaftet. „Ich verstehe das nicht. Es muss mich jemand verleumdet haben“, sagt er. Willkommen in Kafkas Welt.

Termine hier, Karten: 0234 / 77 11 17

(Der Text erschien ebenfalls im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Schön und kess: Die Junge Oper Dortmund zeigt Jens Joneleits Musikmärchen „Sneewitte“

Snewitte (Hasti Molavian) wird vom König (Kai Bettermann) und Berater (Steffen Happel) auf Händen getragen. Foto: Hupfeld

Die kesse Sneewitte (Hasti Molavian) wird vom König (Kai Bettermann, r.) und seinem Berater (Steffen Happel) auf Händen getragen. Foto: Hupfeld

Die Theatermenschen sind als erste da. Ganz in Schwarz gekleidet sitzen, stehen oder laufen sie auf der kleinen Bühne der Jungen Oper in Dortmund herum, das Stück hat noch gar nicht begonnen. Dann aber geht alles ganz schnell. Kai Bettermann greift sich eine Art weißen Hermelinmantel und setzt die königliche Krone auf. Seine Mitstreiter werfen sich ebenfalls in ansehnliche Gewänder. Und flugs finden wir uns im Märchenland wieder, wo das Schicksal des königlichen Kindes namens Sneewitte verhandelt wird.

„Sneewitte“ ist ein Musiktheaterstück für Kinder (ab 7 Jahren), geschrieben von Jens Joneleit. Der Text stammt von der holländischen Librettistin Sophie Kassies, die sich an das Grimm’sche „Schneewittchen“ hält (sieben Zwerge inklusive), die Hauptfiguren indes ein wenig umdeutet. Sneewitte wächst zur kessen Göre heran, die weiß, was sie will. Der König ist in Erziehungsfragen überfordert, die Stiefmutter wird böse, weil sie mit dem Alter hadert. Denn alsbald ist ja Sneewitte die Schönste im Land.

Wer ist die Schönste im Land: Sneewitte oder die Stiefmama (Engjellushe Duka)? Foto: Hupfeld

Wer ist die Schönste im Land: Sneewitte oder die Stiefmama (Engjellushe Duka)? Foto: Hupfeld

Das fast 90 Minuten lange Werk schnurrt, als Kooperation von Junger Oper und Kinder- und Jugendtheater, temporeich über die Bühne. Längen gibt es bei den gesprochenen Dialogen, doch üppige Rollen- und Kostümwechsel sowie gehörige Situationskomik (Regie: Antje Siebers) helfen darüber hinweg. Manches wirkt wie Improvisationstheater, wie das alte Stegreifspiel, zu dem Lisa Buchholz’ karge Ausstattung passt  – vor allem rollende Podeste, ein Laufsteg.

Das flotte Agieren lenkt indes auch von der disparaten Anlage des Stücks ab, das musikalisch aus lauter Nummern besteht. Joneleit, selbst Schlagzeuger und vom Free Jazz kommend, hat nichts durchkomponiert für das vierköpfige Kammerensemble. Manche Arien haben Musicalcharakter, die „Spieglein, Spieglein“-Szene bekommt einen sphärischen Leitklang, anderes erinnert an Kurt-Weill-Songs, bisweilen gibt’s ein bisschen Schmusejazz.

Bestechender, spannender wirkt die Musik indes, wenn sie sich erregtem Pulsieren hingibt, verbunden mit einem sanften Geräuschszenario, oder wenn sie, in der Waldszene, umschlägt ins Düstere, Todesnahe, mit tiefen Posaunenklängen. Dann klopft die tönende Moderne an. Rhythmisch sind die Dinge oft vertrackt, aber das hellwache Ensemble (Petra Riesenweber, Keyboard, Stephan Schott, Schlagzeug, Stephan Schulze, Posaune und Bernd Zinsius, E-Bass) unter Michael Hönes’ umsichtiger Leitung musiziert in bester Form.

Wendig im Spiel zeigen sich zudem Steffen Happel (als Jäger) und Kai Bettermann. Der Sopranistin Engjellushe Duka wiederum gelingt ein vielschichtiges Portrait der liebenden, zweifelnden, hassenden Stiefmutter. Und Hasti Molavians Mezzo leuchtet farbenprächtig die Gefühlsmischung einer jungen Frau aus. Nur schade, dass am Ende kein Prinz kommt.

Zahlreiche weitere Vorstellungen gibt es im April und Mai. Nähere Infos: www.theaterdo.de

(Der Artikel ist in ähnlicher Form zunächst in der WAZ erschienen.)




Weg der Qual ohne Erlösung: Lars von Triers „Dogville“ am Theater Krefeld

"Dogville" am Theater Krefeld: Die Bühne von Gabriele Trinczek zitiert die "Versuchsanordnung" des Films aus dem Jahr 2003. Foto: Matthias Stutte

„Dogville“ am Theater Krefeld: Die Bühne von Gabriele Trinczek zitiert die „Versuchsanordnung“ des Films aus dem Jahr 2003. Foto: Matthias Stutte

Das Stück handelt von unverdienter Gnade, vom Unsinn von Barmherzigkeit. Vom Scheitern eines Lebensprinzips, das dem Weg Jesu folgt, in einer Gesellschaft, die man als „kleinbürgerlich“ bezeichnen könnte, die aber über jenes schiefe Etikett weit hinausreicht und für die Menschheit als Ganze stehen könnte. Lars von Triers „Dogville“ spielt wie kaum einer anderer Film mit christlich-biblischen Bezügen. Aus dem Film wurde ein Bühnenstück, das jetzt am Krefelder Theater Premiere hatte.

Eigentlich sind solche Adaptionen überflüssig. Warum sollte man einen nahezu perfekten Film nahezu eins zu eins ins Theater übertragen? Es gibt Tausende von Dramen, die auf der Bühne und nur da wirken. Wozu also dieses Wiederkäuen? Und die Frage lässt sich erweitern auf die modische Bearbeitung von großen Romanstoffen in handlichem Zweieinhalb-Stunden-Format. „Buddenbrooks“ oder „Zauberberg“ im Schnelldurchlauf – ein Tribut an die ungeduldige Kurzatmung unserer Zeit?

Vielleicht eher die Schwäche eines Theaters, dessen Lebenskern in den Gehirnwindungs-Labyrinthen endloser, selbstreferentieller Reflektion zerstoben ist. Das sich schwer tut, bedeutungsvolle Geschichten zu erfinden und zu erzählen. Das sein reiches Erbe in verstiegener Lust zwischen privatistischen Exzessen und gesuchter Originalität übersieht.

Voilá – mit einem Filmstoff darf man dann ungeniert erzählen, ohne das schlechte Gewissen des Regie-Originalgenies klopfen zu hören. Matthias Gehrt lässt sich in Krefeld darauf ein – zum Glück ohne schlechtes Gewissen. Und ohne den Zwang, unter allen Umständen etwas „Neues“ zu erfinden, dem etwa Karin Henkel in ihrer „Dogville“-Version in Frankfurt gefolgt ist.

Wir sehen in Krefeld eine Bühne, von Gabriele Trinczek gestaltet wie die Spielfläche des Films von 2003. Wir sehen treffende Kostüme von Petra Wilke, die in das verlorene Dörfchen der Dreißiger Jahre am Fuß der Rocky Mountains passen. Die Wände der Häuser sind angedeutet durch weiße Linien, nur die Möbel stehen dreidimensional und gegenständlich in den Zimmern. Diese nach außen durch die Natur isolierte Gemeinschaft ist total durchsichtig. Jeder weiß vom anderen alles, auch peinliche Geheimnisse wie den monatlichen Animierdamen-Besuch des täppischen Lastwagenfahrers Ben (Paul Steinbach).

Eine vermeintlich kleine, geordnete Welt: Szene aus "Dogville" am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Eine vermeintlich kleine, geordnete Welt: Szene aus „Dogville“ am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Ein abgeschlossenes Biotop, genau richtig für die gesellschaftlich-moralischen Erkundungen des jungen Möchtegern-Schriftstellers Tom Edison. Jonathan Hutter verkörpert ihn als intellektuelles Bürschchen in abgetragenem Sakko, eifrig erfüllt von seiner Mission. Aufklärung, so tönt er, löse jahrhundertealte Konflikte. Die Fremde, die auf der Flucht in das Dorf gerät, ist für seine Predigt über „Geben und Empfangen“ genau das pädagogische Versuchstier, das er braucht.

Das fremde Opfer, von einer zunächst kaum greifbaren Macht verfolgt, heißt Grace. Nele Jung verkörpert sie im modischen Blondinen-Look, in der eleganten Garderobe einer städtischen Oberschicht. Grace heißt „Gnade“: Die junge Frau muss sich ihr Bleiben in der Gemeinschaft verdienen – und sie bietet den Bewohnern ihre Hilfe an. Keiner braucht sie, keiner will sie annehmen, doch die behutsame Art von Grace, genau das zu suchen, was den Menschen fehlt und es ihnen unaufdringlich zu gewähren, durchbricht die Selbstgenügsamkeit. Nele Jung spielt das souverän und mit einer teilnahmsvoll weichen Diktion.

Die Parallele zur von Gott gewährten „unverdienten Gnade“ ist überdeutlich. Grace befreit die Menschen von Selbsttäuschung und dem Gefangensein in sich selbst: Die bildungsbeflissene Vera (verhärmt, abgearbeitet und im entscheidenden Moment gnadenlos grausam: Esther Keil) kann Vorträge in der Stadt besuchen. Der halbblinde alte Edison (Bruno Winzen) gesteht sich endlich die Wahrheit ein: Er kann nicht mehr sehen.

Ausbruch der Gewalt: Nele Jung als Grace, Adrian Linke als Chuck. Foto: Matthias Stutte

Ausbruch der Gewalt: Nele Jung als Grace, Adrian Linke als Chuck. Foto: Matthias Stutte

Der Bruch bahnt sich an, als die kleine Gemeinschaft mit Macht konfrontiert wird, mit dem unheimlichen, nicht fassbaren „Außen“. Ein Sherriff erscheint, klebt ein Plakat an. Grace wird als vermisst gesucht, gerät noch mehr in die Defensive, als eine Fahndung wegen einiger Banküberfälle nachgeschoben wird – die sie freilich nicht begangen haben kann, da sie in der fraglichen Zeit in Dogville war.

Dennoch: Der drohende Zugriff der Macht, die Angst, vor ihrem Gesetz inkorrekt zu sein, offenbart die andere Seite der Menschen – jene, die in den moralischen Tiraden von Tom angedeutet und in der bösen Rede von Chuck (Adrian Linke) konkretisiert wird. Sie wandelt die Menschen des Orts zu boshaften Ausbeutern, zu zynischen Vergewaltigern, zu gnadenlosen Seelenschändern. Und der Mann, der Grace liebt – Tom Edison junior – wird zum Verräter. Wenn sich Grace, mit einer Kette an einen Kanaldeckel gefesselt, zur Arbeit und dann zu Bett schleppt, um von den Männern Dogvilles missbraucht zu werden, denkt man unmittelbar an Händels „He was despised …“ aus dem „Messiah“.

Lars von Trier treibt die Parallele zum jesuanischen Modell von Gnade, Erbarmen und Vergebung in der Person Graces bis an die Grenze des Erträglichen – um es dann in einem Finale von alttestamentarischer Wucht zu kippen. Dieses Ende ist wie ein verzweifelter Aufschrei des zum Katholizismus konvertierten Lars von Trier: Das Konzept der Liebe ist zum Scheitern verurteilt, es ist sinnlos in einer schlechten Welt. Es bleibt nur die Rache und die Vergeltung, das „Aug‘ um Aug‘“ des zornigen Gottes aus dem alten Israel.

"The Big Man" Joachim Henschke in Lars von Triers "Dogville" am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

„The Big Man“ Joachim Henschke in Lars von Triers „Dogville“ am Theater Krefeld. Foto: Matthias Stutte

In Krefeld fehlt dem Finale die archaische Komponente der grausam ausgleichenden Gerechtigkeit. Es wirkt wie der Showdown einer mittelmäßigen Gangstergeschichte. Ansonsten verwendet Matthias Gehrt viel Sorgfalt auf die Charaktere: Ronny Tomiska und Henrike Hahn etwa als Geschwisterpaar Henson, hinter deren einfacher Glasschleifer-Existenz die Gier lauert, das Opfer Grace selbst mit ihren erbärmlichen Mitteln noch die Überlegenheit spüren zu lassen. Eva Spott trifft Ma Gingers opportunistische Gehässigkeit; Helen Wendt Marthas angstbesetzte Bigotterie. Dem „Großen Mann“ – Graces Vater – gibt die imposante Erscheinung und die amorphe Diktion von Joachim Henschke einen Zug ins Abgründige; Intendant Michael Grosse schlendert als jovialer Erzähler durch die Szene.

Bezeichnenderweise ist es ein Kind (Jason: Nikolas Jahnelt), das mit einer Erpressung das Kesseltreiben gegen Grace einleitet: Das Böse ist sozusagen im Urzustand dieser Menschen verankert. Und bezeichnenderweise ist der Hund „Moses“ der einzig Überlebende: Wie der alttestamentliche Patriarch hat das nichtmenschliche Lebewesen die Chance zum Exodus, zum Aufbrechen ins „Gelobte Land“. Viel Beifall und ein spürbar beeindrucktes Publikum.

Info: www.theater-kr-mg.de




Revierpassagen-Texte wurden bühnenreif: Rolf Dennemanns Krankenhausreport „Unterwegs mit meinem Körper“

Wenn ein gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“ ein Bühnenprogramm entwickelt und aufführt; wenn noch dazu sehr lesenswerte Textvorlagen zu diesem Projekt als Beiträge in den Revierpassagen gestanden haben – dann, ja dann machen wir umso lieber ein bisschen Reklame dafür.

(Foto: d-man)

Eine Station der Krankenhaus-Odyssee (Foto: d-man)

Die Rede ist von Rolf Dennemann und seiner szenischen Lesung „Unterwegs mit meinem Körper“, die kürzlich erfolgreich Premiere hatte. Der Autor, Regisseur und Schauspieler schildert seine Odyssee durch diverse Krankenhäuser des Landes. Es halten sich dabei erzkomische und durchaus ernsthafte Aspekte die Waage. Anders gesagt: Sie folgen einander in aberwitziger Weise.

Hand aufs hoffentlich nicht allzu kranke Herz: Wann habt ihr zuletzt über die Rolle des Hagebuttentees in deutschen Kliniken nachgedacht? Und was haltet ihr von der künstlerischen Ausstattung unserer Krankenhäuser? Und das sind nur die harmlosesten von vielen, vielen Fragen…

Einen gewissen Vorgeschmack erhält man, wenn man sich noch einmal – ebenso schaudernd wie genüsslich – Rolf Dennemanns dreiteiligen Revierpassagen-Text „Krankenhausreport“ (Links stehen am Ende dieses Beitrags) zu Gemüte führt. Doch natürlich hat Rolf Dennemann seine Erlebnisse für die Bühne noch einmal ganz anders bearbeitet.

Auch darf man sicher sein, dass die Präsenz Rolf Dennemanns und der Schauspielerin Elisabeth Pleß den Texten noch einige weitere Dimensionen verleiht, zumal auch Bild- und Videoprojektionen zum Repertoire gehören.

So. Ich denke, jetzt haben wir genügend Vorfreude auf die weiteren Auftritte geweckt. Der nächste begibt sich am Freitag, 17. April (20 Uhr), im Dortmunder „Theater im Depot“, ein weiterer am 29. Mai in Gelsenkirchener Consol Theater. Da ahnt man schon: Unter den Absurditäten des stationären Gesundheitswesens ächzen auch ansonsten scharf rivalisierende Revierstädte gemeinsam.

Weitere Infos auf Rolf Dennemanns Internet-Seite: www.artscenico.de

Die drei Teile des „Krankenhausreports“, erschienen im Februar 2014:
http://www.revierpassagen.de/23415/der-krankenhausreport-teil-1-ich-nehme-dann-das-einzeldoppel/20140209_1733

http://www.revierpassagen.de/23421/der-krankenhausreport-teil-2-wir-sind-die-gruenen-damen/20140211_1004

http://www.revierpassagen.de/23424/der-krankenhausreport-teil-3-das-bekommen-sie-jetzt-alles-von-uns/20140212_1217




Sie geht, er geht auch: „Gift. Eine Ehegeschichte“ am Schauspielhaus Bochum

Irgendwann steht die Frau ganz alleine auf der Bühne der Bochumer Kammerspiele, der Theaternebel wabert langsam ins Publikum und mit ihm eine große Traurigkeit, während die Frau sich mit geschlossenen Augen dem Regen hingibt.

Die namenlose Frau (Bettina Engelhardt), die vor zehn Jahren erst ihr Kind, dann sich selbst und dann ihren Mann verlor, hat diesen gerade zum ersten Mal seit zehn Jahren wiedergesehen – auf dem Friedhof, auf dem das gemeinsame Kind liegt. Denn Jacob soll umgebettet werden: Der Boden des Friedhofs ist vergiftet. Die Frau fühlt sich nun bereit für die gemeinsame Trauerarbeit, die direkt nach dem tödlichen Unfall des Kindes unmöglich war. Doch ihr Ex-Mann (Dietmar Bär) fand eine andere Strategie der Bewältigung. Er, der sie nach dem Unglück verlassen hatte, hat sich „damit abgefunden, dass das Kind jeden Tag fehlt“, und ist nun dabei, eine neue Familie zu gründen.

Szene aus "Gift. Eine Ehegeschichte" mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Szene aus „Gift. Eine Ehegeschichte“ mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

„Gift. Eine Ehegeschichte“ heißt das Zweipersonen-Stück der holländischen Autorin Lot Vekemans, das am Samstag Premiere in Bochum hatte. Ein dichtes, intensives Konversationsstück, das davon erzählt, wie es sein kann, wenn ein Paar ein Kind verliert. 80 Prozent aller Ehen, heißt es, scheitern nach einer solchen privaten Katastrophe.

Ricarda Beilharz‘ Bühne spiegelt das Seelenleben der Eltern: Alle Erinnerungen und Spuren sind noch da, notdürftig verpackt und verhüllt. Weißer, fließender Stoff bedeckt Wände und Boden, Möbel und Kinderzimmerausstattung. Ein nur auf den ersten Blick leerer Raum, der auch an das Innere eines Sarges erinnert – und damit an die unendliche Einsamkeit der Trauernden.

Die Szene, in der sich der Nebel (das Gift?) verzieht und der Regen kommt, liegt genau in der Mitte des Stücks. Bislang war zu sehen, wie Mann und Frau die riesige emotionale und räumliche Distanz versuchen, in den Griff zu bekommen. Denn nicht nur der Friedhofsboden, auch die Atmosphäre ist vergiftet. Es dauert keine fünf Minuten, da verfallen die ehemaligen Partner in vertraute Mechanismen: „Ich rede von Jacobs Umbettung, du redest von den Kosten!“, wirft sie ihm vor. „Leiden macht süchtig, findest du nicht auch“, stichelt er. Die alten Psychospielchen. Er geht, er kommt zurück. Sie geht. Er geht auch.

Im Stücktext folgt dann eigentlich die Wende: Mann und Frau finden nach und nach im Gespräch wieder zu einer gemeinsamen Sprache, erinnern sich an die letzten Minuten mit ihrem Kind und schaffen es, ihre Geschichte nachträglich in Würde zu beenden.

Regisseurin Heike M. Götze hat sich etwas anderes ausgedacht. Bei ihr geht die Geschichte nach der Regen-Szene zunächst noch einmal von vorne los – allerdings mit vertauschten Rollen. Im zweiten Durchgang ist die Frau diejenige, die einen neuen Partner gefunden hat und schwanger ist. Der Mann ist zurück geblieben und hat sich in seiner Trauer eingerichtet. Das Publikum erlebt die gleichen Dialoge noch einmal – aus anderer Perspektive.

Damit rückt das Geschehen zwangsläufig ein Stück vom Zuschauer weg, der nun nicht mehr eine individuelle Geschichte sieht – sondern eine Studie zur Trauer- und Beziehungsarbeit. Götze nimmt dem Stück damit seine Wucht und Intensität. Der Erkenntnisgewinn bleibt dagegen gering und ein wenig im Vagen: Was soll das Experiment bedeuten? Dass Trauerstrategien nicht geschlechtsspezifisch sind? Dass Verständigung nur funktioniert, wenn man mal die Perspektive wechselt? Dass es keinen Unterschied macht, wie man nach so einem Ereignis weitermacht – Hauptsache man tut es?

Bettina Engelhardt und Dietmar Bär gehen ihre (wechselnden) Rollen sehr unterschiedlich an: Engelhardt macht sich komplett durchlässig, wirft sich mit voller Intensität in die Figuren und zeigt Aggression, Zynismus, Hysterie, dann wieder enorme Verletzlichkeit und tiefe, tiefe Trauer. Dietmar Bärs Spiel ist dagegen stark zurückgenommen, zeitweise wirkt er wie ein Stichwortgeber, dessen Sätze nur Reaktionen seiner Partnerin provozieren sollen. Körperliche Interaktion zwischen den Protagonisten findet kaum statt – ein heftiger, fast aggressiver Kuss – ansonsten halten beide die meiste Zeit über größtmöglichen Abstand. „Ich würde mich freuen, ab und zu von dir zu hören“, sagt am Ende die eine Figur. „Ich auch“, erwidert die andere – mehr Happy End kann man nicht erwarten.

Zu den Terminen, Karten unter 0234 / 33 33 55 55.

(Die Kritik erschien auch im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Twittern im Theater: Das goldene Zeitalter für Social Media

KarteGestern war ich im Schauspiel Dortmund. Es war eine Einladung. Ich sollte mein Handy mitbringen, um damit während der Vorstellung zu fotografieren, zu filmen und Kurz-Texte darauf schreiben, so viele wie ich will. Dafür gab es freies W-Lan, ein Bier und eine Brezel. Es war mein erstes TweetUp, und es war – tja. Es war so, dass ich am Ende das Bedürfnis verspürte, mehr als 140 Zeichen zu schreiben. Also bitte, hier der Erfahrungsbericht.

Ein TweetUp ist eine Zusammenkunft von Twitterern, also Nutzern des gleichnamigen Microblogging-Dienstes, die während einer Veranstaltung über diese Veranstaltung kommunizieren – miteinander und mit dem Teil der Öffentlichkeit, der ihnen folgt. Damit man sich im Strom der ständig tickernden Tweets auch findet, wird vorab ein Hashtag bestimmt, den alle Twitterer in ihre 140-Zeichen-Kurznachrichten mit aufnehmen.

Der Hashtag hat das Zeichen einer Raute, #, er ist eine Art Code- und Schlagwort. An diesem Abend hieß der Hashtag #ZeitalterDo, denn das zu betwitternde Theaterstück hieß „The Return of Das goldene Zeitalter – 100 Wege, dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“. Es war die Wiederaufnahme aus der vergangenen Saison, ein Stück über die unerträgliche Leichtigkeit der Routine und Rituale, die unser Leben beherrschen.

Hundert Male gehen in dem Stück uniformiert gekleidete Menschen Treppen rauf und runter, durchgetaktet und doch variantenreich. Die Figuren – darunter Heine, Goethe, eine „Erklär-Bär“, diverse Nachrichten-Sprecher sowie Adam und Eva – agieren auf spontanen Zuruf der Regie. Jeder Abend verläuft etwas anders – und doch wurde jeder Gedanke in diesem Stück schon einmal gedacht, jeder Satz schon einmal gesprochen, so oder anders.

Sie ist verstörend beruhigend, diese Wiederkehr des Immergleichen, die Routinen und Rituale sind absolut verrückt und doch vertraut und gut. Wir haben uns in ihnen eingerichtet, und auch ein vermeintlich exzentrischer Ausbruch aus dem Alltag ist wenig originell, sondern eine vor-gedachte, vorgelebte Sollbruchstelle.

Kay Voges’ und Alexander Kerlins „Goldenes Zeitalter“ ist eine verstörend wahre, absolut unterhaltsame, nachdenklich machende, musikalisch und filmisch genial umgesetzte Allegorie auf das Leben. Mehr zum Stück bitte nachlesen in der Besprechung der Premiere von Anke Demirsoy oder Rolf Pfeiffers aktuelle Besprechung  – die Wiederaufnahme hat zwar einen anderen Untertitel und einige neue Szenen und Figuren, ist aber in Regiekonzept und Aussage deckungsgleich.

Ebenso neugierig wie auf das Stück, das ich noch nicht kannte, war ich auf das TweetUp: Wie würde ich mit der Möglichkeit umgehen, nonstop am Smartphone fummeln zu können? Was würde ich twittern, wieviel – und wie würde das die Konzentration und die Rezeption beeinflussen?

Zunächst bekamen wir Twitterer eine Einführung samt Vorstellungsrunde. Einer nach dem anderen nennt seinen richtigen und seinen Twitter-Namen und dazu einen persönlichen Hashtag, der das Befinden oder den eigenen Kontext angibt. „#Durst“, sagt einer, „#Ichfreuemichdassichdabeibin“. Die Kolleginnen und Kollegen fotografieren sich gegenseitig, fotografieren die Brezeln, den einführenden Dramaturgen und laden sie auf Twitter hoch. Soll ich auch schon? Ich fotografiere meine Eintrittskarte und schreibe dazu, dass man heute im Zuschauerraum trinken und fotografieren darf. Hm. Das haben die anderen auch schon getwittert.

Die meisten meiner Twitter-Kollegen stammen eher aus der Social-Media- denn aus der Kulturszene, und so hat man die Begleitmaterialien mit etwas mehr Infos versehen als für Theaterkritiker üblich: Die Twitterer erfahren zum Beispiel, dass das Schauspiel nur eine Sparte des Theaters ist und dass es auch noch Oper, Ballett, Philharmoniker und Kindert- und Jugendheater gibt.

Außerdem sagt die Mitarbeiterin aus der Öffentlichkeitsarbeit, dass es eine Burka-Szene geben wird und dass wir diese Bilder bitte nicht twittern sollen. Man wolle mit der Szene niemanden verletzen, und es könne ein falsches Licht auf die Inszenierung werfen, wenn diese Szene zusammenhanglos auf Twitter erscheine. Ich horche auf: Das ist neu. Von so einer Bitte habe ich noch nie gehört. Ich denke an den Kabarettisten Martin Kaysh, der 2013 mit Burkini ins Schwimmbad ging und daraus eine Nummer machte – aber das war vor Paris. Was ist von der Bitte zu halten? Wieso nimmt man die Szene ins Programm, hat aber gleichzeitig Angst, dass sie zu öffentlich wird? Die Gedanken dazu auf 140 Zeichen zu bringen – unmöglich. Ich twittere: Ok. Es wird eine Burka-Szene geben, aber mit der will man niemanden verletzen. Spannung steigt… #zeitalterdo“.Burka

Es ist nicht das erste TweetUp des Dortmunder Schauspiels, man sammelt schon seit etwa einem Jahr Erfahrungen mit dem Format. Regelmäßig werden Twitterer und Blogger eingeladen, von Proben oder Veranstaltungen zu berichten. Es gab sogar interaktive Inszenierungen, in die die Tweets der Zuschauer eingebunden wurden; in denen sich Zuschauer und Schauspieler auf digitalem Wege beeinflussten. Das ist an diesem Abend nicht so – von den Aktivitäten der Twitterer nehmen vor allem die Twitterer selbst Notiz und Teile des Publikums, die schon vorab durch Aushänge informiert wurden: Wundern Sie sich nicht, dass da eine ganze Zuschauerreihe am Handy spielt – die sollen das.

Dann geht es los. Ich habe mir vorgenommen, mein Handy wie einen Schreibblock zu benutzen. Gewohnt, während der Vorstellung ständig etwas später meist Unlesbares und Halbgares auf Papier zu notieren, will ich nun eben zum Handy greifen. Doch das funktioniert nicht. Meine Beobachtungen, Beschreibungen, Wertungen würden auf Twitter keinen Sinn ergeben, außerdem zögere ich, etwas zu veröffentlichen, das ich am Ende des dreistündigen Abends vielleicht ganz anders sehen werde. Ich schreibe etwas über das wiederkehrende Geräusch der Klospülung und erhalte sogar mehrere Retweets und „Favs„. Aber was soll irgendjemand damit anfangen, der nicht im Stück war?

kloDie Idee, der auf Twitter folgenden Öffentlichkeit von dem Stück in einer Sinn ergebenden Reihenfolge zu erzählen, gebe ich also schnell auf. Das entspräche schließlich auch nicht den Nutzungsgewohnheiten auf Twitter, wo sekündlich neue Tweets die alten verdrängen. Niemand wird meinen Botschaften in der von mir gedachten Reihenfolge folgen.

Es bleibt nur, auf griffige – und kurze! Zitate und Gedanken zu warten. Auf Witziges, Überraschendes, Aktuelles. Schlagzeilen schreiben, den Nachrichtenfaktoren folgen.

AdamDass die Schauspieler ihre Szenen in Dauerschleife wieder und wieder bringen, kommt mir entgegen: Wenn mir nach dem zweiten Durchgang auffällt, dass diese zwei Sätze ein schönes Video ergäben, halte ich beim nächsten Durchgang einfach drauf.

Die Qualität der Bilder aus dem dunklen Zuschauerraum ist erstaunlich gut, was an den großformatigen Bildern auf der Leinwand über der Bühne liegt. Wenig überraschend, dass ich dabei vor allem auf die spektakulären Bilder anspringe: Adam und Eva im Nackedei-Kostüm, der lustige Erklär-Bär, ein groß auf die Leinwand projiziertes vermeintliches Brecht-Zitat, mit dem das Schauspiel die aktuelle Diskussion um die Aufführung von Brechts Stücken kommentiert: „Der Urheber ist belanglos“.Brecht

Dann kommt die Burka-Szene, die wirklich gut ist: Drei Verschleierte stehen vorne auf der Bühne, dahinter riesengroß auf der Leinwand zwei wasserstoffblonde, gleich geschminkte und gekleidete Schauspieler, die da singen: „Ich bin anders als, du bist anders als, er ist anders als sie.“ Ich mache ein Video und lade es hoch. Es ist mein elfter Tweet aus der Vorstellung, vier weitere werden folgen, und ich finde nicht, dass da irgendetwas aus dem Zusammenhang gerissen ist – zumindest nicht mehr, als bei Twitter irgendwie immer alles aus dem Zusammenhang gerissen ist. Für den Kontext sorgt eigentlich nur der Hashtag.

Irgendwann, ich habe mich gerade in meinen Twitter-Rhythmus eingefunden, beginne ich damit, zu beobachten, was die anderen so twittern, verbreite ihre Tweets weiter, antworte und kommentiere. Phasenweise schaue ich minutenlang nicht auf die Bühne, dann wieder lange Zeit nicht aufs Handy. Das geht bei diesem Stück gut – es wird ja sowieso alles wiederholt.

Am Ende habe ich mich keine Sekunde gelangweilt und habe, anders als viele andere Zuschauer, meinen Platz nicht zum Bierholen verlassen. Wie wäre das ohne die Ablenkung durchs Twittern gewesen? Ich weiß es nicht. Und wie wäre es, über ein Stück zu twittern, das eine Geschichte erzählt, das sich entwickelt, das Beobachtung und Aufmerksamkeit erfordert? Ich kann und will es mir nicht vorstellen – genauso wenig kann ich mir vorstellen, mir parallel zum Twittern auch noch Notizen für eine ausführliche Kritik zu machen.

Twitter ist ein eigenes Medium, das einer eigenen Logik folgt. Als Medium der Theaterkritik ist es höchstens ergänzend geeignet, es bereichert die reflektierte Auseinandersetzung um spontane Eindrücke. In Zukunft, wenn Twitter in Deutschland populärer geworden ist, könnte es auch den gepflegten Zuschaueraustausch nach der Vorstellung ins Digitale verlagern bzw. erweitern – viele Menschen möchten nach einem Theaterabend gerne wissen, wie es anderen gefallen hat, haben aber Scheu, sich selbst in solche Diskussionen zu begeben.Danke

Als Medium der Kritik ist der Theatertwitter aber, zumindest von Seiten des Theaters, erstmal gar nicht gedacht. Es ist ein Instrument der Öffentlichkeitsarbeit und soll vor allem die Botschaft transportieren, dass – ja, dass am Theater getwittert wird. Was, das spielt gar keine große Rolle.

Und genau das ist auch okay. Es ist gut. Es hat tatsächlich Menschen ins Theater gebracht, die dort vorher selten waren, und es erweitert die Öffentlichkeit für das Schauspiel. Und mir hat es Spaß gemacht.

Übrigens, wenn Sie mir auf Twitter folgen wollen, bitte hier entlang.




Letzte Fragen, laut und lustig – „The Return of Das Goldene Zeitalter“ im Dortmunder Theater

Premiere von „The Return of Das Goldene Zeitalter“ im Dortmunder Theater. Viel Bild, viel Ton – und irgendwann stimmt das Ensemble Liedzeilen aus einem berühmten Song der Puhdys an: 

„Jegliches hat seine Zeit / Steine sammeln, Steine zerstreu’n / Bäume pflanzen, Bäume abhau’n / Leben und sterben und Streit.“

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

„The Return of Das Goldene Zeitalter“ – Szene mit Uwe Schmieder und Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Das Lied entstand Mitte der 70er Jahre in der DDR und erklang auch im Film „Die Legende von Paul und Paula“ mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Autor des Films und Songtexter war Ulrich Plenzdorf. Die Zeilen sind schön, wahr und uneingeschränkt zitierfähig; wenn man sie indes, wie es nun auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels geschieht, Mal um Mal gesungen hört, fragt man sich schon, wo der Rest geblieben ist. Denn recht eigentlich ist das Lied mit der Anfangszeile „Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt“ ja ein Liebeslied voller Verletzlichkeit, ein Lied des unausweichlichen Abschieds und der Trauer darum, mit diesen sich zum Teil mehrfach wiederholenden Zeilen:

Meine Freundin ist schön. / Als ich aufstand, ist sie gegangen. / Weckt sie nicht, bis sie sich regt. / Ich hab‘ mich in ihren Schatten gelegt.

Ich habe mich gefragt, warum ich diese Zeilen nicht in Dortmund gehört habe, in dem drei Stunden mächtigen, pausenlosen Eigenprodukt „The Return of the Goldene Zeitalter“ von Alexander Kerlin und Kay Voges, wo die Steine-Zeilen, wie gesagt, wirkmächtig eingebaut sind. Gewiß, es steht Autoren frei, Zitate nach Belieben auszuwählen, und das haben die beiden auch getan. Aber trotzdem. Etwas Wichtiges fehlt.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Kaum wiederzuerkennen: Caroline Hanke und Björn Gabriel (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Freudloser Kreislauf

Während noch der Zuschauerraum sich füllt, geschieht schon etwas auf der Bühne. Wie aufgezogen steigen Figuren, mit blonden Perücken und blauen Mädchenschuluniform einheitlich ausstaffiert, rhythmischen Schlägen folgend eine Treppe herab, verschwinden hinter einer Tür, tauchen am oberen Treppenrand wieder auf und wiederholen ihren Abstieg; das Bild wird später in einem Video erklärt, es ist quasi die Bühnenadaption eines Kinderspielzeugs, einer Art Achterbahn, bei der Spielfiguren mechanisch zum oberen Punkt transportiert werden, um von dort eine vielfach geschwungene Bahn herabzusausen.

Unten angekommen, geht es von vorn los, ein endloser Kreislauf, Sinnbild – wenn man es denn auf die Theaterbühne stellt – eines in endlosen Wiederholungen im Grunde ereignislos dahingehenden Lebens. Dem indes steht der Titel der Veranstaltung entgegen. Das einem Zitat von Heinrich Heine entlehnte „Goldene Zeitalter“ liegt nach Meinung des Dichters noch vor uns und keineswegs in mythischer Vergangenheit. Es gibt also so etwas wie ein Menschheitsziel; darüber läßt sich trefflich philosophieren.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Hier nimmt die Legende von Adam und Eva ihren Anfang. In den Stoffpuppenkostümenstecken Caroline Hanke und Eva Verena Müller (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Video und Klanggewummer

Die Dortmunder Produktion im Großen Haus, wie könnte es anders sein, bietet zu diesem Zweck wieder reichlich Videoarbeit auf, manch zwerchfellreizendes Klanggewummer und viele, viele Wiederholungsschleifen, gleichzeitig aber auch eine Menge Schauspielerarbeit und ansehnliche, muntere Ideen.

Es wird nicht langweilig in den gut drei Stunden, die das Ganze dauert. Und das zwiespältige Angebot, den Saal nach Belieben zu verlassen und, gerne auch mit Kaltgetränken, wieder aufzusuchen, wird von der großen Mehrheit der Zuschauer nicht genutzt. Diese neue Sitte, „pausenlos“ zu spielen und dem Publikum das beliebige Kommen und Gehen zu gestatten, ist sowieso eher eine Unsitte, eine Selbstentwertung des Theaters, die hoffentlich bald wieder verschwindet. Aber wer weiß.

„Ich war – ich bin – ich werde sein“

Reflektorisches denn also zum großen Menschheitsgeneralthema, kräftig gewürzt mit den Zitaten großer Geister, mit etwas Lokalkolorit und mit Alltagserfahrungen der Überforderung und der Ernüchterung. Einer von vielen Heiterkeitserfolgen sind burlesk nachgespielte Tagesschauszenen am Küchentisch, die in der Diktion der griechischen Tragödie – Ortsmarke Theben – die Enttäuschungsträger der letzten Zeit zelebrieren: den ehemaligen Limburger Luxus-Bischof Tebartz-van Elst, den Steuerhinterzieher Uli Hoeneß, den Pädophilen Sebastian Edathy und noch einige mehr.

Die Geschichte von Adam und Eva und dem Apfel der Erkenntnis wird – nebst Kain-und-Abel-Exkurs -, als langgezogene Zweipersonennummer in weichen Stoffpuppenkostümen präsentiert, und auf dem Gipfel des Ganzen muß Uwe Schmieder in gänzlicher Nacktheit über die vorderen Zuschauerränge klettern und die Selbstvergewisserung seiner Existenz Mal um Mal triumphierend herausschreien. Bis zum dann doch herbeigesehnten Ende muß das Ensemble dann „Internationale Solidarität“ skandieren (das „Hoch die…“ wurde gestrichen), und selbst als der Eiserne Vorhang unten ist, ist es noch nicht vorbei, flimmern klangunterlegte Videosequenzen des just Vergangenen über das dunkle Metall. Solidarität? Wofür? Womit? Auch als langjähriger, hartgesottener Theatergänger ertappt man sich bei dem Gedanken, ob das alles wirklich sein muß.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Eva Verena Müller als hinreißend quengelige grüne Raupe (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Nicht ohne Heiner Müller

Wenn Autoren so wie hier den Kosmos ihres Erkennens zelebrieren, führen sie natürlich auch dessen Grenzen vor. Und die sind nicht unendlich. Brecht muß immer wieder fürs Zitiertwerden herhalten, später auch Frank Castorf und Leander Haußmann und natürlich Heiner Müller, einer der letzten Welterklärer des Theaters, an dessen Lippen die Nachkommenschaft ergeben hängt. Auch am Begriff der Urheberschaft arbeitet sich das Stück ab, die, was nicht zu leugnen ist, in einem gewissen, wenn nicht gar dialektischen Verhältnis zur Veränderung der Welt dergestalt steht, daß sie in dem Maß an Bedeutung verliert, in dem die Welt sich tatsächlich im Sinne des Urhebers verändert. Konkreten Anlaß bietet das Aufführungsverbot, das der Suhrkamp-Verlag als Rechteinhaber gegen  Castorfs „Baal“-Inszenierung am Münchner Residenztheaters ausgesprochen hat, weil der in des Meisters geheiligten Zeilen zu viel Fremdtext eingebaut habe. Na gut.

Ein gänzlich humorfreier Feuerwehrmann fordert den Brandschutz ein („Alle reden vom Theater – aber wer redet vom Brandschutz?“), Joseph Beuys’ berühmte „Ja, ja, ja – nee, nee, nee“-Klangskulptur gelangt zum Vortrag, und es geschieht auf bunter Bühne einiges noch mehr; indes bleibt bei alledem doch unbeantwortet, was die Welt im Inneren zusammenhält. Beziehungsweise, welche Energie den Fortschritt vorantreibt. Könnte es vielleicht die Liebe sein? Liebe zwischen zwei Menschen, um die es den Puhdys in ihrem Lied geht und die man hier konsequent ausblendet? (Und die, das nur am Rande, wesentliche Antriebskraft des Theaters ist?) Es lohnt, darüber nachzudenken.

The Return of DAS GOLDENE ZEITALTER

Videoeinblendung mit (von links) Uwe Schmieder, Eva Verena Müller, Björn Gabriel und Merle Wasmuth (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Jedenfalls hat dieses Stück, dessen Untertitel „100 neue Wege, dem Schicksal das Sorgerecht zu entziehen“ pfiffig klingt, aber trotz des Zählwerks mit seinen roten Zahlen am rechten Bühnenrand ein bißchen anmaßend ist, nicht geringen Unterhaltungswert. Zudem ist es wirklich ein Eigenprodukt und nicht die Verwurstung literarischer Vorlagen nach den Ideen eines selbstherrlichen Regisseurs.

Die Schauspieler-Riege – Björn Gabriel, Caroline Hanke, Carlos Lobo, Eva Verena Müller, Uwe Schmieder und Merle Wasmuth – zeigt unbedingten Einsatz, ohne indes darstellerisch ihre Möglichkeiten ausschöpfen zu müssen. Und die Verwendung von Videotechnik schließlich, die man ja nicht uneingeschränkt lieben muß, ist hier über weite Strecken durchaus überzeugend.

Doch blieben etliche Plätze im Zuschauerraum bei dieser Uraufführung unbesetzt. Wer allerdings gekommen war, zeigte sich erwartungsgemäß begeistert.

Nächste Termine: 

Samstag, 7. März, Donnerstag, 30. April.
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Zwei gefährliche Geradeausdenker: Brechts „Flüchtlingsgespräche“ in Dortmund

Was tut einer den lieben langen Tag, wenn er vor den Nazis in ein fremdes Land flüchten mußte? Nun, er langweilt sich. Er wünscht sich interessante Gesprächspartner, und weil er sie nicht findet, führt er Selbstgespräche. So oder so ähnlich mag es wohl gewesen sein, als Bert Brecht in den späten 30er Jahren seine „Flüchtlingsgespräche“ in Svendborg (Dänemark) notierte. Was er damals, in dramatischer Form, seinen Figuren Kalle und Ziffel in die Dialoge schrieb, war jetzt im Dortmunder Schauspiel zu sehen: Eine für dieses Haus mittlerweile ungewöhnliche, keineswegs jedoch reizlose Veranstaltung.

Flüchtlingsgespräche

Jürgen Mikol (links) als Kalle und Andreas Weißert als Ziffel in Brechts „Flüchtlingsgesprächen“- (Foto: Theater Dortmund/Djamak Homayoun)

Viel Biographisches erfahren wir nicht über die beiden Männer, die sich zufällig zunächst an einem Tisch im Bahnhofsrestaurant von Helsinki treffen. Kalle ist ein rechtschaffener Proletarier, Metallarbeiter, Ziffel Physiker. Man redet über naheliegende Migrantenthemen zunächst, über Pässe, über Unterkünfte, doch bald ist man natürlich schon bei Deutschland, bei deutscher Ordnung und deutscher Kraft und bei den Verhältnissen, die in der alten Heimat unter den Nazis monströse Veränderungen erfahren.

Ziffels kauziges Raisonnieren über „erste Kraft“ und „letzte Kraft“, sein Einlassung, daß es doch viel einfacher wäre, sein Ziel mit – eben – erster statt mit letzter Kraft zu erreichen, ist immer noch ein hübsches Brechtsches Kleinkunstjuwel, und es bleibt in diesem Stück nicht das einzige. Beide nämlich – Kalle, der meistens nur bekräftigend zuhören muß, und Ziffel mit seinem Hang zum Monologisieren – sind gefährliche Geradeausdenker, deren scheinbar zwangsläufige Erkenntnisse auf mitunter groteske Art entlarven.

Hellseherisch geradezu sind die Gedanken über die Volkswirtschaft, die so kompliziert geworden ist, daß niemand mehr sie überblicken kann. Und auch die Sätze über die Schweiz, in der Reise-, Meinungs- und Pressefreiheit zwar bestehen, aber keineswegs zu weit getrieben werden dürfen, könnten vor kurzem erst geschrieben sein. Scharfes Denken, so Ziffel, sei schmerzhaft; der vernünftige Mensch vermeide es, wo immer er könne. Und wenn solche Sätze fallen, die eigentlich ja eher deprimierend sind, dann vermeint man doch ein Augenzwinkern im Gesicht des Schauspielers zu erkennen, der diesen aus seinem Land vertriebenen Weisen wider Willen spielt.

Flüchtlingsgespräche

Gespräche unterm (angepißten) Hakenkreuz: Jürgen Mikol (links) als Kalle und Andreas Weißert als Ziffel (Foto: Theater Dortmund/Djamak Homayoun)

Andreas Weißert gibt den Physiker Ziffel, Jürgen Mikol ist sein durchaus kongeniales Gegenüber Kalle. Mikol war lange im Dortmunder Ensemble und ist dem Publikum noch gut bekannt. Auch an Weißert, der in Dortmund von 1975 bis 1980 Oberspielleiter war und der seitdem auf vielen weiteren Bühnen stand, werden sich viele noch erinnern. Die beiden stellen die „Flüchtlingsgespräche“ untadelig als konzentriertes Kammerspiel auf die Bühne, verzichten auf inszenatorische Schnörkel und erfreuen im Vortrag der mal gezierten, mal abgehobenen, oft messerscharfen und immer unverwechselbaren Brechtschen Zeilen ihr Publikum, das an diesem Abend etwas älter ist als sonst in Dortmund.

Zwischen den szenischen Dialogen bringen die Akteure aktuelle Texte zu Gehör, die wohl eine unerfreuliche Nähe heutiger politischer Entwicklungen zu denen von damals suggerieren sollen. Ein Zitat kommt dann – kleines Ratespiel für das Publikum -, nein, nicht vom Bundespräsidenten, sondern von Adolf Hitler. Richtig entlarvend ist das aber trotzdem nicht, weil man mit aus den Zusammenhängen gerissenen Texten alles mögliche „beweisen“ kann, und überhaupt wären diese Aktualisierungen nicht nötig gewesen.

Wenn dem Zusammentreffen der beiden Männer trotz widriger Flüchtlingsexistenz ein gutes Maß an Behaglichkeit und Entspanntheit innewohnt, so wohl einfach deshalb, weil sie schon etwas älter sind. Zwar ist Jürgen Mikol trotz seiner 73 Jahre noch immer ein Mime mit beneidenswerter Beweglichkeit, zelebriert der achtzigjährige (!) Andreas Weißert seine Rolle, leicht unterspielend, mit einer Souveränität, die man auch vielen jüngeren Kolleginnen und Kollegen gönnen würde, doch sind die beiden eben Senioren, die Rückschau halten; nicht Männer mittleren Alters, die durch die Flucht vor den Nationalsozialisten brutal aus ihren Lebensbezügen gerissen wurden.

Brechts „Flüchtlingsgespräche“ also gezeichnet in den milden Farben des Lebensabends, nun gut. Trotzdem ist es ein Vergnügen, das Stück und diese beiden wunderbaren Schauspieler zu erleben; wie es überhaupt erfreulich ist, endlich wieder etwas von Bert Brecht auf der Dortmunder Bühne zu sehen, und sei es auch nur ein kleines Kammerspiel. Das Publikum zeigte sich sehr angetan und spendete reichen Beifall.

Nächster Termin: 8. März, 18.30 Uhr. Karten Tel. 0231 / 50 27 222, www.theaterdo.de




Rheingold, Notwist, Pasolini: Johan Simons stellt sein erstes Ruhrtriennale-Programm vor

Bikini Bar 2006(c) Atelier Van Lieshout

Demnächst vor der Bochumer Jahrhunderthalle: Die Bikinibar aus dem Atelier Van Lieshout (Foto: Ruhrtriennale)

Johan Simons ist, wie bekannt, für die nächsten drei Jahre Intendant der Ruhrtriennale, und heute hat er sein Programm 2015 präsentiert. Erster Eindruck: Es kommt drauf an, was man draus macht, oder auch: Schau’n mer mal.  Der Chef selbst ist da nicht so zögerlich. „Seid umschlungen!“ ist das euphorische Motto dieses „Festivals der Künste“ (Untertitel), das programmatisch sehr gern in den Schöpfungs- und Erlösungsmythen der Menschheit gründelt.

Die richtig großen Namen, das, was man im Showgeschäft „eine sichere Bank“ nennen könnte, fehlen weithin. Der Regisseur Luk Perceval und die Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker sind vielleicht noch am ehesten Namen, die einer etwas breiteren Kulturöffentlichkeit bekannt sein könnten, wiewohl natürlich auch viele andere Auftretende ihre mehr oder minder große Fangemeinde haben werden.

In diesem Programm vermengt Klassik sich mit Pop und Zwölftönerei, um im nächsten Schritt auch noch elektronisch verfremdet zu werden, dort löst sich die Oper in eine Rauminstallation auf, und wenn schon nicht atemberaubend Crossovermäßiges auf die Spielstatt gestellt wird, dann sind zumindest doch Sprachenkenntnisse hilfreich, um fremdsprachige Schauspieltexte verstehen zu können. Immerhin sind deutsche Untertitel versprochen.

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Johan Simons selbst, der das Theaterspielen auf der Straße begann, sich und seinen robusten Inszenierungsstil mit „Sentimenti“ bei der Ruhrtriennale früh schon unvergeßlich machte und selbst einen Stoff von Elfriede Jelinek noch als Burleske zu inszenieren wußte („Winterreise“, 2011 an den Münchner Kammerspielen), gibt jetzt den seriösen Einrichter bedeutungsschwerer Musikstoffe, inszeniert im September in der Jahrhunderthalle Wagners „Rheingold“, nachdem er schon Mitte August eine Bühnenfassung des Pasolini-Films „Accattone“ mit Musik von Johann Sebastian Bach auf die Bühne der Kohlenmischhalle Zeche Lohberg in Dinslaken zu stellen beabsichtigt.

Kohlenmischhalle Zeche Lohberg Dinslaken (c) Julian Roeder fuer die Ruhrtriennale

Nicht unbedingt ein Ausbund an Schönheit, trotzdem in diesem Jahr ein Spielort der Ruhrtriennale ist die Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken (Foto: Ruhrtriennale)

Die Zeche Lohberg übrigens ist neu im Strauß der Spielorte, der generösen Ruhrkohle-AG – bzw. deren mit anderen Großbuchstaben firmierenden Rechtsnachfolgerin – sei Dank. Hingegen, um auch das noch los zu werden, bleibt Dortmund wieder außen vor. Letztes Jahr noch war zu hören, daß die neue Triennale-Leitung auch Interesse an der berühmten Jugendstil-Maschinenhalle der Museumszeche „Zollern“ in Dortmund-Bövinghausen gezeigt hätte. Doch es ist wohl nichts daraus geworden. Statt dessen, neben den „Haupt-Städten“ des Festivals (Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck) nun also Dinslaken. Voilà!

Auffällig viele Niederländer (und Belgier) bevölkern das neue Triennale-Programm. Doch ist dies letztlich nicht zu geißeln, da ein Intendant natürlich alle Freiheiten hat, Kunst und Künstler zu bestimmen. Für den Vorplatz der Jahrhunderthalle ist seine Wahl auf das „Atelier Van Lieshout“ gefallen, das hier rund um eine bespielbare Gebäudeskulptur mit Namen „Refectorium“ ein Dorf entstehen lassen will, in dem es ein „BarRectum“, einen „Domesticator“, eine „Bikinibar“ oder auch ein „Workshop for Weapons and Bombs“ geben soll. „The Good, the Bad and the Ugly“ ist das Projekt überschrieben. Was kommt da auf uns zu? Geistige Auseinandersetzung natürlich, hier, laut Ankündigung, mit Selbstbestimmung und Macht, Autarkie und Anarchie, Politik und Sex.

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Hier gibt es bald wieder Theater: Gebläsehalle Duisburg-Nord (Foto: Ruhrtriennale)

Schauen wir ein wenig durch das Programm, das sich (unter anderem) auf einem sehr ordentlichen, nach Spielstätte und Datum ordnenden Kalender abgedruckt findet. Den Reigen der „großen“ Produktionen eröffnet, wie schon erwähnt, am 14. August die musikalische Pasolini-Adaption „Accattone“ in Dinslaken. Sie wird sechsmal gezeigt – und mehr findet in Dinslaken dann auch nicht statt.

In Bochum steigt am 15. August die Eröffnungsparty mit dem Namen „Ritournelle“, und da geht es dann hübsch popmusikalisch zu, wenn nicht gerade Neue Musik von Karlheinz Stockhausen zum Vortrag gelangt, entweder das Frühwerk „Gesang der Jünglinge“ oder das Spätwerk „Cosmic Pulses“. Bißchen Namedropping für die, die etwas damit anfangen können: Das Berliner Plattenlabel City Slang, das seit 25 Jahren besteht, spielt eine Rolle und ebenso die Gruppe „Notwist“. Es wird bestimmt laut und lustig, doch danach auch ganz ruhig.

Lediglich zwei Auftritte des Collegium Vocale aus Gent und ein Termin mit dem 80jährigen Musik-Minimalisten Terry Riley (29. August) nämlich stehen noch auf dem Augustprogramm. Unter der Leitung von Philippe Herreweghe bringen die Genter Johann Sebastian Bach zum Klingen. Am 16. August heißt das Programm „Ich elender Mensch“, am 21. August „Ich hatte viel Bekümmernis“.

Ab dem 12. September jedoch wird, wie wir doch hoffen wollen, Johan Simons’ „Rheingold“ der Jahrhunderthalle einheizen und neue Maßstäbe setzen. Angekündigt ist „eine ,Kreation’ an der Grenze zwischen Oper, Theater, Installation und Ritual“ (!). Die Musik machen das Orchester MusicAeterna aus Perm unter dem Dirigenten Teodor Currentzis und der finnische Techno-Experimentierer Mika Vainio. Sieben Termine sind angesetzt.

Weiter geht es nach Essen, in die auch ohne Theater schon beeindruckende Mischanlage der Kokerei Zollverein. Ein „Parcours“ ist sie, seit hier vor vielen Jahren die Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne“ neue Maßstäbe in der kulturellen Umnutzung alter Industriebauten setzte. Nun erklingt hier, auf diesem Parcours, Monteverdis „Orfeo“, dezentral und verwirrend vorgetragen. Zur Musik werden Besuchergruppen von maximal acht Personen durch die Räume geführt, die nun die Stationen von Orfeos Abstieg zeigen nebst seinem Versuch, die Geliebte für sich zurückzugewinnen. Das Regisseurinnen-Trio Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot, sagt die Ankündigung, habe in dem alten Betonbunker Qualitäten einer Vorhölle erkannt, und das kann man nachvollziehen. Eurydike übrigens, die spätere Salzsäule, wird von mehreren Schauspielerinnen gespielt.

Etliche weitere Tanz- und Musikproduktionen sowie Rauminstallationen können in diesem Text keine Erwähnung finden, weil es sonst einfach zu viel wird. Von den Schauspielproduktionen sei noch „Die Franzosen“ erwähnt, ein Werk des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski, in dem er Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ mit weiteren Stoffen des Romanciers zum großen Sittenbild einer „Gesellschaft im Umbruch zwischen 19. und 20. Jahrhundert“ verwebt. Sein Nowy Teatr spielt das alles in polnischer Sprache und will sechsmal die Halle Zweckel füllen. Das wirkt ein bißchen optimistisch, aber man soll ja nicht unken.

Ach ja: Von Anne Teresa De Keersmaeker wird Ende September dreimal die Uraufführung ihrer Choreographie „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ gezeigt, die Rilkes Erzählung über den begeisterten Türkenkrieg-Soldaten aktuell deutet; Regisseur Luk Perceval verarbeitet mehrere Stoffe Émile Zolas mit Darstellern des Hamburger Thalia-Theaters zu einem Gesellschaftsbild, das den Titel „Liebe – Trilogie meiner Familie I“ trägt. Die Teile II und III gibt es auf dieser Triennale noch nicht zu sehen.

So, das soll mal reichen. Glück auf!

www.ruhrtriennale.de




Verhext von Maxim Biller: „Im Kopf von Bruno Schulz“ am Schauspiel Köln uraufgeführt

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Maxim Billers Kolumnen in der „Zeit“ lese ich ganz gerne. Als nun eine Uraufführung nach einer Novelle von ihm auf dem Spielplan des Schauspiel Köln auftauchte, dachte ich: Unbedingt hin zu „Im Kopf von Bruno Schulz“, in der Regie von Christina Paulhofer. Merkwürdig verhext habe ich 90 Minuten später das Depot 2 wieder verlassen.

Dabei beginnt die Angelegenheit ganz dynamisch, um nicht zu sagen hektisch. Der Bühnenraum (Jörg Kiefel) ist in eine Turnhalle von anno dunnemals verwandelt, mit den typischen blauen Matten, Kästen, Böcken, Trampolin und Schwebebalken. Über eine Leinwand flimmern Schwarz-Weiß-Filmchen von turnenden Schülern in paramilitärischem Drill.

Zwei Schauspieler (Robert Dölle, Sean McDonagh) keuchen, rennen und schwitzen ebenfalls auf den Geräten, eine Schauspielerin (Nicola Gründel) treibt sie herrisch an. Die Szenerie ist im polnischen Provinzstädtchen Drohobycz angesiedelt, 1938. Der Gymnasiallehrer und heimliche Schriftsteller Bruno Schulz pflegt eine masochistische Beziehung zu Kollegin Helena und ärgert sich ansonsten mit seiner Familie herum, die aus einer leicht verrückten Schwester und deren missratenen Kindern besteht. Außerdem ist Bruno Schulz ein glühender Verehrer des Schriftstellers Thomas Mann im fernen Deutschland, von wo ansonsten unheilvolle Nachrichten über Brutalität und Antisemitismus dringen.

Plötzlich taucht in dem beschaulichen Provinzstädtchen ein Betrüger auf, der sich als ebendieser Thomas Mann ausgibt. Doch er benimmt sich schlimmer als jeder Herrenmensch: Er prügelt die ihn bewundernden Dorfbewohner und spannt sie als Lasttiere vor seine Kutsche. Nun will Bruno Schulz handeln. Er muss den echten Thomas Mann aufklären über den Missbrauch seiner Person im fernen Polen und schreibt ihm einen Brief, dem er gleich noch sein neuestes Manuskript beilegt…

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Die theatralische Umsetzung dieser Geschichte gerät eher assoziativ: Sean McDonagh, eben noch im Turnleibchen, spielt den falschen Thomas Mann in schrillen Glitzerklamotten und wirkt dabei wie ein schmieriger Casting-Show-Moderator. Robert Dölle als Bruno Schulz zwängt seinen schweren Körper unbeholfen in verschiedene Sado-Maso-Utensilien und Tunten-Gewänder und genießt es, von Nicola Gründel als Helena immer wieder gequält zu werden, die als ein aus dem Manga-Comic entsprungenes Zwitterwesen ausstaffiert ist und gelenkig über den Schwebebalken turnt.

Der drohende Holocaust kündigt sich durch Duschköpfe an der Decke an, durch die langsam und schleichend der Rauch quillt. Überhaupt hat Bruno Schulz die schwärzesten Visionen von der Zukunft, die von der Realität noch umso grauenhafter übertroffen wurden. Das verleiht dem Abend eine ebenso fiebrige wie diabolische Stimmung, die durch den ganzen billigen Sex- und Glitzerkram umso grotesker wirkt. Böse und bohrend zugleich stellt das Stück auch die Figur Thomas Manns in Frage und die blinde Bewunderung, die die jüdische Gesellschaft von D. dazu bringt, sich von diesem „Zauberer“ quälen, beschwindeln und verhexen zu lassen.

So hinterlässt „Im Kopf von Bruno Schulz“ den Eindruck eines seltsamen Spukes, wenn auch der alptraumhaften Art.

Termine und Karten:
http://www.schauspielkoeln.de/spielplan/monatsuebersicht/im-kopf-von-bruno-schulz/803/




Er ist der Menschheit müde – Dortmunder „Elektra“ endet im Weltschmerz des Tyrannen

Elektra

Von rechts: Elektra (Caroline Hanke) sowie Bettina Lieder und Merle Wasmuth als Chor der Landmädchen. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Schon Minuten, bevor das Licht im Saal erlischt, kann man auf der Bühne einer jungen Frau bei ihren Turnübungen zusehen. Verbissen trimmt sie ihren Körper mit Liegestützen, stemmt, dehnt und streckt sich und wirkt dabei mit ihrer Arbeitshose und den groben Schuhen wie eine Gefangene in ihrer Zelle, die sich fit macht für bessere Zeiten „draußen“. Die Frau ist Elektra, das Stück „nach Euripides“, das an diesem Abend im Dortmunder Schauspielhaus gegeben wird, heißt wie sie, und eine Wartende ist sie auch.

Elektra, zwangsverheiratet und verbannt, wartet auf ihren Bruder Orest. Die zugrundeliegende Story – Sophokles, Aischylos und Euripides haben sie in der Antike erzählt, eine Heerschar von Autoren der Neuzeit hat sie nacherzählt – kreist um das Geschwisterpaar Elektra und Orest aus dem Geschlecht der Atriden, das Rache nehmen will an der ungetreuen Mutter Klytaimnestra, die den Vater ermorden ließ und seinen Mörder heiratete.

Elektra ist voller Rachsucht, doch als schwache Frau auf männliche Hilfe ihres Bruders Orest angewiesen. Orest hinwiederum ist reichlich unentschlossen. Doch die Rachemorde geschehen, und es wird nicht alles gut. Generationen von Pennälern und/oder Theatergängern durften sich bei Befassung mit diesem Stoff unter anderem fragen, ob offensichtliches, schweres Unrecht den Mord, in Sonderheit an eigener Verwandtschaft, rechtfertigen kann oder nicht.

Elektra

Orest ist wieder da! Elektras Umgebung in wüsten Freudentänzen (Foto: Theater Dortmund: Edi Szekely)

Der Text für Paolo Magellis Inszenierung stammt vom Dortmunder Dramaturgen Alexander Kerlin, umgangssprachlich kurz gehalten und gut verständlich und zumal dann, wenn der aus Bettina Lieder und Merle Wasmuth bestehende Zwei-Frauen-Chor seinen Senf dazugibt, oft auch ausgesprochen lustig.

Sparsam mit Elektra (Caroline Hanke), Klytaimnestra (Friederike Tiefenbacher) Orest (Peer Oscar Musinowski) Pylades (Carlos Lobo) und einem recht frei gestalteten „Henker/Bauer“ (Frank Genser) besetzt, ist dieses Stück eigentlich ein Kammerspiel, und es läßt sich auch so an, transportiert das ungeheuerliche Geschehen von einst und jetzt in manierlichen Dialogen.

Das heißt nicht, daß die Darstellerriege bewegungsarm auf der Bühne herumstünde und deklamierte; nein, Sportlichkeit wird den Mimen hier bis zur Schmerzgrenze abverlangt, wenn beispielsweise Peer Oscar Musinowski als Orest sich glückselig auf ein Feld von Bühnenschotter werfen und es gleich Dagobert Duck seine Geldspeicherschätze durchkraulen muß. Die griechische Heimaterde, die hier gemeint sein könnte und die dem Rückkehrer heilig ist, ist in der Dortmunder Bühnenwirklichkeit steinig und schmerzhaft.

Elektra

Auf spitzem Schotter ist das Knien schmerzhaft. Elektra (Caroline Hanke) in existentiellen Nöten (Foto: Theater Dortmund/Edi Szekely)

Wenn Elektras Entourage bei Orests Rückkehr ausflippt und säuft und tanzt bis zur Besinnungslosigkeit, wenn aus dem übermutigen Treiben ein bedrohlicher Veitstanz wird und die fröhlich in die Runde geworfenen Haß- und Schmähnamen für Königin und König sich andererseits zu einer Art Kindernachmittagsunterhaltung verselbständigen, dann wohnt all dem geradezu unübersehbar der Keim des Scheiterns inne. Und inszenatorischen Kunstgriffe wie diese wirken, wenn auch nicht eben erforderlich, so doch sinnhaft und intensivierend.

Gleichwohl ertappt man sich selbst in Betrachtung dieser Szenen bei der Vorstellung, alles in einer völlig schmucklosen, tunlichst schwarzen Kulisse ablaufen zu lassen, ohne jede Ablenkung, als in höchstem Maß konzentriertes, den Konflikt in den Mittelpunkt stellendes Sprechtheater. Dieser Wunsch bleibt unerfüllt, im Gegenteil: Um das Deutliche noch deutlicher zu machen, wird eine Live-Band unter Leitung von Paul Wallfisch aufgeboten, und über eine Leinwand über dem Bühnengeschehen laufen Videos (Mario Simon), die unter anderem Landschaften und Szenen aus glücklicheren Tagen des Atriden-Geschlechts zeigen.

Die Musiker machen ihre Sache fraglos sehr gut, Wallfischs Soundtrack ist einfühlsam und kongenial, passagenweise unerwartet leise und zart. Die ebenfalls zu preisenden Videos verharren oft in Betrachtungen karger Naturschönheit, zeigen Gräser und Landschaften, die indes eher im Revier als in Hellas gefunden worden sein dürften. Nur fragt sich, wo der Sinn von so viel erzählerischer Verdichtung liegen soll. Musikalisches und visuelles Zusatzangebot konkurrieren mit dem traditionellen Bühnenspiel um des Zuschauers Aufmerksamkeitsgunst, ohne daß der eine Weitung des Erfahrenen erführe. Kürzer gesagt: Weniger wäre mehr.

Elektra

Carlos Lobo als tyrannischer Pylades (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Die letzten gefühlt zwanzig Minuten dieses anderthalbstündigen Theaterabends gehören Orest-Begleiter Pylades, der dem ganzen ehrpusseligen Rache-Gemöhre der alten Griechen ein brutales Ende macht, indem er sich – wie er das schafft, bleibt etwas rätselhaft – zum blutrünstigen Tyrannen aufschwingt, der die anderen mit martialischen Kommandos traktiert und schließlich mit einem letzten Befehl Grabesruhe anordnet.

Offenbar mit grenzenloser Macht ausgestattet, denkt Pylades darüber nach, hundert, zweihundert Millionen Menschen zu ermorden. Ob er es aber tut, bleibt unklar. Vor allem nämlich ist er des menschlichen Machtgeschiebes, ja der Menschheit schlechthin, müde, läßt nur die Majestät der Natur und des Weltalls für sich gelten. Seine Suada ist lang, und man ist froh, wenn sie ihr Ende findet – obwohl Carlos Lobo immerhin die Synchronstimme von Javier Bardem ist.

Pylades’ Überdruß mag verstanden werden als Reaktion auf das ewige Rachenehmen und Vergelten, das die Menschheitsgeschichte bis heute prägt, unendliches Leid brachte und bringt. Statt sich den Kopf zu zerbrechen, wie man aus so einer vertrackten Elektra-und-Orest-Nummer rauskommt, könnte man es doch einfach auch ganz lassen. Einfach aufwachen. Einfach einen dicken Strich ziehen. Oder alles auslöschen. Das, in etwa, scheint die frustrierte Schlußbotschaft des berserkerhaften Herrn Pylades zu sein.

Mit dem honetten Kammerspiel ist es an diesem Abend also nichts geworden. Das Publikum aber zeigte sich begeistert.

Termine: 13.2., 28.2., 1.3., 12.3., 15.4, 24.4., 3.5.2015

http://www.theaterdo.de/detail/event/elektra/




Meeresrauschen und Insekten in „3D“: Rätselhafte Premiere in Düsseldorf

Das erste Bild ist stark: Eingerahmt von drei Leinwänden sitzt man wie am Meeres-Strand, die Video-Wogen rollen heran, die Brandung rauscht. Doch das eindrückliche Bild erlischt und man hört und sieht einem (Ex-)Ehepaar beim Streiten zu.

Sie (Tanja Schleiff) hat ihn (Michael Abendroth) vor Jahren verlassen und eine Galerie in New York aufgemacht. Er war immer mit der Firma verheiratet, ist nun im Ruhestand und hegt die Hoffnung, vielleicht mit ihr den Lebensabend zu verbringen. Diese schwindet ziemlich schnell, denn sie will nur kurz bleiben und auf keinen Fall zu ihm zurück. Doch was will sie dann überhaupt hier?

Der Düsseldorfer Künstler Stephan Kaluza hat das Stück „3 D“ geschrieben, das jetzt im Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere hatte, und er hat das Bühnenbild selbst entwickelt. Leider werden nach dem interessanten Eingangsbild die Leinwände nur sehr sparsam genutzt: Nur schemenhaft und blass flimmern Einrichtungsgegenstände und Insekten über die Projektionsfläche, meist bleibt sie weiß. Auch der Dialog des streitenden Ehepaars wirkt irgendwie hölzern, gleichwohl die Schauspieler ihr Bestes geben.

Tatsächlich entwickelt die Story dann noch einige überraschende Wendungen: Erst stellt sich heraus, dass die gemeinsame Tochter tot ist, woraufhin ihre Silhouette auf der Leinwand erscheint. Dann beschuldigt die Frau den Ex-Mann, die Tochter missbraucht zu haben. Dieser leugnet – keine Gefahr für ihn, denn die Tochter kann als Anklägerin ja nicht mehr auftreten.

Plötzlich behauptet die Frau, die Tochter sei doch nicht tot. Nun bekommt er es mit der Angst, zeitgleich erscheint die Tochter unzählig vervielfältigt im Video. Der Mann bricht zusammen und gesteht die Tat. Nur ein Motiv hat er irgendwie nicht: „Ich tat es, weil ich es konnte“. Obwohl der Plot permanent Haken schlägt, wirkt die Geschichte irgendwie ausgedacht, es fehlt eine gewisse Erdung, die auch Regisseur Kurt Josef Schildknecht nicht erzeugen kann. Sprechen oder fühlen so wirklich Menschen, wenn es um Missbrauch geht?

Sogar als am Ende klar wird, dass die ganze Zeit die missbrauchte Tochter selbst und gar nicht ihre Mutter auf der Bühne stand, bleibt ein wahres Drama aus. Fast scheint die Geschundene ihren Peiniger zu begehren. Also, ich nehme ihr das nicht ab.

Karten und Termine:
http://www.duesseldorfer-schauspielhaus.de/de/index/spielplan/alle-stuecke/stueck.php?SID=1565




Hitler als Liebling der Medien: „Er ist wieder da“ im Westfälischen Landestheater

Der Gedanke ist zugegebenermaßen ziemlich absurd, aber als Phantasiespiel nicht ohne Reiz: Wie wäre es, wenn Hitler wieder auftauchte? Wenn er nach 70jährigem Dornröschenschlaf in einer deutschen Gegenwart erwachte, in der es türkische Zeitungen und Comedians gibt und niemand Respekt vor dem Führer hat? Der Autor Timur Vermes hat dieses Spiel vor einigen Jahren in seinem Romanerstling „Er ist wieder da“ gewagt. Jetzt hat das Westfälische Landestheater in der Regie von Gert Becker daraus ein vorwiegend vergnügliches Bühnenstück gemacht und in Castrop-Rauxel uraufgeführt.

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In Pose: Guido Thurk als Hitler 1 (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Der Zeitungshändler, bei dem dieser merkwürdige Bärtchenträger in seiner abgeranzten, nach Benzin stinkenden braunen Uniform auftaucht, hält ihn für einen Comedian, für einen genialen Hitler-Imitator, der nie aus der Rolle fällt. Er vermittelt ihn an die Agentur „Flashlight“, und eine steile Karriere nimmt ihren Lauf. Jede Woche ist Hitler im Fernsehen zu sehen, seine Klickzahlen im Netz sind atemberaubend, „Youtube-Hitler – Fans feiern seine Hetze“ titelt die Zeitung mit den ganz großen Buchstaben. Bald schon erhält er (Achtung! Satire!) den Grimme-Preis, seit Loriot war kein Humorist so beliebt wie Adolf Hitler.

Und es bleibt nicht bei den im sattsam bekannten martialischen „Führer“-Duktus gehaltenen Reden. Wenn Hitler das NPD-Büro in Köpenick aufsucht und den Vorsitzenden wegen unvölkischer Gesinnung und einem indiskutablen Bekenntnis zur Demokratie vor laufender Kamera zusammenstaucht, feiert das Volk der Medienkonsumenten dies als Protestaktion gegen Rechts; und als er schließlich von Neonazis beschimpft und zusammengeschlagen wird, fliegen ihm endgültig die Herzen der Menschen zu. Es wird Zeit, das gut zweistündige Stück mit seinen monströsen Hitler-Phantasien zu beenden, was nun dankenswerterweise auch recht abrupt geschieht.

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Hitler 1 (Guido Thurk, links) und Hitler 2 (Burghard Braun). (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Doch das mulmige Gefühl, das sich trotz der zahlreichen eingebauten Lacher schleichend einstellte, will nach der letzten Szene nicht recht weichen. Vieles von dem, was Timur Vermes erzählt, könnte sich tatsächlich so abspielen in der Mechanik unserer stets gebannt auf Quote und Umsatz starrenden Medienwelt. Oder spielt es sich, die Frage steht im Raum, nicht auch so schon ab? Gibt es nicht längst schon diese Stars in Comedy und Talkshows, die reden dürfen, wie immer sie wollen, so lange sie nur Quote bringen, von Mario Barth bis Harald Schmidt?

Gewiss, das Grauen über den millionenfachen rassistischen Mord der Nazis und ihres „Führers“ findet in der Inszenierung seinen Platz, was auch zwingend sein muss. Gleichwohl hat Vermes’ Hitler, der darauf besteht, wirklich Hitler zu heißen und Hitler so gut nachmachen kann, dass man glaubt, er wäre Hitler, mit der historischen Person wenig zu tun. Er wird gezeichnet als komische Figur, als Sonderling mit Realitätsverlust, von dem keine politische Gefahr ausgeht. Es sei denn, skrupellose Rampensäue übernähmen die Macht. So wie vor mehr als 80 Jahren? Es zählt fraglos zu den Qualitäten dieser wüsten Geschichte, dass sie ihr Publikum wiederholt und scheinbar spielerisch auf die zentralen Fragen stößt, die die Nazi-Zeit uns hinterlassen hat: Wie konnte es dazu kommen und wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

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Ein respektloser Zeitungshändler (Bülent Özdil, links), zwei Hitler. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Die Inszenierung leugnet nicht, dass sie vom Buch abstammt, und besetzt den Hitler doppelt. Guido Thurk ist Hitler 1, der die braune Uniform trägt und in den Szenen mitspielt. Burghard Braun hingegen trägt zivil, ist Hitler 2 und spricht verbindende Texte zwischen den Szenen, irritierenderweise in der Vergangenheitsform. Von welchem historischen Punkt aus blickt er zurück, könnte man sich fragen. Thurk grimassiert und rollt die Augen, Braun pflegt die beherrschte Pose, beides kennt man vom historischen Vorbild. Und beide Schauspieler sind famose „Führer“-Darsteller. In zahlreichen weiteren Rollen sind Julia Gutjahr, Samira Hempel, Vesna Buljevic, Thomas Tiberius Meikl, Bülent Özdil und Thomas Zimmer zu sehen, die einige Male stärker überspielen, als für dieses Stück nötig wäre.

Elke König schließlich schuf das Bühnenbild, eine erkennbar aus Holz gefertigte Betonlandschaft mit Türen, Rampe und Tisch. Nur in einer Nische erfährt es ab und an Veränderungen, die zu den Szenen passen. Mal taucht hier eine der vielen „Spiegel“-Titelseiten mit Hitler-Titelgeschichte auf, mal der Tramp Charlie Chaplin, der die Albernheit des „Führer“-Gehabes zu dessen Lebzeiten schon unübertrefflich entlarvte und für Menschlichkeit warb. Die konzentrierte Ausstattung ruft ins Bewusstsein, dass dieses Theater oft auf Reisen geht und dafür kompakte Kulissen braucht. Die nächsten Stationen dieser Produktion sind Rheine, Bocholt und Hamm.

Viel herzlicher Applaus für Darsteller und Inszenierung.

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Termine: 5.2.2015, 19.30h Rheine, Stadthalle
6.2.2015, 20.00h Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
13.2.2015, 19.30h Hamm, Kurhaus
14.2.2015, 19.30h Witten, Saalbau
18.2.2015, 20.00h, Lünen, Heinz-Hilpert-Theater
14.3.2015, 19.30h Sulingen, Stadttheater im Gymnasium
14.4.2015, 19.30h Bottrop, Josef-Albers-Gymnasium.

Ticket-Hotline 02305 / 9780 20

www.westfaelisches-landestheater.de




Wo bleiben bloß die Emotionen? – Goosens „So viel Zeit“ als Theaterstück in Oberhausen

Theater OBKarriere gemacht, Ehepartner gefunden (und verloren), Kinder gezeugt und „v“erzogen, Eigenheim gebaut, Baum gepflanzt – alles erreicht, was vor langer Zeit als Lebensziel angepeilt war. Jetzt kommt die Ernüchterung, die Wehmut und die Erinnerung an einst so unbekümmerte Zeiten treiben mit Macht. Geht es nicht allen Fortysomethings so?

In Frank Goosens 2007 erschienenem Buch „So viel Zeit“ sind es die Freunde einer Doppelkopfrunde, die nichts dringender ersehnen als „Kontakt aufzunehmen zu ihrem früheren Ich“. Es ist einfach „So viel Zeit – die schon verstrichen ist“ und erst recht „So viel Zeit – die noch gefüllt werden muss“.

Ein demonstrativer Akt wird gesucht, um dem Gefühl entgegenzuwirken, alt und verbraucht zu sein. So lässt man kurz entschlossen die Band aus glorreichen Jugendtagen wiederauferstehen. Geld genug für beste Instrumente hat man ja, nur leider kommt man über gestümpertes Handwerk nicht hinaus.

Es fehlt das charismatische Element. Dieses meint man in Person des Schulfreundes Ole wiederfinden zu können, der einst unter nicht ganz geklärten Umständen nach Berlin entschwand und den man nun in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zurückholt. Die darauf folgenden Ereignisse werden das Leben aller Beteiligten vom Kopf auf die Füße stellen. Aber am Ende steht die Aussöhnung sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der wieder verheißungsvoller scheinenden Gegenwart. Soweit der Inhalt von Goosens Buch.

An die szenische Umsetzung dieses emotionalen Stoffs hat sich das Ensemble des Theaters Oberhausen unter Regisseur und Intendant Peter Carp gewagt. Präsentiert wird das Ganze als musikalische Produktion mit untermalenden Hardrock-Klassikern von Deep Purple, AC/DC und Led Zeppelin, dargeboten durch die Theater-eigene Band „Mountain of Thunder“.

Was fehlt, ist „so viel Zeit“, um alles aufzuschreiben, was an dieser Inszenierung nicht gefällt. Es fängt schon mit dem anscheinend vom Gerüstbauer des Vertrauens gebauten Bühnenbild an. (Naheliegende Interpretation „Baustelle Leben“? Aber vielleicht gefiel den Machern auch zunächst nur die Umsetzung des nie fertig gewordenen Haus-Anbaus eines der Protagonisten und wo man schon mal dabei war, rüstete man den Rest auch gleich noch ein.) Dies ist aber ein vergleichsweise kleines, wenn auch teils die Sicht nehmendes Ärgernis.

Wo das Buch neben feinem Sprachwitz und trockenem Humor auch Trauer und Gebrochenheit ohne Kitsch zum Ausdruck zu bringen vermag, kann sich die Inszenierung einfach nicht entscheiden, was sie sein will. Übergangs- und orientierungslos mäandert man zwischen klamaukigem Volkstheater, Rockkonzert und Dramolett vor sich hin.

Die Schauspieler spielen seltsam unbeteiligt ihren Stiefel runter, so dass man sich unwillkürlich fragt, ob ihnen das Stück peinlich war. War ihnen etwa das Thema zu nah? Denn um die Sehnsüchte der in ihrer Midlife-Crisis gefangenen Männer überzeugend rüberbringen zu können, hätten sie Einblicke in ihre Seelen zulassen müssen und dazu waren sie ganz offensichtlich nicht bereit. Die gut eingetragenen Cowboystiefel einiger der Darsteller waren zum Teil schon das Aufregendste an ihnen und erzählten mehr von gelebtem Leben als der zum größten Teil erschreckend emotionslos vorgetragene Text.

Im Buch spielt Musik eine große Rolle. Musik ist dort das, was ein Leben und Freundschaften zusammenhalten kann. Bis auf die Darsteller Jürgen Sarkiss, Peter Waros und Martin Müller-Reisinger scheint das aber keiner der Schauspieler je wirklich gefühlt zu haben. Es scheint, als wüssten sie wirklich nicht, welche Botschaft sie da transportieren müssen, man fragt sich sogar, ob der Rest des Ensembles überhaupt je auf einem Rockkonzert gewesen ist.

Lichtblicke in der Darsteller-Riege sind die Allzweckwaffen Konstantin Buchholz und Eike Weinreich, die ihre Slapstick-Rollen ohne Peinlichkeit auflockernd in das Stück einbringen und sich so für mehr empfehlen. Ebenso das Gros der weiblichen Nebenrollen, die ihren kleinen, aber entscheidenden Anteil am Geschehen mit wesentlich mehr Verständnis und Empathie einbringen als ihre männlichen Kollegen. Wenn auch mit Abstrichen: Die Figur der Corinna war im Buch zwar mehrschichtig, aber an keiner Stelle diese Karikatur einer Traumfrau. Und warum eine Karikatur nun das Stück hätte weiterbringen können, erschließt sich an keiner Stelle.

Die Intendanz hat die elementare Bedeutung der Musik für das Stück begriffen, zumindest insoweit, als sie eine richtige Rockband auf die Bühne in der Bühne gestellt hat. Wenn aber so entscheidende Sätze wie: „Wenn Musik schon keine Leben retten kann, so kann sie wenigstens Trost spenden“ unbeteiligt runtergeleiert werden, dann tut das dem Zuschauer beinahe körperlich weh und da rettet auch keine noch so gute Band etwas. Zumal es auch da hakte.

Klassiker sind Klassiker, auch im Hardrock-Bereich. Man sollte sich wirklich dreimal überlegen, an welchen dieser Klassiker man sich vergreift. Auch da gilt: Wenn es am Handwerk hapert, ist dies das eine, wenn aber Inbrunst und Gefühl fehlen, ist das wesentlich schlimmer. Man fragt sich ernsthaft, wie man auf der einen Seite das Pathos von Rockmusik beschwören kann, wenn man sich andererseits nicht einmal zu einer klitzekleinen pathetischen Geste durchringen kann.

Da hilft es auch nichts, wenn mit Peter Engelhardt, dem ehemaligen Gitarristen von „Birth Control“, ein versierter Instrumentalist die musikalische Leitung innehat. Ich muss das jetzt einfach mal so hart sagen: Die Darbietung von Deep Purples „Child in Time“ war die grottigste Version dieses Klassikers, die ich je gehört habe. Ich habe mich immer noch nicht davon erholt! Und das lag ganz gewiss nicht nur an den paar klar schiefen Tönen. Da besteht immerhin noch eine Rest-Wahrscheinlichkeit, dass diese gewollt waren, da man in dieser Szene das erste Konzert der wiederauferstandenen Schulband verkörperte.

Nach der Pause wagte man sich dann sogar an „We will rock you“, besann sich aber noch kurz vor dem Refrain – so dass eine realistische Chance besteht, dass das Gros des Publikums das gar nicht mitbekommen hat. (Queen zu covern ist nämlich noch nie gut gegangen, noch nicht einmal von den heutigen Queen selbst.) Statt also diesen Stadion-Kracher zu Ende zu covern, leitete man gewagt in AC/DCs „Highway to hell“über. Auch ein Klassiker, aber eigentlich keiner der so ganz schweren. Doch auch da der Gedanke „Kann man so machen, muss man aber nicht“.

Interessanterweise befürchtete ich vorher, dass die Theater-Umsetzung von „So viel Zeit“ am Script scheitern könnte. Da aber hat Stefanie Carp eine an und für sich gute Bühnenfassung geschrieben. Es hätte also funktionieren können. Vielleicht hätte es dem Stück gutgetan, wenn alle Oles Ermahnung zu etwas mehr Demut vor dem Ganzen befolgt hätten.

Das Buch „So viel Zeit “ ist eine Hymne auf die Freundschaft und ein Plädoyer für die Verwirklichung von Träumen, die Bühnenfassung ist allenfalls eine Mahnung daran, dass man dies nicht mit distanzierter Kühle in Angriff nehmen sollte. Es nahm nicht wunder, dass die im Buch so emotional beschriebene Aussöhnung mit der Vergangenheit auf der Bühne kaum bis gar nicht stattfand. Es hat sich einfach keiner dafür interessiert.

Weitere Infos gibt es hier

 




„Häuptling Abendwind und die Kassierer“: Punk trifft Nestroy im Theater

Koch und Sänger: Wolfgang "Wölfi" Wendland. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Koch und Sänger: Wolfgang „Wölfi“ Wendland. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Die „Kassierer“ aus Bochum-Wattenscheid machen Fun-Punk – eine legendäre Band seit inzwischen 30 Jahren. Auf ihren Konzerten grölen sie vom Bier, das alle ist oder von „Sex mit dem Sozialarbeiter“.

Klassiker unter ihren Songs heißen „Stinkmösenpolka“ oder „Ich töte meinen Nachbarn und verprügel‘ seine Leiche“, dargeboten von Sänger „Wölfi“ Wendland gerne auch mal unten ohne, mit freiem Blick aufs baumelnde Gemächt. Weil das als Satire durchgeht, haben die vier größtenteils akademisch gebildeten Musiker bislang keine Probleme mit der Bundesprüfstelle.

Johann Nestroy ist ein österreichischer Dramatiker, der vor 150 Jahren starb. Sein Stück „Häuptling Abendwind“ gehört nicht gerade zu den Spielplan-Klassikern; es handelt von zwei Kannibalen, die sich gegenseitig ihre Frauen aufgefressen haben und versehentlich auch noch den Sohn des einen. Ein ziemlich irres Stück, das je nach Interpretation als Satire auf den Nationalismus oder auf das Gebaren der politisch-diplomatischen Klasse durchgeht – in der Hauptsache aber eher noch auf seine Wiederentdeckung wartet.

Häuptlinge des Punk: Uwe Schmieder (li), Uwe Rohbeck. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Häuptlinge des Punk: Uwe Schmieder (li), Uwe Rohbeck. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Die Idee, die „Kassierer“ und Nestroys „Häuptling Abendwind“ in einer „Punk-Operette“ zusammenzubringen, ergibt sofort Sinn – nicht nur, weil die Werke Nestroys, eines ausgebildeten Sängers und Schauspielers, sowieso halb Schauspiel, halb Operette sind.

Wer allerdings erwartet hat, dass das Schauspiel Dortmund in der Regie von Andreas Beck der Gaga-Show der Kassierer und ihren expliziten Texten etwas Hochkultur entgegensetzt, hat sich getäuscht. Die Kassierer und Nestroy, die Gleichung ergibt in Dortmund keine Inszenierung mit punkigem Touch. Sondern Punk auf allen theatralen Ebenen – da wächst zusammen, was zusammen gehört. Johann Nestroy wirkt in dieser Inszenierung wie ein früher Apologet der Punk-Bewegung. Und was noch nicht passt, das wird passend gemacht.

Wie hat man sich das vorzustellen? Zum Beispiel Atala, die Tochter des Häuptlings Abendwind, die in der Originalfassung eine der Zeit gemäße passive Rolle als Stichwortgeberin und Be-Handelte statt Handelnde hat. Darstellerin Julia Schubert zeigt dieser Rollenzuschreibung den blanken Hintern – nicht nur im übertragenen Sinne. „Ist Ihnen aufgefallen, dass ich bisher nur Reaktionssätze hatte?“, fragt  sie das Publikum und klärt es darüber auf, dass das weibliche Fleisch eine ausgebeutete Ressource sei. „Ich habe ein Recht auf lange Monologe“, verkündet sie, zetert „Nieder mit dem Patriarchat“ – und öffnet im rosafarbenen Prinzessinnen-Glitzer-Kostüm Bierpulle um Bierpulle. Mit den Zähnen.

Zum Beispiel die Häuptlinge. Abendwind (Uwe Rohbeck) und Häuptling Biberhahn (Uwe Schmieder in Bollerbuxe und Adiletten) wollen ihre Reiche vor der Leit- und Hochkultur schützen. Sie spekulieren auf eine „anarchische Revolution“ und feiern das Zusammentreffen mit einem Festmahl, das versehentlich aus Biberhahns Sohn Artuhr (Ekkehard Freye) besteht. Der wurde im fernen Europa bei den „Zivilisierten“ erzogen und sollte eigentlich Abendwinds Tochter Atala heiraten. Nun liegt er geschlachtet im Topf, die Häuptlinge stürzen sich kopfüber in die riesigen Tröge, und natürlich gibt es eine angemessen ekelhafte Fress-Schlacht am Bühnenrand, bei der das Essen (Spaghetti mit Tomatensauce) auch schon mal in den ersten Publikumsreihen landet. Dort landen im weiteren Verlauf des Abends auch noch aufblasbare Gummi-Sex-Puppen und, immerhin, einige Flaschen Bier. Denn Sven Hansens Bühneneinrichtung, das sei nachgeholt, besteht ausschließlich aus leeren Bierkisten, aus denen Thron und Sofa gebaut wurden.

Nieder mit dem Patriarchat: Julia Schubert. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Nieder mit dem Patriarchat: Julia Schubert. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Und die Kassierer? Die vierköpfige Band steht die ganze Zeit über auf der Bühne, liefert den Soundtrack, gibt dem Abend ihren Rhythmus, ihren Humor, ihr Niveau. Sänger Wölfi spielt außerdem den Koch. Er trägt, wie immer, ein viel zu kurzes T-Shirt über viel zu dicker Wampe und hat ansonsten das Aussehen eines freundlichen Grüffelos mit Bluthochdruck. Tatsächlich integrieren sich die Songs mühelos in die Nestroysche Handlung: „Arbeit ist Scheiße“, „Blumenkohl am Pillemann“, „Arsch abwischen“, „Mein schöner Hodensack“.

Letzter Song erklingt zum Höhepunkt des Abends, zumindest für die zahlreichen Kassierer-Fans im Publikum. Die sind es von den Konzerten ihrer Band längst gewöhnt, dass Sänger Wölfi sich irgendwann die Hose auszieht, passend zum Songtext: „Hast du schon mal so nen schönen Hodensack gesehen?“ Diesmal erleben sie eine Überraschung. Als Wölfi in seiner Rolle als Kannibalen-Koch seine blutbespritzte Metzgerschürze hebt, erblickt das johlende Publikum Schamhaar-Extensions, eine hübsche Locken-Frisur für untenrum. Sogar das passt weitgehend zu Nestroy: Tatsächlich hat im Stück der zum Festmahl erkorene Friseur Arthur den Koch mit einer neuen Frisur bestochen, auf dass er ihn verschone und statt seiner das Orakel des Stamms schlachte.

Eine Seh-Empfehlung gibt es für: Fans der Kassierer, Punks, Ex-Punks und Möchtegern-Punks sowie für alle, die nach der Lektüre dieses Textes nicht abgeschreckt, sondern neugierig sind. Wer sich jedoch auf ein selten gespieltes Nestroy-Stück freut oder im Theater gerne mal die Frage nach der künstlerischen Notwendigkeit von Nacktheit stellt – der bleibe lieber zu Hause.

Nach 75 Minuten haben die Zuschauer von „Häuptling Abendwind und die Kassierer“ die Genitalien von fünf der acht Beteiligten gesehen. Und wenn es im Song heißt „Ich möchte mir mit deinem Gesicht den Arsch abwischen“, dann wird das auf der Bühne nicht nur gesungen, sondern dargestellt. Insofern ist der Abend vor allem eines: die Erweiterung des Fun-Punk mit theatralen Mitteln. Oder auch: ein theatralisch dargestelltes Musikvideo mit Nestroy-Motiven.




Yasmina Reza, Piccoli, Binoche, Ute Lemper – Frankreich ist Thema der Ruhrfestspiele

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Michel Piccoli, Jane Birkin und Hervé Pierre (von links) tragen Texte von Serge Gainsbourg vor. (Foto: Ruhrfestspiele/Gilles Vidal)

In diesem Jahr soll es unser westlicher Nachbar sein. „Tête-à-tête – ein dramatisches Rendezvous mit Frankreich“ ist das Programm der Ruhrfestspiele 2015 überschrieben, und natürlich erfolgte die thematische Schwerpunktlegung lange, bevor das Land (und seine Kultur) es zu trauriger Aktualität brachten.

Fast wundert man sich, daß Festival-Chef Frank Hoffmann Frankreichs Kultur erst jetzt so entschlossen ins Rampenlicht des Recklinghäuser Festspielhauses rückt, ist er doch als Luxemburger – mit ganz leichter Andeutung eines französischen Akzents, ähnlich seinem Landsmann Jean-Claude Juncker – der französischen (Bühnen-)Kultur schon traditionell recht nahe.

Nein, man muß man nicht befürchten, daß nun ein Gründeln nach französischer Seele oder Ähnlichem einsetzte, wie überhaupt das in dieser unbedingten Art Grundsätzliche eher wohl eine Spezialität von Frankreichs östlichem Nachbarn, vulgo: uns ist.

Hoffmann greift lieber zum Füllhorn und schüttet französisch Gedichtetes, Gefühltes, Inspiriertes und Gesprochenes über seinem Publikum aus, auf daß Nähe sich auf vielfältige Weise herstelle. Das Konzept ist erprobt und funktionssicher, und ein Theater der radikalen Positionen war Hoffmanns Sache sowieso nie. Allerdings erstaunt bei der Sichtung des wieder einmal höchst umfangreichen Programms ein wenig doch die Beliebigkeit der Auswahl. Aber der Reihe nach.

Ute Lemper for Bauer Verlag/Germany 2013

Ute Lemper hat aus Paulo Coelhos Roman „Die Schriften von Accra“ einen Theaterabend gemacht. (Foto: Ruhrfestspiele/Karen Koehler)

Eugène Labiches Komödie „Moi“ (deutsch: Ich) ist der fulminante Auftakt des Festivals, der Titel wurde, was möglicherweise dem prominenten ersten Platz auf dem Spielplan geschuldet ist, aufgehottet auf „Ich Ich Ich“. Die Inszenierung ist eine Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Münchener Residenztheater, Regie führt der im Revier bekannte und geschätzte Martin Kusej. Auch unter dem Titel „Die Egoisten“ war das 1864 uraufgeführte Stück schon in den Theaterprogrammen zu finden: Erzählt wird die Geschichte des – eben – habgierigen, egoistischen Monsieur Dutrecy, der hemmungslos trickst und intrigiert und am Ende der Geschichte doch als Verlierer dasteht. Er ist eine, wie das Programmheft nahelegt, typische Figur des Second Empire, der postnapoleonischen Restaurationszeit. Möglicherweise, aber das ist eine spekulative Äußerung, ebnet dieses Stück ein ganz klein bißchen den Weg zu einem besseren Mentalitätsverständnis unserer Nachbarn. Vor allem aber wohl ist es was zum Lachen, was ja auch recht wertvoll ist in zutiefst humorlosen Zeiten wie den unseren.

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Yasmina Reza hat ein neues Stück geschrieben. „Bella Figura“ wird seine Uraufführung bei den Ruhrfestspielen erleben. (Foto: Ruhrfestspiele/Pascal Victor/ArtComArt)

Die zweite große Theaterproduktion des Festivals dürfte Yasmina Rezas neues Stück „Bella Figura“ sein. Reza ist die weltweit wohl erfolgreichste Komödienschreiberin unserer Tage, „Kunst“ und „Gott des Gemetzels“ kennt (behaupte ich einfach mal) jeder Theatergänger.

Auch der Plot des jüngsten Reza-Werks ist auf grandiose Weise wieder angesiedelt auf dem Minenfeld des Alltäglichen: Boris führt seine Geliebte Andrea aus und erwähnt eher aus Gedankenlosigkeit, daß seine Ehefrau das Restaurant für dieses Rendezvous ausgewählt habe; in der Hitze der folgenden Diskussion fährt Boris beim Einparken eine ältere Dame um, und sowieso sind die Grenzen zum final Katastrophalen bald schon überschritten. Wir werden unseren Spaß haben, wenn Yasmina Reza uns den nur geringfügigst deformierenden Zerrspiegel vorhält. Thomas Ostermeier führt Regie in einer Koproduktion mit der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, Star des Abends ist fraglos Nina Hoss in der Titelrolle.

Eine weitere Produktion wird groß angekündigt, doch ist sie an zwei Tagen nur dreimal im Programm. Die Bühnenkünstlerin Ute Lemper hat sich das Buch „Die Schriften von Accra“ des Brasilianers Paulo Coelho vorgenommen. Sie habe es, erzählt sie beim Pressetermin, in neun Abteilungen – „9 Geheimnisse“ – aufgeteilt, deren Essenz in Poesie und Musik gefaßt. Schönheit und Harmonie erwarteten nun das Publikum, eine „cinematische Einrichtung“ des Ganzen besorgte Filmregisseur Volker Schlöndorff. Was das Publikum nun genau erwartet, wurde noch nicht recht klar. Zwar fällt es schwer, sich Coelhos komplexe Dichtung in Wohlfühlhäppchen zerlegt vorzustellen, doch wer es genau wissen will, muß eben in die Vorstellung gehen.

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Wolfram Koch in Eugène Ionescos Stück „Die Nashörner“, das Ruhrfestspiele-Hausherr Frank Hoffmann inszeniert. (Foto: Ruhrfestspiele/Bohumil Kosthoryz)

Hausherr Hoffmann inszeniert im Großen Haus Ionescos „Nashörner“, Michael Thalheimer, in Kooperation mit dem Deutschen Theater in Berlin und den Salzburger Festspielen, Schillers „Jungfrau von Orleans“, die bekanntlich in Frankreich wirkte und dort auf einem Scheiterhaufen ihr Leben ließ. Hannelore Elsner liest aus Patrick Süskinds Roman „Das Parfüm“, Isabella Rosselini ist zweimal mit ihrer vergnüglichen, wenn auch nicht mehr ganz neuen Fortpflanzungsshow „Green Porno“ zu Gast. Liebhaber der Texte von Serge Gainsbourg markieren schon jetzt den 31. Mai, wenn Michel Piccoli (85 Jahre ist er mittlerweile alt!), Jane Birkin und Hervé Pierre Texte von ihm lesen. Musik, Tanz, einige Lesungen und, warum auch immer, etliche Termine mit Peter Handkes 1992 in Wien uraufgeführtem, weitgehend textfreiem Stück „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“ runden das Programmgeschehen auf der Hauptbühne ab.

Etliche kleinere Produktionen sowie Uraufführungen sind wieder im Kleinen Haus, im Theater Marl und in der Halle König Ludwig zu finden – so in deutscher Erstaufführung und in Regie von Oliver Reese Joel Pommerats Beziehungsdrama „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“. Corinna Kirchhoff und Peter Schröder spielen die Hauptrollen – und mit Korea hat das Stück eigentlich nichts zu tun.

Hier ein bißchen Jules Verne, da eine in Kooperation mit der Woche des Sports produzierte „Slapstick Sonata“, dort einige Produktionen des Hamburger St. Pauli-Theaters mit seinem umtriebigen Chef Ulrich Waller – einmal mehr ist das 2015er Programm der Ruhrfestspiele der sattsam bekannte Theater-Bauchladen, der für jeden Geschmack etliches bietet, aber auch die Aura des Beliebigen verströmt. Hier verwundert es daher auch nicht, daß Claus Peymann und sein getreuer Dramaturg Hermann Beil mit der Jahrzehnte alten Burgtheater-Produktion Thomas Bernhards „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ zu Gast sind.

Allerdings scheint der Anteil fremdsprachiger Produktionen 2015 höher zu sein, wenngleich es sie in den Vorjahren auch immer gab. Hier boten sich wohl besonders interessante Koproduktionen, etwa mit dem Festival in Avignon, an. In einer mit Barbican London und Les théâtres de la ville, Luxembourg, koproduzierten „Antigone“ ist Juliette Binoche Englisch sprechend zu erleben, Molières „Eingebildeten Kranken“ gibt es, wenngleich mit deutschen Untertiteln, nur auf französisch. Die Boulevardkomödie „Wind in den Pappeln“ von Gérald Sibleyras gar spielt das Vakhtangov-Staatstheater aus Moskau in Russisch. Nun gut, man erinnert sich, daß die Ruhrfestspiele ja ein internationales Festival sein möchten.

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So sieht es aus, wenn Russen französische Komödie spielen:
Vladimir Simonov, Maxim Sukhanov und Vladadimir Vdovichenkov in Gérald Sibleyras‘ „Wind in den Pappeln“. (Foto: Ruhrfestspiele/Vakthangov-Staatstheater Moskau)

Zahlreich sind die literarischen Lesungen im Programm, das freche Fringe-Festival lockt (nicht nur) Kinder und Jugendliche mit internationalem, kurzweiligem und manchmal atemberaubendem Straßentheater. Dominique Horwitz singt Jacques Brel, Burghart Klaußner Charles Trenet („La mer“). Und am Schluß singt Roger Cicero. Auf der so genannten Comedy-Schiene wird alles aufgeboten, was in Deutschland Rang und Namen hat, Hennes Bender und Max Goldt in trauter Nachbarschaft, und Jochen Malmsheimer ist natürlich auch dabei.

Und wer alles noch genauer wissen will, muß ins Internet gehen: www.ruhrfestspiele.de

 

 




Peter Høegs „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ im Bochumer Schauspiel

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Was ist Zeit? Zeit ist zum Beispiel Rhythmus: Ein penetrantes Hämmern, ein ewiger Herzschlag. Wiederholung. Das kann beruhigen – oder in den Wahnsinn treiben. Eher letzteres ist der Fall in Peter Høegs Roman „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ – eine vor 20 Jahren erschienene Außenseiter-Geschichte des dänischen Autors, der zuvor mit „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ einen internationalen Bestseller geschrieben hatte.

Im „Theater Unten“ des Schauspielhauses Bochum feierte nun eine Bühnenversion der Romanvorlage Premiere (Bearbeitung: Christiane Pohle, Miriam Ehlers). Martina van Boxen richtete das Stück für vier Schauspieler und einen Musiker ein.

Nach einer unglücklich zusammengekürzten Hörspielfassung lautete die spannende Frage: Gelingt es, den Stoff zu visualisieren? Denn die Geschichte um drei Jugendliche, die an einer Privatschule in den 1970er Jahren Teil eines reformpädagogisches Experiments werden, ist nur der eine, vordergründige Teil des Romans. Auf einer anderen Ebene erzählt er von Zeit und davon, was sie mit den Menschen macht. Tatsächlich gelingt der Inszenierung, was dem Hörspiel nicht glückt: Zeit hör- und spürbar, sogar sichtbar zu machen.

Das Waisenkind Peter (Damir Avdic) lebt nach einer typischen Heimkarriere in Biehls Privatschule, ebenso wie Katharina (Jessica Maria Garbe). Beide leiden am streng reglementierten Alltag. Aus der totalen Unmündigkeit sehen sie nur einen Ausweg: Sie versuchen, die undurchschaubaren Strukturen und Gesetze der Erwachsenenwelt zu durchblicken, den „geheimen Plan“ zu verstehen.

„Wenn man leistet, was man leisten soll, hebt die Zeit einen empor. Man soll an die Zeit glauben“, vermutet Peter. Man kann Zeit manipulieren, glaubt Katharina. Dann kommt der psychisch kranke August (Matthias Eberle) an die Schule. Warum wurde er aufgenommen? Und wieso haben die Lehrer ihre eigenen Kinder von der Schule genommen? Nach und nach entdecken die drei: August hat seine Eltern getötet und ist an der Schule in Sicherheitsverwahrung. Alle Schüler sind Teil eines integrativen Schulexperiments. „Wir wollten allen Kindern das Licht zeigen“, rechtfertigt sich Schulleiter Biehl am Ende mit humanistischen Idealen. Doch das Dunkel lässt sich nicht so einfach abschaffen.

Erzählt, gedeutet und kommentiert wird die Handlung vom erwachsenen Peter (Michael Habelitz). Damit hat die Inszenierung wie der Roman drei Zeitebenen: Erzähl-Gegenwart, erzählte Gegenwart und erzählte Vergangenheit.

Die Schule – das Schulsystem – ist auf Michael Habelitz’ Bühne eine Landschaft aus miteinander verbundenen Holzgerüsten, die als Klassenzimmer, Bett, Büro dienen – karg, roh, lebensfeindlich. In der Mitte sitzt ein Musiker (Manuel Loos), der der Inszenierung mit Schlagwerk und Elektro-Sounds Takt und Rhythmus gibt. Ständig ertönt ein Gong, rennen die Schauspieler von links nach rechts, repetieren in abgehackten, synchronen Gesten die von Disziplin geprägten Abläufe des Tages: schreiben, lesen, sich melden, Kopf aufstützen, zusammenpacken, weiter geht’s. Die Lehrer, sogar die Schulpsychologin kommunizieren ausschließlich via Megaphon mit den Schülern. Der Stress der Kinder überträgt sich nahtlos aufs Publikum.

Erholsam sind lediglich die kleinen Fluchtpunkte außerhalb der Taktung, wenn sich Peter und Katharina hinausschleichen, um dem Geheimnis der Schule auf die Spur zu kommen. Am Ende, kurz vor der Katastrophe, die die drei für immer auseinanderreißt, kuscheln sie sich aneinander und bilden eine Ersatz-Familie. Ein herzzerreißendes Bild.

Nächste Termine hier

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm).




Mensch-Maschine: Mozarts „Zauberflöte“ an der Rheinoper in Duisburg und Düsseldorf

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Nosferatu kann kaum die wilden Höllenhunde zurückhalten und nicht nur Papagenos Katze sträuben sich dabei die Nackenhaare: Als Hommage an den Stummfilm zeigt die Rheinoper in Düsseldorf und Duisburg Mozarts „Zauberflöte“.

Was auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammenzupassen scheint, geht tatsächlich eine kongeniale Verbindung ein. Die filmischen Animationen ersetzen das Bühnenbild und führen mitten ins Herz von Mozarts fantastischem Märchen rund um Liebe, Weisheit und böse Mächte. Die Arien sind nach wie vor an ihrem Platz, nur der Sprechtext wird nach Art des Stummfilms in kurze Sätze gepackt und flimmert über die Leinwand. Regisseur des Ganzen ist Barrie Kosky, der Intendant der Komischen Oper Berlin, gemeinsam mit Suzanne Andrade und Paul Barritt von der Theatergruppe „1927“, die in ihren Shows mit filmischen Animationen arbeiten und so ein ganz eigenes ästhetisches Erlebnis schaffen.

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Deswegen tritt Sarastros (Thorsten Grümbel) Oberaufseher Monostatos (Florian Simson) im Kostüm des Nosferatu auf, Papageno (Richard Sveda) erinnert an Stummfilmstar Buster Keaton und Pamina (Heidi Elisabeth Meier) trägt pechschwarzen Pagenkopf wie Filmstar Louise Brooks in der 20er Jahren. Die Königin der Nacht (stimmlich sehr überzeugend: Cornelia Götz) ist als übergroße Spinne konzipiert, deren stachelige Beine den Zuschauern Gänsehaut über den Rücken jagen: Hier driftet die Inszenierung ein wenig in Richtung Horror-Comic.

Und doch ist diese Lesart psychologisch überzeugend, denn die Königin der Nacht, in vielen Opernabenden als sternenumglänzte Kitsch-Queen angelegt, verkörpert bei Mozart ebenfalls das Reich des Bösen. Im Gegensatz zu Sarastro, der sich vom unerbittlichen Herrscher zum Hüter von Weisheit, Wahrheit und Gerechtigkeit entwickelt. Mit langen Bärten und hohen Zylindern herrschen er und seine Priester über ein Reich, das dem Film „Metropolis“ entsprungen scheint. Die Animationen, projiziert auf den Bühnenhintergrund, zeigen die ersten Maschinen-Menschen; Zahnräder und Dampfkolben treiben die Spezies der Roboter an. Rund hundert Jahre später durchdringen Computer unsere Welt erst recht – aber nicht mehr schwarz-weiß und mechanisch.

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Und wie funktioniert das mit Mozarts Musik? Im Rhythmus der Klänge aus dem Orchestergraben (große Spielfreude beweisen hier die Duisburger Philharmoniker) tanzen Phantasmen, Tiere und technische Apparaturen über die Leinwand; die Sänger fügen sich ästhetisch stimmig ins Gesamtgeschehen ein. Da es immer etwas zu schauen und zu bestaunen gibt, gerät der Abend äußerst kurzweilig, ohne dass das Primat der Musik aufgegeben wird. Im Gegenteil: Es entsteht ein witziges, anrührendes und auch ein wenig respektloses Gesamtkunstwerk, das einfach Spaß macht.

Wiederaufnahme im Theater Duisburg am 17.12.
Weitere Termine und Karten: www.operamrhein.de




„Cabaret“ in Essen: Das Ende der Spaßgesellschaft

Jan Pröhl (Conférencier) und die Kit-Kat-Boys and -Girls. Foto: Birgit Hupfeld

Jan Pröhl (Conférencier) und die Kit-Kat-Boys and -Girls. Foto: Birgit Hupfeld

Schon nach wenigen Minuten schaut man erstaunt ins Programmheft: Hier steht wirklich das Schauspiel-Ensemble des Grillo-Theaters auf der Bühne? Keine ausgebildeten Musical-Darsteller? In Essen hat Reinhardt Friese „Cabaret“ einstudiert – und damit einen veritablen Hit gelandet. Der temporeiche Abend ist ein Genuss für Auge und Ohr: beste Unterhaltung, schöne Stimmen, gekonnte Choreografien, klug inszeniert.

Berlin in den 1920er Jahren: Am Vorabend des Nationalsozialismus werden die Nächte durchgefeiert. Es ist eine Zeit, für die der Begriff „Dekadenz“ geprägt wurde: Mitten in der Wirtschaftskrise wird gegen den Niedergang einfach angefeiert. Fett tönt die Tuba im Kit-Kat-Club, schmierig klingt dessen beleibter Conférencier (Jan Pröhl), der mit kaum verhohlener Geilheit die Tanz-Nummern seiner „Kit Kat-Girls and Boys“ ansagt. Was dieser Jan Pröhl mit seinem maskenhaft geschminkten Gesicht, dem angeklatschten Seitenscheitel und in seinem schlecht sitzenden Frack da beim Sprechen mit seiner lüsternen Zunge macht – das ist widerlich und großartig zugleich. Zur Live-Musik der achtköpfigen Kit-Kat-Band lässt er seine Cabaret-Puppen tanzen – allesamt Studierende an der Folkwang Hochschule der Künste.

Der Star des Clubs ist Sally Bowles (festes Ensemble-Mitglied Janina Sachau, ein singendes und tanzendes Multitalent). Sie verliebt sich in den erfolglosen amerikanischen Schriftsteller Clifford (Thomas Meczele) und treibt alsbald sein Kind ab. Auch sonst fallen Schatten auf das leichte Leben: Cliffords Zimmer-Wirtin, das spröde Fräulein Schneider (Ingrid Domann) findet ihr Glück mit Obsthändler Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und lässt es wieder los, als ihr klar wird, dass ein jüdischer Gatte das Vermietungsgeschäft gefährdet.

Eine Ananas sagt mehr als rote Rosen: Herr Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und das Fräulein Schneider (Ingrid Domann). Foto: Birgit Hupfeld

Eine Ananas sagt mehr als rote Rosen: Herr Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und das Fräulein Schneider (Ingrid Domann). Foto: Birgit Hupfeld

Regisseur Friese und Bühnenbildner Günter Hellweg verzichten wohltuend auf jegliche ausstatterische Opulenz. Eine Showtreppe aus Glasbausteinen und hunderte Glühlampen am Boden bilden die Bühne, über den Orchestergraben führt ein Steg. Die Spielfläche für das immerhin 15-köpfige Ensemble wird dadurch arg reduziert – trotzdem gelingt es den Darstellern virtuos, die große Show ebenso in Szene zu setzen wie kammerspielartige Szenen.

Wie filmische Überblendungen gehen die Szenen übergangslos ineinander über – Umbauten braucht es nicht, nur ein riesiger Zylinder fährt dann und wann herunter, verdeckt die Showtreppe und wird zur Pension des Fräulein Schneider. Diese fast leere Bühne, dazu die fast komplett in schwarz, weiß und grau gehaltenen Kostüme von Annette Mahlendorf und die Musiker unter Leitung von Hajo Wiesemann lassen das begeisterte Publikum von der ersten Sekunde an atmosphärisch eintauchen.

Janina Sachau als Sally Bowles. Foto: Birgit Hupfeld

Janina Sachau als Sally Bowles. Foto: Birgit Hupfeld

Stephan Brauer ist für die Choreografien verantwortlich. Mit sicherem Blick hat er charakteristische und durchaus anspruchsvolle Elemente aus den Tanz-Nummern aufgegriffen, die vor allem aus dem Musical-Film mit Liza Minelli bekannt wurden, ohne das Ensemble zu überfordern.

Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, bevor kurz vor der Pause das wirkliche Leben in Gestalt von Nazis in die Blase dringt. Am Umgang mit dem Erstarken der Nazis scheiden sich Geister und Paare. „Berlin ist vorbei“, resümiert Clifford und reist zurück nach Amerika. „Wenn die Nazis kommen, was habe ich dann für eine Wahl?“, fragt Fräulein Schneider rhetorisch. „Das ist gar nichts, das ist ein Lausbubenstreich“, sagt der jüdische Obsthändler.

Sally will ihre Karriere jedenfalls nicht opfern und kehrt nach der Abtreibung auf die Bühne zurück. „Life is a cabaret“ singt sie inbrünstig und mit soulig-warmer Stimme, dreht sich dann erstaunt um – alles ist leer, alle sind weg. „Gute Nacht“, sagt der Conférencier, inzwischen ein Mephisto mit Hitler-Bärtchen. Trommelwirbel. Das Ende der Spaßgesellschaft.

Termine: 19., 26., 31. Dezember. Karten: 0201 / 81 22-200




Ringlokschuppen Mülheim: Pleite, Party oder Perspektive für Kunst und Kultur?

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Ringlokschuppen – aus Erfahrung besser. Foto: Gerd Herholz

Die Lokalpresse in Mülheim hatte apodiktisch getitelt: „‘Ringlokschuppen‘ vor dem Aus“. Doch ob das Zentrum im MüGa-Park zum 31. Dezember 2014 tatsächlich seine Arbeit beendet oder ihm – nach personell-finanziellem Umbau – ein Neustart gelingen könnte, scheint zum Glück wieder offen. Und das ist gut so.

Für den Nikolaussamstag lud deshalb Holger Bergmann, als Künstlerischer Leiter zurückgetreten, zum Gespräch ein: „morgen um 19h im ringlokschuppen für alle, die mit uns reden möchten über das was war – was ist und was sein könnte…“

„Dem Volke zum Wohlgefallen“
Nicht ein Parkplatz war abends zu finden – dies aber war nicht regem Interesse an der Ringlok-Zukunft geschuldet. Nebenan am Schloss Broich feierte man die „Schloss Weihnacht“. „In mittelalterlichem Ambiente erleben die Besucher (…) besinnliche Stunden mit Mittelaltermarkt und dem einzigartigen Krippenspiel.“ „Für weiteren Zeitvertreib und ‚dem Volke zum Wohlgefallen‘ sorgen die Gaukler …“

Nicht ganz so besinnlich, sondern besonnen-sachlich ging es beim öffentlichen Gespräch mit Holger Bergmann zu – ihm zur Seite Matthias Frense, Geschäftsführender Dramaturg und wohl bald neuer Leiter des Hauses. Etwa 50 Interessierte waren gekommen, um zu hören, was die beiden (parallel zum Tanzstück „Solidarität“ von Gudrun Lange) zu sagen hatten.

Um den heißen Brei wurde nicht lang herumgeredet – und einiges hatte die WAZ zuvor aktuell berichtet. Ja, trotz kaufmännischer Geschäftsführung und Controlling seien handwerkliche Fehler gemacht worden. Nach Großprojekten wie dem Stadtjubiläum 2008 und der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr.2010 sei der Personalstamm nicht rechtzeitig reduziert worden. Zudem wären Entlassungen auch arbeitsrechtlich nicht ganz einfach zu machen gewesen. Tatsächlich sei es wohl so, dass die Schulden von rund 400.000 Euro (davon allein ca. 130.000 Euro Mietschulden bei der Stadt Mülheim) nicht rechtzeitig in dieser Größenordnung zu sehen gewesen wären. Der kaufmännische Geschäftsführer Peter Krause habe die Verantwortung für diese handwerklichen Fehler übernommen (und einem Auflösungsvertrag zugestimmt – so die WAZ.)

Von Peter Krause selbst konnte man in der WAZ vom 6.12. lesen: „‘Die finanzielle Situation war schon immer prekär‘, erklärte Krause gestern. Häuser wie der Ringlokschuppen, der schon seit Jahren kein soziokulturelles Zentrum, sondern ein Produktionshaus ist, seien chronisch unterfinanziert. Man erhalte zwar eine Förderung der Stadt (netto, abzüglich Miete für die MST 500.000 Euro) und vom Land, das reiche aber nicht, um die Fixkosten zu decken.“

Kulturschirmchen oder im Regen stehen?
Natürlich wunderten sich die Gäste am Nikolausabend über diese Bescherung, und wollten wissen, wann, wie, wo genau diese Schulden sich angehäuft hätten. Da müsse Transparenz her, auch, um ähnliche Fehler in Zukunft zu vermeiden. Viel Verständnis gab es dennoch für die prekäre Lage von Produktionsorten wie dem Ringlokschuppen. Und sicher wäre es nicht die erste Kulturinstitution, deren strukturelles Defizit durch Retter aus Stadt, Region, Land aufgefangen werden könnte, wenn es denn nur politisch gewollt wäre. Wo es für Bankenschirme in Milliardenhöhe reiche, da werde doch ein solches Defizit abzufedern sein, durch zinsgünstige Kredite, Zahlungsaufschübe, Ratenzahlung, Benefiz, Teil-Schuldenerlass und Personalabbau sowieso.

So viel wurde aber auch deutlich: Vor einem Neuanfang steht nicht nur Ursachenforschung, sondern viele Gespräche sind nötig – vielleicht im Rahmen eines Planinsolvenzverfahrens. Besser wäre jedoch, ein solches Verfahren könnte abgewendet werden, weil andere Lösungen gefunden würden.

Kurzschlüsse und „Licht aus“
In Mülheim aber wollen viele die Möglichkeiten eines Neustarts gar nicht erst prüfen. Da wird in Internet-Kommentaren nach dem Staatsanwalt gerufen, da wird die Rückkehr des Ringlokschuppens zur Event-Zone gefordert, wird behauptet, die exzellente Kunst- und Kulturarbeit des Zentrums sei ein Flop gewesen, da sei gekungelt und geprasst worden, Massenkompatibilität müsse jetzt her, überhaupt der ganze Laden solle Partylocation, Studentenwohnheim oder gleich durch einen Investor zu Lofts zerstückelt und verhökert werden. Die üblichen Besserwisser-Sprüche also. Das antikünstlerische und antiintellektuelle Ressentiment lebt sich aus und fühlt sich im Recht.

Perspektiven
Die Frage ist aber, ob die Diskussion um die Zukunft des Ringlokschuppens sich in populistischen Posen bereits erschöpft hat oder Perspektiven noch halbwegs sorgfältig durchdacht werden können. Und da gäbe es einige, wobei die Abwicklung des Hauses wohl die gedankenloseste Alternative wäre. Zwar „sparte“ die Stadt damit zukünftig städtischen Zuschuss, verzichtete aber auch auf Mieteinnahmen durchs Ringlok in sehr respektabler Höhe. Auch die aufgelaufenen Mietaußenstände könnten für den Gläubiger Stadt weitgehend verloren sein. Und nicht zu vergessen, selbst ein geschlossenes Haus verursacht erhebliche Kosten: Instandhaltung, Heizung, Strom, Wachdienst, Versicherungen, Ausbesserung der Schäden durch Leerstand und Vandalismus.

Hinzu käme bei einer Schließung das blamable Eingeständnis, dass in Mülheim als Stadt am Fluss vieles nicht mehr im Fluss ist. Als Theaterstadt verlöre Mülheim an Bedeutung, die renommierten, auch ins Land ausstrahlenden Produktionen des Ringlok fielen aus, das reichhaltige Kulturangebot in den Sparten Musik, Tanz, Kabarett, Literatur , Cross-Over ginge verloren, es gäbe einen Szene- und Jugendtreff weniger in der Stadt, eine zunehmend verödende Mitte.

Verwandlung – aber bitte nicht nur im Ringlokschuppen
Der Ringlokschuppen wird sich hoffentlich neu erfinden. Aber mit welchem Konzept genau? Der Ringlokschuppen ‚nur‘ noch als profilierter Theater-Produktionsort (neben dem Theater an der Ruhr und den Stücke-Tagen)? Warum nicht. Dennoch: Mülheim braucht das Haus auch als Ort gesellschaftlichen Lebens, als Ort geistigen Austausches, als Experimentierfeld für Kunst und Kultur insgesamt.

Es wird Zeit, dass die Kulturpolitiker in Mülheim hier ihrer eigenen Verantwortung gerecht werden und die in Mülheim – wie auch anderswo – längst überfällige kulturpolitische Diskussion über einen Kulturentwicklungsplan in ihrer Stadt zumindest organisierten – wenn sie denn schon nicht in der Lage sind, sie selbst zu führen. Und wer, wenn nicht die Kommunalpolitik, weiß, wie man Schulden macht und gelassen weiterlebt?

Unter dem Druck des Ringlok-Defizites und der Rahmenbedingungen einer überschuldeten Kommune darf Politik nicht die Gelegenheit beim Schopfe fassen, bloß noch abzuwickeln und Zuschüsse zu kürzen. Dies bedeutet den weiteren Niedergang einer Kulturpolitik im Ruhrgebiet, die übers Defizit im Ringlok nur ihre eigenes Politik-Defizit überspielt.

Dass mittlerweile vor und hinter den Kulissen um die Rettung des Ringlokschuppens gekämpft wird, machten Äußerungen Matthias Frenses gegenüber der WAZ deutlich. Man hofft auf „Hilfen des Landes oder einer Stiftung, um das Überleben zu sichern. Die Stadt, so viel steht fest, kann finanziell nicht helfen, zumindest nicht in der geforderten Größenordnung. Das hat die Bezirksregierung auf Anfrage des Kämmerers schon klar gemacht…“

Lehrstück Ringlokschuppen
Der Ringlokschuppen hat mit seine urbanen Eingreifprojekten, mit seinen Interventionen ins und Impulsen fürs städtische Leben Maßstäbe gesetzt. Wie sehr das national und international beeindruckt, kann man in den Solidaritätsbekundungen nachlesen, die der Ringlokschuppen zurzeit erhält. Nun ist er also selbst als urbanes Projekt in den Fokus geraten und aus dem Spiel um die Zukunft der Stadt wird bitterer Ernst. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob der Ringlokschuppen als Kulturzentrum und Produktionsort der Künste verschwindet oder sich eine neue Perspektive erstreitet – und diese absichert. Zeitdruck und Geldmangel dürfen dabei nicht alles bestimmend sein. Am Umgang mit dem Ringlokschuppen in Mülheim selbst, aber auch in der Region, im Land wird sich zeigen, ob man sich längs der Ruhr in Zukunft die Gestaltung von kulturellen und künstlerischen Prozessen immer öfter erspart, oder ob man gemeinsam daran arbeitet, dass aus der einstigen Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr.2010 nicht die kommende Kulturnekropole Ruhr.2020 wird. Eine, die jetzt schon zu viel hat: zu viel Brot und Spiele, Feuerwerk und Stelzenläufer, zu viel Mittelalter und Krippenspiel. Vielleicht werden die Menschen hier bald nur noch ‚bespielt‘ und keiner weiß mehr, wie das geht, selbst spielen, selbst denken.




Das Elend wird seziert – Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ im Dortmunder Schauspiel

Szenen einer Ehe

Szene einer Ehe mit (v.l.) Sebastian Kuschmann, Julia Schubert, Uwe Schmieder und Bettina Lieder. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Es ist so deprimierend. Vermeintlich freie Menschen in einer modernen, selbstbewußten Bürgergesellschaft haben alle Möglichkeiten, ihr Leben zu regeln, und sie schaffen es nicht.

Früher einmal konnte man die Ursachen vieler Probleme in überkommenen Tabus und im verdrucksten Umgang mit der Sexualität finden, lag die Lösung logischerweise in der Überwindung dieser Zwänge. Im schwedischen Mittelstandsmilieu jedoch, das Ingmar Bergman 1973 für einen Fernseh-Sechsteiler portraitierte, ist die Sexualität – oder das Geschwafel über sie – geradezu allgegenwärtig.

Doch der – vermeintlich – freie Umgang mit der Sexualität ist längst schon nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Denn persönliche Freiheit zu haben bedingt ja auch die Fähigkeit, sie sich nehmen zu können. Aber jetzt wird es vielleicht schon zu küchenphilosophisch. Blicken wir lieber zum Dortmunder Schauspielhaus, wo Bergmans „Szenen einer Ehe“ jetzt in einer recht umgangssprachlichen Umsetzung ins Deutsche von Renate Bleibtreu eine Bühnenpremiere erlebten.

Handlungsort ist ein Allerweltswohnzimmer mit eigenen Wänden und seitlichem Flur, eine Bühne auf der Bühne somit, angesiedelt vielleicht in einem Fernsehstudio, das ein Beleuchter ab und zu ausleuchtet (Bühne und Kostüme: Patricia Talacko). Die Mitwirkenden haben keine Rollennamen, was schlüssig ist, da die Rollen im gnadenlosen Partnerschaftsspiel immer wieder wechseln. Zudem zerlegt Regisseurin Claudia Bauer die Reaktionsmuster der Rollen höchst sorgfältig in ihre Bestandteile und ordnet sie verschiedenen Akteuren zu. Die Frau zum Beispiel, die ihr Mann verlassen will, reagiert mit Zorn, mit Klage, mit Flehen, mit dem verzweifelten Versuch, das ganze noch einmal neu auszuhandeln, mit scheinbar cooler Akzeptanz; und mit jedem Stimmungswechsel wechselt auch die Darstellerin. Ähnliches geschieht beispielsweise im Verhältnis von Mann und Frau, die es ebenso wenig miteinander wie ohneeinander aushalten.

Szenen einer Ehe

Ensemble. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Mal werden Paarbeziehungen in starken, tänzerischen Bildern vervielfacht, mal läßt die Inszenierung die Darsteller pantomimengleich agieren, während Sprecher außerhalb der Szene ihnen Stimmen verleihen, mal ist das Klo der Ort der Selbstbekenntnisse, mal haben alle Eselsköpfe aufgesetzt, mal wird, warum auch immer, das Handlungsentscheidende hinter der Kulisse gespielt und von einer Videokamera übertragen, kurz: das analytische Seziermesser ist gut beschäftigt in dieser Inszenierung.

Doch das macht den Zuschauer, wie gesagt, nicht glücklicher. Denn aus dem Bergmanschen Ehekosmos gibt es kein Entrinnen. Die sprichwörtlichen zehn Prozent Humor, die für den erfolgreichen Verlauf einer Psychotherapie unverzichtbar sind, würden auch hier helfen, aber Bergman gönnt sie uns nicht. Und Regisseurin Claudia Bauer, auch in diesem Punkt sehr auf Linie des Meisters aus Schweden, zeigt eine etwas leichtere, entspanntere Weltsicht lediglich in der Detailzeichnung mancher Paarsituationen, beispielsweise im komischen Geschlechtertausch eines der (rechnerisch) vier Paare.

Szenen einer Ehe

Szene einer Ehe mit Carlos Lobo und Merle Wasmuth. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man könnte darüber nachsinnen, ob ein skandinavisch-protestantisches Milieu, das scheinbar nichts tabuisiert, aber alles zur Gewissensentscheidung des Einzelnen macht (und ihn in dieser scheinbar grenzenlosen Freiheit überfordert) zur hier inszenierten Ausweglosigkeit beiträgt. Aber kaputte Ehen gibt es nicht nur im hohen Norden. Nun ja.

Obwohl Erkenntnisgewinn nicht unbedingt das hervorstechende Merkmal dieser Einrichtung ist, besticht sie doch durch einige eindringliche Bilder. Wenn etwa nach der Pause das „Wohnzimmer“ verschwunden ist, die Videokamera dankenswerterweise Pause hat und das Ensemble der „Sprachlosigkeit“ (das Stück hat, wohl in Analogie zum Fernseh-Mehrteiler, Zwischentitel) in einer athletischen Choreographie Ausdruck verleiht, gewinnt sie doch erfreulich an Intensität.

Sehr zu loben sind wiederum Einsatz und Präsenz des Ensembles, das aus Frank Genser, Sebastian Kuschmann, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth besteht.

Herzlicher, anhaltender Applaus.

Die nächsten Termine: 4., 21. Dezember 2014, 9., 25. Januar 2015 (Karten 9 bis 23 Euro – Tel. 0231 / 5027 222). www.theaterdo.de




Thomas Mann kann man auch tanzen – Xin Peng Wangs „Zauberberg“ in Dortmund

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Dmitry Semionov tanzt Hans Castorp (Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund)

Als Dortmunds Ballettchef Xin Peng Wang vor der Spielzeit verkündete, er werde Thomas Manns Roman „Zauberberg“ als Vorlage für eine Produktion verwenden, waren die Reaktionen verhalten. Ausgerechnet Thomas Mann!

Gewiß kommt in Thomas Manns Romanen manches vor, was sich gut bearbeitet wohl auch tanzen ließe; doch angesichts seiner nüchtern norddeutschen, in endlos langen Sätzen Mal um Mal um letzte Genauigkeit in der Beschreibung der Sachverhalte ringenden Sprache wollte die Skepsis einstweilen nicht recht weichen. Wenn Wang wenigstens was Lustiges ausgesucht hätte, „Felix Krull“ zum Beispiel! Aber Lungenklinik, lauernder Tod von früh bis spät, oh je. Auch die sinnfällige Nähe zum mörderischen Ersten Weltkrieg und dem nunmehr 100. Jahrestag seines Beginns konnte Zweifel uns nicht rauben. Das gelang erst der Premiere dieser grandiosen Arbeit. Xin Peng Wangs „Zauberberg“ ist zu einem ganz großen Theaterereignis geworden, wie sie nach wie vor nicht nur in Dortmund selten sind.

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Jelena Ana Stupar (Nelly) und Dann Wilkinson (Joachim Ziemßen)
(Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund)

Will man das Stück in gebotener Nüchternheit beschreiben, muß man das wohl aus mehreren Perspektiven versuchen. Zunächst ist diese Produktion (Konzept und Szenario: Christian Baier) in der Tat – Ballett, ist es Botschaft, die sich im Tanz ausdrückt. Wir erleben (in den Erstbesetzungen) Dmitry Semionov als Titelheld Hans Castorp, Monica Fotescu-Uta als umworbene Madame Clawdia Chauchat, Andrei Morariu als ihren Geliebten Mynher Pieter Peppercorn, Dann Wilkinson als Castorps Cousin Joachim Ziemßen und etliche weitere großartige Künstler. Ihre Tanzfiguren, Gestik und Ausdruck sind dem am ehesten wohl „klassisch“ zu nennenden Spektrum entlehnt, das sich von Formen des Ausdruckstanzes oder des Tanztheaters deutlich unterscheidet.

Zum Zweiten sehen wir ein recht konkretes Rollen-Spiel, nicht also, was ein tanzendes Theater ja auch versuchen könnte, die Auflösung einzelner Handlungsstränge des Romans ausschließlich in getanzte Stimmungen und Gefühle. Würden Tänzerinnen und Tänzer nicht tanzen, sondern sprechen, wären wir nahe am Naturalismus. Und das ist auch gewollt, im Erklärteil des Programmhefts werden die Szenen des ersten und des zweiten Teils dieses Abends sehr konkret auf Elemente der literarischen Vorlage bezogen.

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Giuseppe Ragona (Ludovico Settembrini) vor Röntgenbildern (Foto: Bettina Stöß/Stage Picture/Theater Dortmund)

Zum Dritten jedoch ist dies natürlich sehr wohl ein Tanztheater, nämlich in dem Sinn, daß die performative Kunst des Tanzes mit Bühnenbild (Frank Fellmann), Lichtdesign (Carlo Cerri) und Videodesign (Knut Geng) in eine wunderbare, in manchen Momenten schier atemberaubende Symbiose tritt, die mit hoher Suggestion wundervolle Bilder für Kopf und Herz produziert.

Das weiße Tuch zum Beispiel, das im ersten Teil über die Menschen fällt, das verhüllende Schneelandschaft und Anonymität und kollektives Leichentuch sein kann, fällt gegen Ende der Vorstellung erneut – kunstvoll gesteuert – herab, ist nun jedoch, an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg, das Leichentuch einer ganzen Epoche. Grandios sind die Stühle, die angeordnet entlang der Schräge einer Bergformation vom Schnürboden herabschweben und wohl den Platz symbolisieren, den einer wie Castorp im Leben sucht, hinreißend die Maskierten des Maskenballs mit ihren künstlichen Riesenköpfen, die gleichzeitig auch typische Vertreter einer bürgerlichen Gesellschaft sind, die es in der Lungenklinik nicht gibt.

Und zu alledem: Tod und Tanz und Totentanz. An keinem anderen Ort der Welt prallen Lebensgier und gnadenlose Vergänglichkeit so unvermittelt aufeinander wie in der Klinik auf dem Zauberberg, wo sie auch nicht zaubern können. Die Tragik der Vorlage transportiert dieses Ballett von Xin Peng Wang mit geradezu furchteinflößender Intensität.

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Monica Fotescu-Uta (Madame Chauchat), Dmitry Semionov (Hans Castorp) (Foto: Bettina Stöß/Theater Dortmund)

Wenn man was Kritisches sagen will, dann vielleicht, daß die Produktion ein ganz klein bißchen zäh in Gang kommt, daß beispielsweise die getanzte Tuberkulose vor unerfreulich schwärzlichen, riesengroßen Röntgenbildern gern etwas früher ihr Ende finden könnte. Doch natürlich gehören das rasselnde Ein- und Ausatmen aus dem Off, gehören die Hustenanfälle der reizenden jungen Patientin mit zum Stoff und haben ihren Anteil am Gesamtkunstwerk.

Bleibt, die Musik zu preisen. Sie stammt von dem relativ unbekannten, früh verstorbenen Balten Lepo Sumera (1950 bis 2000), dessen Arbeiten, wenngleich sie nicht mit der traditionellen Harmonik brechen, ein gewisser Minimalismus eigen ist. Kennzeichnend für viele Stücke sind verhaltene Anläufe mit wenigen Tönen, die sich wiederholen und steigern, und ihre Auswahl für diese Produktion muß man einen Glücksfall nennen, tragen sie zur Homogenität des Abend doch ganz erheblich bei.

Den Stab führte in untadeliger Manier Motonori Kobayashi, die Solisten Shinkyung Kim (Solo-Violine) und Tatjana Prushinskaya (Klavier) spielten im Graben ganz vortrefflich zusammen mit den Dortmunder Philharmonikern.

Wen haben wir noch nicht genannt? Unter den Solisten Jelena Ana Stupar (Patientin Nelly),Giuseppe Ragona (Freigeist Ludovico Settembrini) und Arsen Azatyan (Jesuit Naphta), außerdem Ballett und Statisterie und sämtlich Zwei- (Dritt- und Viert-) Besetzungen in den Hauptrollen. Es würde dies jedoch den Rahmen dieser Besprechung sprengen.

Das Publikum applaudierte stehend und begeistert.

Die nächsten Termine: 6., 12., 28. Dezember 2014, 4.1., 7.1., 1.2., 6.2., 12.3., 20.3.2015.

Karten Tel. 0231 / 50 27222. www.theaterdo.de




Statt Steigflug ein Absturz: Wuppertals Opernchef Toshiyuki Kamioka wirft hin

Toshiyuki Kamioka. Foto: Antje Zeis-Loi

Toshiyuki Kamioka. Foto: Antje Zeis-Loi

Schmerzhafte Schlappe für die Wuppertaler Kulturpolitik: Opernintendant und Generalmusikdirektor Toshiyuki Kamioka verlässt die Stadt zum Ende der Spielzeit 2015/16. Der Japaner kehrt in seine Heimat zurück, um dort ein „bedeutendes Sinfonieorchester“ zu übernehmen.

Noch vor einer Woche hatte Kamioka entsprechende Meldungen dementieren lassen. Nach der Sitzung des Wuppertaler Kulturausschusses am 19. November war es offiziell: Sein bis 2019 laufender Vertrag wird aufgelöst.

Mit Kamiokas Rückzug erreicht der Niedergang der Wuppertaler Bühnen eine weitere Stufe. Er begann, wie in manch anderer hochverschuldeter Stadt, mit dem Heruntersparen der Bühnen, bis die skelettierte Substanz nichts mehr hergab. Das viel gerühmte Schauspielhaus ließ man verrotten; es musste schon 2009 teilweise geschlossen werden und ist seit Mitte 2013 ganz dicht. Sanierungseffekte wurden damit nicht erzielt, denn die gestrichenen Ausgaben für die Kultur ändern an den Ursachen der städtischen Misere nichts.

2012 kam die Stadt dann auf die Idee, Oper und Schauspiel „mit personellen und organisatorischen Änderungen dauerhaft (zu) sichern und kostengünstiger“ zu machen. Dafür mussten die beiden Intendanten für Schauspiel und Oper, Christian von Treskow und Johannes Weigand, mit Auslaufen ihrer Verträge zum Ende der Spielzeit 2013/2014 gehen. Ein Rumpf-Schauspielensemble mit der früheren Chefdramaturgin des Wiener Volkstheaters Susanne Abbrederis als Intendantin spielt nun in einer umgebauten Lagerhalle – und muss eine Auslastung von mindestens 75 Prozent erreichen. Was das bedeutet, ist klar: erzwungener Mainstream, gängige Kost. Kein Spielraum für Experimente.

Spielräume waren auch im Musiktheater nicht mehr zu erwarten. Toshiyuki Kamioka und sein alerter Stellvertreter Joachim Arnold stellten bei einer Pressekonferenz im März 2014 einen profillosen Spielplan vor, der über das gängigste Repertoire hinaus nichts zu bieten hatte – am wenigsten die „enorme Bandbreite“, die Oberbürgermeister Peter Jung vorher noch versprochen hatte.

Opernhaus Wuppertal. Foto: Andreas Fischer

Opernhaus Wuppertal. Foto: Andreas Fischer

Vor allem aber kündigte man in Wuppertal – nach einem wochenlangen Spiel von Verschleiern, Dementieren und Schönreden – das Ende des traditionellen Ensemble-Betriebs an: Seit Herbst 2014 spielt die Oper im Stagione-System, Sänger erhalten Stückverträge, das künstlerische Personal hinter der Bühne ist auf ein Minimum geschrumpft. So sehr man sich bemühte, angebliche künstlerische Vorzüge des Verzichts auf ein Ensembletheater zu bemühen – Kamioka ließ bei der Spielplan-Pressekonferenz keinen Zweifel: Ohne die Einschnitte sei die Kürzung des städtischen Finanzierungsbeitrags um zwei auf nur noch 8,4 Millionen Euro nicht aufzufangen.

Für Kamioka bedeutete die neue Struktur die Krönung einer Laufbahn: Seit 2004 Generalmusikdirektor und durchaus geschätzter Dirigent, wurde der Träger des Von der Heydt-Kulturpreises der Stadt Wuppertal zum Opernintendanten berufen. Ein erheblicher Machtzuwachs, der ihm mit dem als lukrativ eingeschätzten Posten auch freie Hand in künstlerischen Belangen gewährt.

Oberbürgermeister Jung verband mit dem Zuschnitt des Wuppertaler Opernbetriebs auf die Person Kamiokas hochfliegende Erwartungen: Der Dirigent sollte den Erfolg seiner Symphoniekonzerte auch auf die Oper übertragen. Von „internationalem“ Niveau war öfter die Rede. Der erträumte Glanz sollte über die Region hinaus ausstrahlen. Geschäftsführer Enno Schaarwächter sprach von einem Ende des „Sinkflugs“. Dass Kamiokas Vorgänger Johannes Weigand dem Wuppertaler Haus mit einem originellen Spielplan und grundsolider Ensemblearbeit gerade überregionale Beachtung verschaffte und dabei war, ein neues, neugieriges Publikum zu gewinnen, hatte Jung offenbar, geblendet von seinen eigenen Visionen, gründlich übersehen.

Sie haben gut lachen: Josef Wagner (Don Giovanni) und Hye-Soo Son (Leporello) in der neuesten Produktion von Mozarts Oper in Wuppertal in Regie und Ausstattung von Thomas Schulte-Michels. Foto:  Uwe Stratmann

Sie haben gut lachen: Josef Wagner (Don Giovanni) und Hye-Soo Son (Leporello) in der neuesten Produktion von Mozarts Oper in Wuppertal in Regie und Ausstattung von Thomas Schulte-Michels. Foto: Uwe Stratmann

Nun tut der Garant der strahlenden Zukunft doch, was er vor einer Woche noch dementieren ließ: Er schmeißt den Bettel hin, verzieht sich nach Japan und überlässt Wuppertal samt der auf ihn zugeschneiderten Konzeption der Oper sich selbst.

Das spricht nicht für Kamioka: Wer ihm wohlwollend gesonnen ist, muss ihm zumindest fehlendes Durchhaltevermögen attestieren. Man könnte sein Verhalten aber auch als rücksichtlos bezeichnen. Von der Verantwortung gegenüber einer gebeutelten Stadt, die sich von ihm eine künstlerisch tragfähige Perspektive erwartet hat, ist wohl kaum zu sprechen. Die Enttäuschung Jungs spricht aus der Meldung, die er verbreiten ließ: „Zu meiner großen Bestürzung und meinem ausdrücklichen Bedauern hat Prof. Kamioka in mehreren Gesprächen erklärt, dass er über das Ende der Spielzeit 2015/2016 seine Arbeit in Wuppertal nicht fortsetzen werde“, heißt es da.

Hoffentlich ist der Wuppertaler Scherbenhaufen eine Warnung für alle Kommunalpolitiker, den bauernfängerischen Sprüchen all jener gründlich zu misstrauen, die ihnen weismachen wollen, man könne mit weniger Geld besseres Theater machen. Und ein Lehrstück für jene, die ständig das bewährte Ensembletheater schlecht reden, weil es angeblich zu teuer und künstlerisch nicht innovativ genug sei. Dazu gehören nicht nur Politiker, sondern leider auch eilfertige Theaterleute und Theaterwissenschaftler.

Für Wuppertal könnte die Situation aber auch die Chance bieten, ihre Oper zurück auf ein solides Fundament zu stellen: mit einem bewährten, erfahrenen Intendanten an der Spitze, mit einem sorgfältig zusammengestellten Ensemble und mit einem Programm, das die Menschen lockt und der Wuppertaler Oper ein unverwechselbares Profil gibt.




Weihnachtsmärchen in Dortmund: Mit Sumsemann zu Darth Vader

Peter und Anna träumen vom Mond... Foto: Birgit Hupfeld

Peter und Anna träumen vom Mond… Foto: Birgit Hupfeld

In Märchen geht es bekanntlich oft ganz schön zur Sache. Gut trifft auf Böse – und bis es zum Happy End kommt, wird vergiftet, aufgefressen, verzaubert und verstoßen. Auch die vor gut 100 Jahren veröffentlichte Kindergeschichte von „Peterchens Mondfahrt“ ist nichts für Angsthasen.

Bis Peter und seine Schwester dem fiesen Mondmann endlich das sechste Bein des Maikäfers Sumsemann abgejagt haben, gibt es einen fürchterlichen Kampf. So ist das auch in „Peters Reise zum Mond“, dem Weihnachtsmärchen des Dortmunder Kinder- und Jugendtheaters (für Kinder ab 6 Jahren), das im großen Schauspielhaus seine Uraufführung erlebte.

Anders als in der Vorlage von Gerdt von Bassewitz wird der Mondmann jedoch nicht mit Waffen besiegt – sondern mit weiblichen Worten. Am Ende erklärt er seine Bösartigkeit mit einer schlimmen Kindheit – und entschuldigt sich bei allen. Eine überraschende Wendung in einer rundum zauberhaften Inszenierung.

Andreas Gruhn, Leiter des Kinder- und Jugendtheaters (KJT), schrieb und inszenierte „Peters Reihe zum Mond“ als frisches Weltraummärchen: Er kreuzte das Originalmärchen mit Motiven aus Star Wars und Star Trek. Es gibt Kämpfe mit farbig leuchtenden Laserschwertern und rumpelige Weltraumflüge mit dem Raumschiff Alpha 51-80, aber auch märchenhafte Kulissenbilder, die Groß und Klein „Ahs“ und „Ohs“ entlocken. Etwa, wenn Peter, seine Schwester Anna und der Sumsemann, von Seilen gehalten, durch den dunklen Bühnenraum schweben, ein funkelnder Sternenhimmel im Hintergrund.

Showdown: Der Mondmann als Darth Vader. Foto: Birgit Hupfeld

Showdown: Der Mondmann als Darth Vader. Foto: Birgit Hupfeld

Die Heldengeschichte um die beiden mutigen Kinder und den bangbüxigen Maikäfer (Andreas Ksienzyk) hat Andreas Gruhn verkürzt: Auf ihrem Weg zum Mond machen Peter (Steffen Happel) und Anna (Désirée von Delft) Halt bei Commander Allister (Rainer Kleinespel). Der hält seine Raumstation mit Kontaktspray in Schuss und kämpft gegen sich ablösende Sonnenkollektoren, als die drei Besucher ihn um interstellare Unterstützung bitten. Zu viert fliegen sie zur Nachtfee auf den Planeten Nocturnus (Bianka Lammert im Prinzessin Leia-Look). Sie ist die Schwester des Mondmanns und soll helfen. „Wir müssen einen Weg zu seinem Herzen finden“, gibt sie die Devise vor, obwohl ihre Berater im Hintergrund auf Krieg drängen.

Fliegen ist gar nicht schwer. Foto: Birgit Hupfeld

Fliegen ist gar nicht schwer. Foto: Birgit Hupfeld

Es kommt zum Showdown auf dem Mond: Der Mondmann (Götz Vogel von Vogelstein im Darth-Vader-Kostüm) steht schon kurz vor dem Sieg, als die mutige Anna ihm unangenehme Wahrheiten ins Gesicht schleudert: Du vergreifst dich ja immer nur an Schwächeren. Du wirst niemals einen Freund haben. Da weint der Mondmann, nimmt seine Maske ab – und gewinnt eben dadurch neue Freunde. Eine Wendung, die aus pädagogischer Sicht besser in die heutige Zeit passt als ein Sieg über den Mondmann – und die dann doch ein wenig unfreiwillig komisch ist.

Spektakulär sind Bühne und Kostüme von Oliver Kostecka: Die Kostüme wegen ihrer futuristischen Opulenz, die Bühne wegen des phantasievollen und geschickten Einsatzes von Videos (Peter Kirschke), Licht und Schatten. Statt auf aufwändige Aufbauten setzt das Bühnenbild auf Schattenspiel, Filme und Projektionen, um die Zuschauer in die unendlichen Weiten des Weltraums zu versetzen.

Zum außerirdischen Gesamterlebnis gehören auch das „Mondfliegerlied“ und andere Songs von Michael Kessler. Nur das gemeinsame Abschlusslied, bei dem die Schauspieler mit Taschenlampen auf der dunklen Bühne tanzen, dürfte ruhig eine Spur fetziger sein.

Bis 24. Februar im Schauspielhaus Dortmund , Termine hier, Karten: 0231/55-27222

(Der Text erschien im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Tödliche Dreiecksbeziehung – „Einsame Menschen“ im Schauspielhaus Bochum

Man könnte sich in einer antiken Richtstätte wähnen. Gegenüber vom Saal ragen auf der Bühne weitere Zuschauerreihen auf, zwischen den Rängen befindet sich somit der Spielraum. In dessen Mittelpunkt wiederum dreht sich langsam eine Plattform mit fünf Stühlen, welche gemächlich von Schauspielern eingenommen werden, während seinerseits das Publikum seine Plätze einnimmt.

Man erkennt: Was immer in den nächsten zwei Stunden auf dieser Bühne geschehen wird, ist gründlichster allseitiger Betrachtung preisgegeben. Gespielt wird im Bochumer Schauspielhaus Gerhart Hauptmanns Stück „Einsame Menschen“ – genauer: das, was Regisseur Roger Vontobel daraus gemacht hat.

„Einsame Menschen“, uraufgeführt 1891 in Berlin, zählt zu den weniger bekannten Stücken Hauptmanns, behandelt aber doch einen durchaus aktuellen Konflikt. Johannes Vockerat, Wissenschaftler und Freigeist, empfindet wachsendes Unwohlsein in seiner engen, kleinbürgerlichen Existenz, in der Mutter und Vater (Katharina Linder und Michael Schütz), vor allem jedoch Gattin Käthe (Jana Schulz) nebst Nachwuchs seinem intellektuellen Streben enge Grenzen setzen.

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Junges Ehepaar, unglücklich: Jana Schulz und Paul Herwig als Johannes und Käthe Vockerat (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Als Anna Mahr, eigentlich eine Bekannte des Hausfreundes Braun (Felix Rech), die Szene betritt, ist Vockerat von ihrer Weltläufigkeit und ihrer Bildung geblendet. Er will sie binden, eine Art Dreiecksbeziehung schaffen mit der Intellektuellen hier und der jungen, schlichten Mutter dort, was erwartungsgemäß nicht funktioniert.

Käthe, eh noch geschwächt von der Niederkunft, kränkelt bald schon besorgniserregend, und die Leute reden. Ein väterliches Machtwort macht dem Unbotmäßigen ein Ende. Vockerat erträgt das nicht und erschießt sich – und Schluss.

Nun gut. Väterliche Machtworte sind etwas aus der Mode gekommen, doch ersetzte man sie durch ein zeitgemäßes Treuegebot für den jungen Familienvater Vockerat, so genügten die Postulate in „Einsame Menschen“ durchaus dem aktuellen Moralkodex. Seiner jungen Frau und dem gemeinsamen Kind untreu werden, das gehört sich auch heutzutage nicht. Trotzdem passiert es natürlich immer wieder, und die nächstliegende Frage für eine Inszenierung wäre doch, warum. Was macht Anna Mahr – nicht zufällig wohl klingt der Name ein wenig nach Nachtmahr – so attraktiv, was vor allem aber geht in Johannes Vockerat vor, der blind für die Kränkung seiner Frau ist und tatsächlich zu glauben scheint, die Nähe zu Anna Mahr werde völlig platonisch bleiben? Wirklich nichts Sexuelles?

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Ensemble am Klavier (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Das Desinteresse, das Roger Vontobels Inszenierung solchen zentralen Fragen entgegenbringt, ist, zurückhaltend ausgedrückt, bemerkenswert. Es bleibt auch unverständlich, warum Vontobel die Gelegenheit nicht nutzt, Anna Mahrs Attraktivität herauszuarbeiten. Therese Dörr muss in ihrer Rolle blass und wenig eindrucksvoll agieren und wirkt deshalb nicht eben wie eine Idealbesetzung.

Hingegen liegt das große Interesse der Inszenierung anscheinend darauf, das fragwürdige Glück in familiärer Enge plakativ zu machen. Dazu müssen Lieder herhalten, kirchliche zumal, doch auch Reinhard Meys etwas angekitschtes „Apfelbäumchen“ gelangt wiederholt zum Vortrag. Und weil vor Spielbeginn Notenblätter an das Publikum verteilt wurden, darf es sogar mitsingen.

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Dreiecksbeziehung, von links: Anna Mahr (Therese Dörr), Johannes Vockerat (Paul Herwig), Käthe Vockerat (Jana Schulz) (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Nötig für das Stückverständnis wäre all das sicherlich nicht, doch verhilft es der Veranstaltung zu Beginn vor allem zu einigen schönen Musiknummern. Der Sänger Tomas Möwes, ein drahtiger Mann im dunklen Anzug, der äußerlich wirkt wie vom Männergesangsverein abgeworben, hat einige großartige Auftritte und entwickelt sich zügig zum heimlichen Star des Abends. Zu preisen ist auch Cellist Matthias Herrmann, wenngleich aufs Ganze gesehen vielleicht etwas viel Musik im Stück ist. Mitunter verschlechterte sie (trotz Microports) das Verständnis des reichhaltigen Textes, der zudem oft etwas lieblos dargeboten wird.

Andererseits nötigt es einem Bewunderung ab, wie das gerade einmal sechsköpfige Ensemble gegen diesen brutalen, inszenatorische Konzentration konsequent verweigernden Bühnenraum erfolgreich anspielt. Vor allem den Darstellern galt daher der anhaltende, freundliche Schlussapplaus.

Termine: 16.11. (17 Uhr), 20.12. (19 Uhr), 28.12. (17 Uhr).
Karten Tel. 0234 / 3333 5555




Glücksoptimierungsrausch: Goethes „Wahlverwandtschaften“ in Düsseldorf

Wie würden Eduard und Charlotte heute leben? Ja, vielleicht hätten sie ein Haus am See, eine Terrasse, belegt mit Bankirai-Dielen und direktem Schwimmeinstieg ins Wasser. Einen offenen, unverbauten Blick zum Beobachten von Booten und Vögeln. Und sehr viel Geld, um die Luxusimmobilie nach den neusten Design-Ideen zu gestalten.

Doch was, wenn die Anlage vollendet und der Sommer noch nicht zu Ende wäre? Dann langweilten sie sich vielleicht in ihrer schönen neuen Welt und hätten das Bedürfnis, sie anderen zu zeigen. Dann lüden sie vielleicht Freunde ein wie den Hauptmann, der gerade einen beruflichen Durchhänger hat, und hülfen ihm dabei, ein wenig zu relaxen und wieder nach vorne zu sehen. Oder die Nichte Ottilie käme zu Besuch, die, sonst ins Internat gesperrt, auf diese Weise einmal familiäre Geborgenheit erleben könnte.

Foto: Tim Reckmann/pixelio.de

Foto: Tim Reckmann/pixelio.de

Oliver Reese hat für das Schauspielhaus Düsseldorf eine Bühnenfassung von Goethes „Wahlverwandtschaften“ erarbeitet und diese bereits in der letzten Saison inszeniert, indem er Bühne (Hansjörg Hartung) und Kostüme (Elina Schnizler) in die heutige Zeit übertragen, den Goetheschen Text aber beibehalten hat. Nun wurde die Inszenierung wieder aufgenommen – zum Glück, denn Bearbeitung und Inszenierung lassen Goethes Sprache leuchten und erzählen zugleich ein packendes Partnertausch-Drama von heute.

Denn leider kommt es, wie es kommen musste: Eduard verfällt der minderjährigen Nichte seiner Frau in einem nahezu wahnhaften Liebesrausch. Großartig, wie der Schauspieler Andreas Patton diesen unernsten Mann in der Midlife-Crisis spielt, der in einer unfassbaren Egozentrik seine Gefühlsregungen absolut setzt, der (Geld)sorgen des Alltags völlig enthoben.

Doch seine Frau Charlotte (Bettina Kerl) ist ebenfalls kein besserer Mensch: Sie wird vom Hauptmann (Rainer Galke) magisch angezogen, der einen dieser Anzugträger verkörpert (vielleicht aus dem politischen Betrieb), die von ihrer Karriere derart vereinnahmt werden, dass sie schlecht damit zurechtkommen, wenn diese einmal stockt. So erscheint dem Hauptmann das Leben seiner Freunde, der sorgenlosen Privatiers, als Paradies und Hausherrin Charlotte als die schönste Frau auf Erden, weil er sich einfach zu lange nach gar keiner mehr umgesehen hat.

Das Mädchen Ottilie (Mareike Beykirch) schließlich, gewohnt, sich als unwichtige Pensionatsschülerin zu fühlen, erlebt plötzlich ihre Macht und Wirkung auf Männer und genießt das neue Spiel, was sie mit Bescheidenheit tarnt. Und so werden diese vier Menschen wie im Goetheschen Gleichnis als chemische Elemente unweigerlich voneinander angezogen, die in neuer Umgebung auch neue Verbindungen eingehen müssen – ob sie wollen oder nicht: Wahlverwandtschaften eben. Oder zwanghafter Glücksoptimierungsrausch?

Mit tragischem Ende: Selbst die 15jährigen Schulmädchen in der Reihe hinter uns, die mit einer gewissen „Fuck you Goethe“-Haltung an die Darbietung herangegangen sind, werden nun unweigerlich vom Geschehen auf der Bühne gepackt: „Ach du Scheiße, jetzt ist die schwanger – hab ich mir doch gleich gedacht“. Ihre Sitznachbarin: „Ja, voll krass, jetzt rastet der Typ bestimmt total aus.“

Und tatsächlich: Baron Eduard, außer sich, dass das Kind, das seine Frau erwartet, die Pläne, die er mit Ottilie hat, durchkreuzen könnte, steigert sich umso mehr in seinen Liebeswahn. Er verlässt sein Schloss, verwahrlost und entrückt versucht er, durch Yoga-Übungen seine Mitte wieder zu finden – die er leider schon vorher nie besessen hat.

In der letzten Szene sitzen die vier dann in Trauerkleidung auf der idyllischen Terrasse und blicken deprimiert auf den See. Das Kind, der kleine Otto, ist ertrunken und niemand hat sein Glück gefunden. Im Gegenteil: Sie haben es selbst zerstört. Vielleicht, weil sie zuviel wollten?

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Ideen zum Theater der Zukunft – Schlaglichter aufs Dortmunder Festival „favoriten 2014“

Es wäre ein Kunst- und Kulturzentrum, wie es Dortmund gut zu Gesicht stehen würde. Würde und wäre. Gab es hier in Dortmund nicht, wird es mutmaßlich nicht geben. Das ehemalige Museum am Ostwall (MAO) steht lange leer, kostet Geld und wird vermutlich doch als Gebäude erhalten bleiben. Die Entscheidung fällt bald. Hier also lud das Festival Theaterfestival „favoriten“ mit einem ansprechenden Ambiente zum Verweilen, zu Betrachtung und Aktion, zu Café und moderner Speise, zu Gespräch und Performance.

Es war ein temporärer Auftritt eines offenen Hauses mit Anspruch – für die Zeit des favoriten-Festivals. Und dieses hat durch seinen Umfang für Verwirrung gesorgt: Das Programmheft als Rätselbuch, durch das man sich durcharbeiten musste. Cirka 40 Programmpunkte an wahrscheinlich 30 Orten innerhalb von acht Tagen hätte man wahrnehmen können. Die Sinne fanden Beschäftigung: Man konnte hören, sehen, tasten und am Ende auch riechen, als sich durch Ben J. Riepes Installationen mit Schafen und Hühnern ein bäuerliches Geruchsfeld im MAO breitmachte.

Installation Ben J. Riepe

Installation Ben J. Riepe

Das Theaterfestival mutierte zu einem Kunstfest, also zu einer Art RuhrTriennale in Wundertütenform. Der Theaterbegriff wurde strapaziert. Das Festival ist also nicht nur neuerdings ein Kunstfest, sondern hat auch seit jeher kulturpolitische Bedeutung. Es hat einen hohen Stand bei der Politik in NRW. Sieht die sogenannte Szene das ebenso und wer ist das eigentlich im Jahr 2014? Auch darüber wurde diskutiert.

Wie sieht das Theater der Zukunft aus? fragte das „Landesbüro Freie Darstellende Künste NRW“ Besucher, die ihre Meinung in einer Box der Videokamera anvertrauen konnten. Eindeutige Visionen gibt es nicht, aber allerhand Ideen, die bereits in den 90ern formuliert wurden. Von „Mehr Theater überall“ und „raus aus den Häusern“ bis hin zu „Man sollte auch Speisen und Getränke kostenlos abgeben“.

Das Bild ist diffus, Sparten zerfließen oder verschmelzen, es gibt Nischen für alles und jeden, Spezialistenprogramme und offene Versuchsanordnungen. Am Sonntag ging „favoriten“ zu Ende, eine unaufgeregte einwöchige Party, die am Ende sperrig und komisch endete mit einem Absacker-Konzert: Achim Kämper, Jan Ehlen, Tina Tonagel & Freunde ließen den Enzian blühen.

Pro

Das Ambiente stimmt, das MAO-Gebäude ist wieder im Gespräch, das Konzept für das Festival „favoriten2014“ ist erkennbar. Es zeigt sich auch, dass ein Festivalzentrum dem der weitläufigen Spielorte vieles voraus hat. Hier sammelt sich die Gemeinde der Festivalbesucher. Man hat Zeit und Raum für Diskussion und beiläufiges Gespräch. Die Räume werden kontinuierlich verändert durch Künstler, die dem klassischen Theaterraum eher fern sind (David Rauer und Joshua Sassmannshausen, Ben J. Riepe). Es gibt Speis und Trank und die Eröffnung war gelungen, VIPS waren dort, haben gesprochen oder zumindest sich Einblicke verschaffen können.

Die Freie Szene hat Ideen und lebt in die Zukunft hinein. Das kann man der Kulturpolitik in Land und Kommune nicht oft genug beweisen. Das Publikum ist überwiegend jung und zeigt, dass auch hier keine großen Sorgen angebracht sind, Freunde und Bewunderer unterschiedlicher Kunstsparten zu verlieren. Es war zum größten Teil ein Nischenprogramm. Gezeigt wurden Versuche, Stücke, Installationen und Hör-Seh-Mischungen, die in den meisten Abendprogrammen der Theater oder anderer Veranstaltungshäuser kaum Platz finden würden.

Aber kein Großraum ohne Nische, kein Zentrum ohne Ränder, die das Große, das Herkömmliche zusammenhalten. Auch die Außenspielorte sind nicht für „das Theater“ vorgesehen oder werden umgedacht. Auf Stadterkundungen lauscht man Stimmen, wo man ein Stück Betrachtung erwartet, erlebt man das Hören, im Theater dominiert der Schatten oder wird junge Kunst zum Fragezeichengeber, im Restaurant-Obergeschoss des „U“ findet der Kolonialismus statt.

Und fast überall findet man außergewöhnliche Musik. Seien es die Klagteppiche aus Gesang, Harmonika und Posaune bei Ben J. Riepes (Tanz)installationen, die Live-Begleitungen von Performances und Tanzvariationen oder die Abschluss-Sause im MAO. Zuschauer, Zuhörer – kurz Publikum, gab es zahlreich. Fast alles war ausverkauft. Gut, es gab keine großen Hallen zu füllen; dennoch ein Erfolg, der sicher auch mit der engen Beziehung zu anliegenden Universitäten zu tun hatte, den die Festivalleitung intensiviert hatte.

Kontra

White Void Ben J. Riepe Foto: Ursula Kaufmann

White Void Ben J. Riepe Foto: Ursula Kaufmann

Jahrzehntelang war es bekannt als das Festival der freien Szene, bei dem das Publikum die besten oder zumindest interessantesten Produktionen der freien Theater Nordrhein-Westfalens erleben durfte. „Theaterzwang“ hieß es bis 2010, danach „Favoriten“, was ja schon einen Humorverlust dokumentiert. Man hat der jeweiligen künstlerischen Leitung freie Hand gelassen, sogar bei der Namensgebung. Man, das sind die Veranstalter des Festivals: das Dortmunder Kulturbüro und der Verband Freie Darstellende Künste des Landes NRW.

Nun wurde ein weiterer Schritt vollzogen, zumindest für die Fassung 2014: Es sollte keine Preisverleihungen mehr geben, kein „best of“ – und auf Eintritt hat man auch verzichtet. Das ist schon ein Schritt zu etwas ganz anderem. Die junge Leitung, Johanna-Yasirra Kluhs und Felizitas Kleine, haben ein junges Programm zusammengestellt, das sich kompatibel für das Festivalzentrum, das ehemalige Museum am Ostwall, zeigte.

Es ist nicht möglich, die gesamte Freie Szene abzubilden. Hier wurde sie selektiv behauptet. Das, was die meisten unter Theater verstehen, fand dort jedoch nicht statt. Gut, es war atmosphärisch eine gelungene Ortsentscheidung, auch kulturpolitisch, denn das Gebäude steht im Fokus und wird mutmaßlich erhalten bleiben, aber Theaterräume hat das MAO nicht oder nur sehr bedingt. Selbst, wenn man den Theaterbegriff bis zur Unkenntlichkeit erweitert, so bleiben doch deutliche Qualitätsmängel bei vielen Produktionen, die 2014 nicht dafür herhalten können, die freie Theaterszene NRWs zu repräsentieren, aber das wollte man wohl gar nicht.

Die Bildende Kunst drängt ins Theater, versucht sich an theatralischen Mitteln wie Sprache, womit sich auch eine Tanzrecherche beschäftigt. Schöne verkehrte Welt. Alles schunkelt digital durch die Grenzbereiche, aber leider ist das weder besonders auf- noch anregend. Vielleicht habe ich aber Überraschungen verpasst. „Das hättest Du sehen müssen“, ruft mir ein Kollege entgegen und meint das Stück der Gruppe Subbotik, „Die Sehnsucht des Menschen, ein Tier zu sein.“ Schöner Titel. Tut mir leid, hab ich nicht geschafft. „Ich wollt, ich wär ein Huhn“, fällt mir da ein.

Man hörte hin und wieder Stimmen, die den freien Eintritt als keine gute Idee empfanden. Das würde die freie Szene wieder in die Ecke des Freizeittheaters rücken und ihr den Wert nehmen. Andererseits lockt der freie Eintritt Zuschauer, die mal reinschauen wollen in die neue Theaterkunst. Sieht man dies als Aufbruch für zukünftige Werke der jungen freien darstellenden Szene, dann hat es seine Wirkung erzielt.

Das Publikum bestand überwiegend aus jungen Leuten, vielen Studenten, jungen Künstlern. Das „normale“ Dortmunder Theaterpublikum war nicht allzu zahlreich zu sehen. Das mag auch daran liegen, dass viele von denen tatsächlich noch Zeitungsleser sind und diese haben während des Festivals nichts über „favoriten“ berichtet. Dass trotzdem fast alles ausverkauft war, liegt also an der guten Vernetzung der Klientel und den vielfältigen elektronischen Kontaktwegen.

Eine Auswahl von Produktionen

Jens Heitjohann: „I PROMISE…- Ein Bürgerlauf über Versprechen, die wir (nie) gegeben haben.“

Wieder mal ein Spaziergang durch das Kreativviertel Rheinische Straße. Kleine Gruppen von Inner-City-Tourists treffen auf das vermeidlich Authentische: ein Gewerkschafter, bei dem man schriftlich einer Empörung Ausdruck geben und dann mit dem Protestschild umherlaufen konnte, sympathische Kinder, die einen mit Beton versiegelten Spielplatz beschreiben und zum Basteln animieren, die Erläuterung einer Umfrage zum Thema Kunst in einer Straße, das gemeinsame Lesen eines Brecht-Textes in einer ehemaligen Schulklasse und Bewegung im ehemaligen Versorgungsamt. So weitläufig das Programm, so dünn der Eindruck.

Yoshie Shibahara: Exuviae – Raum/Klang/Skulptur.

Die in  Stanniolpapier eingewickelten Korpusse haben wir schon beim Festival 2012 gesehen und für manche war der Rundgang entlang der Skulpturen bedrohlich. Liebe Apokalyptiker: Es ist nur Spiel.

MOUVOIR / Stephanie Thiersch: Memory Machine – the (an)archive – Archiv eines Archivs

Die Choreografin Stephanie Thiersch erweitert ihr künstlerisches Werk durch bildnerische Arbeit in Verbindung mit Ton und Text. Ihre „Memory-Maschinen“ sind temporärer Bestandteil des Hauses und bieten gute Gelegenheit, textliche Zwischenmahlzeiten einzunehmen. Es macht Spaß, die Aktenfresser-Reste an Wänden und Böden zu lesen, wo immer wieder Pina Bausch-Werke und -zitate vorkommen. Alles geschreddert und dadurch präsent.

Ben J. Riepe: WHITE VOID #14 / EINS bis SIEBEN – Landschaften in Bewegung.

Ben J. Riepes Installationen und Performances waren die prägenden Elemente des Hauses. Allein die Bestückung der Eingangshalle mit Echtrasen und dem „Lichtraum“ (ein krasser Gegensatz) waren das atmosphärische Entree. Hier legten sich schnell Zuschauer auf die karierten Picknickdeckchen, lasen, hörten oder picknickten eben. Auch einer Ansammlung von Nickerchen konnte man zusehen. Eine Woche lang änderten und variierten Ben J. Riepe und sein Team die Anordnung der Performances. Am ersten Abend durchquerten die Besucher Nebelräume mit tönenden Menschen und streunenden Hunden, man betrat weiße Räume im Ganzkörpernebel, durchwatete kleinräumige Überflutungen, verfolgte eine Gruppe schwarz gekleideter Personen, die ihre Musik- und Bewegungsrituale auf den Rasen pflanzten, um am Ende den Raum mit drei in sich ruhenden Schafen teilen zu können.

SEE!: Ok, Panik – Ein Rausch (am Abgrund) – mit einem musikalischen Kompensationsstrahl.

Wir sitzen in einem Raum, die Stühle stehen verteilt im Feld der Darbietung. Zwei Männer beginnen mit ihren Textkaskaden von PeterLicht, die – so heißt es im Programm – stetig und unablässig in der Stratosphäre aus Krise und Kapitalismus kreisen. Dazu sehen wir Bewegungen, die dem Tanztheater entlehnt, eher an Überbrückungsaktionen denken lassen, von Text zu Text. Die Musik spinnt den Faden. Aufrüttelndes Berühren findet nicht statt. Ein Statement, eine Petitesse.

Eike Dingler & tanz lange: Tracking Dance – Bewegung im Bild

In zahlreichen Nebenschauplätzen gehörten Gespräche, Diskussionen oder Präsentationen zum Programm für Spezialisten. So hatte die Choreografin Gudrun Lange die Möglichkeit, ihr Fotobuch, zusammen mit dem Fotografen und Designer Eike Dingler vorzustellen: Werkstatt der tanzenden Bilder. Zwischen den Geräuschen der Kaffeemaschine und Unfallfahrzeugen von der Straße war der Konzentrationsaufwand groß, aber solche Gelegenheiten gehören zu einem Festival. Nischen müssen besetzt werden.

Unusual Symptoms / Andy Zondag: somewhere – Metamorphosen.

Andy Zondag, Stefan Kirchhoff, Julia Schunevitsch und Justus Ritter bespielen und betanzen einen Raum, der sich auch hier mit Nebel füllt. Untermauernde Musik begleiten die zwei Tänzer auf ihrem Weg der Tanzverweigerung. Am Ende zittern die Körper, die kunstvoll geschmiedete Musik trägt den Rhythmus und am Ende sehen wir eine überflutete Landschaft in Bangladesch – entstanden aus zusammengefegtem Konfetti.

subbotnik: Die weiße Insel – ein Erzählabend mit Musik.

Die Herren von „Subbotnik“ klappen nach einem musikalischen Intro, unterstützt durch „eine klavierspielende Mutter“ ihre Manuskripte auf und lesenspielen – unordentlich weiß geschminkt – eine Expedition zum Nordpol (1896). Studentisches Theater in nostalgischer Formgebung.

Copy & waste – Enyd Blython

Hinter einem Gazevorhang: Ein Darsteller nimmt Mahlzeiten ein und….?. Davor im Grünen: ein Picknickkorb und weitere Requisiten. Man vernimmt eine Hörversion aus Enid Blytons Romanwelt.

bodytalk "Frauenbewegung" Foto: Klaus Dilger

bodytalk „Frauenbewegung“ Foto: Klaus Dilger

bodytalk: Frauen~Bewegung – Emanzipatives Tanztheater mit Livemusik.

Bodytalk mit einem Flashback-Cocktail: Am Ende ein wenig Rocky Horror Picture Show, ist „Frauenbewegung“ alles in allem eine rücksichtslose, wilde Tanztheaterperformance, es gibt Remake-Flash-backs ans Ende der 90er, Trash, Tanz, Drama, Revue. Hosen runter, Brüste raus! mit gut gelungen Cover-Versionen von Donna Summers „I feel love“, „I don’t want to fall in love“ (Chris Isaac) und Grace-Jones-Adaptionen von „Walking in the rain“ und „Nightclubbin“.  Die bemerkenswerten Tänzer und Darsteller fetzen und powern – unterbrochen von biografischen Schnipseln und einer Pausenirritation, in der die Männerhausidee propagiert wurde. Ein Abend mit viel Action und einer vortrefflichen Vorlage zur Diskussion für und wider. In der Mitte findet sich kein ruhiger Ort.

Naoko Tanaka: Absolute Helligkeit – Installation – Performance.

Es ist dunkel im Studio des Schauspielhauses. Eine grazile Japanerin erscheint, entledigt sich ihrer Turnschuhe und betritt ihre Installation aus einem umgekehrten Stuhl, einigen Gebilden und Objekten. Sie nimmt einen langen Lichtstab und leuchtet in die Objekte, um sie herum und auf und ab. Wir sehen Schatten an den weißen Wänden. Es ist ausverkauft. Schattenspiele. Objektkunst live. Die Menschen applaudieren kräftig. Ich gehe eine Rauchen und frage mich, ob ich noch in diese Welt passe. Vielleicht sollte ich doch noch einen Banküberfall konzipieren, aber selbst da gibt’s ja kein Geld mehr, sondern nur noch Kulisse.

kainkollektiv & OTHNI Laboratoire de Théâtre Yaoundé: Fin de machine / Exit.Hamlet – Eine deutsch–kamerunische Grenzüberschreibung.

Vorschlaghammer Foto: S. Hoppe

Vorschlaghammer Foto: S. Hoppe

Ich sehe im Dortmunder U (View) eine Theatersituation, die ich dort nicht für möglich gehalten habe. Geht doch. Ich sehe eine ambitionierte Kooperation von kainkollektiv mit Bühnenpersonal aus Kamerun. Ich höre Französisch und deutsche Übersetzungen. Ich lese Übertitel. Ich sehe, wie der Tonmann an seinen Geräten geradezu ausflippt, wenn seine live produzierten Elektrotöne durch den Raum hüpfen, eine eigene Performance. Ich sehe Aufklärungstheater, Geschichtsunterricht und zeitgenössisches Theaterspiel in afrikanisch-europäischem Mix. Ich sehe und höre Kolonialismus-in-Kamerun und spüre, dass ich mich unwohl fühle.

vorschlag:hammer: Mori no kokyu. Das Atmen des Waldes – Ein Japan–Abend ins Offene

Geht man ins Dortmunder Schauspielhaus, wundert man sich über gar nichts mehr, denn unübliche Formen und Raumgestaltungen sind dort an der Tagesordnung. Die Gruppe vorschlag:hammer schafft eine „Insel der Kunst, der Vergemeinschaftung und des Lebens an sich“. Man erlebt ein sehr kurioses Stück Theater. Seltsame Gestalten in verschiedensten Verkleidungen, alles irgendwie japanisch, alles irgendwie nah einer Katastrophe, rätselhaft und doch nicht fern von uns. Nach einem Karaoke-Vorspiel, wird das Publikum auf die Hinterbühne gebeten. Auf künstlichem Stroh sitzen wir, bekommen Brot vom Buttermeister und Tee, der erst abkühlen musste. Man darf Tropfen fangen und ansonsten den eigenartigen Gestalten zusehen wie sie fast nichts machen, was zielführend sein könnte. Leider fallen die Sprachpassagen deutlich ab. Die Kraft der Bilder dominiert.

 




TV-Nostalgie (29): Das Ohnsorg-Theater – gut geölte Lachlust aus dem Norden

Ihre Komik war oft ziemlich hausbacken, doch sie waren keineswegs Dilettanten: Über Jahrzehnte hinweg unterhielt das Ohnsorg-Theater nicht nur Touristen im Hamburger Kiez, sondern auch Millionen Fernsehzuschauer.

Die Vorläuferbühne hatte Richard Ohnsorg bereits 1902 in Hamburg gegründet. An wechselnden Spielstätten gab man fortan niederdeutsche Stücke. Die meisten Schwänke wurden eigens „op Platt“ geschrieben, andere wurden aus dem Hochdeutschen oder anderen Sprachen übersetzt.

Dialekt ist kein Tüddelkram

Und siehe da: Weil das Niederdeutsche etwa mit dem Englischen so eng verwandt ist, zeigten die Übertragungen ungeahnte Qualitäten der Anverwandlung; ganz abgesehen davon, dass die Mundart ohnehin ihren speziellen Humor mit sich bringt. Dialekt ist eben kein Tüddelkram.

Heidi Kabel und Henry Vahl in "Tratsch im Treppenhaus" (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=wYW4Area2kg)

Heidi Kabel und Henry Vahl in „Tratsch im Treppenhaus“ (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=wYW4Area2kg)

Ab 1954 zeigte das ARD-Fernsehen Aufführungen aus dem Ohnsorg-Theater, wobei die norddeutsche Einfärbung dem Hochdeutschen behutsam angepasst wurde (sogenanntes „Missingsch“), damit auch Landsleute aus dem Westen und dem Süden mithalten konnten.

Mit Heidi Kabel und Henry Vahl

Legendär wurden vor allem die Sendungen in den 60er und 70er Jahren, als z. B. die überaus populären Schauspieler Heidi Kabel und Henry Vahl (meist als „komischer Opa“) zum Ensemble gehörten. Sie sind unvergessen: Seit Sommer 2011 residiert die Ohnsorg-Bühne im „Bieberhaus“ am Heidi-Kabel-Platz 1 in Hamburg. Einen Henry-Vahl-Park gibt es ebenfalls in der Stadt.

Gewiss: Die unter Live-Bedingungen im Theater aufgezeichneten Stücke erinnern manches Mal an derben Schenkelklopferhumor oder an unbedarftes Boulevardtheater – oft saubermännisch und doppelmoralisch garniert mit neckisch-frivolen Anspielungen. Doch da gab es auch durchaus feinsinnige und anrührende Töne. Und die Schauspieler verstanden ihr überwiegend komisches Fach. Die Komödien-Maschinerie war sozusagen bestens geölt. Andernfalls hätte man nicht diesen überwältigenden Erfolg gehabt.

Klassiker „Tratsch im Treppenhaus“

Gern gebe ich zu, dass ich jetzt beim Wiedersehen mit dem Ohnsorg-Klassiker „Tratsch im Treppenhaus“ an etlichen Stellen schallend gelacht habe. Das gesamte Stück spielt tatsächlich nur im Treppenhaus einer sehr einfachen Mietskaserne. Welch ein munteres Türenschlagen, welch ein aberwitziger Streit zwischen den Mietparteien! Und wie Heidi Kabel die ewige Lästerzunge Frau Boldt verkörpert, das hat schon sehr ordentliches Format.

Gipfeltreffen von 1968

Zeitgeschichtlich interessant: Die 1962 erstmals gesendete Produktion spielt noch vor dem Hintergrund äußerst schlichter Wohnverhältnisse in der Nachkriegsrepublik. Die komplette Fassung, die im Internet noch greifbar ist, stammt vom Silvesterabend 1966. Wer an einem solch herausgehobenen Tag die beste Sendezeit bestreiten durfte, zählte wahrlich zu den Quotenkönigen des Fernsehens.

1968 kam es übrigens zum Gipfeltreffen der damals beliebtesten Volksschauspieler: In „Die Kartenlegerin“ schaukelten sich Heidi Kabel und Willy Millowitsch gegenseitig hoch. Es war zum Schreien!

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Vorherige Beiträge zur Reihe:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), „Der goldene Schuß“ mit Lou van Burg (28)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Gescheiterter Kraftkerl – „Tod eines Handlungsreisenden“ überzeugt in Dortmund

Tod eines Handlungsreisenden

Andreas Beck in der Titelrolle (rechts) und Uwe Rohbeck (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Tod eines Handlungsreisen“ – das klingt so schön abgehoben, so zeitlos; und der Reisende ist in Religion oder Literatur ja sowieso oft mit quasi mythologischer Aufladung unterwegs, ins Totenreich oder ins Paradies, seiner alten Liebe hinterher oder wohin auch immer. Und möglicherweise ist gar der Weg schon sein Ziel. Auch Arthur Miller wird Gedanken wie diese gehabt haben, als er seinen dramatischen Welterfolg so abgehoben betitelte.

Seit das Stück wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in New York uraufgeführt wurde, mußte es in der Folgezeit, da fraglos auch ein Spiegelbild aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse, wieder und wieder die Vorlage für wohlfeile Reflexionen und Ausdeutungen amerikanisch-kapitalistischer Verhältnisse abgeben. Nicht nur Pennäler wissen davon ihr Klagelied zu singen. Und es stellt sich die Frage, ob man dieses ausgequetschte, fast zu Tode interpretierte Stück heute überhaupt noch guten Gewissens auf die Theaterbühne stellen kann. Sagen wir’s ruhig vorneweg: Doch, man kann, wie jetzt im Dortmunder Schauspiel zu sehen ist.

Vertreter Willy Loman, wir erinnern uns, ist mit seinen 63 Jahren ausgebrannt und erfolglos. Die Söhne Biff und Happy sind, wenngleich anscheinend begabt, nichts Ordentliches geworden, der Lebensabend im abgestotterten Häuschen ist unsicher. Größenphantasien, die Handelsvertetern offenbar in besonderem Maße eigen sind, weichen zunehmend der bedrückenden Erkenntnis des eigenen Versagens im Job und als Vater. Letztlich sieht Loman keinen anderen Ausweg mehr als den lebensversicherten Suizid.

Tod eines Handlungsreisenden

Familienaufstellung (von links): Linda Loman (Carolin Wirth), Willy Loman (Andreas Beck) und Biff Loman (Peer Oscar Musinowski). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Viele Inszenierungen haben den Handelsvertreter als kleines, schwaches Männchen besetzt, dem die Last der Welt rein körperlich schon zu viel ist – Dustin Hoffman beispielsweise in Schlöndorffs Kinoinszenierung, ältere Fernsehzuschauer werden sich an Heinz Rühmann in dieser „Paraderolle“ erinnern.

In der Dortmunder Inszenierung von Liesbeth Coltof hingegen ist Andreas Beck der abgehalfterte Handelsvertreter, ein großer, schwerer Mann, ein Bühnenberserker, einer, der kämpft. Einer, der der Welt jederzeit zeigen könnte, wo der Hammer hängt, unfähig, unwillig zur Selbstkritik. Viele Jahre ging es gut so, hat der Mann seine persönlichen Defizite mit Professionalität und Power weggedrängt, hat seinen Söhnen gesagt, was gut für sie ist.

Natürlich hat er es gut gemeint mit ihnen, besonders mit Biff (Peer Oscar Musinowski). Nur geholfen hat das dem Jungen nicht, weder ist er ein erfolgreicher Fußballer geworden, noch hat er die entscheidende Mathe-Prüfung gepackt. Auch mit Mitte 30 hängt er noch zu Hause ab, findet keinen Job, der ihn interessiert, liegt dem Vater auf der Tasche.

Und wie Andreas Beck in dieser Dortmunder Inszenierung nun pendelt, switcht, oszilliert zwischen illusionsloser Wahrnehmung der grauen Wirklichkeit und grandiosen Phantasien, wie ein Häufchen Elend sich in kurzer Zeit zum Kraftkerl wandelt und gleich darauf in furchterregende Dissoziation treibt, wie er voll Liebe und Opferbereitschaft für seine Familie ist, ohne doch selber die Liebe annehmen zu können, die vor allem seine Frau Lina (Carolin Wirth) ihm schenken möchte – das ist grandios herausgespielt.

Tod eines Handlungsreisenden

Willy und Linda (Andreas Beck und Carolin Wirth) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Regisseurin Coltof rückt die Beziehung zwischen Vater und Biff in den Vordergrund, macht sie gleichsam exemplarisch und demonstriert an ihr die kommunikativen, empathischen Defizite von Titelfigur und Familie. Dies weist als Interpretation doch erheblich über die schnell geäußerte „Kapitalismuskritik“ des Stoffs hinaus und reizt zu weiterer Befassung. So könnte man beispielsweise fragen, ob den Lomans therapeutische Hilfe guttäte, um in den Verhältnissen, wie sie eben sind, zu überleben.

Was ja nicht heißen muß, das die Verhältnisse gut wären. Guus van Geffen (Bühne) hat alles mit zum Teil verpackten Haushaltsgeräten vollgestellt, Kühlschränke, Waschmaschinen, Handelsware des Handlungsreisen, wie man vermuten könnte. Fraglos ist dies eins der ungemütlichsten Bühnenbilder seit langem. „Weiße Ware“ (so nennt die Branche Küchengeräte gern) ist wirklich Trost-los – besonders dann, wenn sie zum (Erwerbs-) Lebensinhalt geworden ist.

Den übergewichtigen Handlungsreisenden Willy Loman hat Carly Everaert (Kostüme) in einen etwas engen grauen Straßenanzug gesteckt, ansonsten bewegt man sich auf der Bühne vorwiegend in gewöhnlicher Alltagskleidung. Sebastian Graf gibt den etwas undurchsichtigen zweiten Sohn Happy, ist zudem noch Ekel-Chef Howard und Onkel Ben aus der Nachbarschaft. Auch der immer so fragil wirkende Uwe Rohbeck gibt den (älteren) Onkel Ben, ist Charley und Stanley. Die Inszenierung kommt mit fünf trefflich besetzten Darstellern aus.

Vor dem „Tod eines Handlungsreisenden“ inszenierte Liesbeth Coltof in Dortmund erfolgreich schon Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ und „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad, und jedes Mal war in ihrer Arbeit viel Respekt für Autoren und Stücke erkennbar, ohne deshalb in den Ruch der Altbackenheit zu kommen. Man kann Theater auch anders spielen, als sie es tut. Viele Regisseure reklamieren mehr gestalterischen Raum für sich selbst, und entscheidend ist, was hinten rauskommt. Auch in Dortmund. Doch wird gerade hier das Nebeneinander unterschiedlicher Auffassungen gepflegt, was die Arbeit des Schauspielhauses in seiner Gänze besonders interessant macht.

Für den „Handlungsreisenden“ gab es herzlichen Applaus.

Die nächsten Termine: 8., 23. November, 3., 19., 26., 28. Dezember

Infos: www.theaterdo.de

 




Freies Theaterfestival „Favoriten 2014“ in Dortmund – Chaos, Krise, Kreativität

Black Box auf echtem Rasen, von innen gleißend weiß. Foto: Katrin Pinetzki

Black Box auf echtem Rasen, von innen gleißend weiß. Foto: Katrin Pinetzki

Es riecht erdig im ehemaligen Museum am Ostwall: Die große, lichte Eingangshalle ist mit Rasen ausgelegt. Picknickdecken liegen bereit. In der Mitte: ein schwarzer, begehbarer Kubus. Wer neugierig die Tür öffnet, stößt einen überraschten Schrei aus: Innen blendet gleißend weißes Licht, auch Wände, Boden, Decken: weiß. Ein Stuhl in der Mitte lädt ein, der extremen Sinneserfahrung nachzuspüren – und das umgebende Nichts mit Bedeutung zu füllen.

Im 29. Jahr seines Bestehens bricht das Festival „Favoriten“ gleich mit mehreren Traditionen. Das freie Theaterfestival, eines der wichtigsten in NRW, ist unter der jungen künstlerischen Leitung von Felizitas Kleine und Johanna-Yasirra Kluhs erstmals kein Wettbewerb. Die Künstler konkurrieren nicht, sondern wohnen, arbeiten, feiern zusammen und sorgen für Begegnungen mit den Besuchern – in der ganzen Stadt, vor allem aber im ehemaligen Museum am Ostwall, das nach dem Umzug des Kunstmuseums ins Dortmunder U derzeit (noch) leer steht. Eine Zukunft des Gebäudes als Baukunstarchiv NRW ist dank des bürgerschaftlichen Engagements inzwischen so gut wie sicher.

Dieses ehemalige Museum also ist Festivalzentrum, und dort wird in diesem Jahr weniger Theater gespielt als vielmehr mit theatralen Mitteln darüber reflektiert. Das ganze Gebäude mutiert zur Performance-Bühne und zum Erfahrungsfeld, es ist eine Woche lang (bis 1. November) kaum wiederzuerkennen. Schon vor der Eingangstür die erste Installation, ein Tunnel mit Sitzgelegenheiten aus Sperrholz, ein DJ legt auf und lädt Besucher wie Passanten ein, eine Weile zu bleiben. „Titel: In Arbeit. Ein Festivalumbau“ heißt diese Arbeit von David Rauer und Joshua Sassmannshausen. Weitere Werke der beiden finden sich im Haus – sie sind Recyclingkünstler und haben mit jeder Menge Witz kleine und große Skulpturen eingeschleust, materielle wie immaterielle. Ziel eigentlich aller Festivalkünstler ist es, mit Besuchern ins Gespräch zu kommen, sei es durch eine Partie Backgammon, eine kleine Massage, Maniküre oder eine waghalsige Kletterpartie auf einem raumfüllenden Sperrholzsteg.

Einige Dortmunder wurden im Vorfeld des Festivals über ihr Verhältnis zu Theater interviewt, die Antworten laufen als Endlosschleife in der Galerie im Erdgeschoss. „Woran denken Sie bei modernem oder freiem Theater?“, wird da eine junge Frau gefragt, die sich als „klassisch angehaucht“ bezeichnet. „Chaos!“, antwortet sie prompt.

Tatsächlich: Bei einem Rundgang durchs Haus geraten Besucher leicht in Verwirrung. Wer ist hier Besucher, wer Künstler? Welcher Raum ist wem zuzuordnen? Bei dieser 16. Auflage des Festivals ist das eigentlich egal, einzelne Arbeiten ordnen sich dem Gesamt-Eindruck unter. Das kreative Chaos entsteht durch den höchst produktiven Mix der Kunstformen. Traditionelle Theater-Erfahrungen werden unterlaufen – etwa von der Düsseldorfer Ben J. Riepe Kompanie, die an jedem Tag des Festivals vier Räume neu und anders bespielt. Zur Eröffnung am Samstag waberten Kunstnebel und Obertöne durch die weißen Räume; die Darsteller standen, hockten, lagen oder gingen, einzelne Töne singend, umher. Während sich die Klänge vereinten und mal traumhaft-melancholische, mal schrille Mehrstimmigkeit produzierten, stromerte ein Dutzend gut erzogener Hunde neugierig schnuppernd zwischen Besuchern und Performern umher – eine Einladung, Augen und Ohren zu öffnen und den Kopf ganz frei zu machen von Erwartungen.

Raum-Klang-Skulptur "Exuviae" von Yoshi Shibahara. Foto: Katrin Pinetzki

Raum-Klang-Skulptur „Exuviae“ von Yoshi Shibahara.
Foto: Katrin Pinetzki

Auch die einzige Produktion mit festen Beginn und festem Ende hatte keinen definierten Bühnen- und Zuschauerraum. Die Kölner Choreografinnen „SEE!“ setzten in „Ok, Panik“ einen wie gewohnt kapitalismuskritischen Text des Musikers und Autors PeterLicht in Szene. Während ein Musiker versuchte, den Klang des kapitalistischen Grundrauschens festzuhalten (brummend, bassig, rhythmisch, penetrant präsent), tanzten zwei Darsteller durchs Publikum, zunächst wie von unsichtbaren Fäden gezogen, später zunehmend selbstbewusst mit der Erkenntnis: Auch die Krise ist ein Produkt! Sie ist käuflich!

Die neue Generation der Festivalleitung hat zumindest am Eröffnungsabend ein neues, junges Festivalpublikum angezogen. Krise? Kaum.

Bis 1. November in Dortmund, Infos und Programm hier




Frage des Alters: Michael Gruner inszeniert „Die Gerechten“ von Camus in Düsseldorf

Eigentlich seltsam, dass eine Gruppe von Schauspielern im Rentenalter auf der Stadttheaterbühne so ungewöhnlich wirkt. Schließlich ist im Publikum diese Altersgruppe ebenfalls überdurchschnittlich vertreten – mal abgesehen von den Studenten, die auch viel Zeit haben, ins Theater zu gehen. Wer meistens fehlt, sind die 35-50jährigen: Karriere und Kinder vertragen sich mit Kunst am Abend organisatorisch weniger gut.

Sicher gibt’s im Klassiker den alten König Lear oder die gestandene Mutter Courage, die auch schon alles gesehen hat. Aber Camus „Gerechte“ als revolutionäre Alt-68er? Diesen Ansatz bringt Regisseur Michael Gruner (selbst Jahrgang 1944) nun in der neusten Inszenierung des Düsseldorfer Schauspielhauses auf die Bühne, das zurzeit vom Interimsintendanten Günther Beelitz (75) geleitet wird. „Wir kennen uns seit den sechziger Jahren“, benennt Beelitz die alte Seilschaft ganz munter bei der Premierenfeier. Ruhrgebietsbewohnern sind beide aus Gruners Zeit als Schauspieldirektor am Theater Dortmund (1999-2010) bekannt, wo auch Beelitz inszenierte.

Kurioserweise trifft Gruner mit seinem Ansatz mitten ins Herz der aktuellen Demographie-Diskussion – von der alternden Gesellschaft bis zur Rente mit 63. Lässt man mal beiseite, dass sich für das Thema von Camus „Die Gerechten“ – Terrorismus und Tyrannenmord – vielfältige Aktualisierungsmöglichkeiten anbieten würden, man denke nur an den IS-Terror und dergleichen, verfolgt Gruner seine Idee pur und konsequent. Tatsächlich liegt der Gedanke im Text verborgen: „Das Traurigste ist, dass all das uns alt macht, Janek“, sagt Revolutionärin Dora, „Wir werden nie mehr, nie mehr Kinder sein. Von nun an können wir sterben, wir haben das Menschsein durchlaufen. Der Mord ist die Grenze.“

Camus Stück von 1949 bezieht sich auf eine wahre Begebenheit: 1905 planen russische Revolutionäre einen Mordanschlag auf den Großfürsten Sergei Romanow auf seinem Weg ins Theater. Doch der Attentäter zögert, denn es sind Kinder in der Kutsche. Bei Gruner sitzen die fünf Revolutionäre in einer Art Probensituation im leeren, schwarz abgehängten Bühnenraum auf einfachen Stühlen (Ausstattung: Michael Sieberock-Serafimowitsch). Sie besprechen die Revolution eher, als dass sie sie rocken. Manchmal werfen sie sich auf den Boden, was aufgrund geschwundener Gelenkigkeit zuweilen etwas unbeholfen wirkt. Einzig Dora (Marianne Hoika) zeigt Gefühl, wenn sie den Galgentod des geliebten Janek romantisiert und mit ihm sterben will.

Unweigerlich überlegt man, wie Andreas Baader, Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin heute aussehen würden, wenn sie noch lebten. Minirock, Knarre und Sonnenbrille: Wirkt das mit über 70 noch hipp? Obwohl Hippness in diesen Zusammenhang wohl eine historisch verfälschende Kategorie ist, wahrscheinlich beeinflusst von Eichingers Film-Adaption „Der Baader Meinhof Komplex“.

Tempo nimmt die Inszenierung auf, als Attentäter Janek (Michael Abendroth) in Gewahrsam des (jungen) Polizeichefs Skuratow (Dirk Ossig) gerät. Smart und geschäftsmäßig macht der dem „revolutionären Träumer“ ein reelles Angebot. Doch Janek verrät weder seine Ideale noch verpfeift er die Terrorzelle. Skuratow kann gar nicht verstehen, weshalb so ein abstrakter Begriff wie „Gerechtigkeit“ jemandem so wichtig sein kann: Gruners ironischer Blick auf das Verhältnis von 68er Eltern zu ihren Kindern, die sie als total „unpolitisch“ und „materialistisch“ empfinden. Dann folgt ein gewollt melodramatischer Auftritt von Louisa Stroux (der Enkelin des Düsseldorfer Intendanten von 1955-1972, Karl-Heinz Stroux) als Großfürstin im Witwenkleid aus schwarzer Spitze, die die ganze Weltrevolution am liebsten wegbeten möchte.

Insgesamt ein selbstironischer Abend nach dem Motto: Wenns die Jungen nicht mehr packen, müssen eben die Alten (Meister) wieder ran – als Intendanten und beim Inszenieren.

Karten und Termine:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de