Dortmund damals: Beim Betrachten alter Bilder aus der Heimatstadt

Manchmal entdecke ich im Internet Vorlieben wieder, die zwischendurch geschlummert haben. Da gibt es z. B. intelligente Schwärme, die schöne, noch schönere oder gezielt hässliche Worte aufspüren, was sich mitunter als Hauptspaß, seltener auch als Tiefsinn erweist. Doch hier und jetzt geht es um alte, zuweilen nostalgische Fotos aus meiner Heimatstadt Dortmund.

Bei Facebook und wohl auch in anderen Netzwerken tummelt sich dazu die eine oder andere Interessengruppe, die mit Fleiß und Akribie bei der Sache ist. Eine hat sogar rund viertausend Mitglieder: Man kann dort quasi keinen Pflasterstein oder Grashalm aus der Stadt posten, den nicht irgend jemand wiedererkennen, exakt benennen und mit historischen Hintergrundinfos anreichern könnte.

Da gibt es Leute, die sich mit lokalen Details offenbar mindestens ebenso gut auskennen wie Stadtarchivare, Regionalhistoriker oder Fachleute vom Katasteramt – und das nicht aus Pflicht, sondern aus Leidenschaft, die bekanntlich bei jeder Anstrengung Flügel verleiht. Amateure, so kann man hier mal wieder sehen, sind keineswegs Dilettanten. Sie heben denn auch ungeahnte Bilderschätze.

Ich selbst habe als Kind kaum fotografiert – und erst recht nicht als Jugendlicher. Das galt damals als „uncool“. Schade drum, sonst hielte man heute die eine oder andere Erinnerung mit städtischem Kolorit in den Händen. Von digitaler Dauerknipserei ahnte man noch nichts.

Nicht nur, aber auch wegen dieses Defizits habe ich heute ein Faible für historische Fotos aus der Stadt – ungefähr zwischen 1860 und 1980 ist so manches An- und Aufregende zu finden. Den jeweiligen Zeitgeist kann man geradezu einatmen oder aus den Bildern trinken.

Wie sich die Straßen und ganze Stadtteile gewandelt haben! Welche (hie und da noch dörfliche) Beschaulichkeit oder Pracht in der oder jener Ecke früher geherrscht hat! Wie glanzvoll war ehedem die Kaiser-Wilhelm-Allee, die heute als Hainallee vergleichsweise kümmerlich wirkt. Wie schmuck war die Hohenzollernstraße in der östlichen Innenstadt. Auch da zeugen nur noch Restbestände von damals. Wie weh wird einem zumute, wenn man all die tiefen Wunden sieht, die dann die Bomben des elenden Weltkrieges gerissen haben. Von den Menschenleben natürlich ganz zu schweigen.

Danach war Dortmund – ehedem freie Reichsstadt und Hansestadt – zwar keine geschichtslose, doch in weiten Teilen eine gesichtlose(re) Stadt: Die sozialdemokratische Abrisswut zur Schaffung von Verkehrsschneisen tat nach 1945 ein übriges. Und heute wanken manche denkmalgeschützten Bauten, wenn ein Großinvestor winkt.

Über lange Zeiträume betrachtet, blieben im Stadtplan lediglich Grundstrukturen wie etwa der Wallring, der Hellweg oder (bedeutend kleinteiliger) das Rund des Borsigplatzes erhalten. Auch die Westfalenhalle und die großen Sportstätten haben immerhin über einige Jahrzehnte nicht ihre Gestalt, wohl aber ihren Platz behauptet.

Ein besonders eigentümliches Gefühl beschleicht einen dann, wenn man alte Fotos aus dem Viertel sieht, in dem man aufgewachsen ist; womöglich gar noch aus der passenden Zeit. Häuser, die man damals gar nicht richtig beachtet hat (als Kind hat man ja auf „Jugendstil“ und dergleichen gepfiffen), wirken da auf einmal wie Persönlichkeiten oder gar wie Freunde, die über all die Jahre hinweg immer da gewesen sind. Es ist, als könnte das Spiel von neuem beginnen.

Man kann den historischen Bildern schon beim flüchtigen Hinsehen einige generelle Erkenntnisse entnehmen, die so ähnlich für viele Städte gelten dürften. Man vergleiche: Nicht nur die Autos haben die ehedem unverstellten Straßen schrecklich überwuchert, auch das Fernsehen hat zwischenzeitlich verheerend gewirkt, weil seither abends weniger Menschen die Stadt bevölkert haben.

Staunenswert war allein schon die Vielzahl der Dortmunder Caféhäuser und Amüsierbetriebe, etwa in den 20er Jahren. In den 50ern hatte dann nahezu jeder Vorort sein eigenes Kino – und nun schaue man sich die heutige Situation an. Bis in die 1960er Jahre hinein gibt es Bilder, die von einer vollen Innenstadt zeugen, in der ganz offensichtlich mehr Betrieb war als heute.

Speziell in Dortmund und dem Ruhrgebiet zeigen sich selbstverständlich die Monumente der alten Industrie – Zechen, Stahlwerke, Brauereien. Doch nicht nur das. Welch ein imposantes Theater hat es einst in dieser Stadt gegeben, welch einen prächtigen Amüsierpalast am Fredenbaum, welch einen repräsentativen Hauptbahnhof! Und welch eine großartige Synagoge, die 1938 von braunen Horden ruchlos zerstört wurde!




Witten will’s wissen: Wohin gehen die Kunden?

Vergesst Berlin, München, Hamburg! Hier kommt Witten!

Die Reviergemeinde mit ihren rund 96.000 Einwohnern (neuester Zensus) liegt mal wieder ganz vorn. Dort lassen sie jetzt, in einem vorerst auf fünf Jahre angelegten Projekt, die Kundenströme untersuchen, die sich Tag für Tag durchs Städtchen bewegen. Wenn diese Ströme mal nur keine Rinnsale sind…

Natürlich dürfen dabei keine Wildfremden ran. Nein, eine ortsansässige Firma besorgt, wie das Wittener Stadtmarketing stolz verkündet, das Geschäft mit einem neuartigen System, das die womöglich kaufwilligen Passanten scannen soll. Wie viele Leute tummeln sich wann und wo in den Einkaufszonen?

Wohin werden sich diese schattenlosen Gestalten wenden? (Foto: Bernd Berke)

Wohin werden sich diese schattenlosen Gestalten wenden? (Foto: Bernd Berke)

Leute, beruhigt euch! Die Sensoren sollen quasi nur ein Zählwerk in Gang setzen, jedoch keine Bilder aufzeichnen.

Ergriffen zitieren wir den idr-Nachrichtendienst des Regionalverbands Ruhr (RVR), der prinzipiell fast alles toll findet, was sich im Revier abspielt: „’City Monitoring’ erfasst an verschiedenen Punkten in Echtzeit die Bewegungen auf den Einkaufsstraßen und kann dank 3-D-Technik sogar zwischen Personen und deren Schatten unterscheiden.“

Da haben wir lauter Zauberformeln aus dem digitalen Wunderland versammelt: Echtzeit! 3D! Scannen! Wow!

Die strikte Unterscheidung zwischen Menschen und Schatten ist nicht nur hilfreich, wenn es um Kundenzahlen geht, sondern verweist indirekt auch noch auf hochliterarisches Herkommen. Ich sage nur Chamisso und Schlemihl. Der Mann ohne Schatten… Wer weiß, wer da durch Witten huscht!

Fassen wir vorerst zusammen: Das Paradies mag – wie Degenhardt einst im Lied sarkastisch mutmaßte – irgendwo bei Herne liegen, doch Silicon Valley muss irgendwo bei Witten sein.

Aber nun mal ganz frei nach „Tocotronic“ gesagt: Ich möchte nicht Teil einer Kundenbewegung sein. Mir kommen da aufsässige Phantasien in den Sinn. Kleine Sabotageakte.

Wie wär’s beispielsweise mit Flashmobs in Witten, die zu überraschenden Zeiten an bestimmten Punkten für Betrieb sorgen und den Datenbestand gründlich verfälschen?

Problem nur: Wie lockt man auf einen Schlag so viele Leute in diesen Flecken, dass es überhaupt auffällt? Und zweitens: Wahrscheinlich haben sich die Schlaumeier ein Verfahren ausgedacht, bei dem die statistischen „Ausreißer“ nach oben und unten gekappt oder anders gewertet werden.

Doch halt! Ich weiß, was ich mache. Ich kaufe einfach nicht in Witten ein. So wie bisher auch.




„Westfälischer Droste-Sommer 2013“ – und der Eintritt ist durchgehend frei

„Süße Ruh’, süßer Taumel im Gras…“ Unter diesem Titel kann man ab Samstag, 15. Juni, an drei verschiedenen Orten für jeweils vier bis fünf Wochen den „Westfälischen Droste-Sommer 2013“ erleben. Natürlich ist das Motto ein Zitat aus dem lyrischen Werk der berühmten Dichterin aus dem Münsterland.

Annette von Droste-Hülshoff auf der Briefmarke

Annette von Droste-Hülshoff auf der Briefmarke

Die Annette von Droste-Gesellschaft hat zusammen mit der Literaturkommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) einen mobilen, multi-medialen Museums-Pavillon erstellen lassen, in dem man nicht nur Literatur sehen und hören kann, sondern auch erleben soll.

Es geht los am kommenden Samstag um 16 Uhr mit dem Literaturfest auf der Burg Hülshoff in Havixbeck – dort, wo Annette geboren wurde. Als besonderer Gast wird die bekannte Schauspielerin Martina Gedeck eine Auswahl von Droste-Texten rezitieren. Außerdem kann man zur Eröffnung in Havixbeck und an den beiden anderen Orten moderne Droste-Vertonungen des Jazz-Musikers Jan Klare hören, und die drei Schriftsteller Frank Klötgen, Fabian Navarro und Rene Sydow tragen moderne Lyrik mit Droste-Bezug vor. Auf Hülshoff bleibt der Pavillon bis zum 14. Juli.

Die zweite Etappe des Sommerfestes ist ab 20. Juli die Abtei Marienmünster im Weserbergland (bis 25. August), die dritte Etappe kann man ab 31. August bis zum 29. September im Haus Rüschhaus in Münster-Nienberge erleben, wo Annette lange gelebt hat. Die Eröffnungsveranstaltung beginnt an den genannten Samstagen jeweils um 16 Uhr. Der Eintritt zu den Veranstaltungen und zu der Ausstellung ist jeweils frei.

Infos: www.droste-gesellschaft.de




ARD-„Brennpunkt“ zum Hochwasser: Die unstillbare Gier nach starken Bildern

Es ist auf Dauer etwas ermüdend: Gewisse Medien müssen stets übertreiben und stellen deshalb jeden stärkeren Wetterumschwung wenigstens als Jahrzehnt-Ereignis hin. Doch diesmal ist es wirklich ernst. Die Regenflut, die jetzt vor allem Teile Bayerns und Sachsens überschwemmt hat, übertrifft tatsächlich alle vergleichbaren Ereignisse in Deutschland.

Die ARD hat schon weitaus geringfügigere Ereignisse zum Anlass für einen „Brennpunkt“ nach der Tagesschau genommen, manchmal auch schon mittelprächtige Fußball-Nachrichten. Die 45-Minuten-Ausgabe „Hochwasseralarm – der Kampf gegen die Flut“ war hingegen wirklich angebracht.

In Superlativen schwelgen

Es moderierte mal wieder Sigmund Gottlieb vom Bayerischen Rundfunk. Der barocke Mann schien geradewegs in Superlativen zu schwelgen, von einer „Sintflut“ war natürlich gleich in den ersten Sätzen die Rede. Er kostete die gängige „Jahrhundert“-Rhetorik in vollen Zügen aus und war sich seiner eigenen Bedeutung wohl bewusst.

"Brennpunkt"-Logo (©: SWR)

„Brennpunkt“-Logo (©: SWR)

Machen wir uns nichts vor. Das Fernsehen giert immerzu nach spektakulären Bildern, wie das jetzige Hochwasser sie wieder liefert. Seit ein paar Jahren kann man dazu auch die sozialen Netzwerke heranziehen, aus deren Text- und Bilderfundus man sich leicht- und freihändig bedient. Da wähnt man sich ganz nah dran am katastrophalen Geschehen und am betroffenen Bürger. Ich kann mir übrigens kaum vorstellen, dass für die bei YouTube oder Twitter vorgefundenen Aufnahmen Honorare gezahlt werden, lasse mich aber gern eines Besseren belehren…

Profis am Werk

Beinahe schon tragische Ironie liegt darin, dass ursprünglich eine eher beschauliche Naturdoku über die Donau auf dem Sendeplatz gestanden hatte. Gerade dieser Fluß ist nun so mächtig über die Ufer getreten, dass bespielsweise die Altstadt von Passau so hoch unter Wasser steht wie seit Jahrhunderten nicht. Eine Bootsfahrt durch die engen Gassen vermittelte einen Eindruck vom Ausmaß der Schäden. Viele Menschen stehen vor den Trümmern ihrer Existenz und hoffen auf staatliche Hilfe. Manche Einzelschicksale sind wahrhaftig zum Heulen, das konnte man ahnen.

Sprachlich sprudelte so manches Klischee, doch inhaltlich wurde einigermaßen solide gearbeitet. Es waren Fernsehprofis am Werk, die nahezu alle denkbaren Aspekte der Flut ins Auge fassten – vom Vergleich mit 1954 und 2002 über mögliche Vorbeugungsmaßnahmen bis hin zur schier unvermeidlichen Frage, ob all das mit dem oft beschworenen Klimawandel zu tun habe. Der eilends herbeizitierte Experte, Klimaforscher Prof. Harald Kunstmann, prophezeite, dass uns solche Extremereignisse immer öfter ereilen werden.

Politische Verwurstung

Es ist mehr als nur Legende, dass der damalige Kanzler Gerhard Schröder zur Flut von 2002 tatkräftige Präsenz zeigte und wohl auch daher noch ein paar Jahre im Amt bleiben konnte. Morgen (Dienstag) wird Angela Merkel im Krisengebiet erwartet. Innenminister Hans-Peter Friedrich war heute schon da. Alles andere wäre auch politischer Wahnsinn.

Direkt nach dem „Brennpunkt“ warf sich Frank Plasberg mit „Hart aber fair“ in die Bresche und fragte mit triefender Ironie: „Was will uns die Natur damit sagen?“ Hier wurde das Naturereignis sogleich flugs dem Parteienstreit und somit der landläufigen politischen Verwurstung zugeführt, was freilich auch wieder reflektiert wurde. So konnten sich Renate Künast (Grüne) und Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) ein paar wohlfeile Wortgefechte liefern. Um mal ein etwas schiefes Bild zu verwenden: Man kann eben auf allem sein Süppchen kochen, selbst auf Flutwasser.

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen.




Es gibt Tage, da will man nur noch weg !

Das Wetter ist beschissen, auf dem Brocken fällt Schnee                        st_chely

und in Dreis Tiefenbach hagelt es Tennisbälle aus Eis.

Willkommen Ende Mai !

Wollemonat. Tonnenmonat.

Diesen herrlichen Monat, als solches  seit der Wetteraufzeichnung

verehrt, kann man wahrlich in die Tonne kloppen.

Schlittenfahrt durch den Mai!

„Et schickt!“

 

Nein wir sind nicht aus Zucker, auch keine Jammerlappen.

Aber wir leben nun einmal nicht in Grönland und unsere Heimat

heißt auch nicht Spitzbergen.

Und so gibt es dieser Tage reichlich Zwiesprache mit dem Wettergott,

mit Claudia Kleinert, mit Herrn Thiersch und Inge Niedeck.

Sven Plöger überschlägt sich in seinem Wetterstudio,

haut sich auf seinen kahlen Schädel, dem der Morgenfrost das letzte Haar weggefressen hat.

 

Wie nicht anders zu erwarten ist, sind die Leute mies drauf,

was im Siegerland keine Kunst, sondern Alltag ist.

Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die bestätigen eben nicht die Regel.

Man schaut in Gesichter, die an Eisen- und Stahlskulpturen erinnern.

Gemeißeltes Leben mit Schweregarantie.

 

Da kommt es nicht von ungefähr, dass der Autor, der wohl im Siegerland lebt,

aber kein Siegerländer ist, an Frankreich denkt.

Zur linken Seite liegt ein Buch von Robert Louis Stevenson:

„Reise mit dem Esel durch die Cevennen“.

Die Cevennen sind auch ein hartes Pflaster, wird manch einer einwenden.

Das stimmt wohl.

Aber, wenn man sie durchreist hat, landet man am Mittelmeer

und nicht auf dem Westerwald.




„Unaufgeregteste Großstadt“ der Republik oder etwa doch ein Provinznest?

Abseits des Fußballs gibt es immer wieder Anlässe, sich über Verhältnisse in Dortmund aufzuregen.

Stichwort neonazistische Umtriebe. Stichwort Verwahrlosung und Laden-Leerstände bis in die Innenstadt hinein. Stichwort desolate Zustände in Teilen der Nordstadt. Ach, ich werde des Aufzählens müde.

Da können Lokalpolitiker und harmoniegeneigte Lokalpresse (also praktisch nur noch die Ruhr Nachrichten) noch so jubeln oder beschwichtigen: Diese finanziell gebeutelte Kommune droht in vielen Bereichen dauerhaft auf den absteigenden Ast zu geraten.

Abriss des ehemaligen Gymnasiums an der Dortmunder Lindemannstraße (Foto: Bernd Berke)

Abriss des ehemaligen Gymnasiums an der Dortmunder Lindemannstraße (Foto: Bernd Berke)

Nicht nur Lokalpatrioten widerstrebt überdies jedes Ranking, bei dem Dortmund schlecht abschneidet – und das kommt oft genug vor, sei’s bei Statistiken aus dem Bildungsbereich, bei Einkommenstabellen oder Arbeitslosenzahlen.

Ein neueres Beispiel einer solchen Liste kommt von der Job- und Karriere-Plattform „Xing“, die unter ihren Mitgliedern eine (freilich alles andere als repräsentative) Umfrage veranstaltet hat.

Gerade mal 845 Nutzer haben daran teilgenommen. Piepegal. Daraus lassen sich trotzdem knackige Ergebnisse filtern und dann kraftvoll ausposaunen. Man nehme also die zwölf einwohnerstärksten Städte Deutschlands und frage, in welchem Ort der Xingler (oder Xingling, Xingle?) gern bzw. ungern arbeiten würde. Und welche Weltsensation kommt heraus? In Front liegt Hamburg (hier wollen 42% gern arbeiten) vor München, Berlin, Köln und Stuttgart; am schäbigen Ende rangiert Essen (48 Prozent winken ab) vor Dortmund, Leipzig, Dresden und Frankfurt. Na klar. Immer mal wieder feste druff auf Ruhris und Ossis.

Zuweilen glaubt man allerdings tatsächlich, dass Dortmund mit seinen rund 580 000 Einwohnern Züge eines Provinznestes hat. Wollte man’s positiv wenden, so kramte man die gute alte Formulierung aus der Wochenzeitung „Die Zeit“ hervor: Dortmund sei die „unaufgeregteste Großstadt der Republik“, hieß es dort mal vor Jahr und Tag. Der Satz gilt, mit einer Prise Ironie gesprochen, heute noch.

Und wo hätte ich nun neuerdings Kennzeichen der Provinzialität entdeckt? Dazu zwei vermeintlich unscheinbare, doch kennzeichnende Beispiele.

Beispiel 1: In der ganzen großen Stadt findet sich freitags kein einziger Briefkasten, der noch nach 19 Uhr geleert würde – auch nicht an der Hauptpost. Man muss statt dessen in sehr entlegene Ecken von Hagen oder Essen (exotischer Ortsteil Vogelheim) fahren, um dann noch dringliche Post loszuwerden. Eine Angelegenheit der Deutschen Post, gewiss. Und nicht ganz so ärgerlich wie der schlampige Umgang der Deutschen Bahn mit dem Dortmunder Hauptbahnhof. Aber immerhin.

Briefkasten mit freitäglicher Abendleerung - weit draußen in Hagen. (Foto: Bernd Berke)

Briefkasten mit freitäglicher Spätabendleerung – weit draußen in Hagen. (Foto: Bernd Berke)

Beispiel 2: Am allzeit defizitären Dortmunder Flughafen, der vor allem Billigflieger-Verbindungen nach Osteuropa offeriert, sich als internationaler Airport versteht und derzeit versucht, das Nachtflugverbot aufzuweichen, leistet man sich einen geradezu lächerlichen Service-Mangel. Auf der Besucherterrasse, die viele Menschen mit ihren Kindern aufsuchen, ist kein einziges Kindergericht erhältlich. Ja, die Betreiber sehen sich nicht einmal in der Lage, einfach mal kleinere Portionen für kleinere Leute zu servieren. Das ist eine ähnliche Negativwerbung wie hie und da im Westfalenpark, wo an bestimmten Punkten oft die geringsten Bedienungsstandards missachtet werden. Genau dort, wo die meisten Gäste von außerhalb auftauchen, zeigt man sich besonders unwillig.

Wenn wir schon mal beim Querulieren sind, sei nun auch noch dies angemerkt: Dortmund ist nicht grade reich an historischem Baubestand. Da wiegt es schon doppelt schwer, dass jetzt an der Lindemannstraße das einstige Königliche Gymnasium (später Kaserne, Staatliches Gymnasium, Lehrerseminar) aus dem Jahr 1907 kurzerhand abgerissen wurde, um einem ein ziemlich gesichtslosen Wohn- und Geschäftshaus mit dem superschicken Namen „Four Windows“ Platz zu machen. Die lokal leider konkurrenzlosen Ruhr Nachrichten vermelden den baulichen Verlust ohne kritischen Unterton. Man wird doch keine Investoren verschrecken wollen…

Ja, ich gebe zu, dass ich mich mit dem Bauwerk auch persönlich verbunden fühle. Ich bin in der parallel laufenden Arneckestraße aufgewachsen. Der Balkonblick über den begrünten Hinterhof fiel auf den mächtigen Giebel und den klassisch gegliederten Baukörper des damaligen Gymnasiums. Damit verschwindet also auch wieder ein Stück der Kindheit. Als ich jetzt dort Fotos vom Abriss gemacht habe, kam gleich jemand auf mich zu und sagte: „Das da tut mir in der Seele weh. Hier bin ich zur Schule gegangen.“ Worauf ein längeres, recht einvernehmliches Gespräch über Dortmunder Defizite folgte.

Unabhängig davon frage ich mich, ob die Denkmalschützer hier nichts Erhaltenswertes gesehen haben und warum ausgerechnet die Bewohner des umliegenden, linksliberal und grün-alternativ geprägten Kreuzviertels (mit Abstrichen: Dortmunds „Prenzlauer Berg“) in dieser Angelegenheit still und stumm geblieben sind.

Warum wohl trifft es viele so hart, wenn einer wie Mario Götze den Lockungen aus München folgt? Weil es hier manchmal doch etwas trist wäre, wenn wir den Fußball und den jetzt so grandiosen BVB nicht hätten! Na gut: Und noch ein paar andere herrliche Sachen.




Museum für westfälische Literatur: Haus Nottbeck im Münsterland lohnt einen Besuch

Man kann ja bei diesem Wetter kaum ins Freibad gehen, und das Herumtollen auf Wiesen macht bei dem knochenharten Boden auch keinen Spaß. Da bietet sich ja eher etwas Kulturelles am – zum Beispiel das Haus Nottbeck im südlichen Münsterland. „Kulturgut“ nennt sich das westfälische Wasserschloss offiziell, und es ist wirklich einen Ausflug wert.

Das Haupthaus mit dem Museum.Foto: LWL

Das Haupthaus mit dem Museum.
Foto: LWL

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat sich vor Jahren zusammen mit dem Kreis Warendorf des alten Herrensitzes im Oelder Stadtteil Stromberg angenommen. Entstanden sind nicht nur ein Tagungszentrum und ein „Kultur-Café“, sondern als Kernstück findet man im Haupthaus das Museum für westfälische Literatur. Von den Anfängen der Lesekultur bis in die Gegenwart wird hier das Leben und Werk von Schriftstellern und Schriftstellerinnen aus Westfalen liebevoll dargestellt, mit Dokumenten und Original-Gegenständen, aber auch mit Hör- und Video-Beispielen und mit ausführlichen Lebensläufen und Werkbeschreibungen. Dabei kamen nicht nur in Westfalen geborene Dichter ins Programm, sondern auch Literaten, die nur zeitweise in Westfalen oder Lippe gelebt und Spuren hinterlassen haben.

Das Kulturgut bietet aber auch ein wechselndes Programm. Zum Beispiel am 13. April Poetry-Slam unter dem Titel „Dead or Alive Poetry-Slam: Die besten Slam-Poeten gegen Legenden der Literatur“ oder (bis zum 12. Mai) eine Ausstellung des Graphikers und Buchkünstlers H. D. Gölzenleuchter. Am Sonntag, 7. April, kann man den Künstler im Museum in seinem „offenen Atelier“ besuchen.

Das Haus Nottbeck besticht auch durch seine beschauliche Lage im dort leicht hügeligen Südmünsterland. Im Park des Kulturguts kann man sich in der Nähe von drei „Hör-Inseln“ entspannen.

Kulturgut Haus Nottbeck. Museum für Westfälische Literatur. Landrat-Predeick-Allee 1, 59302 Oelde, Tel: 02529 / 94 55 90. www.kulturgut-nottbeck.de. Öffnungszeiten Literaturmuseum: Dienstag bis Freitag 14 bis 18 Uhr, samstags, sonntags und an Feiertagen 11 bis 18 Uhr. Freier Eintritt.




St. Maria zur Wiese in Soest wird 700 Jahre alt

Stolz stehen die beiden Türme am Stadtrand der Hansestadt Soest: St. Maria zur Wiese nennt sich die imposante Kirche, die uns so unverfälscht gotisch vorkommt. Tatsächlich kann die Kirche in diesem Jahr ihren 700. Geburtstag feiern, aber die Turmspitzen entstanden erst im 19. Jahrhundert.

Das „Westfälische Abendmal“ in der Wiesenkirche Soest.

Da teilen die Soester das Schicksal der Kölner Kirchenbauer, die auch erst auf die Hilfe des protestantischen Herrschers aus Berlin für die Fertigstellung ihres Domes warten mussten. In Soest findet sich im Hauptchor eine Inschrift, die auf den Baubeginn hindeutet: Im Jahre 1313 habe der Meister mit dem Namen Johannes Schendeler den Grundstein gelegt. Im kleinen Kirchenführer für die Wiesenkirche wird vermutet, dass Schendeler zuvor schon am Bau des Kölner Domes beteiligt war.

St. Maria zur Wiese bekam ihren Namen von ihrem Standort: „Maria in pratis“ heißt sie in frühen Quellen, also „in den Wiesen“, aber auch „Maria in palude“ ist überliefert, was „Maria im Sumpf“ bedeutet. Seit 1985 wird die Kirche grundlegend renoviert, und zurzeit steht noch ein Gerüst am Südportal, dem Haupteingang. Diese letzten Arbeiten sollen im Jubiläumsjahr abgeschlossen werden.

Besonderen Ruhm erlangte die heute evangelische Kirche durch ihre wunderbaren Glasfenster, die nicht, wie in anderen Kirchen nach der Reformation, entfernt oder zerstört worden waren. Vor allem das „Westfälische Abendmahl“ im Fenster an der Nordseite zieht immer wieder Besucher an:  Die Tendenz zu lebensnahen Darstellungen hat hier nicht nur zu zeitgenössischen Trachten der Figuren geführt, sondern auch die Gaben auf und dem Tisch zeigen regionale Besonderheiten: Jesus und seine Jünger sitzen bei ihrem letzten gemeinsamen Mahl vor westfälischem Schinken und einem Schweinskopf, und statt Wein gibt es Bier aus Krügen und einen großen Korb mit Landbrot.

Im Zweiten Weltkrieg waren die wertvollen mittelalterlichen Glasbilder ausgebaut und sicher gelagert worden, sodass man sie heute beglückt bewundern kann. Soest ist also nicht nur wegen seiner schönen Altstadt einen Ausflug wert, sondern auch wegen seines berühmten Geburtstagskindes, der Kirche St. Maria zur Wiese.




Dortmund in den 20er Jahren: Groß- und Weltstadtträume in der westfälischen Provinz

Dortmund in den 1920er Jahren – war da was? Da wird doch wohl nicht viel „Betrieb“ gewesen sein, oder?

Nun. Wie man’s nimmt. Es war gewiss kein Vergleich mit Berlin. Auch war es kein goldenes, aber doch ein vielfach hoffnungsvolles Jahrzehnt in Westfalens größter, seinerzeit (bis zur Weltwirtschaftskrise 1929) deutlich aufstrebender Stadt. Für den Sammelband „Die 1920er Jahre. Dortmund zwischen Moderne und Krise“ haben 23 Autor(inn)en jeweils in kurzen Aufsätzen einige Grundlinien der damaligen Entwicklung skizziert, die sich nach und nach zum facettenreichen Bild fügen. Hierauf könnten künftige Standardwerke aufbauen.

Das thematische Spektrum reicht von Bergbau und Brauereien über Begleitumstände der Motorisierung und den früheren Flughafen – bis hin zur lokalen Politik, zum Theater, der blühenden Kinolandschaft (angesichts der heutigen Dürftigkeit muss man da unwillkürlich seufzen) und den offenbar beachtlichen Vergnügungslokalen. Jawohl. Es hat da ein paar imponierende Etablissements gegeben, die national wohl allenfalls hinter Berlin oder Hamburg zurückstanden. Mehr noch: Die 1925 eröffnete, „alte“ Westfalenhalle (1952 völlig veränderter Neubau nach Kriegszerstörung) mit ihren Sechstagerennen, Boxereignissen oder Max Reinhardts gigantischen Mysterienspielen („Das Mirakel“) weckte bei manchen Menschen gar Weltstadt-Illusionen. Doch schon damals hat man sich des Bahnhofs geschämt, der nicht ins lokalpatriotische Wunschbild passen wollte. Es gibt Dinge von unheimlicher Dauer.

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Immerhin erschien in Dortmund der tief bis ins Rheinland ausstrahlende, erzdemokratische „Generalanzeiger“ (GA), die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung außerhalb Berlins. Nebenbei geflüstert: Es macht einen geradezu ein klein wenig stolz, zu Beginn des Berufslebens noch in einstigen GA-Gebäuden an der Bremer Straße gearbeitet zu haben. Jetzt aber Schluss mit Rührseligkeit! Zumal Dortmund heute – so betrüblich man das finden mag – leider keine Pressestadt von exzellentem Rang mehr ist.

Das literarische und künstlerische Leben der 20er Jahre wird auf lokaler Ebene zwar abgehandelt, es hat jedoch bei weitem nicht die Dimensionen und Wirkkräfte des populären Amüsements erreicht. Auch hierbei kann man in der Stadt missliche Nachwirkungen bis in die heutige Zeit spüren.

Auch im Dortmund der 1920er kann man von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sprechen: proletarische Lebensformen, natürlich; provinzielle Enge und dörfliche Lebensweise in den Vororten; als Gegenkraft der feste bürgerliche Wille, endlich urban zu werden in einem entschieden modernen Sinne, wobei freilich die technisch-industriellen Aspekte der Moderne überwogen. Die Ideen der Futuristen und deren bedingungslose Maschinen-Begeisterung gaben den Takt vor. Da ließ man auch jede Rücksicht auf die Reste der mittelalterlichen Stadt fahren. „Vorwärts, vorwärts“ hieß die hämmernde Devise.

Alles, was irgend nach Großstadt roch, sollte gesteigert werden. In der Folge sind eine ganze Reihe von Gebäuden, die teilweise noch heute das Stadtbild mit nüchtern-neusachlichem Gestus prägen, in jenen Jahren entstanden. Zu nennen sind vor allem der mächtige Turm der Dortmunder Union-Brauerei (heute „Dortmunder U“) sowie der Dreiklang aus Westfalenhalle (1925), Kampfbahn Rote Erde (1926) und Volksbad (1927).

Übrigens gilt es gerade jetzt, ein weiteres wuchtiges Baudenkmal der 20er zu retten, nämlich die kühn geschwungene, bisherige AOK-Zentrale am Königswall. Deren ursprüngliche, zwischenzeitlich mit Platten verblendete Fassade muss nach dem kürzlich erfolgten Auszug der Krankenkasse unbedingt wieder ans Licht geholt werden. Alles andere wäre Frevel.

„Die 1920er Jahre. Dortmund zwischen Moderne und Krise“. Sonderausgabe der Zeitschrift „Heimat Dortmund“ (Doppelheft 1+2/2012). Hrsg.: Günther Högl (ehem. Stadtarchiv-Leiter) und Karl-Peter-Ellerbrock (Direktor Westfälisches Wirtschaftsarchiv). Klartext Verlag, Essen. 160 Seiten. 10 Euro.




Für kurze Zeit im Leben mitspielen – Franz Hessels „Pariser Romanze“ neu veröffentlicht

Über das Verlorene lässt sich bekanntlich am besten schreiben – wenn auch nicht jeder die deutsche Sprache so einzigartig meistert wie Franz Hessel. Mit seiner „Pariser Romanze“, die der Lilienfeld Verlag in der schönen Buchausstattung seiner Lilienfeldiana-Reihe neu herausbringt, formuliert Hessel eine doppelte Liebeserklärung.

Das eine Geständnis richtet sich an eine junge Berlinerin, die zum Malen und Französischlernen für begrenzte Zeit nach Paris gekommen ist. In seiner Prosaarbeit nennt der Autor sie Lotte; aus Hessels Biographie ist leicht zu ersehen, dass seine spätere Ehefrau, Helen Grund, für die Figur Modell gestanden hat.

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Die zweite Liebeserklärung gilt Paris, und zwar dem unwiederbringlich verlorenen Paris, das der Erste Weltkrieg zerstörte. Über seinen Freund Henri-Pierre Roché hatte der junge und damals noch vermögende Franz Hessel, der 1906 in die französische Metropole kam, Zugang zu einer internationalen Bohème gefunden; er mischte sich unter Künstler und Bonvivants, die „von dem neuen Abendlande redeten, dem Zukunftslande der besten Europäer, an dem wir bauen wollten, um den ewig unverzeihlichen Fehler der Erben Karls des Großen wiedergutzumachen, wir seligen Toren.“

Es kam leider zunächst anders. Der Ausbruch des Weltkriegs treibt die bunte Clique jäh auseinander. Als Soldat auf deutscher Seite, erst im Elsaß, dann an der Ostfront, schreibt Arnold Wächter, wie Hessel sein Alter Ego in der Erzählung nennt, in mehrere Schulhefte einen einzigen langen Brief in vier Teilen an seinen Freund Claude (alias Henri-Pierre Roché). Die Fortsetzung der Freundschaft ist ungewiss; Wächter lässt die Briefe über einen gemeinsamen Schweizer Bekannten zustellen.

Die Kriegsgegenwart ist in den Briefen kurz, aber eindringlich, meist zum jeweiligen Briefbeginn, dargestellt, bevor das Erinnerungswerk seinen Lauf nimmt. Wächter klagt über den „verzweifelten Stumpfsinn des Garnisonslebens; das gräßliche System machte mich subaltern. Es war, als dürfte ich nicht mehr denken.“ Mit dem Krieg geht der Verfasser der Briefe hart ins Gericht: „Dies Sterben ist Sünde, dies Blut schreit zum Himmel. […] Mut ist ein Zwitter aus Wahnsinn und Genauigkeit geworden.“

Zwar folgte Hessel, wie so viele junge Deutsche, zum Kriegsbeginn dem Gestellungsbefehl schneller, als es für ihn als Familienvater nötig gewesen wäre, doch zeigt er sich durch den Krieg geläutert und veröffentlicht – ein Verlagswechsel ist dazu nötig – den liebevollen Rückblick auf seine Jahre in Paris bereits 1920, als Frankreich den meisten Deutschen weiterhin als der Erzfeind galt.

„Papiere eines Verschollenen“, wie der Untertitel des Buchs lautet, das ist zum Glück eine von zwei großen Fiktionen des weitgehend autobiographisch verstehbaren Buchs.

Aus anderen Romanen des Autors wissen wir, wie sehr sich Hessel in der Rolle des unbeteiligten Zuschauers gefiel, ein Flaneur eben. „Ich war so glücklich, aus der Welt des Erfolgs und der Beziehungen fort zu sein“, heißt es auch in der „Pariser Romanze“. Dann aber erzählt er Claude, wie eine junge Frau ihn „eine kurze Zeit verführt hatte, das Leben der Lebendigen mitzuspielen.“ Er begegnet Lotte auf einem der Maskenbälle zuerst in einer „Hosenrolle“; sie ist als Opernpage kostümiert. Wächters mütterlich wirkende Ex-Geliebte Hertha macht ihn mit der Tochter ihrer Schulfreundin bekannt, die sich dem Paris-Erfahrenen gern anschließt, um mehr von der Stadt kennenzulernen.

Indem er Lotte durch die ihm bereits vertraute Stadt führt, erlebt er die Schauplätze wie in einem „Traumgleiten“ – St. Séverin, St. Julien le Pauvre und natürlich die Cafés des Montparnasse, in denen Hessel verkehrte. Auch heutige Paris-Liebhaber dürften bei der Lektüre auf ihre Kosten kommen, verkehrte Lotte doch zum Beispiel gern in der noch immer recht lebendigen Rue de la Gaîté, „jener erstaunlichen Straße, in der für den Bewohner des Montparnasse im kleinen alle Reize von Paris, ins Volkstümlich-Vorstädtische verwandelt, billig angeboten werden“ – und wo sich das Bobino befindet, in dem von Josephine Baker über Juliette Gréco und Édith Piaf bis Amy Winehouse alle möglichen Größen des Chansons und Entertainments aufgetreten sind.

Beginnt nun, wie der Titel verspricht, eine Romanze? Ja. Jedoch in dem speziellen Hesselschen Sinn. Wächter erweist sich als väterlicher Freund. Ein Ratgeber, den die gefühlsverwirrte junge Frau fragen kann: „Welches Leben ist denn nun das richtige, Pamelas oder Lilys oder Frau Herthas oder das meiner Mutter?“ Wächter streichelt daraufhin ihr Haar: „Mein armes Kind, nun erlebst auch du das Schreckliche, daß die Welt ohne Gesetz ist und jeder in seiner Art recht hat in der leeren Welt.“ Und über sich selbst: Er habe keine Welt, „ich hause in Ruinen vergangener Welten.“

Sie hat das nötige Vertrauen, neben ihm einzuschlafen, und er betrachtet die Schlafende, ohne sie zu berühren.

Die Gefahr solcher Männer liegt woanders. Lottes englische Freundin Pamela warnt: „Das sind Leute von der Wissenschaft, sie merken sich alles, was man sagt, und jede Gebärde. Und nachher muß man sich lebenslänglich so benehmen, wie es in ihren ersten Notizen steht.“

Den, der sich nicht ans Leben verlieren möchte, quält schließlich doch Eifersucht, wenn Lotte ohne ihn an einem Maskenball teilnimmt. „Wenn nun irgendein Wissender, Nüchterner nach ihr griff, so ein Maler oder Mediziner? Und ich fühlte bei dem Gedanken einen körperlichen Schmerz.“

Der Zuschauer hat sich in die Liebe hineinziehen lassen. Als er Lotte vor ihrer Rückfahrt nach Deutschland zur Metro begleitet, fürchtet er sich „wie ein Kind vor dem Alleinbleiben.“ Hastig macht Arnold Wächter ihr einen Heiratsantrag. Lotte ist entsetzt. Helen war es nicht. Und das ist die zweite große Fiktion im Buch. Denn bereits anderthalb Jahre bevor der Erste Weltkrieg ausbrach, waren Franz Hessel und Helen Grund verheiratet. Verloren hat er Helen erst später – an seinen Freund Henri-Pierre Roché. Aber das ist die Geschichte von „Jules und Jim“, das Buch von Roché und der Film von Truffaut.

Die biographischen Fakten zur „Pariser Romanze“ und mehr Wissenswertes ergänzt das Nachwort des ausgewiesenen Franz-(und-Stéphane-)Hessel-Experten Manfred Flügge.

Franz Hessel: „Pariser Romanze. Papiere eines Verschollenen. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Einbandgestaltung unter Verwendung eines Gemäldes von Simone Lucas. Lilienfeldiana Band 15. 144 Seiten. ISBN 978-3-940357-28-1. € 18,90




„Bis zur Neige“: Polit-Krimi zwischen Wirt und Winzer, Wien und Berlin

Was haben ein Edelwinzer aus dem österreichischen Weinviertel und der Betreiber eines angesagten Berliner Szenelokals gemeinsam? Auf dem ersten Blick nicht viel, außer dass der joviale, mit Politik und Kultur gut vernetzte deutsche Wirt seinen Gästen die hochpreisigen Tropfen des Österreichers kredenzt.

Aber irgendeine tiefere Verbindung muss es zwischen Wirt und Winzer geben. Denn innerhalb kurzer Zeit werden beide Männer ermordet. Spielt sich da jemand als Racheengel auf und sühnt auf mörderische Weise eine fast vergessene Schuld?

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Wahrscheinlich wäre es kaum jemanden bei den ermittelten Behörden aufgefallen, dass die grenzüberschreitenden Morde zusammenhängen. Aber zum Glück gibt es da seit kurzem das Autorenduo Bielefeld & Hartlieb, das sich darauf spezialisiert hat, mit Berliner Schnauze und Wiener Schmäh eine Brücke zwischen den beiden Hauptstädten zu schlagen. Beide Autoren haben viele Jahre als Literaturkritiker gearbeitet und jetzt die Seiten gewechselt. Sie gehen ein hohes Risiko ein, denn der Literaturbetrieb kann gnadenlos sein und rächt sich liebend gern für verletzte Eitelkeiten.

Der in Berlin lebende Claus-Ulrich Bielefeld ist für den deutschen Kommissar Thomas Bernhardt zuständig, der, Mitte fünfzig und vom Leben gegerbt, genauso ein Misanthrop sein kann wie sein (am Ende ohne „t“ geschriebener) austriakischer Namensvetter. Die in Wien lebende Petra Hartlieb betreut die ungleich symapthischere und lebensfreudigere Kunstfigur der österreichischen Kommissarin Anna Habel, sie ist Ende dreißig, zäh und temperamentvoll. Wie der literarische Zufall es will, schätzen sich beide Polizisten nicht nur, sie kommen sich auch immer wieder bei ihren Ermittlungen in die Quere, streiten und versöhnen sich, wissen alles über menschliche Abgründe, politischen Machtmissbrauch und kulturelle Intrigen: ein intelligentes Paar, dem man gern zuhört, wenn es lustvoll sämtliche zwischen Deutschen und Österreichern bestehenden Vorurteile durch den Kakao zieht.

Nach der Krimi-Prämiere mit „Auf der Strecke“, einem mörderischen Spiel im gehässigen Literaturzirkus, folgt jetzt die Reifeprüfung: „Bis zur Neige“ verknüpft auf elegante und spannende Weise Politik und Verbrechen. Um die Morde an Edelwinzer Freddy Bachmüller und Lokal-Größe Ronald Otter aufzuklären, muss man in die Vergangenheit hinabsteigen, in die Zeit, als bewaffnete Desperados den revolutionären Kampf in die westeuropäischen Metropolen tragen wollten, als Terroristen sich zu Befreiungskämpfern stilisierten, Banken überfielen, Industrielle entführten und Gesinnungsgenossen aus dem Gefängnis freipressten.

Lange vorbei, aber nicht vergessen. Jedenfalls nicht von den Opfern und Hinterbliebenen. Sie können nicht verstehen, wieso viele Ex-Terroristen auf freiem Fuß sind oder nie angeklagt wurden, weil sie den Geheimdiensten Informationen zuspielten und einen Deal mit den Staat haben. Bei ihren Recherchen müssen Bernhardt und Habel durch einen Sumpf aus Verdrängen, Vergessen und Vertuschen waten und erkennen, dass jemand, der früher die Vertreter des „Schweinesystem“ abknallte, heute durchaus ein hoch angesehenes Mitglied der feinen Gesellschaft sein kann. Manchmal tut es weh und macht einen ratlos, was die beiden unermüdlichen Polizisten ausgraben. Aber gut geschrieben und oft überraschend ist es allemal.

Bielefeld & Hartlieb: „Bis zur Neige. Ein Fall für Berlin und Wien.“ Roman. Diogenes Verlag, Zürich, 472 Seiten, 16,90 Euro.




Sie lauern überall: Dortmunder Peinlichkeiten

Eigentlich wollte ich – nach diversen miesen Erfahrungen in jüngster Zeit – an dieser Stelle nur über Dortmunder Gaststätten schreiben, die es mit dem Service nicht so haben. Doch dann trug es mich weiter von hinnen. Vielleicht liegt’s ja am Kater nach dem verlorenen Revierderby.

Eines dieser Ausflugslokale liegt an prominentester Stelle im Westfalenpark; dort, wohin viele Dortmunder ihre auswärtigen Gäste mitnehmen. Wie peinlich! Es dürfte weit und breit kaum einen anderen gastronomischen Betrieb geben, in dem derart viele freudlose Dispute zwischen Personal und Gästen anliegen. Allgemeines Kopfschütteln, galgenhumoriges Einverständnis zwischen den Tischen. Berechtige Beschwerden sind hier nicht die Ausnahme, sondern die Regel, ja fast schon Folklore. Da trifft Loriots guter alter Spruch zu: „Herr Ober, dürfen wir I h n e n vielleicht etwas bringen?“

Eine andere Lokalität zehrt vom Ruf als idyllisches Hofcafé, bekommt aber nicht mal eine Zusammenkunft mit knapp 20 Gästen geregelt. Pannen werden dort in absurden Serien produziert, als sei’s dummdreiste Absicht. Ein drittes Haus lockt ebenfalls mit pittoresker Lage in einem Park. Man kann aber an gewissen Tagen von außerordentlichem Glück sprechen, wenn dort binnen 45 Minuten die Bestellung den Weg zum Tisch gefunden hat. Aber wehe, man weist zaghaft auf Fehlleistungen hin…

Oh, ich könnte mich länglich über solche Betriebe auslassen, in denen Unfähigkeit sich mit Hirnrissigkeit und zuweilen auch noch Frechheit vermengt. Halt! Diesen noch! Diesen angemessen peinlichen Kalauer muss ich jetzt noch loswerden, auf dass das letzte Lachen im Ansatz ersterbe: Gastronomie hat hier nichts mit Gast zu tun, sondern mit Gastritis, die man sich vor lauter Ärger zuzieht.

Dortmunder Peinlichkeiten also. Und damit betreten wir ein weites Feld.

Blick vom Florianturm auf den Phoenixsee (Foto: Bernd Berke)

Blick vom Florianturm auf den Phoenixsee (Foto: Bernd Berke)

Beispielsweise die seit Jahrzehnten währende, schier endlose Geschichte um den (Nicht)-Umbau des Hauptbahnhofs, der einer Großstadt nicht würdig ist. „Pommesbude mit Gleisanschluss“ ist beinahe noch gelobhudelt. Neuerdings geht das Gerücht, die Sanierung werde sich womöglich um weitere Jahre verzögern. Ist ja auch egal, ob Behinderte barrierefrei zu den Gleisen kommen oder nicht.

Man muss den jetzigen Zustand mal vergleichen mit den Großmannsträumen, die früher einmal gehegt wurden. Die sehen (auch auf anderen Gebieten) regelmäßig so monströs aus, wie klein Mäxchen sich ungefähr zur Mitte der 60er Jahre Größe und Zukunft vorgestellt hat. Wenn 2014 vis-à-vis vom Bahnhof das Deutsche Fußballmuseum eröffnet (dräuen damit etwa neue Peinlichkeiten?), sollen jährlich Hunderttausende allein deswegen anreisen. Sie werden den Ruhm des Bahnhofs weit hinaus in die Welt tragen.

Beispielsweise die Pfütze namens Phoenixsee. Im Sonnenuntergang mag das überschaubare künstliche Gewässer ja manchmal seine funkelnden Momente haben. Aber das ganze Projekt ist wohl in erster Linie eine Maßnahme, um im Umfeld maximale Immobilienpreise herauszuwuchern. Unterdessen brüstet man sich damit, der See sei größer als die Hamburger Binnenalster. Sprechen wir mal gar nicht von Flair und Tradition, aber wo wäre denn dann das Pendant zur Außenalster? Geradezu lachhaft mutet es an, dass auf diesem Gewässerchen Segelboote fahren dürfen. Kaum sind sie „in See gestochen“, müssen sie schon wieder beidrehen.

Vom sündhaft teuren „Dortmunder U“, das auf Biegen und Brechen noch im Kulturhauptstadtjahr „Ruhr 2010“ eröffnet werden musste, bei dem es aber jetzt immer noch an etlichen Ecken klemmt und hapert, wollen wir nicht weiter reden. Quicklebendiges Kulturzentrum, blühende „Kulturwirtschaft“? Aber nicht doch! Übt euch gefälligst in Geduld!

Hinreichend peinlich auch das Jubiläums-Jubeln der von Anzeigen abhängigen Regionalpresse, die das einjährige Bestehen der Thier-Galerie (Einkaufszentrum mit ca. 160 Geschäften) quasi ohne Gegenstimmen gepriesen hat. Man muss sich nur mal die verwahrlosenden Leerstände bzw. Schlichtläden an den Rändern der City ansehen, um zu ahnen, was hier schleichend vorgeht.

Na und? Dafür haben wir aber den weltgrößten Weihnachtsbaum, freilich zusammengestoppelt aus rund 1700 Fichten, also schlichtweg eine grandiose Sinnestäuschung – auch wenn Japaner, Russen und Holländer das Ding gern fotografieren. Just heute (an diesem sonnigen 22. Oktober) bin ich an der Stelle vorbeigekommen. Und siehe: Sie arbeiten schon wieder am Fundament der Scheußlichkeit (wie es das grässliche, aber mutmaßlich weltexklusive Foto zeigt).

22. Oktober: Hier und heute werkeln sie schon wieder am Fundament für den "weltgrößten Weihnachtsbaum". (Foto: Bernd Berke)

22. Oktober: Hier und heute werkeln sie schon wieder am Fundament für den "weltgrößten Weihnachtsbaum". (Foto: Bernd Berke)

Nun gut. Zugegeben: So gigantische Peinlichkeiten wie Berlin mit seinem Flughafen, Hamburg mit der Elbphilharmonie, Köln mit dem Stadtarchiv oder „Stuttgart 21“, die kriegen wir hier nicht zustande. Aber immerhin! Wir bemühen uns.

P. S.: Jeder beschmutze sein eigenes Nest. Ergo: Wer aus anderen Städten kommt, kehre vor der eigenen Tür. Auch da findet sich eine Menge.




Stadt, Land, Fluss: Andreas Gursky in Düsseldorf

Im schwarzen Wasser schwimmt vereinzelt bunter Müll, ein wenig unter der Oberfläche, es könnten auch fernöstliche Blumen sein. Das Innere des Flüssiggas-Tanks in Katar ist gleißend golden, der Teppich der Düsseldorfer Kunsthalle dagegen einfach nur grau.

Doch möchte man gerne mit der Hand darüber streichen, um zu testen, ob er sich vielleicht rau anfühlt, aber das geht nicht: Denn der Teppich ist bloß fotografiert, der Fluss in Bangkok und der Gas-Tank sind auf großformatigen Fotos zu sehen. Sie zeigen die Dinge, wie sie sind, aber nicht, wie wir gewohnt sind, sie zu sehen. Das macht sie magisch: Höchste Realität schlägt in größtmögliche Poesie um. Der Magier heißt Andreas Gursky; ebenso wie die neueste Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf.

Man müsste nun referieren über die Becher-Schule, Gurskys Zeit an der Folkwang-Universität und der Düsseldorfer Kunstakademie, deren Professor er heute ist. Man müsste sprechen über „Struffsky“, unser Synonym für Thomas Struth, Thomas Ruff und Andreas Gursky, das wir spaßeshalber verwendeten, wenn wir eine der Ausstellungen der „Düsseldorfer Photoschule“ besuchten. Doch im Grunde kann man all dies ohnehin im Katalog nachlesen. Sinnvoller ist es, einfach in die Ausstellung zu gehen. Denn hier mischen sich neue Werke wie die „Bangkok-Serie“ oder „Katar“ mit früheren Arbeiten wie „99 Cent“ von 1999, das die erschlagende Billigwarenfülle in einem amerikanischen Supermarkt zeigt oder Angler am grünen Ufer der Ruhr in Mülheim 1989. Mein Lieblingsbild in diesem Zusammenhang ist der dreiflämmige Gasherd von 1980, wie er so unscheinbar in seiner Ecke steht – ein Küchenmöbel, sonst nix.

Bangkok IX, 2011, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Bangkok IX, 2011, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Bewusst herrscht bei der Hängung weder Chronologie noch Themenzwang, das macht die Ausstellung zu einer Entdeckungsreise, einer Art Memory-Spiel, welches Foto wohl zu welchem gehören möge. Schnell ausgemacht sind die C-Prints der Ocean-Serie von 2010 in ihrem unendlichen Blau und der Aufforderung zum Inselraten – ich habe Lanzarote gefunden. Außerdem das Publikum eines Madonna-Konzerts und ein Prada-Schuhregal. Nebst Börsen-, Flughafen- und Rennstrecken-Bildern, die auf den ersten Blick realistischer scheinen als sie sind. Doch ihre digitale Bearbeitung bzw. Komposition gilt nicht umsonst als das Stilmittel Gurskys, das ihn in die Nähe der Malerei rückt. Mit der beschäftigt er sich in der „Ohne Titel“-Serie, zu der nicht nur das Foto des Teppichs der Kunsthalle gehört, sondern auch extreme Nahansichten von Gemälden von Vincent van Gogh oder John Constable oder das bekannte Foto von einem Gemälde Jackson Pollocks im Museum of Modern Art in New York.

Nun also Bangkok: Schwarzes Wasser, das ein Geheimnis birgt. Schwarzes Wasser, das aussieht wie gemalt, das grün wird, die Lichtreflexe nahezu weiß. Nach dem tiefen Blau des Ozeans, auf dessen Inseln wir in Vogelperspektive schauen, folgt jetzt die Umkehrung in die extreme Nahansicht, doch ohne die Oberfläche zu durchdringen. Nur in Schemen sehen wir Fetzen des Wohlstandsmülls vorbeigurgeln. Vielleicht hat jemand im Supermarkt eine Kekspackung aufgerissen. Sie hat 99 Cent gekostet…

Bis 13. Januar 2013 im Museum Kunstpalast, Düsseldorf
Internet: www.smkp.de

Katar, 2012, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Katar, 2012, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012




„Tatort“ Dortmund: So heimelig kann Fernsehen sein!

Das trifft sich gut: Da ist man gerade heute früh aus dem Urlaub zurückgekehrt und hat deshalb sowieso schon diesen Distanzblick auf die eigene Stadt. Und dann läuft just am selben Abend der allererste ARD-“Tatort“, der in Dortmund spielt.

Auch da wirken die wie mit dem Salzstreuer auf den Film verteilten Schauplätze (man muss schließlich den Ort sofort nachhaltig beglaubigen) so fremd vertraut. Wenn man sich hier auskennt, muss man freilich befürchten, dass die fernsehtauglich sehenswerten Stätten alsbald aufgebraucht sein werden, sollte es in dieser nahezu panischen Frequenz weitergehen. Stadtsilhouette aus der Ferne, Standard-Panorama mit Bibliothek und „Dortmunder U“, Katharinentreppe, Polizeipräsidium, Industriemuseum Zeche Zollern, Westfalenstadion (aka Signal-Iduna-Park), allerlei Ansichten zwischen Halde und pompöser Großbürgervilla – all das wurde gleich geflissentlich in die erste Folge (Untertitel „Alter Ego“) gepfercht.

Bei einer mehrmals gezeigten Einstellung schweift der Kamerablick gar bis in die Straße, in der ich lebe. Oh, wie heimelig kann Fernsehen sein! Und das, obwohl (ungelogen!) in Köln etliche WDR-Redakteure nicht einmal wissen, dass es in Dortmund ein Landesstudio des Senders gibt…

Na, egal.

Von „Taubenvatta“ bis zum Bionik-Unternehmer reicht die Skala der Sozialtypen. Dortmund hat offenkundig nicht nur lastende Vergangenheit, sondern auch (technologische) Zukunft. Der erste Mord wird denn auch nicht etwa mit einem Hammer ausgeführt, sondern mit einem niedersausenden Computerbildschirm. Und der Sohn des einstigen Stahlmagnaten lässt Roboter entwickeln. Sein eiförmiges Büro stammt übrigens vom Designer Luigi Colani und befindet sich gar nicht in Dortmund, sondern in der kleinen Nachbarstadt Lünen. Aber wir wissen ja, dass Städte im Film ohnehin nur ein Konstrukt sind.

Das Betriebsklima im Ermittlerteam wird unversehens zum Hauptereignis, die Morde in der Schwulenszene laufen gleichsam nebenher und dürfen – mitsamt einer homophoben Sekte – geradezu als Ausweis für Urbanität neueren Zuschnitts gelten. Der wie aus dem Nichts von Lübeck her kommende Kommissar Faber (Jörg Hartmann) ist einer, der Interesse und Argwohn auf sich zieht. Harsch, verschattet, ziemlich depressiv, manchmal nahezu autistisch, Hauptspeise Ravioli aus der Dose, nirgendwo heimisch – außer vielleicht künftig wieder ein kleines bisschen in Dortmund, wo er seine Kindheit verlebt hat? Einer, der sich intensiv in die Gefühlslage der Täter versetzt, gerade wenn sie von der Norm abweichen. Seine eigene Seelenstimmung scheint rasch zu wechseln zwischen „Was mache ich hier eigentlich?“ und jäher Identifikation. Man möchte wirklich wissen, wie das weitergeht mit ihm und seiner Abteilung (Anna Schudt, Stefan Konarske, Aylin Tezel). Insofern hat der Auftakt einen wesentlichen Zweck erfüllt.

Jargon und Mundart des Reviers zitieren sie hier, als sei das alles nur eine Reminiszenz. Mal taucht kurz ein knorriger Schulhausmeister (übrigens gespielt von Rolf Dennemann, gelegentlich auch Mitarbeiter der Revierpassagen) auf, mal besagter Taubenzüchter, der Angst hat, dass hergelaufene Yuppies seine Tiere vergiften, oder ein BVB-Fantrüppchen grölt unflätiges Zeug. Doch das sind bloße Episoden. Meist reden sie hier recht elaboriert daher. Der Kommissar zitiert Tennessee Williams ganz beiläufig aus dem Gedächtnis. Überhaupt wird vorwiegend druckreifes Hochdeutsch mit ganz leichter Einfärbung gesprochen. Mehr darf man den Bayern oder Schwaben wohl nicht zumuten. Und es gilt ja auch, jeglichem Klischee zu entrinnen.

Über einige Details darf man aus lokaler Sicht milde lächeln. Wenn etwa ein Verdächtiger seine nächtliche Anwesenheit im Kulturzentrum „Dortmunder U“ damit begründet, dass dort tagsüber Besucher seien, so schwingt insgeheim die örtliche Debatte um den notorischen Besucherschwund mit. Sieht man das weitläufige Treppenhaus, so staunt man, dass tatsächlich mal alle Rolltreppen wie geölt funktionieren. Doch was kümmert’s den kleinen Rest der Republik?




Als das Ruhrgebiet noch Bauernland war

Das Revier bestand ja nicht immer aus Industrie und Handwerk, sondern war, wie überall sonst in Deutschland, zunächst ein Bauernland. Daran soll dieser kleine Exkurs ins späte Mittelalter erinnern, genauer gesagt, an das Jahr 1315.

Ruine der Burg Volmarstein über der Ruhr.

Godefried von Seyne hieß damals der „Herr von Volmensteyne“, heute in der Schreibweise Volmarstein ein Stadtteil von Wetter an der Ruhr und vielen als eine entsprechende Autobahnabfahrt an der Hansalinie A 1 bekannt. Dieser Godefried und seine Gattin Sophia verpfändeten in einer Urkunde aus dem genannten Jahr 1315 eine ganze Reihe von Bauernhöfen an Adolf Graf von Berg, seinerzeit der mächtigste Herr in der Region, die später als Herzogtum Cleve-Berg mit der Hauptstadt Düsseldorf in Preußen aufging.

Die meisten Bauern waren damals Hörige und somit völlig abhängig. Ihnen gehörte das Land nicht, sie bewirtschafteten es nur für den Grundherren. Anders verhielt es sich mit den in jener Urkunde aufgezählten Freigütern, hier „vrigeyich“ oder „bona libera“ genannt. Die Bauern waren gleichzeitig auch die Grundbesitzer und somit zwar frei, aber abgabepflichtig, in diesem Falle an die Herren von Volmarstein bzw. nach der Verpfändung an den Grafen von Berg. Sie mussten zudem im Freigericht auch als Schöffen antreten.

Für die Geschichte des südlichen Reviers ist die Urkunde von 1315 von besonderer Bedeutung, denn erstmals werden darin Namen von Höfen und Fluren erwähnt, die später auch die Namen von heute noch bestehenden Bauerschaften, Gemeinden und sogar Städten wurden, zum Beispiel Rüggeberg, Waldbauer oder Radevormwald.




Sang- und klangloses Ende für Berlins Kunsthaus „Tacheles“

„Die Bank hofft auf einen zweistelligen Millionenbetrag!“ Kernaussage eines Berichtes von Radio Berlin-Brandenburg über die künstlerisch-friedliche Räumung des „Tacheles“ an der Oranienburger Straße in Berlin.

Das gleichnamige Kunsthaus wird bald nicht mehr existieren, die HSH Nordbank, die gern mal über Wertberichtigungen (das sind nichts anderes als Verluste) berichten lässt und Beteiligungen im Finanzbereich auf den Cayman Inseln pflegt, will es dringend versilbern. Und Berlin verliert an einer seiner tollsten Straßen ein gutes Stück aus seinem prallen „Kessel Buntes“.

Es lohnt nicht, sich darüber auszulassen, wie es nach zweiundzwanzigeinhalb Jahren zu diesem finalen Akt kommen konnte, wie gering die Protestwellen gegen den drohenden Verlust ausfielen, der vor geraumer Zeit noch einen Tsunami ausgelöst hätte und ganze Stadtbezirke unter Wutwasser versenkt hätte, wie relativ still Künstler und rund um sie Handelnde das Streitfeld räumten und den „freien (?) Märkten“ überließen, was sie kurz nach der Einverleibung (auch Wende genannt) für sich in Anspruch nahmen.

Allein Martin Reiter, Sprecher der Besetzer (ja, das waren mal Hausbesetzer) rumpelte vor laufenden Kameras von „Kunstraub unter Polizeischutz“ und fand daselbst heraus, dass es folgerichtig heißen müsse: „Tacheles weg, Wowereit weg!“

Demo-Plakat zur Tacheles-Räumung (© Kunsthaus Tacheles)

Demo-Plakat zur Tacheles-Räumung (© Kunsthaus Tacheles)

Wie gesagt, es lohnt nicht, in diese Richtung Tiefenbohrungen anzustellen, leicht erkennbar ist indes, dass Kulturformen keine einflussreichen Wortführer mehr finden, die sich allzu weit abseits vom Mainchic bewegen und deren Duftmarken mehr nach Brecht als nach Precht (mediengewandter Jung-Vordenker der aktuellen Republik) riechen. Seit „Tacheles“ existiert, kannte ich es und hatte stets meinen Heidenspaß daran, in einer langsam Hauptstadtflair annehmenden Oranienburger Straße dieses hinfällig-charmante Haus wiederzusehen, wenn ich Berlin besuchte. Es blieb zwischen Straßenstrich und Feinschmeckermeile konstant und erinnerte verwittert und dennoch jung daran, dass seine Straße, in der es einst als Kaufhaus wirkte, von Krieg und Nachkriegssozialismus ziemlich zerschlissen worden war.

Vom angesagten Hackeschen Markt bis zur Mündung in die Friedrichstraße – dazwischen heute die schwer bewachte neue Synagoge – bildete und bildet die Oranienburger ein herrlich buntes Bild, zu dem das „Tacheles“ stets wie eine Festinstallation gehörte. Und die ist inhaltlich bereits vertrieben und wird als Hardware auch nicht mehr lange bestehen, falls nicht Investoren das Gelände ersteigern, die Vielfältigeres im Schilde führen als pure Gewinnmaximierung (was ich zwar erhoffe aber keinesfalls erwarte). Vielleicht gibt es ja was ganz Neues, Mediamarkt garniert mit H&M und eine Prise Liebeskind (Taschen, nicht Architektur), dazu ein Schuss Bubbletea.

Die Oranienburger wird das auch noch aushalten – sie überstand Übleres als Kapitalsucht. Die nachhaltig kreative Szene Berlins findet wieder neue Quartiere und: „Die Bank hofft auf einen zweistelligen Millionenbetrag!“




Steinzeit in Hattingen: Die Blut-Ablaufrinne im Opferstein – wohl nur ein Mythos

So ein kleines Museum findet man selten, so ein schönes aber auch nicht. Das „Bügeleisenhaus“ in der Hattinger Altstadt gehört dem Heimatverein, und dort wird die Ausstellung „Steinzeit in Hattingen“ gezeigt.

Das Bügeleisenhaus in Hattingen. (Foto: Stadt)

Zugegeben, die Zahl der Objekte ist begrenzt. Einen schönen Mammutzahn, Werkzeuge und kleine Waffen kann man sich ansehen, und in einem Sonderraum wird die Geschichte eines Steins vorgestellt, der in einem Hattinger Park liegt und schon Gegenstand eines Romans und zahlreicher Ortslegenden wurde. Er hat einen länglichen Einschnitt, der von den Hattingern lange Zeit als „Blut-Ablaufrinne“ in diesem „Opferstein“ gedeutet wurde. Geologen erklären die Besonderheit jedoch ganz anders, nämlich als Spur einer misslungenen Stein-Teilung.

„Zwischen Fund und Dichtung“ heißt deshalb auch die kleine Ausstellung in einem Fachwerkhaus, das allein schon den Besuch lohnt. Fast alle Besucher staunen besonders über die schrägen Fußböden, die teils bis zu 15 Zentimeter Höhenunterschied in einem Raum aufweisen. Das „Bügeleisenhaus“ gehört übrigens auch zu den 200 Orten in Nordrhein-Westfalen, die am 3. Oktober zum „Türöffner-Tag“ kostenlos zugänglich sein werden. Die Aktion wurde von den Machern der „Sendung mit der Maus“ ins Leben gerufen und wendet sich dementsprechend vor allem an Kinder.

„Zwischen Fund und Dichtung – Die Steinzeit in Hattingen/Ruhr“. Bis zum 9. Dezember 2012, Museum im Bügeleisenhaus, Haldenplatz 1, Hattingen. Freitags und samstags16 bis 18 Uhr, sonntags 14 bis 18 Uhr, Eintritt 2 Euro.




Dortmunder „Tatort“: Nur nicht hecheln

Heute gibt’s im Westfalenstadion (so und nicht anders heißt die Arena für rechtschaffene Leute) eine groß angelegte Vorschau zum ersten ARD-„Tatort“ aus Dortmund.

Rund 1000 Menschen sollen dabei sein, wenn der TV-Film im Beisein der Hauptdarsteller und des Regieteams auf einer 280 Quadratmeter großen Leinwand Premiere hat. Verzeihung: Weltpremiere natürlich. Kleinere Münze wird nicht ausbezahlt. Zum Event hat sich auch WDR-Intendantin Monika Piel angesagt. Überdies wird Dortmunds (echter) Oberbürgermeister Ullrich Sierau ebenso zugegen sein wie der (echte) Polizeipräsident Norbert Wesseler.

(Symbolträchtiges Foto: Bernd Berke)

(Symbolträchtiges Foto: Bernd Berke)

Wahrscheinlich kommt bei diesem (ausverkauften) Public Viewing im Rahmen der Reihe „Kino im Stadion“ ein wenig Gala- oder Feierstimmung auf, vielleicht schwappt ja gar La Ola über die Ränge. Doch Vorsicht: Solche Wellen zeugen ja meist davon, dass sonst nicht viel Nennenswertes passiert.

Zumindest aber darf bei jeder lokaltypisch angehauchten Szene ein Raunen oder wenigstens Kopfnicken des Erkennens erwartet werden.

So. Nun aber mal kühlen Kopf bewahren. Man kann heute zwar Inhalt, Machart und Macher in Augenschein nehmen, man kann aber diesen „Tatort“ nicht so recht als fernsehspezifisches Ereignis würdigen, das er nun einmal ist. Dazu gehört neben dem Wohnzimmerformat auch das Gefühl, dass man gleichzeitig mit etlichen Millionen zuschaut, so dass es einem als Dortmunder bei jeder etwaigen Peinlichkeit einen leisen Schauder über den Rücken jagen könnte: Oje, was denken sie jetzt draußen im Lande wieder über diese Stadt?! Kleiner Trost: Diesen Tort haben sie in so mancher anderen Gemeinde auch schon durchlitten.

Jedenfalls verweigern wir uns dem unsinnigen Vorab-Gehechel und warten in aller Seelenruhe ab, bis der „Tatort“ mit dem Titel „Alter Ego“ regulär im ARD-Programm steht. Das wird am 23. September um 20.15 Uhr der Fall sein. Dann schaun wir mal, was sie da verbrochen haben.

P.S.: Die Kollegen der Lokal- und Regionalpresse werden übrigens ihre liebe Not haben, in den morgigen Samstagausgaben noch ausführlich auf die Preview einzugehen. Einlass ist zwar ab 20 Uhr, gewiss sind dann auch ein paar nette Fotos mit der Crew möglich, doch der Film beginnt – u. a. nach einem Talk-Intermezzo – erst bei Einbruch der Dunkelheit, gegen 21.45 Uhr. Somit dürfte der „Tatort“-produzierende WDR in seinen Sendungen am Samstag die Nase vorn haben. Ein Schelm, wer sich dabei etwas denkt.




Auch eine Glaubensfrage: Dortmund-Süd oder Lüdenscheid-Nord?

Immer ist von „Lüdenscheid-Nord“ die Rede, wenn Fußballanhänger aus Gelsenkirchen die verhasste Ballspielvereinigung Borussia vom Borsigplatz nicht beim echten Namen nennen wollen. Das, so meine ich, tut der Sauerland-Zentralstadt „Dortmund-Süd“ aber unrecht.

Lüdenscheid hat nämlich einiges zu bieten, wie ich kürzlich bei einem Besuch wieder bestätigt bekam. Sicher, die Architektur der Innenstadt wirkt zusammen gewürfelt, vor allem das klobige Rathaus kann man durchaus hässlich nennen, aber das Leben pulsiert, die Menschen scheinen ihre City zu mögen, und bei „Hulda am Markt“ fühlt man sich in alte Zeiten versetzt.

Lüdenscheids Rathaus. (Foto: hhp)

Und erst der Museumskomplex: Mit der Ida Gerhardi-Ausstellung gelang in den letzten Monaten ein großer Wurf, und sehr gern erinnere ich mich an den Besuch der historischen Schau „Preußens Aufbruch nach Westen“ vor vier Jahren. Etwas abseits der großen Zentren wie Köln, Düsseldorf oder Dortmund bedeutet Lüdenscheid dem Sauerland etwa das, was Münster dem Münsterland bietet.

Das ist natürlich auch übertrieben, denn schließlich ist Münster immer schon sich selbst genug gewesen, ein Zentrum der „Poahlbürger“ eben. Trotzdem: Es lebe die Provinz!




Michel Houellebecq: „Karte und Gebiet“ – Schauplatzbesichtigungen

Wird sich Michel Houellebecq auf seine alten Tage zu einem Autor von Frankreich-Reiseführern entwickeln? Unwahrscheinlich. Dennoch laden die detaillierten Ortsangaben in seinem zuletzt erschienenen Roman Karte und Gebiet zu Schauplatzbesichtigungen ein. Und mit dem Fotografen, Maler und zuletzt auch Videokünstler Jed Martin hat Houellebecq einen Protagonisten gewählt, der französische Städte, Dörfer und Landschaften mit distanzierter Neugier beobachtet – „dieses Land, das unbestreitbar das seine war.“

Jed Martin wohnt in einem Dachgeschoss-Atelier im 13. Arrondissement. Durch die Fenster sieht er hinter der Place des Alpes die „in den Siebzigern erbauten viereckigen Festungen, die in totalem Gegensatz zur Ästhetik der restlichen Pariser Landschaft standen und die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog.“

Obwohl sozusagen intra muros gelegen, also innerhalb des Boulevard Périphérique und nicht in der berüchtigten Banlieue, würde ein durchschnittlicher Paris-Tourist diese mit „Sehenswürdigkeiten“ eher dünn bestückte Gegend nicht bei seinem ersten Besuch der Stadt ablaufen, und wenn es keinen besonderen Anlass gibt, auch noch nicht beim zwanzigsten. Jeds bevorzugtes Bistro, in dem er sich mehrfach mit seinem Galeristen Franz verabredet, liegt in der Rue du Château des Rentiers. Ein wohlklingender Name. Aber die Straße in unmittelbarer Nachbarschaft vieler Betonbauten ist nicht für ihre Restaurants berühmt. Ein Stadtbewohner mit konventionelleren ästhetischen Erwartungen an französische Gastronomie würde, von Jeds Atelierwohnung gleichweit entfernt, zum Beispiel die Butte-aux-cailles nahe der Avenue Tolbiac mit ihrer Kneipenvielfalt entdecken. Es ist, als lenke der Autor den Blick absichtlich auf die unspektakulären, „langweiligeren“ Straßenzüge neben den charmanteren. Als wolle er zu einer hellwachen Reise durch vermeintliche Belanglosigkeiten einladen.

Obwohl durch seine Kunst zu unverhofftem Reichtum gelangt, orientiert sich der Maler nicht am Guide Michelin, sondern holt sich seine Pringles-Chips (der Autor kennt keine Zurückhaltung bei Produktnamen) an der Shell-Tankstelle und schließt sich damit zu Hause ein.

Viereckige Festungen, die Jed vom architektonischen Standpunkt aus allen anderen Gebäuden in Paris vorzog

 

Eine Selbstpersiflage des Autors

Als nicht unwichtig für Jed Martins – nur mit der Irrationalität des Kunstmarkts erklärbaren – exorbitanten Geschäftserfolg erweist es sich, dass er auf Anregung seines Galeristen eine Romanfigur namens Michel Houellebecq, die unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem Autor Michel Houellebecq aufweist, dafür gewinnt, ein Vorwort zum Ausstellungskatalog seiner „Serie einfacher Berufe“ zu verfassen. Diese Spiegelung als Figur in seinem Roman gibt dem Autor die Möglichkeit zur Selbstpersiflage als menschenscheuen Alkoholiker. Wintertage, an denen es um vier Uhr dunkel wird, sind dem zur Depressivität Neigenden weit erträglicher als die endlosen Sommertage. Die EDV-Experten der Polizei, die später Houellebecqs Festplatte untersuchen werden, stellen fest: „Selten jemanden gesehen, der ein so beschissenes Leben führte.“

Jeds Vater, als Architekt im Ruhestand, hat aus der Bibliothek seines Altenheims zwei Romane von Michel Houellebecq gelesen und zeigt sich informiert, als Jed ihm von dem beabsichtigten Vorwort berichtet: „Das ist ein guter Autor, wie mir scheint. Liest sich sehr angenehm, und er zeichnet ein ziemlich zutreffendes Bild unserer Gesellschaft.“ So liefert Houellebecq eine – gar nicht einmal beschönigende – Rezension seines Buchs gleich mit.

Den Kontakt zu dem cleveren Skandalautor vermittelt dem Maler Houellebecqs Schriftsteller-Freund Frédéric Beigbeder, der – ebenso wie die Flammarion-Verlegerin Teresa Cremisi – im Roman mehrere Cameo-Auftritte hat; zuerst während einer Literaturpreisverleihung, als Beigbeder lebhaftes Interesse an der Frage zeigt, welcher Mann die attraktive Olga für sich gewonnen hat. Beigbeders Ort ist das Café de Flore am Boulevard Saint-Germain, für das der wirkliche Frédéric Beigbeder den Literaturpreis Prix de Flore begründet hat, zu dessen Preisträgern Houellebecq gehörte.

Über die gutaussehende und erfolgreiche Russin Olga Sheremoyova – PR-Frau bei Michelin France, die zunächst berufsbedingt auf den jungen Künstler aufmerksam wird – bringt der Autor seine Leser mit einem anderen Paris, dem Paris der Partys und gesellschaftlichen Empfänge, der Sterne-Restaurants und „Romantikhotels“ in Kontakt. Olga bewohnt eine komfortable Zweizimmerwohnung mit Fenstern zum Jardin de Luxembourg.

Im Verlauf der Handlung kommt es zu drei persönlichen Begegnungen zwischen Jed Martin und Michel Houellebecq. Das erste Mal in Houellebecqs Haus in Irland, als Jed dem Schriftsteller Fotos seiner Gemälde zeigt. Das zweite Mal, ebenfalls in Irland, nachdem Jed sein Doppelporträt „Jeff Koons und Damien Hirst teilen den Kunstmarkt unter sich auf“ verworfen hat und stattdessen die Serie mit einem Bild „Michel Houellebecq, Schriftsteller“ abschließen möchte. Das Gemälde, das nach der Ausstellungseröffnung einen Marktwert von ca. 750.000 Euro erreicht, überbringt er dem Schriftsteller als Geschenk, der seinen Wohnort nach Souppes, ca. fünfundachtzig Kilometer südlich von Paris, verlegt hat. Von Freundschaft zu sprechen wäre bei den beiden egozentrischen Künstlernaturen verfehlt. Jed respektiert das Recht des zwanzig Jahre Älteren, in Frieden gelassen zu werden, doch seine Phantasie malt sich aus, wie sie beide, die eine Vorliebe für große Verbrauchermärkte teilen, durch das Warenangebot schlendern. „Wie schön wäre es doch gewesen, gemeinsam diesen frisch renovierten Casino-Supermarkt zu besuchen, sich gegenseitig mit dem Ellbogen anzustoßen, um den anderen auf das Auftauchen neuer Produktsegmente oder eine besonders ausführliche, klare Nährwertkennzeichnung auf einem Etikett hinzuweisen!“ Auch sonst sind sich die beiden Sonderlinge ziemlich ähnlich. Bei ihrer letzten Begegnungen sprechen sie über die Sozialutopisten des frühen und späteren 19. Jahrhunderts, Charles Fourier, Étienne Cabet, vor allem aber über William Morris, der ein wesentlicher Bezugspunkt für Jeds Vater gewesen war.

Heimlicher Protagonist

Jeds Vater, Jean-Pierre Martin, der im Umfeld der Bewegung Figuration Libre gegen die tonangebende Schule Mies van der Rohes und Le Corbusiers polemisierte und unter unorthodoxen Intellektuellen wie Gilles Deleuze Beachtung fand, ist vielleicht der heimliche Protagonist des Romans. Um seine Familie zu ernähren – in seiner erfolgreichsten Zeit beschäftigt sein Büro bis zu fünfzig Mitarbeiter – baut er jedoch gegen seine ästhetische Überzeugung vor allem „idiotische Strandhotels für blöde Touristen“. Für seine Familie und sich (Jeds Mutter begeht Selbstmord) hat er im damals noblen Vorort Le Raincy eine Villa gekauft, an der er trotz aller sozialen Veränderungen festhält. Zur Zeit des Romanbeginns ist Le Raincy bereits zu einer No-go-Area mutiert, für die kein Taxichauffeur einen Fahrauftrag annimmt. Nach dem Tod des an Darmkrebs leidenden Vaters, der sich in die Hände einer Züricher Sterbehilfeklinik begeben hat – ein „mustergültig banaler Betonklotz“ im Stil Le Corbusiers – entdeckt Jed dreißig Mappen mit minutiösen, teilweise utopisch anmutenden Architekturzeichnungen, die sein Vater angefertigt hat – „ohne jede Rücksicht auf Durchführbarkeit und Budget“.

„Die Karte ist interessanter als das Gebiet“ hieß Jeds erste, vom Reifen- und Kartenhersteller Michelin gesponserte Einzelausstellung – ein Gedanke, der in dem vielschichtigen Roman variiert wird und auch das phantastische Werk von Jeds Vater kommentiert. Grob vereinfacht und von dem kunstfertigen Autor so direkt nicht ausgesprochen, könnte eine Deutung des Ausstellungsmottos auch lauten: Die Literatur ist interessanter als die Wirklichkeit.

Die literarische Figur Michel Houellebecq – das sei verraten – ist im dritten Teil des Roman auf eine Weise geschlachtet worden, die selbst die sadistischsten Phantasien eines jeden Houellebecq-Hassers übertreffen würde. Die Köpfe des Schriftstellers und seines Hundes, jeweils sauber abgetrennt, liegen auf Sofa und Sessel einander gegenüber. Das Fleisch ist mit einem chirurgischen Präzisionsinstrument von den Knochen geschält worden, die abgeschabten Knochen im Kamin aufgehäuft. Während der Hauptkommissar der „schwer zu entziffernden Logik“ des methodisch ausgeführten Gemetzels nachgrübelt, erinnert das Arrangement aus Fleischbrocken, Hautfetzen und Blutflecken auf dem Wohnzimmerboden den zum Verbrechensschauplatz geführten Künstler Jed Martin spontan an Jackson Pollocks Action Painting, jedoch ohne dessen Leidenschaftlichkeit. Das gesamte grausame Ritual, wie nach Jeds wertvollem Hinweis gefolgert wird, hat der Mörder offenbar allein auf sich genommen, um von einem Kunstraub abzulenken. Das Houellebecq-Porträt, dessen Wert Jed der Polizei gegenüber zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf neunhunderttausend Euro schätzt, ist aus dem Haus gestohlen worden. Als es schließlich nach dreijähriger Suche wieder auftaucht und wegen einer testamentarischen Verfügung Houellebecqs in Jed Martins Besitz zurück gelangt, kann sein Galerist es an einen indischen Mobiltelefonanbieter für zwölf Millionen Euro verkaufen.

Die Figuren und ihre bevorzugten Orte

Mit dem Schauplatz des Mords, dem zwischen Nemours und Montargis gelegenen Provinzstädtchen Souppes, wird ein Ort beschrieben, dessen „strukturbedingte Leere“ Jed an den Zustand nach der intergalaktischen Explosion einer Neutronenbombe erinnert. Außerirdische Wesen könnten sich „an dessen gemäßigter Schönheit erfreuen“ und „rasch die Notwendigkeit der Instandhaltung begreifen.“ Mag sein. Sollte es sich bei den Aliens jedoch um Wesen mit der ästhetischen Intelligenz vieler Terraner handeln, fände ihre konservatorische Fürsorge zwischen Paris und der Creuse erhaltenswertere Ortschaften als das mit „gemäßigter Schönheit“ freundlich bewertete Souppes sur Loing.

„Strukturbedingte Leere“. In Souppes sur Loing wird die Romanfigur Michel Houellebecq auf grausamste Weise ermordet.

 

Die detaillierten, teils gut beobachteten, teils in die nahe Zukunft phantasierten Ortsdarstellungen wären für einen Literaturkritiker oder -wissenschaftler vernachlässigbar, dienten sie dem Autor nicht als ein Mittel, seine Romanfiguren auf eine vergleichbare Art zu porträtieren wie auch Jed Martin in seiner „Serie einfacher Berufe“ den Bildhintergrund jeweils sehr sorgsam arrangiert. Hier wie dort ist die Umgebung Bestandteil des jeweiligen Porträts.

Polizei-Hauptkommissar Jasselin, der den Mord an Houellebecq aufzuklären hat und aus dessen Perspektive mit dem Beginn des dritten Teils erzählt wird, ist ein anderer Typ als der Maler und der Schriftsteller. Er wohnt nicht weit von Jed entfernt, etwas näher an der Seine, im 5. Arrondissement, scheint aber in einer völlig anderen Welt zu verkehren. Sonntagsmorgens begleitet er seine Frau gern beim Einkauf über die Marktstraße Rue Mouffetard mit dem Platz vor der Saint-Médard-Kirche, eine Ecke, die ihn jedes Mal bezaubert. Manchmal schlendert er auf dem Weg zur Pariser Kriminaldirektion am Quai des Orfèvres den Fluss entlang und teilt vom Pont de l’Archevêché mit Paristouristen einen Blick auf Notre-Dame. Er wählt kein Restaurant zwischen zweckdienlichen Betonkästen, sondern eines an der Place Dauphine, einem Platz an der Spitze der Île de la Cité, auf dem Boule gespielt wird. Und doch gibt es, etwa in ihren handwerklichen Methoden, auch Gemeinsamkeiten zwischen dem Schriftsteller und dem Polizisten.

Hauptkommissar Jasselin liebt es, am Sonntagmorgen seine Frau beim Einkaufen in der Rue Mouffetard zu begleiten.

 

Die Entdeckung der Provinz

Karte und Gebiet breitet verschiedene Facetten von Paris und seiner Vororte aus. Die Besonderheit des alternden (pardon, er stellt sich selbst so dar) Houellebecq aber ist die Entdeckung der Provinz.

Die Romanhandlung – und auch Jed Martins Leben – endet in einem Gebiet, das als Karte schon früh Jeds künstlerische Laufbahn bestimmt hat. Als er damals mit seinem Vater zur Beerdigung der Großmutter ins Limousin fuhr, machte er an einer Raststätte auf der A 20 „eine große ästhetische Erfahrung“, die ihn beim Auseinanderfalten der Michelin-Département-Karte 325 zittern ließ. „Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen.“

Einen von ihm fotografierten und mit technischen Mitteln veränderten Ausschnitt dieser Karte der Départements Creuse und Haute-Vienne präsentiert er als einziges vergrößertes Foto in einer von der Ricard-Stiftung gesponserten Sammelausstellung und beeindruckt damit unter anderem die schöne Olga, mit der ihn zeitweise eine Liebschaft verbindet und die als PR-Frau bei Michelin seine weitere künstlerische Karriere begleitet. Genauer gesagt, sie liebt ihn, während er nur für seine Kunst lebt.

Das Haus seiner Großmutter und die vom reich gewordenen Jed Martin aufgekauften angrenzenden Grundstücke dienen ihm in den letzten dreißig Jahren seines Lebens als Rückzugsort und als Material seiner späten künstlerischen Großprojekte.

Auch dieses Gebiet grenzt der Autor scheinbar überaus präzise ein: Das vordere Tor des 700 Hektar großen Geländes liegt an der D50; nur drei Kilometer sind es bis zur Auffahrt auf die A20 nach Limoges; in seinem rückwärtigen Teil geht das Grundstück in den Wald von Grandmont über. Das ist sowohl auf der Karte als auch im Gelände nachvollziehbar. Zugleich lokalisiert Houellebecq das Dorf Châtelus-le-Marcheix unmittelbar hinter der Rückfront des umzäunten Gebiets. Wo es aber in Wirklichkeit nicht liegt, sondern Luftlinie mindestens fünfzehn, über die kurvenreichen Straßen aber rund dreißig Kilometer weiter östlich. Eine Ungenauigkeit des sonst in allem so präzisen Autors? Oder aber Houellebecq möchte uns zeigen, dass die imaginären, künstlerisch geformten Landkarten der Literatur etwas noch anderes sind als die maßstabgetreue Umsetzung von Karte und Gebiet.

Denn auch Jed fotografierte nicht einfach nur die Michelin-Karten ab. „Er hatte eine stark geneigte optische Achse gewählt, einen Winkel von dreißig Grad zur Horizontalen, und die Filmstandarte für größtmögliche Tiefenschärfe maximal gekippt. Anschließend hatte er mit Hilfe von Photoshop-Filtern eine Entfernungsunschärfe und einen bläulichen Effekt am Horizont erzielt.“

Obwohl Houellebecq die Instrumente des Künstlers mit einem ähnlichen „enzyklopädischen Ehrgeiz“ beschreibt, mit dem Jed zu Beginn seiner Laufbahn „Gegenständen menschlicher Fertigung im industriellen Zeitalter“ fotografierte, klingen die Resultate der Kunst nie rein technisch und manchmal geradezu poetisch. Auf dem Foto führen gewundene Straßen „durch die Wälder, die wie eine unantastbare, feenhafte Traumlandschaft wirkten.“

Gehen wir davon aus, dass auch der Autor bei allem augenscheinlichen Realismus einen Unschärfefilter über gewisse Entfernungsangaben legt, ebenso wie er umgekehrt manche Details oder entfernt Gelegenes besonders scharf einstellt. Die „Creuse“ des Romans ist gewissermaßen die Anwendung der Scheimpflugschen Regel auf die Literatur. Auch in der zeitlichen Ausdehnung.

Der Maler Jed Martin kauft zwischen der D50 und Grandmont ein 700 ha großes Waldgebiet.

 

Selbst gewählte Isolation eines Sonderlings

Das verschlafene Châtelus-le-Marcheix wird im Roman zu einem Stückchen Science Fiction. Als Jed nach einem Jahrzehnt selbst gewählter Isolation das Dorf am Hinterausgang seines Grundstücks wieder betritt, findet er ein völlig verwandeltes Ambiente vor. Gleich drei Internet-Cafés auf hundert Metern, auf denen zuvor technologische und gastronomische Ödnis waltete. Die der Belle Époque nachempfundenen Bistro-Tischchen haben schmiedeeiserne Füße, und neben ihnen stehen Jugendstillampen, ihre Edelholzplatten sind aber allesamt mit Dockingstationen für Laptops, 21-Zoll-Bildschirmen und Steckdosen nach europäischer und amerikanischer Norm ausgerüstet. Die in Traditionen verwurzelte Landbevölkerung hat einer unternehmerischen, urbanen und weltoffenen Generation mit „bisweilen auch gemäßigten ökologischen Überzeugungen, die sich mitunter vermarkten ließen,“ Platz gemacht.

Châtelus-le-Marcheix – auf hundert Metern drei Internet-Cafés

Zu den letzten im Roman erzählten Ereignissen gehört der Tod von Frédéric Beigbeder, den Houellebecq im Alter von einundsiebzig sterben lässt. So kann man errechnen, dass sich die Handlung inzwischen im Jahr 2036 bewegt. Was Jed dreißig Jahre lang gemacht hat, erzählt er kurz vor seinem Tod einer eher unerfahrenen Journalistin der Art Press (zum Ärger des Kollegen von Le Monde). Er hat mit Video-Aufnahmen Verfallsprozesse dokumentiert. Jedoch nicht in automatisierter Zeitraffer-Einstellung. Vielmehr montiert er sorgsam ausgesuchte Einzelaufnahmen und überlagert sie in Mehrfachbelichtung mit anderen. Sein riesiges Grundstück lässt er verwildern, fährt jedoch fast täglich die einzige Straße entlang und – in der Absicht, „die pflanzliche Sichtweise der Welt wiederzugeben“ – nimmt er auf, wie die Vegetation jedes Menschenwerk überdeckt. Fotos der wenigen Personen, die zeitweise sein Leben begleitet haben, setzt er auf einer metallgerahmten Leinwand dem Sonnenlicht und der Witterung aus und filmt ihre Zersetzung. In Landschaften aus Tastaturen, Hauptplatinen und anderen elektronischen Bauteilen kopiert er kleine Spielzeugfiguren und hilft dem Verfall des Plastiks nach, indem er es mit verdünnter Schwefelsäure übergießt. Das Nachsinnen über das Ende des industriellen Zeitalters in Europa, heißt es gegen Ende des Romans, könne jedoch nicht das Unbehagen oder das Gefühl der Verzweiflung erklären, „das uns beim Betrachten dieser kleinen, ergreifenden Playmobilfiguren befällt, die sich inmitten einer riesigen futuristischen Stadt verlieren, einer Stadt, die ihrerseits zerfällt, sich auflöst und nach und nach in der pflanzlichen, sich bis ins Endlose hinziehenden Weite unterzugehen scheint.“

Das Ruhrgebiet als Quelle der Inspiration

Vor dem Beginn des rund dreißigjährigen Rückzugs und gewissermaßen als Quelle der Inspiration stand eine Reise ins Ruhrgebiet. „Von Duisburg bis Dortmund und von Bochum bis Gelsenkirchen waren die meisten ehemaligen Stahlwerke in Freizeitzentren verwandelt worden, in denen Ausstellungen, Theatervorführungen und Konzerte veranstaltet wurden.“ Unter anderem auch eine große Jed-Martin-Retrospektive. Aber nicht bei allen Anlagen ist es gelungen, sie in das Konzept eines industriellen Tourismus einzubeziehen. „Diese industriellen Kolosse, in denen sich früher der Großteil der deutschen Produktionskapazität konzentriert hatte, waren inzwischen verrostet oder halb eingestürzt, Pflanzen nahmen von den ehemaligen Werkstätten Besitz, überwucherten die Ruinen und verwandelten das Ganze nach und nach in einen undurchdringlichen Dschungel.“

Houellebecqs Prognosen über Frankreichs Zukunft

Als Jed nach jahrzehntelangem Rückzug in die Welt zurückkehrt, stellt er sich als Künstler die Frage, welches Bild aus seiner „Serie einfacher Berufe“ noch Gültigkeit haben mag. Der Beruf der Fernwartungstechnikerin existiert in Frankreich nicht mehr, diese Stellen wurden von Kolleginnen in Brasilien und Indonesien übernommen. Sein Porträt „Aimée, Escort Girl“ jedoch ist nach wie vor aktuell.

In den letzten Jahren waren wirtschaftliche Krisen fast unablässig aufeinander gefolgt. „Diese Krisen waren immer heftiger und derart unvorhersehbar geworden, dass es geradezu burlesk war – zumindest vom Standpunkt eines spöttischen Gottes, der sich wahrscheinlich hemmungslos über die finanziellen Zuckungen lustig gemacht hätte, die quasi über Nacht ganze Erdteile von der Größe Indonesiens, Russlands oder Brasiliens mit Reichtum überhäuften, ehe diese ebenso plötzlich von Hungersnöten heimgesucht wurden, was jeweils Bevölkerungen von Hunderten Millionen Menschen betraf.“

Frankreich hat alle globalen Höhenflüge und Tiefschläge fast unbeschadet überstanden. Seine Krisenfestigkeit verdankt es nicht den französischen Autos, nicht dem Airbus, nicht den Waffenexporten, sondern seinem nicht totzukriegenden Image, das Land der Lebenskunst zu sein. Es vermarktet einfach das Savoir-vivre mit Wein, Käseherstellung, „Romantikhotels“ und Parfüm. Wo immer sich das Kapital gerade befindet, in China, Russland, Dubai, Indonesien oder Brasilien – die Touristen kommen aus aller Welt und suchen die französischen Dörfer auf. Und erstmals seit dem frühen 19. Jahrhundert blüht in Frankreich auch wieder Sextourismus auf – ein Thema, zu welchem Houellebecq seine Expertise zuvor unter Beweis gestellt hat (Plattform, 2001).

Houellebecq prognostiziert für Frankreich einen Anstieg des Sextourismus.

Die meisten Franzosen aber können sich in naher Zukunft einen Urlaub in ihrem Heimatland nicht mehr leisten – was sich nach der Darstellung der Michelin-Insiderin Olga Sheremoyova bereits ab etwa 2010 abzeichnete. Also: Hin! Bevor Frankreichs gute Art zu leben für uns krisengeplagte Industrieländer unbezahlbar geworden sein wird.

Houellebecq, der in Karte und Gebiet mehrfach als „der Autor der Elementarteilchen“ auftaucht, könnte vielleicht mit mindestens gleicher Berechtigung als „Autor von Karte und Gebiet“ in die Literaturgeschichte eingehen. Wenn dabei solche Bücher entstehen, dürfen wir im eigenen Interesse dem Autor weiterhin ein beschissenes Leben wünschen.

Aktuell:

Der Autor und Theaterregisseur Falk Richter hat den 2010 in Frankreich und 2011 in der deutschen Übersetzung von Uli Wittmann erschienenen Roman Karte und Gebiet für die Bühne bearbeitet und führt in seiner sehr gelungenen Theaterfassung selbst Regie. Im Düsseldorfer Schauspielhaus (Kleines Haus) finden die nächsten Aufführungen am 30. September und am 6. Oktober 2012 statt.

Düsseldorfer Schauspielhaus:
Karte und Gebiet. Nach dem Roman von Michel Houellebecq. Aus dem Französischen von Uli Wittmann / Für die Bühne bearbeitet von Falk Richter. Repertoire, Deutschsprachige Erstaufführung, Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten – 1 Pause.
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf; Karten: Telefon 0211.36 99 11; Fax 0211.85 23 439, karten@duesseldorfer-schauspielhaus.de

Roman:
Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. DuMont Buchverlag, Köln. 416 Seiten.
Gebundene Ausgabe, 2011: ISBN-13: 9783832196394, 22,99 Euro,
Broschierte Ausgabe, 2012, DuMont Taschenbücher Nr.6186: ISBN-13: 9783832161866, 9,99 Euro.




Wenn Bäume Zähne zeigen

Mag sein, dass es das irgendwo schon seit 1966 gibt. Wahrscheinlich machen sie das im hippen Berlin schon seit zwei Jahrzehnten und in Hamburg seit 15 Jahren. Einige Stadtgänger werden’s vielleicht genauer wissen. Mir ist das Phänomen jedenfalls neu.

Ich rede von Bäumen mit Gebiss. Jawohl. Richtig gelesen.

Ein wahrscheinlich humoriger, gewiss jedoch handwerklich begabter Jemand hat bei uns im Dortmunder Innenstadtviertel über Nacht einige Bäume mit Zahnreihen versehen, welche wiederum in einem Gipsbett stecken. Falls es sich materialtechnisch anders verhält, bitte ich als dentistischer Laie um Nachsicht.

Es sieht irgendwie „echt“ aus. Ganz so, als feixe einen der Baum an. Eine angedeutete Lippenpartie hat er ja auch noch. Vielleicht kommen demnächst noch Glasaugen hinzu.

"Mein Freund, der Baum" trägt jetzt Gebiss. (Foto: Bernd Berke)

"Mein Freund, der Baum" trägt jetzt Gebiss. (Foto: Bernd Berke)

Sollte etwa der Zahnarzt, der gleich um die Ecke bohrt und schleift, hier heimlich Hand angelegt haben? Bestimmt nicht. Oder sehen wir die Resultate einer nächtlichen, sich post-anarchistisch wähnenden Praxis nach Art der herzigen Spaßguerilla? Manche legen hurtig Pflanzenbeete an, andere stricken Schals für Zweige und Äste, hier werden Bäume halt zum Grinsen oder Lächeln gebracht.

Fragt sich allerdings, ob Bäume im Normalzustand dem Urheber nicht mehr ausreichen, weil er sich vom Gewachsenen entfremdet hat. Und grünlich behauchte Bürger mögen bang vermuten, dass die Vergipsung dem Baum schade. Dann wäre es sogar Frevel und man müsste mahnend die Stimme erheben.




Abenteuer in den Dortmunder U-Bahn-Tiefen

Wer in seinen Bewegungen eingeschränkt ist – vulgo behindert –, der hat in Dortmund oft schlechte Karten, vor allem im Öffentlichen Nahverkehr.

Stadtbahn Dortmund, unterirdisch.

Das fängt schon im Hauptbahnhof an, in dem die Rolltreppen alle Nase lang defekt sind und daher still stehen. Dass man auf die Fahrstühle zu den DB-Bahnsteigen noch jahrelang wird warten müssen, an diesen Gedanken hat man sich ja schon gewöhnt. Auch in anderen U-Bahn-Stationen, zum Beispiel Kampstraße, werden marode Fahrsysteme nur noch selten repariert. Mit großkotziger Geste hat man sich vor Jahrzehnten ein modernes und teures System geleistet, und jetzt kann man nicht einmal die kleinen Folgekosten stemmen. Wenigstens sieht es in Düsseldorf etwas besser aus.

Griechische Verhältnisse in Dortmund? In einigen deutschen Großstädten kann man manchmal den Eindruck haben. Nur protestiert hier seltener jemand.




Deutsche Gotik in London oder: Was gilt der Prophet denn im Heimatland?

Vor vielen Jahren bin ich mal nach London gefahren und dort ins Nationalmuseum gegangen, weil ich unbedingt die gotischen Malereien aus Deutschland sehen wollte.

Nach der Auflösung der Klöster durch den Reichsdeputationshauptschluss zu Beginn des 19. Jahrhundets waren viele ländliche Pfarreien verarmt und hatten ihre wertvollen Schätze an Kunsthändler und Sammler verramschen müssen, zum Beispiel den berühmten Liesborner Altar oder auch die wunderschönen Bilder aus der Kirche meiner Kindheit, der Klosterkirche St. Christina in Herzebrock bei Gütersloh.

Diese Bilder hängen also nun in London, und ich war tief beeindruckt. Auch im New Yorker Metropolitan Museum of Art finden sich solche Werke, zum Beispiel eine Kreuzigungsszene vom „Meister des Berswordt-Altars“, die vom Altar der Neustädter Marienkirche in Bielefeld stammt.

Der Berswordt-Altar in der Marienkirche Dortmund.

Bei Berswordt horchen manche Dortmunder auf, findet sich doch in der Marienkirche jener Berswordt-Altar, der das Wappen der Stifterfamilie enthält und von dem der Name des anonymen Künstlers abgeleitet wurde. Es gibt in Dortmund auch die Berswordt-Halle, und so mancher Kultur-Interessierte weiß um den Hintergrund, aber an die Berühmtheit eines BVB-Spielers kommt das so herausragende Kunstwerk bei weitem nicht heran.

Ich bin zwar kein Dortmunder, aber manchmal habe ich den Eindruck, dass viele Bewohner dieser schönen Stadt gar nicht zu schätzen wissen, welch großartiges Erbe sie da in ihrer Mitte aufbewahren. Dazu gehört natürlich auch die romanische Madonna in der Marienkirche. Der Prophet gilt eben in der Heimat oft nicht das Allermeiste.




Als Hörde noch groß und wichtig war

Ein Reprint einer Landkarte aus dem Jahre 1791 kam mir vorgestern in die Hände. Da sieht man, welche Maßstäbe damals der Wiener Kartograph Freiherr von Reilly setzte.

Eine noch ältere Karte der Grafschaft Mark.

Der Ort Hörde ist neben Bochum und Wattenscheid als gleichwertige Stadt dargestellt, daneben gibt es noch den Weiler „Lutken Dortmund“, und Blankenstein an der Ruhr sieht genauso groß aus wie „Herdicke“ und „Westhoven“. Radevormwald hieß noch „Radt vor dem Walde“, das heute recht beschauliche Breckerfeld wird als Zentrum dargestellt, ebenso wie Limburg und „Elverfeld“. Natürlich gab es den Namen Wuppertal noch nicht.

Wien war ja weit weg, und so schlichen sich auch wohl einige Hörfehler ein: Stiepel findet sic h in der Karte als „Stieget“, Albringhausen im heutigen Wetter ist als „Alvinghausen“ aufgeführt, und statt des uralten „Gut Rochholz“ in Gevelsberg an der Ennepe heißt es bei Reilly „Rothholz“.

Straßen oder Chausseen, wie man früher sagte, findet man übrigens nicht eingezeichnet, und – na klar – Autobahnen schon gar nicht. Interessant ist aber der Titel der Karte, denn der sagt etwas über die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Sauerland“ („Süderland“) aus. Er lautet in voller Länge: „Der Grafschaft Mark Sauerland oder der Südliche Theil mit der Grafschaft Limburg und der Abtey Werden“.




Ein Nachtwächter mit Rübenkraut in der Mütze

Manche Traditionen sehen wir heute nur noch als romantische Folklore, obwohl sie ursprünglich einen sehr praktischen und wichtigen Grund hatten. Dazu gehören auch die Nachtwächter – ein Begriff, der heute gelegentlich nur noch als Schimpfwort benutzt wird.

„Die Aufgabe des Nachtwächters war es, nachts durch die Straßen und Gassen der Stadt zu gehen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er warnte die schlafenden Bürger vor Feuern, Feinden und Dieben. Er überwachte das ordnungsgemäße Verschließen der Haustüren und Stadttore, und häufig gehörte es auch zu den Aufgaben des Nachtwächters, die Stunden anzusagen.“ So beschreibt Wikipedia die historische Aufgabe.

Tourismusexperten haben seit Jahren den Werbeeffekt eines Nachtwächters entdeckt. Führungen mit entsprechend verkleideten Personen sollen Besucher der jeweiligen Stadt amüsieren. In Bad Bentheim zum Beispiel übernimmt eine Frau diese Rolle, und es gibt kaum eine Stadt zwischen Rothenburg und Rheine, die nicht eine Nachtwächter-Führung aufzubieten hätte.

Eine ganz andere Geschichte und Funktion hat der Nachtwächter in Ennepetal. Jeweils zur Kirmes im Juni wird ein in Fragen der Heimat verdienter Bürger als „Ehrennachtwächter“ ausgewählt, der dann mit Hellebarde, Laterne und Horn ausgestattet und im Blaukittel der Ambossschmiede gekleidet an der Spitze des Kirmeszuges durch die Stadt gefahren wird.

Diese Tradition geht auf einen ganz bestimmten Nachtwächter zurück, der von 1886 bis 1906 im heutigen Stadtteil Voerde seinen Dienst versah und der als besonders lustiges Original in Erinnerung blieb. Willi Koch, so hieß der trinkfreudige Mann, bekam später sogar ein bronzenes Denkmal gesetzt. Weil er einmal eine mit Rübenkraut gefüllte Mütze auf den Kopf gesetzt bekam, gibt es heute noch zur „Voerder Kirmes“ und bei den Treffen der ehemaligen Ehrennachtwächter jeweils den Schlachtruf „Kruut Voerde“ zu hören.




Das Revier möchte auch mal wieder Kohle sehen

Bislang waren die Touristik-Werber der Region Ruhr stets gehalten, das Revier als normalisierte oder gar potente Gegend mit einmaligen Monumenten und weitgehend gelösten Strukturproblemen zu verkaufen.

Eindruck aus Dortmund-Dorstfeld (Foto: Bernd Berke)

Eindruck aus Dortmund-Dorstfeld (Foto: Bernd Berke)

Es sollten einem schier die Augen übergehen: Kulturelle und sonstige „Leuchttürme“, wohin man auch blickte, seit dem Kulturhauptstadtjahr 2010 war gar eine Nachhaltigkeit sondergleichen wirksam, hieß es vollmundig. Mit Pauken und Trompeten wurde eine wachsende „Kreativwirtschaft“ ausgerufen. Selbst die bislang zum Himmel stinkende Kloake namens Emscher wird renaturiert und fließt auf manchen Strecken schon als lieblicher Bachlauf, in Dortmund lockt ein neuer See die Immobilienbranche. Blühende Landschaften also, so wie es Kanzler Kohl einst dem deutschen Osten versprochen hatte?

Doch halt! Schwenk um 180 Grad. Sieht’s in jenem Osten nicht längst ungleich edler, schmucker, aufgeräumter und ziviler aus? Damit verglichen, so klagen Stadtväter im tiefen Westen immer mal wieder, sei das Ruhrgebiet eine Landschaft auf Abbruch. Hier würden Schwimmbäder geschlossen, im Osten hingegen neue errichtet – vom seit 20 Jahren munter ostwärts fließenden Solidaritätsbeitrag, für den unter Finanznot ächzende Revier-Kommunen horrende Kredite aufnehmen müssen. Mit ähnlichem Drall geht es beileibe nicht nur um Schwimmbäder, sondern auch um Jugendzentren, Kinderbetreuung, kulturelle und städtebauliche Pretiosen sowie halbwegs ordentlichen Straßenbau. Dortmunds OB Ullrich Sierau (SPD), der sich gern weit aus dem Fenster reckt, nennt den „Solidarpakt Ost“ denn auch ein „perverses System“.

Mit großem Aufschlag hatte sich gestern die „Süddeutsche Zeitung“ das Thema zu eigen gemacht und im alarmierenden Ton das „Verbrechen am Tatort Ruhrgebiet“ kommentiert. Wenn nicht jetzt sofort (statt 2019) der einseitig zugunsten des Ostens aufgehäufte Soli abgeschafft werde, so könne das Ruhrgebiet bald kollabieren. Natürlich sind die Medien des Reviers darauf eingestiegen. Tenor, wie zu erwarten: Jetzt sollen die anderen mal für uns zahlen! Kohle her! Da ist einiges dran, und es wäre gut, wenn darüber mal richtig hartnäckig geredet würde. Doch man mag nicht so recht daran glauben und ließe sich so gern eines Besseren belehren.

Selbstverständlich hat das plötzliche Aufkommen der Debatte vornehmlich mit dem NRW-Landtagswahlkampf zu tun. Der Verfall der Ruhrgebiets-Kommunen kann – nach dem Verständnis der SPD-Stadtväter – weit überwiegend dem schwarzgelb-regierten Bund angelastet werden. Hannelore Krafts CDU-Gegenkandidat Norbert Röttgen wäre somit ein Teil der Misere, wie jetzt punktgenau lanciert wird. Der Mann, der sich nicht offen für Düsseldorf entscheiden mag, ist angeblich ohnehin chancenlos. Mit dem „Soli“ will man ihn vollends erwischen. Oberschlau eingefädelt?

Und womit locken wir jetzt die Touristen? Mit dem blanken Elend? Nein, nein, es wird ja mal wieder alles himmelblau und rosig.




Sarah Kirschs „Märzveilchen“: Fern vom dröhnenden Lärm der Welt

Die Wochentage heißen hier beispielsweise Montauk, Mistwoch, Donner, Sonntach. Sie verteilen sich auf Monate wie Jaguar, Zebra, Nerz, Mandril, Mayen oder Junius. Hamburgs Schanzenviertel firmiert als Chancen-Viertel. Mit dem Internet verhält es sich so: „Sonst gab es nur Mist im Indernetz und man vergeudet seine herrliche Zeit.“

Wie soll man das finden, wenn jemand seine Notizen stellenweise so verdrechselt datiert und verballhornt: liebenswert versponnen oder auch ein bisschen albern?

Sobald man freilich weiß, dass hier die hochgeachtete Lyrikerin Sarah Kirsch am Werk ist, und wenn man nur einige Seiten liest, so lässt man es gern gelten. Denn auch in dieser Kurzprosa erklingt ja immer wieder dieser leise, ganz eigene, mitunter aufgerauhte Herzton, den man nicht missen mag.

Ihr neuer Band „Märzveilchen“ enthält Aufzeichnungen von Dezember 2001 bis September 2002. Ein recht kurzer Zeitabschnitt also, der inzwischen aus gemessener Distanz betrachtet werden kann.

Es ist kein Tagebuch im üblichen Sinne. Nicht tagtäglich stehen da Einträge, es gibt Lücken. Die Mitteilungen sind angenehm lakonisch, bisweilen etwas schnoddrig, hie und da behaucht mit Berlinischem Atem: „Beschäftige mir mit alle möglichen Texte.“

Sarah Kirsch hat sich von Lärm der Welt in einen entlegenen Winkel Schleswig-Holsteins zurückgezogen. Nur unwillig und widerstrebend lässt sie sich noch bei literarischen Anlässen sehen. Ihr Fazit nach einem solchen Abstecher: „Also ein Dichtertreffen brauch ich in diesem Leben nicht mehr…“

Ein Aquarell von Sarah Kirsch ziert den Buchumschlag

Ein Aquarell von Sarah Kirsch ziert den Buchumschlag

Wiederholt betont sie, wie froh sie sei, beispielsweise nicht im Berliner Rummel zu leben und dort vom Wesentlichen abgelenkt zu werden: „Ich will viel lieber in Ruhe vertrotteln.“ Schon das beschauliche Städtchen Rendsburg genügt für den meisten Bedarf.

In der Abgeschiedenheit werden auch unscheinbare Glücksmomente festgehalten, so etwa beim Fernsehen nebst Strümpfestricken: „…und ruhe so wunderbar leichtherzig in mir, dass ich gar nicht genug davon kriege.“

Zwei gegenläufige, doch auch ineinander verwobene Hauptstränge ziehen sich durch diese Kurzprosa. Zum einen und vor allem die natürlichen Vorgänge im Jahreskreislauf. Jede Wetterwendung, jeder Vogelflug können dort draußen in Tielenhemme an der Eider zum Ereignis werden. Treffliches Zitat: „Es geschieht immer das Gleiche, worauf ich stets warte.“

Zum anderen registriert die Dichterin manche politischen und sonstigen Aufregungen, wie sie durchs Fernsehen in ihre oft sturmumtoste Klause dringen. Es sind gleichsam arge Störgeräusche aus der unselig betriebsamen oder auch katastrophalen Welt, die damals durch den 11. September 2001 gerade gründlich erschüttert worden war.

Überhaupt sieht die Autorin viel fern – von Rohmer-Retrospektiven über die Muppets bis hin zu Partien der Fußball-WM 2002. Auch Theaterinszenierungen verfolgt sie im TV. Man mag so nicht auf der Höhe aller landläufigen Debatten bleiben. Doch lässt sich wohl nur so ein lyrischer Ton finden und halten; indem man sich weitgehend verschließt vor den dröhnenden Verhältnissen und seinen Garten bestellt.

Es bleibt also Zeit fürs Schreiben und die Lektüre. Hervorbringungen der literarischen Großprominenz beurteilt Sarah Kirsch mitunter harsch. Während sie etwa V. S. Naipaul rühmt, heißt es über Peter Handkes Roman „Der Bildverlust“ knapp: „Heldin eine Bankiersfrau. 750 Seiten in schlechter Sprache.“ Und über Günter Grass’ „Im Krebsgang“: „Dieses bürokratische Gerede – nie kann man fliegen, es ist ganz entsetzlich!“

Ungleich einlässlicher spürt sie den Meistern der Romantik nach, in deren Versen Hoffnung und Tröstungen der Natur aufgehoben sind. Der Buchtitel „Märzveilchen“ beschwört das gleichnamige Gedicht von Adelbert von Chamisso herauf, gegen Schluss zitiert Kirsch das „Herbstweh“ des Joseph von Eichendorff, das ins vollkommen Lautlose ragt:

„Bald kommt der Winter und fällt der Schnee, /
Bedeckt den Garten und mich und alles, alles Weh.“

Sarah Kirsch: „Märzveilchen“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA). 238 Seiten. 19,99 Euro.




Politisch korrekte Straßennamen oder die Sucht nach Verdrängen

In Münster fällt es vielen aus heiterem Himmel ein: Hindenburgplatz, geht doch nicht, der war ja Steigbügelhalter des Unaussprechlichen. Oder: Agnes Miegel, kann man doch in einer gescheiten Kulturstadt keine Straße nach benennen, die reimte doch nicht nur im Blut-und-Boden-Wahn, sondern glühte gar nicht still und auch nicht heimlich den Gröfaz an. Eine Kommission wird ins Leben gerufen und forstet im Münsteraner Straßenschilderwald herum, ob denn noch mehr unwerte Namen aus ihm zu tilgen seien.

Damit wir uns nicht missverstehen. Ich halte keinen Platz für geeignet, den Namen Hindenburgs zu tragen. Ich bin ebenso wenig der Ansicht, dass die Droste des Ostens (sorry Annette von …, das hast Du nicht verdient, aber so nannte man die Miegel gern) es verdient hätte, dauerhaftend in unserem Gedächtnis zu verweilen (fand selbst ihr nicht gar so verdächtiges Wortgedudel schon als Schüler erbärmlich). Aber da entpuppen sich Gutmeinende wieder einmal als Vorantreiber des Verdrängens, Vergessens und Verächtens. Getreu dem Motto: Was wir nicht mehr sehen, lesen, wahrnehmen können, das hat dann auch wohl so nicht stattgefunden.

Wollte man ganz konsequent sein, dürfte man auch keine Straße nach dem "Franzosenfresser" Ernst Moritz Arndt benennen. (Foto: Bernd Berke)

Wollte man ganz konsequent sein, dürfte man auch keine Straße nach dem "Franzosenfresser" Ernst Moritz Arndt benennen. (Foto: Bernd Berke)

Nun, dann sollten die Hüterinnen und Hüter eines politisch korrekten Straßenraumes aber auch richtig konsequent sein. „Jahnstraße“, ganz schnell weg damit. Denn der Turnvater (ich kann mich noch bestens an verehrende Augen meiner Lehrer erinnern) gab schon lange vor der Zeit des Unaussprechlichen üblen Antisemitismus von sich. Lützowstraße, auch fort damit, kriegerischer Unrat – oder nicht, nannte sich damals doch Befreiungskriege. Sauerbruch sollte auch kein Pate sein. Der hat dem verletzten Putschisten – dem Unaussprechlichen – in München mal die Schulter behandelt. Aber auch mal einen Sozialdemokraten kuriert. Aber auch den Mörder von Kurt Eisner zusammengeflickt. Und flugs ward der Professor, als die braunen Machtverhältnisse ganz klar waren, ein Aufrufer zum hippokratischen Glaubensbekenntnis für den unaussprechlichen Adolf Hitler, dessen Namen völlig zu Recht kein Straßenschild mehr tragen darf.

Vermutlich wäre eine Schwarz(braun)Liste aufzustellen, die beliebig zu verlängern ist. Ich will es aber abkürzen. Vielleicht entspricht es ein wenig der germanischen Mentalität, einerseits unbeliebte historische Zeiträume aus dem öffentlichen Bild zu tilgen, gleichzeitig deren Vertreter aber in lebender Form – sofern von Nutzen – weiter im öffentlichen Raum agieren zu lassen. Die Nachkriegsjahre belegen das sehr deutlich. (Ähnlich ging es im nachhinein betrachtet zu, als die ehemalige DDR der nach wie vor BRD angeschlossen wurde.) Ein Vorschlag, der möglicherweise allen Verehrern des Siegers von Tannenberg ebenso gerecht wird wie den ebenso zahlreichen Kritikern: Nennen wir nicht nur Straßen, sondern auch Kasernen zukünftig ausschließlich nach unverfänglichen Paten. Blumen zum Beispiel. Ach nein, das wäre ja auch öde. Und ließe es zu, dass wirklich werte Zeitgenossen auch in Vergessenheit geraten könnten. Also plädiere ich für echte und gern auch ächtende Konsequenz, sofern das geht und wirklich gewollt wird.




Historisches Stichwort: „Landwehr“

Wer das Wort „Landwehr“ hört, denkt an die Vorläufer der Wehrpflicht, an stehende Heere und an Berufssoldaten. Das Wort Landwehr hat aber auch eine andere, sogar noch ältere Bedeutung, und wer in den ländlicheren Teilen des südlichen Ruhrgebiets, im Bergischen oder im Münsterland spazieren geht, der kann sogar auf die Reste dieser Landwehren stoßen.

Reste der Landwehr im Süden von Ennepetal

Der Begriff bezeichnet lang gestreckte Erdwälle, die im Mittelalter angelegt wurden, um das Territorium gegen Eindringlinge zu schützen oder um Räuberbanden die schnelle Flucht vor allem mit Fuhrwerken zu vereiteln. Die Landwehren waren bis zu 18 Meter breit und folgten im Wesentlichen der Landesgrenze, zum Beispiel zwischen dem Herzogtum Berg und der Grafschaft Mark. Diese Grenze besteht heute noch als Grenzlinie zwischen Rheinland und Westfalen, also zwischen den Regierungsbezirken Köln und Düsseldorf auf der einen und Arnsberg auf der anderen Seite.

Zwischen Elberfeld, Barmen und Schwelm, Ennepetal, Radevormwald, Breckerfeld und Halver kann man an vielen Stellen diese Erdwälle noch in der Landschaft sehen. Sie wurden oft schräg zum Hangabfall angelegt, um das Übersteigen zu erschweren. An Wegen wurden sie unterbrochen, dort befand sich dann der Schlagbaum zur Kontrolle und Mautkasse. Viele Ortsteilnamen deuten heute noch auf diese Funktion hin. Aus einer dieser Zollstationen ist das Örtchen Filde entstanden, und dieser Flecken hat daher noch eine Besonderheit: Die Grenze verläuft mitten durch den Ort, so dass er zwei verschiedene Ortseingangsschilder hat. Auf einem steht „Filde. Stadt Breckerfeld. Ennepe-Ruhr-Kreis“ und auf dem anderen „Filde. Stadt Radevormwald. Oberbergischer Kreis“. Entsprechend müssen die einen Bewohner ins rheinische Rathaus von Radevormwald oder in das Gummersbacher Kreishaus, die anderen fahren ins westfälische Rathaus von Breckerfeld oder ins Schwelmer Kreishaus.

Übrigens hat sich die Grenze auch in den Trinkgewohnheiten erhalten: Auf der einen Seite der Landwehr wird in den Kneipen Kölsch oder Alt gezapft, auf der anderen Seite gibt es westfälisches Pils, doch auch diese Grenze wird immer mehr durch bayrischen Weizen-Einfluss aufgeweicht. Das sieht man sogar schon in der Bierstadt Dortmund.




Von der Schönheit zum Schrecken: Die Deutschen und ihr Wald

Walter Leistikow "Abendstimmung am Schlachtensee" (Öl auf Leinwand, um 1900). Copyright: Stiftung Stadtmuseum Berlin. Foto: Hans-Joachim Bartsch, Berlin

Walter Leistikow "Abendstimmung am Schlachtensee" (Öl auf Leinwand, um 1900). Copyright: Stiftung Stadtmuseum Berlin. Foto: Hans-Joachim Bartsch, Berlin

Der deutsche Wald ist mehr als die bloße Summe seiner Bäume. Mit 800.000 Beschäftigten und 108 Milliarden Euro Umsatz ist er ein riesiger Wirtschaftszweig und ein Wunderwerk der Ökologie. Vor allem aber ist er ein Ort der Mythen und Märchen, der Freizeitgestaltung und Kunstbetrachtung, der nationalen Selbstvergewisserung und Verblendung.

Seit Heinrich von Kleist die „Hermannsschlacht“ im Teutoburger Wald zur Geburtsstunde deutscher Größe und Widerstandskraft stilisierte, seit die feingeistigen Romantiker mit des „Knaben Wunderhorn“ sehnsuchtsvoll seufzten und unter grünen Bäumen Geborgenheit suchten, hat der deutsche Wald symbolische und spirituelle Kraft. Dass er auch politisch und ideologisch aufgeladen ist, wissen wir nicht erst seit dem vermeintlichen „Waldsterben“ der 1980er Jahre. Schließlich hatten bereits die Nazis den Wald zum „Kraftquell“ des deutschen Volkes und zur semitischen Sperrzone erklärt: „Juden sind in unseren deutschen Wäldern nicht erwünscht.“

Das steht auf einem antisemitischen Schild, das der Arbeiterfotograf Eugen Heilig 1936 in einem Waldstück bei Mittenwalde aufgenommen hat. Das ungeheuerliche Foto belegt, wie der deutsche Wald zur Projektionsfläche nationalen Wahnsinns und rassistischer Verblödung wurde. Es ist eines von 550 Exponaten, welche das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin zusammengetragen hat, um der Deutschen Lust und Last mit ihrem ebenso realen wie märchenhaft verklärten und ideologisch besetzteb Wald zu dokumentieren. „Unter Bäumen“ heißt die Ausstellung, die den deutschen Wald von allen Seiten künstlerisch, politisch und wissenschaftlich einkreisen will.

"Rast im Wald" (Fotografie, um 1930). Voller Ernst Gbr, Berlin

"Rast im Wald" (Fotografie, um 1930). Voller Ernst Gbr, Berlin

Es ist die erste Ausstellung, die Alexander Koch, der neue Chef des DHM, verantwortet. Der 45-Jährige hat vorher das Historische Museum der Pfalz in Speyer geleitet und sich einen Ruf als unkonventioneller Denker erworben, der keine Scheu hat vor populären Inszenierungen. „Wir wollen neue Kontexte schaffen“, meint Koch zum Antritt seines „Traumjobs“. Und: „Wir müssen vielgestaltiger werden“, hat er seinen Kuratoren mit auf den Weg gegeben.

Otto Geiger "Wandern mit 'Kraft durch Freude'" (Plakat der NS-Organisation "Kraft durch Freude", um 1935). Copyright: Deutsches Historisches Museum, Berlin. Foto: Arne Psille

Otto Geiger "Wandern mit 'Kraft durch Freude'" (Plakat der NS-Organisation "Kraft durch Freude", um 1935). Copyright: Deutsches Historisches Museum, Berlin. Foto: Arne Psille

Auf 1100 Quadratmetern Fläche werden deshalb mehr Fragen gestellt als vorschnelle Antworten gegeben. Das Spektrum der Exponate reicht von der romantischen Malerei eines Caspar David Friedrich bis zum „Spiegel“-Cover über besagtes „Waldsterben“, von den röhrenden Hirschen in deutschen Schlafzimmern bis zum deutschen Heimatfilm („Der Förster vom Silberwald“), von guten Jägern und bösen Wilderern bis zur großformatigen „Hermannsschlacht“ eines Anselm Kiefer. Es gibt Bäume aus Holz und aus Plastik, Filmvorführungen und Lesungen, Volkslieder und einen Raum, in dem der deutsche Wald zum kriminalistischen TV-„Tatort“ wird: Immer ist der Wald ein Ort der Schönheit und des Erschreckens, der Geheimnisse und der Vergänglichkeit. Denn: Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus!

Dass die Deutschen ein Bundeswaldgesetz haben, wundert kaum. In Paragraph 14, Absatz 1 heißt es: „Das Betreten des Waldes zum Zwecke der Erholung ist gestattet.“ Dann steht eigentlich nichts im Wege, damit jeder Besucher den aus viel Kunst und noch mehr Kitsch geformten Wald-Parcours für sich zu einem sowohl echten wie metaphysischen Natur-Erlebnis machen kann.

Deutsches Historisches Museum (DHM): „Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald.“ Unter den Linden 2, Berlin-Mitte, bis 4. März 2012, täglich von 10-18 Uhr. Eintritt 6 Euro (Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei). Katalog (320 S., ca. 250 Abb., 25 Euro). Weitere Infos unter Telefon 030/20 30 44 44 oder http://www.dhm.de/ausstellungen/unter-baeumen/

 

"Die Wilderer" (Chromolithographie, um 1880). Copyright: Staatliche Museen zu Berlin - Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia

"Die Wilderer" (Chromolithographie, um 1880). Copyright: Staatliche Museen zu Berlin - Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia




Voerde oder Voerde? Das Navi weiß den Weg (nicht)

Hier mal ein kleiner Exkurs über die Tücken der Navi-Geräte in modernen Autos:
Voerde ist ein Ortsteil der Stadt Ennepetal und hat einen großen Sportverein, die Turngemeinde Voerde, und darin eine recht erfolgreiche Basketballabteilung.

Ennepetal-Voerde um 1965. (Foto Stadtarchiv)

Als kürzlich eine Mannschaft aus Münster in Voerde antreten sollte, da fehlte zum Anwurfzeitpunkt das halbe Team aus der westfälischen Metropole. Dieser Teil hatte nämlich vor der Abfahrt brav den Ortsnamen Voerde ins Navi eingegeben und war folgerichtig in der Stadt Voerde am Niederrhein gelandet. Für die Weiterfahrt nach Ennepetal war es zu spät, und dementsprechend gingen die Punkte kampflos an die richtigen Voerder.

So ein Irrtum im Freizeitbereich ist ja noch zu verkraften, aber richtig ärgerlich wird es für LKW-Fahrer, die – wie mehrfach geschehen – mit ihrer Last an der Ennepe statt am Niederrhein landeten.

Mein Tipp: Zusätzlich zum Navi einen Blick auf die gute alte Landkarte werfen.




Zechen gab es auch im Sauerland

Wer das Wort Zeche hört, der denkt natürlich sofort an Kohlebergbau und an die Gruben im Ruhrgebiet. Allerdings war der Begriff in der frühen Neuzeit auch für Eisenerzgruben im Sauerland in Gebrauch. Auf diesen überraschenden Befund stieß der Historiker Wilfried G. Vogt bei seinen Forschungen über die Gewerbe-Entwicklung im Tal der Ennepe.

Hammerbuch des "Behlinghammer" im Ennepe-Tal von 1774. Er gehörte der Familie Harkort.

So gab es unterhalb der heutigen Ennepe-Talsperre auf dem Stadtgebiet von Breckerfeld eine Grube für Kupfererz, die in Urkunden als „Friedrichs Zeche“ auftaucht. Die Bezeichnung hat auch Sinn, wenn man an die ursprüngliche Bedeutung denkt: Eine „Zeche“ war der Beitrag, den die an einer Grube beteiligten Genossen zu leisten hatten. Im Falle von Friedrichs Zeche sind die beiden Genossen bekannt: Der Bergmeister Goldenberg, gleichzeitig ab 1773 Breckerfelder Bürgermeister, und der Chirurg und Feld-Doktor Nicolaus Caspar Saalmann, der später auch eine Apotheke betrieb.

Erzbergbau gab es an vielen Stellen im Sauerland. In einer der wichtigsten erhaltenen Quellen für diesen Bereich, dem „Altenvoerder Hütten- und Hammerbuch“, sind für die Jahre 1595 bis 1598 zahlreiche Erzlieferanten und ihre Erlöse aufgeführt. Das wertvolle Dokument befindet sich jedoch nicht am Entstehungsort, sondern es gelangte aus dem Nachlass des Grafen Westerholt-Gysenberg in das Stadtmuseum Hattingen.

Der Brandshauser Hammer im Tal der Ennepe etwa um 1920. (Foto:: Stadtarchiv Ennepetal)

Die Kenntnisse der Sauerländer Bergleute scheinen sogar international begehrt gewesen zu sein: In einer Quelle von 1564 fand Vogt einen Hinweis auf „Harmann and Peter of Breckerfilde“, die als Bergleute in Britannien aktiv waren. Da steckte hierzulande der Kohlebergbau noch in den Kinderschuhen.




Pleurants – Trauernde

Mein Vater liegt auf demselben Friedhof wie die Krupps begraben, wenngleich sehr viel bescheidener. Die Krupps – zumindest die Männer der Familie – ruhen unter veritablen Denkmälern. Hier ein Adler, dort eine trauernde Schönheit, wie sie im 19. Jahrhundert zur internationalen Friedhofsmode gehörte. Eine lebensgroße Skulptur aus Bronze, die – Allegorie hin oder her – unter nur angedeuteten Schleiern ihre vollen Brüste über dem Kopf des Industriebarons schaukeln lässt, lasziv wie ein Groupie über dem Grab von Jim Morrison, sinnlich wie Maria Magdalena am Fuß des Kreuzes. Was haben halbentblößte Weiber, die nicht zur Familie gehören, auf den Grabplatten von Industriellen zu suchen?

Ich denke an Mutter. Als mein Vater starb, waren die beiden vierundfünfzig Jahre verheiratet. Mutter erzählte mir später, Vater sei ihr erster und einziger Mann gewesen. Ich glaube ihr. Wenn jemand ein Recht hat, den Tod meines Vaters zu betrauern, dann Mutter. Aber sie als weinende Statue auf Vaters Grab? Schlecht vorstellbar. Oder doch? Als hyperrealistische Skulptur, wie beispielsweise Duane Hanson oder Edward Kienholz Menschen aus Glasfaser und bemaltem Polyesterharz nachbildeten? Oder als Heldin des Alltags, wie sie als „Säulenheilige“ auf Düsseldorfer Litfaßsäulen stehen? Meine Mutter, 85-jährig, klein und verhutzelt über ihren Rollator gebeugt, eine angemessene Versinnbildlichung einer Trauernden.

Pleurants beiderlei oder unbestimmten Geschlechts existieren in der Grabkunst zumindest seit dem 14. Jahrhundert. Unter den 40 Trauernden, die in Dijon die Grabplatte Philipp des Kühnen tragen, befinden sich mehrere düstere Kapuzengestalten, die sich auch als Fährmänner zu Böcklinschen Toteninseln eignen würden. Jedoch hielt die als Frau personifizierte Trauer mit der erotischen Verheißung eines erfüllten Jenseits erst im 19. Jahrhundert europaweit Einzug in die Friedhofskunst.

Warum protestierten die tatsächlichen, die nicht-allegorischen Ehefrauen, die ihre Männer überlebten, nicht gegen die in Kupfer gegossenen fremden Nackedeis auf den Grabstätten? Meine Mutter hätte sich dagegen verwahrt, aber sie lebte ja auch hauptsächlich im 20. Jahrhundert.

Mir persönlich – als Mann – würde der Gedanke gefallen, über meinem Skelett würden verewigte Trauernde dauerhaft um mich weinen. Für mein Grab wünsche ich mir sechzehn Pleurantes. Mindestens vier, aber besser sechzehn. Das bringt meine Nachlassverwalter in größere Schwierigkeiten. Denn natürlich muss jede der weinenden Figuren lebensgroß sein, nicht so klein wie bei Philipp dem Kühnen. Wer meinen Geschmack kennt, weiß, dass „lebensgroß“ mindestens 1,80 m bedeutet. Das gibt ein Gedränge von in kurzen Röcken stehenden, sitzenden, liegenden, sich vor Trauer die Brust zerkratzenden, sich die Kleider vom Leib reißenden Weinenden, ein Knäuel aus Trauernden, unter denen ich begraben sein möchte (wenn es Zeit ist).

auf dem Friedhof in Essen-Bredeney

Grab eines Industriebarons




Der „Simplicissimus“ im Ruhrgebiet

Im berühmten Schelmenroman vom „Simplicissimus“ über den Dreißigjährigen Krieg erwähnt der Autor Grimmelshausen auch den kaiserlichen General Melchior von Hatzfeld. Dieser General hinterließ seine Spur aber nicht nur in der Literatur, sondern auch im heutigen Ruhrgebiet, genauer an dessen Rand, in Hagen und in der heutigen EN-Kreishauptstadt Schwelm.

Der Dreißigjährige Krieg, in dem es vordergründig um die Religionsausübung ging, hatte 1618 begonnen. In den Jahren ab 1622 war auch der Raum südlich der Ruhr zunächst durch die Besetzung mit katholischen (spanischen) Truppen betroffen. In der Stadt Schwelm hielt jedoch die protestantische Bevölkerung auch nach dem Abzug der Spanier an ihrer reformierten Konfession fest.

Titel des "Simplicissimus"

Darüber ärgerten sich die verbliebenen Katholiken so sehr, dass sie 1630 die kaiserlichen Soldaten aus dem bergischen Radevormwald und aus Lennep herbeiriefen, die dann „die Stadt ganz und gahr ausplünderten“, wie der Historiker Gerd Helbeck in seinem lokalgeschichtlichen Werk zitiert. Der Erbkirchrat der Schwelmer Kirche, Junker Georg von Vaerst, wurde gefangen genommen, sein Wohnhaus total verwüstet.

Erst 1631 gab der Droste von Wetter der lutherischen Gemeinde Schwelm ihre Kirche zurück, denn inzwischen hatten die protestantischen Schweden in den Krieg eingegriffen und die Position des hier in der Grafschaft Mark herrschenden Kurfürsten von Brandenburg gestärkt. Unter anderem erlebten die Schwelmer 1632 den Einzug eines Finnischen Regiments.

Nicht nur Schwelm, auch viele andere Städte mussten in diesem Krieg immer wieder Plünderungen und Brandstiftungen hinnehmen oder sich durch Zahlungen an die Soldaten und ihre Anführer frei kaufen. Dann gab es einen Schutzbrief, von denen mehrere in Schwelm erhalten geblieben sind.

Zu den Schutzmaßnahmen der Stadtbürger gehörten auch die Ausgaben für Boten und Kundschafter, damit man frühzeitig von der heranziehenden Soldateska oder von marodierenden Freibeutern erfuhr. Die Bürger suchten dann Fluchtorte aus, zum Beispiel in der Kluterthöhle in Altenvoerde (heute Ennepetal), und sie versteckten ihre Wertgegenstände. So ist zu erklären, dass sich immer wieder Münzen und Gegenstände aus dieser Kriegszeit in Verstecken oder im Boden finden.

Im September 1640 zog der zu Beginn erwähnte General von Hatzfeld in Schwelm ein. Mit seiner Einheit wollte er weiter nach Hagen, und um den Weg zu finden, musste ihn ein Schwelmer Bürger begleiten. Dieser Dienst wurde entlohnt, und über das Entgelt ist ein Eintrag in der Schwelmer Stadtrechnung erhalten. Insgesamt hat die Stadt Schwelm in den Jahren 1640/41 für Erpressungen, Kontributionen und sonstige kriegsbedingte Zahlungen fast 1700 Reichtaler ausgegeben.

Mit dem Friedensvertrag von Münster und Osnabrück endet 1648 der Dreißigjährige Krieg. Für den Bekenntnisstand wurde darin als Stichjahr 1624 festgelegt, und für Städte mit gemischten Konfessionen wurde die Gleichheit der Bekenntnisse hergestellt. Daher gab es auch in Schwelm nach Kriegsende weiter eine reformierte und eine katholische Gemeinde.




Helden auf Halden

Geleucht von Otto Piene - mit Schattenwanderern. Foto: Normen Ruhrus

Geleucht von Otto Piene - mit Schattenwanderern. Foto: Normen Ruhrus

Von 18 bis 6 Uhr sollen wir Helden sein. Helden auf Halden, trotzend und wandernd und schauend. Die Haldensaga will noch einmal Kulturhauptstadt fühlen lassen – aber das Wetter sieht das anders.

Samstag, 18 Uhr. Wir haben uns die Tour A 2 von Moers nach Neukirchen-Vluyn ausgesucht, Sonnenuntergang auf Halde Rheinpreussen, Sonnenaufgang auf Halde Norddeutschland. Neun Helden auf Wanderung. Dass der Startpunkt verlegt wurde, entdecken wir nur durch Zufall. Am Startpunkt stehen statt der von uns erwarteten 20 Menschen gefühlte 200. Ein buntes Getümmel aus Outdoor-Jacken, Wanderschuhen, Thermoskannen und Isomatten. In einem Zelt bekommen wir außerdem noch einen Radioempfänger, Vitamin C-Tütchen (so hohe Dosis, dass man es nur einmal am Tag nehmen darf!), Lageplan und Regenponcho.

Zwischen den vielen Wanderwilligen gehen die Tourguides beinahe unter. Wir finden in Andreas, einem Pfadfinder, unseren. Der Arme sieht sich 71 Menschen gegenüber und sein Gesicht sagt, dass er vielleicht mit 30 gerechnet hatte. Immer, wenn er „Hallo, Hallo“ sagt, sollen wir „Hier“ rufen.

Hallo Hallo

Mit Hallo Hallo und Hier marschieren wir los. Vorbei an bestens gepflegten Vorgärten, ordentlich, geradlinig, grün, kein Schnickschnack. Autos müssen sich der Masse ergeben und auch bei Grün halten. Kinder radeln mit offenem Mund an uns vorbei, Vorhänge an Fenstern werden vorbeigeschoben, als hätte Moers so etwas noch nicht gesehen.

Kurz vor dem Haldenaufstieg macht einer von uns sein Radio an. Amy Winehouse ist tot. Wird die Wanderung nun ein Trauermarsch?

Nach einigen Metern können wir die Spitze von Otto Pienes Geleucht erkennen. 30 Meter hoch ist die Reminiszenz an eine Grubenlampe, rubinrot, wie ein Leuchtturm der Schwerindustrie.

Inne-Halden

Pause. Inne-Halden. Und warten auf den Sonnenuntergang und das Radioballett. Wir breiten Decken und Isomatten aus, ziehen an, was noch im Rucksack liegt, essen und schauen. Auf die schöne Weite, die sich vor uns auftut, Grün, Häuser, Industrie, ein Panorama, wie es vielleicht nur das Ruhrgebiet kennt. Der Wind macht uns den Genuss nicht leicht, die Finger werden eiskalt.

Radioballett bei der Haldensaga. Foto: Normen Ruhrus

Radioballett bei der Haldensaga. Foto: Normen Ruhrus

Da beginnt das Radioballett. Und wir schauen uns an, bekommen neue Namen, fragen uns, wie unser Leben mit diesem anderen Namen verlaufen wäre. Wir wiegen uns vor und zurück, drehen uns umeinander, bis das Gegenüber still zu stehen und die Welt sich zu drehen scheint. Wir legen uns auf die Wiese, halten unser Ohr an die Halde und lauschen ihrem bassigen Gemurmel, hören von ihren Schmerzen, nehmen einen Stein als Andenken auf, der nur auf uns gewartet hat, seit Anbeginn der Zeiten. „Den Leuten zugucken ist viel lustiger, als selbst mitmachen“, sagt ein Mann, der sich das Treiben der Tanzenden ansieht.

Plötzlich ist es dunkel, die Sonne ist heimlich hinter den Wolken untergegangen. Das Geleucht erstrahlt plötzlich und mit ihm am Hang rot strahlende Scheinwerfer. Wunderschön.

Wir wandern weiter. Durch stumme Siedlungen, als wären wir die einzigen Menschen. An einer Statue sollte ein Erzähler stehen, doch der hat es sich anders überlegt. Am Ort der Nachtruhe warten vier Menschen auf uns, die berichten von Märchen, Imkerei, Stadthistorie. Und die Dame, die von der Post erzählt, heißt Christel. Zwischen Zelten mit Wasser und Knäckebrot und nur einem kleinen Unterstellplatz, der längst überfüllt ist, sollen wir im schönen Schein der Öllampen ruhen. Zwei Stunden lang. Schön wäre das in einer Sommernacht, wie man sie Ende Juli erwarten würde.

Es fängt an zu regnen. Wir sehen uns aus unseren hellgrünen Ponchos an. Und wandern zurück zu unseren Autos. Halbe Helden. Und trotzdem eine wundersame Nacht.

Alle Fotos: Normen Ruhrus




Neulich im Kreuzworträtsel: Wo endet das Ruhrgebiet?

Neulich im Kreuzworträtsel die Frage: Stadt im Sauerland mit neun Buchstaben. Als Lösung sollte man dort „Ennepetal“ eintragen, aber liegt Ennepetal im Sauerland?

Wie der ganze Ennepe-Ruhr-Kreis gehören Ennepetal und die anderen acht Städte politisch zum Ruhrgebiet, sind also Mitglied im „Regionalverband Ruhr“. Landschaftlich fühlt man sich in Städten wie Breckerfeld und Ennepetal oder im Hagener Süden aber tatsächlich wie im Sauerland. Wer durch die Kreisstadt Schwelm bummelt und die verschieferten Fachwerkbauten mit den grünen Fensterläden bewundert, der wähnt sich eher im Bergischen Land. Ähnlich sieht es an den anderen Rändern des Reviers aus: Haltern ist doch kulturell und landschaftlich mehr eine münsterländische Stadt, und Xanten oder Wesel liegen natürlich am Niederrhein.

Das Ruhrgebiet ist eben eine künstliche Struktur, orientiert an der Industrieentwicklung und an dem Wunsch, eine gemeinsame Landschaftsplanung zu erreichen. Klar, die ersten Kohlen grub man aus den Pingen auf den Haßlinghauser Wiesen, bevor der Bergbau in Witten unter die Erde ging und weiter nach Norden wanderte. Klar, die erste Kleinmetallindustrie entstand in den Seitentälern der Ruhr-Nebenflüsse, und das war natürlich das Sauerland, dem Namen nach also das „Süderland“ – doch südlich wovon? Wahrscheinlich entstand die Bezeichnung aus Sicht der frühmittelalterlichen Machtzentren, und die lagen in Soest und Dortmund, in Essen, Hattingen und Werden. Das Süderbergland war der unterentwickelte Süden, das Mezzogiorno Westfalens, aber dennoch Keimzelle der heutigen Industrieregion.

Was sagt also ein Ennepetaler anderswo in der Welt, wenn man ihn fragt, wo das denn liegt? „Zwischen Hagen und Wuppertal“ lautet meist die Antwort. Das ist schon sehr genau, ein „Zwischen“ eben – nicht richtig Ruhrgebiet, nicht richtig Sauerland.

In Amerika fragte uns mal ein Arzt nach unserer Herkunft. „From Germany“ war die erste Antwort. Und genauer? „Near Cologne“. Und dann seine überraschende Rückfrage: „Is that in France?“

So relativiert sich mit der Entfernung die Bedeutung von Grenzen.




Als Heinrich Heine von den Franziskanern lernte

Mitten im Trubel der Düsseldorfer Altstadt gibt es seit etwa fünf Jahren einen sehr ungewöhnlichen Ort der Ruhe – das „Max-Haus“.

Es ist katholisches Stadthaus, Veranstaltungszentrum, Kunstgalerie, Gebetsstätte, Cafe und Konzerthaus in einem. Ungewöhnlich wirkt es nicht nur durch die Ausstrahlung, sondern vor allem durch seine preiswürdige Architektur, seine Offenheit für jedermann und seine Geschichte.

In der Nähe des früheren Hafens hatten Franziskaner auf den Resten der alten Citadelle 1661 ein Kloster errichtet, eine Kirche gebaut und ab 1695 eine Lateinschule eingerichtet, die Vorläuferin der heute noch bestehenden Max-Schule. Die Kirche war ursprünglich dem heiligen Antonius von Padua gewidmet. Als jedoch 1803 durch den Beschluss zur Säkularisation auch Kirche und Kloster abgerissen werden sollten, benannten die Mönche ihren Komplex schnell um nach dem heiligen Maximilian – dem Namenspatron des Kurfürsten. Durch diesen schmeichlerischen Trick (man ist eben in Düsseldorf) konnten die Gebäude erhalten werden, die Franziskaner gingen als Pfarrer in die Gemeinden und die Schule wurde im Sinne der französischen Besatzung als „Lyceum“ weiter betrieben.

Diese Schule nun bekam durch den späteren Dichter Heinrich Heine ein literarisches Denkmal. Der jüdische Junge hieß zu der Zeit noch Harry und besuchte die katholische Einrichtung von 1807 bis 1814. Er erinnert sich an mehreren Stellen seines Werkes, zum Beispiel in den „Reisebildern“, an diese für ihn meist angenehme Zeit, er führt einzelne Lehrer an und klagt über die Schwierigkeiten des Sprachenlernens. Im „Buch Le Grand“ schreibt er unter anderem über seine Probleme mit dem Lateinischen: „In den dumpfen Bogengängen des Franziskanerklosters, unfern der Schulstube, hing damals ein großer, gekreuzigter Christus von grauem Holze, ein wüstes Bild, das noch jetzt zuweilen durch meine Träume schreitet und mich traurig ansieht mit starren blutigen Augen – und vor diesem Bilde stand ich oft und betete: O du armer, ebenfalls gequälter Gott, wenn es dir nur irgend möglich ist, so sieh doch zu, dass ich die verba irregularia im Kopfe behalte.“ Dieses Kreuz hängt übrigens immer noch im Kreuzgang des ehemaligen Klosters.

Nachdem die Franziskaner vor drei Jahrzehnten das Kloster aufgegeben hatten, drohte es zu verfallen oder kommerziell genutzt zu werden. Weil die Düsseldorfer Katholiken und das Erzbistum Köln jedoch auf der Suche nach einem geeigneten Zentrum waren, wurde der Komplex nach einem Architektenwettbewerb renoviert und modernisiert. Der ehemalige Kreuzgang blieb erhalten, und durch ein großes quadratisches Glasdach entstand im Innenhof ein wetterfester, lichtdurchfluteter Veranstaltungsraum, der unter anderem für die „Mittwochsgespräche“, aber auch für Konzertreihen wie „Bach beflügelt“ genutzt wird. Besucher können das Haus jederzeit betreten, lesen, Kaffee trinken oder in einem „Raum der Stille“ meditieren oder beten. Außerdem gibt es im ehemaligen Kreuzgang ständig Ausstellungen verschiedener Künstler. Zur Zeit läuft noch bis zum 20. August 2011 eine Gemeinschaftsausstellung von fünf Künstlern unter dem Titel „Graffiti im Kreuzgang“. Kurator für diesen Teil des Zentrums ist der Düsseldorfer Künstler Christoph Pöggeler, dem man im Stadtbild überall begegnet: Er schuf die lebensgroßen und lebensechten Figuren, die man in der Düsseldorfer Innenstadt an vielen Stellen auf Litfasssäulen stehen sieht.

Zur Straße hin wurde die Fassade des ehemaligen Klosters unverändert gelassen. Auch das bronzene Erinnerungsschild an den berühmten Schüler Heinrich Heine hat man gelassen. Nebenbei: Weil der Umbau des Klosters zum „Katholischen Stadthaus“ so gelungen sei, hat der Düsseldorfer Architekten- und Ingenieursverein 2010 dem Max-Haus die jährliche Auszeichnung „Bauwerk des Jahres“ verliehen.

Ein Besuch in diesem Ensemble lohnt sich also, auch wenn man als Atheist oder Protestant oder sonst etwas keinen Bezug zum Katholizismus hat.




„Extraschicht“ goes anywhere

Es ist wirklich ein ureigenes Ruhrgebietsereignis, was weltweit bekannt sein könnte, ein Magnet für Wochenend-Tourismus und Städtereisende. Es ist eine einmalige Landschaft, die man – ausgerüstet mit Rucksack und Imbiss – erforschen kann, wenn man sie denn nicht schon kennt. Der Auswärtige staunt über die vielen „Spielorte“, die post-industriellen Nutzungen ehemaliger Klischeeträger, Zechen, Stahlwerke, Rost. Man fährt kostenlos durch die Gegend in Extra-Extraschicht-Bussen und merkt nicht, wie unsagbar schlecht der Öffentliche Nahverkehr in dieser Region unumkehrbar festgeschrieben ist. Plan in der einen, Mann, Frau oder Kind an der anderen Hand geht man auf Erkundungsreise. Und dann noch bei gutem Wetter! „Unvergesslich“, sagt die Frau aus Koblenz. „Ich kann bei meiner Cousine in Essen übernachten.“

Fragen Sie fern der Heimat mal in einem Reisebüro nach einem Extraschicht-Paket. Sie werden enttäuscht sein. Im Internet finden sie sowas bei „Tour de Ruhr“ und anderen Plattformen. Laut Ruhr Tourismus sind Angebote seit 2010 in allen TUI-Büros buchbar. Wirklich? Wie dem auch sei, es ist ein Highlight des Jahres, das im Jahr der Kulturhauptstadt nochmal ausgeweitet wurde, zum Beispiel durch Hinzunahme des Signal-Iduna-Parks. Ob das sein muss und in die Reihe passt, sei dahingestellt. Es war brechend voll. Vor allem Nichtfußballfans waren neugierig.

Aber – wie das so ist mit erfolgreichen Veranstaltungen – sie leiern irgendwann aus. Es läuft ja, warum sollte man was ändern? Never change the winning team! Die Orte machen ihr Programm – von irischen Balladen über Flamenco bis hin zu den inzwischen unvermeidlichen Beleuchtungen der alten Gemäuer in rot, blau und grün – sieht immer gut aus. Hat die Kommune Geld dafür im Säckel, gibt’s am Ende noch ein Feuerwerk. Ein paar Hauptorte, früher „Drehscheiben“ genannt, werden speziell mit Künstlern und Aktionen bestückt. Dazu gehören in der Regel große Open-Air Spektakel, importiert aus Frankreich oder Spanien. Überall ist was los – bis in den früher Morgen.

Cello im Stadiongefängnis (Anna Reitmeier) Extraschicht 2010

Bis 2010 hat lange Jahre das Büro Erich Auch die speziellen Orte mit künstlerischen Darbietungen bestückt. Da gab es teilweise wunderbare Ideen und Abenteuer, vor allem waren es hin und wieder Vorstellungen und Aktionen, die nur für diesen Ort, nur für diese Nacht konzipiert und umgesetzt wurden. Der Ort wurde nicht als pure Kulisse genutzt, sondern war Ausgangspunkt für eine künstlerische Idee, naturgemäß auf großes Publikum ausgerichtet. Da hat die Tanz- und Akrobatengruppe um Gabi Koch in Hattingen die Heinrichshütte in einem anderen Licht erscheinen lassen, als Zirkusarena und Ort der Illusion. Da hat artscenico in Dortmund auf Phoenix-West die sinnbildliche Unschuld von Bräuten in Weiß, Tänzerinnen und Tänzer, dem ehemaligen Stahlwerk entgegengesetzt. Das sind nur Beispiele, aber diese zeigten, was selbst aus der Region geschaffen werden kann – ortsspezifische Spezialitäten zur Extraschicht. Davon gab es zu wenige.

Jetzt, scheint es, sind sie fast gänzlich verschwunden. Zudem sind die Programmvielfalt und die Anzahl der Veranstaltungen derart hoch, dass man sie in einem Programmheft nicht mehr darstellen kann. Das Büro Auch gibt es nicht mehr. Wer hat die Extraschicht in diesem Jahr künstlerisch bestückt? Öffentlich ist dies nicht. Oder wurde alles vom Tourismusbüro organsiert? Das würde einiges erklären. Kaum was Neues, verwirrende Angaben, Künstler, die man nicht findet.

Tanz im Erzbunker Gelsenkirchen (Emily Welther) Extraschicht 2010

Die Extraschicht braucht einen neuen Kick! Sie kann es sich leisten, die Marke ist eingeführt und darf nicht dazu führen, dass Langeweile aufkommt, dass man mehr Zeit in überfüllten Bussen verbringt als an den Orten, die man eigentlich besuchen will. Man muss diese Großveranstaltungen nicht mögen, aber es ist eine der wenigen, die sich direkt und eng mit dem Ruhrgebiet und seiner Geschichte beschäftigen. Vielleicht ist etwas weniger mehr, bestimmt aber sollte man nicht einfach Events platzieren, sondern überlegt, originell und künstlerisch vertretbar mutigere Auswahl treffen.

Fotos: Dman




Entnazifizierung im Revier: „Darum war ich in der Partei“

Über die Befreiung des Ruhrgebiets vom Nationalsozialismus durch alliierte Truppen habe ich hier vor einiger Zeit einige Hintergründe dargelegt. Nun soll es um die Entnazifizierung nach 1945 gehen.

Wenn die Amerikaner und ihre Verbündeten eine Stadt oder Gemeinde befreit hatten, dann setzten sie in der Regel sofort einen unbelasteten Bürgermeister ein. Manchmal brachten sie ihn sogar mit. Gleichzeitig hatten sie genaue Vorstellungen über die geplante „Denazification“. Noch vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht hatten die Besatzungsmächte am 25. April dazu eine Direktive erlassen, die vor Ort durch provisorisch eingerichtete Behörden und den Militärkommandanten umgesetzt wurde. In der britischen Zone, zu der auch das Ruhrgebiet gehörte, arbeitete die Besatzungsmacht mit einem Skalensystem von 1 bis 5. Die Kategorien 1 und 2 landeten vor Spruchgerichten. Dazu gehörten insbesondere Angehörige der verbrecherischen NS-Organisationen wie SS, Waffen-SS und des SD. Später kam die Unterscheidung zwischen A und B hinzu, nach welchen Kriterien Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, aber auch aus „finanziellen Unternehmen“ vorzunehmen seien. Wer unter A fiel, gehörte zu den „zwangsweise zu entlassenden Personen“. Solche Listen gab es wenige Wochen nach Kriegsende auch für Journalisten.

Wie das im Revier praktisch ablief, zeigen die Erlasse des Regierungspräsidenten in Arnsberg. Am 3. Juni 1945 verlangt er, dass sich die noch vorhandenen Mitglieder der Ortsgruppenstäbe der aufgelösten NSDAP „unter Aufsicht zu versammeln“ haben. An Ort und Stelle musste dann eine Liste aller ehemaligen männlichen und weiblichen Mitglieder der NSDAP in der jeweiligen Gemeinde angefertigt werden. Die beteiligten Funktionäre mussten eine eidesstattliche Erklärung abgeben, außerdem waren die Parteimitglieder nach dem Grund ihres Eintritts in die NSDAP zu befragen. Am 15. Juni seien die Listen abzugeben, eine Abschrift erhielt der Militärkommandant, bei wahrheitswidrigen Angaben drohte „strengste Bestrafung“.

Für das damalige Amt Milspe-Voerde – heute das Gebiet der Stadt Ennepetal – sind im Stadtarchiv diese Listen der einzelnen Ortsgruppen, nach Zellen geordnet, erhalten geblieben. Daraus ergibt sich zum einen, wie stark die Bevölkerung mit Funktionären der NSDAP und ihrer Gliederungen durchsetzt war, und zum anderen, wie feige die Menschen nach der Befreiung mit ihrer persönlichen Geschichte umgingen. Als Gründe für den Parteieintritt am häufigsten genannt wurden: Zwang der Behörden, Überredung durch die eigenen Kinder, Übernahme durch den BDM, wegen der Arbeitsstelle, wegen langjähriger Erwerbslosigkeit, Überredung durch die Frauenschaftsleiterin, aus taktischen Gründen (sehr oft genannt), wegen Aufforderung durch den Ortsgruppenleiter, um den Ehemann vor Angriffen seitens der Partei zu schützen, weil man es für einen guten Zweck hielt, um eine sichere Existenz zu bekommen, aus geschäftlichen Gründen, um im Beruf zu bleiben, weil man ohne Wissen übernommen worden sei.

Seltener werden die Gründe genannt, die wahrscheinlich für die meisten ehemaligen Parteimitglieder eher zutrafen: aus politischer Dummheit (mehrfach genannt), aus Überzeugung (nur wenige Nennungen), weil man Fanatiker war oder einfach „aus Dummheit“.
Einige Befragte machten auch persönliche Angaben: Ein Gastwirt sei nur eingetreten, um eine Konzession zu bekommen, ein anderer war Blockwart und eingetreten, „um meine Familie zu schützen“, ein dritter war körperbehindert und fühlte sich gezwungen, der Partei beizutreten, ein vierter sei „nur auf Anordnung des Dienstvorgesetzten“ beigetreten. Ein Unternehmer schrieb: „Weil ich im Anfang die Sache für gut und ehrlich hielt.“

Wie man sieht, wurde in den meisten Fällen der Parteieintritt als unausweichlich dargestellt. Einige ehemalige NSDAP-Mitglieder versuchten in dieser Befragung sogar, einen angeblichen Austritt zu konstruieren. Ein Unternehmer aus Gevelsberg schrieb, er sei im August 1944 aus der Partei ausgetreten, und das habe er auch in einem Schreiben am 10. Mai 1945 dem Herrn Amtsbürgermeister mitgeteilt. Zu dem Zeitpunkt war das Ruhrgebiet jedoch bereits mehrere Wochen besetzt, und das Deutsche Reich hatte am 8. Mai bedingungslos kapituliert.

Warum sich zahlreiche Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch engagierte Christen dem verbrecherischen Regime widersetzten und dafür Verfolgung und Tod in Kauf nahmen, die meisten Bürger der Hitler-Partei jedoch mit Überzeugung nachrannten, das bleibt ein großes Rätsel. Wenn man den persönlichen Notizen im Ennepetaler Stadtarchiv glaubt, dann waren es überwiegend sehr egoistische Motive – ohne Rücksicht auf die angekündigten Opfer.

Feierstunde zur Gründung der Stadt Ennepetal 1949




„Humboldt-Box“: Temporäres Raumschiff mitten in Berlin

Nach der Wende wurde Berlin nicht zur Hauptstadt der Deutschen, sondern auch zur Metropole des Temporären und Unfertigen.

Keine Kunst, kein Neubau ohne Infobox und Eventprogramm. Die Baustelle am Potsdamer Platz konnte man von einem auf Stahlstelzen stehenden riesigen roten Container aus verfolgen. Weil ein Haus für moderne Kunst fehlte, baute man einen „White Cube“ vors Rote Rathaus.

Jetzt ist in der historischen Mitte Berlins, in direkter Nachbarschaft zu Lustgarten, Museumsinsel und Dom, ein außerirdisch anmutender Würfel aus Glas und Beton gelandet. Wo einst das vom Krieg zerstörte und von Walter Ulbrichts Baubrigaden weggeräumte Hohenzollernschloss stand und nach dem Abriss des asbestverseuchten Palastes der Republik ein städtebauliches Loch gähnt, steht nun die „Humboldt-Box“: 28 Meter ist sie hoch, auf fünf Etagen und 3000 Quadratmetern gibt es Ausstellungsflächen und Erlebnisräume, Veranstaltungsbereiche und Museums-Shops. Und ganz oben wartet nicht nur nicht nur ein schickes Restaurant, sondern auch ein fantastischer Rundblick über Berlins Mitte.

Die „Humboldt-Box“ soll Appetit machen und einen Überblick ermöglichen über das, was auf der daneben liegenden architektonischen Wüste einmal entstehen soll: Das Humboldt-Forum, das im wieder aufgebauten Berliner Schloss zur Heimstatt für ein multikulturelles Projekt aus ethnologischen Sammlungen, Universitätsforschung, Bibliothek und Debattenforum werden soll.

Wenn es denn entsteht. Denn seit der Bundestag 2002 ein parteiübergreifendes Bekenntnis zum Wiederaufbau des Berliner Schlosses ablegte, ist viel architektonisches und politisches Porzellan zerschlagen worden. Der Wettbewerb, aus dem der italienische Architekt Franco Stella mit seinem Entwurf (drei barocke und eine postmoderne Fassade) als Sieger hervorging, hatte ein juristisches Nachspiel. Außerdem wurde der für 2011 geplante Baubeginn wegen der Finanzkrise auf 2013 verschoben. Ob die wieder aufgebaute Schlosshülle mit einer nach historischem Vorbild rekonstruierten Glaskuppel versehen wird, steht in den Sternen: Die dafür anfallenden 28 Millionen Euro will niemand berappen.

Überhaupt wird mehr um das liebe Geld als um das noch immer nebulöse museale und künstlerische Konzept des Humboldt-Forums gestritten. Bisher galt: 440 Millionen Euro kommen vom Bund, 32 Millionen vom Land Berlin, 80 Millionen aus Spenden, die ein von Wilhelm von Boddien gegründeter Förderverein auftreiben soll. Derzeit sind aber erst 15 Millionen in der Kasse, für 7 Millionen gibt es unverbindliche Zusagen. Boddien: „Ich hoffe, dass mit der Humboldt-Box der Spenden-Knoten platzt!“ Ob die vom Berliner Architekturbüro „Krüger Schuberth Vandreike“ und von der Firma Megaposter (Neuss) betriebene Box auch den Bund ermuntern wird, den wegen des späteren Baubeginns anfallenden Inflationszuschlag von 28 Millionen Euro auszugleichen, entscheidet sich in den kommenden Tagen.

Hermann Parzinger, als Leiter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz oberster Schlossherr, freut sich über die mit Architekturmodellen, ethnologischer Kunst und interdisziplinären Büchern voll gestopfte Box. Kritikern, die über das futuristische Raumschiff die Nase rümpfen, tröstet er: „Je schneller das Schloss kommt, desto schneller ist die Box wieder weg!“ Wenn alles gut geht, der Bau termingerecht abgewickelt wird und die versprochenen Gelder tatsächlich fließen, könnte das im Jahr 2019 der Fall sein. Ernsthaft glaubt daran aber niemand.

Humboldt-Box, Schlossplatz 5, 10178 Berlin, täglich 10-18 Uhr, Do bis 22 Uhr, Eintritt 4 Euro, ermäßigt 2,50 Euro, Kinder bis 12 Jahren freier Eintritt, Humboldt-Terrassen: täglich bis 23 Uhr. http://www.humboldt-box.com

(Bild = Simulation: Megaposter GmbH, Neuss)