Kliffhänger mit einem Schuss Sakralkitsch: Ruhrtriennale zeigt die Performance „Falaise“

Weiß auf Schwarz: Mit „Falaise“ (Klippe) hat das Kollektiv Baro d’evel ein Gegenstück zu seiner Produktion „Là“ geschaffen. (Foto: François Passerini/Ruhrtriennale)

Sie sind immer kurz vor dem Absturz. Krallen sich mit den Fingerkuppen fest, an Vorsprüngen in der senkrechten Wand. Kraxeln weiter, zwängen sich durch Löcher, die sie zuvor mit den Füßen durch Wände gestoßen haben. Denn auf dieser Bühne sind die Kulissen aus Gips. Was nach Felsen aussieht, bröckelt, bröselt, gerät als Geröll ins Rutschen. Wo ist da noch Halt? „Falaise“ (Klippe), eine Performance des französisch-katalanischen Kollektivs Baro d’evel, zeigt eine Welt kurz vor dem Kollaps – und acht Menschen, die sich durchhangeln.

Die Ruhrtriennale, die das Stück in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks als Deutsche Erstaufführung zeigt, hat damit eine Produktion eingekauft, die sich in keine Schublade stecken lässt. Was Camille Decourtye, Blaï Mateu Trias und ihr Ensemble geschaffen haben, passt zu den genreübergreifenden „Kreationen“, die seit Gründungsintendant Gerard Mortier ein Markenzeichen des Festivals sind.

Wer aufsteigt, kann auch fallen: Szene aus der Produktion „Falaise“ (Foto: Caroline Seidel/Ruhrtriennale)

In „Falaise“ trifft das moderne Tanztheater auf den Zirkus, denn ein Pferd und ein Taubenschwarm spielen ebenfalls mit. Ein paar Szenen liebäugeln mit der Barockoper. Das achtköpfige Ensemble singt und tanzt, zeigt Slapstick-Komik und eine Artistik, bei der die Gefahr von Knochenbrüchen durchaus einkalkuliert scheint. Waghalsig stürzt es sich von meterhohen Bühnenwänden herab, hangelt an Gerüsten, schlägt Salti, bildet ein Knäuel aus Leibern, das sich krakengleich über den Boden bewegt.

Eine Handlung gibt es nicht: In einem dystopischen Raum zeigt die teils improvisierte Performance Variationen von Aufstieg und Fall, Chaos und Anmut, Zerfall und Erneuerung. Was gesprochen wird, oft in hektischer Suada und hoher Fistel, ist – wie bei einer Clownsnummer – nicht so wichtig. Baro d’evel lädt Szenen mit Bedeutung auf, bis sie zur Metapher werden.

Zuweilen ist das plakativ. Wie erstarrt wirken beispielsweise ein Mann und eine Frau in Gipskleidung, die nach und nach von ihren Körpern abplatzt, je mehr sie sich für Bewegung entscheiden. Danach stehen sie – Achtung, Symbolik! – in einem Scherbenhaufen. Die schwarzen Wände bemalen die Ensemblemitglieder nach und nach mit Zeichen in weißer Farbe. Immer wieder lassen sie sich aus erheblicher Höhe fallen, als wollten sie Verse von Hölderlin nachspielen: „Es schwinden, es fallen die leidenden Menschen, wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab“, schrieb der Dichter in „Hyperions Schicksalslied“.

Die Interaktion zwischen Mensch und Tier fasziniert in der Performance „Falaise“ (Foto: Caroline Seidel/Ruhrtriennale)

Für poetische Bilder sorgen das weiße Pferd und die weißen Tauben. Sie bilden den Lichtblick auf der düsteren Bühne, den Gegenpol zum menschlichen Aktionismus. Wenn dazu noch Barockmusik eingespielt wird, ist die Grenze zum Sakralkitsch erreicht. Das muss dem Kollektiv wohl selbst aufgefallen sein, denn es versucht, solche Momente ironisch zu brechen. Wenn einer der Performer eine Barockarie eher jault und kräht als singt, ist es mit der Pseudoreligiosität natürlich schnell vorbei.

Kichern und Glucksen ist im Publikum nicht nur an dieser Stelle zu vernehmen. In „Falaise“ trifft der Weltuntergang auf Buster-Keaton-Komik und anarchische Fröhlichkeit. Zugleich weiß natürlich jeder im Saal, was die Stunde geschlagen hat. „Hier sind überall Löcher!“, ruft eine der Tänzerinnen gegen Ende. Bevor das Pferd alleine auf der Bühne zurückbleibt und der Vorhang fällt, fragt eine andere: „Und was machen wir morgen?“

(Karten und Informationen: https://www.ruhrtriennale.de/de/programm/falaise/187)




Kreisende Lichtgewitter: Die Uraufführung von „Oracle“ bei der Ruhrtriennale erweist sich als prozessverliebtes Spektakel

Oben und unten, damals und heute: Szenenfoto aus der Uraufführung von „Oracle“ bei der Ruhrtriennale (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Vielleicht ist es eine Folge omnipräsenten Konsums: Bei einer aufwendigen, bombastischen Verpackung stört es viele Menschen nicht mehr, wenn der Inhalt nicht einmal die Hälfte des Volumens füllt. Als solch vorgebliche Wundertüte entpuppt sich die Uraufführung der Multimediashow „Oracle“ bei der Ruhrtriennale, mit der Regisseur Łukasz Twarkowski seine Wissenschafts-Trilogie fortsetzt.

In der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord berauscht sich das Publikum an einem gut vierstündigen Spektakel mit Lichtgewittern, Livekameras und dröhnenden Beats, das sich um Fragen der Künstlichen Intelligenz dreht. Das ist im Wortsinn zu verstehen, denn die Bühne – und mit ihr die Produktion – kreist stundenlang um sich selbst. Die Gemeinschaftsarbeit mit dem Dailes Theatre (Riga) wird auf Lettisch gezeigt, mit deutschen und englischen Untertiteln. Interessant wird sie aber erst im Abspann. Der liefert in mehreren Textblöcken nach, welche Personen am Spiel um den britischen Mathematiker Alan Turing mitgewirkt haben – und warum.

Im britischen Zentrum für Kryptoanalyse im Zweiten Weltkrieg spielt der erste Teil von „Oracle“. Der Darsteller von Alan Turing lehnt an der Wand: Wie er heißt, verrät leider weder der Programmzettel noch die Website der Triennale. (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Von Leben und Werk des genial begabten Turing, Urvater der Algorithmen und Pionier der Computerentwicklung, wird nur eine Episode näher beleuchtet: die Erfindung der sogenannten „Bombe“, ein elektromechanisches Gerät, das den als unknackbaren geltenden Enigma-Code der Nazis entschlüsseln konnte und so den Zweiten Weltkrieg um einige Jahre verkürzt hat. Den Weg zu diesem Durchbruch zeigt Twarkowski in fragmentierter Form, aufgeteilt auf Videowände (für die Bilder der Live-Kameras) und auf Innenräume in verschiebbaren Würfeln, die teils transparent, teils durch Jalousien geschützt sind. Bletchley Park, das britische Zentrum für Kryptoanalyse im Zweiten Weltkrieg, erinnert im Bühnendesign von Fabien Lédé an ein Hauptquartier aus amerikanischen TV-Krimiserien.

Die Verschachtelung der Ebenen und Erzählstränge, das Nebeneinander der Zeitfenster ist gewollt. Es gibt Risse und Sprünge, zum Beispiel vom Großbritannien der Kriegsjahre zu einer fiktiven Fernsehshow im Jahr 2023, in der ein gewisser Blake darauf beharrt, dass die Künstliche Intelligenz ein Bewusstsein hat, statt es nur zu simulieren. Dass es sich dabei um Blake Lemoine handelt, einen Google-Ingenieur, verrät erst der Abspann.

Der Darsteller von Alan Turing und die Hedy Lamarr verkörpernde Schauspielerin (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Auch andere Figuren bleiben lange rätselhaft. Die Frau mit dem Sternenkranz auf den Schultern ist der Hollywood-Star Hedy Lamarr, die einst als „schönste Frau der Welt“ galt, zugleich aber mit dem Komponisten George Antheil das Frequenzsprungverfahren entwickelte, das Torpedos steuern half und zur Grundlage von Technologien wie Bluetooth, WLAN und GPS wurde. Aber wer genau sind Helen, Thommy, Joan? Ist mit Werner vielleicht Werner Heisenberg gemeint? Spielt Ada auf die englische Mathematikerin Ada Lovelace an, Tochter des Dichter Lord Byron? Soll der Chinese, der gelegentlich auftaucht, die technische Bedrohung aus dem Reich der Mitte symbolisieren? Fragen über Fragen. Nicht einmal der Programmzettel macht sich die Mühe, die Rollen aufzuführen, die das Ensemble verkörpert.

Den Text für „Oracle“ hat Anka Herbut während der Proben geschrieben, als Reaktion auf die Darstellenden. Vieles ist aus Improvisationen entstanden. Das fehlende Skript merkt man der Produktion deutlich an. Zu erleben ist eine ebenso ambitionierte wie misslungene Stückentwicklung: ausufernd, mit oft banalen Dialogen, die sich vor der Folie der Kriegsereignisse bedeutungsschwer geben.

Wo es um Muster („Patterns“) geht, um die Struktur von Zahlenfolgen, liegt das Spiel mit Wiederholungsschleifen („Loops“) natürlich nahe. In dieser Uraufführung wirken sie jedoch nicht sinnfällig, sondern redundant. Anderes ist dafür bis zur Unverständlichkeit elliptisch: Wer nicht weiß, dass Turing vermutlich Selbstmord beging, indem er in einen vergifteten Apfel biss, wird kaum begreifen, warum Schneewittchen durch die Szene geistert (deren Gesicht Walt Disney nach dem Vorbild von Hedy Lamarr schuf).

Fehlfarbener Wahn: Dem vierstündigen Stück hätte eine Kürzung um die Hälfte nicht geschadet. (Foto: Katrin Ribbe/Ruhrtriennale)

Das Schauspielensemble macht seine Sache großartig, ist aber nicht zu beneiden. Denn nach der Pause trudelt die Produktion vollends ins Haltlose. Weil Alan Turing homosexuell war und der frühe Tod seines Jugendfreunds Christopher Morcom ihn anregte, sich intensiv mit Fragen des Bewusstseins und mit der Möglichkeit „denkender“ Maschinen zu beschäftigen, inszeniert Twarkowski eine Séance. Die Kameraleute filmen, wie sich die Darstellerriege um einen Tisch versammelt und Ada zum Medium auserkoren wird. Der Rest gleicht einem exorzistischen Exzess. Gebrüll, zuckende Lichter, wummernde Musik, verzerrte und fehlfarbene Figuren auf Videoleinwänden. Wer sich das zumuten möchte, sollte besser nicht herzkrank sein.

Desillusioniert blickt die Darstellerin der Hedy Lamarr am Ende in den Spiegel. Sie wolle lieber für ihre Erfindungen in Erinnerung bleiben, sagt sie, als für ihr schönes Gesicht, für den oberflächlichen Reiz eines Glamour-Girls. Nach diesem Abend möchte man ihr zurufen: „Vielleicht sollten Sie sich das abschminken, Mylady.“

(Karten und Informationen: https://www.ruhrtriennale.de/de/programm/oracle/176)




Theatertiere, tragikomisch: Das Berliner Ensemble gastiert mit „Warten auf Godot“ bei den Ruhrfestspielen

Sie können nicht mit und nicht ohne einander: Estragon (Matthias Brandt, mit Brille) und Wladimir (Paul Herwig). (Foto: Jörg Brüggemann)

Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs waren noch allgegenwärtig, als der Ire Samuel Beckett 1948 das Schauspiel „Warten auf Godot“ schrieb: jenes Endzeitstück um zwei tragikomische Landstreicher, die an einem undefinierten Ort zu unbestimmter Zeit auf einen Herrn warten, den sie gar nicht richtig kennen. Godot aber bleibt fern, seine Existenz bloße Behauptung, ein mythenumwobenes Hörensagen. Er könnte auch der Messias sein oder der Herrscher aus Franz Kafkas Roman „Das Schloss“. Oder ein Sinnbild für die immerwährende Hoffnung auf ein besseres Morgen.

Die Ruhrfestspiele Recklinghausen zeigen diesen Klassiker des absurden Theaters jetzt in einer Version, die der belgische Regisseur Luk Perceval mit dem Berliner Ensemble (BE) erarbeitet hat. Die exzellente Darstellerriege aus der Hauptstadt wird um den prominenten Namen eines festen Gastes ergänzt: Matthias Brandt, jüngster Sohn des Alt-Bundeskanzlers, spielt Estragon, den grantig-depressiven Weggefährten von Wladimir, den Paul Herwig mit hoffnungstoller Virtuosität verkörpert.

Die Bühne ist angemessen leer und düster. Statt unter einem Baum zu warten, tappen die beiden Clochards hilflos in einem Wald aus Scheinwerfern umher. Auf dieser Bühne (Katrin Brack) wird keine Natur mehr angedeutet, sondern von vorneherein Theater gespielt. Die Souffleuse, für alle sichtbar auf der Seitenbühne platziert, spricht Regieanweisungen ein. Wladimir und Estragon schauen sie dann so irritiert an, als widerstrebte es ihnen zu gehorchen. Dabei haben sie längst kein eigenes Leben mehr. Sie sind im Vakuum des Wartens erstarrt, in der Ausweglosigkeit des Nicht-anders-Könnens, zur Zweisamkeit verdammt.

Wie Yin und Yang: Der aktive, ums Überleben bemühte Wladimir (Paul Herwig r.) und der depressive, todessehnsüchtige Estragon (Matthias Brandt, l. Foto: Jan Brüggemann)

Groß wird dieser Theaterabend nicht durch die berühmten Namen, sondern weil Luk Perceval und das Ensemble Becketts Dystopie zu einem schillernden Ozean von Bedeutungen weiten. Unter der Oberfläche lakonischer Sätze tut sich ungeahntes Leben auf. Tiefer und tiefer führt diese Reise in die Widersprüche menschlicher Existenz. Todtrauriges vermischt sich mit Groteskem. Wladimir und Estragon, der Lebensmutige und der Todessehnsüchtige, verhalten sich wie ein altes Ehepaar, das laut über eine Trennung nachdenkt, den Worten aber nie Taten folgen lässt. Mit ihren Erinnerungslücken und dem ständigen An- und Ausziehen von Kleidungsstücken könnten sie aber auch leicht demente Insassen eines Altersheims sein.

Matthias Brandt (Estragon) zeichnet mit rauer Stimme einen Zyniker, der vom Leben gleichermaßen gequält wirkt wie von seinen ständig schmerzenden Füßen. Von ihm geht eine dauerdepressive Stimmung aus, die immer wieder in Wut umschlägt. Dann beschimpft er Wladimir, lässt aber selbst in seinem Gebrüll noch Nuancen der Anhänglichkeit mitschwingen.

Noch differenzierter spielt der großartige Paul Herwig (Wladimir). Als optimistischerer Gegenpart setzt er Brandts Urgewalt eine vibrierende Nervosität entgegen, die viele feine Nuancen kennt. Beständig mit dem Kopf zitternd, tapst und wankt und tänzelt er über die Bühne, als suchte er nach einem Ausweg aus der Sinnleere. Es grenzt an ein Wunder, dass er sich bei seinen umständlichen An- und Ausziehmanövern nicht den Hals bricht.

Als der Herrenmensch Pozzo auftaucht, Lucky wie ein Tier am Strick führend und immer wieder auspeitschend, ist es Wladimir, der sich über diese Unmenschlichkeit empört. Oliver Kraushaar spielt Pozzo so aasig aufgeräumt, dass sich leichte Übelkeit regt. Da gibt sich Brutalität den Anstrich von Rechtschaffenheit: Es ist zum Fürchten, wie bekannt einem das vorkommt.

Der Herrenmensch Pozzo (Oliver Kraushaar, 2. v.l.) und der von ihm geknechtete Lucky (Jannik Mühlenweg, 3. v.l. Foto: Jörg Brüggemann)

Jannik Mühlenweg wird als Lucky zu einer beängstigend animalischen Kreatur, die mit einem blinden weißen Auge in die Welt starrt. Einmal von der Leine gelassen, pflügt er während seines langen Monologs wie ein Berserker durch die Sitzreihen. Es gibt Szenenapplaus für diese brachiale Suada, mit der er das Haus vom Parkett bis zu den Rängen aufmischt.

Das Geschehen wird von Live-Musik von Philipp Haagen untermalt, der auf der Tuba und dem präparierten Klavier fremdartige Klänge durch den Raum schickt. Luk Perceval stellt die Brillanz des Ensembles vollkommen in den Dienst der Sache. Der Hintersinn von Becketts Dialogen wirkt so prägnant, dass mancher Satz sich wie ein Pfeil ins Gedächtnis bohrt. Vermutlich wird jeder sich an anderer Stelle getroffen fühlen von dieser großen Etüde der Vergeblichkeit, dieser zeitlos gültigen Studie über Macht und Ohnmacht. „Es ist eine Schande, aber es ist so“, sagt Pozzo. Und Estragon erwidert: „Man kann es nicht ändern.“

(Informationen und Karten: www.ruhrfestspiele.de)




Duell der Giganten: Gil Mehmert inszeniert am Broadway ein Stück über Bernstein und Karajan

Gil Mehmert, der an der Folkwang Hochschule Essen lehrt, setzt Bernstein und Karajan am Broadway in Szene. Foto: Felix Rabas

Gil Mehmert goes Broadway: Der Regisseur, der seit 2003 im Fachbereich Musical an der Folkwang Hochschule in Essen lehrt und in den Theatern im Revier kein Unbekannter ist, hat sich in New York mit einem Stück über zwei Dirigier-Giganten des 20. Jahrhunderts vorgestellt.

Leonard Bernstein und Herbert von Karajan, jedem Musikfreund ein Begriff, trafen sich zum letzten Mal 1988 im legendären Hotel Sacher in Wien. Die beiden Rivalen um Marktmacht und musikalische Meinungen verbrachten eine Nacht in der „Blauen Bar“, mit einem einzigen Zeugen, dem Kellner. Der bemerkt dreißig Jahre später, wie der amerikanische Schriftsteller, Filmemacher und Komponist Peter Danish Bernsteins Gesammelte Briefe liest, erzählt ihm von dieser Begegnung – und der fantasiebegabte Autor füllt die dürre Information mit Leben und imaginiert die Inhalte des nächtlichen Gesprächs. Peter Danish kennt die Welt der klassischen Musik gut; sein Debütroman „The Tenor“, 2014 erschienen, erzählt auf der Basis der frühen Biografie von Maria Callas die Geschichte eines jungen Opernsängers, dem der Zweite Weltkrieg die Karriere ruiniert.

Begegnung im Hotel Sacher: Leonard Bernstein (Helen Schneider) und Herbert von Karajan (Lucca Züchner); in der Mitte der Kellner als einziger Zeuge des Abends (Victor Petersen). Die Bühne schuf Chris Barreca, die Kostüme René Neumann. (Foto: Maria Barnova)

Mit „Last Call“, so der Titel des neuen, im März in New York uraufgeführten Stücks, wagt die junge Kölner Produktionsfirma apiro Entertainment den Sprung an den Broadway und hat mit Gil Mehmert einen erfahrenen Regisseur mitgenommen. Er hat u. a. „Cabaret“ an der Volksoper Wien und Michael Kunzes & Sylvester Levays „Elisabeth“ in Wien inszeniert. Seit er 2011 „Ganz oder gar nicht“ von David Yazbek und 2016 Webbers „Sunset Boulevard“ am Theater Dortmund auf die Bühne gebracht hat, ist er immer wieder als Regisseur auch in der Region hervorgetreten, so zuletzt mit Sondheims „Sweeney Todd“ in Dortmund und John Kanders „Chicago“ an der Oper Bonn.

„Last Call“ kreist 90 Minuten lang um Tiefsinn und Tratsch: Danish verwebt mit der leichten Hand des geübten „well made play“-Autors spritzige Pointen mit komplexen Themen. Es geht um die Art der Lebensführung – der ernsthafte Karajan versus den lockeren Lebemann Bernstein –, um die jüdischen Proteste gegen den Auftritt des im Dritten Reich regimenahen Österreichers mit mazedonischen Wurzeln 1955 in der Carnegie Hall, um Karajans Vergangenheit im Nazi-Reich und um Bernsteins unkonventionellen Zugang zur Musik, um Homosexualität und Lebensgenuss, um originäre und nachschöpferische Kreativität, aber auch um Selbstzweifel und Lebensbilanzen.

Und so spitzen die beiden Kontrahenten ihre Wortspiele zu und rüsten sich zum Duell der Taktstöcke. Das Publikum in einem der fünf „New World Stages“-Theater, einem Off-Broadway-Kulturkomplex, geht lebhaft mit: Viele Zuschauer sind zu jung, um die beiden Musik-Giganten noch persönlich erlebt zu haben. Wann und warum gelacht wird, lässt durchaus einen Generationen-Unterschied erkennen, aber das Florett der Worte touchiert auch die Jüngeren treffsicher. Man ist offenbar gut informiert. Und lässt sich auch von einer Debatte über den passenden Zugang zu Bruckner und Mahler mitreißen.

Helen Schneider als Bernstein. (Foto: Maria Barnova)

Weil es Gil Mehmert, wie er in einem Interview sagt, mehr auf die Seelen, Herzen und Gedanken als auf die äußere Erscheinung der beiden Protagonisten ankommt, hat er sie mit zwei Frauen besetzt: Helen Schneider, die brillante Musical-Darstellerin und Weill-Interpretin, gibt der Figur Bernstein die weltläufige Nonchalance, den souveränen Humor, eine heitere Gelassenheit, aber auch eine spitze Angriffslust und den beweglichen Intellekt. Ihre Mimik, wenn sie über Karajans Sottisen die Augen rollt oder seine künstlerischen Belehrungsergüsse mit einer beiläufigen Geste beiseite wischt, zieht Lacher und Sympathie auf ihre Seite.

Lucca Züchner als Karajan. (Foto: Maria Barnova)

Die Münchner Schauspielerin und Musicalsängerin Lucca Züchner schafft es als Karajan, dem Charmebolzen stand zu halten. Wie sie den alten, vom Schmerz gezeichneten Dirigenten mit den typisch nach hinten frisierten grauen Haaren durch die Szene wanken lässt, hat große Klasse. Bei ihr blitzt Karajans Energie auf, die sich aus dem Willen zu unbedingter Professionalität, künstlerischer Qualität, musikalischer Vollkommenheit speist. Sie verkörpert in manchmal schnarrender Härte, was der „echte“ Karajan in einem Spiegel-Interview 1979 gesagt hat: „Ich gehe auf keine Party. Was ich liebe, ist das Gespräch mit einem oder zwei Menschen, bei dem ernsthaft diskutiert wird. Mich interessieren eigentlich nur Leute, von denen ich was lernen kann. … Party-Geschwätz passt nicht in mein Dasein. Ich habe Besseres zu tun.“

Was für ein Gegensatz zu Bernstein, dem der Gesellschafts-Glamour und die „unterhaltende“ Musik wichtig war – was ihm Lucca Züchner mit vorschnellendem Zeigefinger auch vorwirft. Deutscher Ernst gegen amerikanische Lässigkeit: Solche Szenen belichten die Gegensätze in aggressiver Pointe, um sie Sekunden später witzig und leichtfüßig zu entschärfen, aber nicht zu verharmlosen. Schauspieler-Theater vom Feinsten, zu dem auch Victor Petersen als Kellner seinen Beitrag leistet.

Wenn Peter Danishs Dirigenten-Gefecht etwas vermissen lässt, dann ist es ein Spannungsbogen, der auf einen finalen Coup zuläuft. Sicher beeindruckt, wenn die alten Herren auf der Toilette alleine reflektieren und dabei die Zweifel und Wahrheiten ihrer Existenz streifen. Das Ende allerdings strebt nach Friede, Freude, Sachertorte; der „last call“ gibt sich versöhnlich im Zeichen der Musik. Ein Stück, das man in einer flotten deutschen Übersetzung gerne auf intimer Bühne oder bei Musikfestspielen wiedersehen würde – unterhaltsam reflektierend, wo Grenzen und Größe epochaler Musiker wie Bernstein und Karajan liegen.

Info: https://lastcalltheplay.com/




Kraftvolles Schauspiel – Anna Drexler als wilde wie wohltätige Krähe in „Trauer ist das Ding mit Federn“

Anna Drexler ist die Krähe (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Wer Anna Drexler noch auf der Bühne des Schauspielhauses erleben will, sollte sich sputen. Denn in der kommenden Spielzeit wechselt diese großartige Künstlerin ihren Arbeitgeber, geht von Bochum ans Münchner Residenztheater. Im Zusammenspiel mit Maja Beckmann haben wir Anna Drexler (Jahrgang 1990) auf diesen Seiten früher schon bewundert und gepriesen. „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ hieß das Stück, das im Mai 2023 Premiere hatte. Da spielt sie eine junge Frau, was nicht verwundern muß. In „Trauer ist das Ding mit Federn“ aber, dem Stück, von dem hier die Rede sein soll, ist sie eine Krähe. Und was für eine!

Tod der Mutter

Nach wenigen Minuten Bühnenpräsenz verschwindet die Frage, ob der Besuch dieses Krähentheaters noch lohnen würde, ganz still und endgültig in der Versenkung. Obwohl, nun ja: Die Geschichte ist eigentlich traurig. Vater und Kinder betrauern nämlich den Tod der Mutter. Alles erinnert an sie, das nachbarschaftliche Umfeld zeigt die übliche Zuwendung, doch ein Zurück zur Normalität will nicht gelingen, zumal dem Vater (Risto Kübar) nicht, der wie gelähmt ist vom Verlust. Mit seinem Verlustmonolog startet das Stück, und man macht sich auf, zurückhaltend ausgedrückt: Längen gefaßt.

Vater und Kinder (von hinten nach vorne): Risto Kübar, Jing Xiang, Alexander Wertmann (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Eigentlich unverschämt

Doch dann ist plötzlich die Krähe da und mischt die Familie auf. Stellt respekt- und pietätlose Fragen, fragt die Kinder nach Eigenheiten der Mutter und läßt sie, unerhört eigentlich, von ihnen nachspielen; wendet sich mit Erklärungen dem Publikum zu, veranstaltet eine heitere Fragerunde, kümmert sich um den Vater im Bett, bewahrt ihn späterhin vor der „falschen Frau“ oder der Vorstellung von ihr, ist mal cool, mal aufgekratzt (eine Krähe eben), und bezeichnen läßt sich die Rolle der Krähe eigentlich nur vom Ergebnis her: Nach ihren Auftritten geht es allen besser; nicht gut, aber besser. Und das alles ist sicherlich auch ein bißchen pädagogisch, aber deshalb nicht verkehrt.

Mythologisches Tier

Natürlich kann man fragen, warum nun gerade eine Krähe mit ihrer mythologischen Aufladung und ihren durchaus auch animalischen Impulsen den Störenfried in der familiären Tristesse geben muß. Als Antwort mag der Hinweis dienen, daß die literarische Vorlage für das Stück der gleichnamige Roman des englischen Autors Max Porter war, der seinen Titel wiederum einem Gedicht von Emily Dickinson verdankte. Und der eben eine Krähe für diese Rolle vorsah. Der Vater übrigens, quasi augenzwinkernde inszenatorische Fußnote, ist Literaturwissenschaftler und versucht – erfolglos – das Krähen-Thema zu bearbeiten.

Anna Drexler als entspannte Krähe (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Komödiantin von hohen Gnaden

Die Wirkmächtigkeit dieser Inszenierung aber, um jetzt endlich darauf zurückzukommen, liegt im annähernd dauerpräsenten Bühnenspiel der Künstlerin Anna Drexler. Ja, sie ist – und das soll hier ein Kompliment sein – eine Rampensau und eine Komödiantin von hohen Gnaden; doch gelingt es ihr fast gleichzeitig, das Rätselhafte, die Ambivalenz, die Unsicherheit, auch die Begrenztheit ihrer (Krähen-) Möglichkeiten herauszuspielen. Alles ist besser als unabsehbare Trauerstarre, sagt die Inszenierung, sagt ihre Hauptfigur.

Fabelhafte Tänzer

Neben einer solchen Krähe haben die anderen Darsteller keinen leichten Stand. Also müssen sie tanzen! Jing Xiang und Alexander Wertmann, die Kinder, tun dies mehrfach, entwickeln aus scheinbar alltäglichen Bewegungen unglaubliche Tanzfiguren, spielerisch und hoch artistisch zugleich, homogen eingefügt in den Fluß des Geschehens, beeindruckend.

Außerdem auf der Bühne: Nina Steils als Mutter, in gebührlicher Zurückhaltung spielend, wenn sie nicht gerade das Falsche-Frau-Monster ist und sich mit der Krähe einen ritterlichen Zweikampf bis zum bitteren Ende liefern muß, sowie Jasmin Kruezi als Kameramann, der übrigens auch für das Videodesign genannt wird.

Reichen Applaus gab es, was auch sonst, und das angenehm nachwirkende Gefühl, saftiges, kraftvolles Schauspiel erlebt zu haben. Bitte mehr davon.




Die Zähne des Haifischs: Vor 125 Jahren wurde der Komponist Kurt Weill geboren

Kurt Weill (li.) und Bert Brecht. (Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau)

Ernste Musik? Unterhaltungsmusik? Dieser Unterscheidung gab es für Kurt Weill nicht. Für ihn gab es nur „gute und schlechte Musik“. Verwirklicht hat er dieses Konzept, mit dem er die Grenzen zwischen „hoher“ und „populärer“ Kunst niederriss, 1928 mit dem Sensationserfolg der „Dreigroschenoper“. Gemeinsam mit Bertolt Brecht schuf der 28-Jährige dieses Meisterwerk des musikalischen Theaters, das zu den größten Bühnenerfolgen des 20. Jahrhunderts gehört.

Von Anhalt an den Broadway

Der am 2. März 1900 geborene Sohn des Kantors der jüdischen Gemeinde in Dessau ging diesen Weg nicht freiwillig. Schon 1933 floh er vor den Nazis nach Paris; zwei Jahre später emigrierte er mit seiner Frau Lotte Lenya in die USA. Weill gelang es, jenseits des großen Teichs Fuß zu fassen. Er tauchte tief in die amerikanische Kultur ein, wollte ein durch und durch „amerikanischer“ Komponist werden. Ab 1936 baute er eine stetige Musical-Karriere auf, die von „Johnny Johnson“ über die Erfolgsstücke „Lady in the Dark“, „A Touch of Venus“ und „Street Scene“ bis zu seiner „musikalischen Tragödie“ mit dem Titel „Lost in the Stars“ 1949 führt. Über der Arbeit zu einem Musical nach Mark Twains „Huckleberry Finn“ erlitt Weill einen Herzinfarkt, an dessen Folgen er vor rund 75 Jahren, am 3. April 1950 starb.

Prägende Zeit in Lüdenscheid und Berlin

Weills musikalische Entwicklung begann früh: Schon in der Schulzeit in Dessau schrieb er erste kleine Kompositionen und betätigte sich als Liedbegleiter. Mit achtzehn Jahren ging er nach Berlin und studierte u.a. Komposition bei Engelbert Humperdinck. Seine Suche nach Neuem hätte ihn beinahe zu Arnold Schönberg nach Wien geführt, aber die prekäre Situation seiner Familie – sein Vater hatte die Stellung als Kantor der jüdischen Gemeinde in Dessau verloren – zwang den Neunzehnjährigen zum Geldverdienen.

Seine erste Stelle fand er am Friedrich-Theater seiner Heimatstadt Dessau als Korrepetitor unter dem damaligen musikalischen Leiter Hans Knappertsbusch. Dessen autoritärer Stil ließ den jungen Weill bei erster Gelegenheit das Weite suchen. Ende November 1919 trat er ein Engagement als Kapellmeister am Stadttheater Lüdenscheid an. Dort sollte er viel über den Alltagsbetrieb eines Theaters lernen, fand er doch die „typischen Verhältnisse einer ‚Schmiere‘ vor, wie Weill-Biograf Jürgen Schebera beschreibt.

Seiner Schwester Ruth berichtet Weill in Briefen vom anstrengenden Alltag an einem kleinen Dreispartentheater, wo fast in jeder Woche eine Premiere stattfinden musste: „Du kannst Dir denken, wie ich zu tun habe. Sonntag nachmittag ,Fledermaus‘, abends ,Cavalleria rusticana‘, Montag nachmittag ,Zigeunerbaron‘, abends Premiere einer neuen Operette. Wie ich mit den Proben fertig werden soll, ist mir schleierhaft …“. Und ein anderes Mal beklagt er sich: „Morgen habe ich wieder Premiere, eine furchtbar dreckige Gesangsposse ‚Im 6. Himmel‘ …“. Dennoch: In Lüdenscheid, so erinnert er sich Jahre später in den USA, habe er erkannt, „dass das Theater meine eigentliche Domäne werde würde“.

Meisterschüler bei Busoni

Weill blieb nicht lange in Lüdenscheid; Ende Mai war die Spielzeit zu Ende. Sein Vater hatte eine neue Stelle angetreten; Weill strebte nach Berlin zurück und hatte Glück: Ferruccio Busoni nahm ihn Ende 1920 als einen von fünf Meisterschülern in seine neue Kompositionsklasse auf. Die Zeit in der brodelnden Kulturmetropole sollte für Weill prägend werden. Als Student schrieb er bereits sein Streichquartett h-moll, eine Suite für Orchester und 1921 eine einsätzige Symphonie No. 1. Andere seiner frühen Werke sind verloren.

Weill hielt daran fest, dass seine große Begabung die Arbeit für die Bühne sei. Mit 22 Jahren schrieb er die Musik zu einer Ballettpantomime „Zaubernacht“. Darin geht es um einen Kindertraum: Sobald Jungen und Mädchen eingeschlafen sind, kommt die Zauberin und lässt Spielsachen und Märchenfiguren lebendig werden. Partitur und Stimmen waren verschollen und wurden zufällig in der Yale Universität wiederentdeckt. Erst 2010 wurde das Stück beim Musikfest Stuttgart wieder aufgeführt. Eine Kritik würdigte die Musik: „Weill verwendet genial alle Möglichkeiten seiner Zeit, arbeitet mit atonalen Passagen, lässt die Streicher in schönster Walzerseligkeit schluchzen, imitiert den Neoklassizismus, aber auch die harmonischen Errungenschaften der Zweiten Wiener Schule.“

Ein „Ruhrepos“ mit Bertolt Brecht

Nach der erfolgreichen Aufführung seiner ersten Oper „Der Protagonist“ lernte Weill im April 1927 Bertolt Brecht kennen. Ihr erstes großes gemeinsames Projekt hätte eine monumentale „Ruhroper“ werden sollen, deren Konzept bereits im Juni 1927 weit gediehen war. „Das Ruhrepos soll sein ein künstlerisches Dokument des rheinisch-westfälischen Industrielandes, seiner eminenten Entwicklung im Zeitalter der Technik, seiner riesenhaften Konzentration werktätiger Menschen und der eigenartigen Bildung moderner Kommunen. Da nun aber der ganze Aufbau des Ruhrgebiets für unsere Zeit charakteristisch ist, soll das Ruhrepos gleichzeitig ein Dokument menschlicher Leistung unserer Epoche überhaupt sein“, umreißt Brecht die künstlerische Absicht des Projekts.

Kurt Weill hatte für die Musik sehr konkrete Vorstellungen: Sie schließe „alle Ausdrucksmittel der absoluten und der dramatischen Musik zu einer neuen Einheit zusammen“, schreibt er kühn. Geplant seien keine „Stimmungsbilder“ oder „naturalistische Geräuschuntermalung“. Sondern die Musik präzisiere Spannungen der Dichtung und der Szene in Ausdruck, Dynamik und Tempo. Abgeschlossene Orchesterstücke sollten als symphonische Vor- und Zwischenspiele dienen. Arien, Duette, Ensemblesätze, kleinere Instrumentengruppen oder über den Raum verteilte Chöre mit ihren Instrumenten, aber auch Songs mit Jazz-Rhythmus oder „kammermusikalische Stücke komischer Art“ waren vorgesehen. Mit Filmen und Lichtbildern des Filmregisseurs Carl Koch sollte das Werk ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen.

Das Projekt scheiterte an der antisemitischen Hetze nicht zuletzt in der Presse und an provinziellen Ressentiments gegen die Berliner Kultur, während das Mahagonny-Songspiel Weills und Brechts im Juli 1927 in Baden-Baden einen Skandal-Erfolg erlebte. Drei Jahre später hatte die aus dem Songspiel entwickelte Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in Leipzig ihre sensationelle, aber bereits von den Nationalsozialisten massiv gestörte Uraufführung. Ein Jahr nach diesem wohl größten Theaterskandal der Weimarer Republik endete Weills Zusammenarbeit mit Brecht: Weill wollte sich mit der für ihn allzu restriktiven Rolle der Musik in Brechts politischem Theater nicht abfinden.

Gegen das Illusions- und Gefühlstheater

Für Brecht und Weill war es erklärtes Ziel, Formen des bürgerlichen Theater- und Opernbetriebs aufzubrechen und nach neuen Wegen zu suchen. In „Mahagonny“ sah Kurt Weill den Versuch, „das Wesen unserer Zeit von innen her zu beleuchten“. Er traf sich mit Brechts Intention, der damals verkündete: „Wenn man sieht, dass unsere heutige Welt nicht mehr in das Drama passt, dann passt das Drama eben nicht mehr in die Welt.“ Weill stand der herkömmlichen Form der Oper, dem Illusions- und Gefühlstheater, ebenso kritisch gegenüber: „Wenn also der Rahmen der Oper eine derartige Annäherung an das Zeittheater nicht verträgt, muss eben dieser Rahmen gesprengt werden.“

Vor diesem Skandal lag jedoch noch der Riesenerfolg der „Dreigroschenoper“: Die Story aus dem Gauner- und Proletenmilieu bedeutete für Weill nicht nur den endgültigen Schritt in eine neue Art von Musiktheater, sondern – ganz prosaisch – das Ende aller finanziellen Sorgen. Bis heute sind die Songs weltberühmt, allen voran die Moritat von Mackie Messer: „Und der Haifisch, der hat Zähne …“.

Passend zum Weill-Jubiläumsjahr 2025 bringt die Oper Bonn ab 6. April Brecht und Weills „Die Dreigroschenoper“ in einer Neuinszenierung von Simon Solberg. Daniel Johannes Mayr dirigiert. Termine: 6., 8., 20. April; 10., 29. Mai; 1., 8., 17., 19. Juni; 3., 9. Juli. Tickets im Internet unter www.theater-bonn.de oder telefonisch unter (0228) 77 8008.

Noch bis 16. März findet in Weills Heimatstadt Dessau das Kurt Weill Fest unter dem Motto „Farben des Lebens“ mit 72 Veranstaltungen statt. Info: www.kurt-weill-fest.de




Gegenentwurf zu Brecht: „Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch in der Berliner Volksbühne

Kathrin Angerer und Milan Peschel in „Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch. (Foto: Apollonia T. Bitzan)

Nach dem Abgang von Frank Castorf, dem Scheitern von Chris Dercon und dem Rauswurf von Klaus Dürr schien die Berliner Volksbühne künstlerisch am Ende. Dann übernahm Bühnen-Berserker René Pollesch und versuchte, den führungs- und ideenlos in den Kultur-Wogen schlingernden Theater-Panzerkreuzer am Rosa-Luxemburg-Platz wieder auf Kurs zu bringen. Als der Dramatiker und Regisseur am 26. Februar 2024 völlig unerwartet mit 61 Jahren starb, verfiel die Volksbühne in Schockstarre.

Nachdem auch noch im Zuge der radikalen Sparmaßnahmen des Berliner Senats die zu Interims-Intendanten ernannten Vegard Vinge und Ida Müller ihre Posten räumten, wurde bereits das Sterbeglöckchen für die Traditions-Bühne geläutet. Doch um den Theatertod zu bannen, haben sich einige Schauspieler, die mit Pollesch große Erfolge feierten, einen Text vorgenommen, der noch nie das Bühnenlicht erblickte. Gemeinsam inszenieren sie das Stück „Der Schnittchenkauf“, das Pollesch für eine Ausstellung in einer Berliner Galerie als kritischen Kommentar zu Brechts „Der Messingkauf“ und als lockeren alltagsphilosophischen Gegenentwurf zur strengen Belehrungs-Theorie des epischen Theaters verfasst hat.

Da Pollesch immer nur mit unverbindlichen Spielideen in die Proben kam und seinen Schauspielern den Text zur freien Improvisation überließ, geben sie sich alle Mühe, einen Kessel Buntes anzurühren und eine Bühnen-Party zu feiern, die ihrem verstorbenen Freund wohl gefallen hätte.

Kathrin Angerer und Martin Wuttke, Milan Peschel, Rosa Lembeck und Franz Beil stecken in aberwitzig-hässlichen Kostümen und sehen aus, als würden sie zu einer Safari oder Expedition nach Nirgendwo aufbrechen. Jan Speckelbach umkreist das muntere Treiben mit einer Live-Kamera, aus den Lautsprechern plärren unentwegt Schlager-Melodien und Pop-Songs. Die zwischen Sperrholz-Container und japanischer Futon-Landschaft changierende, sich allmählich in eine Müllhalde verwandelnde Bühne hat Leonard Neumann, der Sohn des genialen, ebenfalls viel zu früh verstorben Bert Neumann gebaut. Das passende Ambiente, um ein paar Runden mit dem Fahrrad zu drehen und sich an langen Tischen zu versammeln, Butterstullen zu schmieren und mit Schnittlauch zu bestreuen.

Manchmal verirren sich Kathrin Angerer und Martin Wuttke in Edward Albees Bühnenklassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, mutieren zu Martha und George und verknäueln sich lustvoll in derben Eheschlachten. Meistens aber quasseln alle einfach drauflos, inspizieren sie die „Vierte Wand“, die Schauspieler und Zuschauer trennt, verdammen das Theater als verlogene Illusionsmaschine und vergeblichen Sinn-Produzenten.

Milan Peschel rollt genervt mit den Augen und stampft mit Cowboystiefeln durchs anschwellende Chaos. Kathrin Angerer beschwört zitternd und zeternd die Liebe und das Leben. Rosa Lembeck verheddert sich im  Kommunikations-Wirrwarr und beleuchtet den Unterschied zwischen Sender und Empfänger. Franz Beil stottert sich (im Rattenkostüm!) durch seine Texthappen und berichtet, wie er sich einmal in eine Theatervorstellung geschmuggelt hat, weil es hieß, dort gebe es kostenlose Schnittchen. Martin Wuttke pafft unentwegt Zigaretten und erklärt uns, dass es kein Sein gibt: „Es gibt nur das Werden“, mit dem man den eigenen Tod hinauszögern und das Theater-Sterben aufhalten kann. Aha!

Überhaupt kann Wuttke das Gerede von der Apokalypse nicht mehr ertragen: „Wir hören ständig, dass wir am Ende der Geschichte angelangt sind, aber dieses Ende zieht sich hin und bringt sogar einiges Genießen mit sich.“ Das Publikum amüsiert sich köstlich und feiert zu recht eine mit fröhlicher Melancholie zwischen Gestern und Morgen irrlichternde Theater-Kuriosität.

„Der Schnittchenkauf“ nach René Pollesch. Volksbühne Berlin. Nächste Vorstellungen: 16. März (18 Uhr) und 31. März (19.30 Uhr). https://www.volksbuehne.berlin.de




Sechs Stunden sind nicht genug – In Bochum inszeniert Johan Simons Elena Ferrantes Roman „Meine geniale Freundin“

Freundinnen fürs Leben: Elena Greco (Jele Brückner, links) und Raffaela Cerullo (Stacyian Jackson) (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Sechs Stunden! Wo sitzt man noch so lange im Theater? Die Schauspielexzesse Peter Steins fallen einem ein, sein Antiken-Projekt, der Faust, der Wallenstein. Doch das ist Jahrzehnte her, und seitdem sind „90 Minuten, keine Pause“ längst schon so etwas wie gültiger Bühnenstandard geworden. Man mag das bedauern. Oder sich dem widersetzen. Johan Simons tut das, in Bochum.

Neapolitanische Saga

Er macht es wieder, seine „Brüder Karamasow“ nach Dostojewskij, Premiere im Oktober 2023, dauerten gar sieben Stunden, inklusive zweier Pausen nebst Gastmahl. Zu essen gab es diesmal auch, doch dazu später (vielleicht) mehr. Nun also: Premiere der Bühnenadaption von Elena Ferrantes Romanen um zwei Freundinnen aus dem armen italienischen Süden, deren erster den Titel „Meine geniale Freundin“ trug und die als Zyklus „Neapolitanische Saga“ enorm erfolgreich waren und sind. Die Textfassung stammt von Koen Tachelet, einem langjährigen Mitstreiter Simons‘ seit gemeinsamen Zeiten am NTGent.

Jele Brückner als Elena am Schreibtisch und in der Videoprojektion (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Rechtlose Frauen

Erzählt werden die Lebensgeschichten von Elena und Raffaela, kurz Lenù und Lila, beginnend mit ihrer Kindheit in einem armen Stadtviertel Neapels. Das Viertel heißt Rione, was das italienische Wort für Viertel ist, und von wo man vor allem weg will. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt, mafiöse Strukturen herrschen, und die faktische Rechtlosigkeit der Frauen scheint gottgegeben zu sein. Das Rione ist ein Hort der strukturellen Gewalt, zu der brutale Erniedrigungen und Vergewaltigungen ebenso zählen wie das ängstliche Festhalten an traditionellen Rollenbildern. In dieses Milieu werden die beiden Protagonistinnen hineingeboren. Elena, unschwer erkennbar als Alter Ego der Autorin, schafft die Aufnahmeprüfung einer Elitehochschule in Pisa, wird eine erfolgreiche Journalistin und Schriftstellerin; Raffaela heiratet früh, bekommt früh ein Kind von einem anderen, trennt sich von ihrem gewalttätigen Ehemann, schließt eine „Vernunftehe“, landet schließlich als Arbeiterin in der Fleischfabrik.

Feministischer Jahrhundertroman

Natürlich geschieht noch viel mehr in den Romanen, sind atmosphärische Elemente von großer Bedeutung. Elena Ferrante hat weit über tausend Seiten mit ihren Beschreibungen gefüllt, daran gemessen sind sechs Stunden Theater – netto vielleicht um die fünf – immer noch wenig, auch wenn fast pausenlos dialogisiert wird. Offenbar hat sich die Inszenierung, was man begrüßen mag, zum Ziel gesetzt, die biografische Grobstruktur beizubehalten. „Kindheit und Jugend“ ist der erste Teil überschrieben, es folgen „Erwachsenenjahre“ und „Reife und Alter“. Das Dilemma dieses Vorgehens ist jedoch die weitgehende Reduktion auf biografische Fakten – Männergewalt, Kinderkriegen, Trennungen, persönlicher Erfolg. Den feministischen Jahrhundertroman, den manche Kritiker in Ferrantes Werk sehen, findet man hier nicht wieder, gesamtgesellschaftliche Themen wie bürgerlicher Reichtum, organisierte Kriminalität oder Vetternwirtschaft bleiben lediglich strukturelle Grundierung.

Bühnenbild aus der Zentralperspektive. Es soll sich um eine typische italienische Piazza handeln. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

68 und danach

Gewiß gibt es im Stück auch Klassenkampf und revolutionäre Bestrebungen. Die Zeit nach 1968 und die 70er Jahre waren davon geprägt, in Italien verübten die Roten Brigaden Gewalttaten, ermordeten Politiker wie den christdemokratischen Ministerpräsidenten Aldo Moro. Ferrante, Jahrgang 1943, erzählt vermutlich vieles aus eigenem Erleben im universitären Milieu. Wiederholt werden (vorwiegend im zweiten Teil des Abends) Nachrichten von revolutionären Taten in das Bühnengeschehen getragen, treten klassenkämpferische junge Männer aus gutem Haus als Agitatoren auf, gibt es den Versuch, Arbeiter und Studenten im Klassenkampf zu vereinen. Doch bei den Frauen reift die Erkenntnis, daß offenbar auch die Revolution Männersache ist, sich strukturell für sie somit nicht viel ändern würde. Hier finden sich die Wurzeln der autonomen Frauenbewegung, und wer etwas älter ist und früher mal „links“ war, kennt das vielleicht auch alles. Dieser Wiedererkennungseffekt hat sicherlich einen nicht geringen Anteil am Erfolg der Ferrante-Bücher, auch beim deutschen Publikum.

Strukturelle Zusammenhänge

In Bochum indes, kommen wir zum Theaterstück zurück, zeigt die Inszenierung letztlich wenig Interesse daran, strukturelle Zusammenhänge herauszuarbeiten. Einige Male liest Elena Sätze aus ihren Texten vor, die man vielleicht als analytischen Versuch bezeichnen könnte. Aber sie bleiben isoliert. Doch bietet diese Art der Inszenierung immerhin eine gute Wiedererkennbarkeit der Textvorlage. Wer die Bücher gelesen hat, kann alte Bekannte grüßen.

Ein bißchen wie bei Pina Bausch: Das Bühnenpersonal nimmt auf gereihten Stühlen Platz. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Johans Stühle

Von Johan Simons wissen wir, daß er gerne Stühle auf der Bühne mag. So auch hier. Und die Schauspieler sind gut damit beschäftigt, Stühle hin und her zu tragen, aufzureihen, abzuräumen. Wenn gar ein Erdbeben die Stadt erschüttert, bleibt als bildlicher Ausdruck ein großer Haufen Stühle, unter denen (Trümmer!) Opfer zu beklagen sind. Doch mehr als einprägsame Bilder entstehen so nicht; anders als in manchen Psychotherapien erklären die Stühle in ihren Anordnungen nicht die Beziehungen der Menschen zueinander, bleibt es bei allgemeiner Symbolik von Verortung und Seßhaftigkeit.

Es soll eine italienische Piazza sein

Zweites prägendes Bühnenelement ist die permanent rotierende Drehbühne. Sie bewahrt vor allzu großer Statuarik des Geschehens und bietet in Verbindung mit mitkreisenden Videokameras zudem den Vorteil, daß auf allen Plätzen – es gibt sie im Zuschauersaal wie auch hinten auf der Bühne – in Verbindung mit der Videoprojektion alles gesehen und verfolgt werden kann. Zu Beginn rotieren zwei Schreibtische mit den beiden jungen Mädchen, umlegt mit Büchern der eine (von Elena), mit Schuhen der andere. Der Bühnenraum selbst, war vor der Premiere in einem Vorgespräch zu erfahren, sei einer italienischen Piazza nachempfunden, aber wenn man das nicht weiß, kommt man auch nicht drauf. Dafür bleibt es zu abstrakt, trotz der warm erstrahlenden Straßenlaterne.

Nicht folkloristisch

In gewisser Weise ist der hohe Abstraktionsgrad dieser Ausstattung aber auch vorteilhaft, bewahrt er das Publikum doch vor allzu folkloristischer Deutung des Geschehens. Etwas anderes wäre es vielleicht gewesen, wenn die Inszenierung sich statt für eine lineare Protokollierung für punktuelle Verdichtung der Handlung entschieden hätte.

Nochmal die Freundinnen: Stacyian Jackson als Raffaela links, Jele Brückner als Elena rechts. . (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Ideale Besetzung

Schauen wir auf die Darsteller. Jele Brückner ist Elena Greco, schon vom Typ her eine geradezu ideale Besetzung. Nachdem sie sich mit etwas Verzögerung „warmgespielt“ hat, ist sie eins mit ihrer Rolle. Die Zumutungen des Lebens – Freude, Angst, Selbstzweifel, Bedürftigkeit wie auch späterhin Selbstbewußtsein und Kraft weiß sie intensiv zu geben. Später wird ihr dafür reicher Applaus zuteil. Ihre Freundin Raffaela Cerullo wird von Stacyian Jackson gegeben, deren körperlicher Einsatz beeindruckt, die sprachlich aber nicht überzeugt. Sie spricht mit starkem (amerikanischen?) Akzent, was immer wieder zu Verständnisschwierigkeiten führt. Zudem gibt es ärgerliche Versprecher, die dem Redefluß ebenfalls nicht guttun. Außerdem legt sie (legt der Regisseur) die Rolle der Lila recht prollig an, was Leser der Bücher für unzutreffend halten.

Unmengen von Text

Mit Ausnahme der beiden Hauptkräfte spielen die anderen meistens mehrere Rollen. Garderobenwechsel geschieht oft auf der Bühne, was der Produktion die Anmutung des Unfertigen gibt. Darstellerinnen und Darsteller schlagen sich gut, stundenlang, bewältigen eine Unmenge von Text, beeindrucken mit ihrer scheinbar grenzenlosen Beweglichkeit. Wir erleben in Bochum ein hochwertiges, homogenes Ensemble, das die Inszenierung, die nicht immer frei von Längen ist, souverän trägt und alles in allem und trotz vieler bedrückender Handlungselemente zu einem unvergeßlichen Theaterabend macht.

Ein Solitär in der deutschsprachigen Theaterwelt

Erwähnt werden muß noch, daß es bei der Premiere eine ca. viertelstündige Unterbrechung durch einen Notarzteinsatz gab. Schließlich aber: Stehender Applaus, lang anhaltend. Mit seiner selbstbewußten Art, Theater zu machen, ist der 78jährige Johan Simons mittlerweile ein Solitär, nicht nur im Ruhrgebiet, sondern im ganzen deutschsprachigen Theaterraum.

Ach ja: Zu essen gab es verschiedene italienische Vorspeisen, vom Caterer in praktischen Einmalverpackungen dargeboten, außerdem Brot und Wasser. Man nahm es dankbar an an diesem beeindruckenden Theaterabend, der erst weit nach Mitternacht sein Ende fand.

Weitere Aufführungen: 1., 2., 23. Februar, jeweils 16:00 Uhr
www.schauspielhausbochum.de




Museen geschlossen, Frank Goosen ausverkauft: Ärger und Freude liegen im Kulturbetrieb des Reviers nahe beieinander

Von außen sieht man ihm seine charakteristischen Tütenlampen gar nicht an: das Schauspielhaus Bochum, wo Frank Goosen sein „Silvester Spezial“ zur Aufführung brachte. (Foto: Schauspielhaus Bochum/Martin Steffen)

Frank Goosen, das ist mal klar, Frank Goosen hat uns gerettet. Das „Silvester Spezial“ des Bochumer Kabarettisten, dargebracht im Großen Haus des Bochumer Schauspiels, fügte sich exakt in die Erfordernisse des diesjährigen Besuchsbespaßungsprogramms: Beginn um 20 Uhr und um die zwei Stunden lang, so daß es bis zum Jahreswechsel dann nicht mehr weit war. Die Silvesterparty im Schauspielhaus knickten wir uns und strebten hernach den heimischen Dortmunder Fleischtöpfen zu. Guter Abend, gutes Timing, 2025 konnte kommen.

Ruhrgebietskultur

Warum erzähle ich das eigentlich? Nun, weil die Berliner Verwandtschaft in diesem Jahr bei uns zu Gast war und man dann natürlich einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, richtig schöne Ruhrgebietskultur vorzuführen. In vielen Vorjahren war – in Berlin – die Komische Oper ein prominenter verwandtschaftlicher Bespaßungsort, aber die wird ja jetzt umgebaut und Barrie Kosky ist auch nicht mehr da und überhaupt. Also finde mal was, hier im Revier, wenn es nicht traditionelle Operette sein soll. Nun, wir fanden, wie gesagt, ihn, Frank Goosen, den man mit seiner grundsoliden Bochumer Erdung nebst gleichzeitiger, hochgradig anregender intuitiver Beweglichkeit und profundem historischen Spezialwissen auswärtigem Publikum durchaus zumuten kann, ja geradezu: sollte.

Andreas Weißert las in Dortmund

Der Fairneß halber sei ergänzt, daß auch andere Bühnen Jahresausklangsprogramme anboten. So las der geschätzte Schauspieler Andreas Weißert auf der Dortmunder Studiobühne wieder etwas vor, Textpassagen von Fontane, Kästner, Fallada und Bernhard unter dem Titel „Es ist ein hübsches Wort, daß die Kinder ihren Engel haben“ (ein Fontane-Zitat). Nur – um 16 Uhr fing er an und anderthalb Stunden später war er fertig, das ist dann noch verdammt viel Zeit bis Mitternacht.

Volle Hütte

Bei Goosen war das Theater voll, ganz offensichtlich giert das Volk nach Jahresendkultur. Da paßt es – Vorsicht, Ironie! – wunderbar ins Bild, daß die heimischen Museen an den letzten Tagen des Jahres einfach zumachen. Das Dortmunder „U“, zentrale Adresse, blieb zwischen 30. Dezember und 1. Januar, also von Montag bis Mittwoch, drei Tage immerhin, geschlossen, und in etliche anderen Städten hielten kommunale Museen es ebenso. Offensichtlich war hier eine Bürokratie am Werke, die die Welt in Brückentagen denkt und nicht in Publikumsinteresse. Warum sollte man an kalten, nassen Winter-Werktagen „zwischen den Jahren“, die wirklich nicht zu Spaziergängen irgendwelcher Art einladen, Museumsbesuche ermöglichen? Und der Montag ist eh sakrosankt, liege er für das ungeliebte Publikum auch noch so günstig zwischen den Feiertagen. Es macht die Sache übrigens nicht besser, daß wir, wären wir in Berlin gewesen, ebenfalls vor größtenteils geschlossenen Häusern gestanden hätten. Die Ignoranz einer selbstgefälligen kommunalen Bürokratie ist ein bundesweites Phänomen.

Offene Türen beim Schraubenkönig

Private Museen hingegen kennen das Publikumsinteresse und haben ihre Angebote angepaßt. So läßt „Schraubenkönig“ Würth die Tore seiner drei Häuser in und um Künzelsau jeden Tag von 10 bis 18 Uhr öffnen, das Potsdamer Museum Barberini, das SAP-Chef Hasso Plattner gehört, bot am 1. Januar zumindest Führungen durch das Haus an, und ebenso hatte die Duisburger Küppersmühle am 1. Januar geöffnet.

Wenigstens haben wir den Kran gesehen

In Dortmund, wo Tage vor Silvester museal nichts mehr ging, blieb als touristische Aktion schließlich noch eine Stadtrundfahrt mit dem eigenen Auto, Borsigplatz, Westfalenhütte (wo große städtebauliche Veränderungen anstehen), Hoesch-Museum (geschlossen wegen Umbau). Weiter über Malinckrodtstraße und Nordmarkt zum Hafen, wo vis-à-vis vom wilhelminischen Hafenamt der alte Kran zu besichtigen ist, den man weiter unten auf dem Hafengelände abgebaut und hier, auf der Vorzeigemeile, wieder aufgebaut hat. Gut, wenigstens diese Besichtigung hat geklappt, umsonst und draußen, wie es sein soll bei einem Freiluftindustriedenkmal.

Und es ging auch vom Auto aus. Mistwetter, wie gesagt.




Joachim Meyerhoff: Literarisches Denkmal für die Mutter

Theatergänger lieben die genuschelten Spracheskapaden und schlaksigen Bewegungen von Joachim Meyerhoff, Literaturfans amüsieren sich köstlich über seine tragikomischen Erlebnisse und grotesken Selbstentblößungen. Dann aber wird der Wiener Burgschauspieler von einem Schlaganfall niedergestreckt, muss das Sprechen und Spielen neu lernen und wechselt ins Ensemble der Berliner Schaubühne. Doch alles kommt anders als gehofft.

„Ich haderte mit Berlin, der Stadt, in der ich seit fünf Jahren versuchte, heimisch zu werden, und ich haderte mit meinem Beruf, der Schauspielerei, die ich über drei Jahrzehnte mit Hingabe, gar mit Obsession betrieben hatte.“

Bühnen-Ekel und Schreib-Hemmung schlagen ihm aufs Gemüt. Fluchtartig verlässt er Berlin und zieht zu seiner Mutter aufs Land, redet sich ein, er, der 56jährige Griesgram, könne der 86jährigen Frau, die vor Lebenslust strotzt und ihren parkähnlichen Garten allein in Schuss hält, im Alltag eine Hilfe sein. Das Gegenteil ist der Fall. Die Mutter sorgt mit kräftigen Worten und zarter Fürsorge dafür, dass der selbstmitleidige Sohn aus dem Tal der Tränen finden und wieder das machen kann, was er am besten beherrscht: seine tatsächlichen und seine herbeifantasierten Erlebnisse in bizarre Literatur zu verwandeln, Geschichten aufzuschreiben, die aus den traurigen Niederlagen des Lebens komischen Honig saugen und selbst dem verkniffensten Leser ein Lachen ins Gesicht zaubern.

„Man kann auch in die Höhe fallen“ nennt Joachim Meyerhoff (eine Sentenz von Friedrich Hölderlin aufnehmend) den sechsten Teil seines Roman-Zyklus‘ „Alle Toten fliegen hoch“: eine Perlenkette von todtraurigen und berstend komischen Anekdoten aus dem Leben eines Schelms. Er hat davon erzählt, wie er als Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in einem Heim für körperlich und geistig Behinderte aufwächst und sich dort pudelwohl fühlt. Wie er als Legastheniker die Kunst für sich entdeckt, als Schauspieler mit Wörtern jongliert und als Schriftsteller den Wahnsinn der Welt veralbert.

Höchste Zeit, zur Ruhe zu kommen, sich in den Alltag der Mutter einzuklinken und mit Latzhose und Gummistiefeln zum Gärtner zu mutieren. Den Tag mit einem Bad im Meer, einem guten Whiskey und einer klugen Mutter beenden, die auf (fast) jede Frage eine gescheite Antwort weiß. Wochenlang werkeln und trödeln die beiden durch den zu Ende gehenden Sommer, holen Erinnerungen hervor und schmieden neue Pläne. Die Mutter verliebt sich noch einmal und beschließt, mit ihrem Geliebten die Welt zu bereisen, der Sohn findet wieder die passenden Worte für seine abstrusen Geschichten über die Abgründe des Künstlerlebens und collagiert seine hanebüchenen Schilderungen mit liebevollen Erzählungen über seine Mutter.

Eine Geschichte („Mutter ist weg“) will er in einer Lübecker Buchhandlung vorlesen. Doch ihm ist übel und er zittert, hat Angst vor einem neuen Schlaganfall. Da ergreift die Mutter die Initiative. Während ihr Sohn im Hinterzimmer auf einer Couch liegt, tritt sie – als hätte sie nie etwas anderes getan – vor die Zuhörer und liest die Geschichte vor, die sie zuvor gar nicht kannte und jetzt so selbstsicher und Funken sprühend intoniert, als wäre sie selbst die Autorin. Weil sie eine wahre Künstlerin ist, erfindet sie spontan noch ein paar Zeilen dazu und schenkt der unfertigen Story ein großartiges Finale. Hin und weg sind nicht nur die Besucher der Lesung, sondern auch der in seinem Kabuff liegende Joachim Meyerhoff, der seiner Mutter mit seinem Roman ein literarisches Denkmal setzt.

Joachim Meyerhoff: „Man kann auch in die Höhe fallen.“ – „Alle Toten fliegen hoch“, Teil 6. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 358 Seiten, 26 Euro.

 




Stolz und Zuversicht: Gewichtiger Bildband „Ruhrgold“ feiert die Schätze des Reviers

Großer Auftritt im besprochenen Buch: Aral-Tankstelle an der Hauptverwaltung der Aral AG in Bochum, um 1958. (Foto: Aral AG)

Welch ein Trumm von einem Buch! Der wahrhaft aufwendig gestaltete Band „Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets“ feiert auf 700 farbig bebilderten Seiten im Kunstkatalog-Format nahezu alles, was das Revier zu bieten hat.

Dieser Wälzer liegt sehr gewichtig in den Händen – mit etwa 2708 Gram, also über 2,7 Kilo, wenn ich richtig gewogen habe. Entschieden zu schwer für ein schmuckes „Coffee Table Book“, das Tischlein könnte schier einknicken… Außerdem reicht die Ambition deutlich übers Dekorative hinaus. Dafür bürgt schon der Herausgeber, Prof. Ferdinand Ullrich, vormals langjähriger Direktor der Kunsthalle Recklinghausen, der auch als Fotograf einiges zu diesem Band beigesteuert hat.

Ein Standardwerk über die Region

„Ruhrgold“ ist jedenfalls ein repräsentatives, umfängliches Standardwerk geworden, das von nun an in jede vernünftige Revier-Bibliothek gehören sollte. Ferdinand Ullrich und der Wienand Verlag haben kundige Autoren für die Kapitel-Einleitungen gewonnen, darunter Johan Simons (Intendant des Bochumer Schauspielhauses), Norbert Lammert (kultursinniger CDU-Politiker), Neven Subotic (Ex-BVB-Abwehrspieler und Stiftungsgründer), Manuel Neukirchner (Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund), Prof. Theodor Grütter (Leiter des Ruhrmuseums, Essen) oder Hilmar Klute (Schriftsteller, Redakteur der Süddeutschen Zeitung). Zusätzlich hätte man sich wünschen können, dass auch noch der eine oder andere kritische Literat aus hiesigen Gefilden (Frauen inbegriffen) sich geäußert hätte. Aber das hätte vielleicht die feierliche Liturgie gestört. Schattenseiten des Reviers fristen hier lediglich ein – Schattendasein.

Landmarken und Entdeckungen

Wo soll man nur anfangen, wo aufhören? Das Motto könnte lauten: „Genug ist nie genug“. 350 Kunstwerke, Objekte und sonstige Phänomene aus nahezu allen Lebensbereichen des Reviers werden in 20 Kapiteln aufgeboten, mit rund 500 Illustrationen großzügig bebildert und in einem Anhang ausführlicher erläutert. Der (via RAG-Stiftung subventionierte) Preis von 60 Euro darf als vergleichsweise moderat gelten.

Natürlich werden markante Gebäude und Bauensembles wie etwa die Welterbe-Zeche Zollverein, die Villa Hügel (beide Essen), der Gasometer (Oberhausen) oder das Dortmunder U vorgezeigt. Die Museen, Theater, Konzertstätten und Unis der Gegend sind ebenso selbstverständlich vertreten, aber auch Verkehrsadern wie die B1 (streckenweise aka A 40 oder Ruhrschnellweg), Kanäle oder just die Flussläufe von Ruhr und Emscher. Auch als langjähriger Revierbewohner kann man hier noch Entdeckungen machen. Mir war beispielsweise die anheimelnde Siedlung Teutoburgia in Herne bislang kein Begriff. Asche auf mein Haupt. Auch der Hindu-Tempel in Hamm harrt noch einer näheren Erkundung. Und so weiter.

Objekte bis hin zur Aldi-Tüte

Dem Buchtitel entsprechend, gibt es hier auch veritable Goldschätze, namentlich die Goldene Madonna aus dem Essener Domschatz oder auch den „Cappenberger Kopf“. Nicht zuletzt werden prägende Persönlichkeiten der Region (z. B. Ostwall-Gründungsdirektorin Leonie Reygers, Jürgen von Manger, Tanja Schanzara, Uta Ranke-Heinemann, Hape Kerkeling, Christoph Schlingensief) gewürdigt. Und natürlich darf auch ein Exkurs zur ruhrdeutschen Mundart nicht fehlen. „Sprechende“ Objekte – vom Schrank im Stile des „Gelsenkirchener Barock“ über die prachtvolle Aral-Tankstelle von 1958 bis hin zur Aldi-Tüte – gehören gleichfalls zum Lieferumfang; ebenso einige wiederkehrende Ereignisse in der Spannweite zwischen Ruhrtriennale und Cranger Kirmes. Und natürlich hat auch die weltbekannte Dortmunder Südtribüne („gelbe Wand“) ihren gebührenden Auftritt – mit jener ebenfalls schon legendären Fotografie von Andreas Gursky.

Auch Großereignisse wie das „Stillleben“ (Vollsperrung des Ruhrschnellwegs über rund 60 Kilometer und Volksfest daselbst am 18. Juli 2010 – im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr) zieren den neuen Ruhrgold-Band. (Foto: picture alliance/ augenklick / firo Sportphoto)

Allenfalls zaghafte Kritik

Und wie fügt sich all das alles zueinander, welches Konzept steht dahinter? Nun, das allermeiste wirkt ziemlich „revierfromm“, es entspricht spürbar der fraglos positiven Sichtweise der RAG-Stiftung, die hinter dem monumentalen Buchprojekt steht. Und so ist immer wieder die Rede von Tradition, auf die man stolz sein könne und von zukunftsträchtiger Transformation zur „grünsten Industrieregion der Welt“, die bereits eingeleitet sei. Kritik ist nur sehr zaghaft vorhanden, eigentlich nur am kläglichen Zustand des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Diese Einsprüche dürften mehrheitsfähig sein.

Ansonsten ist es wie immer: Sobald man sich mit einer Materie (hier: Stadt) etwas besser auskennt, findet man auch Haare in der Suppe. Wohlan denn: Warum kommt eines der wohl wichtigsten Bauwerke der ganzen Region, die Dortmunder Westfalenhalle, überhaupt nicht vor? Und dann die etwas peinliche Sache mit dem Dortmunder Phoenixsee (Seite 357): Das Gewässer ist n i c h t, wie in der Bildzeile behauptet, auf dem Gelände eines früheren Bergwerks entstanden. Es war, wie wohl jedes Kind an den Gestaden der renaturierten Emscher weiß, ein Stahlwerk.

„Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets.“ (Das Ruhrgebiet in 500 Bildern aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). 700 Seiten mit lexikalischem Anhang sowie ausführlichem Orts- und Personenregister. Wienand Verlag, Köln. Gebundene Ausgabe 60 Euro, Luxus-Edition im Designschuber 180 Euro.

www.ruhrgold-das-buch.de

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P. S.: Schau’n wir spaßeshalber, wo die regionalpatriotische Publikation gefertigt worden ist: Verlag in Köln. Warum auch nicht? Dann aber: Gestaltung in Berlin. Graphik & Buchgestaltung in Freiburg. Druck in Italien (Vicenza). Waren diese Gewerke im Revier oder wenigstens in NRW nicht greifbar oder zu teuer?




Ruin der menschlichen Beziehungen – Johan Simons inszeniert O`Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ in Bochum

Szene mit (v.l.) Alexander Wertmann, Pierre Bokma und Guy Clemens. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Am Eingang wird das Publikum gewarnt. Laut werde es, aber nur am Anfang, kostenlose Ohrenstöpsel gibt’s am Stand mit den Programmen. Auf der Bühne dann, der eiserne Vorhang hat sich gehoben, ein weißes Haus mit Fenstern, Tür und Inneneinrichtung. Das steht da einfach so, minutenlang, während aus dem Off ein betörend schönes, langsames Blechbläsersolo ertönt.

Kommt gleich Till Brönner um die Ecke? Nein, aber völlig unvermittelt kracht das Häuslein ohrenbetäubend zusammen, und die Stöpsel, die man für die schöne Musik aus den Ohren gezogen hatte, haben einem überhaupt nichts genutzt.

Ein Haus stürzt ein

Der stimmige Simonsche Knalleffekt nimmt vorweg, was in den folgenden drei Stunden intensiv herausgespielt wird: Das Haus als zentraler Ort familiärer Geborgenheit, Sicherheit und Struktur ist ein Trümmerhaufen schon, bevor das Spiel beginnt. Intendant Johan Simons inszeniert im Schauspielhaus Bochum Eugene O’Neills Stück „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ als bedrückendes Tableau menschlicher Unzulänglichkeiten. Und warum es nicht hier schon sagen: Ein großartiger Theaterabend ist es geworden, getragen von Akteuren, denen die Berufsbezeichnung Schauspielkünstler (ein bedeutender Vertreter der Kritikerzunft verwendete sie besonders gerne) angemessen ist.

Elsie de Brauw als Mutter Mary (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Eine Künstlerin

Allen voran ist die Künstlerin zu nennen, Elsie de Brauw, die sich als morphiumsüchtige Mutter Mary in mitunter atemberaubende schauspielerische Intensität steigert, eins wird mit ihrer Rolle, wie man es in Inszenierungen der letzten Jahre kaum noch gesehen hat. Ein bißchen holländische Grundierung hört man bei ihr noch heraus, doch hat sie ihr Deutsch – so jedenfalls schein es dem Verfasser dieser Zeilen – in den letzten Jahren perfektioniert. Die holländische Sprachfärbung wirkt, so könnte man vielleicht sagen, wie ein leichter V-Effekt und tut der Erzählung gut. Außerdem agiert die zierliche Schauspielerin (Jahrgang 1960) mit einer Körperlichkeit, die man eher von einer Zwanzigjährigen erwarten würde. Man kann es nicht anders sagen: dieser Theaterabend ist ihr Abend, ein Erlebnis.

Szene mit (v.l.) Alexander Wertmann, Pierre Bokma und Konstantin Bühler. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Der Patriarch

Ein weiterer hoch zu preisender Akteur ist Pierre Bokma als ihr Mann, ein gleichermaßen brummeliger, düsterer, geiziger wie auch wichtigtuerischer und protziger Patriarch, ein Vater, auf den man sich nicht verlassen, auf den man nicht hoffen kann. Bokma ist eine kongeniale Besetzung für die Rolle des alten Schauspielers James Tyrone.

Die Familie hat Probleme

Ein bißchen Inhalt will noch erzählt werden, denn Inhalt gibt es schon, Handlung eher nicht. Die Familie des einstigen Bühnenstars James Tyrone – er, sein Frau Mary sowie die Söhne Jamie und Edmund – verbringen ihren Sommer im nebelumwaberten Ferienhaus am Ozean. Quasi sachliche Probleme sind die Morphiumsucht der Mutter, die nach der schweren Geburt des jüngeren Sohnes entstand, der Alkoholismus der drei Herren, die Schwindsucht Edmunds, die lieblose Entscheidung des Alten, ihn für mindestens ein halbes Jahr in eine öffentliche (statt private) Therapieeinrichtung zu stecken, um Geld zu sparen. Doch das alles wäre ja, wenn nicht lösbar, so doch besprechbar oder therapierbar.

Nicht mehr zu reparieren

Nicht zu reparieren aber ist der Totalruin der zwischenmenschlichen Beziehungen. Das vergiftete, lustvoll-zwanghaft betriebene Spiel mit Nähe und Distanz, Liebe und Destruktion, Verzeihen und Entwertung (und so weiter und so weiter) prägt den langen Tag. Die Eltern spielen es, und natürlich hat es die Kinder kaputtgemacht, und etwas Besonderes ist es gleich gar nicht. Jeder im Zuschauerraum kennt solche Familienverhältnisse, bei sich selbst, bei anderen. Und die Bühne kennt sie natürlich auch. Auch von vielen anderen Autoren.

Szene mit (v.l.) Guy Clemens und Pierre Bokma (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Die anderen

Bleibt die weiteren Mitwirkenden zu preisen, die sämtlich stark in ihren Rollen auftreten. Guy Clemens ist der ältere Bruder Jamie, dem das Stück eine in ihrer Ambivalenz geradezu bedrohliche Haß-/Liebeserklärung für seinen jüngeren Bruder Edmund (Alexander Wertmann) zugeteilt hat, furios und alkoholisch enthemmt gespielt. Der junge Edmund wiederum steigert sich beeindruckend im Streit mit seinem Vater, der ihn in die Billigklinik abschieben will. Konstantin Bühler als Diener (im Original ist übrigens ein Hausmädchen vorgesehen) und Django Gantz als von Mutter Mary im Morphiumrausch fast verführter Handwerker komplettieren die Besetzung.

Ein Sittenbild

Zum Ende des Stücks hin werden Selbsterklärungen verbindlicher, Zwiegespräche länger und intensiver, entsteht Raum für eine tragische Verständnisebene.  Johan Simon, der einen respektvollen Umgang mit der Vorlage pflegt, zeigt uns diese Entwicklung, legt aber gleichzeitig viel Gewicht auf die Anmutung eines eher stillstehenden Sittenbildes. Die Verhältnisse sind, wie sie sind. Und auch wenn alle unter ihnen leiden, werden sie nicht besser werden. Doch lange sah man diese Unzulänglichkeit nicht mehr so grandios auf die Bühne gestellt wie in dieser Inszenierung.

Einige Jahre, ist zu lesen, wird uns Altmeister Johan Simon (er ist jetzt 78) noch in Bochum erhalten bleiben, bis sein Nachfolger Nicolas Stemann 2027 antritt. Man darf gespannt sein, was er in dieser Zeit realisieren wird, mit seiner wunderbaren Art, „richtige“ Stücke mit viel Text und Spieldauer zu realisieren.

Großer Applaus.

  • Weitere Aufführungen
  • 11.Oktober
  • 30. Oktober

www.schauspielhausbochum.de




Erzählstoff überall – Judith Kuckarts „Die Welt zwischen den Nachrichten“

Jede(r) möge es für sich bedenken: Welche – mehr oder weniger vagen – Berührungspunkte hatte mein Leben mit der Sphäre der Nachrichten? Und was folgt womöglich daraus? Judith Kuckart schneidet derlei Fragen in ihrem neuen, autobiographisch grundierten Roman „Die Welt zwischen den Nachrichten“ keineswegs umweglos an, sondern vielschichtig, hintergründig, zuweilen auch irrlichternd.

Staunenswert, welche Zeitlinien bis in die westfälische Provinzstadt Schwelm reichten, in der Judith Kuckart am (west)deutschen Einheits-Feiertag (17. Juni 1959) geboren wurde. Da war etwa die Schwelmer Apothekertochter Ina, die öfter auf die kleine Judith aufgepasst hat und sich Jahre später in Berlin (im Gefolge des Attentats auf den Studentenführer Rudi Dutschke) links radikalisiert hat. Noch etwas später war sie auf Plakaten der RAF-Terrorfahndung zu sehen und dürfte sich danach in der noch real existierenden DDR versteckt haben. Womit ihre Geschichte noch nicht zu Ende war. Der „Deutsche Herbst“ ist überhaupt prägend gewesen: Als Judith Kuckart in Köln studiert, wird ganz in der Nähe der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt und bald darauf ermordet. Aber was ändern solche Koinzidenzen am täglichen Sein?

„Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“

Etliche Befunde und Annahmen über die Lebenswelt „zwischen den Nachrichten“ müssen in einem Roman erzählend überprüft und geformt werden. „Schreibe ich“, so lautet mehrfach das lakonisch innehaltende Zwischenfazit nach gewissen Erzählpassagen. Also kein blankes „So (und nicht anders) war es“, sondern „So ist es aus meiner Sicht gewesen“ oder noch skeptischer: „So könnte es gewesen sein“. Eigentlich, darauf läuft ein Hauptstrang des Buches hinaus, sind sowohl öffentliche als auch vermeintlich private Geschehnisse just Erzählstoff, der aus Buchstaben, Worten, Sätzen usw. besteht und sich hier wieder einmal zum Roman weitet. „Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“, heißt es schon auf Seite 57. Und kurz vor Schluss, auf Seite 186: „Am Ende gilt doch nur das Erzählen. Wer erzählt, kann Engel über Toronto fliegen lassen oder Möwen über den Bahnhof Zoo.“

Jegliches Menschenleben enthält exemplarische, aber auch scheinbedeutsame Vorfälle in Hülle und Fülle. Bei Lebensneugierigen wie Judith Kuckart steigern und verdichten sich die Kreuz- und Querbezüge wahrscheinlich. Jedenfalls werden sie ungleich schlüssiger erzählend verknüpft. Allerdings gilt erzählerische Distanz, denn: „(…) man weiß immer erst im Nachhinein, dass das, was man gerade erlebt, ein Stoff zum Erzählen ist. Denn wer sagt schon, Achtung, jetzt erlebe ich gerade eine Geschichte…“ Außerdem heißt es auf Seite 161, wie in Gedichtzeilen gesetzt:

„Das Seltsame an der Wirklichkeit ist
sage ich wieder und wieder –
dass jedes Ereignis auch ganz anders hätte stattfinden können.“

Eindrücke von Pina Bausch bis Pierre Brice

Nur mal ganz kursorisch aufgegriffen: Mit 15 Jahren taucht die tanzbegeisterte und dito begabte Judith ein einziges Mal inkognito beim nahe Schwelm gelegenen Wuppertaler Tanztheater der legendären Pina Bausch auf. Als Regisseurin und Tänzerin frönt die Schwelmerin später weiterhin der Tanzleidenschaft. Ihr Roman gliedert sich denn auch in eine Reihe von Theater-Kantinengesprächen. Nach dem Abi arbeitet sie vorübergehend in einer Lokalredaktion der Schwelmer Nachbarschaft und interviewt sogleich den Kino-Winnetou Pierre Brice. (Das erinnert mich, mit Verlaub, an meine Volontärzeit, die ein paar Jahre früher zeitweise in dieselbe Gegend – nach Gevelsberg – führte).

Die Eltern und sonstigen Vorfahren der Autorin kommen im Verlauf des Romans ebenso in Betracht wie eine Cousine, die mit zehn Jahren stirbt, die besonderen Frauen Ellen R. und Eva K., die Freundin „Bee“, die spiegelbildlich von ihren Vätern so benannten Judith Martina (also die Erzählerin) und Martina Judith, wodurch weitere biographische Vexierbilder entstehen. Liebhaber scheinen hingegen eher Randerscheinungen zu bleiben, zumindest treten sie nicht ins literarische Rampenlicht. Hier geht es vor allem ums Frauenleben – bis hinab zu den schauderhaften Abgründen einer erlittenen Vergewaltigung.

Heidegger und Genazino, nahezu geisterhaft

Judiths Vater Leo brachte es realiter vom Waschmaschinen-Vertreter bis zum CDU-Landtagsabgeordneten. In diesem Zusammenhang ist die kleine Judith einmal mit Franz Josef Strauß fotografiert worden. Als Kind mit ihren Eltern im Schwarzwald-Urlaub, sieht sie aus der Ferne schemen- und geisterhaft den steinalten Martin Heidegger, natürlich ohne Näheres über ihn zu wissen. Später haben u. a. der Schriftsteller Wilhelm Genazino und der Polyhistor Alexander Kluge ihre kurzen Auftritte, wobei Genazinos Part seltsam gespenstisch anmutet.

Und die große Historie, die Welt der Nachrichten? Seitdem die Autorin in Berlin lebt (wo sie anfangs Filmkritikerin beim „Tagesspiegel“ war), ergeben sich Geschichts-Ablagerungen wie von selbst, nicht zuletzt durch Erlebnisse des Zeitenwandels beim Transit in die DDR anno 1976, 1983, 1986 und dann nach der „Wende“. Damit können Schwelm oder Dortmund (wo die Autorin so manchen Kindheitssommer verbracht hat) denn doch nicht mithalten.

Schließlich finden sich solche Zitate, die man sich einfach zum Nachsinnen notieren sollte, um bald einmal darauf zurückzukommen: „Sie ist darauf gefasst, dass das Unglück so selbstverständlich ist wie der Tod und keine Sprache hat.“ – „Wir sitzen zu dritt in unserer Kindheit herum…“ – Oder jene (wiederum im lyrischen Zeilenfall aufscheinenden) aphoristischen Schlussworte:

Nicht wichtig
ist
was man aus uns gemacht hat
wichtig ist
was wir aus dem machen
was man
aus uns gemacht hat.

Judith Kuckart: „Die Welt zwischen den Nachrichten“. Roman. DuMont- Verlag, Köln. 190 Seiten, mit ca. 25 Schwarzweiß-Fotos. 24 Euro. 

 




Gruppendynamische Selbstbeschau – „Spiegelneuronen“ in Salzburg

Irritierende Spiegelungen des Publikums – Szene aus „Spiegelneuronen“ bei den Salzburger Festspielen. (Foto: SF / Bernd Uhlig)

Der Vorhang hebt sich, sofort geht ein Raunen durchs Publikum. Der Bühnenraum ist durch einen riesigen Spiegel verstellt, der jeden Zuschauer und jede seiner Bewegungen und Gefühlsausdrücke offenlegt. Wenn jemand seinem Ebenbild zuwinkt und dabei fröhlich grinst, machen bald auch (fast) alle anderen das nach. Wenn jemand mit den Armen rudert oder eine Wellenbewegung andeutet, wird schnell (fast) die ganze Menschenmenge zu einem sanft wogenden Einheitskörper.

Wenn jemand mit seinem Handy leuchtende Kreise formt, wird (fast) der ganze Saal zur sich selbst bespiegelnden Fangemeinde. Wenn jemand es nicht mehr auf den harten Holzstühlen aushält und zu den aus dem Off dröhnenden Rhythmen seinen Körper in Wallungen bringt, wird schlagartig (fast) das ganze Theater zum schweißtreibenden Dancefloor. Mitmachen ist das Motto des Moments. Empathie das oberste Gebot. Einfach mal das Gehirn ausschalten und sich den Synapsen der Abertausenden Nervenzellen überlassen, die uns zu Handlungen verführen, von denen unser Bewusstsein gar nichts weiß. Wer will, wo so viele Menschen sich ausgelassen selbst bespiegeln und zu einem ununterscheidbaren Menschenklumpen mutieren, noch abseits stehen und den Spielverderber geben?

„Dokumentarischer Tanzabend mit Publikum“

Die international gefeierte Tanz-Compagnie von Sasha Waltz und das für seine szenischen Interventionen bekannte Theater-Kollektiv Rimini Protokoll, das mit dokumentarischen Recherchen auch mehrfach in Mannheim und Heidelberg für Furore sorgte, hat sich für die Salzburger Festspiele ein ebenso faszinierendes wie befremdliches Kunst-Projekt ausgedacht: „Spiegelneuronen“ nennen sie ihren „Dokumentarischen Tanzabend mit Publikum“.

Getanzt im Sinne eines theatralisch-künstlerischen Körper-Ausdrucks wird allerdings nicht. Sasha Waltz und ihre Mitstreiter mischen sich lässig unters Publikum und animieren es zu gymnastischen Verrenkungen, kuriosen Blödeleien und absurden Imitationen. Der Mensch möchte gern ein unverwechselbares Individuum sein, ist aber doch ein Herdentier. Will geliebt sein und hat Angst, aus der Gemeinschaft  ausgestoßen zu werden. Das ist, sagt uns eine Stimme aus dem Off, genetisch bedingt: Wurde man von seinem Stamm aus der Höhle geworfen, kam das einem Todesurteil gleich.

Erklärstimmen aus Psychologie und Soziologie

Die erklärenden Stimmen von Neurologen, Psychologen und Soziologen begleiten die theatralische Versuchsanordnung, bei der das Publikum selbst zum Akteur und Gegenstand des Interesses wird. Mehr als ein paar Gemeinplätze kommen aber nicht zu Gehör. Dass der Mensch durch Nachahmung lernt und sich ständig in einem Konflikt zwischen Anpassung und Aufruhr befindet, dass unsere Gefühle oft verrückt spielen und unser Handeln nicht zu unserem Denken passt, wussten wir schon vorher. Auch dass wir gern Teil einer Gruppe sind, obwohl wir auf unsere Selbständigkeit pochen, war uns nicht unbekannt. Müssen wir, um daran erinnert zu werden und uns bei der Selbst-Bespiegelung auch ein wenig lächerlich zu machen, wirklich ins Theater gehen?

Für Rimini-Protokoll-Konzeptkünstler Stefan Kaegi, der diesmal für Regie und Konzept verantwortlich zeichnet, ist die Antwort klar. Für das Theater interessiert er sich sowie nicht: „Das eigentliche Schauspiel findet in der Diskussion danach als zentrales Element gemeinsamen Erlebens statt.“ Statt wie sonst in ihren Dokumentar-Recherchen Theater-Laien als „Experten aus der Wirklichkeit“ auf die Bühne zu bringen und alte und neue Texte aus der Sicht von „Alltags-Experten“ neu zu verhandeln, wird jetzt das Publikum selbst zum Zentrum der Aufführung.

Wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt

Selbst wenn man (wie der Verfasser dieser Zeilen), das ganze Treiben kopfschüttelnd beäugt und eher abgestoßen davon ist, wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt, entwickelt der Abend doch auch einen optischen und akustischen Reiz. Gelbe Luftballons schweben durch den Raum und befördern den kindlichen Spieltrieb. Grelle Scheinwerfer suchen sich einzelne Personen und beleuchten, wer sich wohl fühlt im Gruppengemenge oder am liebsten fliehen möchte. Gemeinsam mit den Armen wedeln und herumzuhopsen und sich dabei über sein Spiegelbild zu wundern, ist für die meisten in Ordnung. Dem Vorschlag aber, den fremden Sitznachbarn zu berühren und Körpergrenzen zu überschreiten, mag nicht jeder nachkommen.

Den unterhaltsamen und neckischen, aber auch ziemlich überflüssigen Abend beschließt der Radiohead-Song „Creep“: ein Widerling („creep“) ist in ein wunderschönes, unnahbares Mädchen verliebt. Der „Spinner“ („weirdo“) würde so gern auch einen perfekten Körper haben, fragt sich aber: „What the hell am I doing here?“ Ja, was mache und was will ich eigentlich hier in diesem Theater der Selbstbespiegelung?

„Spiegelneuronen“, Salzburger Festspiele (Deutschlandpremiere am 29. August im Radialsystem Berlin).

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Zur deutsch-schweizerischen Künstlergruppe Rimini Protokoll gehören Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel.

Rimini Protokoll entwickelt theatralische Interventionen und szenische Installationen, bei denen Laien auftreten, die keine Dramen-Texte spielen, sondern sich selbst als „Experten aus der Wirklichkeit“ und „Alltags-Spezialisten“ mit ihrer Biografie einbringen.

In der Kunsthalle Mannheim haben sie die Installation „Urban Nature“ (2022) gezeigt, im Heidelberger Kunstverein die Ausstellung „Drei Fliegen mit einer Klappe“ (2010).

Mit ihrer Version von „Wallenstein“ (2005) waren sie bei den Schillertagen in Mannheim, auch „Call Cutta in a Box“ (2008) haben sie als „Interkontinentales Telefonstück“ im Nationaltheater Mannheim inszeniert.

 

 




Zwischen Brontë und O’Neill – Schauspielhaus Bochum kündigt Programm für 2024/2025 an

Der Intendant des Bochumer Schauspielhauses Johan Simons und Chefdramaturgin Angela Obst präsentierten das Programm der kommenden Spielzeit (Foto: Daniel Sandrowski/Schauspielhaus Bochum)

„Ausgewogen“ – hartnäckig setzt sich das Wort fest und lauert auf Wiederaufruf, wenn man sich das Programm des Schauspielhauses Bochum für die kommende Spielzeit durchliest. Dreimal werden Stücke inszeniert, viermal ist Literatur die Vorlage; viermal richtet sich das Angebot an Kinder und Jugendliche, vier projektartige Produktionen schließlich kreisen um die Themenfelder Ökologie, Frieden, KI. Der Rest ist unterschiedlich zuzuordnen.

Abhängig von den Zuordnungen kann man auch zu anderen Zahlen kommen, jedenfalls ist für jeden (und jede!) etwas dabei. Und einmal mehr ist man dem Hausherrn Johan Simons dankbar dafür, daß er in Zeiten, in denen „Rechtspopulist*innen immer mehr Zuspruch“ erhalten, sein Theater nicht zur dumpfen Trutzburg gegen nämliche macht. Politisch ist sein Theater gleichwohl, weil es immer politisch ist, wenn es seriös gemacht wird.

Zwei Regiearbeiten für den Chef

Die beiden Regiearbeiten jedenfalls, die der 78-jährige Chef sich selbst vorgenommen hat, zeigen wohltuende Distanz zur Tagesaktualität. Zum einen will er Eugen O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ herausbringen (27. September), laut Programmbuch „eine Familientragödie, in Whiskey getränkt“; zum anderen hat er die Erfolgsautorin Elena Ferrante für sein Theater entdeckt und wird die Bände 1 bis 5 ihrer „neapolitanischen Saga“ zum Stück „Meine geniale Freundin“ verarbeiten (24. Januar 2025).

Wir warten auf Godot

Alles Weitere sollen die Kollegen richten. Becketts „Warten auf Godot“ war eigentlich schon für die jetzige Spielzeit vorgesehen, mußte aber verschoben werden. Nun ist die Premiere dieser Regiearbeit von Ulrich Rasche für den 6. September vorgesehen. Drittes „richtiges“ Schauspiel auf der Agenda schließlich ist Brechts „Trommeln in der Nacht“, Regie Felicitas Brucker (11. April 2025).

Romane auf der Bühne

Weiter geht es mit den – man will immer Literaturverfilmungen sagen, aber was wäre richtig? Inszenierungen vielleicht? Also Literaturinszenierungen. Lies Pauwels wird sich recht freihändig dem Werther widmen (Untertitel, wie passend: „Love and Death“, Premiere 1. November 2024). „Sturmhöhe“ heißt die Produktion nach dem gleichnamigen Roman Emily Brontës, die Claudia Bossard realisieren wird. Es ist ihre erste Regiearbeit am Schauspielhaus Bochum, sie gilt als Expertin für komplexe literarische Texte, verwandelt sie in eindrucksvolle Bilder und atmosphärische Szenen. Da muß man gespannt sein. Schließlich steht in der Literaturabteilung noch Kästners „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ auf dem Zettel, eine Koproduktion mit der Folkwang Universität der Künste in der Regie von Thomas Dannemann (31. Januar 2025).

Stücke für Kinder und Jugendliche

Bei den Arbeiten für ein junges Publikum wirken schon die Titel selbsterklärend, „Vier Piloten“, „S.U.P.E.R. Superheld*innen in eurem Klassenzimmer“, „Das NEINhorn“… Schließlich die Befassung mit aktuellen Themen. Wenn es um „Künstliche Intelligenz – KI“ geht, heißt die Veranstaltung, köstlicher Scherz, „Frankenstein“, (18. Oktober), „Exit Hambi – Ein Escape Room zur Rettung der Welt“ nimmt – richtig! – Bezug auf den Hambacher Forst und wird, eigentlich etwas befremdlich, vom Bund gefördert (3. Mai 2025). „Gundhi“ schließlich – die Schreibweise ist gewollt, im Namen ist eine Schußwaffe (engl. gun) versteckt – ist eine Produktion von De Warme Winkel aus Holland, die kritisch fragt, was uns der Frieden wert ist.

Illustre Gäste

So viel zum Bochumer Programm in Kürze, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Außerdem kommen einige sehr attraktive Gäste: Max Goldt, Frank Goosen, Lars Eidinger u.a. Und Norbert Lammert, ehemals Bundestagspräsident und bekennender Bochumer, wird im Format „Ein Gast. Eine Stunde“ wieder sehr persönliche, spannende Vieraugengespräche führen.




Schuld sind immer die anderen – zweimal jugendliches Schicksal bei den Ruhrfestspielen

Szene aus „The Silence“: Dimitrij Schaad gibt den Autor und Regisseur Falk Richter. (Foto: Gianmarco Bresadola / Schaubühne Berlin / Ruhrfestspiele)

Das Schauspiel-Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele ist, sagen wir mal: vielfältig. Für alle ist was dabei, derzeitige politische Pflichtthemen werden artig abgearbeitet, auch Solistisches ist dazwischen. Doch Begeisterung will sich nicht recht einstellen.

Das hat natürlich wesentlich damit zu tun, daß fast alle Produktionen vorher schon hier und da zu sehen waren, kritisiert, eingeordnet und abgehakt wurden. Warum sollte man genauer noch hinsehen, wenn schon die Kritik abriet? Der Autor dieser Zeilen jedenfalls, der sich oft lieber an alte Theaterzeiten erinnert statt dem Neuen entgegenzufiebern, wähnte sich nur selten in der Notwendigkeit, einmal persönlich reinzuschauen bei den Ruhrfestspielen.

Mit Eidinger und Brecht

Gut, ich war bei Eidinger. Schnell will man sagen, wie wahnsinnig, wie irre er ist, aber das sind Stanzen, die eigentlich gar nichts bedeuten. Wenn stattdessen aber Vokabeln wie „intensiv“ oder „nuancenreich“ ins Spiel kommen ist klar, daß diese blaß und unzulänglich sind. Aber Besseres fällt mir im Moment nicht ein. Eidinger ist eben ein Erlebnis, ganz präsent, dünnhäutig, verletzlich, aber auch verführerisch, schelmisch. Zudem ist er ein Schauspielkünstler mit ausgeprägter Tagesform, ganz genau weiß man nie, was einen erwartet. In Recklinghausen, wo er, mit musikalischer Begleitung, aus Bertolt Brechts „Hauspostille“ las und sang, war er gut beieinander, und mit dem Vortrag von Stücken aus der Dreigroschenoper schuf er Momente beglückender Nähe. Brecht, Dreigroschenoper, das sind Ortsmarken dramatischer Sozialisation. Aber um Lars Eidinger soll es hier eigentlich gar nicht gehen.

Diese unheimliche Ruhe

Gesehen habe ich „The Silence“ von Falk Richter und „Die Wut die bleibt“ nach dem Roman von Mareike Fallwickl. Fangen wir mit Richter an. Sein Stück erlebte die Erstaufführung „in neuer Version“ im November 2023 an der Berliner Schaubühne, eine erste Adresse im Land. Richter, umtriebiger Theatermann, ist unter anderem und insbesondere Leitender Regisseur an den Münchener Kammerspielen. Seine „Silence“ wird als autobiographisches Einpersonenstück gegeben, Dimitrij Schaad schlüpft in des Autoren Rolle; einige Male ist aber auch Herr Richter selbst zu sehen, in Filmeinspielern, wenn er seine alte Mutter befragt. Denn darum geht es: Um die unheilige Ruhe (daher der Titel), die Richter als Heranwachsender bei seinen Eltern fand, um schmerzlich empfundene Kommunikationsverweigerung.

Die Mutter hat viel durchgemacht

Es geht um das Schweigen des Vaters, der sehr spät aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte und sich in seiner Alt-Familie nicht mehr zurechtfand, der pausenlos fremdging (was für ein Wort…), früh starb und von seiner Frau – Falk Richters Mutter – in den Tod gepflegt wurde. Vor allem aber geht es Richter um die Mutter selbst, die aus Westpreußen flüchten mußte, so wie viele andere Flüchtlinge schrecklichste Dinge erlebte, viel zu früh schwanger wurde, die Schule nie beenden konnte, keinen Beruf erlernen konnte, später den sehr viel älteren Ehemann ertragen mußte und die über all das hinweggeht, als wäre es nichts. Der prügelnde Mann durfte nie ein Thema sein, die Homosexualität des Sohns wurde ignoriert, Verleugnung und Totschweigen wurden früh schon Zentralbegriffe in der Beziehung von Mutter und Sohn. Gleichzeitig aber kontrollierte sie ihn, spionierte ihm nach, las Briefe und Tagebuch. Und so weiter.

Viele Vorwürfe

Richter nun, und das ist so etwas wie der „Aufhänger“ für seine Recherchen, nimmt an sich wahr, daß er die verleugnenden wie zwanghaft kontrollierenden Verhaltensweisen seiner Mutter zunehmend zu übernehmen scheint, und das will er durch akribisches Aufarbeiten seiner Vergangenheit für sich thematisieren. Es ist viel Vorwurf in den eingespielten Filminterviews, und das eine oder andere, was der Sohn der Mutter vorwirft, muß sie auch eingestehen. Aber es ist auch ein etwas unredlicher Ton in alledem.

Tröstliche Massenszene im Stück „Die Wut, die bleibt“ vom Schauspiel Hannover. (Foto: Kerstin Schomburg, Staatstheater Hannover, Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Trauma

Neues in einem quasi nachrichtlichen Sinn hat Richter nicht zu erzählen. Krieg, Vertreibung, Kriegs-gefangenschaft usw. haben viele Millionen Menschen traumatisiert, zahlreich sind die Berichte, umfangreich ist die Forschung. Auch das Phänomen der transgenerativen Traumata (also sozusagen die Fortschreibung unbewußter Traumaerfahrung über Generationen hinweg), das Richter zunehmend an sich wahrnimmt, ist wissenschaftlich recht gut beschrieben und untersucht. Lediglich irritiert, daß es hier einen Mann vom Jahrgang 1969 trifft. Die Auseinandersetzung muß dann ja in den 80er, 90er Jahren stattgefunden haben, als alles schon viel freier, toleranter, besprechbarer war als in den muffigen Sechzigern. Jedenfalls nach der eigenen Erinnerung.

Ein bißchen undankbar ist er schon

Nun, das Leben ist kein Ponyhof, sondern eigentlich immer eine Abfolge von Hochs und Tiefs, von schwachen und von starken Phasen, und bevor der Schwadroniermodus sich voll entfaltet, machen wir lieber einen Punkt. Jedenfalls befremdet, wie Richter seinen Eltern und in Sonderheit seiner noch lebenden Mutter alle Defizite vorwirft, die ihm für seinen Lebensweg vorgeblich aufgepackt worden sind. Da wird eine Vollversorgungsmentalität erkennbar, die zu geißeln ist. Warum ist er dieser Frau nicht einfach dankbar dafür, daß er mit ihrer Hilfe wurde, was er ist? Er sollte mit Demut und Respekt vermerken, daß er eben auch einiges abbekommen hat von ihrer Stärke, ihrer Strukturiertheit, ihrer Resilienz.

Verprügelt

Doch für Richter scheint nicht nur die Mutter in der Bringschuld zu sein, sondern die ganze Gesellschaft, die, im Grunde ein etwas fahriger Exkurs innerhalb des Stücks, dem Schwulen die Hilfe verweigert, wenn er zusammengeschlagen wird. Zur erregt erzählten Episode laufen über den Bühnenhintergrund Filmbilder aus einer Eigenheimgegend, wo, so soll man es wohl deuten, die Spießer und die Schwulenfeinde leben. Und man hat den Eindruck, daß es den übrigens hinreißend agierenden Dimitrij Schaad auf der Bühne etwas irritiert, als niemand klatscht, wenn er wütend und wortreich die Leiden der LGBTQ-Menschen beklagt. Für die Recklinghäuser gehört seine Wutrede wohl einfach zum Stück, man fühlt sich nicht sonderlich agitiert. Und denkt sich vielleicht, daß auch Heteros Opfer von Gewalttaten werden, es ist eigentlich mehr eine Frage des Alters als der sexuellen Orientierung.

Was einem eigentlich zusteht

Vorwurfsvolles Einfordern von Benefits, die einem eigentlich zustehen und die einem von der Gesellschaft, den Müttern, den alten weißen Männern oder wem auch immer vorenthalten werden – so könnte man vielleicht die mentale Grundierung umschreiben, die Richters „The Silence“ ebenso eigen ist wie dem anderen Stück dieses Wochenendes: „Die Wut die bleibt“, Gastspiel des Schauspiels Hannover, uraufgeführt im August 2023 in Salzburg. Stück wie Roman beginnen mit dem suizidalen Balkonsprung Helenes, Mutter dreier Kinder. Es war alles zu viel für sie. Und das Leben geht weiter, nur wie? Eine treu sorgende Nachbarin ist im Spiel, ihr Lover, Helenes Witwer, vor allem aber die 15jährige Tochter, die sich in ihrer schmerzlichen Orientierungslosigkeit einer gewalttätigen Mädchenbande anschließt. Man muß um sie fürchten.

Die Nachbarin und ihr Lover (Foto: Kerstin Schomburg, Staatstheater Hannover, Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Vergewaltiger verprügeln

Der Selbstmord der Mutter wie auch die Unterdrückung der Frau zu allen Zeiten und in nahezu allen Lebenslagen sind der Humus, auf dem die „feministische“ Wut der 15-Jährigen gedeiht. Die Mädchengang verprügelt Männer, die es verdient haben, Gewalttätige, Vergewaltiger. Und wenn auch klar ist, daß diese Form von Selbstjustiz manchmal die Falschen trifft, hat die Inszenierung von Jorinde Dröse viel Freude daran, das Motiv der gesellschaftlichen, allgegenwärtigen Frauenfeindlichkeit breit auszuwalzen. Hier, im ungehemmten Anpassen der Realität an die ideologischen Erfordernisse, ähnelt das Stück ein wenig jenem Richters. Episodisches, wie es der Freitod der Mutter in all seiner Tragik letztlich doch ist, wird absolut gesetzt, unterschiedslos alle Frauen sind benachteiligt und überfordert, großes Unrecht widerfährt ihnen. Immerhin wird mit großer Einsatzfreude eine äußerst anstrengende, weil auf zwei Etagen gelegene Kulisse bespielt, und was in Sonderheit die Mädels von der Gang tänzerisch bringen, nötigt einem dann doch Respekt ab. Gleichwohl: Das hier ist Jugendtheater, mit behutsamer Introduktion eventuell unterrichtstauglich, als Impuls. Dramatisch hingegen blaß.

Kein erkennbares Interesse an Charakteren

Krude Wokeness also, alles in allem? Nein, das ja nun auch wieder nicht. Doch scheint dem Theater, häufig jedenfalls, das Interesse am Individuum verlorenzugehen. Dabei war das doch früher der Markenkern dieser Institution, interessante Charaktere zu erschaffen und mit ihrer Hilfe, ein bißchen jedenfalls, die Welt zu erklären. Auf dem Programm der Ruhrfestspiele steht demnächst „König Lear“ von Shakespeare, eine Regiearbeit Jan Bosses am Hamburger Thalia-Theater. Wolfram Koch spielt die Titelrolle. Das Programmbuch preist „prächtiges Schauspieler:innentheater“ an. Bleiben wir also zuversichtlich.

www.ruhrfestspiele.de




Ruhrtriennale will Lust auf Zukunft wecken

Szene aus „Pferd frisst Hut“ nach Eugène Labiche mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: © Thomas Aurin / Theater Basel / Ruhrtriennale)

Man muss schon sehr tief in die jeweilige kreative Materie eindringen, um solche Kombinationen und Mischformen zu realisieren, wie es auch bei der kommenden Ausgabe der Ruhrtriennale wieder geschehen soll: Unter dem neuen Dreijahres-Intendanten, dem renommierten belgischen Theatermacher Ivo Van Hove (er amtiert bis 2026 im Revier), sollen beispielsweise Lieder von Edvard Grieg inszenatorisch mit Rock-Energie aufgeladen oder Chorwerke von Anton Bruckner mit Songs der Isländerin Björk in elektrisierende Verbindung gebracht werden. Da horcht man doch jetzt schon auf und wünscht gutes Gelingen!

Ivo Van Hove, der bereits in früheren Triennale-Zyklen als Gastregisseur fünf Inszenierungen beigesteuert hat (davon drei unter der Intendanz von Johan Simons), erinnerte sich zu Beginn der heutigen Programm-Pressekonferenz an seine künstlerischen Anfänge. Damals, in seinen frühen Zwanzigern, habe er fast alles langweilig gefunden, was sich seinerzeit in (belgischen) Theatern begab. Die nachhaltige Inspiration kam dann mit Produktionen in verlassenen Hallen am Hafen von Antwerpen – ein Szenario, wie es dann eben vergleichbar die 2002 begründete Ruhrtriennale in aufgelassenen Fabrikgebäuden erschlossen hat. Insofern fühlt sich die neue Aufgabe für Van Hove wie ein Heimkommen an.

Hauptrolle für Sandra Hüller

Ivo Van Hove, der neue Intendant der Ruhrtriennale. (Foto: © Thomas Berns)

Die Industriebauten sind denn auch bereits der wesentliche Beitrag des Ruhrgebiets zur rund 17 Millionen Euro schweren Triennale, die sich (verdichtet auf die Zeit vom 16. August bis zum 15. September) 2024 auf die Städte Bochum, Duisburg und Essen konzentriert. Ansonsten spricht man liebend gern Englisch und vergibt auch die meisten Produktionstitel in dieser Weltsprache, die eben immer noch nicht allen „Ruhris“ total geläufig sein dürfte. Es beginnt schon mit der Eröffnungs-Inszenierung am 16. August, die Ivo Van Hove selbst übernimmt: „I Want Absolute Beauty“ (Ich will absolute Schönheit) handelt (nicht nur) von weiblicher Selbstverwirklichung und wird durch Songs von PJ Harvey in Bewegung gesetzt. Van Hove stellt eine neue Form von Musiktheater in Aussicht, mit der er auch neues Publikum anlocken möchte. Die Hauptrolle spielt und singt die auch international hochgelobte Sandra Hüller. Schon das ist ein Signal erster Güte.

Auch das Motto des ganzen Veranstaltungsreigens lautet Englisch: „Longing for Tomorrow“ (etwa: Sehnsucht nach Zukunft). Noch ein Beispiel für die vorherrschende Anglophilie: „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“, ein Abend über queeres Selbstbewusstsein und die sanfte Kraft der Gewaltlosigkeit. Um etwaige Missverständnisse auszuräumen: „Faggot“ ist ein Slangwort für Schwule und hat nichts mit einem ähnlich geschriebenen Musikinstrument zu tun. Weitere Produktionen, die wir hier nicht weiter auffächern können und wollen, nennen sich „One One One“, „Pump Into the Future Ball“ oder auch – gedacht für unter sechsjährige Menschen – „Little Ears, Tiny Feet“…

Immerhin ein Titel ist französisch: „Bérénice“, 1670 uraufgeführte Tragödie von Jean Racine, kommt als Einpersonendrama zur Triennale. Es spielt ein Weltstar des Theaters und Kinos, nämlich die unvergleichliche Isabelle Huppert.

Isabelle Huppert als Racines Tragödiengestalt „Bérénice“ (Foto: © Alex Majoli)

Ganz ohne waltenden Zeitgeist geht es natürlich auch bei der Triennale nicht. Da wird vielfach schwarze Geschichte aufgerufen, zudem werden queere Identitäten „sichtbar gemacht“. Im breiten Themenspektrum finden überdies Natur und Klima ihre gebührenden Plätze. Schließlich sind einige Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine an diversen Projekten beteiligt.

„Slapstick-Operette“ mit Grönemeyers Musik

Die hauptsächlichen Schwerpunkte liegen auf allerlei Musiktheater-Mischungen mit mehr oder weniger kühnen Grenzüberschreitungen zwischen so genannter „E-Musik“ und Rock. Eine ganz spezielle Darbietung rankt sich um 16 Songs von Herbert Grönemeyer (!). Die Chose wird als „erstes deutsches Slapstick-Operetten-Musical“ angepriesen, wobei „Herbie“ gar in die Nähe eines Rossini gerückt wird. Die turbulente Handlungs-Vorlage stammt jedenfalls vom Komödien- und Farcenschreiber Eugène Labiche und heißt „Ein Florentinerhut“. Der Triennale-Titel des ziemlich schräg anmutenden Projekts lautet „Pferd frisst Hut“. Wohl bekomm’s.

Dermaßen vielfältig kommt die nächste Triennale-Ausgabe daher (u. a. auch mit  Tanzproduktionen, Bildender Kunst, Autorenauftritten und Filmen), dass man sich möglichst die Programmdetails im Internet-Auftritt anschauen oder aber gleich das Programmbuch besorgen sollte. Der Vorverkauf der rund 40.000 Tickets hat unterdessen bereits heute (15. April) begonnen. Wer zuerst kommt…

Ruhrtriennale: 16. August bis 15. September 2024 in Bochum, Essen und Duisburg.

Kartenverkauf:

Ticket-Hotline: 0221/28 02 10 (Mo-Fr 8-20, Sa 9-18, So 10-16 Uhr) www.ruhrtriennale.de/de/tickets




Zwischen Bühne und Familie – Jörg Hartmanns Chronik „Der Lärm des Lebens“

Gibt es überhaupt noch Fernsehprominenz ohne Buchveröffentlichung? Schwerlich. Jetzt ist endlich auch Jörg Hartmann (weithin bekannt als Dortmunds zur Depression neigender „Tatort“-Kommissar Faber) an der Reihe.

Bei seinem Buch „Der Lärm des Lebens“ handelt es sich um eine streckenweise sehr nachdenklich und zuweilen melancholisch, zwischendurch aber auch süffig erzählte Autobiographie. Eine lebensnahe Mixtur also, die vom etwas aufdringlichen Titel (Stichwort „Lärm“) gar nicht so recht erfasst wird.

Zungenschlag des östlichen Ruhrgebiets

Der 1969 im westfälischen Hagen geborene Hartmann ist im eher beschaulichen Herdecke bei Dortmund aufgewachsen. Wann immer er auf diese Vergangenheit zurückblickt oder spätere Besuche bei den Eltern schildert, gibt er die Dialoge in der charakteristischen Mundart des östlichen Ruhrgebiets wieder. Dabei stimmt nicht nur der Zungenschlag, auch die „Seele“ des Gesprochenen und der Sprechenden kommt glaubhaft hervor. Als in Dortmund aufgewachsener Mensch kann ich’s bezeugen. Stellenweise erzählt Hartmann auch hinreißende Dönekes mit Revier-Anklang: Wer hat denn nur einst die „Eier“ am Pferd des Kaiserdenkmals auf Dortmunds Hohensyburg poliert? Hier erfährt man’s. Übrigens haben zeitweise auch Roy Black und – viel später – Jürgen Klopp in Herdecke gelebt. Hätten Sie’s gewusst?

Zur Sache: Die zeitlich hin und her pendelnde Handlung setzt mit einem großen Traum des jungen Mannes ein, der dringlich bei der großen Regisseurin Andrea Breth an der Berliner Schaubühne vorsprechen und möglichst engagiert werden will. Wie das abläuft, wird hier nicht verraten. Zu jener Zeit ist Stuttgart Hartmanns Lebensmittelpunkt, die Alternativen am Theater heißen Wuppertal und Meiningen. Als dann noch der Mauerfall hinzukommt, erscheint Berlin demgegenüber noch attraktiver. Man kann’s nachvollziehen, wenn auch die Berlin-Schwärmerei mitunter ein wenig nervt.

Theater-Laufbahn mit Umwegen

Ein Umweg der Laufbahn führt über die Münchner Kammerspiele, wo Hartmann die Bühnen-Granden Thomas Holtzmann und Rolf Boysen um Beihilfe, Zuspruch und Fürsprache bitten möchte. Holtzmann ist quasi unansprechbar, Boysen erteilt immerhin telefonisch knappen, aber weisen Rat. Derweil wittert der gleichfalls schon etablierte Ulrich Matthes in seinem vermeintlichen „Doppelgänger“ Hartmann (nanu?) offenbar unliebsame Konkurrenz. In Berlin wird ihm Hartmann abermals begegnen…

Bis Jörg Hartmann tatsächlich eines Tages an der Schaubühne (ab 1999 unter Leitung von Thomas Ostermeier) reüssiert, dauert es seine Zeit. All die vorherigen Fährnisse lassen ahnen, dass der Berufseinstieg junger Schauspieler(innen) wahrlich mühselig ist und nicht nur vom Talent, sondern auch von Glücksumständen abhängt. Ohnehin hadert Hartmann auch hernach immer mal wieder mit der Profession, die ihn geradezu aufzufressen droht. Heute Lyon oder Brüssel, morgen Prag, irgendwann auch ein Gastspiel in Shanghai. Da kann man sich durchaus verlieren. Und das Privatleben leidet auch erheblich.

Pommesbude nach Feierabend

Ein zweiter Handlungsstrang ist Hartmanns Familie gewidmet, besonders seinen Eltern und hier wiederum vornehmlich dem Vater, der mit fortschreitendem Alter an Demenz leidet und vor der Zeit stirbt. In Herdecke und darüber hinaus war der Vater (Handwerksmeister im Stromwerk, phasenweise nach Feierabend Betreiber einer Pommesbude, außerdem bestens vernetzter Handball-Freak) bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund, was Jörg Hartmann mit einigen Anekdoten zu unterfüttern weiß.

Zunehmend rücken auch Hartmanns Frau und die drei Kinder in den Blickpunkt, womit die Handlung (seine Großeltern inbegriffen) vier Generationen umfasst, was wiederum zeitgeschichtliche Bezüge mit sich bringt – bis hin zur Gehörlosigkeit der Großeltern, die schon allein wegen dieses Leidens unter bedrohlicher Beobachtung der Nazis standen.

Es mag keine große, wortmächtige Literatur sein, die Jörg Hartmann verfasst hat, doch ist es eine durchaus achtbare Chronik der laufenden Ereignisse aus dem Bühnen- und Familienleben. Ein Gipfelpunkt wird, wie es sich wohl gehört, gegen Ende erreicht, als Hartmann eine blasierte Kita-Party bei stinkreichen Eltern in Berlin beschreibt. Da freut man sich inständig, dass man nicht dabei sein musste.

Jörg Hartmann: „Der Lärm des Lebens“. Rowohlt Berlin. 300 Seiten. 24 Euro.

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Lesungen (Auswahl – Einzelheiten bitte per Suchmaschine o. ä. ermitteln)

12. März Berlin (20 Uhr)
14. März Dortmund (19.30 Uhr / ausverkauft)
21. März Leipzig (10, 11, 15, 17 und 20.30 Uhr – Buchmesse)
6. April Münster (20 Uhr)
7. April Unna (18 Uhr)
11. April Gladbeck (19.30 Uhr)
13. April Menden (19 Uhr)
9. Juni Herdecke (18 Uhr)
29. Juni Essen (20 Uhr)




„Vergnügen und Verlust“ – Ruhrfestspiele präsentieren Programm 2024

Stefanie Reinsperger in der Titelrolle von Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ (Foto: Matthias Horn/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Nun ist es da, das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele. „Vergnügen und Verlust“ ist es überschrieben, und in diesem Titel, so Intendant Olaf Kröck, spiegele sich das weltpolitische Übel unserer Zeit ebenso wie die Notwendigkeit, es mit den Mitteln des Spiels, des Schauspiels, des Theaters samt all seinen Facetten mithin anzugehen.

Die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky wird die Eröffnungsrede halten, „in ihren Texten“, wir zitieren den Pressetext, „hat sie sich der Erkundung und Überwindung der Fremde als existentielle, menschliche Erfahrung verschrieben.“

Akrobatisch, atemberaubend

Vielfalt der Menschen und Ethnien, der Stilmittel und des künstlerischen Ausdrucks prägen das Programm vor allem in den Bereichen, die mit wenig oder ganz ohne Sprache auskommen – Tanz, Musik, Zirkus. Vor allem Zirkus ist im diesjährigen Programm prominent positioniert. Mit Zirkus, im Booklet als „Neuer Zirkus“ tituliert, wird das Festival am 3. Mai, einem Freitag, starten. „The Pulse“ heißt das akrobatische, äußerst personalintensive Stück von „Gravity & Other Myths“, in dem 24 sportliche Menschenleiber nach dem Prinzip der Pyramide gleichsam lebendige Bühnengebilde formen, die, kaum daß sie entstanden sind, sich schon wieder auflösen und zu Neuem sich vereinen. Für den Soundtrack sorgt bei diesen artistischen Darbietungen der (langer Titel!) „Frauenkonzertchor der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund e.V.“. Sprachkenntnisse sind für das Verständnis des Ganzen, wie das Programmheft ausdrücklich vermerkt, nicht erforderlich.

Wolfram Koch als König Lear (Foto: Armin Smailovic/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Pommestüte

Wenn es sich nicht um eine Ausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen handelte, hätte man gewiß Probleme, den Dänen Sören Aagaard kategorisch zu verorten, der auch schon mal als überdimensionierte Pommestüte durch Berliner Freibäder tobte. „Performance“, „Aktion“ usw. würde ebenso passen wie „Kunst“. Essen und Kunst sind sein Thema. Jedenfalls verfestigt sich bei der Lektüre des Programms der Eindruck, daß hier, bei den überwiegend kleinen, eher spracharmen und meistens auch lustigen Produktionen ein Maß an Originalität zu finden ist, das anderen Programmelementen eher abgeht. So weit man das vergleichen kann.

Bewährte Produktionen

Beim Schauspiel gibt es fraglos noch Luft nach oben. Die prominentesten Produktionen in der Abteilung Schauspiel laufen bereits seit längerer Zeit an anderen Häusern – „Der Theatermacher“ von Thomas Bernhard mit der Dortmunder „Tatort“-Kommissarin Stefanie Reinsperger in der Titelrolle beim Berliner Ensemble, „König Lear“ mit Wolfram Koch im Hamburger Thalia-Theater, nicht ganz wahllos herausgepickt. Recklinghäuser Premieren wären besser; aber natürlich ist es von Vorteil, hoch gelobte Produktionen wie diese nun zu Hause sehen zu können – falls man Karten kriegt.

Late Night Hamlet: Ein Solo für Charly Hübner. (Foto: Peter Hartwig/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Eine Uraufführung, immerhin

Immerhin ist nicht alles nur eingekaufte Spielplanware. Zusammen mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg haben die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eine Eigenproduktion auf die Schiene gestellt, die am 24. Mai in Recklinghausen ihre Uraufführung erleben wird: „Late Night Hamlet“, ein Solo mit Charly Hübner in der Regie von Kieran Joel. Wir erleben Hamlet als einen Geworfenen in der Jetztzeit, gefordert, überfordert, wie es sich für tragische Figuren gehört. Doch wird auch ein „kurzweiliges Vergnügen“ versprochen, gerade so, wie es das diesjährige Festivalmotto postuliert. Na, schau’n mer mal. Mit Charly Hübner in der Titelrolle müßte es eigentlich klappen.

Gesellschaftskritisch

Der Theaterarbeit von Kollektiven sind in etwa wohl Stücke wie „Hier spricht die Polizei“ („werkgruppe 2“ und Schauspiel Hannover) oder „DIBBUK – zwischen (zwei) Welten“ („KULA Compagnie in Kooperation mit den Ruhrfestspielen und „dasvinzenz“ München) zuzuordnen, Arbeiten mit dezidiert gesellschaftskritischem Bezug. Bei KULA arbeiten Künstler aus Israel, Afghanistan, Iran, Rußland, Deutschland, Frankreich und Italien zusammen, was eigentlich nichts Besonderes sein sollte und heutzutage leider schon ein brisantes Politikum ist.

Viele alte Bekannte

Bekannte Namen gibt es wie immer bei den Lesungen: Corinna Harfouch, Devid Striesow, Katharina Thalbach, Lars Eidinger, Peter Lohmeyer und viele mehr. Literaturkritiker Denis Scheck wird mit der Autorin Terézia Mora und dem Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah plaudern, Angela Winkler wird in der Musikabteilung zusammen mit dem „delian:quartett“ Shakespeare musikalisch-literarisch begegnen. Vier Tage lang gibt es zudem ein „Festival im Festival“: „Resonanzen – Schwarzes Interntionales Literaturfestival“. Die Eröffnungsrede hält Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo.

Der DGB will diskutieren

Die Neue Phlharmonie Westfalen bringt Mahlers Siebte zu Gehör, Konzerte, unter anderem von „SLIXS“ und „Flautando Köln“, gibt es auch in der Christuskiche, im Festspielzelt und in der Sparkasse Vest. Last but not least macht der DGB Programm. „Europa mit uns – Partei ergreifen!“ und „Reden mit…“ heißen die Veranstaltungen in der Abteilung Dialog, die noch einmal deutlich machen, daß die Ruhrfestspiele sich eben durchaus als politisches Festival begreifen. Zum Publikums-Talk haben sich unter anderem Charly Hübner, „werkgruppe 2“ und das künstlerische Team von „DIBBUK“ angemeldet.

Die Spielzeitübersicht im Programmbuch fehlt

Wer mehr wissen will, muß das Programmheft lesen oder sich im Netz schlaumachen. A propos Programm: Da hat es Olaf Kröck und seinem Team, wohl auch aus Kostengründen, wie leise angedeutet wurde, gefallen, die traditionsreiche Spielzeitübersicht von den hinteren Seiten des Programmheftes zu verbannen. Nun finden sich die Termine in tabellarischer Form auf einem separaten Leporello, „Der Festspielkalender 2024“ geheißen, den man zwar nicht mißlungen nennen kann, dem aber die Übersichtlichkeit des guten alten Überblicks gänzlich abgeht.

Gut, es gibt Schlimmeres. Freuen wir uns auf die Ruhrfestspiele 2024, im Festspielhaus und andernorts und glücklicherweise ohne Maske.




„Also hieß es wieder Koffer packen“ – Erinnerungen des Theatermannes Jürgen Flimm

Schon als kleiner Kölner Junge ist Jürgen Flimm rettungslos dem Theater und der Musik verfallen, er singt im Knabenchor und liebt kindliche Rollenspiele. Im Schlepptau seiner Großmutter besucht er die städtischen Bühnen und Konzerthallen. Die Freikarten werden ihnen von einem Onkel zugesteckt, der als Organist und Journalist in der Domstadt sein kulturelles Unwesen treibt.

Jürgens Vater ist tagsüber Mediziner und verbringt abends als Theater-Arzt viele Stunden im Dunstkreis der Bühnen. Kaum verwunderlich, dass es auch den jungen Studenten Jürgen magisch zur Kunst und zur Avantgarde zieht. Von Dada ist es nicht weit zu Fluxus, von Kurt Schwitters und Hans Arp ist es nur ein Steinwurf zu Karlheinz Stockhausen, Joseph Beuys, Pina Bausch und Samuel Beckett. „Keine Frage, ich wollte Regisseur werden, was das auch immer war. Wie aber lernt man das? Und wo?“

Ein Weltbürger aus Köln

In seinen „Erinnerungen“, an denen Jürgen Flimm lange gefeilt hat und die jetzt (ein Jahr nach seinem Tod) erschienen sind, beschreibt der 1941 geborene Theater- und Opern-Berserker, der an vielen Bühnen Spuren hinterließ, mit rheinischem Humor, wie er zum künstlerischer Weltbürger wurde. Geradezu larmoyant schreitet er wichtige Stationen seines von Erfolgen und Niederlagen gezeichneten Weges durch die internationale Bühnenwelt ab, lässt nebenbei die Namen von unzähligen Kollegen wie Brosamen vom Kultur-Tisch fallen, skizziert Intention und Machart seiner Inszenierungen, die ihm oft Einladungen zum Berliner Theatertreffen bescherten.

Tief steigt Jürgen Flimm hinab in die Abgründe und Intrigen der Kulturpolitik, die ihn immer wieder sprachlos machten, deren Spiel er aber furios beherrschte. Wäre Flimm, dem das Genialische fehlte, sonst als Intendant ans Kölner Schauspielhaus und ans Hamburger Thalia Theater berufen worden, zum Leiter der Ruhrtriennale und der Salzburger Festspiele und zum Intendant der Berliner Staatsoper geworden? Flimm wusste, wie man bei Sponsoren Geld locker macht, Politiker umgarnt und Schauspieler bezirzt.

Mannheim – welch ein Irrtum!

Vieles ist ihm, der sich alles hart erarbeiten musste, gelungen. Sein Bayreuther „Ring“ war denkwürdig, seine Arbeiten an der Met in New York sorgten für Furore. Doch einige bittere Pillen musste auch er schlucken: Seine Zeit als Spielleiter an der Salzach (2006-2010) bezeichnet er freimütig als „Fehler“, den kurzen Abstecher (1972/73) nach Mannheim als „Unglück“: Der damals noch ziemlich unbekannte Flimm hatte Rosinen im Kopf, sagte sich: „Geh doch erst mal in die Provinz, da lernst du, abseits der Metropolen. Da kannst du in der Abgeschiedenheit sorgsam vor dich hin werkeln. Welch ein Irrtum!“ Flimm und das Ensemble, besoffen von Mitbestimmungs-Ideen, Kollektiv- und Kommune-Idealen, „scheiterte dann aber schnell an der städtischen Kulturbürokratie und der Verantwortungsphobie des Generalintendanten“. Die Inszenierungen zündeten nicht, die Stimmung wurde frostig.

Dazu kam ein privates Unheil, als nur drei Wochen nach der Geburt sein kleines Kind starb. Flimm und seine damalige Ehefrau, die Schauspielerin Inge Jansen, entschlossen sich zur „hastigen Flucht“ aus Mannheim: „Also hieß es wieder Koffer packen.“ Weiter ziehen. Irgendwo wartete bestimmt eine neue Herausforderung, eine neue Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“, die ihn schon als Student in einem Kölner Kellertheater faszinierte und die er später immer wieder – auch in New York – inszenierte. Mit leichter Hand und feinem Schmunzeln erzählt Flimm davon in seinen „Erinnerungen“, deren Titel („Mit Herz und Mund und Tat und Leben“) er sich bei Johann Sebastian Bach und seiner wunderbaren Kantate „Jesus bleibet meine Freude“ ausgeliehen hat. Flimm griff eben immer gern ins ganz große Regal. Schade nur, dass der Verlag auf ein Namens- und Inszenierungs-Verzeichnis verzichtet hat.

Jürgen Flimm: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben. Erinnerungen.“ Kiepenheuer & Witsch. Köln 2024, 350 Seiten, 26 Euro.




Schönheit im Tanz, Elend der Epileptiker – „Voodoo Waltz“ von Janja Rakus in Bochum

Pierre Bokma (li.), William Cooper. (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

„Ich bin ein Mann“ sagt der Mann auf der Bühne. Mühsam erhebt er sich vom Boden, mühsam zieht er Hemd und Hose an. Es ist der erste gesprochene Satz an diesem Theaterabend, verzweifelt-trotzige Selbstverortung. „Ich bin keine Frau“ setzt er nach, und haarklein wird er uns späterhin berichten, was er damit meint.

Choreographen inszenierten

Der Mann, mittleres Alter, gebeugte Körperhandlung, heißt im Stück Orfan und wird gespielt von Pierre Bokma, einer lange schon festen Größe im Bochumer Ensemble. Das Stück heißt „Voodoo Waltz“, wurde geschrieben von der jungen Slowenin Janja Rakus und von den niederländischen Tänzern Imre und Marne van Opstal, Geschwister die beiden, als hybride Hervorbringung aus Schauspiel, Tanz und viel Deklamation zu einem intensiven Bühnenprodukt verarbeitet, zu sehen nunmehr im Bochumer Schauspiel.

Chloé Albaret, Ramon John (von links). (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

Ivana, Orfan und Wilhelm sind die schauspielerischen Hauptfiguren des Stücks; Ivana (Stacyian Jackson) war Rechtsanwältin in dem Land, das sie verlassen mußte (Slowenien vielleicht?) und hat mit manchen Fällen aus dieser Vergangenheit noch nicht abgeschlossen; Wilhelm (William Cooper) zieht es zum Göttlichen, Psalmen (aus dem Off) säumen seinen Lebensweg, Orfan schließlich (sein Name aus dem Englischen übersetzt bedeutet Waisenkind) ist ein unglücklicher Sexarbeiter, zu dessen regelmäßigen Aufträgen es gehört, dem „Oldie“ mit seinen bizarren Vorlieben zu Diensten zu sein. Schließlich wird er in ihm seinen Vater erkennen, der ihn schlug und mißbrauchte und beizeiten zu eben jenem gescheiterten, unglücklichen Menschen machte, den Pierre Bokma in dieser Inszenierung sehr berührend gibt.

Boston Gallacher, Chloé Albaret, Pierre Bokma, Emilie Leriche, Ramon John, William Cooper (v.l.). (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

Rotlichtviertel

Die Menschheit zwischen hemmungslosem Trieb und Göttlichkeit, gut küchenfreud-ianisch zwischen „Es“ und „Über-Ich“, dargeboten in drei Bühnencha-rakteren, das ist doch schon was. Aber anrüchig bleibt es auf allen Ebenen, weshalb der Spielort irgendwie – Kulissen gibt es eigentlich nicht, wenn man von den leise ab und zu ihre Position verändernden Stoffbahnen absieht – im Amsterdamer Rotlichtviertel angesiedelt ist. Als eine Art Fremdenführerin hat da Puffmutter Kinga Xtravaganza ihre auftrumpfenden Monologe, die ebenso wie die Ex-Anwältin Ivana von der bühnenmächtigen, dunkelhäutigen Stacyian Jackson gespielt wird. A propos: Vorwiegende Bühnensprache ist Englisch, aber die Übersetzungen in der Projektion auf den Oberrand der Bühne kommen da gut mit, Deutsch in Englisch, Englisch in Deutsch, die Technik ist uneingeschränkt zu loben.

Androgyne, kraftvolle Wesen

Etwas ärgerlich ist nur, daß alles in allem eben recht viel Text gesprochen (und visuell übersetzt) wird. Der unüberwindliche Lesedrang hindert einen daran, den Tänzern beim Tanzen zuzugucken. Drei Paare, androgyne, kraftvolle Wesen, geben dem Schauspiel so etwas wie eine zweite, unaufdringlich-präsente, körperliche Nachzeichnung, sind schwerelos, schemenhaft manchmal gar. In gewisser Weise sind diese jungen Tanzkünstlerinnen und –künstler – „internationaler Cast“, laut Presseinformation – in ihrer Enthobenheit geradezu der idealisierte Gegenentwurf zu den armseligen Epileptikern. Wenn man es denn so sehen will.

Choreographie und Tanz finden oft nicht zueinander

Denn daß die Kombination – diese Kombination – von Opstals Choreografie und Rakus’ Geschichte künstlerischen Mehrwert schüfe, kann man auch nicht unbedingt sagen. Choreographie und Schauspiel bleiben oft für sich, nehmen nicht wirklich Beziehung zueinander auf. Dabei mag dem einen im Zuschauerraum zu viel Theater im Tanzstück sein, dem anderen zu viel Tanz in einem Plot, den man ja auch ganz naturalistisch hätte anlegen können.

Eher grau in grau als Voodoo Waltz

Nüchtern besehen sind die Geschichten, die hier erzählt werden, weder Voodoo noch Waltz, eher kümmerliches grau in grau. Unbestreitbar aber auch reihen sich zwei Stunden lang bemerkenswerte Einzelleistungen aneinander. Auch soll nicht bestritten werden, daß wir hier Helden „auf der Suche nach einer neuen Identität in einer Welt, die nicht wirklich für sie gemacht zu sein scheint“ (Presseinformation) begegnen. Nun, die trifft man im Theater relativ oft, aber oft sind sie weniger schillernd oder bedauernswert, je nachdem, als jene in „Voodoo Waltz“ am Bochumer Schauspielhaus. Das Publikum applaudierte erwartungsgemäß frenetisch, weitere Aufführungen folgen.

 




Zum Tod des Dortmunder Theatermachers Rolf Dennemann

Rolf Dennemann auf der Theaterbühne. (Foto: © Guntram Walter)

Der Dortmunder Theatermacher, Schauspieler und Autor Rolf Dennemann ist gestorben – viel zu früh mit 71 Jahren.

Ein einziges Mal hat Rolf Dennemann an einem Autorentreffen der Revierpassagen teilgenommen, doch kann ich leider nicht behaupten, ihn wirklich näher gekannt zu haben. Umtriebig, ja getrieben schien er an jenem Abend zu sein. Er hat sich denn auch vorzeitig verabschiedet. Rückblickend betrachtet, war es ein geradezu gespenstischer, ungemein betrüblicher Abend, denn auch einen anderen unserer Autoren, den schmerzlich vermissten Kulturkenner Martin Schrahn, habe ich damals zum allerletzten Mal gesehen. Wie nichtsahnend wir geplaudert haben…

Vor Jahren hat Rolf Dennemann hin und wieder für die Revierpassagen geschrieben. Vor allem ist mir seine dreiteilige Serie „Krankenhausreport“ in Erinnerung geblieben, in der er 2014 höchst eindrücklich seine teilweise bizarren Erfahrungen beim Klinik-Aufenthalt beschrieben hat. Daraus und aus weiteren Notizen ist einige Zeit später die Vorlage zu einem seiner Theaterprojekte geworden. Alles wurde ihm zur Szenenfolge.

Nachdem ein anderes Medium kurzerhand nur die Pressemitteilung der Stadt Dortmund als Nachruf auf Rolf Dennemann publiziert hat, erlauben wir uns mit den folgenden Absätzen ausnahmsweise ein ähnliches Verfahren, freilich in transparenter Darbietung. Hier also der (leicht gekürzte) Wortlaut der städtischen Würdigung:

„Rolf Dennemann war ein kreativer Geist in vielen Bereichen der regionalen und überregionalen Kulturszene. Er hat sie durch seine Ideen, Inszenierungen, Inspirationen und sein Engagement für die Kulturschaffenden sehr geprägt.

(…) Dennemann wurde in Gelsenkirchen geboren und lebte seit den 1990ern in Dortmund. Er war freischaffender Regisseur, Autor, Festivalleiter und Schauspieler. Außerdem war er als Gründungsmitglied und geschäftsführender Vorstand prägend für die künstlerischen Produktionen des Vereins „Artscenico“ in Dortmund. Er war langjähriger Leiter des internationalen Theaterfestivals „off limits“ und hat (…) bedeutende internationale Produktionen nach Dortmund geholt. Von 1996 bis 1998 leitete er den „Theaterzwang“ (jetzt „Favoriten“), ein (…) Festival der freien Theaterszene aus NRW in Dortmund (…)

Rolf Dennemann (…) war Spezialist für ortsspezifische Inszenierungen auf ehemaligen Industriegeländen – in Parks, Hotelzimmern, sakralen Räumen, Brachflächen oder Wohnblöcken. Mehr als 50 (…) performative Theaterstücke hat er produziert. Dabei war ihm nicht nur wichtig, sich der besonderen lokalen Bedeutung der Orte im Ruhrgebiet zu nähern, sondern damit auch andere Menschen anzusprechen, die nicht zum Stammpublikum im Theater gehören. (…)

Als Schauspieler war Dennemann nicht nur auf Bühnen präsent. Er arbeitete für Kino- und Fernsehproduktionen unter anderem mit dem Dortmunder Regisseur Adolf Winkelmann in seinen Filmen „Nordkurve“, „Eine einzige Tablette“ und „Junges Licht“. Auch andere deutsche Regisseure setzten auf den Schauspieler: Tom Tykwer („Der Krieger und die Kaiserin“), Fatih Akin („Solino“) und Detlev Buck („LiebesLuder“) zum Beispiel, auch für den „Tatort“ stand er schon als „Ruhrgebietsoriginal“ vor der Kamera. (…)

„Rolf Dennemann hat die Kulturszene auf vielfältige Weise geprägt. In der Region und hier in Dortmund hat er viele Spuren hinterlassen, er wirkte aber auch international auf Festivals und in Projekten und führte die Menschen zusammen. Als Mensch, als Künstler, als kreativer Querdenker wird er sehr fehlen“, so Kulturdezernent Jörg Stüdemann.“

 

 




Im Land der schönen Stadttheater – Bildband präsentiert Spielstätten des Reviers

„Theaterszene Ruhr“ steht auf dem Buchdeckel, und „Einblicke in die Theaterwelt“. Das Fotobuch im A-4-Querformat zeigt den Zuschauerraum eines Großen Hauses, Festspielhaus Recklinghausen, Ruhrfestspiele. Dieses Foto ist, wenn man einmal so sagen darf, das einzig ehrliche an dieser Titelseite. Denn weder geht es um Theaterszene noch um Theaterwelt (was wäre übrigens der Unterschied?); es geht um die Theater, die real existierenden Bauwerke.

Titel des besprochenen Buches. (Foto: Fabian Linden / Repro rp)

Fabian Linden, Fotodesigner, Jahrgang 1959, hat zwischen Moers und Dortmund Spielorte fotografiert, Innenräume vorwiegend aus der Zentralperspektive, dazu stets ein, zwei Gebäudedetails und einzelne Menschen, die in diesen Theatern arbeiten: Garderobiere, Beleuchter, Dramaturgin, Puppenspielerin, Korrepetitor und so weiter. Ab und an ergänzen gut gesehene Details die Präsentationen der Häuser, Bochumer Schauspielhaus-Tütenlampen zum Beispiel oder Wandflächen im Yves-Klein-Blau im Gelsenkirchener Musiktheater. Lindens Architekturbilder und seine Industriefotografie (von Teilen der Theatertechnik zum Beispiel) sind handwerklich untadelig, die Portraits der Funktionsträger hingegen hätten gerne etwas lebhafter ausfallen können. Oft wähnt man sich im Paßbildstudio.

Kein einziges Inszenierungsfoto

Gleichwohl fragt man sich, wie ein Fotograf, ein Mensch des Sehens und der visuellen Inszenierung doch mithin, sein Bilderbuch „Einblicke in die Theaterwelt“ untertiteln kann, wenn er buchstäblich nicht ein einziges Inszenierungsfoto bringt. Von den Chefs und Intendanten hat es, sieht man von der freien Szene ab, gerade einmal Roberto Ciulli aus Mülheim an der Ruhr, der Dottore, in das Buch geschafft. Natürlich gehört er hier auch hin, das Revier verdankt ihm viel; aber es gäbe doch etliche mehr, die man ebenfalls vorstellen könnte, Männer wie Frauen. Auch wenn man sie persönlich nicht sämtlich in gleicher Weise schätzt.

Und dann wären da ja auch noch die Bühnenkünstler! Einer hat es immerhin geschafft, Martin Zaik, die Rampensau vom Mondpalast (was unbedingt als dickes Kompliment zu verstehen ist!). Auch er verdient es, welche Frage, doch nur er?

In diesen Stuhlreihen hat man oft gesessen

Nun gut, ein unbeackertes Feld. Schauen wir also auf das, was wir mit diesem Buch bekommen, nämlich eine relativ vollständige, professionell fotografierte Versammlung der schönen Stadttheater, der Schauspiel-, Opern- und Festivalhäuser des Reviers. Zunehmend verfestigt sich beim Durchblättern der Eindruck, daß wir hier wirklich viele großartige Spielstätten haben – schwungvoll Wiedererrichtetes aus den 50er Jahren, gestrengen Klassizismus, Beton-Brutalismus, die unbedingte Zweckmäßigkeit der Studiobühnen-Bestuhlung. In etlichen von ihnen hat man schon viel schöne – manchmal natürlich auch weniger schöne – Theaterkunst gesehen, da kann man fast schon sentimental werden.

Deshalb jetzt noch ein paar Nörgelpunkte zum Ende hin: Die Texte, die der pensionierte Gymnasiallehrer Hajo Salmen beisteuert, halten das Niveau der Fotografien und des fotografischen Konzeptes nicht; die thematische Auswahl zeigt auch Schwächen: Während kleine Spielstätten wie die „Volksbühne“ oder das „Rottstr 5 Theater“ in Bochum erstaunlich viel Zuwendung erfahren, fehlen Orte wie das traditionsreiche Dortmunder Fletch Bizzel ganz. Ebenso fehlen Theater ohne eigenes Ensemble, wie etwa Marl oder Lünen, was zumindest aus architektonischer Sicht schade ist. Ärgerlichstes Manko aber ist das Fehlen der Bochumer Jahrhunderthalle; nur Duisburg-Nord wird als Spielort der Ruhrtriennale präsentiert.

  • Fabian Linden, Hajo Salmen: „Theaterszene Ruhr – Einblicke in die Theaterwelt“
  • Eigenverlag. www.fotodesign-linden.de

 

 




Männliche Familienbande – Johan Simons inszeniert Dostojewskijs „Brüder Karamasow“ mit viel Gelassenheit

Elsie de Brauw als Stariza Sossima in ihrer Klause. Der brave Hund taucht in der Besetzungsliste namentlich leider nicht auf. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Dies könnte eine Kirche sein, ein lichter Raum mit hohen Fenstern und vielen Kerzen, sparsam möbliert; es könnte aber auch ein Labor sein, steriler Ort für emotionslose Untersuchungen und Experimente. Beide Deutungen haben etwas für sich. Auf der Bühne des Großen Hauses inszeniert Bochums Schauspielchef Johan Simons den ersten Teil seiner „Brüder Karamasow“-Produktion.

Später wird das Publikum ins Kleine Haus umziehen, noch später im Foyer des Großen Hauses ein „Gemeinsames Dinner“ zu sich nehmen. Dies ist nicht eben ein unaufwendiges Projekt, schon das erste überaus beeindruckende Bühnenbild (Wolfgang Menardi) läßt daran keinen Zweifel.

Dostojewskijs Qualen

Tief tauchen wir ein in den Kosmos der Dostojewskijschen Qualen, in dem Himmel und Hölle, Wiederauferstehung, ewiges Leben, Schuld, Strafe, Vergebung, Lebensüberdruß zentrale Begriffe sind. Klug sind sie auch in diesem Spätwerk in Kontrast zu den quasi niederen Motiven der Menschen montiert, der Gier, dem skrupellosen sexuellen Verlangen, dem Schuldenmachen. Die Figuren des Romans finden in jenen auf der Bühne kongeniale Entsprechungen, allen voran im alten Pierre Bokma als Fjodor Pawlowitsch Karamasow, Vater, Lebemann und Dummschwätzer, dem seine Söhne in ehrlicher Abneigung zugetan sind. Voneinander lassen kann man nicht, auch deshalb nicht, weil eine üppige Erbschaft lockt. Und irgendwann, sehr viel später an diesem Abend, ist der Alte tot.

Karamasows in Teilansicht: Bruder Iwan (Steven Scharf, links), Vater Fjodor Pawlowitsch (Pierre Bokma, Mitte) und Halbbruder Smerdjakow (Oliver Möller, rechts). (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Vorkenntnisse

Manches erklärt die Inszenierung dem Publikum, vieles aber auch nicht. Ohne recht genaue Kenntnis des Stoffs, der Charaktere und ihrer philosophisch-religiösen Verortungen ist es nicht leicht zu folgen. Johan Simons’ Inszenierung zeigt wenig Interesse daran, die dem Drama innewohnende Mechanik offenzulegen, sondern verströmt sich in der oft detailverliebten Illustration des als bekannt Vorausgesetzten. So stehen hier hübsche Spielszenen großer Intensität neben schwergewichtigen Sätzen, die, einmal in den großen Bühnenraum hineindeklamiert, beziehungslos hängenbleiben und dann langsam verblassen. Entschleunigung ist die Devise, doch führt sie nicht zwingend zu Erkenntnisgewinnen.

Gute Leute

Gleichwohl ist das Schauspielhaus Bochum in der Intendanz von Johan Simons nach wie vor und mehr als viele andere Häuser immer noch ein Theater der Schauspielkunst. Und deshalb muß man jetzt noch einige Namen nennen: Steven Scharf bringt es als Iwan zu beachtlicher Intensität, Jele Brückner zeigt als desillusionierte Katerina Ossipowna Chochlakowa im Gespräch mit dem Schuldner Smerdjakow (Oliver Möller) unerwartete Abgründigkeit; die Rolle des weisen Starec Zosima wurde zur Stariza Sossima und wird nun in Bochum von Elsie de Brauw verkörpert, die sie souverän füllt und der man höchstens vorwerfen könnte, daß sie für eine Sterbenskranke etwas zu kraftvoll agiert. Als Hexe – später – ist sie noch besser. Die Frauenriege wird vervollständigt durch Anne Rietmeijer als von Vater und Sohn Dimitrij (Victor Ijdens) begehrte Schönheit Gruschenka. Danai Chatzipetrou schließlich ist Katerinas behinderte Tochter Lise im elektrischen Rollstuhl. Konstantin Bühler als zottelbärtiger Nachbar Nikolaj Iljitsch Snegirjow sowie die Kinder Davin Cakmak und Mina Skrövset vervollständigen die Riege.

Abgeranzte Küche

Erste Pause um Viertel vor fünf, Wanderung durch die Kulissen zum Kleinen Haus, Zwischenstop im Foyer. Weitergeht es um halb sechs, mit einem völlig anderen Bühnenbild. Im Kleinen Haus wird deutlich, warum im Großen Haus so viele Sitze frei bleiben mußten. Hier ist nun alles besetzt. Auf der Bühne steht als raumgreifende, naturalistisch durchgestaltete Kulisse eine recht professionelle, aber auch reichlich abgeranzte Küche, Lüftungsrohre unter der Decke, Kellerlage mit Treppenaufgang. Ein sinnfälliger Ort natürlich, hier unten werden Sachen angerichtet, der Kohl (für den Borschtsch) ebenso wie die eine oder andere Mordidee. Hier fliegt das Gemüse, hier fliegen die Töpfe; Konflikte werden zelebriert und auch gelöst mit den Methoden des Tür-auf-Tür-zu-Theaters, wenngleich es nur eine einzige Tür links im Bild – und eben die Treppe – gibt. Fast hatte man es bei der ganzen Statuarik im ersten Teil schon vergessen: Johan Simons ist ja auch ein ganz vorzüglicher Possenreißer mit Wurzeln im Straßentheater, der mit burlesken Späßen souverän dramatische Fallhöhe zu erzeugen weiß. Das wissen wir in Deutschland spätestens seit „Sentimenti“.

Die Küche ist das Bühnenbild des zweiten Teils. Im Vordergrund liegt Smerdjakow (Oliver Möller). (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Fallhöhe

Dramatische Fallhöhe – das Drama strebt dem Höhepunkt zu – gibt es in Teil 3, nach dem Gemeinsamen Essen, nun wieder im Großen Haus. Der Alte ist mittlerweile tot, liegt in der Ecke. Wie kein anderer Dostojewskij-Stoff gelten „Die Brüder Karamasow“ ja auch als „Kriminalstory“, doch explizite Elemente einer solchen fehlen in dieser Inszenierung. Spannung oder ein bißchen „Whodunnit“ ebenso.

Fast kommt die nun geradezu unerträglich entschleunigte Inszenierung zum Stillstand, doch dann wird die Verlangsamung dankenswerterweise gebrochen durch den wunderbaren Dialog, in dem Iwan (Steven Scharf) Smerdjakow (Oliver Möller) gleichsam zu der Einsicht verführt, den Mord begangen zu haben. Mit einem frommen Epilog des jüngsten Bruders Aljoscha (Dominik Dos-Reis) geht die Inszenierung sieben Stunden nach dem Start dann endlich zu Ende. Diese Zeit abzusitzen war schon ein Angang; um so größer allerdings Respekt und Anerkennung für die nicht eben große Schauspielerriege, die in dieser Zeit eine unglaubliche Textmenge zu bewältigen hatte und dies mit Bravour meisterte.

Borschtsch und Gemüsequiche

Zu essen gab es übrigens den nämlichen Borschtsch (vegetarisch), ein Stück Gemüsequiche und ein Pöttchen Panna Cotta, alles qualitativ nicht zu beanstanden, von einem Catering schnell und freundlich auf die Tische gebracht. Zu essen soll es auch an den weiteren Terminen geben; bei sieben Stunden, sollte es denn dabei bleiben, braucht man schon was Kleines zwischendurch.

Materieller Aufwand

Und nun sitzt man zu Hause, massiert sich die immer noch schmerzenden Knie (vom langen Sitzen), wühlt sich durch die Unterlagen und fragt sich, was man eigentlich erlebt hat, im Kern, in der Essenz. Großes Theater war es sicherlich, schon hinsichtlich des materiellen Aufwandes (beide Häuser, Publikumswanderung durch Kulissen und Garderoben, Heerscharen von Mitarbeitern, die den Weg weisen mußten, usw.). Das Ensemble gut bis großartig, eine doch sehr homogene Truppe, deren holländische Mitglieder mittlerweile ein untadeliges Deutsch sprechen. Und schließlich: Eine gelassene Sicht auf Stück und Autor, die sich nur ein Regisseur mit uneingeschränkter Souveränität leisten kann, einer wie eben Johan Simons mit seinen 77 Jahren.

Nicht alles geht in 90 Minuten

Bochum bietet großes, anspruchsvolles Theater, wie es nicht (mehr) oft zu sehen ist im Ruhrgebiet. Es läßt sich nicht alles in „90 Minuten, keine Pause“ (heutzutage ein beliebtes Inszenierungsformat) erzählen, und das muß man auch nicht, und das tut man hier eben auch nicht, jedenfalls nicht immer. Das Publikum, wie könnte es auch anders sein, zeigte begeistertes Verständnis für das anspruchsvolle theatralische Großformat und spendete reichen, anhaltenden Beifall.




„Schönes“ vor 20 Jahren – Erinnerung an eine Bochumer Erstaufführung des jetzigen Nobelpreisträgers Jon Fosse

Der Norweger Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis 2023. Wenn man schon ein paar Jährchen schreibt, findet sich irgend etwas Einschlägiges im Archiv, so z. B. diese – nun nahezu 20 Jahre alte – Bochumer Theaterbesprechung vom 3. Dezember 2003:

Bochum. Verglichen mit den Bühnen-Gestalten des Norwegers Jon Fosse, wirken selbst die gelangweilten Figuren eines Anton Tschechow wie Action-Helden. Hier geschieht nahezu nichts, die Dialoge sind extrem karg. So auch in Fosses neuem Stück „Schönes“. Abermals klingt jede Zwiesprache derart lakonisch, als sei’s bereits eingeübte Tiefsinns-„Masche“.

Doch es ist eine geradezu schwatzsüchtige Lakonie, die redundant in sich kreist und unversehens schräge Komik (irgendwo zwischen Loriot und Kaurismäki) freisetzt. Die Figuren haben Angst vor dem Verstummen, vor der großen Leere.

Fosse (Jahrgang 1959), in den letzten Jahren wohl meistgespielter Dramatiker des Kontinents, lässt weite Deutungs-Spielräume klaffen. Bei der deutschen Erstaufführung in Bochum nutzt Regisseur Dieter Giesing diese schmerzliche Freiheit beharrlich und behutsam.

Das Bühnenbild (Karl-Ernst Herrmann) atmet raumgreifend Ewigkeit: Einander kreuzende (Boots)-Stege verlieren sich nach hinten in die melancholische Unendlichkeit eines einsamen Fjords, vorn ragt eine Planke bis zum Publikum. Die schwarze Silhouette eines Bootshauses wandert geisterhaft langsam über die schimmernde Szenerie. Die Zeit schleicht dahin und verrinnt. Worte kommen aus dem Nichts und versickern im Nichts.

Vor dem Horizont des Stillstands

Vor diesem Horizont des Stillstands verbringt ein Ehepaar mit fast erwachsener Tochter die Sommerferien. Die Frau (Catrin Striebeck) fühlt sich angeödet. Mal geht sie links den Strand entlang, mal rechts. Ein Buch lesen? Ach was! Antriebe und Interessen sind erloschen. Es schwillt in ihr lediglich eine zickige, ziellose Gier an, die sich eher zufällig auf Leif (Ernst Stötzner) richtet, den grandios maulfaulen Freund ihres Mannes aus Kindertagen. Dieser allzeit im Dorf gebliebene Sonderling („Hat sich so ergeben“) lässt sich wohl nur aus höflichem Mitleid auf eine Begegnung im alten Bootshaus ein.

Was dort wirklich geschieht, bleibt freilich ebenso ungewiss wie alles andere: Ahnt der Ehetrottel Geir (Burghart Klaußner) etwas? Warum erschöpft sich dann sein Aufbegehren darin, dass er seine Gitarre immerzu mit hackenden Griffen (verdruckster Frust-Gipfel: „Bang, Bang – I’ll shoot you down“) traktiert?

Anders als bei Ibsen wird hier nichts enthüllt

Warum hat Leif in der Pubertät alle Neugier auf die Welt verloren, warum haben er und Geir damals ihre Rockband aufgelöst? Wird die einstweilen halbwegs vitale, mitunter patzige Tochter (Julie Bräuning), die im Dorf einen farblos strotzenden jungen Mann (Manuel Bürgin) kennen gelernt hat, so heil- und haltlos enden wie ihre Mutter? Und warum preisen sie alle so kleinlaut die Natur? Ist sie ein unnennbar „Schönes“, vor dem der Mensch nur versagen kann? Ganz anders als bei Ibsen, mit dem man Fosse häufig vergleicht, wird hier nichts enthüllt. Die Eltern reisen vorzeitig ab – zurück von der ländlichen in die städtische Seelen-Ödnis. Das ist alles.

Das wattierte Unglück in Hier und Jetzt

Irgend etwas ist vorgefallen und schief gelaufen, doch nun ist es, wie es ist. Existenziell und gnadenlos scharf umrissen stehen die Gestalten in reinster Gegenwart da, im allerdings gedämpften, wattierten Unglück des Hier und Jetzt. Und nun? Was soll noch werden? Dieses folgenlose Weh ergreift einen mehr, als wenn (wie in Gegenwartsdramen oft üblich) aller Schmutz und Ekel im Blut- und Spermastrom verrührt wird.

Dieter Giesings Inszenierung lässt beklemmende Atmosphäre ganz unaufdringlich quellen. Die Darsteller gewinnen diesem stockenden Text staunenswert viele Akzente, Rhythmen und Nuancen ab. Äußerst gespannt folgt man ihrer Expedition in die Leere.




Aufrecht in den Feuertod: „Sardanapal“ nach Lord Byron an der Berliner Volksbühne

Eher Zauderer und Schöngeist als Wüstling: Szene mit Fabian Hinrichs als „Sardanapal“. (Foto: © Apollonia Theresa Bitzan / Volksbühne)

Seine Schauspiel-Karriere startete Fabian Hinrichs einst an der Berliner Volksbühne. Mit Frank Castorf und René Pollesch hat er manch wüste Theaterschlacht geschlagen. Auch wenn er inzwischen zum Film- und Fernseh-Star und „Tatort“-Kommissar avanciert ist, kommt er immer wieder gern an die Stätte seiner ersten Triumphe zurück. Jetzt sogar als Regisseur und Schauspieler in Personalunion. Er hat ein fast vergessenes Werk ausgegraben und inszeniert an der Volksbühne ein von Lord Byron verfasstes Drama: „Sardanapal“.

Es ist eine historische Tragödie des Dichters und Erotomanen, der für seine Affären mit Männern und Frauen berüchtigt und ein notorischer Abenteurer und glühender Verfechter nationaler Freiheits-Bestrebungen war. Als Vorlage dient der Assyrerkönig Sardanapal, doch Byron verwandelt den prunksüchtigen Wüstling in einen zögerlichen Schöngeist, einen Hamlet im orientalischen Gewand, der sich nicht dazu aufraffen kann, den Putschisten, die ihn ermorden und sein Königreich vernichten wollen, mit dem Schwert entgegen zu treten. Statt zu handeln sucht er lieber auf einem selbst errichteten Scheiterhaufen den Feuertod.

Gegen jede Form von Herrschaft

Zusammen mit Lilith Stangenberg feiert Hinrichs nun ein Fest der Fantasie, eine groteske Theater-Burleske mit Musik und Tanz. Bevor Sardanapal zum entrückten Typen wird, der jede Form von Herrschaft und Unterdrückung ablehnt, sich selbst und sein Reich der toxisch verminten Männlichkeit abschaffen möchte, lassen es alle noch mal richtig krachen: Damit das schön laut und bunt wird, bietet Hinrichs viele Musiker und Tänzer und ein gut gelauntes Jugend-Sinfonieorchester auf.

In einem endlosen Vorspiel tanzt Hinrichs zu lautem Punk wilden Pogo und bollert gegen den geschlossenen Eisernen Vorhang. Wenn der sich hebt, hockt Lilith Stangenberg missmutig in einem Supermarkt an der Kasse und fertigt die Kunden ab, bis Hinrichs auftaucht und sie nach ihren Träumen fragt. Flugs wirft sie ihren Alltagstrott ab, wünscht sich in südliche Gefilde, suhlt sich im Sand und sagt Gedichte auf, während sie von Musikern und Tänzern umzingelt wird.

Durch die Fantasiewelt tanzen

Hinrichs mutiert derweil zu einem Apostel des Pop, malträtiert sein Schlagzeug und singt, begleitet von Sir Henry am Klavier, von „Sex & Drugs & Rock´n´Roll“. Irgendwann werden die Potemkinschen Fassaden des Supermarkts abgeräumt, wird die Bühne in ein Märchen aus Tausendundeinenacht verwandelt, werden König Sardanapal und seine Gattin Myrrhe in orientalische Gewänder gekleidet und in eine Fantasiewelt aus bunten Tüchern und sanften Kissen entlassen. Während tanzende Rebellen Schwerter schwingen, genießt Sardanapal die erotischen Spiele in seinem Harem, süffelt köstlichen Wein und lehnt es ab, zu fliehen. „Ich will keine Angst haben!“ ruft er und nimmt noch schnell ein labendes Bad. Dann ist die Party vorbei, und er stolziert aufrecht in den Flammentod.

Ganz großes Kino. Fast möchte man eine Träne verdrücken, doch schon setzt das eben noch tieftraurige Orchester neu an und intoniert Abba: „Dancing Queen“. Da müssen dann alle mitsingen und mittanzen bei diesem als Theater getarnten Kindergeburtstag. Der Versuch, eine Bühnen-Leiche zu reanimieren, als Lebenselixier der Freiheit wieder zu entdecken und als subversive Flaschenpost in die Gegenwart zu schmuggeln, ist dann doch nicht viel mehr als ein Rohrkrepierer.

Berlin, Volksbühne: „Sardanapal“ (Fabian Hinrichs nach Lord Byron). Nächste Vorstellungen: 19. und 24. Juni.




Schauspielkunst ausgebremst: „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ mit Maja Beckmann in Bochum

Maja Beckmann (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Zugegeben: Wenn Maja Beckmann nicht auf dem Besetzungszettel gestanden hätte, wäre ich wohl nicht hingegangen. Maja Beckmann – für den, der es nicht weiß – ist die etwas ältere Schwester der noch etwas bekannteren Lina Beckmann. Beide Schauspielerinnen stammen aus Herne, beiden ist, in unterschiedlichen Ausprägungen, ein Theaterspiel eigen, das, unter Frauen zumal, seinesgleichen auf deutschen Bühnen nicht leicht findet.

Zwei Schwestern

Wenn Lina der etwas zupackendere, offensivere Charakter ist, dann treffen auf Maja eher Attribute wie zurückhaltend, zögernd, schüchtern, unsicher, aber in diesen Valeurs wiederum auch zupackend und mutig zu. Mit dem vermeintlich falschen Ton am richtigen Platz wildgrubern sie beide ein bißchen, und ein bißchen auch ist gerade Maja die Gabe eigen, auf ganz entzückende Art mitunter in ihrer Rolle etwas neben sich zu stehen – wie es weiland Andrea Breths Liebling Wolfgang Michael zustande brachte oder durchaus auch, heutzutage, Bochums gefeierter Macbeth Jens Harzer. Dies nur in aller Kürze zur Attraktion des Abends.

Clee (Anna Drexler, links) und Cheryl Glickman (Maja Beckmann) (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Jetzt Zürich

Maja Beckmann spielte etliche Jahre in Bochum Theater und hat es mittlerweile bis nach Zürich gebracht. Das Stück, das an diesem Abend im großen Bochumer Haus zur Aufführung gelangt, heißt „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ und entstand, köstlicher Scherz, nach Miranda Julys Debutroman „Der erste fiese Typ“. Da haben die Schlauberger vom Schauspielhaus Zürich – von dort nämlich wurde das Stück übernommen – gleich zwei Sprachsignale im Titel untergebracht, Respekt. Und damit das ganze nicht so plump wirkt, wie es eigentlich ist, beginnt der Abend denn auch damit, daß die beiden Frauen auf der Bühne in einem kindlich schüchternen Dialog dem Publikum diese Titelwerdung erklären.

Clee (Anna Drexler, links) und Cheryl Glickman (Maja Beckmann) (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Großartige Anna Drexler

An diesem Punkt gilt es, das weitere Personal vorzustellen. „Miranda…“ ist im Kern ein Zweipersonenstück, auch wenn sich zu Spitzenzeiten fünf Leute auf der Bühne aufhalten. Maja Beckmann gibt die ältere Frau Cheryl Glickman (jenseits der 40), Anna Drexler Clee (um die 20), und auch sie beeindruckte nachhaltig. Nach einem Anlauf von wenigen Minuten ist sie eins mit ihrer Rolle, eine wilde, junge Frau, etwas verhuscht, etwas verschroben, etwas arrogant, manchmal fast noch ein Kind. Und dann plötzlich auch eine leidenschaftliche Liebhaberin. Anna Drexler spielt all das mit einer kraftvollen, offensiven Selbstverständlichkeit, die einem Respekt abnötigt. Sie und die Beckmann, ein Traumpaar. Jedenfalls auf der Bühne.

Feine Musik

Weiterhin wirken mit: Die Musikerin Brandy Butler, adipös und dunkelhäutig, und gerne geißelten wir an dieser Stelle Wokeness und Quotenunfug in den Theatern. Aber das wäre grob unfair. Butler macht sehr schöne, feine, sparsame Untermalungsmusik, ist in einigen Spielszenen ein zurückhaltender, dritter Pol (wenn man einmal so sagen darf), marschiert aber auch ganz vorne mit, wenn die beiden Hauptdarstellerinnen es so richtig krachen lassen. Vierte ist die Kamerafrau Anna Marienfeld, die nach Kräften videographiert und auch ein bißchen mitspielen muß, fünfter schließlich der Astronaut, dessen Gesicht wir nicht zu sehen kriegen und für dessen sprachlose Rolle gleich drei Besetzungen erscheinen (Anton Engelmann, Mia Kaufhold, Henri Mertens). So weit, so gut.

Raumgreifende Lebensbeschreibungen

Auch der Plot schien nicht ohne Reiz zu sein, ein (wie man hoffen konnte) angelsächsischer, nüchterner Erzählweise verpflichteter biographischer Stoff aus dem Alltag, der sich einreiht bei den derweil häufig anzutreffenden Lebensbeschreibungen scheinbar gänzlich unscheinbarer Menschen im raumgreifenden Stil (wenn man es Stil nennen möchte), beispielsweise einer Annie Ernaux. Bei Miranda July geht es sogar vergleichsweise dramatisch zu, Stichworte mögen eine heftige lesbische Liebesbeziehung und eine Schwangerschaft „aus heiterem Himmel“ sein. Maja Beckmann und Anna Drexler hätten das fraglos auch wunderbar herausgespielt. Wenn man sie denn gelassen hätte.

Es spritzt. Clee (Anna Drexler, links) und Musikerin Brandy Butler (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Zu viel Video

Doch Christopher Rüping läßt sie nicht. Dem Regisseur hat es gefallen, die dramatischen Veränderungen im Leben der beiden Frauen, ihren Liebestaumel, ihre obsessive Sexualität, ihre bedrohliche, herrliche Nähe und was der starken Momente mehr sind in die Form einer heftigen Video-Performance zu packen, in der viel gelaufen und gerauft wird und die durch große, naturgemäß dramatische (Portrait-)Aufnahmen der Heldinnen geprägt ist.

Man sucht nach dem tieferen Sinn für den massiven Maschineneinsatz, der sich jedoch nicht erschließen will. Wenn dann (es läuft bruchlos darauf zu) die Geburt ansteht, gibt es viel Geschrei, spritzt viel Wasser und Bühnenblut. Und all das ist von der Art, die Theater (häufig jedenfalls) so unattraktiv macht, weil bei großem Geräusch- und Bewegungsaufwand eigentlich nichts Handlungsrelevantes geschieht. Statt die mehrfachen heftigen Veränderungen in ihrer Beziehung mit den Möglichkeiten der Schauspielkunst nachvollziehbar zu machen, müssen Maja Beckmann und Anna Drexler sportlichen Einsatz zeigen. Ihrer beider Leistungsfähigkeit ist imposant, das immerhin.

Na gut. Einen Tag später hat sich die Erinnerung an zwei wunderbare Schauspielerinnen noch nicht verflüchtigt. Eher hat sich leichter Groll angesammelt auf eine Inszenierung, die ihnen zu wenig Möglichkeiten bot, ihre Kunst zu zeigen. Vielleicht zieht es Maja Beckmann demnächst ja noch einmal in ihre alte künstlerische Heimat, nach Bochum. Dann würde mal wohl wieder hingehen.

  • Termine:
  • Sa.03.06., 19:30 — 21:45
  • So.04.06., 17:00 — 19:15
  • Do.15.06., 19:30 — 21:45
  • Fr.16.06., 19:30 — 21:45

www.schauspielhausbochum.de




Der schrecklichste Unhold ist der Krieg selbst – Kirill Serebrennikov inszeniert „Der Wij“ bei den Ruhrfestspielen

Szene aus „Der Wij“. (Foto: Fabian Hammerl/Ruhrfestspiele)

Ein dunkles Kellerloch, nur Taschenlampen geben Licht. Vier junge Männer streiten in höchster Erregung, was sie mit dem Menschenbündel machen sollen, das vor ihnen auf der Erde liegt. Zusammengeschlagen haben sie ihn schon. Umbringen? Eier abschneiden? Er ist einer von den anderen, seine Überlebenschance ist gleich Null.

Putin-Gegner

Weitere brutale Szenen werden folgen in diesem Stück von Bohdan Pankrukhin und Kirill Serebrennikov, das jetzt, als Produktion des Hamburger Thalia Theaters, bei den Ruhrfestspielen zu sehen war. Serebrennikov, richtig, ist jener auch im Westen relativ prominente Theatermann, der als erklärter Putin-Gegner in Rußland im Gefängnis saß und nun in Deutschland lebt und arbeitet. Er führte auch Regie.

Blicke töten

Den Titel des Stücks „Der Wij“ muß man erklären. Der Wij ist ein eher böser Geist aus der slawischen Mythologie, dessen Blick tötet. Allerdings hat er so schwere Augenlider, daß er sie ohne Hilfe nicht heben kann. Doch seine Nähe ist lebensgefährlich. Nikolai Gogol setzte dem Wij im Jahr 1835 mit der gleichnamigen Erzählung ein literarisches Denkmal, und angeblich – sonst müßte das Stück ja anders heißen – bezieht sich die Thalia-Inszenierung auf diese Figur.

Ukraine-Krieg

Doch begegnen wir ihr im eingangs beschriebenen Kulissen-Keller – zunächst – nicht. Eher muß man wohl die Gesamtsituation als eine Art Verkörperung des Wij begreifen, die den Ukraine-Krieg in seinen vielen Ungeheuerlichkeiten spiegelt und an der gemessen eine einzelne mythologische Figur fast niedlich erscheinen würde.

Die tödliche Bedrohung, die der Wij bedeutet, ist für die jungen Männer im Keller allgegenwärtig, Folter und Scheinhinrichtungen haben sie schon am eigenen Leib kennengelernt, sie haben panische Todesangst und vielleicht auch gar keine Überlebenschance mehr. Aber Monster sind sie nicht. Und wenn sie bei bedrohlich hohem Hormonspiegel zu klären versuchen, wie sie mit dem Menschenbündel umgehen sollen, sind die Beweggründe eher kümmerlich, folgen fragwürdigen Vorstellungen von Rache und Gerechtigkeit, Gehorsam und Moral. Arme Schweine, ohne Hoffnung. So jung schon.

Schaurige Motive

Eine junge Frau im Sarg wird plötzlich lebendig, sie war der Augenstern des Großvaters, ist aber auch Kriegerwitwe, die Übergänge in den Rollen sind nicht immer klar auszumachen. Die Mutter eines gefallenen Soldaten fürchtet um die Hinterbliebenenrente, und so gibt es der schaurigen Motive aus dem Krieg etliche mehr, flott gereiht und ineinander montiert, exemplarisch wie doch auch allgemein gültig.

Weitere Szene aus „Der Wij“. (Foto: Fabian Hammerl/Ruhrfestspiele)

Conferencier

Und dann tritt wirklich ein Wij auf, ein alberner, eitler Conferencier im garstigem Wij-Kostüm, der den Krieg in Shownummern präsentiert und das Publikum zum lachen auffordert, was erwartungsgemäß mißlingt. Lange hat er eine Sonnenbrille auf, doch auch wenn er sie für seinen Auftritt absetzt, ist sein Blick belanglos. Der wirkliche Wij ist der Krieg, und das ist ein weiterer Beweis dafür.

Wenig Erkenntnisgewinn

Sehr viel mehr Erkenntnisgewinn gibt es dann aber auch nicht. Die Schlußphase des Stücks gehört dem Menschenbündel, das wieder etwas zu Kräften gekommen ist und einen wütenden Monolog über seine hoffnungslose Situation hält. Genauer gesagt ist es eine kleine Reihung von Monologen, ausgelöst immer wieder durch Handyanrufe (der Soldat hatte fünf Handys bei sich, als er gefangen wurde). Er ist genau so ein armes Schwein wie die, die ihn zusammenschlugen, ein junger Mensch, gedrillt und in den Krieg getrieben, ganz ohne despektierliche Konnotation ein Opfer. Was auch sonst?

Gute Darsteller, gute Ausstattung

In der Darbietung unterschiedlichster Kriegsgreuel ist das Stück eine Fleißarbeit. Doch von der Schrecklichkeit der Dinge muß im Theater wohl niemand überzeugt werden. Entwicklung von Ereignissen und Personen findet nicht statt, erregte Momentaufnahmen reihen sich, was das Zuschauen zwei Stunden lang anstrengend macht, trotz guter darstellerischer Leistungen.

Es spielen Filipp Avdeev, Bernd Grawert, Johannes Hegemann, Pascal Houdus, Viktoria Miroshnichenko, Falk Rockstroh, Rosa Thormeyer und Oleksandr Yatsenko, Deutsche, Russen und Ukrainer, überwiegend in deutscher Sprache. Eindrucksvoll in ihrer qualvoll-aussichtslosen Kellerenge geriet die naturalistische Ausstattung, für die neben Serebrennikov (Bühne, Kostüme) auch Elena Bulochnikova (Kostüme) und Evgeny Kulagin (Lichtdesign) verantwortlich zeichneten. Das Publikum dankte den Künstlern mit reichem Applaus.

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Unterm Baum ist alles möglich: Tschechows „Möwe“ an der Berliner Schaubühne

„Die Möwe“: Szene aus Thomas Ostermeiers Inszenierung mit Stephanie Eidt und Joachim Meyerhoff. (Foto: Gianmarco Bresadola / Schaubühne)

Welch grandioser Anblick! Eine gigantischer Baum steht wuchtig auf der Spielfläche und ragt in den Bühnenhimmel. Die Äste schwingen weit in den Raum hinein, die raschelnden Blätter schweben über den Köpfen des Publikums. Tribünen umzingeln den romantisch-verwunschenen Ort, an dem alles möglich scheint: Liebe und Hass, Neid und Eifersucht und natürlich der ewige Streit zwischen den Geschlechtern, der Kampf zwischen alt und jung, konventioneller Kunst und revolutionärem Aufbruch.

Hier, wo die Vögel fröhlich zwitschern, lässt es sich wunderbar verweilen und träumen, hier, wo die Sonne alles in mildes Licht tauscht, kann man sich verlieben und trennen, beleidigen und wieder versöhnen. Plötzlich zerreisst das grollende Donnern eines Kampfjets den weltflüchtigen Scheinfrieden, lässt das ritualisierte Gerede über neue Formen in der Kunst verstummen, die Gefühlswallungen der Liebenden erstarren. Ein kurzer, irritierender Moment. Dann geht alles wieder seinen gewohnten Gang. Würde nicht der unter emotionalem und intellektuellem Dauerdruck stehende Dichter Konstantin sich eine Kugel in den Kopf schießen, könnte das Leben sogar gut und schön sein.

Thomas Ostermeier inszeniert Tschechows „Die Möwe“ an der Berliner Schaubühne als luftig-verspielten, manchmal sogar komischen Sommernachtstraum. Zwar orientieren sich Handlung und Text weitergehend an Tschechows Text. Doch die Schauspieler dürfen sich ihren eigenen Reim machen und sich ihre Rollen nach Gusto zurechtbiegen. Vor allem Joachim Meyerhoff nutzt die Freiheit und zeichnet mit feiner Ironie und fahrigen Gesten einen schnoddrigen und zynischen, mit sich selbst und der Welt hadernden Großdichter Trigorin. Meyerhoff, im Nebenbenberuf selbst erfolgreicher Schriftsteller, kennt die Nöte eines Autors, den es an den Schreibtisch drängt und der vor Schreibdruck kaum je zum eigenen Erleben kommt, nur zu gut. Ständig fummelt er mit losen Zetteln herum, auf denen er alles, was er sieht und hört, notiert. Seine unterwürfige Liebe zur überdrehten Schauspiel-Diva Arkadina (Stephanie Eidt) oder seine romantisch verklärte Affäre mit Nina (Alina Vimbai Strähler), die gern so frei wäre wie die Möwe im esoterischen Text des frustrierten Bühnen-Brausekopfs Konstantin (Laurenz Laufenberg): Alles ist für Trigorin nur Material für mögliche neue Erzählungen und Theaterstücke.

Ob Meyerhoff in hautenger Unterhose halbnackt zum See watschelt, um zu angeln, oder ob er sich literweise Bier in die vom rhetorischen Firlefanz ausgetrocknete Kehle schüttet: Alles gerät ihm zur urkomischen und zugleich tragischen Slapsticknummer der Vergeblichkeit. Neben seiner raumgreifenden Präsenz und sprachlichen Raffinesse wirken alle anderen wie Statisten, unfertige Figuren, die um ihre Daseinsberechtigung kämpfen und sich in zu kurz gesprungene Klischees flüchten.

Landhausbesitzer Sorin (Thomas Bading) ist ein zittrig-zeternder, lächerlicher Greis, der den verpassten Chancen seines langweiligen Lebens nachtrauert. Gutsverwalter Schamrajew (David Ruland) poltert mit Berliner Schnauze und blutbeschmiertem Schlachtermesser durchs kunstsinnige Getriebe. Die immer ganz in schwarz gekleidete Mascha (Hevin Tekin) ist ein trauriger Punk mit Null-Bock-Allüren. Warum auch nicht. Unter dem schützenden Dach des riesigen Baumes und seines üppig wuchernden Blätterwaldes ist alles möglich.

„Die Möwe“, die nächsten Vorstellungen am 18., 19., 20. und 21. Mai, Berlin, Schaubühne. Tickets unter 030/89 00 23, ticket@schaubuehne.de




Das Volk leidet – „Pah-Lak“ beschreibt bei den Ruhrfestspielen tief bewegend die brutale Unterdrückung Tibets

Um Tibet ist es still geworden. Der Dalai Lama lebt in Indien und war schon lange nicht mehr im Fernsehen zu sehen, von Bemühungen der Volksrepublik China, das Land nunmehr mit geduldiger Überzeugungsarbeit für sich zu gewinnen, hört man aber auch nichts. Brutaler Anschluß bleibt das Mittel der Wahl; und als westlicher Nachrichtenkonsument hat man Tibet innerlich ja schon abgehakt, Hong Kong ebenso, nur ab und zu schaut man nach Taiwan – der Zynismus des real Existierenden.

Die junge Nonne Deshar (Kalsang Dolma). (Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrfestspiele)

Doch die Zeit macht aus Unrecht nicht Recht, die Wunde schärt. Was man nicht verändern kann, muß deshalb wenigstens erzählt werden. „Pah-Lak“ („Vater“) heißt das Stück des Autors Abhishek Majumdar, das uns exemplarisch etwas von tibetanischer Realität näherbringt und das jetzt bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen zu sehen war.

Politische Manifestation

„Pah-Lak“, ein Stück, das ausschließlich von tibetischen Darstellerinnen und Darstellern gespielt wird, entstand in Zusammenarbeit mit dem Tibet Theatre und dem Tibetan Institute of Performing Arts Dharamsala (Indien), auch die Tibet Initiative Deutschland und die Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft GSTF weisen auf ihr Mitwirken hin. Eine solche Kooperation legt natürlich nahe, über Politik, über Tibet und China, über Folter, Völker- und Menschenrechte ganz generell zu reden, statt lediglich über ein Bühnenwerk. Im nachfolgenden Publikumsgespräch geschah dies auch. Doch bleiben wir in dieser Besprechung beim Stück, so weit die Dinge überhaupt klar zu trennen sind.

Nonne Deshar (Kalsang Dolma, Mitte) in heftiger Diskussion mit dem chinesischen Polizeioffizier Deng (Lhakpa Tsering, links).

Nonne Deshar (Kalsang Dolma, Mitte) in heftiger Diskussion mit dem chinesischen Polizeioffizier Deng (Lhakpa Tsering, links). Rechts der Büttel Gaphel (Tenzin Lhundup), ein Tibeter, der sich den Chinesen angedient hat. (Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrfestspiele)

Umerziehung

Die Eisenbahn bringt chinesisches Militär zum Kloster, die Umerziehung der Tibeter und insbesondere des widerspenstigen Klosterpersonals muß energisch vorangetrieben werden. Polizeioffizier Deng (Lhakpa Tsering) führt eine heftige, harte Diskussion mit dem Abt, dem Rinpoche des Klosters (Tsering Dorjee Bawa), in dem er dem Kloster die Existenzberechtigung rundweg abspricht; seit Jahrhunderten lebe es auf Kosten des Volkes. Zusätzliche Dramatik erhält die Geschichte durch eine Selbstverteidigungsaktion der jungen tibetischen Nonne Deshar (Kalsang Dolma). Einem chinesischen Soldaten hat sie im Streit den Kiefer gebrochen und einen Zahn ausgeschlagen. Deshalb muß sie verschwinden. Die Chinesen wollen sie zur Terroristin stilisieren, die der Dalai Lama geschickt hat. Auch unter Folter gesteht Deshar nichts. Aber sie bietet ihr Leben an, zum Wohl der anderen.

Friedliche Konzepte fruchten nicht

Tibeter werden gefoltert, das Kloster wird dem Erdboden gleichgemacht, nichts anderes konnte man erwarten. Friedliche buddhistische Konzepte des Verzeihens, der Exkulpierung des feindlichen Gegenübers, der Nächstenliebe letztlich, fruchten nicht. Deshars Versuch der Selbstverbrennung soll Heil bringen und läßt sie mit schlimmen Verletzungen überleben. Doch fällt es schwer, im Akt der Selbstverbrennung mehr als eine Verzweiflungstat zu sehen, auch wenn dieses Stück mit seiner buddhistisch-gewaltfreien Grundierung ihn in seiner symbolischen, quasi-religiösen Bedeutung stark überhöht. (Untertitel des Stücks: „Den Opfern der Selbstverbrennungen gewidmet“.)

Nonne Deshar, von der mißlungenen Selbstverbrennung schwer gezeichnet, auf dem Foltersuhl (Mitte). (Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrfestspiele)

Naturalismus

Abgesehen von zwei Musikanten am Rand der Szene, die mit einer Trommel und landestypischen Perkussions-instrumenten den dramatischen Gang des Geschehens sehr schön untermalen, findet auf der Bühne ein recht nüchternes, naturalistisch gehaltenes (ein Kollege nannte es durchaus zutreffend „europäisches“) Theaterstück statt, das klar die Rollen zuweist und sich mit Nuancen in der Figurenzeichnung nicht lange aufhält. Sie wären in gewisser Weise auch kontraproduktiv, weil die Geschichte sich im weiteren Handlungsverlauf weg von der politischen Zustandsbeschreibung hin zur fraglos auch allegorisch gemeinten Schilderung tragischer Vater-Tochter-Beziehungen bewegt.

Töchter und Väter

In dieser Schilderung ist Nonne Deshar die theologische Tochter des Rinpoche wie auch die biologische des Widerstandskämpfers und Lehrers Tsering (Tenzin Wangchuk), beide haben nicht unbegründete Angst, sie zu verlieren. Aber auch der chinesische Kommandant Deng hat eine Tochter, und die kommt bei einem Attentat ums Leben. Wohin mit dem Schmerz? Wer hat die Schuld? Schafft es Erleichterung, weitere Leben auszulöschen? Politisches Unrecht und persönliches Leid vermischen sich untrennbar, und diese religiös ansetzende, gleichermaßen jedoch illusionslos ablaufende Beschreibung der Verhältnisse macht zu einem Gutteil die tragische Qualität des Stückes aus.

Bereicherung des Festspielprogramms

„Pah Lak“ wurde auch schon in englischer Sprache inszeniert; für Recklinghausen, so ist zu lesen, entschied man sich jedoch für das Tibetische. Kaum möglich sei es, die Texte ins Deutsche zu übertragen, ist zu hören. Das will sein, auf jeden Fall hätte es eine Menge Aufwand bedeutet. Und die deutschsprachigen, über der Bühne projizierten Übersetzungen liefen untadelig. Reicher Applaus für das Stück, für die tibetanischen Künstler und Künstlerinnen und gewiß auch für den Mut, dieses Stück nach Recklinghausen geholt zu haben.

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Mord als schrecklich groteskes Kinderspiel – Shakespeares „Macbeth“ in Bochum

Wenn’s zum Schwur kommt: „Macbeth“-Szene mit gezückten Messern im Becken – mit (v. li.) Marina Galic, Jens Harzer und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Hat dieser Mann, Macbeth heißt er, erst einmal den grundsätzlichen Entschluss gefasst und einmal einen Mord begangen, so tötet es sich hernach furchtbar leicht. Einfach das Messer angesetzt und zugestochen. Dann wird noch demonstrativ eine Portion Theaterblut angerührt und über Mörder wie Leiche gegossen – und fertig. Gedanke und Tat folgen dann immer schneller aufeinander. Es ist fast wie ein Kinderspiel. Oder eben wie Theater.

Intendant Johan Simons hat Shakespeares blutrünstiges Drama „Macbeth“ auf die Bühne des Bochumer Schauspielhauses gebracht. Gar oft ist die Premiere verschoben worden, nahezu gefühlte zwei Jahre lang (hab’s nicht eigens nachgerechnet), gewiss nicht nur wegen der Corona-Pandemie. Nein, Simons und sein Team haben offenkundig mit diesem kaum auszulotenden, schwerlich auszuschöpfenden Stück gerungen, sie haben es wohl noch und noch von immer wieder anderen Seiten her betrachtet, um eine Form zu finden. Womöglich war es ein Prozess, der zur Entschlackung und zu einer Art Minimalismus geführt hat. Es ist nun, als wäre es ein Konzentrat geworden, das jedoch an manchen Rändern leichthin in Anflüge von Clownerie „ausfranst“ und neben dem Schrecklichen auch das Groteske aufruft. Nun gut, das Publikum will unterhalten und nicht nur entsetzt werden. Trotzdem ist es – alles in allem – eine Inszenierung, die einem nachgeht.

Den Text auf nur drei Figuren verteilt

Die Bühne (Nadja Sofie Eller) ist weitgehend leer, bis auf ein gekacheltes Becken. Eine unwirtliche Welt. Ganz hinten findet sich eine große Bild- und Videowand, die nur von Zeit zu Zeit sichtbar wird. Gespielt wird die Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch, über der Szenerie läuft Shakespeares genialer englischer Originaltext synchron mit – eine eigentlich willkommene Dienstleistung, auf die man sich jedoch kaum konzentrieren kann, weil die Darstellenden sofort alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Fast wie ein Herz und eine Seele: weitere Dreier-Szene mit (v. li.) Marina Galic, Jens Harzer und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Es sind nur drei, auf die sich die Textmenge aller wesentlichen Figuren verteilt. Anfangs mag das etwas verwirrend sein: Wer ist er oder sie denn jetzt schon wieder? Doch es tritt rasch Gewöhnung ein. Entweder hilft die namentliche Anrede, oder einfache Gesten wie das Auf- und Absetzen der Krone markieren die Person, mit der wir es gerade zu tun haben. Es geht ja auch nicht so sehr um abgrenzbare Individuen, sondern ums große Ganze der Zustände. Bei all dem kommt die Aufführung mit sehr wenigen Zeichen und Symbolen aus. Krone und (schottische) Fahne, das wär’s beinahe schon.

Die Hexen sind eigentlich immer dabei

Die drei multiplen Gestalten gehen aus der anfänglichen Szene mit den drei berühmt-berüchtigten Hexen hervor, die Macbeth jene vieldeutigen Prophezeiungen einflüstern, denen er nach gehabtem Schlachten-Glück die kommende Königswürde entnehmen könnte, die jedoch auf vertrackte Art auch den Nachkommen seines Kampfgenossen Banquo zufallen soll. Höllischer Zwiespalt! Ihn nutzt seine Frau, Lady Macbeth, um dem Manne die Mordlust einzuimpfen, geradezu schmackhaft zu machen. Erst den regierenden König Duncan gemeuchelt, sodann alle anderen, die irgendwie im Wege stehen oder auch nur hinderlich zu sein scheinen. Doch es nützt nichts. Wieder tritt eine rätselhaft doppeldeutige Prophezeiung ein…

Sie müssen natürlich spätestens jetzt genannt werden: Jens Harzer ist zunächst eine der Hexen, fortan Macbeth, Duncan, Malcolm und ein Mörder. Marina Galic ist ebenfalls eine Hexe, aus der abwechselnd Lady Macbeth, Banquo, Macduff, Lady Macduff und deren Sohn hervorgehen. Stefan Hunstein schließlich ist und bleibt „Hexe“, sprich: eines jener Geistwesen, das in den Menschen wütet. Das wiederum bedeutet: Die Hexen sind eigentlich immer dabei, vom Anfang bis zum bitteren Ende. Sie sind in Hirne und Seelen der Handelnden gefahren und weichen nimmermehr. Das Böse und die Unnatur sind nun einmal in der Welt.

Plötzlich die Frage: „Und wenn das schiefgeht?“

Auch sitzen und lauern die Mordgelüste schon in den Menschen, Macbeth kommt schließlich aus einem Krieg, in dem er sich bereits durch diabolische Grausamkeit „ausgezeichnet“ hat. Im trügerischen Frieden schreckt er zu Beginn noch vor Einzelmorden zurück, doch das gibt sich bald. Gewaltsame Gelüste müssen nur noch hervorgekitzelt und mit tätiger, doch eher passiver, geschehen lassender Hexen-Mithilfe ausgeführt werden. So vollführt Stefan Hunstein Mordtaten gleichsam als Pantomime mit. Es gibt etliche Szenen, in denen ausgiebig posiert wird und sich die Darstellung in wortlose „Choreographien“ verlegt – bis an den Rand des Plakativen. Andererseits zeigt sich vielfach, dass das Mörderische auch in der Sprache wurzelt. Gewalt ist nicht zuletzt ein „Sprach-Ding“.

Mordgelüste bis zum Slapstick: Szene mit (v. li.) Jens Harzer, Marina Galic und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Das großartige, durchweg gleichwertig ausbalancierte Schauspiel-Trio hält das Geschehen in der Schwebe oder im steten Wechsel zwischen Schauder und Groteske, punktuell werden auch ästhetische Mittel des Horrorfilms nicht gescheut. Überhaupt bewegt sich die Inszenierung zuweilen ganz stil- und formbewusst an einer bloßen Oberfläche, die allerdings schon genug Schrecken bereithält.

Zwischendurch treten die Drei öfter kurz aus ihren eh schon zersplitterten Rollen heraus und schauen verwundert auf sich selbst. Dann klingt es reichlich naiv und kindlich hilflos, wenn etwa Macbeth auf einmal vor der Untat Bedenken äußert: „Und wenn das schiefgeht?“ Auch gibt es Passagen, in denen Jens Harzer als Macbeth in eine Art Polit-Gelaber oder gefälliges Parlando verfällt, hinter dem die Morde quasi verschwinden sollen. Hat nicht seine Lady gesagt, er solle sich nichts draus machen und kein schlechtes Gewissen haben, sondern seine tyrannische Machtfülle lustvoll genießen? Hat sie ihn nicht auch mit sexueller Gier und Gunst ins irgendwann Unvermeidliche getrieben? Dazu wird zwischendurch auch schon mal eine Platte mit dem brünstigen Stöhn-Song „Je t’aime – moi non plus“ aufgelegt. Sex und Macht – ein weites Feld der Wechselwirkungen.

Ausblick auf eine Welt ohne Menschen

All das könnte schiere Einbildung sein und sich im Inneren eines mörderischen Hirns abspielen – mitsamt dem Geist des ermordeten Banquo, der Macbeth so schauderhaft erscheint. Ist vielleicht alles ein von den Hexen ins Werk gesetztes (oder auch nur amüsiert beobachtetes), blutiges Spiel der Sinnlosigkeit? Sogar die Massenmorde des 20. Jahrhunderts könnten schon gemeint sein, denn wenn einmal die Schranken des Gewissens gefallen sind, dann ist alles möglich. Shakespeare hat denn auch Sätze geschrieben, bei denen man zutiefst erschrickt; Sätze, die bereits mitten ins erkaltete Herz des Nihilismus führen, die manches an Dostojewski, Kafka oder Beckett vorwegnehmen. Das Bochumer Programmheft zitiert derweil Leute wie den Rapper Eminem und den Horror-Autor Stephen King. Das ganze Spektrum soll es sein.

Ins Allgemeine und Apokalyptische greift eine Videoeinspielung gegen Schluss. Wir haben erfahren müssen, dass auch der nächste Herrscher nach dem Tod von Macbeth seinen geköpften Widersacher kannibalisch fressen will. Und immer so weiter. Das Elend der grenzenlosen Gewalt hört nie auf. Selbst der monströse Macbeth war nur ein Beispiel von vielen. Und nun sind auf der Videowand Käfer und Raupen zu sehen. Vermeintlich niederes Getier. Einfach so. Nicht allzu fern liegender Gedanke: Es sind Geschöpfe, die nach dem Ende der Menschheit überleben und auf ihre Art weitermachen werden.

Der Rest ist Schweigen. Und Finsternis.

Riesenbeifall für alle Beteiligten, sodann stehende Ovationen. In Bochum wissen sie halt immer noch, was sie an ihrem Schauspiel haben.

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Die nächsten Vorstellungen: 13. Mai, 2., 11. und 14. Juni.

www.schauspielhausbochum.de

 

 

 




Ruhrfestspiele starten mit wütenden Tieren und einer wütenden Eröffnungsrede

Im Wald unter Tieren: Kathryn Hunter als Janina Duszejko (Foto: Marc Brenner/Ruhrfestspiele)

Und dann steht sie da im Scheinwerferlicht, eine zierliche ältere Frau, Holzfällerhemd, Mikrophon in der Hand, und erzählt. Um sie herum herrscht Dunkelheit, in der aber immer wieder auch geheimnisvolle Bewegung, Unheimliches, Schemenhaftes, Geahntes stattfindet. Nur manchmal wird in den folgenden zweieinhalb Stunden Bühnenlicht für kürzere Zeit auch auf Ereignisse fallen, die in Janinas Erzählung – so heißt die ältere Dame – eine Rolle spielen.

Beeindruckende Schauspielerin

Janina Duszejko ist die Hauptfigur im Stück „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ (wörtlich übersetzt: „Zieh deinen Pflug über die Gebeine der Toten“), das die Londoner Theatertruppe Complicité (Regie: Simon McBurney) nach der Romanvorlage von Olga Tokarczuk einrichtete und das, entstanden in einer Koproduktion, die Ruhrfestspiele dieses Jahres eröffnete – in englischer Sprache übrigens.

Obwohl Würdigungen der Mitwirkenden üblicherweise erst am Ende einer Theaterbesprechung auftauchen, soll doch an dieser Stelle schon die Schauspielerin Kathryn Hunter gewürdigt werden, die die Janina in fast pausenloser Bühnenpräsenz gibt und einen unglaublichen Textberg abzuarbeiten hat. Sie tut dies in einem fein angemessenen Erzählton, engagiert, doch nicht zu laut, freundlich zurückhaltend, erklärend, nicht belehrend. In Spielszenen, etwa jener auf einer Polizeiwache, zeigt sie, daß sie auch aufdrehen kann, wenn es die Rolle erfordert. Eine angenehme Darstellerin, eine angenehme Darstellung.

Sterbende Tierverächter

Worum geht es? In dem winterlichen polnischen Dorf nahe der tschechischen Grenze, in dem Janina lebt, kommen Männer qualvoll ums Leben, denen eigen war, daß Tiere für sie nur tot einen Wert hatten. Sie jagten sie mit Gewehren, stellten brutale Fallen auf – und früh schon greift die unheimliche Ahnung, daß immer Tiere beteiligt waren, wenn einer dieser Tierverächter starb. Katze, Kalb und Fuchs und Hase auf dem Rachefeldzug? Am Ende ist es dann doch anders, als lange Zeit vermutet, aber die Geschichte, die Janina und das Buch erzählen, ist mit ihren zahlreichen Verästelungen durchaus (auch) ein würdiger Vertreter jener Literatur, die sich mit Serienmorden befaßt – hier eben mal aus etwas veränderter Perspektive.

Eher Hörspiel als Theatersück

Ein Theaterstück ist aus der Buchvorlage allerdings nicht geworden, bestenfalls ein Hörspiel mit einigen szenischen Einschüben und zugegebenermaßen stimmiger Bühnenausstattung. Kürzer, prägnanter, theatralischer hätte man sich das ganze gewünscht; wenn deutschen Literaturadaptionen im Theater häufig und zu Recht der Vorwurf gemacht wird, sie bedienten sich allzu beliebig aus der Vorlage („Steinbruch“), so ist es hier gerade umgekehrt, klebt die Inszenierung (so man überhaupt von einer durchgängigen Inszenierung reden mag) geradezu an der Literatur, ist sie eher Hörbuch als Theater. Gleichwohl: der Ansatz ist interessant, Kathryn Hunter eine sehr bemerkenswerte Künstlerin und Complicité eine spannende Truppe, von der man zukünftig hoffentlich noch hören wird.

Zum Eröffnungsritual der Ruhrfestspiele gehört neben den zahlreichen Begrüßungen, Glückwünschen und Lobhudeleien von Politik, Gewerkschaften und sponsernder Industrie bekanntlich auch, daß man sich eine Rede halten läßt. In diesem Jahr hielt sie die Autorin Anne Weber, deren aufsehenerregende Biographie der Antifaschistin und Befreiungskämpferin Annette Beaumanoir vor zwei Jahren mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Da konnte man sich was erwarten.

Anne Weber (Foto: Thorsten Greve/Ruhrfestspiele)

Wo ist der Kern der Rede?

Doch ach. Im Rückblick fällt es schwer, einen Kern der Rede auszumachen. Man erlebte einen wütend sich gebenden Vortrag mit viel genderndem Definitionsgehabe zunächst, mit geballter Umweltkatastrophenrhetorik sodann, schließlich mit zahlreichen diesbezüglichen Selbst- und Fremdbezichtigungen.

Da kriegten „reiche Gangster“, die den Planeten ausplünderten, um sodann mit privat finanzierten Raketen auf einen anderen Stern überzusiedeln, ebenso ihr Fett ab wie diejenigen (also wir), die in törichter Leugnung des Apokalyptischen zielstrebig dem Untergang der Menschheit entgegenstrebten. „Erderwärmung und Kapitalismuskälte“ war dabei ein besonders schönes quasi-antagonistisches Sprachbild, unfreiwillig (?) komisch gerieten andere wie jenes von uns selbst, die wir uns „auf fremden Rücken die Taschen füllen“. Diese oft ein wenig hysterioforme Predigt im Zustand der „Dauerwut“ – „Ich brenne aus Wut über mich selbst“ – bot der drastischen Formulierungen etliche mehr, aber genug davon. Freundlichen Beifall gab es reichlich. Doch manch einer im Publikum hatte sich von der Beaumanoir-Biographin mehr erwartet.

 




Die Natur des Menschen erkunden – Programm der Ruhrtriennale

Auch diesmal eine zentrale Spielstätte der Ruhrtriennale: die Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: © Jörg Brüggemann)

Rühmen ist eine Kunst, auf die sich nicht alle verstehen. Ganz anders heute bei der Programm-Pressekonferenz zur Ruhrtriennale, die streckenweise geradezu schwärmerisch verlief. Das überwiegend weibliche Leitungsteam um die Intendantin Barbara Frey ließ nach und nach sämtliche am Festival beteiligten Künstlerinnen und Künstler hochleben. Darüber wurden die geplanten 90 Minuten arg knapp.

Intendantin und Sparten-Leiterinnen gingen überdies einfach mal davon aus, dass die Kreativen doch sicherlich samt und sonders allseits bekannt seien. Nun, für ausgesprochene Triennale-Afficionados und dito Habitués mag das wohl zutreffen. Oder eben für die Macherinnen selbst. Ich möchte hingegen wetten, dass nicht ausnahmslos alle Medienschaffenden sofort bei allen Namensnennungen gänzlich im Bilde waren. Aber was soll’s. Manche Vorhaben klingen wirklich vielversprechend, andere beim ersten Hinhören etwas gewöhnungsbedürftig. Oder halt „interessant“; ganz nach dem offenherzigen Motto: „Dann lasst doch mal sehen!“

Vom 10. August bis zum 23. September werden an 12 Orten in den Städten Bochum, Duisburg, Essen und Dortmund (Rachmaninow-Projekt „Abendlob und Morgenglanz“, ab 16. Augustin in der Zeche Zollern) insgesamt 34 Produktionen und Projekte gezeigt, darunter fünf Uraufführungen. Vielfach handelt es sich – wie bei der Ruhrtriennale üblich – um Mischformen („Kreationen“) zwischen Schauspiel, Musiktheater, Tanz, Performance und sonstigen Künsten. Auch der Film kommt diesmal (im Bochumer „Metropolis-Kino“) deutlicher zu seinem Recht als sonst. Noch mehr Zahlen? Bitte sehr: Alles in allem wird es 113 Veranstaltungen geben, der recht ordentliche Jahresetat beträgt rund 16 Millionen Euro.

Nun aber gilt’s der Kunst, notgedrungen anhand von wenigen Beispielen:

Die Eröffnungspremiere (10. August, Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord) inszeniert Barbara Frey selbst. Als Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater, aber zuerst im Revier zu sehen, steht William Shakespeares immer noch und immer wieder wunderbar rätselvoller „Sommernachtstraum“ auf dem Spielplan. Barbara Frey sieht das im zauberischen Wald angesiedelte Stück in inniger Verknüpfung mit dem zentralen Festival-Themenkreis: Was ist die Natur des Menschen und wie behandelt dieses seltsame Wesen die Natur um sich herum? Es gehe bei Shakespeare um alles: Kunst, Natur, Macht, Eros und Traum. Kein leichtes Unterfangen also, aber wohl ein reichlich lohnendes. Übrigens habe der weltberühmte Dramendichter auch schon Angst um die Natur gekannt. Schon zu seiner Zeit seien großflächig Wälder abgeholzt worden.

Inszeniert den „Sommernachtstraum“ als Eröffnungs-Premiere: Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey. (Foto: © Daniel Sadrowski)

Die größte Musiktheater-Poduktion heißt „Aus einem Totenhaus“ (Premiere am 31. August, Jahrhunderthalle Bochum) und stammt vom Komponisten Leoš Janáček. Seine Vorlage waren Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, in denen der Schriftsteller seine Leiden im sibirischen Arbeitslager geschildert hat. Die mit rund eineinhalb Stunden Spielzeit ziemlich kurze Oper wird von Dmitri Tcherniakow in Szene gesetzt. Das Publikum soll sich dabei durch eine finstere Gefängniswelt bewegen, die Trennung zwischen Bühne und Parkett werde aufgehoben. Zuschauer würden den Mitgliedern des Ensembles beispiellos nah kommen, heißt es. Zuschauerinnen natürlich auch. Durchgängiges „Gendern“ ist im Triennale-Team versiert ausgeübte Pflicht.

Zumindest indirekte Bezüge zur industriellen Ruhrgebiets-Vergangenheit hat das Musiktheater-Vorhaben mit dem Titel „Die Erdfabrik“ (ab 11. August, Gebläsehalle, Duisburger Landschaftspark). In der Auftragsproduktion, realisiert von dem Komponisten Georges Aperghis und dem Schriftsteller Jean-Christophe Bailly, sollen sich Bergbau-Minen als metaphorische Orte erweisen. Drunten, im tiefsten Dunkel, verwirre sich die gewöhnliche Ordnung der Welt, hier müssten Ur-Ängste überwunden werden, wie Barbara Eckle ausführt, die Leitende Dramaturgin fürs Musiktheater der Triennale. Zugleich habe der Gang in die Tiefe mit unvordenklichen Zeitschichten zu tun, die Kohle lagere dort seit vielen Millionen Jahren.

Eine besondere Tanzproduktion verspricht „Skatepark“ der Dänin Mette Ingvargtsen zu werden, die sich von sozialen „Choreographien“ der Skateboard-Community herleitet und selbige künstlerisch aufbereitet (ab 12. August, Jahrhunderthalle Bochum). Bei den Konzerten ragt u. a. ein „Schlagzeug-Marathon“ (26. August, PACT Zollverein in Essen) heraus, beispielsweise mit Billy Cobham und Mohammed Reza Mortazavi. „Play Big“ (ab 21. September, Jahrhunderthalle Bochum) heißt ein groß gedachtes und in jeder Hinsicht raumgreifendes Zusammentreffen von Sinfonieorchester, Chor und Bigband, bei dem es zu gleitenden oder auch kontrastreichen Übergängen zwischen E-Musik und U-Musik kommen dürfte.

Mit dem dritten Teil dieser Ruhrtriennale endet vertragsgemäß die Intendanz der Schweizerin Barbara Frey, die vordem u. a. das Schauspielhaus in Zürich geleitet hat. Die Journalistenfrage, womit sie wohl in hiesigen Breiten in Erinnerung bleiben werde, mochte sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht beantworten. „Lassen wir es offen.“

Durchzählen unnötig: Wir haben hier selbstverständlich nur einen Bruchteil der Produktionen nennen können. Der ganze große „Rest“ steht im gedruckten Programmheft und auf der Homepage des Festivals. Der Vorverkauf hat bereits begonnen, er läuft seit heute (27. April). 34.000 Tickets sind im Angebot, bis zum 4. Juni gibt es einen „Frühbuchungs-Rabatt“ von 15 Prozent. Und nun bitte hier entlang:

www.ruhrtriennale.de

 




Türen ins Nichts: Andrea Breths wirre Collage „Ich hab die Nacht geträumet“

Ensemble-Szene mit (v. li.) Günther Weidmann, Rebecca MacCallion, Frank Michael Jork, Martin Rentzsch, Heidrun Schug, Sonia Wagemans, Tomoya Kawamura, Birgit Heinecke. (Foto: © Ruth Walz / Berliner Ensemble)

In einem alten Volkslied heißt es: „Ich hab die Nacht geträumet / wohl einen schweren Traum, / es wuchs in meinem Garten / ein Rosmarienbaum“. Der Kirchhof wird zum Garten, das Blumenbeet zum Grab, ein goldener Krug zerfällt in tausend Stücke: „Was mag der Traum bedeuten? / Ach Liebster, bist du tot?“ Diese wundersamen Zeilen haben die Regisseurin Andrea Breth bewegt und berührt.

Wäre es nicht spannend, der Welt der Träume, in denen alles möglich, das Leben stets gefährdet und der Tod ein ständiger Begleiter ist, auf den Bühnen-Grund zu gehen und alles, was Dichter und Denker, Musiker und Maler über das Abseitige, Ungefähre und Unerklärliche zu sagen und zu singen haben, mit einer Theater-Collage zu umzingeln und dingfest zu machen?

Eine tolle Idee. Gerade, wenn Andrea Breth, die für einfühlsame Figurenzeichnungen, subtile Spracherkundungen und psychologische Tiefbohrungen bekannt ist, sich der Sache annimmt. Doch leider ist ihr irgendwann die Fantasie abhanden gekommen und die Puste ausgegangen: Aus einem viel versprechenden Abenteuer ins Ungewisse wurde am Berliner Ensemble eine gähnend langweilige und langatmige Schlafkur. „Ich hab die Nacht geträumet“ nennt Andrea Breth, die eine Zeitlang die Berliner Schaubühne leitete und viele Jahre am Burgtheater Wien als Hausregisseurin tätig war, ihren aus Musik- und Literatur-Fundstücken zusammen gebastelten Abend, der kein Zentrum und kein Tempo hat, der weder recht zündet noch irgendwann richtig abhebt.

Alles bleibt klumpig und klebrig, zerfasert und zerdeppert in Einzelteile, die sich nicht miteinander verbinden. Mit Texten, Bildern und Filmschnipseln, die Breth bei Herta Müller und Adorno, Ingeborg Bachmann und Wolfgang Borchert, Meret Oppenheim und Stanley Kubrick, Erich Fried und David Lynch gefunden, mit Musik-Häppchen, die sie bei Robert Schumann und Elvis Presley, Franz Lehár und Gioachino Rossini aufgeschnappt hat, will sie der „widersinnigen Logik von Träumen“ auf die Spur kommen, eine „Kunstpause in einer übermäßig lauten Welt“ erschaffen, offen sein „für das Schöne, Zärtliche und Gemeinsame“.

Klingt super. Nur sieht und hört man davon nichts auf der ganz in Grau gehaltenen Bühne, die einem kafkaesken Alptraum gleicht. Überall Türen, die ins Nichts führen, Gänge, die sich im Nirgendwo verlieren. Johanna Wokalek und Corinna Kirchhoff, Peter Luppa, Martin Jentzsch und Alexander Simon müssen mit gymnastischen Macken und verbalen Marotten, mit viel ironischem Pathos und manieriertem Getue sich durch Text und Musik hangeln. Adam Benzwi bearbeitet dazu das Klavier. Manchmal umschleicht auch ein vielköpfiger Chor das sinnlose Treiben, das immer lethargischer wird und mit seinen aus der Zeit gefallenen Attitüden und Kostümen befremdlich und altbacken anmutet.

Nach nach drei zähen Stunden ist endlich Schluss: „Gib mir den letzten Abschiedskuss“. Aber gern doch. Andrea Breth sagt, sie sei angesichts der aktuellen politischen Probleme „ratlos und sprachlos“ und unterzeichnete das „Manifest für den Frieden“ von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer. Anstatt der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung und Eigenständigkeit abzusprechen, hätte Breth vielleicht lieber mehr Fantasie in ihre völlig missratene Szenen-Collage stecken sollen.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 28., 29. März, 25., 26. April, Karten unter 030/284 081 55, theaterkasse@berliner-ensemble.de 




„Johann Holtrop“ und das große Geld – Uraufführung nach Rainald Goetz‘ Roman in Düsseldorf

Szene aus „Johann Holtrop“ nach dem Roman von Rainald Goetz. (Foto: Tommy Hetzel)

„Die Zeit liegt fern wie hinter einem Rauch“, heißt es in Bertolt Brechts Dreigroschenoper. So seltsam nebelverhangen und entrückt kommt sie einem vor, die Zeit des Turbokapitalismus und der Finanzkrise, die Zeit der gierigen und verantwortungslosen Manager, die einfach mal eine Firma in den Abgrund reißen, mit den Schultern zucken und sich das nächste Opfer suchen. Die Zeit der Wendegewinnler und Thomas Middelhoffs, die jetzt in Stefan Bachmanns Inszenierung von „Johann Holtrop“ nach dem Roman von Rainald Goetz am Düsseldorfer Schauspielhaus (Koproduktion mit dem Schauspiel Köln) wiederauflebt.

Der Egomane wirkt gar nicht mehr so krass

Seitdem ist einfach zu viel passiert: Coronakrise, Krieg in der Ukraine, Erde am Abgrund durch den Klimawandel. Dass ein egomanischer Manager wie Holtrop durch demütigende Rausschmisse und herrschsüchtiges Verhalten derart Angst und Schrecken in einer Belegschaft verbreiten kann, kommt einem einfach nicht mehr so krass schlimm vor. Sehnte man sich doch nach dem x-ten Lockdown im Homeoffice fast schon nach einer niedlichen kleinen Büro-Intrige, Hauptsache man bekommt überhaupt einmal wieder einen Kollegen leibhaftig zu Gesicht – einschließlich derer, die man noch nie leiden konnte.

Ganz zu schweigen von Bomben, Panzern, Tod auf dem Schlachtfeld – das relativiert eindeutig verpasste Boni oder Karriereknicks. Deswegen bringt sich der Thewe (Ines-Marie Westernströer) um? Aus heutiger Sicht kaum zu glauben – wer sollte ihn auch ersetzen? Gibt ja keine Leute mehr und die Kita hat sowieso zu. Da würde der Thewe zum Holtrop sagen: „Du, tut mir leid, ich arbeite heute remote, meine Tochter ist sonst alleine, die Kita streikt mal wieder! Deadline? Nee, weiß ich noch nicht, ob ich das jetzt schaffe, wir sind ja auch schon seit drei Wochen erkältet, ich kriege den Husten gar nicht mehr los…“

Es kommen härtere Tage

Allerdings: Die Alpha-Manager in den bunten Anzügen sind in Stefan Bachmanns Inszenierung allesamt mit Frauen besetzt. Sie agieren in mit Schnüren abgetrennten goldenen Käfigen, beziehungslos zueinander oder spinnefeind – je nachdem. Alle sprechen in einer stakkatohaften, artifiziellen Schrei-Sprache, so wird das Ganze fast zur Choreografie.

Nicola Gründel gibt den Johann Holtrop manisch-depressiv im Wortsinn: Ein eiskalter, eitler Ego-Shooter, immer in Aktion, immer unter Strom, immer schon die nächste große Idee und das noch größere Geld im Kopf – bis er zusammenbricht und ganz im Goetzschen Sinne „irre“ wird. Doch auch die härtesten Elektroschocks und fiesesten Irrenärzte kriegen ihn nicht klein; das schafft nur der eigene Größenwahn, der in der totalen Pleite endet. Und ohne Geld ist Holtrop nichts.

Zuletzt hat keiner einen Ausweg aus dem goldenen Käfig gefunden. Brauchten sie auch nicht, denn sie sind längst Schall und Rauch. Fast sehnt man sich ein bisschen nach ihnen und ihren ausgedachten Dramen zurück. Wenn sie nur nicht so laut und schnell sprechen würden. „Chillt mal!“, möchte man ihnen zurufen, es kommen härtere Tage…

Termine: 17. und 30. März, 4. und 26. April, 19. Mai und 12. Juni. Karten und weitere Infos: www.dhaus.de




Frühling für Hitler: Musical „The Producers“ nach Mel Brooks als rasanter Spaß in Hagen

Einmal eine große Nummer im Showbiz sein: Davon träumt der Buchhalter Leo Bloom (Alexander von Hugo) im Musical „The Producers“ nach einem Film von Mel Brooks. (Foto: Björn Hickmann)

Achtung, bitte anschnallen, fasten seat belts. Hier geht die Post ab, hier geht’s um Geld und Glamour und die Grenzen des guten Geschmacks. Das Theater Hagen startet mit dem Musical „The Producers“ durch, als wolle es einen Rekord für das schnellste Bühnenspektakel der kommenden fünf Spielzeiten aufstellen. Diesen überdrehten Spaß wird so schnell niemand überholen.

„Frühling für Hitler“ war der deutsche Titel der Vorlage, eine Filmkomödie von Mel Brooks aus dem Jahr 1968. Das Musical erzählt die Geschichte vom Broadway-Produzenten Max Bialystock , den der Erfolg verlassen hat. Sein Buchhalter Leo Bloom bringt ihn auf eine Idee, wie er durch Betrug wieder zu Geld kommen kann. Gemeinsam wollen sie das schlechteste Musical aller Zeiten auf die Bühne bringen, um danach mit den Investorengeldern nach Rio de Janeiro durchzubrennen.

Vom Glück verlassen: Max Bialystock (Ansgar Schäfer), ehemals König des Broadway, hat keinen Erfolg mehr. (Foto: Björn Hickmann)

Das passende Stück dafür kommt von dem Alt-Nazi Franz Liebkind, der nicht ahnt, dass sein geliebter Führer auf der Bühne zur Witzfigur wird. Aber auch die Produzenten dieser gezielten Geschmacklosigkeit werden überrascht. Denn der vermeintlich sichere Flop wird für Satire gehalten und löst Begeisterungsstürme aus.

Max Bialystock (Ansgar Schäfer, l.) und Leo Bloom (Alexander von Hugo) wollen sich mit Investorengeldern vom Acker machen. (Foto: Björn Hickmann)

Regisseur Thomas Weber-Schallauer inszeniert das als Achterbahnfahrt, bei der man kaum zu Atem kommt. Das temporeiche Spiel, das Timing der schlagfertigen Dialoge, die beinahe comichafte Zeichnung der Figuren und die vor nichts Halt machende Persiflage sind köstlich ungeniert und von hoher handwerklicher Perfektion. Die Veralberung des Dritten Reichs kitzelt das Zwerchfell zu hysterischem Lachen. Der Alt-Nazi Franz Liebkind mit seinem verschissenen Taubenschlag voll national gestimmter Vögel ist einfach unerträglich gut (Richard van Gemert quatscht sich im breiten Bayerisch um Kopf und Kragen).

Alle Abteilungen des Hauses unterstützen die Regie wie geschmiert. Ein Rädchen greift da ins andere: die schwungvolle und charmante Choreographie von Riccardo De Nigris, die das Jahr 1959 zitierenden Kostüme von Yvonne Forster, die Beleuchtung von Hans-Joachim Köster, die den Glamour des Showbiz ebenso sichtbar macht wie den grauen Alltag. Fantastisch gut gelingen die Szenenwechsel, die so fließend zwischen Traum und Wirklichkeit changieren, dass man sich manches Mal die Augen reibt.

Chor, Ballett und Ensemble hätten für ihren Einsatz glatt eine Verdoppelung der Gage verdient. Ansgar Schäfer (Max Bialystock) und Alexander von Hugo (Leo Bloom) werfen sich ins Getümmel, dass die Verletzungsgefahr nicht fern scheint. Schäfer gibt den Broadway-König als alternden, aber machtbewussten Macho. Alexander von Hugo hängt sich bei ihm ein: ein Hänfling der endlich auch einmal groß rauskommen möchte.

Die schöne Ulla (Emma Kate Nelson) will unbedingt die Hauptrolle spielen. (Foto: Björn Hickmann)

Die schwule Entourage des Regisseurs setzt herrlich arrogante Kontrapunkte (Florian Soyka als Roger de Bris und Matthias Knaab als Carmen Ghia). Und dann ist da noch die blonde Schwedin Ulla, die auf die Hauptrolle scharf ist. An dem Pseudo-Schwedisch, mit dem Emma Kate Nelson sich durch den Abend radebrecht, würde mancher sich gewiss die Zunge verstauchen. Das Philharmonische Orchester Hagen stimmt unter der Leitung von Steffen Müller-Gabriel großstädtischen Big-Band-Sound an und setzt mit Zitaten von Richard Wagner und Anklängen an die Nationalhymne satirische Akzente.

Am Ende strebt niemand vorzeitig zur Garderobe. Alle stehen, jubeln, feiern die Produktion mit Klatschmärschen. Die fiktiven Kritiken, die Max Bialystock mit wachsender Verzweiflung vorliest, treffen letztlich ins Schwarze: „Es war hanebüchen, es war anstößig, es war beleidigend, und wir haben jede Minute genossen“.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen unter www.theaterhagen.de, Karten: Tel 02331/207-3218.)




Dämonen, Tanz, zerbrochener Krug – Ruhrfestspiele präsentieren buntes und maskenfreies Programm

Farbenfroh: Szene aus „Der zerbrochne Krug” in der Regie von Anne Lenk (Foto: Arno Declair / Deutsches Theater Berlin / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Corona hat uns demütig gemacht. Ein Festival ganz ohne Masken und Sitzordnungen, einfach so wie früher, erscheint uns wie ein unverdientes Glück. Doch soll es so sein: Die nächsten Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis 11. Juni in Recklinghausen und Umgebung stattfinden, sind konsequent postcoronal, die zweiten „normalen“ Festspiele mithin in der Amtszeit des immer noch irgendwie neuen Intendanten Olaf Kröck. „Rage und Respekt“ lautet das diesjährige Motto der Veranstaltung.

Spannende Themen

Na, dann schauen wir doch mal auf das Programm. Die ganz großen Kracher des internationalen Festivaltourneegeschehens sind hier nicht auszumachen, wahrscheinlich wird die Triennale, später im Jahr, da einiges anzubieten haben. Aber spannend ist das Programm der neuen Ruhrfestspiele schon, speziell in den Bereichen Theater und Tanz. Wir stoßen, und das Wort ist hier nicht abwertend gemeint, auf interessante Stoffe, von denen man vielleicht hier und da schon gelesen, die man aber überwiegend noch nicht in Inszenierungen gesehen hat.

Mit diesem Stück fängt das Festival an: „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead” von der Theatercompagnie „Complicité“ (Foto: Camilla Adams / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Den Anfang macht ab 3. Mai „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ von der britischen Theatertruppe „Complicité”, die ein aufmerksames Ruhrfestspiele-Publikum vor einigen Jahren bereits als „Théâtre de la complicité“ kennenlernte. Das Stück basiert auf einem Roman der Literaturnobelpreis-trägerin Olga Tokarczuk (deutscher Titel: „Gesang der Fledermäuse“) und erzählt eine nicht nur andeutungsweise schaurige Geschichte von gejagten Wildtieren, einer engagierten Naturschützerin und brutalen Jägern, die indes auf merkwürdige Art immer weniger werden. Und irgendwie verhalten sich auch die Tiere des Waldes merkwürdig. Grüßt da Daphne du Maurier herüber, winkt George Orwell? Bleibt zu hoffen, daß die Darbietung in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln der Spannung keinen Abbruch tut. In der Titelrolle sehen wir übrigens Kathryn Hunter als Janina Duszejko, die, wie Olaf Kröck versichert, in England ein Bühnenstar ist.

„Der Wij“, Regie: Kirill Serebrennikov, Thalia Theater Hamburg / Foto: Fabian Hammerl Der Wij 298b5c2274babb Fotos Fabian Hammerl

Szene aus „Der Wij“ in der Regie von Kirill Serebrennikov (Foto: Fabian Hammerl / Thalia Theater Hamburg / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Ein böser Dämon

Ein bißchen schaurig geht es auch in „Der Wij“ zu, den ab 19. Mai das Thalia-Theater aus Hamburg auf die Bühne des Recklinghäuser Festspielhauses stellt. „Der Wij“ wird im Programmheft präsentiert als Stück von Bohdan Pankrkhin und Kirill Serebrennikov, inspiriert von einer Erzählung von Nikolai Gogol. Er ist ein Klassiker der russischen Phantastik, ein Dämon aus der Unterwelt, dessen Augenlider zumeist geschlossen sind, doch dessen Blick tötet. Ach, Rußland. Ko-Autor Kirill Serebrennikov, den man als Putin-Opfer kennenlernte und der jetzt seit etwa einem Jahr in Deutschland lebt und arbeitet, führte auch Regie.

„Tempest Project”, Peter Brook und Marie-Hélène Estienne, Théâtre des Bouffes du Nord / Foto Philippe Vialatte Tempest Project Ery Nzaramba Foto Philippe Vialatte

Shakespeares „Sturm“ inspirierte Peter Brook und Marie-Hélène Estienne zu ihrem „Tempest Project“, das das Théâtre des Bouffes du Nord auf die Bühne bringt. (Foto: Philippe Vialatte / Tempest Project Ery Nzaramba / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Noch einmal Peter Brook

Für Klassiker, die man quasi aus dem Reclam-Heftchen heraus inszeniert, gibt es kaum noch Platz im Gegenwartstheater. Bestenfalls dient alter Stoff als Quelle der Inspiration, als eine Art Stichwortgeber, wiederholt haben wir es beklagt. Nun denn. Immerhin war es der mittlerweile verstorbene Altmeister der Bühnenkunst Peter Brook, der in seinem „Tempest Project“ William Shakespeares Alterswerk „Der Sturm“ im „Théâtre des Bouffes du Nord“ auf seine Verwendbarkeit überprüfte – also in jener experimentellen Spielstätte in einem weniger vorzeigbaren Pariser Vorort, wo Brook zuletzt wirkte und wo auch das Stück „The Prisoner“ entstand, das 2019 bei den Ruhrfestspielen lief. Brooks Shakespeare-Adaption (zusammen mit Marie-Hélène Estienne) soll ansehnlich geraten sein, Unerwartetes und Erkenntnis zu Tage gefördert haben. Freuen wir uns auf die Vorstellungen.

„Manifesto” ist eine Choreografie von Stephanie Lake (Foto: Roy Van Der Vegt / Stephanie Lake Company / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Phädra in Georgien

„Phädra, in Flammen“ ist ein Antikenstoff, doch nur Nino Haratischwili wird als Autor genannt. Nanouk Leopold führt Regie in dieser Koproduktion mit dem Berliner Ensemble, es geht, ist zu lesen, parabelhaft um Fragen nach Machtpolitik, Emanzipation und politischer Regression, nicht nur in Osteuropa und Georgien.

Die Hexen übernehmen

Als Regiearbeit Roger Vontobels kommt Shakespeares „Macbeth“ als Koproduktion mit den Bühnen Bern auf die Bühne. „In der Fassung der Zürcher Anglistik-Professorin und Shakespeare-Expertin Elisabeth Bronfen werden die Hexen zu prägenden Kräften des Spiels…“ teilt uns das Programmheft mit. Nun ja. Wollen wir hoffen, daß Shakespeare wirklich so unkaputtbar ist wie allenthalben behauptet.

In Robert Ickes „Die Ärztin“ – „sehr frei nach ,Professor Bernhardi’ von Arthur Schnitzler“, vermerkt das Programmheft – ist aus dem Klinikarzt, eben, die Klinikärztin geworden, die sich plötzlich mit einem nicht für möglich gehaltenen Abgrund von Antisemitismus konfrontiert sieht. „Shitstorm“, politische Korrektheit, Rituale der Reue usw.: auch dieser Stoff ist in beunruhigender Weise nicht kaputtzukriegen.

Und immer wieder „Der zerbrochne Krug“

Darf Theater Spaß machen, richtiges, großes Theater? Sehr viel Lustiges findet sich jedenfalls nicht im deutschsprachigen Repertoire. Und wenn die Theaterleute unserer Tage Klassiker wie Steinbrüche behandeln, kommt meistens auch nichts Spaßiges dabei heraus (es gibt Ausnahmen). Große Ausnahme (unter den unspaßigen Klassikern) ist Kleist „Der zerbrochne Krug“, wenngleich auch dieses Stück, weil es ein brillantes Stück ist, tragische und bedrückende Anteile hat.

Unvergeßlich der „Krug“ von Andrea Breth, Ruhrtriennale 2009, mit Sven-Eric Bechtolf als Richter Adam, der sexuelle Nötigung, eine nicht eben unwahrscheinliche Vergewaltigung gar, unmißverständlich und mit gebotenem Ernst thematisierte. Nicht immer nur die Katze, die in die Perücke gejungt hatte. Jetzt ist der „Krug“ des Deutschen Theaters Berlin im Ruhrfestspiele-Programm (ab 9. Mai), Regie führt Anne Lenk, Ulrich Matthes gibt den Dorfrichter Adam, und es wird ganz bestimmt ein schöner Theaterabend. Übrigens: Wer nicht so lange warten will, schaue ins Programm der Duisburger „Akzente“. Dort läuft der Berliner „zerbrochne Krug“ auch.

Theater aus Tibet: „Pah-Lak“ von Abhishek Majumdar (Foto: Tibet Theatre / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Ein Blick auf Tibet

Ein Stück aus Tibet fällt auf, „Pah-Lak“ von Abhishek Majumdar, eine Koproduktion mit dem Tibet Theatre und dem Tibetan Institut of Performing Arts Dharamsala. Gespielt wird in tibetischer Sprache mit deutschen Untertiteln. Es geht um Tibet seit der Annexion 1950 durch China, um gewaltfreien Protest und, letztlich, um dessen Erfolglosigkeit. Und vielleicht gelingt mit diesem Stück, was Theater, neben vielem anderen, auch leisten kann: Empathie herzustellen mit einer anderen Kultur fernab, von der wir sonst, wenn überhaupt, nur in den Nachrichten hören.

Baukasten mit 53 Bewegungsfiguren

Es gibt der Theaterveranstaltungen einige mehr, nicht alle können genannt werden. Die Abteilung Tanz verzeichnet vier Produktionen, denen gemein ist, daß sie jeweils eine Stunde dauern; vorwiegend juvenile Themenstellungen, wie es scheint und wie es nicht zu kritisieren ist. Gerade einmal Sasha Waltz taucht noch als prominenter Name auf, einst die Nachzüglerin aus dem Berliner Radialsystem, mittlerweile so etwas wie die Grande Dame des deutschen Tanztheaters. Sie hat in einer Kooperation des Instituts für zeitgenössischen Tanz und der Folkwang Universität der Künste mit Studenten die Komposition „In C“ von Terry Riley aus dem Jahr 1964, die „gemeinhin als erstes Werk der Minimal Music“ (Programmheft) gilt, choreographiert, nicht als fertiges Bühnenstück, sondern als eine Art Baukasten mit 53 Bewegungsfiguren, die den Tänzern, wie es heißt, gewisse Freiheiten geben. Schau’n wir mal.

Viele bekannte Namen

Die Berlinlastigkeit bei der Auswahl der Theaterstücke, die wir im letzten Jahr noch beklagten, hat nachgelassen. Von Angela Winkler bis Matthias Brandt, von Nessi Tausendschön bis Paula Beer wird in Lesungen und im Kabarett viel einschlägige Prominenz aufgeboten, und in der Abteilung „Neuer Zirkus“ begegnen wir (auch) veritablen Choreographien, die eine Abgrenzung zum Tanztheater mitunter schwierig machen. Die Neue Philharmonie Westfalen spielt am 16. Mai Mahlers Fünfte, „Tod in Venedig“ – wie auch sonst – ist die Veranstaltung überschrieben. In der Kunsthalle sind Arbeiten von Angela Ferreira zu sehen, die Rede zur Eröffnung am 3. Mai hält die Schriftstellerin Anne Weber. Es gibt reichlich.

Mit allen Einzelheiten findet man das Programm, wie stets, im Programmheft oder im Internet: www.ruhrfestspiele.de




Der große unbekannte Literat – Lesung zu Wolfgang Welt im Bochumer Schauspielhaus

Eine tragische Person. Eigentlich hat er’s schon draufgehabt, das Schreiben: Lapidar und pointensicher, souverän strukturierte und rhythmisierte Prosa, der zuzuhören Freude macht. Einiges davon war jetzt zu hören, live, bei so etwas wie einer nachträglichen Geburtstagsfeier (bzw. –lesung), die das Bochumer Schauspielhaus anläßlich des 70. Geburtstags Wolfgang Welts ausrichtete.

Jele Brückner und Konstantin Bühler aus dem Ensemble lasen zusammen mit Frank Goosen Texte des früh Verstorbenen vor. Und wenn das erst am 3. Februar geschah, ist das zumindest auch dem Umstand geschuldet, daß ein 31.12. – der tatsächliche Geburtstag Welts – kein guter Termin für Lesungen aller Art gewesen wäre. Wolfgang Welt übrigens starb schon 2016, mit 64 Jahren.

Rock und Pop

Wolfgang Welt schrieb literarische, oft autobiographische Texte, er schrieb aber auch Rezensionen für Szene-Blätter wie „Marabo“ oder „Guckloch“, die in den 70er Jahren, gerade im studentisch geprägten Bochumer Raum, einen kräftigen Höhenflug erlebten. Welt hatte ein stupendes Fachwissen zu Rock- und Pop-Musik, war, was er gerne und wiederholt betonte, ein großer Buddy-Holly-Fan. Ein Literat war er zudem, hatte als Autor im Bochumer Intendanten Leander Haußmann, dem Literaturkritiker Willi Winkler, dem Suhrkamp-Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe sowie Peter Handke oder auch Hermann Lenz potente Fürsprecher.

Eigentlich waren die Achtziger eine gute Zeit für Pop-Literaten, zu denen man mit gebührendem Vorbehalt Wolfgang Welt vielleicht doch zählen könnte; warum also blieb der große (oder wenigstens mittlere) Durchbruch aus, war der Bochumer Dichter zeitlebens gezwungen, seinen Lebensunterhalt als Schallplattenverkäufer, später als Nachtwächter, zu verdienen?

Psychiatrische Erkrankung

Zu erwähnen sind die psychische Erkrankung, die Welt zwang, seine journalistische Arbeit einzustellen und ab 1982 als Wachmann zu arbeiten – ab 1991 übrigens im Schauspielhaus Bochum, wo sein fester Platz hinter der Glasscheibe im Künstlereingang war. Außerdem war er in geschäftlichen Dingen wohl nicht sehr geschmeidig, hielt mit Antipathien nicht hinter dem Berge, schätzte (in seinen Pressetexten) auch die üble Beschimpfung, etwa Heinz-Rudolf Kunzes, dessen Klassifizierung als „singender Erhard Eppler“ noch zu den feineren Formulierungen eines gnadenlosen Verrisses zählte. Vielleicht war es die rote Wut, vielleicht die Wut des Unbeachteten – es gab Korrespondenzen mit den Granden des bundesdeutschen Feuilletons, Karasek zum Beispiel, die sich schön lesen, aber zu nichts führten. Gerade einmal die Tageszeitung „taz“ hat Wolfgang Welt, ein bißchen jedenfalls, entdeckt und druckt nun manchmal Texte von ihm.

Aus armen Verhältnissen

Die eigentümlich ereignisarmen Biographien Annie Ernaux’ gehen einem durch den Sinn, die die Theater derzeit so gerne auf die Bühnen stellen (wie z.B. in Dortmund „Der Platz“). Eine zentrale Botschaft lautet: Kinder aus ärmlichen Verhältnissen, wie erstaunlich, haben es schwer, nach oben zu kommen; und an unverarbeiteten Minderwertigkeitsempfindungen leiden sie häufig auch dann noch, wenn sie im Leben erfolgreich waren.

Wie es damals eben so war

Ob die Herkunft aus einfachen Verhältnissen auch für Wolfgang Welts relative Erfolglosigkeit (zu Lebzeiten) eine Rolle spielt? Kann sein, muß aber nicht. Welts Verhältnis zur Mutter war liebevoll, in den Kindergarten kam er nicht, weil Mutter ihn gerne bei sich behalten wollte, was, wie wir vermuten, dem frühkindlichen Spracherwerb durchaus zuträglich gewesen sein könnte. Der Vater war zwar oft besoffen, aber wenigstens nicht übergriffig, den Kindern gegenüber nicht und auch wohl nicht gegenüber seiner Frau. Es war nur manchmal schwierig, ihn noch ins Bett zu kriegen, wenn er aus der Kneipe kam. Nun denn.

Zu erdig

Aus den autobiographischen Texten grinst dich das Ruhrgebiet der Fünfziger an, wo die Briketts noch tief flogen, aber Depression und Hoffnungslosigkeit keineswegs Leitmotive waren. Goosen erzählt recht ähnliche klingende Geschichten, ähnlich gerade auch dann, wenn es um Fußball geht. (Es geht oft um Fußball.) Vielleicht, aber das ist natürlich schon hoch spekulativ, waren Wolfgang Welts autobiographische Erzählungen einfach zu erdig für das oft recht eskapistische Repertoire der sogenannten Pop-Literatur. Denn ist der Stil auch leicht und locker, so sind die Geschichten doch existentiell, ist die psychische Erkrankung letztlich nicht verwunderlich.

Eine späte Entdeckung

Nach dieser schönen Geburtstagslesung tut es dem Verfasser dieser Zeilen jedenfalls leid, so spät auf den Schriftsteller Wolfgang Welt gestoßen zu sein. Erst als er starb, was in dem Medien ein gewisses Echo fand, wurde ich aufmerksam auf ihn. Früher hatte ich, in den guten alten analogen Zeitungszeiten, lediglich ab und zu die Pressefotos bei ihm abgeholt, die das Schauspielhaus von Premieren zur Verfügung stellte. Denn das gehörte zu seinem Job, Presseunterlagen aushändigen. Als Nachtwächter im Schauspielhaus.

Nachlaß liegt in Düsseldorf

Es gibt eine Reihe von Buchveröffentlichungen Wolfgang Welts, im Internet wird man fündig. Der ausführliche Wikipedia-Eintrag ist ganz aktuell. Sein Nachlaß übrigens, Berge von Schallplatten und eine üppige Bibliothek, ging an das Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut.




Mit Volldampf zurück in die Vergangenheit – René Polleschs sinnfreie Volksbühnen-Collage „Und jetzt?“

Szene aus René Polleschs bunter Collage „Und jetzt?“ – mit (von links) Franz Beil, Martin Wuttke und Milan Peschel. (Foto: © Apollonia T. Bitzan / Volksbühne)

Seit man Frank Castorf sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat, kommt die Berliner Volksbühne nicht zur Ruhe. Nachfolger Chris Dercon verzettelte sich mit kuriosen Ideen. Interims-Intendant Klaus Dörr musste nach Sexismus-Vorwürfen seinen Stuhl räumen. Die Rückkehr von René Pollesch, des verlorenen, zum Heiland verklärten Sohnes, sollte die Rettung bringen.

Doch bisher ist alles nur Stückwerk, Spielplan und Inszenierungen sind nur matter Abglanz früherer Erfolge. Pollesch wirkt lustlos und ausgelaugt. „Und jetzt?“ heißt seine neue Text- und Regie-Arbeit, die der Volksbühne neues Leben einhauchen könnte.

Pollesch greift in die Theater-Mottenkiste und geht in die Jahre 1968/69 zurück, als die DDR noch an den realen Sozialismus glaubte, die Kunst dem Volk dienen sollte. Damals inszenierte Benno Besson mit dem Arbeitertheater der Erdöl-Werke in Schwedt ein Stück von Gerhard Winterlich: „Horizonte“, basierend auf dem „Sommernachtstraum“ von  Shakespeare. Besson überführte später „Horizonte“ an die Berliner Volksbühne. Warum Pollesch das Projekt reanimiert, welche Lehren er für heute daraus zieht, bleibt aber die große Frage des Abends. Es ist ein Text-Labyrinth, eine Collage aus Literatur-Fundstücken. Auf dem Programmzettel: Hinweise auf Brecht und Bücher über das Katastrophenprinzip, Kybernetik sowie das Theater als Kampf und Kollektiv.

Auf der Bühne ereignet sich eine Theater-Schlacht: Sozialismus-Persiflage und Agitprop-Groteske, Zeitgeist-Satire und Kanzler-Klamauk, alles geschieht mit Wumms und Doppel-Wumms, wird durch den Theater-Fleischwolf gedreht. Winterlichs „Horizonte“ werden zitiert und Shakespeares „Sommernachtstraum“ wird geprobt, die Rolle des Zufalls diskutiert und der Kosmos als Folge von Katastrophen gedeutet. Das ist hanebüchen komisch und unendlich harmlos. Ein Déjà-vu-Erlebnis: alles war schon oft bei Pollesch-Abenden zu erleben, nur ehedem war es viel spannender und provokanter.

Immerhin gibt es ein freudiges Wiedersehen mit den Volksbühnen-Altstars Martin Wuttke und Milan Peschel: Sie spielen in der Weltklasse-Liga der traurigen Clowns, kauzigen Wort-Verdreher und aberwitzigen Grimassen-Schneider, krakeelen ohne Unterlass, machen hinreißend alberne Kunstpausen, verhaspeln sich lustvoll in Stotter-Arien. Manchmal wissen sie wohl selbst nicht, wer und wo sie gerade sind, absolvieren endlose Slapstick-Nummern, lassen sich, immer wenn „Macbeth“ erwähnt wird, vom Blitz der Erkenntnis erschlagen und sinken zitternd zu Boden. Regen prasselt, Schirme gehen in Flammen auf, Textbrocken verkümmern im Lärm lauter Musik: ein heiterer Kindergeburtstag. Da verliert man schnell den Anschluss, braucht die Hilfe der Souffleuse, die das turbulente Tohuwabohu umsichtig beäugt und den gestressten Mimen aus der Patsche hilft.

Bühnenbildnerin Anna Viebrock, die für die bizarren Liederabende von Christoph Marthaler rätselhafte Bühnen-Bunker gebaut hat, erschafft diesmal einen kargen, offenen Raum, eine Referenz an das Brecht-Theater. Ein kleines Podest für eine Wandertruppe, Plastik-Stühle, abgenutzte Tische: Da kann man mal Pause machen und eine Zigarette rauchen, bevor es wieder ins Getümmel geht und man Sätze absondern muss wie: „Der Moment deiner Erscheinung ist die absolute Bedeutungslosigkeit“, oder: „Die Sinnlosigkeit, mit der wir hier alles bereden, das ist so erleichternd.“

Ja, der Abend ist ziemlich sinnlos, verrückt und eine Erleichterung. Ist jetzt alles wieder gut an der Volksbühne? Zweifel sind angebracht. Statt Aufbruch in die Zukunft: volle Kraft zurück in die Vergangenheit. Das Premieren-Publikum amüsierte sich wie Bolle und applaudierte kräftig. Man ist ja so bescheiden geworden.

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: „Und jetzt?“ (Text und Regie: René Pollesch), nächste Vorstellungen am 7. und 15. Januar 2023.




Empathiemangel in Zeiten der Cholera – Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ in Bochum

Szene mit (v.l.) Amelie Willberg, Anne Rietmeijer, Guy Clemens, Dominik Dos-Reis, Victor Ijdens (Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Bochum)

Sie kommen einem alle so bekannt vor, der Weltverbesserer, der liebestolle Tierarzt, der prügelnde Trinker, die enttäuschte Gattin, das aufsässige Dienstmädchen und all die anderen. Mag sich die bürgerliche Gesellschaft im alten Rußland auch im Niedergang befinden, ihre Vertreter wußten auf der Bühne, in ungezählten Inszenierungen vergangener Jahrzehnte, zuverlässig zu begeistern. Jedenfalls in den Stücken von, beispielsweise, Maxim Gorki, „Die Kleinbürger“, „Nachtasyl“, „Die Sommergäste“.

Starke Charaktere sind sie, getrieben ebenso wie reflektiert, auf tragische Weise unvollkommen. Jetzt gibt es in Bochum, in der Regie von Mateja Koležnik, Gorkis „Kinder der Sonne“ zu sehen. Und etwas irritiert fragt man sich, was aus den Helden von einst geworden ist.

Anna Blomeier (Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Bochum)

Wie von Hopper gemalt

Auf eigentümliche Weise wirken die Auftritte der Figuren wie Soli, sogar dann noch, wenn sie miteinander reden. Sie tun dies eher leise, trotz elektronischer Verstärkung. Schon in den vorderen Reihen gibt es manchmal Verständnisschwierigkeiten. Aber wahrscheinlich ist das Absicht, ebenso wie die Körperpositionen der Schauspieler und Schauspielerinnen, die sehr dazu neigen, sich voneinander abzuwenden. Die (Bühnen-) bilder, die so entstehen, wirken wie von Edward Hopper gemalt, dem großen amerikanischen Maler der Beziehungslosigkeit. Farbigkeiten und Proportionen des Bühnenbildes (Raimund Orfeo Voigt), Dekorelemente und Möbel könnten ebenso von Hopper sein, und auch der wenig ansprechende Swing-Titel, der in der ersten Szene schon aus der Musiktruhe erklingt, paßt dazu.

Im Lauf der Inszenierung verfestigt sich der Eindruck: Diese ja eigentlich privilegierte Gesellschaft, diese „Kinder der Sonne“ eben, die sich in existenzbedrohlichen Zeiten der Cholera so ganz ihren Beziehungsproblemen hingeben, sind in Koležniks Bochumer Inszenierung eine Ansammlung von Autisten, denen lediglich ihre Unfähigkeit zur Empathie gemein ist.

Keine beglückenden Lösungen

Da man heutzutage auf der Bühne mit den Stoffen ja fast alles machen darf, ist die Frage nach der Zulässigkeit einer solchen Zeichnung müßig. Zu fragen wäre aber, ob es Sinn hat, Gorkis doch oft recht pralle Bühnengestalten aus Fleisch und Blut, wenn man einmal so sagen darf, durch gewollt flach agierende Statthalter zu ersetzen. Zumindest spricht für die nun in Bochum zu erfahrende Ausdeutung, daß die Resultate eigentlich die selben sind. Kraftvolle Charaktere gelangen bei Gorki ebenso wenig zu beglückenden Lösungen wie in Bochum die einsamen Autisten. Ob es fast zwei Stunden dauern muß, um diesen Aspekt so herauszuarbeiten, sei dahingestellt.

Szene mit (v.l.) Emily Lück, Anne Rietmeijer, Guy Clemens (Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Bochum)

Einige Lacher

An Andeutungen, daß hier durchaus Schauspiel-Künstler auf der Bühne agieren, mangelt es nicht, doch legt ihnen der Inszenierungsstil Zurückhaltung auf. Lediglich Jele Brückner (jetzt wieder fest im Bochumer Ensemble), die als liebestolle Witwe Melanija die Frau des Chemikers Protassow zu überreden versucht, ihr ihren Mann zu überlassen, macht da eine unterhaltsame Ausnahme, die das Publikum mit dankbaren Lachern quittierte.

Volle Hütte

Nun denn. „Kinder Sonne“ ist in Bochum eine konzentrierte, gelassene, naturalistisch gehaltene Produktion, die alles in allem doch erfreulich respektvoll mit der Vorlage umgeht. Einem aufmerksamen Publikum weiß sie die dem Stück innewohnenden Konfliktlinien sehr wohl nahezubringen, sicherlich auch gerade wegen ihres staubtrockenen Inszenierungsstils. Dankbarer und anhaltender Applaus. A propos: Die Vorstellung, wiewohl nicht Premiere, war sehr gut besucht. Man gewinnt den Eindruck, daß Bochum sein Publikum nach jahrelangen Corona-Einschränkungen wiedergewonnen hat.