Landschaft mit Goldrand: Ausstellung zelebriert „1250 Jahre Westfalen“

Der vergoldete Silberschrein des heiligen Liborius, des Paderborner Dom- und Bistumspatrons, sonst im benachbarten Diözesanmuseum beheimatet, gehört zu den prachtvollsten Schaustücken der Westfalen-Ausstellung des Museums in der Kaiserpfalz. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Welcher Gedanke liegt wohl nahe, wenn eine große Ausstellung „775 – Westfalen“ heißt? Nun, dann wird der Landesteil wohl 775 Jahre alt werden? Weit, weit gefehlt: Er wird vielmehr stolze 1250 Jahre alt.

Die „775″ steht dabei für die Jahreszahl der allerersten Erwähnung des Namens in einer Urkunde, etwas genauer: in den Reichsannalen jener Zeit, verfasst am Hofe Karls des Großen. Nun ist das unschätzbar wertvolle Zeitdokument in einer frühen, aus der Pariser Nationalbibliothek geliehenen Abschrift (entstanden um 820, in einer Abtei bei Lüttich) im Paderborner LWL-Museum in der Kaiserpfalz zu sehen.

Ankerprojekt eines weit ausgreifenden Themenjahres

Wir reden vom zentralen Ankerprojekt eines ganzen Themenjahres, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ausgerufen hat und das 44 größere Maßnahmen umfasst, die sich zu weit über 300 Einzelveranstaltungen verzweigen. Rund 3 Millionen Euro beträgt die gesamte Fördersumme der LWL-Kulturstiftung. An der heutigen Ausstellungseröffnung in Paderborn hat auch der Schirmherr, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, teilgenommen, u. a. flankiert vom NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Die Schau macht einen streckenweise hochveredelten Eindruck, mit geradezu feierlicher Illumination und zahlreich schimmernden Goldtönen. LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger hofft auf rund 60000 bis 80000 Ausstellungs-Besuche. Solche Zahlen wären auch finanziell hilfreich.

Von den Franken besiegt und erstmals erwähnt

Kurz zurück zur erwähnten karolingischen Urkunde. „Die“ Westfalen (also nicht der noch gar nicht definierte Landesteil, sondern die Leute) fanden nebst anderen Volksstämmen – Ostfalen und Engern – Erwähnung als durch die Franken Besiegte. Damit war der Begriff schriftlich in der Welt und konnte sich durch die Epochen realiter vielfach entfalten – etwa als Herzogtum Westfalen um 1180, mit einem klimatisch bedingten, für Getreideanbau günstigen Boom um 1200 und einem ebenfalls klimatisch eingeleiteten Niedergang im 14. Jahrhundert (Stichwort „Wüstungen“), viel später dann als Schauplatz des Westfälischen Friedens (Münster/Osnabrück) anno 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete.

Wiederum ein ganz anders geartetes Land war sodann ab 1807 das französisch regierte „Königreich Westphalen“ unter Jérôme Bonaparte, dem jüngsten Bruder Napoleons. Seinerzeit zählten übrigens weder Münster noch Dortmund hinzu, die wir heute als die westfälischen Metropolen betrachten. Westfalens Hauptstadt hieß damals Kassel. Gar manche Westfalen begrüßten die gewachsenen bürgerlichen Freiheiten unter französischer Herrschaft, doch bald regte sich Unmut, weil Napoleon westfälische „Landeskinder“ als Soldaten für seinen Russlandfeldzug rekrutieren ließ.

Die Schau endet mit den Folgen des Wiener Kongresses von 1815, mit dem die napoleonische Ära endete und Preußen die Grenzen seiner Provinz Westfalen neu und dauerhaft festlegte. Damit wurden auch bis heute prägende Grundmuster der Infrastruktur geschaffen.

Ein „Wanderweg“ durch die Lande und Zeiten

Die Ausstellung breitet ihre Schätze (etwa 500 Exponate) auf rund 1000 Quadratmetern in Form eines „Wanderweges“ durch Lande und Zeiten aus. Ein Epilog, basierend auf Umfragen unter westfälischen Bürgern der Gegenwart, zeichnet schließlich Zukunfts-Perspektiven – nicht zuletzt visualisiert mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI), die heute ja nirgendwo fehlen darf.

Eine Leitfrage der gesamten Unternehmung lautet: Was macht denn eigentlich Westfalen aus? LWL-Landesdirektor Georg Lunemann ist überzeugt, dass die heutige Heimat von rund 8,3 Millionen Menschen schon immer ein gesellschaftliches „Versuchslabor“ gewesen sei. Ein Menschenschlag habe diese Landschaft geprägt, der zwar zurückhaltend und bodenständig, aber auch stets prinzipiell offen (gewesen) sei. Hier wolle man die Probleme anpacken statt sie nur zu verwalten oder zu vertagen. Nun ja, so oder ähnlich muss man es als LWL-Chef wohl sagen. Westfalen war und ist im Vergleich zum Rheinland jedenfalls ländlicher geprägt und hat auf deutlich mehr Fläche weniger Einwohner. Selbst die westfälischen Ruhrgebietsstädte entstanden auf vormals ländlichen Arealen erst spät und dafür umso rasanter.

Ein Tragaltar für den Paderborner Bischof aus dem 12. Jahrhundert, gefertigt aus Eichenholz, vergoldetem Silberblech, Steinschmuck und Perlen. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Als die Region bis zur Ostsee reichte

Martin Kroker, Leiter des Paderborner Museums in der Kaiserpfalz, legt Wert auf die Feststellung, dass es keineswegs eine klare, durchgehende Linie von 775 bis 1815 oder gar bis heute gebe, was Westfalen anbelangt. Größere Eindeutigkeit entstand erst mit der preußischen Ordnung im 19. Jahrhundert, namentlich unter Ägide des Freiherrn vom Stein. Zuvor hatten die als „westfälisch“ wahrgenommenen Ländereien zeitweise bis zur Ostsee gereicht, die eingangs der Ausstellung gezeigten alten Karten sind für heutige Begriffe geradezu verwirrend.

Die jetzige Gestalt ist eben erst nach und nach entstanden. Westfalen, wie wir es kennen (oder zu kennen glauben), konkretisierte sich erst allmählich im 19. Jahrhundert, damals entstanden zahlreiche Heimatvereine, einschlägige Denkmäler wurden errichtet und das treuherzige „Westfalenlied“ (1868/69) ward komponiert. Aus all dem leitet sich die generelle Erkenntnis her, dass Westfalen – wie so vieles, ja eigentlich alles – eine dem historischem Wandel unterworfene „Konstruktion“ ist, mit der sich die Menschen dann freilich im Idealfalle identifizieren können. Und überhaupt: Was Westfalen bedeutet, wird stets von Menschen bewirkt.

Die Ausstellung sucht den schier unerschöpflichen Themenkreis vor allem mit archäologischen Funden und markanten Schriftstücken zu fassen. Der Wanderweg wird freilich auch von in Westfalen gewachsenen Pflanzen begleitet, was den Museumsleiter Martin Kroker zunächst beunruhigt hat. Pflanzen neben uralten Schriften? Und was war mit womöglich schädlichen, feuchten Ausdünstungen? Nun, die begleitende Vegetation gedeiht hier völlig ohne Wasser, sie wird aber bis zum Ende der Ausstellung u. a. mit Glycerin konserviert. Gewusst wie! Jedenfalls ist man dank Pollenanalysen heute in der Lage, die westfälische Pflanzenwelt seit der Karolingerzeit im Wesentlichen zu bestimmen.

Abendmahls-Gemälde mit westfälischem Schinken

Und so schreitet man entlang früher Waffenfunde aus kriegerischen Zeiten, bestaunt Zeugnisse der Christianisierung, die mit etlichen Klostergründungen als „Erfolgsmodell“ dargestellt wird, belegt auch durch prachtvolle Altarbilder westfälischer Provenienz. Eine Abendmahls-Darstellung enthält gar typisch westfälischen Schinken als kulinarische Dreingabe. Weitere Höhepunkte sind etwa der kostbar vergoldete Paderborner Libori-Schrein, die penibel ausgetüftelte Sitzordnung zu den Verhandlungen über den Westfälischen Frieden oder die barocke Pracht westfälischer Fürstbischöfe.

Kritische Seitenblicke bleiben nicht aus. So gab es im Gefolge der Befreiungskriege auch in Westfalen nach 1815 nicht nur romantische Verklärungen der Region, sondern auch nationalistisch gewendete Überhöhungen. Manche Westfalen verstanden und gerierten sich nun als die allerbesten und echtesten Deutschen. Da sind einem die „sentimentalen Eichen“, die Heinrich Heine in Westfalen als knorrig-liebenswerten Menschentypus erlebte und bedichtete, doch allemal lieber.

„775 – Westfalen. 1250 Jahre Westfalen“. Paderborn, Museum in der Kaiserpfalz, Am Ikenberg 1 (neben dem Dom). Vom 16. Mai 2025 bis 1. März 2026. Täglich außer montags 10-18 Uhr, jeden ersten Mittwoch im Monat 10-20 Uhr. Eintritt 11 Euro, ermäßigt 6 Euro, Kinder/Jugendliche unter 18 Jahren kostenlos. Katalogbuch (352 Seiten) 35 Euro.

 

 




Erkundungen im real existierenden Kapitalismus: Der Schriftsteller Ingo Schulze streift durchs Ruhrgebiet

An diesem imposanten Ort beginnen die Ruhrgebiets-Erkundungen von Ingo Schulze: die kruppsche Villa Hügel in Essen. (Foto von Januar 2006: Bernd Berke)

Ein halbes Jahr lang war Ingo Schulze so etwas wie der Stadtschreiber des Ruhrgebiets, Oktober 2022 bis März 2023, Wohnsitz in Mülheim, eingeladen von der Brost-Stiftung. Zwei Dinge hatte er sich für diese Zeit vorgenommen, nämlich erstens an streng durchstrukturierten Arbeitstagen halbtags an seinem neuen Roman zu arbeiten und zweitens jede Einladung anzunehmen, die er in seiner Ruhrgebietszeit erhielt. „Ich weiß nicht, warum ich immer wieder auf mich selbst reinfalle“, schreibt er in der Rückschau, „keine Zeile habe ich an meinem Roman geschrieben.“

Das Ruhrgebiet, so könnte man folgern, erregte des Dichters ganze Aufmerksamkeit. Aber interessante Menschen hat er getroffen, Lehrerinnen, Polizisten, Gewerkschafter, Techniker, Buchhändler und so fort, eine bunte Mischung. „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ heißt das Buch, das Schulzes Begegnungen und Recherchen nun in recht entspannter Form versammelt – keine Skandalliteratur, ganz sicher nicht, auch keine geographische Liebesprosa.

Das Thema wirkt zunächst einmal wie falsch gestellt. Denn gängig sind ja nach wie vor eher die Berichte über den Osten, besonders über die Unzufriedenheit der dortigen Abgehängten und Rechtsradikalen. Hier aber nun: sachliche Berichte aus dem Westen, von Ingo Schulze mit Ernst und Akribie aus kaum wahrnehmbarer „Ost-Optik“ heraus verfaßt.

Die Jahre nach der Wende

Mit seinem opulenten Nach-Wende-Roman „Neue Leben“, schrieb Schulze sich in bleibende, respektvolle Erinnerung. Das knapp 800 Seiten starke Buch, 2005 erschienen, gab einem eingefleischten Westler (wie dem Verfasser dieser Zeilen) etwas mehr als eine Ahnung davon, was der Untergang der DDR mit Menschen in verschiedenen Milieus machte. Es war eine Zeit, wie sie unterschiedlicher in Ost und West ja kaum sein konnte; was „drüben“ Existenzen von Grund auf umkrempelte, reduzierte sich im Westen auf Tagesschaunachrichten. Später hat Schulze auch in, wenn man so will, ostdeutschen „Langzeit-Befindlichkeiten“ gegründelt, hat etwa in „Die rechtschaffenen Mörder“ (2020) den langsamen, unerbittlichen und offenbar ungeheuer kränkenden Bedeutungsverlust eines einstmals schillernden, luziden Buchhändlers und seiner Bücher beschrieben. Ganz leicht war das Verletzende in dieser Geschichte für den Westler nicht zu greifen, doch blieb der Eindruck großer Redlichkeit, der Ingo Schulzes Texten Mal um Mal eigen zu sein scheint.

Bei Krupp in Essen

So. Und nun tut sich der Dichter, 1962 in Dresden geboren und wohnhaft in Berlin, im Ruhrgebiet um, und er fängt dort an, wo es vielleicht immer noch seinen Markenkern hat, bei Krupp in Essen, Villa Hügel. Schulze, dessen Weltbild einst vermutlich vom Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital geprägt wurde, entwickelt großes Interesse am real existierenden Kapitalismus im Westen der Republik; er arbeitet anerkennend heraus, wie die Montan-Mitbestimmung über Jahrzehnte hin funktioniert hat, stellt aber auch fest, daß sie Betriebsschließungen – wie die von Rheinhausen – nicht verhindern konnte. Schulze recherchiert recht journalistisch, doch mitunter kommt am Ende eher Literatur dabei heraus. So, wenn er ähnlich Bert Brechts lesendem Arbeiter fragt, was aus dem flammenden Streikredner nach seiner letzten Rede wurde. (Er machte sich im Recycling selbständig, ging später bankrott.)

Irritierender Namensgeber

Schulze irritiert, daß Alfried Krupp von Bohlen und Halbach immer noch Namensgeber von Essener Einrichtungen wie der Philharmonie ist, obwohl er nach dem Krieg als Kriegsverbrecher eingestuft und interniert wurde. Ebenso aber registriert er auch, daß Berthold Beitz, der legendäre Krupp-Generalbevollmächtigte, in der Nazi-Zeit viele jüdische Mitarbeiter vor der Deportation bewahrte, indem er sie als betrieblich unabkömmlich meldete. Beitz’ Liste war jener Schindlers ähnlich.

Schulzes Krupp-Geschichte hat, wie einige andere Beiträge im Buch auch, in etwa den Umfang und Rechercheaufwand einer profunden schulischen Hausarbeit. Schlußendliche Wertungen bleiben aus, eher fällt dem Autor auf, daß die Menschen einander doch recht ähnlich sind, im Osten und im Westen.

Emscher-Renaturierung in allen Details

Den Duisburger Hafen besichtigt er, er schreibt über schulische Konzepte in schwierigen, durch Migration geprägten Stadtteilen, läßt sich von einem pensionierten Polizeichef spezifische Probleme mit arabischer Clan-Kriminalität erklären, ist schwer beeindruckt von der Emscher-Renaturierung. Bei letzterer hat er aus Schriften der Emschergenossenschaft abgeschrieben (bzw. ausführlich zitiert), und das teilt er auch ausdrücklich mit. Da geht es um die komplexe Technik, die die Reinigung der Emscher möglich macht, und wer so viel Technisches nicht wissen will, mag diesen Abschnitt getrost überblättern. Der Dichter selbst rät dazu.

Leider tut er gleiches nicht, wenn es um unorthodoxe Grundschulpädagogik geht, die weitgehend ohne deutsche Sprache auskommen muß. Da wird der Text ausladend und detailverliebt. Seitenlang beschreibt er fast wie ein Manual das Procedere, ohne nach dem theoretischen Konzept zu fragen, das dem Ganzen doch sicherlich zugrundeliegt. Hier wäre Raffung ein Gewinn – oder à la Kläranlage der technische Hinweis an pädagogisch Desinteressierte, wieviele Seiten man überblättern kann.

Ein Fan von Borussia Dortmund

Der Schriftsteller sitzt im Orchestergraben und besichtigt einen Soldatenfriedhof; die naturgemäß abenteuerliche Geschichte eines DDR-Flüchtlings, der damals über Ungarn ins Revier kam, gelangt zum Vortrag, und dann ist da natürlich der Fußball. Schulze offenbart sich als Fan von Borussia Dortmund, und deshalb gibt es auch die entsprechenden Spielberichte. Die aber sind so anders nicht als jene, die man schon kennt, gelbe Wand und so weiter. Wiederum bleibt festzustellen, daß das tägliche Leben im tiefen Westen so anders nicht zu sein scheint als im Osten der Republik.

Die Liebe zu den Büchern

Ein nostalgischer Schlußakkord schließlich ist dann der Besuch in Helmut Loevens Duisburger „Weltbühne“, einer der letzten dezidiert linken Buchhandlungen. Kommunistische Literatur aus aller Welt, gut behütet und geordnet, unendlich wertvoll und kaum noch nachgefragt. Loeven und Schulze – mehrfach begegnen sich hier zwei Buch-Afficionados, und wenn sie sich ihre Vorlieben eingestehen, ist das fast schon ein intimer Moment, bei dem der Leser stört.

Der junge Dortmunder Bundestagsabgeordnete

Merkwürdig geriet, für Dortmunder zumal, der allerletzte Teil des Buches. Da besucht Ingo Schulze den langjährigen Dortmunder Ex-Bundestagsabgeordneten Marco Bülow und läßt sich von dem – widerstandslos, könnte man fast sagen – in den Block diktieren, wie das alles begann und sich eher unglücklich fortsetzte. Ohne in Details gehen zu wollen sei angemerkt, daß die Geschichte des SPD-Abgeordneten Bülow, der die letzten drei Jahre als Parteiloser (bzw. als Neumitglied von DIE PARTEI) in vielen Punkten auch anders erzählt werden könnte. So war seine Nominierung zumindest nicht nur Folge persönlicher Beliebtheit, sondern auch Resultat einer neuen Rekrutierungsstrategie der Partei, die unbedingt jünger und weiblicher werden wollte und alte Schlachtrösser wie Bülow-Vorgänger Hans Urbaniak dafür gerne in die Wüste schickte. Möglicherweise hat dieser recht senkrechte Start dem jungen Bülow nicht gutgetan, hat ihn überfordert, und möglicherweise wäre Schulze dieser alles in allem doch recht bizarren Politikerkarriere durch kluge Nachfragen näher gekommen als durch unkritisches Protokollieren. Nur so viel zu diesem Teil des Buches.

Wertvolle Fleißarbeit

Nun gut. Um „Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ ging es, und da ist der Dichter in seinen Entscheidungen frei, was er aufzeichnen möchte und was nicht. Natürlich hätte man sich auch Beiträge vorstellen können, etwa zum Straßenverkehr (Schulze ist notorischer ÖPNV-Nutzer oder Mitfahrer) oder zur Kleinkunst, beispielsweise. Trotzdem geriet Schulzes Buch alles in allem zu einer Fleißarbeit, wohltuend in seiner durchgängigen Sachlichkeit – eine wertvolle Ergänzung der Regalabteilung mit den regionalen Schriften.

  • Ingo Schulze: „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“, Wallstein Verlag, 344 Seiten, keine Bilder, 24 €.



Stolz und Zuversicht: Gewichtiger Bildband „Ruhrgold“ feiert die Schätze des Reviers

Großer Auftritt im besprochenen Buch: Aral-Tankstelle an der Hauptverwaltung der Aral AG in Bochum, um 1958. (Foto: Aral AG)

Welch ein Trumm von einem Buch! Der wahrhaft aufwendig gestaltete Band „Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets“ feiert auf 700 farbig bebilderten Seiten im Kunstkatalog-Format nahezu alles, was das Revier zu bieten hat.

Dieser Wälzer liegt sehr gewichtig in den Händen – mit etwa 2708 Gram, also über 2,7 Kilo, wenn ich richtig gewogen habe. Entschieden zu schwer für ein schmuckes „Coffee Table Book“, das Tischlein könnte schier einknicken… Außerdem reicht die Ambition deutlich übers Dekorative hinaus. Dafür bürgt schon der Herausgeber, Prof. Ferdinand Ullrich, vormals langjähriger Direktor der Kunsthalle Recklinghausen, der auch als Fotograf einiges zu diesem Band beigesteuert hat.

Ein Standardwerk über die Region

„Ruhrgold“ ist jedenfalls ein repräsentatives, umfängliches Standardwerk geworden, das von nun an in jede vernünftige Revier-Bibliothek gehören sollte. Ferdinand Ullrich und der Wienand Verlag haben kundige Autoren für die Kapitel-Einleitungen gewonnen, darunter Johan Simons (Intendant des Bochumer Schauspielhauses), Norbert Lammert (kultursinniger CDU-Politiker), Neven Subotic (Ex-BVB-Abwehrspieler und Stiftungsgründer), Manuel Neukirchner (Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund), Prof. Theodor Grütter (Leiter des Ruhrmuseums, Essen) oder Hilmar Klute (Schriftsteller, Redakteur der Süddeutschen Zeitung). Zusätzlich hätte man sich wünschen können, dass auch noch der eine oder andere kritische Literat aus hiesigen Gefilden (Frauen inbegriffen) sich geäußert hätte. Aber das hätte vielleicht die feierliche Liturgie gestört. Schattenseiten des Reviers fristen hier lediglich ein – Schattendasein.

Landmarken und Entdeckungen

Wo soll man nur anfangen, wo aufhören? Das Motto könnte lauten: „Genug ist nie genug“. 350 Kunstwerke, Objekte und sonstige Phänomene aus nahezu allen Lebensbereichen des Reviers werden in 20 Kapiteln aufgeboten, mit rund 500 Illustrationen großzügig bebildert und in einem Anhang ausführlicher erläutert. Der (via RAG-Stiftung subventionierte) Preis von 60 Euro darf als vergleichsweise moderat gelten.

Natürlich werden markante Gebäude und Bauensembles wie etwa die Welterbe-Zeche Zollverein, die Villa Hügel (beide Essen), der Gasometer (Oberhausen) oder das Dortmunder U vorgezeigt. Die Museen, Theater, Konzertstätten und Unis der Gegend sind ebenso selbstverständlich vertreten, aber auch Verkehrsadern wie die B1 (streckenweise aka A 40 oder Ruhrschnellweg), Kanäle oder just die Flussläufe von Ruhr und Emscher. Auch als langjähriger Revierbewohner kann man hier noch Entdeckungen machen. Mir war beispielsweise die anheimelnde Siedlung Teutoburgia in Herne bislang kein Begriff. Asche auf mein Haupt. Auch der Hindu-Tempel in Hamm harrt noch einer näheren Erkundung. Und so weiter.

Objekte bis hin zur Aldi-Tüte

Dem Buchtitel entsprechend, gibt es hier auch veritable Goldschätze, namentlich die Goldene Madonna aus dem Essener Domschatz oder auch den „Cappenberger Kopf“. Nicht zuletzt werden prägende Persönlichkeiten der Region (z. B. Ostwall-Gründungsdirektorin Leonie Reygers, Jürgen von Manger, Tanja Schanzara, Uta Ranke-Heinemann, Hape Kerkeling, Christoph Schlingensief) gewürdigt. Und natürlich darf auch ein Exkurs zur ruhrdeutschen Mundart nicht fehlen. „Sprechende“ Objekte – vom Schrank im Stile des „Gelsenkirchener Barock“ über die prachtvolle Aral-Tankstelle von 1958 bis hin zur Aldi-Tüte – gehören gleichfalls zum Lieferumfang; ebenso einige wiederkehrende Ereignisse in der Spannweite zwischen Ruhrtriennale und Cranger Kirmes. Und natürlich hat auch die weltbekannte Dortmunder Südtribüne („gelbe Wand“) ihren gebührenden Auftritt – mit jener ebenfalls schon legendären Fotografie von Andreas Gursky.

Auch Großereignisse wie das „Stillleben“ (Vollsperrung des Ruhrschnellwegs über rund 60 Kilometer und Volksfest daselbst am 18. Juli 2010 – im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr) zieren den neuen Ruhrgold-Band. (Foto: picture alliance/ augenklick / firo Sportphoto)

Allenfalls zaghafte Kritik

Und wie fügt sich all das alles zueinander, welches Konzept steht dahinter? Nun, das allermeiste wirkt ziemlich „revierfromm“, es entspricht spürbar der fraglos positiven Sichtweise der RAG-Stiftung, die hinter dem monumentalen Buchprojekt steht. Und so ist immer wieder die Rede von Tradition, auf die man stolz sein könne und von zukunftsträchtiger Transformation zur „grünsten Industrieregion der Welt“, die bereits eingeleitet sei. Kritik ist nur sehr zaghaft vorhanden, eigentlich nur am kläglichen Zustand des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Diese Einsprüche dürften mehrheitsfähig sein.

Ansonsten ist es wie immer: Sobald man sich mit einer Materie (hier: Stadt) etwas besser auskennt, findet man auch Haare in der Suppe. Wohlan denn: Warum kommt eines der wohl wichtigsten Bauwerke der ganzen Region, die Dortmunder Westfalenhalle, überhaupt nicht vor? Und dann die etwas peinliche Sache mit dem Dortmunder Phoenixsee (Seite 357): Das Gewässer ist n i c h t, wie in der Bildzeile behauptet, auf dem Gelände eines früheren Bergwerks entstanden. Es war, wie wohl jedes Kind an den Gestaden der renaturierten Emscher weiß, ein Stahlwerk.

„Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets.“ (Das Ruhrgebiet in 500 Bildern aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). 700 Seiten mit lexikalischem Anhang sowie ausführlichem Orts- und Personenregister. Wienand Verlag, Köln. Gebundene Ausgabe 60 Euro, Luxus-Edition im Designschuber 180 Euro.

www.ruhrgold-das-buch.de

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P. S.: Schau’n wir spaßeshalber, wo die regionalpatriotische Publikation gefertigt worden ist: Verlag in Köln. Warum auch nicht? Dann aber: Gestaltung in Berlin. Graphik & Buchgestaltung in Freiburg. Druck in Italien (Vicenza). Waren diese Gewerke im Revier oder wenigstens in NRW nicht greifbar oder zu teuer?




Dies und das in Wuppertal

Da kommt sie ja, die unverzichtbare Schwebebahn. (Foto vom 27. März 2011: Bernd Berke)

Wuppertal denke ich mir immer etwas abseits, im Windschatten des Ruhrgebiets, meinetwegen auch im toten Winkel von Düsseldorf liegend. Das mag ungerecht sein. Es ist halt nur so ein Gefühl. Und so geht’s auch weiter, nämlich vorwiegend assoziativ.

„Zuckerpuppe“ und Blankenese

Wie es mir jetzt wieder in den Sinn kam, hat es mit der Stadt u. a. folgende, durchaus ulkige Bewandtnis: Sie kam in zwei sehr populären Stimmungs-Schlagern vor – 1961 als Schlussgag in Bill Ramseys „Zuckerpuppe (aus der Bauchtanzgruppe)“, wo jene „Suleika“ gar nicht so orientalisch ist, sondern Elfriede heißt und offenbar just aus Wuppertal kommt. Außerdem zählte die Stadt 1981 zum Zielgebiet in Gottlieb Wendehals‘ Brüller „Polonäse Blankenese“, deren frohsinnstrunkener Weg bekanntlich „von Blankenese bis hinter Wuppertaaaal“ führt, wobei der Erwin der Heidi… Aber lassen wir das.

Fast wie eine Metropole

Galt Wuppertal den Schlagertextern etwa als Inbegriff von Provinz, schon namentlich irgendwie zum Schreien komisch? Sah man in Wuppertal einen gewissen Gegensatz zu allen halbwegs weltläufigen oder frivolen Anwandlungen, sozusagen einen Antipoden von Paris? Oder war es ein nahezu nicht existenter Ort, quasi ein Bielefeld mit anderen Mitteln? Gern würden wir diese Fragen als Forschungsauftrag vergeben – in welchem Fachgebiet auch immer. Wer will es – nun ja – wuppen?

Meine persönlichen Wuppertal-Begegnungen waren nur sporadisch. Als Volontär-Frischling für ein paar Monate in einer Lokalredaktion des Ennepe-Ruhr-Kreises stationiert, durfte ich Tag für Tag die Info-Leiste „Wuppertal“ mit Meldungen füllen, also im Dienste der Leser Blicke in die benachbarte Großstadt werfen. Von Gevelsberg aus gesehen, wirkte es tatsächlich wie eine Metropole.

Imposante Arbeit von Tony Cragg in seinem Wuppertaler „Skulpturenpark Waldfrieden“. (Foto vom 19. Juli 2009: Bernd Berke)

Außenposten zur Bewährung

Jahre später, als Jungredakteur im Kulturressort, wurde ich wiederum zunächst vor allem mit Wuppertal betraut. Während der damalige Ressortleiter die Theater in Bochum und Dortmund aufsuchte, durfte ich anfangs die darstellenden Künste in Wuppertal würdigen, wo das Schauspiel nicht gerade zu den ersten Adressen des Landes zählte. Auch waren zumal die winterlichen Fahrten dorthin nicht immer erfreulich. Wuppertal war ein Außenposten, auf dem man sich erst einmal zu bewähren hatte. Nach und nach, eigentlich recht schnell,  weitete sich dann der Horizont. Noch später, als Pina Bausch mit ihrer Wuppertaler Tanztheater-Compagnie immer berühmter wurde, fuhr ich umso lieber dorthin.

Als sich „Tuffi“ aus der Schwebebahn stürzte

Was wäre noch zu erwähnen? Sicherlich die einzigartige, 1901 eröffnete Schwebebahn, aus der sich 1950 ein Zirkus-Elefantenweibchen namens Tuffi zehn Meter tief in die Wupper stürzte und wie durch ein Wunder praktisch unverletzt blieb. Tuffi hatte sich wohl über den Einfall aufgeregt, sie zu Reklamezwecken in die Bahn zu bugsieren. Das Ereignis taucht seither in jeglicher Stadtwerbung auf.

Bemerkenswert auch die Talstraßen, die einem manchmal doch etwas beengt, beklemmend und duster erscheinen mögen. Und dann fällt einem vielleicht noch ein, dass der Cartoonist und Comic-Zeichner Gerhard Seyfried (Klassiker: „Freakadellen und Bulletten“, 1979) Wuppertal auf seiner legendären Deutschlandkarte als „Schnupperqual“ verortete. Wie gemein! Doch andere traf es ebenfalls hart: Dortmund war demnach „Abortmund“, Bochum firmierte als „Malochum“ und Hagen schlichtweg als „Unbehagen“. Was man sich so alles merkt.

„Stütze“ für Karl Marx

Sodann aber die berühmten Töchter und Söhne der Gegend: Ex-Bundespräsident Johannes Rau, der in Wuppertal Geburtsort und Heimstatt hatte. Vor allem aber die Dichterin Else Lasker-Schüler (1869 im späteren Wuppertaler Ortsteil Elberfeld geboren) und der Sozialist Friedrich Engels (1820 im anderen größeren Ortsteil Barmen geboren), ohne den Karl Marx finanziell hätte einpacken können. Von Wuppertal ging also welthistorischer Einfluss aus. Ganz nebenbei: Auch Horst Tappert („Derrick“) und Alice Schwarzer wurden in Wuppertal geboren. Noch nebenbeier: ein gewisser Christian Lindner ebenfalls.

Und ferner? Das oftmals besuchte, mit zahlreichen Meisterwerken gesegnete Von der Heydt-Museum. Der famose Skulpturenpark Waldfrieden. Der Zoo. Gar der Wuppertaler SV, der von 1972 bis 1975 wahrhaftig in der Ersten Bundesliga gespielt hat. Noch erstaunlicher: die rund 4500 (!) Baudenkmäler in Wuppertal, speziell eine enorme Vielzahl an Gründerzeit-Villen. Laut Wikipedia hat Wuppertal zudem die meisten öffentlichen Treppen Deutschlands (469 an der Zahl, mit insgesamt 12383 Stufen).

Verblüffend auch die nicht allgemein bekannte Tatsache, dass Fassbinder „Acht Stunden sind kein Tag“ ebenso in Wuppertal gedreht hat wie Wim Wenders Teile seines Roadmovies „Alice in den Städten“. Dessen eingedenk, tun weniger schmeichelhafte Redewendungen wie „Über die Wupper gehen“ (nahezu bruchlos ersetzbar durch „Über den Jordan gehen“) nicht mehr so weh.

Lassen wir’s gut sein. Eine solche Orts-Skizzierung aus der Distanz setzt sich aus lauter Klischees und Zufallseindrücken zusammen. Wie es sich anfühlt, dort zu leben, sei dahingestellt. Es soll aber auch nicht erprobt werden. Es sei denn, unter Euch wären Freiwillige…




Das Ungeheuer vom Harkortsee lockt die Welt ins Revier

Der Harkortsee mit Blick aufs Revierstädtchen Wetter. Bald könnten sich hier Seeungeheuer tummeln – wenn wir es nur wollten. (Foto: Bernd Berke)

Nun liegt die Fußball-EM auch schon wieder ein Weilchen hinter uns – und im Revier muss man sich wieder nach anderen touristischen Attraktionen umsehen. Es gibt leichtere Aufgaben. Doch guter Rat ist gar nicht so teuer, es gibt ihn hier sogar gratis!

Der Reihe nach. Gestern gingen meine Frau und ich an Ruhr und Harkortsee entlang, zwischen den seitwärts gelegenen, recht idyllischen Revier-Städtchen Herdecke und Wetter. Da wurde eine gemeinsame Erinnerung wach: Vor rund 20 Jahren waren wir im schönen Schottland und dort unter anderem am Loch Ness (aka Lough Ness), dem mutmaßlichen Aufenthaltsort des weltberühmten See-Ungeheuers und seiner etwaigen Nachfahren. So gut wie alle Veranstaltungen und Merchandising-Aktivitäten am Ort ranken sich um diesen Mythos und haben seit etlichen Jahrzehnten einiges Geld eingespielt. Vom glucksenden Spaßfaktor mal ganz abgesehen.

Offensichtlich eine lukrative Sache: vielsagende Hinweistafel am schottischen Loch Ness. (Foto: Bernd Berke)

Und nun aber: Warum entdeckt oder erfindet niemand – gern mit Hilfe allfälliger „Experten“ – ein solches Ungeheuer im Harkortsee, meinethalben auch im Hengstey- oder Baldeneysee? Eindrucksvolle Schummel-Bilder sind doch in Zeiten von KI fix hergestellt und in den sozialen Netzwerke rasch verbreitet. Es lebe die gekonnte Sinnestäuschung! Gängige Erkenntnis: Dinge, die nur innig genug imaginiert werden, manifestieren sich mitunter tatsächlich halbwegs handfest. Wenn es so weit ist, rufen die regionalen Medien ihr Publikum dazu auf, einen Namen für das Monster zu finden. Vorzugsweise im gefürchteten „Sommerloch“.

Dann solltet ihr mal sehen! Zuerst kämen wieder die Holländer, dann nach und nach weitere Europäer. Eine Extra-Einladung ginge an eine Delegation aus dem schottischen Distrikt rund um Loch Ness raus. Das entsprechende Pressefoto ginge flugs um die Welt. Schließlich spräche sich das Phänomen bis in die von Kamala Harris regierten USA und nach Ostasien herum. Was wäre das für ein Jubel und Trubel. Hier, bei uns.

Doch halt! Es träfen vielleicht dermaßen viele Touristen ein, dass die Ruhris alsbald einen „Über-Tourismus“ wie etwa in Venedig oder Barcelona beklagen könnten. Mh. Vielleicht sollten wir es doch lieber bleiben lassen, oder?

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P. S.: Beim Rumgoogeln habe ich doch wahrhaftig den Hinweis auf einen „Loch Ness Monsters e. V.“ in Dortmund entdeckt. Weitere Nachforschungen ergaben freilich schnell, dass dieser Verein seit einiger Zeit „dauerhaft geschlossen“ ist. Schade eigentlich.




Schnoddrig unterwegs – Stefanie Sargnagels Reisebuch „Iowa“

Im US-Bundesstaat Iowa (kürzlich wegen einer betrüblichen US-Vorwahl in den Zeitungsspalten) spielen nicht allzu viele deutschsprachige Bücher. Sei’s Lockung oder Warnung: Die nicht nur im Fankreis vielgepriesene Stefanie Sargnagel stellt die geographische Bezeichnung gleich in den Titel: Schlichtweg „Iowa“ heißt ihr… ja, was eigentlich? Ein Roman ist es nicht. Vielleicht ein sehr subjektiver Reise- und Erlebnisbericht.

Jedenfalls liest sich das Ganze mal wieder weg wie geschmiert. Es bleibt nicht verborgen, dass die Autorin viele Jahre in sozialen Netzwerken erprobt hat, wie sich Leserinnen und Leser fix einfangen lassen. Nach der Lektüre sonnt man sich überdies in dem Glauben, nun tatsächlich einiges über Iowa zu wissen – im Grunde viel mehr, als ein noch so ambitionierter Reiseführer mit „Geheimtipps“ es vermitteln könnte.

Schwerlich mit Thomas Bernhard vergleichbar

Dennoch habe ich mich (auch angesichts einzelner, mitunter etwas geschwätzig wirkender Strecken) gefragt, ob es sich hier um Literatur im eigentlichen Sinne handelt. Findet Stefanie Sargnagel wirklich zu einer ureigenen Sprache und Form? Wenn ich lese, sie werde (von wem? warum? einfach wegen Österreich?) mit Thomas Bernhard verglichen, sträube ich mich unwillkürlich dagegen. Aber süffig und plastisch beschreiben kann sie wahrlich. Langeweile hat keine Chance. Und die unsinnigen Vergleiche stammen schließlich nicht von ihr.

Die Enddreißigerin Sargnagel ist in einem Alter, in dem sie sich noch einigermaßen auf Höhe des Zeitgeistes wähnen darf. Freilich wendet sie sich auch schon von etlichen Erscheinungen der Gegenwart überdrüssig und geradezu unwirsch ab. Genau das richtige Biotop für schnoddrige Betrachtungsweisen mit feministischer Grundierung. „Clean“ und nüchtern geht es nicht zu. Es wird viel geraucht und gesoffen in diesem von Weltschmerz und allerlei Ängsten durchzogenen Buch.

Grässliches Essen, bizarre Kneipen

Stefanie Sargnagel (Künstlername, gebürtige Wienerin vom Jahrgang 1986) hat sich mit ihrer deutlich älteren Freundin aus Berlin, der gleichfalls real existierenden Christiane Rösinger – bekannt durch ihre beachtlichen Bands „Lassie Singers“ und „Britta“ – auf den eher seltenen US-Trip in den abgelegenen Mais- und Rinderzucht-Staat Iowa begeben. In Grinnell, quasi im Niemandsland abseits der regionalen Hauptstadt Des Moines, soll sie an einem College auf Deutsch Creative Writing unterrichten, während Rösinger einen Konzertauftritt hat. Die Erledigung dieser Aufgaben bleibt hübsche, eher widerstrebend absolvierte Nebensache.

Schon das Bild auf dem Cover lässt es ahnen: Vertrödelte Tage gehören dazu. Doch zwischendurch erkunden die beiden ungleichen, aber einander hart-herzlich zugetanen Frauen kursorisch dieses „Outback“ der USA. Es kommen zur Sprache: das weit überwiegend grässliche Essen; die seltsamen Kneipen und Bars mit ihrem vielfach bizarren menschlichen Inventar; die zumindest im College-Dunstkreis bis in die Provinz wabernde Wokeness, allem Beharrungsvermögen der meisten Durchschnittsbewohner zum Trotz. Ferner die irrwitzigen Einkaufszentren und Ladendörfer, deren Angebote Sargnagel sehr detailfreudig schildert. Sodann der unverwüstliche Autokult. Die religiösen Gruppen, Grüppchen und Sekten, teils auch im Nachklang uralter deutscher oder niederländischer Einwanderungs-Traditionen. Aber auch schwerer greifbare Phänomene wie die eigentümlich ausgebleichte Farbpalette der Landschaft.

Freundliche Leute, aber bewaffnet

Ein Exkurs führt nach Fairfield/Iowa, wo das weltgrößte Meditations-Zentrum des berühmten Beatles-Gurus Maharishi Mahesh Yogi sich befand und wo noch zahlreiche Adepten leben. Schließlich der grassierende Waffenwahn, aber auch die staunenswert gelassene Freundlichkeit der allermeisten Einheimischen. Sie wollen einfach eine gute Zeit haben und gönnen auch Fremden alles Gute. Sargnagel fällt dies besonders auf, weil es sich so sehr von ihrem heimischen Wien mit seinen missgünstigen Grantlern abhebt. Auch Rösingers Berlin gilt ja nicht gerade als lieblich. Dennoch gibt es Passagen, in denen man sich mit den beiden Protagonistinnen nach Europa zurücksehnt. Daran ändern auch Abstecher nach Chicago und Kalifornien nichts.

Das alles und einiges mehr fügt sich zu einem vielfältigen und vielschichtigen Bild dieser gar nicht unbedingt erzkonservativen Gegend. Iowa gilt (Trump zum Trotz) als „swing state“, in dem mal die Republikaner, mal die Demokraten die Oberhand haben. Dieser Bundesstaat bescherte seinerzeit Obama die ersten Erfolge auf dem Weg ins Weiße Haus.

Die surreale Sache mit dem Pelikan

Ein nicht nur unterschwelliges Grundthema ist die liebevolle, ironisch unterfütterte Beziehung zwischen den beiden reisenden Frauen, mitsamt den Untiefen weiblicher Selbst- und Fremdwahrnehmung. Christiane Rösinger kommt zu Wort, indem ihr gelegentlich korrigierende oder ergänzende Fußnoten zu Sargnagels Haupttext eingeräumt werden, womit etwas schelmisch Dialogisches in das Buch Einzug hält. Beide Frauen schätzen den trockenen, ja zuweilen ruppigen Humor und geben sich keinen haltlosen Träumereien hin, doch eine Szene fällt aus dem Rahmen: Christiane, so scheint es, fliegt einmal unversehens auf dem Rücken eines Pelikans dahin. Oder war’s nur schöne Einbildung, ein wundersamer Flug der Phantasie, weg von aller Erdenschwere?

Stefanie Sargnagel: „Iowa“. Ein Ausflug nach Amerika. Rowohlt, Reihe „Hundert Augen“. 304 Seiten, 22 Euro.




Lauter schmerzliche Verluste – Dortmund damals und jetzt

Titelseite des Bandes mit der damaligen Brückstraße und der Marienkirche links im Hintergrund, 1920er Jahre. Die Dimension der Verluste wird so recht deutlich, wenn das hier nur eingeklinkte neue Bild in gleicher Größe erscheint wie das alte (im Buch auf der Doppelseite 16/17). Es offenbart sich dann eine städtebauliche Sünde sondergleichen. (Historisches Bild: Sammlung der LWL-Museen für Industriekultur, Westfälisches Landesmuseum / Neue Fotografie: Frauke Kreutzmann, Wartberg Verlag)

Schaut man sich Dortmunder Ansichtskarten aus Vorkriegs- und noch früheren Zeiten an, so könnte man mindestens wehmütig werden. Aller industriellen Verschmutzung zum Trotz, war das alte Dortmund eine vielfach schmucke Stadt mit etlichen repräsentativen oder gar imposanten Bauten und zahlreichen idyllischen Straßen und Plätzen. Daraus bezieht auch der neue Bildband „Dortmund Gestern | Heute“ seinen Reiz – und sozusagen seinen speziellen Horror.

Besagte Wehmut schlägt hier nämlich ins Deprimierende um, werden doch die Bilder von früher direkt heutigen Ansichten gegenübergestellt, die ungefähr aus denselben Blickwinkeln aufgenommen wurden. Was da alles verloren gegangen ist, mag man sich am liebsten gar nicht weiter ausmalen. Es ist ein Jammer.

Pracht der Bahnhöfe, des Theaters, der Synagoge

Man vergleiche nur den alten, 1910 eröffneten Bahnhof mit dem heutigen, seit Jahrzehnten nur halbherzig umgebauten (bzw. hoffnungslos verbauten) Provisorium. Selbst der frühe Vorläufer von 1847 hatte noch entschieden mehr Charme. Man vergleiche die ebenso stolze Oberpostdirektion von einst mit dem jetzt nur noch weit ausladenden Postbank-Gebäude an selbiger Stelle. Ganz zu schweigen vom früheren Theaterbau oder vom gotischen Giebel-Rathaus, ursprünglich aus dem 13. Jahrhundert, aufwendig restauriert zum Kaiserbesuch im Jahr 1899 – und nach Ende des Zweiten Weltkriegs ebenso schwer beschädigt und (vielleicht unnötig) abgerissen wie das alte Theater. Ungleich schlimmer noch, dass die einst so prächtige, mit einer Kuppel gekrönte Synagoge 1938 von Nazi-Horden zerstört wurde. Wobei das Ausmaß dieses Schreckens selbstverständlich weit über den städtebaulichen Schaden hinaus ging.

Schmerzliche Verluste lassen sich bis in einzelne Straßenzüge verfolgen. Dazu zählen auch veritable Amüsier- und Revue-Paläste wie das „Olympia-Theater“ (für 1700 Zuschauer) oder Freizeit-Areale wie Saalbau und Lunapark am Fredenbaum, die auf ein reges Stadtleben hindeuten. So freundlich und sozial anregend das 2001 von der Hannoveraner Expo nach Dortmund geholte Riesenzelt „Big Tipi“ sein mag, ist es doch kein Ersatz, sondern es wäre allenfalls eine nette Ergänzung zum alten Zustand. Dortmund war allerdings auch eine der am schwersten zerstörten deutschen Städte überhaupt. Nach 1945 wurde gar erwogen, die trostlosen Restbestände aufzugeben und an anderer Stelle völlig neu zu beginnen.

In manchen Fällen nur noch Brutalismus

Frauke Kreutzmann, Fotografin der neuen Bilder aus der Stadt, kann natürlich nichts für den allgemeinen atmosphärischen Schwund, der mehr oder weniger für alle Ruhrgebietsstädte gelten dürfte. Sie dokumentiert halt das, was nun vorhanden ist. Und das ist in manchen Fällen ein modernistischer Brutalismus, der wohl auch mit der seit Kriegsende die Stadt regierenden SPD zu tun hat. Bei allem, was man gegen die Konservativen einwenden kann oder auch muss, hätten sie wahrscheinlich mehr Sinn fürs gewachsene Stadtbild gehabt und mutmaßlich hie und da rettend eingegriffen. Um den Unterschied zu ermessen, könnte man beispielsweise Dortmund und Münster gegeneinander halten. In Dortmund sind nur noch vereinzelte Bauten als Solitäre erhalten – und noch immer scheint sich bei vielen Lokalpolitikern kein sonderlicher Sensus für solch historisches Herkommen zu regen.

Rüdiger Wulf, langjähriger pädagogischer Leiter beim Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) und danach bis 2018 Direktor des Westfälischen Schulmuseums in Dortmund-Marten, hat knappe, aber kundige Begleittexte geschrieben und dazu in allerlei Archiven und Büchern passende Zitate gefunden, die vom Dortmunder Leben in alten Zeiten künden. Wulff erläutert auch, dass einige der alten Ansichten geschönt daherkommen. Hie und da sei gnädig begradigt, retuschiert, montiert und (zuweilen übertrieben) koloriert worden. Dennoch handelt es sich keineswegs um grobe Verfälschungen. Ergo: Das Erscheinungsbild der damaligen Stadt lässt sich ebenso wenig schlechtreden wie die heutige Anmutung haltlos gepriesen werden kann.

Rüdiger Wulf / Frauke Kreutzmann: „Dortmund. Gestern | Heute“. Wartberg Verlag, 96 Seiten, Format 22 mal 24 cm, zahlreiche Farb- und Schwarzweiß-Fotos, gebunden, 19,90 Euro.

 




Liverpool zwischen Beatles und „Kloppo“

Beatles-Skulpturen an den Gestaden des River Mersey in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal ein paar Zeilen, die so gar nichts mit dem Ruhrgebiet zu schaffen haben – und „irgendwie“ dann doch. Bin jetzt auf einer England-Reise endlich mal einen Tag lang in Liverpool gewesen.

Erwähnt man dort, dass man aus Dortmund kommt, hellen sich manche Mienen auf. Denn alle, die auch nur ansatzweise „Ahnung“ von Fußball haben, wissen natürlich, dass Jürgen Klopp – vor seiner Zeit beim FC Liverpool – Borussia Dortmund meisterlich trainiert hat. Es ist, als schlinge dieser Sachverhalt ein imaginäres Band um beide Städte, auch wenn Dortmunds eigentliche englische Partnerstadt Leeds ist. Aber die sind abgestiegen (unqualifizierter Zwischenruf: „Wie Schalke!“).

Allgegenwärtiger „Kloppo“: „Jürgen’s Bierhaus“ in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Mitten in Liverpool mit seinen (auch baulich) imposanten Museen steht man plötzlich vor einem Pub namens „Jürgen’s Bierhaus“. „Kloppo“ scheint an der Merseyside allgegenwärtig zu sein. Und kaum minder beliebt als einst in Dortmund. Man hat schon etwas über das Phänomen gelesen, hier aber erfährt man es direkt. Apropos: Zweierlei Einschätzungen sind uns im Vorfeld begegnet. Die eine kam von einer gebürtigen Liverpoolerin (deren Bruder ausgerechnet in Dortmund lebt), die ihre „Liverpudlians“ in höchsten lokalpatriotischen Tönen als warm und herzlich pries. Eine andere, südenglische Betrachtungsweise klang hingegen wie eine gelinde Warnung: Bewohner Liverpools, hieß es von jener Seite, seien oft ziemlich direkt und rau („rough“) im Umgangston. Damit sollten Revierbewohner freilich nur begrenzt Probleme haben. Ein offenes Wort wird hier wie dort gepflegt.

Typische Location im Touristenviertel. (Foto: Bernd Berke)

Mit Liverpool war doch noch etwas? Aber ja! Besucht man Liverpool erstmals, so ist selbstverständlich mindestens eine der diversen Führungen auf den Spuren der Beatles zu absolvieren. Unser Guide war eine Frau, stammte aus Irland, bekannte sich fußballerisch zum Lokalrivalen FC Everton, ließ aber Jürgen Klopp notgedrungen gelten. Viel wichtiger: Sie kannte so manche Anekdote zum Leben und Wirken der unvergleichlichen Band – vor allem über ihren erklärten Lieblings-Beatle John Lennon (einverstanden!) und seinen sehr „komplexen Charakter“, die Fährnisse rund um Yoko Ono inbegriffen. Mindestens fünf Mal hat unsere Bärenführerin im Laufe der fast dreistündigen Tour gesagt: „They’ve changed the world.“ Nun, was die damalige Musik und Jugendkultur angeht, ist das nicht übertrieben.

Mit der Musik der Beatles aufgewachsen, habe ich bislang immer „Sgt. Pepper“ und das „White Album“ für die absoluten künstlerischen Höhepunkte gehalten. Was ja auch durchaus stimmen dürfte. Seltsam unterschätzt habe ich jedoch die LP „Revolver“, trotz aller langjährigen Hörpraxis. In dieser Hinsicht hat mir der Rundgang mit Hinweisen der buchstäblich bewanderten Expertin Augen und Ohren geöffnet. Sie hat unbedingt recht: „Revolver“ war, vor den folgenden Höhenflügen, bereits ein Auf- und Durchbruch zu anderen Sphären. Eine gar späte Einsicht, nicht wahr?

Noch so eine Kultstätte. (Foto: Bernd Berke)

Rund 60 Jahre ist es her, dass die Beatles 1963 die Charts umkrempelten und eine Massenhysterie auslösten. US-Präsident John F. Kennedy wurde im November 1963 in Dallas erschossen und es war, als hätten die Beatles (die weder „Fab Four“ noch „Pilzköpfe“ genannt werden sollten) die westliche Welt aus dem damaligen Stimmungstief gerissen. Es musste sie einfach geben. Genau damals. Und genau so, wie sie gewesen sind. Bis sie so wurden, wie sie ewig in Erinnerung bleiben werden, hat es allerdings seine Zeit gedauert. Etliche Einflüsse, Umstände und Menschen mussten „zufällig“ zusammenkommen, um das Wunder zu bewirken. Die Vorläufer-Bands sollen anfangs fürchterlich geklungen haben, doch nach und nach hat sich das gegeben. Und wie!

Kraftvoller Auftritt: Impression aus dem Liverpooler Museumsviertel. (Foto: Bernd Berke)

Gewiss: In bestimmten Straßenzügen von Liverpool (rund um den „Cavern Club“ etc.) werden Touristen aus aller Welt dermaßen unablässig beschallt, dass viele es offenbar nur mit alkoholischer Betäubung durchstehen bzw. zu steigern versuchen. Man muss es ja nicht über sich ergehen lassen.

Der leider zu kurze Aufenthalt hat mich jedenfalls im Gefühl bestärkt, dass zwei der großartigsten kulturellen Dinge in meiner Generation just aus England zu uns gedrungen sind: die Beatles (sowie viele andere Combos neben und nach ihnen) – und Monty Python’s Flying Circus. Na gut, mit den Filmen der Nouvelle Vague haben auch Franzosen einiges zum positiven Lebensgefühl hinzugefügt. Und Deutschland? Nun, Robert Gernhardt und die Neue Frankfurter Schule waren gleichfalls nicht zu verachten. Was einen halt so geprägt hat.




„Rheinaufwärts“: Franz Hohlers Wanderungen ins Unscheinbare

Der Titel führt ein wenig in die Irre. Wenn ein Buch „Rheinaufwärts“ heißt, erwartet man wohl eine Tour von der Quelle bis zur Mündung – oder wenigstens auf wesentlichen Teilen dieser Strecke. Doch der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler (Jahrgang 1943) vollführt seine Wanderungen praktisch nur in eidgenössischen oder unmittelbar benachbarten Gefilden. In seinem Buch geht es überhaupt ausgesprochen gemächlich und betulich zu.

Begonnen hat Hohler seine Wege bei Schaffhausen und Stein am Rhein im Mai 2020, zur Frühzeit der Corona-Pandemie. Es geschieht gar wenig Aufregendes. Praktisch jede Einkehr zum Kaffeetrinken wird anfangs erwähnt. Bald wissen wir auch, dass Hohler gern Apfelschorle trinkt. Dass er zwischendurch die eine oder andere Lesung absolviert. Und dass er verheiratet ist. Seine Frau wird gelegentlich als solche genannt, allerdings stets ohne Vornamen. Immer und immer wieder erwähnt Hohler die Autobahnen, die das Rhein-Erlebnis stören, wenn sich der Fluss in seinem Vorfeld nicht ohnehin den Blicken entzieht. All das mag man wohlwollend „unprätentiös“ nennen, aber ist es nicht auch langatmig?

Im Grenzgelände zwischen Schweiz, Österreich und Liechtenstein hat sich der Autor Ortschaften erwandert, von denen Deutsche, zumal nördlicherer Herkunft, schwerlich gehört haben werden. Auch in diesem Sinne wäre es hilfreich gewesen, dem Band eine Übersichtskarte beizugeben. Sie hätte recht klein ausfallen können, denn der in Zürich lebende Hohler tritt immer wieder aufs Neue Bahnfahrten zu den Wegmarken an, ohne sich deutlich nordwärts zu bewegen. Düsseldorf wird nur einmal erwähnt. Bonn kommt nur im fünfzeiligen Epilog vor wie ein Gerücht, Köln überhaupt nicht. Dass der Rhein zum Meer strebt, sagt sich auch nur so dahin.

Hie und da spürest du kaum einen Hauch von Ironie am Wegesrand. Ansonsten ist dies ein kreuzbiederer Text der unscheinbar kleinen Dinge und Vorfälle. Spürbar wird eine sanftmütige Sehnsucht nach angehaltener oder wenigstens verlangsamter Zeit; womöglich, um Gedanken ans Alter zu entrinnen. Freilich machen sich unterwegs kleine Wehwehchen und lästige Hindernisse bemerkbar, einmal ist dann auch eine Rücken-Operation erforderlich und die Wanderungen müssen vorerst abgebrochen werden. Im seltsamen Kontrast zur begrenzten Fortbewegung stehen punktuelle, eigentlich nur assoziative Vergleiche mit Regionen, die Hohler in der weiten Welt gesehen hat. Sonderlich ergiebig sind auch sie nicht.

Und der Rhein, so weit er sich denn offenbaren mag? Mal fließt er einfach „ungerührt“ weiter, mal wird er dem Schriftsteller zum Freund, auch stellen sich bei seinem Anblick andächtige Gefühle ein, schließlich ist Hohler geradezu „stolz“ auf den Fluss. Mal ist – gleichsam nur nachrichtlich – von Überschwemmungen, dann wieder von Austrocknung droben in Deutschland die Rede. Nichts, was man nicht auch den Medien entnehmen könnte. Keine tiefer gehende Reflexion, wie es scheint.

Auf Seite 117 stehen zusammengefasst ein paar Zumutungen, die dem Rhein zuteil werden. Zitat übers Quellgebiet: „Der Rhein?… Ein Kind, das noch nicht weiß, was von ihm verlangt wird. Energie soll es hergeben, schiffbar soll es werden, schwimmbar soll es sein, und tief genug für Selbstmörder.“ Eine für Hohler vergleichsweise direkte, ja krasse Aussage, bei der man endlich einmal aufhorcht.

Die Strömung des Flusses, so ist zu ahnen, hat eine Menge mit der Strömung von Zeit zu tun. Gegen Schluss verdunkeln sich die Gedanken, als der russische Überfall auf die Ukraine begonnen hat. Umso befremdlicher, wenn Hohler direkt danach formuliert: „Es ist fast sommerlich heiß geworden, als ich in Disentis einmarschiere…“ Eine Gedankenlosigkeit, die das Lektorat hätte mildern sollen.

Franz Hohler: „Rheinaufwärts“. Luchterhand. 128 Seiten, 22 Euro.

 




Bis in die letzten Winkel der Stadt: „Dortmund entdecken!“

Was Tipps rund um Dortmund angeht, verfügt Katrin Pinetzki offenkundig über einen riesigen Datenbestand und daraus folgende Detail-Kenntnisse. Sie ist also prädestiniert, Stadtführer zu verfassen.

Erst vor rund zwei Jahren (Februar 2020) hat sie bei Klartext „Dortmund für Klugscheißer“ publiziert und (als gebürtige Gelsenkirchenerin, die es jedoch langwierig nach Dortmund verschlagen hat) selbst alteingesessene Dortmunder mit erstaunlichen Fakten überrascht. So heißt ja auch die – demnächst auslaufende – städtische Image-Kampagne: „Dortmund überrascht. Dich.“ Stimmt. Immer mal wieder. Mal so, mal so. Smiley.

Jetzt, da sich „nach Corona“ (na, warten wir’s mal ab) einstweilen wieder so ziemlich alles unternehmen lässt, bringt der Wartberg Verlag Katrin Pinetzkis Paperback-Band „Dortmund entdecken!“ heraus. Ich habe stichprobenartig darin geblättert. Den Untertitel mochte ich allerdings nicht durch Nachzählen überprüfen, er lautet „1000 Freizeittipps“.

Mit diesem Buch dringt die Autorin jedenfalls bis in die letzten Winkel der kommunalen Bezirke und Stadtteile vor. Selbst zum Dortmunder „Outback“ (Vororte Kruckel, Persebeck, Schnee) gibt es immerhin noch einen Eintrag, nämlich einen Sportverein. Die Konzentration auch auf entlegene Stadtteile bringt es mit sich, dass wahrhaftig etliche wenig bekannte Stätten auftauchen. BVB-Stadion, Reinoldikirche und Westfalenhalle kennen ja alle, aber wer weiß schon genauer in Ortsteilen wie Lanstrop oder Mengede Bescheid?

Generell bleibt so gut wie kein Bereich des Lebens zwischen „Natur, Kultur, Sport und Spaß“ außen vor. Ist man aus eigener Anschauung kundig, lassen sich trotzdem geringfügige Leerstellen finden. Zum Exempel fehlt ein ziemlich großer Reit- und Fahrverein in Asseln, Stichwort Eschenwaldstraße. Aber das ist im Gesamtzusammenhang wirklich nur eine Petitesse. Ansonsten könnte das Buch über weite Strecken „Dortmund komplett“ heißen. Tatsächlich steht kurz und knapp so ziemlich alles drin, was man von einem solchen Freizeitführer erwarten darf – und manchmal noch etwas mehr. Dass es in Dortmund die größte Gemeinde von Exil-Tamilen in Deutschland gibt (im Unionviertel), weiß bestimmt nicht jede(r).

Die Textlängen bemessen sich übrigens nicht nach Bedeutsamkeit der jeweiligen Einrichtung, sondern haben sich wohl aus Gutdünken oder auch Layout-Gesichtspunkten so ergeben. Beispiel: Das kleine Tanztheater Cordula Nolte bekommt etwa ebenso viele Zeilen wie das mindestens bundesweit bekannte Museum Ostwall im Dortmunder U.

Wie das solche Freizeit-Bücher meistens an sich haben, werden etwaige Negativpunkte ausgespart oder in Euphemismen verpackt, schließlich ist die Autorin hauptberuflich als Pressesprecherin der Stadt tätig. So bezeichnet sie etwa eine Großsiedlung, in der es durchaus soziale Probleme gibt, als Ausflugsziel für Leute, die an Städtebau interessiert sind. Und der Kaiserbrunnen wird empfohlen als „Treffpunkt, an dem man sich auch länger aufhält“. Das gilt allerdings zu manchen Stunden vorwiegend fürs stark alkoholgeneigte Publikum. Allerdings hängen dort nicht solche Menschenmengen ab wie an der Möllerbrücke, wofür sich gar das Wort „möllern“ eingebürgert hat.

Insgesamt ist der zwangsläufig kleinteilig, jedoch recht hübsch bebilderte Band durchaus geeignet, selbst Dortmund-Kennerinnen und Kenner auf bisher unbekannte Pfade zu geleiten. Wie lange die „1000 Freizeittipps“ aktuell bleiben, wird man sehen. Im Zweifelsfall gibt’s halt eine weitere Auflage. Oder man hangelt sich zusätzlich durchs Netz.

Katrin Pinetzki: „Dortmund entdecken!“ Wartberg Verlag, 176 Seiten, mit zahlreichen Farbfotos, Stadtteilregister und Stichwort-Verzeichnis. 16,90 Euro.

 

 




Abbilder der Verhältnisse – im „Atlas des Unsichtbaren“

Sinnreiche Visualisierung komplexer Sachverhalte ist eine Kunst, auf die sich nicht viele verstehen. Im Netz geht neuerdings der Auftritt „Katapult“ steil, der auch verwickelte Dinge auf möglichst simple optische Umsetzungen „herunterbricht“ – mit wechselndem Geschick: Manches, aber längst nicht alles gelingt. In den „Atlas des Unsichtbaren“ sollte man sich hingegen einigermaßen vertiefen. „Auf einen Blick“ erlangt man hier nicht viel.

Die Autoren James Cheshire und Oliver Uberti versprechen laut deutschem Untertitel recht vollmundig „Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern“. Die Kapitelüberschriften („Woher wir kommen“, „Wer wir sind“, „Wie es uns geht“, „Was uns erwartet“) erweisen sich als wenig trennscharf und taugen nicht zur Sortierung. Also heran an die vielen Einzelheiten, die eben nicht in solche Schubladen passen.

Nach und nach zeigt sich, dass Kartographie und graphische Darstellungen weitaus mehr vermögen, als sich der Diercke-Schulatlas träumen ließ. Manches lässt sich veranschaulichen, was vorher undurchdringlich schien, verblüffende Ein- und Durchblicke werden möglich. Auch Statistiken und Tabellen sind kein leerer Wahn, wenn sie mit Verstand eingesetzt werden.

Da zeigt eine Schautafel ganz schlüssig, ob und wie sich die Gene über 14 Generationen hinweg (etwa seit 1560) noch vererben. Neue Klarheit verschaffen Karten zu den Strömen des Sklavenhandels oder über Walfänge seit 1761. Der Aufschlüsse sind viele: Migrations- und Pendlerrouten, Mobilfunkdaten oder eine Karte zur Lichtstärke in Städten und Regionen verdeutlichen soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge. Sie können als Ergänzung zu wortreich differenzierten Betrachtungen sehr brauchbar sein.

Häufig wird der globale Maßstab angelegt, bevorzugt aus angloamerikanischer Perspektive: In welchen US-Staaten kommt Lynchjustiz besonders häufig vor? Inwiefern lassen Gebäudedaten auf künftige Gentrifizierung schließen, so dass Prognosen dazu einen höheren Wahrscheinlichkeitsgrad haben? Wo leisten Frauen im Verhältnis zu Männern die meiste unbezahlte Arbeit (Indien) und wo die wenigste, aber immer noch deutlich über 50 Prozent (Schweden)? In welchen Ländern erleiden Frauen die meiste physische Gewalt?

Durch graphische Umsetzung werden auch die Muster der US-Bombardierungen im Vietnamkrieg gleichsam „transparenter“. Übrigens hat Ex-Präsident Bill Clinton die zugrunde liegenden Daten freigegeben. Freilich wirken solche fürchterlichen Sachverhalte in atlasgerechter Aufbereitung leicht zu harmlos. Auf diese Weise können eben nur bestimmte Dimensionen des Geschehens vermittelt werden. Dessen eingedenk, blättern wir weiter.

Das letzte Konvolut („Was uns erwartet“) handelt – man durfte gewiss damit rechnen – überwiegend vom bedrohlichen Klimawandel, so gibt es etwa Karten über weltweite Hitzewellen und Stürme oder zur Eis- und Gletscherschmelze. Auch erfährt man zum Beispiel, auf welchen Flugrouten künftig erheblich mehr Turbulenzen bevorstehen dürften. Hilfreich jene Sonnenlicht-Karte, die quasi jeden Quadratmeter eines bestimmten Gebiets im Hinblick auf Sonneneinstrahlung (Intensität, Dauer, zeitlicher Verlauf) definiert, so dass im Winter das Streusalz praktisch punktgenau verteilt werden kann und nichts verschwendet wird. Viele Flächen tauen eben auch rechtzeitig ohne Salz auf.

Ein Buch zum gründlichen Durchsehen, lehrreich, hie und da von echtem Nutzwert, dies aber von begrenzter Dauer. Denn solche Datenbestände und folglich die Karten altern leider ziemlich schnell.

James Cheshire / Oliver Uberti: „Atlas des Unsichtbaren. Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern.“ Aus dem Englischen von Marlene Fleißig. Hanser Verlag, 216 Seiten (Format 20 x 25,5 cm), 26 Euro.




„Nichts ist, das ewig sei“: Bewegender Film über Detroit, Bochum und die Vergänglichkeit

Verblasster Schriftzug – Als die Buchstaben auf dem geschlossenen Bochumer Opel-Werk nur noch schemenhaft sichtbar waren… (Foto/Filmstill: © loekenfranke Filmproduktion)

Kaum zu glauben, aber offenkundig: Das anno 1643 in deutscher Sprache verfasste, barocke Vergänglichkeits-Gedicht „Es ist alles eitel“ von Andreas Gryphius scheint sich staunenswert genau zur desolaten Situation in der einstigen US-Autometropole Detroit zu fügen. „Seems like he got it“, sagt einer von denen, die vor der Kamera ein paar Worte aus der englischen Übersetzung vorgelesen haben. Ja, er hat’s im Grunde wohl schon damals verstanden, dieser Herr Gryphius, der solche gültigen Zeilen geschrieben hat:

„Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein.
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.“

Es ist ein famoser Einstieg in den Film „We are all Detroit. Vom Bleiben und Verschwinden“, der an diesem Donnerstag (12. Mai) in ausgewählten Programmkinos der Republik startet (siehe den Nachspann dieses Beitrags). Die fast zweistündige Dokumentation stellt die überaus missliche Lage in Detroit neben jene in Bochum, wo bekanntlich das Opel-Werk dicht gemacht wurde. Inwieweit sind die Verhältnisse vergleichbar? Können Bochum und das Ruhrgebiet etwas aus den Zuständen in Detroit lernen – und wäre es möglich, dass umgekehrt Bochumer Impulse auf Detroit einwirken?

Filmplakat zu „We are all Detroit“ (© loekenfranke Filmproduktion)

Cadillac und andere Legenden

In Detroit wurden Legenden wie der Cadillac gebaut. Doch seit die großen, früher so stolzen und weltweit renommierten Fabriken von General Motors (GM) bis Packard geschlossen haben, ist es ein Jammer um die einst prosperierende Stadt und ihre Bewohner.

Das in Witten ansässige Regie-Duo Ulrike Franke / Michael Loeken, das schon mit dem Film „Göttliche Lage“ (zum sozialen Wandel durch den Dortmunder Phoenixsee auf einem vorherigen Stahlwerks-Areal) beeindruckte, hat diesmal beiderseits des Atlantiks recherchiert und bei den einfühlsamen Sondierungen starke Bilder eingefangen. Bemerkenswert zumal, welche Valeurs sie den verfallenden Fabrikhallen und dem tristen Ödland abgewinnen. Stellenweise scheint es, als wären die Bauten beseelte Wesen. Mit Wehmut sieht man die kilometerweit sich erstreckenden Industrie-Wüsteneien mitsamt der ringsum maroden Infrastruktur. Sarkasmus geht auch: Von „ruin porn“ (Ruinen-Porno) spricht ein Fremdenführer in den einsturzgefährdeten Fabrikhallen. Aas lockt die Geier an.

Krise? Doch nicht bei General Motors!

Ein ehemaliger GM-Ingenieur erzählt, dass der Konzern die Signale des Niedergangs nicht an sich herankommen ließ. Krise? Doch nicht bei General Motors! Wir scheitern doch nicht. „We’re too good to fail.“ Mussten die Konzerne und ihre Manager sich für all die Misswirtschaft verantworten? Nichts da! Das Kapital ist einfach weitergezogen, um andernorts aufzublühen und sodann abermals Verheerungen anzurichten.

Helden des Alltags und erste Hoffnungsschimmer

Hüben wie drüben hat das Filmteam Menschen befragt, die seit Jahrzehnten in den Autofabriken gearbeitet oder deren Mitarbeiter verköstigt bzw. sonstwie versorgt haben; Menschen, die nun seit geraumer Zeit unter dem Verfall der Urbanität leiden, aber auch solche, die (allmählich) neue Hoffnung schöpfen oder sogar ein gänzlich neues Leben begonnen haben. So haben sich einige Bewohner Detroits auf Gartenbau und Pflanzenzucht verlegt, um durch dieses „Zurück zur Natur“ auch persönlich zu reifen und ihren vergammelten Stadtteil wieder ein Stück lebenswerter zu machen. Der Verkauf von Obst und Gemüse sichert ein bescheidenes Einkommen. Da scheint so etwas wie konkrete Utopie auf. Überhaupt ist es geradezu heroisch, wie manche Leute dem Niedergang, wie sie der jahrelang vorherrschenden Gewalt- und Drogenkriminalität etwas entgegensetzen. Tatsächlich zeigen sich nun endlich erste Hoffnungsschimmer, es kehrt wieder Leben in manche Quartiere ein. Freilich sind es überwiegend andere Leute, die da kommen: „Hipster“, sagt einer etwas ratlos. Sei’s drum? Oder keimt da bereits die nächste Verlustgeschichte? Wait and see.

Den Geldströmen ihren Lauf lassen

An vielen Ecken und Enden der US-Millionenstadt hat sich seit langer Zeit kaum etwas getan. Hunderttausende haben die Gegend verlassen. Grundstücke haben für Spottpreise die Besitzer gewechselt, aber die meisten Investoren blieben untätig, so gut wie nichts ist vorangekommen. Da möchte man den Bochumer Weg loben, wo millionenschwere öffentliche Fördermittel in die Herrichtung des vormaligen Opel-Areals fließen und wahrhaftig erste Neubauten entstanden sind, so etwa ein gigantisches DHL-Paketzentrum. Auch eine Reisegruppe aus Detroit bewundert in Bochum derlei Fortschritte und ersehnt Ähnliches für daheim. Doch in den Staaten läuft die Chose anders, dort lässt man den Geldströmen noch weitaus ungehemmter freien Lauf. NRW fördert den Umbau in Bochum, Michigan kümmert sich hingegen nicht ums Schicksal von Detroit.

Eine grässliche „Blechbüchse“

Doch Vorsicht! Die bei Pressekonferenzen und Eröffnungen skizzenhaft eingefangene Selbstbeweihräucherung der politisch Verantwortlichen in Bochum (Projekt „Mark 51.7″) hat offenbar eine Kehrseite. Da gibt ein DHL-Sprecher auf Nachfrage zu, dass zwar zunächst 600 Arbeitsplätze entstehen, man aber auch schon darüber nachdenke, wie Roboter mehr Aufgaben übernehmen könnten. Außerdem vertritt jemand eine nachvollziehbare Gegenposition: Der Bochumer Architektur-Professor Wolfgang Krenz findet die knatschgelbe DHL-„Blechbüchse“ grässlich. So etwas Durchschnittliches stehe doch überall herum, während eine rund 500 Meter lange und weltweit nahezu einmalige Opel-Fabrikhalle unbedingt erhaltenswert gewesen wäre – als mächtiges Zeichen und ebenso ästhetisches wie lebensweltliches Statement fürs unbeugsame Selbstbewusstsein des Reviers.

Zur Erinnerung: Das 1962 fertiggestellte Bochumer Opel-Werk verhieß dem Ruhrgebiet in der Zechenkrise sichere Arbeitsplätze anderer Sorte. Den jetzigen neuerlichen „Strukturwandel“ sehen Anwohner und frühere Opel-Arbeiter mit sehr gemischten Gefühlen, Zuversicht und Skepsis halten sich die Waage. Jedenfalls kann das zögerliche Vorgehen in Detroit wohl keine ernsthafte Alternative sein.

Menschen, die sich „irgendwie“ durchbringen: der Inhaber des Baumarktes (rechts) und ein befreundeter Kunde, der gerade seine behinderte Tochter verloren hat… (© loekenfranke Filmproduktion)

Begegnungen mit einem „anderen Amerika“

Eine ausgesprochene Stärke des in den US-Passagen deutsch untertitelten Films ist es, die betroffenen Menschen freimütig für sich sprechen zulassen. Daraus entstehen einige bewegende „Erzählungen“, so etwa die Geschichte(n) eines liebenswert kernigen Typen, der seit Jahrzehnten im Detroiter Autobezirk eine Art Tante-Emma-Baumarkt (Schraubenhandel & Artverwandtes) betrieben hat und nun den Laden schließen muss, weil alle Welt nur noch online kauft. Diesem auf seine ganz eigene Art lebensweisen Mann könnte man sehr lange zuhören. Solche Begegnungen sind vielleicht gar geeignet, in unseren Köpfen ein etwas anderes „Amerika“-Bild entstehen zu lassen. Das gilt auch für die Imbisskellnerin, die sich – zeitweise parallel mit zwei Jobs – mühsam über Wasser hält (Hungerlohn: 3,20 Dollar pro Stunde ohne Trinkgeld) und an der Heroinsucht ihres Sohnes verzweifelt: „It is the door to hell.“ Da möchte man heulen.

Generell zeigt sich, welche Verheerungen das mangelhafte US-Sozialsystem angerichtet hat. Massenhaft campieren Obdachlose unter den Brücken, der Film zeigt dieses Elend aus diskreter Distanz. Der Himmel oder was auch immer bewahre uns vor dem weiteren Fortgang solcher Entwicklungen.

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Der Film läuft u. a. hier:

Bochum, endstation (Wallbaumweg 108): endstation-kino.de
Bochum, Casablanca (Kortumstraße 11, im „Bermuda-Dreieck“): casablanca-bochum.de
Dortmund, Sweet Sixteen im „Depot“ (Immermannstraße 29): sweetsixteen-kino.de
Essen, Filmstudio Glückauf (Rüttenscheider Str. 2): filmspiegel-essen.de
Münster: Cinema/Kurbelkiste (Warendorfer Str. 45-47): cinema-muenster.de

…und vielleicht auch in Eurer Stadt.




Eine frühere Kirche als Backstube und Sauna? – Das gibt es nur bei „Urbane Künste Ruhr“

Hier soll tatsächlich einmal gebacken und sauniert werden: Innenraum der ehemaligen Kirche St. Bonifatius in Gelsenkirchen-Erle. (Foto: Heinrich Holtgreve)

Was unter dem Label „Urbane Künste Ruhr“ in manchen Ecken des Reviers passiert, darüber lässt sich ohne Anschauung offenbar nur vage reden. Das hat sich abermals bei der heutigen Jahrespressekonferenz zum vielfältigen Projektbündel gezeigt. Fünf Statements waren angesagt – übrigens ausnahmslos von Frauen. Da hieß es erst einmal: den Überblick gewinnen, den zur Gänze vielleicht gerade mal die Insiderinnen haben.

Es war die einleitende Rede von künstlerischen Positionen, bei denen es letztlich um die zentrale Frage gehe: „Wie wollen wir leben?“ Ach so. – Anschließend rauschte die künstlerische Leiterin Britta Peters rasant durch Bisheriges und Künftiges. Fotografische Impressionen sollten gehabte künstlerische „Interventionen“ unter dem Generaltitel „Ruhr Ding“ vergegenwärtigen – zu den Globalthemen „Territorien“ (2019) und „Klima“ (2021). Im Vorgriff wurde verraten, dass das Leitthema für 2023 „Schlaf“ laute. Darunter kann man sich einstweilen alles oder nichts vorstellen. Wird schon werden.

Denn beim wolkig Globalen darf es ja nicht bleiben, im Gegenteil. Alle künstlerischen Äußerungen sollen regional und lokal verankert sein, sollen sich an konkreten Orten des Ruhrgebiets beweisen – ob nun als Installationen, Performance-Darbietungen oder artverwandte Aktionen.

Im Laufe der letzten Jahre haben die Projekte eine Wanderung vollzogen, es begann in der nördlichen Emscherzone und hat sich über die Mitte des Reviers gen Süden bewegt. Im Prinzip bleibt keine Stadt ausgespart. Und was es da nicht alles gibt: den zusehends anwachsenden „Emscherkunstweg“; den „Wandersalon“ als – Zitat – „mobiles Diskursformat“ (Gespräche, Lesungen, Konzerte etc.); Residenzprogramme, mit denen Künstler*innen (bei „Urbane Künste Ruhr“ ist der gender-gerechte Glottisschlag die Regel) ins Revier geholt werden. Und so fort. Insgesamt stehen jährlich 3,7 Millionen Euro bereit, um das Revier künstlerisch zu durchdringen. Auch mit der Ruhrtriennale besteht eine Kooperation.

Monumental und doch anheimelnd alltagsnah

Gut und schön. Und was gibt es in diesem Jahr? Nun, im Mittelpunkt steht ein ziemlich monumentales und doch anheimelnd alltagsnah anmutendes Vorhaben der in Belgrad geborenen und in New York lebenden Künstlerin Irena Haiduk, die 2017 mit der Aktion „Spinal Discipline“ auf der Kasseler documenta für Aufsehen sorgte. Für „Urbane Künste Ruhr“ hat sie die Anfangsgründe eines Projekts skizziert, das womöglich eines Tages in Dauerhaftigkeit überführt werden kann. In der (1964 erbauten und nun eigens angemieteten) ehemaligen Kirche St. Bonifatius zu Gelsenkirchen-Erle will Irena Haiduk eine raumgreifende Situation schaffen, die die Tätigkeiten des Backens und des Saunierens verbindet; auf welche Weise, das soll sich erst noch zeigen. Denn mit der geplanten Eröffnung Anfang Juni 2022 beginnt die Sache erst so richtig. In etlichen Workshops und Begegnungen soll sich das Konzept konkretisieren und eventuell in eine feste Einrichtung münden. Der Titel „Healing Complex“ dürfte auf leibseelische Heilsamkeit durch Genuss hindeuten, auch eine soziale Komponente und die allüberall beschworene Nachhaltigkeit werden mitgedacht, so dass vielleicht gar die Abwärme des Backens für Sauna-Hitze sorgen könnte. Der Phantasie sind zunächst kaum Grenzen gesetzt, die Realisierung steht auf einem anderen Blatt. Idealerweise würden Kunst und Leben ineinander übergehen. Bevor wir es vergessen, sei nüchtern festgestellt: In der ehemaligen Kirche arbeitet bereits ein gewerblicher Bäckereibetrieb.

Und so ufert Kunst, teilweise an verschwiegenen Orten der postindustriellen Landschaft, zuweilen aber auch in den Zentren, nach und nach geradezu aus. Vieles bleibt, etwa in Form von Skulpturenparks, erhalten. Manches muss im Lauf der Zeit einer Revision unterzogen und restauriert oder verändert werden. Anderes existiert nur temporär und flüchtig. Das Revier, so lässt sich inzwischen sagen, wird allmählich mit einem Netz von Kunst überzogen, wird mit Kunst durchsetzt. Es gibt Schlimmeres.

Freilich hilft alles Gerede nichts: Statt sich verbal im Irgendwie und Irgendwann zu verlieren, müssen sich die Leute halt an die entsprechenden Orte begeben, vielleicht auch selbst zum imaginären Teil mancher Kunst-Werke werden. Ideen zur Tourenplanung und weitere Hinweise finden sich auf der Homepage der „Urbanen Künste Ruhr“.




Im Schlepptau der Tourismus-Werbung: Wenn die Badische Zeitung einen Trip nach Dortmund empfiehlt

Kommt en passant auch vor: Kreativzentrum „Dortmunder U“. (Foto von 2019: Bernd Berke)

In der „Badischen Zeitung“ blättern wir nicht allzu häufig, auch nicht online. Das Blatt erscheint in der gemeinhin als besonders edel, schön und gut geltenden Stadt Freiburg. Ausgerechnet die dortige Redaktion lockt nun ihre Leserschaft nach – Dortmund. Nanu?

In einem längeren Artikel, der am letzten Wochenende erschienen ist, wird die größte Stadt Westfalens als lohnenswertes Reiseziel – zumindest für einen Tag – gepriesen. Die Revier-Metropole sei „mit 63 Prozent Grünfläche eine der grünsten Europas“. Schon wollen wir uns lokalpatriotisch geschmeichelt fühlen, jedoch…

Im Rahmen des Erwartbaren, beginnt die Tour gleich mit dem BVB-Stadion „Signal-Iduna-Park“. Autorin Katharina Hensel wäre freilich noch etwas besser beraten gewesen, hätte sie zumindest erwähnt, dass der Fußballtempel im hiesigen Volksmund unbedingt Westfalenstadion genannt wird. Reisende aus der Freiburger Gegend, die demnächst nach dem Dortmunder Stadion fragen, sollten möglichst die zweite Variante wählen. Sonst fällt die Antwort vielleicht etwas einsilbig aus. Oder gönnerhaft.

Es folgen nach und nach weitere Attraktionen, sozusagen die „üblichen Verdächtigen“, wie etwa der familienfreundliche Westfalenpark (aber nicht der ungleich schönere und noch dazu kostenlos zu besuchende Rombergpark), der vor einigen Jahren künstlich angelegte Phoenixsee auf dem früheren Hoesch-Stahlwerksgelände, das beliebte Kreuzviertel mit angrenzendem Südwestfriedhof und Westpark. Dann geht’s flugs in die Innenstadt zum Westenhellweg und zur Shopping Mall „Thier Galerie“ (die ich persönlich nach Kräften meide), rasch zum Deutschen Fußballmuseum und diversen Kirchen sowie zum Wochenmarkt. Von ruppigeren, aber auch markanteren Ecken wie Nordstadt oder Brückstraßenviertel erfährt man nichts. Da schickt man ja auch keine Freiburger*innen hin…

Aber die Kultur? Wird punktuell abgehakt. Das imposante Kreativzentrum „Dortmunder U“ mit Ostwall-Museum, die schmucke Zeche Zollern als Zentrale des Westfälischen Industriemuseums. Theater und Konzerthaus kommen hingegen nicht vor. Ganz offenkundig hatte die Verfasserin abends keine Zeit mehr. Wahrscheinlich musste sie den Zug nach Freiburg erwischen, den sie am Ende erwähnt.

Und woher hatte Katharina Hensel die Tipps für die Sehenswürdigkeiten? Vielleicht auch aus einem Reiseführer. Vor allem aber wohl von Sigrun Späte von der Agentur „Dortmund Tourismus GmbH“. Wenn man all die unentwegt eingestreuten, natürlich durchweg empfehlenden Späte-Zitate zur Kenntnis nimmt, muss man argwöhnen, dass Frau Hensel ihr auf Schritt und Tritt gefolgt ist. Andere Quellen werden erst gar nicht zitiert. Die Lesenden in und um Freiburg müssen sich ganz und gar auf Sigrun Späte verlassen. Ob nun berechtigt oder nicht: Das Lob für die Stadt erweist sich quasi als Eigenlob.




Manchmal dieser Hang zu Legenden – Streiflichter zur Hagener Stadtgeschichte im Osthaus-Museum

Popstars aus Hagen: die Gruppe „Grobschnitt“ im Jahr 1978. (© Fotografie: Ennow Strelow)

Wie bitte? Die Stadt Hagen ist erst jetzt 275 Jahre alt geworden? Stimmt. Ganz hochoffiziell: Am 3. September 1746 erhielt der westfälische Ort durch einen Verwaltungsakt im Namen des Preußenkönigs Friedrich II. die Stadtrechte. Zum Vergleich: Hagens Nachbarstadt Dortmund hat bereits 1982 das 1100-jährige Bestehen gefeiert.

Das Fehlen einer mittelalterlichen Geschichte hat die Hagener oftmals gewurmt. Darum haben sie manchmal eigene Legenden gestrickt. Auch davon zeugt nun die Jubiläumsausstellung im Osthaus-Museum; ein Gemeinschaftswerk mit dem Stadtmuseum, das künftig einen umgerüsteten Altbau gleich neben dem Osthaus-Museum und dem Emil-Schumacher-Museum beziehen wird – zusammen ergibt das ein kulturelles Quartier von überregionaler Bedeutung.

Doch zurück zur historischen Perspektive. Die im Osthaus-Museum gezeigten Bestände stammen hauptsächlich aus dem Stadtmuseum. Es beginnt mit einer Ahnengalerie, prall gefüllt mit Porträts prägender Persönlichkeiten der Stadtgeschichte – allen voran der frühindustrielle Unternehmer Friedrich Wilhelm Harkort (*1793 nah beim späteren Hagener Ortsteil Haspe), einer der Vorväter des Ruhrgebiets. Auf kulturellem Felde ebenso bedeutsam: der Kunstmäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus (*1874 in Hagen). 1902 begründete er hier das Museum Folkwang, weltweit das erste Museum für zeitgenössische Kunst.

Ergänzt wird die Fülle der Honoratioren durch Fotografien „ganz normaler“ Hagener Bürger von heute. Der Blick richtet sich also nicht nur rückwärts. Überhaupt vergisst das Ausstellungsteam die Gegenwart nicht. Die Übersicht reicht bis hin zu Bildern und Berichten vom Hagener Hochwasser Mitte Juli.

Aus dem Fundus des Stadtmuseums ins Osthaus-Museum: die Schreibmaschine des Hagener Dichters Ernst Meister (1911-1979). (Foto: Bernd Berke)

Ein großer Ausstellungssaal, scherzhaft „Hagener Wohnzimmer“ genannt, versammelt Stücke aus der Stadthistorie, darunter die Schreibmaschine, auf der der Hagener Dichter Ernst Meister einen Großteil seines weithin hochgeschätzten Werks verfasst hat. Als Pendant aus der bildenden Kunst findet sich eine von Farbspritzern übersäte Original-Staffelei des gleichfalls ruhmreichen Hagener Malers Emil Schumacher. Zu Ernst Meister gibt es weitere Exponate. Der Lyriker war auch ein begabter Künstler. Zu sehen sind rund 60 seiner Bilder, die das Osthaus-Museum jüngst als Schenkung erhalten hat. Außerdem hat sich der Hagener Maler Horst Becking mit 13 Gedichten Ernst Meisters auseinandergesetzt. Hier greift eins ins andere.

Original-Staffelei des Hagener Malers Emil Schumacher (1912-1999). (Foto: Bernd Berke)

Im „Wohnzimmer“ wecken auch Objekte wie z. B. ein alter Kinderwagen, ein Stadtplan von 1930, Relikte aus Hagener Firmengeschichten (Varta, Brandt, Villosa, Sinn) oder eine Ansammlung örtlicher Kulturplakate die Aufmerksamkeit. Sollte bei dieser Auswahl etwa auch ein Zufallsprinzip gewaltet haben?

Gar erschröcklich wirkt jene bizarr erstarrte, vollkommen verkohlte „Schwarze Hand“ aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die erstmals das Schloss im 1975 zu Hagen eingemeindeten Hohenlimburg verlassen hat. Eine Legende besagt, dass die Hand einem Knaben gehörte, der sie gewaltsam gegen seine Mutter erhoben hatte. Sie sei daraufhin scharfrichterlich abgeschlagen und zur ewigen Mahnung verwahrt worden. Tatsächlich handelt es sich um das durch Blitzschlag versengte Beweisstück in einem Mordfall.

Hagener haben eben einen Hang zu Legenden, vor allem, wenn sich damit heimische Traditionslinien verlängern lassen. So hat man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Stadtwappen erkoren – mit stilisiertem Eichenlaub statt der damals verpönten französischen Lilie. 1897 verfügte Kaiser Wilhelm II. den Wechsel. Die Hagener glaubten Belege für die örtliche Verwendung des Eichenblatts im 14. Jahrhundert gefunden zu haben, aber das war ein Trugschluss. Das Dokument bezog sich auf eine andere Gemeinde namens Hagen. Und noch so eine Inszenierung, nicht irrtümlich, sondern vollends willkürlich: Ein Hagener Maler, der den NS-Machthabern zu Diensten war, produzierte reihenweise romantisierende Stadtansichten, die es in Wahrheit so nie gegeben hat.

In solche Ausstellungen werden gern die Bürger einbezogen, so auch diesmal. Nach entsprechenden Aufrufen reichten sie etliche Objekte mit Hagener „Stallgeruch“ ein – von lokal gestalteten Schneekugeln bis zum Brettspiel mit Ortsbezug. Da schlägt das lokalptriotische Herz höher.

Humorig-historische Postkarte: „In Hagen angekommen“. (© Stadtarchiv Hagen)

Da war doch noch was mit Hagen? Richtig, wir erinnern uns an die oft und gern zitierte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“, die am 3. Januar 1982 im „Spiegel“ erschienen ist. Die Überschrift entstand im Zuge der Neuen Deutschen Welle, die in Hagen sozusagen ihren Scheitelpunkt hatte. Nicht nur wurden Nena und die Sängerin Inga Humpe hier geboren, in Hagen gründeten sich auch einflussreiche Bands wie „Extrabreit“ (1978) und zuvor „Grobschnitt“ (1971). Letztere besteht – in wechselnden Formationen – nunmehr seit 50 Jahren. Deshalb ist ihrer Story im Untergeschoss eine üppige Extra-Abteilung gewidmet. Mit Dokumenten, Fotos und Objekten (darunter ein kompletter Bühnenaufbau) geht es so sehr ins Detail, dass wohl selbst Spezialisten noch Neues erfahren.

Etwas für eingefleischte Hagener sind auch die Schwarzweiß-Fotografien von Ennow Strelow, der in den 70er und 80er Jahren einige kernige Typen der Hagener Szene porträtiert hat. Ältere Bewohner kennen vielleicht noch den einen oder die andere, Auswärtige werden zumindest die fotografische Qualität zu schätzen wissen. Doch je mehr biographische Verbindungen jemand zu Hagen hat, umso mehr Genuss verspricht diese Schau.

„Hagen – Die Stadt. Geschichte – Kultur – Musik“. Noch bis zum 21. November 2021. Hagen, Osthaus-Museum, Museumsplatz. www.osthausmuseum.de

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Der Text ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de

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Weiterer Beitrag zur Ausstellung, mit einem Schwerpunkt auf Rockmusik:

Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit




„Stonehenge“ in Herne: Der Mythos lebt – sogar in Styropor

Bis zu 7 Meter hoch und denkbar wuchtig: Nachbau des inneren Steinkreises von Stonehenge in Herne (Teilansicht). (Foto: Bernd Berke)

Betritt man den zentralen, hallenhohen Raum des LWL-Museums für Archäologie in Herne, so kommt man sich ziemlich klein vor. Ringsum ragen gigantische „Steine“ auf – just wie im berühmten südenglischen Stonehenge. Tatsächlich hat man den inneren Kreis des über 4000 Jahre alten Megalith-Monuments mit modernster Laserscan-Technologie vermessen und in Originalgröße nachgebaut.

Nun gut, die bis zu sieben Meter hohe Rekonstruktion mit 17 Repliken des inneren Steinkreises besteht aus Styropor, doch die Außenhaut (sanftes Berühren erlaubt!) soll sich ähnlich anfühlen wie jener Sandstein, aus dem das Vorbild besteht. Mehr noch: Während das englische Original an etlichen Stellen von Moos und Flechten bewachsen und überhaupt verwittert ist, sieht man Stonehenge in Herne gleichsam im frischen Zustand der Entstehungszeit, wie die Ausstellungs-Kuratorin Kerstin Schierhold erläutert. Mit etwas Phantasie ist es also vorstellbar, dass die Steinzeitmenschen soeben erst ihre Werkzeuge beiseite gelegt haben.

Doch natürlich verhält es sich anders. Der weltbekannte Steinkreis, etwa um 2500 v. Chr. (also bereits gegen Ende der Steinzeit) errichtet und bis um 1600 v.Chr. vor allem als Kultstätte und Versammlungsort genutzt, ist in Wahrheit das wandelbare Werk von Generationen und Jahrzehnten gewesen. Klar ist auch: Jeder noch so liebevoll gefertigte und raffiniert illuminierte Nachbau vermag zwar zu beeindrucken, besitzt aber bei weitem nicht die Aura des Originals.

Steinkolosse über viele Kilometer transportiert – aber wie?

„Stonehenge – Von Menschen und Landschaften“ heißt die in ihrem Zentrum gleichwohl imposante, an den Rändern ins Kleinteilige sich verästelnde Zeitreisen-Schau, die ziemlich genau ein Jahr lang in Herne zu sehen sein wird. Der Titel lässt es schon ahnen: Eine grundsätzliche Fragestellung lautet, wann und wie Menschen begonnen haben, die sie umgebende Landschaft willentlich und nachhaltig umzugestalten. Im Falle Stonehenge haben sie dabei jedenfalls keine Mühen gescheut und die ungeheuer schweren Sandsteine nach Kräften herbeigeschafft – selbst noch die gewichtigsten (bis zu 40 Tonnen wiegend) über rund 25 Kilometer hinweg, wie Gesteinsvergleiche belegen. Die kleineren, auch noch um die 4 Tonnen schweren Blausteine kamen sogar aus dem späteren Wales – rund 240 Kilometer weit entfernt.

Wie die Menschen die Transporte und noch dazu die Aufrichtung der Kolosse vollbracht haben, wird wohl nie restlos aufgeklärt werden. Man kann es heute höchstens durch Experimente und Mutmaßungen nachvollziehen. Womöglich wurden die Steine von ganzen „Hundertschaften“ mit Hilfe von Seilen und schlittenartigen Vorrichtungen sowie Gleitschienen bewegt und/oder auf runden Holzstämmen gerollt. Einmalig sind übrigens die passgenauen Zapfen- und Nutverbindungen, mit denen die Steine unverbrüchlich zusammengehalten wurden.

„Minimalinvasive“ Archäologie

Wie auch immer: Es war eine phänomenale Willens- und Kraftanstrengung der damaligen Menschen, die bereits einige Findigkeit, Intelligenz und handwerkliches Geschick besessen haben müssen. Kein Wunder, dass sich allerlei Mythen darum ranken. Und obwohl Wissenschaftler die eine oder andere Legende entzaubern, wird das große Ganze hoffentlich immer von Geheimnis umwoben bleiben.

Die Wissenschaft geht allerdings neue, verheißungsvolle Wege: Seit einigen Jahren ist es möglich, archäologische Forschungen auch ohne Grabungen zu bewerkstelligen, bei denen die Fundstücke zwangsläufig beschädigt werden. Mit geomagnetischen Radarmessungen, sozusagen „minimalinvasiv“, lassen sich Fundstellen sehr präzise und zerstörungsfrei aufspüren und virtuell „ausleuchten“. Europaweit führend ist auf diesem Gebiet das – Achtung, Bandwurmname! – Ludwig Boltzmann Institut für archäologische Prospektion und virtuelle Archäologie (LBI ArchPro) in Wien.

Stonehenge-Original, fotografiert vom LWL-Chefarchäologen Prof. Michael Rind. (LWL / Rind)

Nur zu gern kooperiert das Herner Museum mit dem LBI. Die Wiener Experten unter Leitung von Prof. Wolfgang Neubauer haben ein Gelände von rund 16 Quadratkilometern ausgelotet und konnten nachweisen, dass Stonehenge keine isolierte Kultstätte ist, sondern Bestandteil einer „rituellen Landschaft von gewaltigen Ausmaßen“. So wurden in Durrington Walls, knapp drei Kilometer vom Stonehenge-Steinkreis entfernt, die Relikte bislang unbekannter Bauwerke geortet. Dermaßen viele Terabytes an Daten hat man dazu gesammelt, dass die Auswertung noch Jahre dauern dürfte. Vielleicht kommt ja auch noch während der einjährigen Herner Ausstellungsdauer etwas Neues ans Licht.

Weit ausgreifende Ringe und Ovale von Gräben und Wällen dienten zumal als Begräbnisstätten, zunächst als Kollektivgräber, später (ab etwa 2200 v. Chr.) entstanden auch herausgehobene Einzelgräber, offenbar ein Zeichen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. Das ganze Stonehenge-Areal ist in der Jungsteinzeit vor allem eine Zone ritueller Praktiken, doch auch Versammlungsort für Handel und Tauschwirtschaft (man weiß von „Importen“ über Hunderte von Kilometern) sowie Verteidigungsanlage gewesen. Auch müssen die Menschen dort gemeinschaftlich gegessen, wenn nicht gar gefeiert haben. Reichlich vorgefundene Knochen verzehrter Tiere deuten darauf hin.

Vielfach digital ausgerichtete Präsentation

Das Museum gibt sich betont digital und breitet die Befunde mit ausgeklügelten Projektionen sowie an 25 Medienstationen virtuell aus, zudem werden (u. a. in Zusammenarbeit mit dem British Museum) Online-Führungen angeboten. Doch gibt es auf den 1000 qm Ausstellungsfläche auch einige Exponate in Vitrinen, beispielsweise Grabbeigaben, Werkzeuge, Tierknochen oder auch Gefäße der Glockenbecherkultur. Hier wird man nicht so sehr zum Staunen überwältigt, sondern darf sich auf Details konzentrieren. Doch auch dabei finden sich grandiose Einzelstücke, so etwa jener mit 140.000 winzigen Goldstiften verzierte Dolch aus der frühen Bronzezeit. Abermals ein Rätsel: Wie ist die Herstellung mit den damaligen Mitteln möglich gewesen?

Der Rundgang führt zurück in ein Zeitalter, in dem nomadisch lebende Menschen Zuwanderern vom kontinentalen Festland begegnet sind, die sich um 4000 v. Chr. ganz allmählich zur sesshaften bäuerlichen Gesellschaft zusammengefunden haben – die sogenannte neolithische Revolution. Das Stonehenge-Gebiet dürfte bereits seit etwa 8500 v. Chr. ein Anziehungspunkt für Jäger und Sammler gewesen sein, weil hier Quellen sprudelten, die auch im Winter nicht zufroren und daher nahrhaftes Getier anlockten. Dort haben sich auch rare Rotalgen gebildet, die aufgrund von biochemischen Reaktionen pink schimmerten und eine geradezu magische Wirkung ausgeübt haben dürften.

Vergleiche mit Westfalen und dem Ruhrgebiet

Recht kühn und eher aus regionaler Pflichtschuldigkeit zu erklären sind die Bögen, die das Museum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zu westfälischen Steingräbern schlägt. Vergleiche mit bretonischen Formationen lägen vermutlich näher. Mal waren die Vor-Vorläufer der Westfalen mit speziellen Errungenschaften früher an der Reihe als die Ur-Ur-Engländer, mal später. Nirgendwo in unseren Breiten hat es freilich ein Monument gegeben, das Stonehenge auch nur annähernd vergleichbar wäre. Ein Weltwunder und Weltkulturerbe sondergleichen. Etwa eineinhalb Millionen Touristen strömen jährlich dorthin, auch seltsam anmutende Druiden-Feiern finden dort gelegentlich statt, vor allem zu den Sonnenwend-Daten. Schon an normalen Tagen lassen Autostaus im weiten südenglischen Vorfeld ahnen, dass es hier etwas Besonderes geben muss… Apropos: Die Ausstellung schließt mit ein paar Kuriosa, darunter einer putzigen Stonehenge-Parodie aus „versteinerten Colaflaschen“ oder dem Hinweis auf eine aufblasbare Stonehenge-Hüpfburg. Was es nicht alles gibt.

Geradezu tollkühn muten schließlich die Vergleiche mit dem Ruhrgebiet und Landmarken wie der Halde Hoheward an, wo „der Mensch“ – aus ganz anderen Motiven – ja auch folgenreich in die Landschaft eingegriffen hat. Auch dies hatten die Ausstellungsmacherinnen im Sinn. Sollte demnach die Errichtung von Stonehenge ein frühzeitlicher Sündenfall gewesen sein, der Jahrtausende später ins industriell Monströse mündete? Oder anders herum: Wird man Teile des Reviers dereinst als rätselhaft magische Stätten bewundern?

„Stonehenge – Von Menschen und Landschaften“. 23. September 2021 bis 25. September 2022. LWL-Museum für Archäologie (Westfälisches Landesmuseum), Herne, Europaplatz 1. Tel.: 02323 / 94628-0 

Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr. Eintritt 7 € (ermäßigt 3,50 €), Katalog 34,95 €.

www.lwl-landesmuseum-herne.de

www.stonehenge-ausstellung.lwl.org

 

 




Familienfreuden auf Reisen: Von Bergziegen und Meerschweinchen

Kein Wunder, dass wir uns Meerschweinchen gekauft haben. Wir sind selbst welche. Also glücklicherweise nicht ganz so kugelrund wie unsere drei Damen vom Südamerika-Grill. Und auch weniger schreckhaft. Aber das Meer, das könnte auch vor unseren Namen stehen. Meer-Nadine. Meer-Normen. Meer-Fi. Dieses Jahr aber haben wir uns als Bergziegen versucht.

Wo bitte geht es zum Meer? Wenn Meerschweinchen sich als Bergziegen versuchen. (Bild: Albach)

Urlaub und Corona, das klang vielleicht früher mal gut, als jeder noch an das Bier und niemand an ein Virus gedacht hat. Seit 2020 aber ist Urlaub für uns mit vielen Fragen verbunden. Können wir überhaupt Urlaub machen? Wohin? Wie sind dort die Inzidenzen? Und wenn doch etwas passiert: Wie weit wollen wir von Zuhause weg sein?

Die Welt war plötzlich sehr klein

Letztes Jahr fiel die Antwort sehr schreckhaft aus (Meerschweinchen-Panik!). Wir wollten, aber nicht weit. Ich hatte tatsächlich ein Haus im Münsterland gebucht. Sagenhafte 50 km von Zuhause entfernt. Die Welt war plötzlich sehr klein. Es regnete viel. Und das Gewässer vor unserem historischen Gemäuer war eher ein Tümpel mit vielen Fischen. Aber hey: Wir waren gesund. Wir konnten wegfahren. Das war zu diesem Zeitpunkt sehr viel.

Dieses Jahr wollten wir trotzdem mutiger sein. Fliegen trauten wir uns noch nicht (Meerschweinchen-Panik!). Aber weiter wegfahren. Österreich, Kleinwalsertal, ließ die Augen der Nachbarn beim Erzählen leuchten. Und sollte uns doch das innere Meerschweinchen übermannen, wir wären in 20 Minuten wieder in Deutschland.

Wer hat die Fototapete vergessen?

Uns erwartete eine neue Welt. Immer, wenn ich in den ersten Tagen das Wohnzimmer unserer Ferienwohnung betrat, fragte ich mich, wer vergessen hatte, die Fototapete wieder einzurollen. Berge! Majestätisch, schön, beeindruckend – und hoch. Das hätte uns ja mal jemand sagen können!

Trotzdem machten wir uns todesmutig an die erste Gipfelbesteigung. Ok, ein bisschen geschummelt mit Seilbahn-Support. Aber den Rest umso stürmischer allein. Und dabei lernten wir die erste Lektion des Bergziegen-Daseins: Never leave the house without ordentlich viel Blasenpflaster. An dieser Stelle noch einmal danke an die Drei-Generationen-Wanderdamen, die Fis kleine Zehen liebevoll beklebten und damit vor weiterem Ungemach durch ahnungslose Eltern retteten.

Die Bergziege im Pfeffer

Nach dieser Erfahrung ahnte Fi recht schnell, wo der Hase, ähm, pardon die Bergziege im Pfeffer liegt. „Wie viele Stunden wandern wir heute?“, fragte sie morgens bang.

Deswegen haben Normen und ich in diesem Urlaub ganz nebenbei eine Weiterbildung zu Animateuren gemacht, die eines 5-Sterne-Resorts würdig wären. Wir liefen durch die Breitachklamm und sprudelten über bei der Bejubelung der Wasserfälle. Wir machten auf einer steinigen Talwanderung die Alp mit dem besten Kaas-Press-Knödel der Welt ausfindig. Wir betörten Eichhörnchen, die uns die Nüsse aus den Händen klaubten. Wir fanden jeden Wanderstein und hoben alle Geocaches (inklusive 100 Ohrenkneifern, die es sich in einem von ihnen gemütlich gemacht hatten). Fiona bedachte unsere Mühe mal mit höflicher Zustimmung, mal echter Begeisterung. Letztere vor allem dann, wenn uns die vielen Schritte zu kühlen Bergseen führten.

Es war ein schöner Urlaub. Wir haben ungeheuer viel erlebt. Und doch hat mich Fionas Resümee nicht überrascht: „Wie hat es Dir gefallen?“ fragten wir sie. Sie antwortete mit unserem Familien-Bewertungsschema, indem sie den Daumen nach oben reckte. „Und im Vergleich zu Kreta?“, fragte Normen weise mit Blick auf unsere Strandurlaube vor Corona. Fiona zögerte kurz. Ihr Daumen zeigte auf Viertel vor – gut, aber nicht gigantisch. Wir nickten.

Bergziegen sind wirklich tolle Tiere. Aber nächstes Jahr, da lässt uns Corona hoffentlich wieder ausleben, was wir im Herzen sind. Eben Meerschweinchen.




Vom IT-Campus zum „Theatermacher“ – eine kleine Dortmunder Betrachtung in Zeiten des Home-Office

Dort, wo jetzt noch ein markanter Hallenbau am Ufer der Emscher das Bild beherrscht, soll der neue IT-Campus entstehen. (Bild: p)

„Hoesch-Spundwand“, abgekürzt HSP, war viele Jahre ein Sorgenkind unter den Dortmunder Industriebetrieben, bis es dann 2015 endgültig zumachte – keine profitablen Aufträge und keine Aussicht auf Besserung. Was blieb, war im Westen der Stadt ein großes Industrieareal entlang der Emscher mit einer imposanten Halle, von der Emscherallee aus in ganzer Schönheit zu bestaunen. Und dann kamen die Planer.

„Wie das Google-Hauptquartier“

Im Lokalteil der Dortmunder Zeitungen – ja, für die, die nicht von hier sind und es nicht wissen: es gibt nur noch einen Lokalteil in Dortmund, der von den Ruhr-Nachrichten produziert und den die Funke-Titel WAZ und Westfälische Rundschau übernehmen – war nun zu lesen, wie toll das dort alles wird, auf dem ehemaligen HSP-Gelände und darüber hinaus. Rund um die Fachhochschule, die sich hier ansiedeln soll, werden so genannte „Science Factories“ entstehen, die so etwas wie „fliegende Klassenzimmer“ für die Fachhochschulstudenten sein sollen und in denen aus Ideen konkrete Anwendungsfälle werden. In der Informationstechnologie, so Klaus Brenscheidt von der Industrie- und Handelskammer, gelte es, „den Kampf gegen China aufzunehmen“. „Wie das Google-Hauptquartier“ soll die Geschichte funktionieren, Mitte der 2030er Jahre sollen rund 210 Unternehmen mit durchschnittlich jeweils 43 Arbeitsplätzen entstanden sein, was rechnerisch 9030 Arbeitsplätze ergibt und 26 Millionen Euro jährlich in das Dortmunder Steuersäckel spülen soll.

Die Kunst ist schon da: „Zur kleinen Welle“ heißt die archaisch-bedrohliche, gleichwohl begehbare Skulptur, die raumlabor Berlin vor einigen Jahren an den Rand der renaturierten Emscher stellte. (Foto: p)

Lieber zu Hause bleiben

Etwas nüchterner betrachtet ist gemeint, daß die Firma Thelen Gruppe für eine Gesamtsumme von rund zwei Milliarden Euro (immerhin) viel neue Bürofläche schaffen will, in 150 würfelförmigen Gebäuden mit einer Bruttogeschoßfläche von 200.000 Quadratmetern, so genannten Innovationskuben. Das sind beeindruckende Zahlen, keine Frage.

Doch scheint an dieser Stelle ein fußballkaiserliches „Schau’n mer mal“ angebracht. Als man mit diesen Planungen begann, hieß der Oberbürgermeister Sierau, gab es Covid 19 noch nicht, und keiner redete vom Home-Office. Mittlerweile kann man durchaus Zweifel haben, ob die fröhliche Campus-Idee noch funktioniert, oder ob die Damen und Herren Informationstechnologiker nicht lieber zu Hause bleiben zum arbeiten. Dann würde es nichts mit dem innovativen Würfelspiel. Aber wir wollen nicht unken.

Theater im Home-Office

Das Prinzip Home-Office, wir wechseln den Schauplatz, hat die Dortmunder Theaterleitung schon stark verinnerlicht. Seit 2020 ist Julia Wissert im Amt, doch das Große Haus konnte bislang noch nicht bespielt werden, wegen Corona. Als wieder etwas möglich war, hatte die Dortmunder Kulturverwaltung schon beschlossen, es gut sein zu lassen in der Spielzeit 20/21. In einer gewissen Folgerichtigkeit gab es Auskünfte zur anstehenden Spielzeit 2021/22 dann auch nur als Pressetext. Die anderen Bühnen in der Nachbarschaft, stellvertretend sei Bochum genannt, veranstalteten hingegen recht ordentliche Programm-Pressekonferenzen im Internet; für Dortmund bleibt lediglich die Hoffnung, daß im Herbst endlich wieder Leben im Theater einzieht. Wenn die Inzidenzen mitspielen, sozusagen.

Kay Voges, von 2010 bis 2020 Intendant des Dortmunder Theaters und ist seitdem Direktor der Wiener Volksbühne. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Dortmunder „Theatermacher“ für Wien

Schauen wir jetzt noch nach Wien: Dort arbeitet Kay Voges, etliche Jahre Dortmunder Schauspielchef, an seiner Eröffnungspremiere im Oktober. Das Publikum des Wiener Volkstheaters, dessen Chef er seit einiger Zeit ist, will er mit einem, wenn man so sagen darf, überaus österreichischen Stoff in den Bann schlagen, verfaßt von einem erklärten Österreich-Hasser. Der Witz daran ist, daß wir in Dortmund die Inszenierung schon lange kennen – mit dem stattlichen Andreas Beck in der Titelrolle und einigen weiteren bekannten Namen aus Voges’ Dortmunder Zeit (u.a. Uwe Rohbeck). Den „Theatermacher“ von Thomas Bernhard hatte Voges seinerzeit gut begründet auf die Bühne des Dortmunder Theaters gestellt, weil es dort die erste große Produktion nach langem renovierungsbedingtem Exil in der Industriehalle „Megastore“ war.

Die Wiener sind schwierig

Also eine Win-win-Situation – eine Inszenierung, zwei Theater? Gelegentlich wird man mal nachschauen müssen, wie die Wiener es aufgenommen haben. Sie, die Wiener, gelten nämlich als schwieriges, verwöhntes Publikum, kein Vergleich mit den freundlichen Ruhris. Ob die Wiener sich von einem Piefke erzählen lassen wollen, wie sie so sind?

Smartes Rhinozeros

Ach ja, dies soll nicht unerwähnt bleiben: Das bombastische IT-Bauprojekt auf dem HSP-Gelände in Dortmund hat längst auch schon einen innovativen Namen erhalten. „Smart Rhino“ haben sie es genannt. Das klingt nach Kleinwagen mit alternativer Antriebstechnik, soll aber, so ist dem bereits zitierten Lokalteil zu entnehmen, Bezug nehmen auf das Plastik-Rhinozeros, das im Konzerthaus das Licht der Welt erblickte und das das Stadtmarketing der Stadt in vielen bunten Ausführungen als zweites Wappentier verordnet hat. Eigentlich würde der Adler reichen, auch zukünftig. Das wäre dann so etwas wie „Smart Eagle“. Doch vielleicht fällt dem Volksmund noch ganz etwas anderes ein.

 

 




Unterwegs fast nichts erlebt – Andreas Maiers Anti-Reise-Roman „Die Städte“

Zählen wir mal kurz auf: Wer Andreas Maiers kompakte Romane wie „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“, „Der Kreis“, „Die Universität“ und „Die Familie“ (puh!) goutiert hat, meint vielleicht, im Leben des Autors quasi heimisch geworden zu sein. Doch das ist wohl ein Trugschluss. Wer weiß schon, welchen Anteil Findung und Formung an all dem haben.

Und überhaupt hat ja vieles seine Kehrseite – wie auch im neuen, abermals wortkarg benannten Buch „Die Städte“. Gewiss, da kommen einige Orte namentlich vor, doch falls man markante Reiseerlebnisse erwartet, wird man düpiert – oder auf andere Fährten geführt. Andreas Maier hält bei all dem einen lakonisch registrierenden Tonfall, der das Groteske an äußerer Mobilität bei innerer Unbeweglichkeit erst recht hervortreten lässt.

Bloß schnell an Nürnberg vorbei

Schon das Kapitel „Nürnberg, Brenner, Brixen“ hat es (nicht) in sich. Es erweist sich als Schilderung der alljährlichen, ungemein öden Familien-Anreise zum Sommerurlaub in Südtirol, die einer seltsamen Flucht gleicht, auf der man es unbedingt früh an Nürnberg vorbei geschafft haben muss. Da geht’s um irrwitzig eingerastete Rituale – wie und wann die Mutter im Auto etwas zum Verzehr anbietet, wie der Ich-Erzähler sich als Kind in seine Asterix-Hefte vergraben hat, wie die immergleichen Parkplatzmanöver und Einkäufe für die Ferienwohnung verlaufen sind. So sehen die gerafften Notizen zum „Geschehen“ denn auch aus:

„Tage drei Ausflug Kalterer See, Fahrtzeit eine Stunde hin, eine zurück.

Tag vier einkaufen, Mittagessen beim Stremnitzer, Sanitärgeschäft.

Tag fünf Fahrt zur Seiser Alm (45 min), dort parken auf einem riesigen Parkplatz…“

Ganz schön was los.

Von derlei Ferienreisen hält der Junge prinzipiell nichts: „…der Urlaub ist lang, und ich fürchte mich schon im voraus vor ihm, wie vor jedem Urlaub. Ich fürchte mich davor, wochenlang das Haus und mein Zimmer verlassen zu müssen und an einen anderen Ort zu kommen, wo ich mich zu anderen Menschen verhalten und mit ihnen reden soll…“

Im nächsten Kapitel geht es nach Athen. Schon aufregender? Von wegen. Der Erzähler, inzwischen ein paar Jahre älter, hat sich noch einmal hinreißen lassen, mit den Eltern zu fliegen und sich zugleich vorgenommen, ihnen die Reiselaune zu versauen.

Ouzo „wie ein Grieche“ schlürfen

Es geht also kaum um die Städte, sondern um Pein und Peinlichkeit des Reisens. Einigermaßen tragfähige Erfahrungen, so ahnen wir, macht höchstens der Sohn, wenn er stundenlang in einer Bar abhängt und sich – nach Landessitte Ouzo schlürfend – „wie ein Grieche“ fühlt, während die Eltern den Reiseführern zu den antiken Stätten nachhecheln. Oder sind das allseits nur Einbildungen? Sind das allesamt fruchtlose Unterfangen?

Sodann Biarritz. Nunmehr, mit 16 Jahren, unterwegs mit einem verkorksten Typen, der überall nur auf Brüste und Pos starrt, sich aber nicht traut, Mädchen anzusprechen. Ein kurzes, aber starkes, sozusagen leichthin verdichtetes Stück über klägliche Orientierungslosigkeit, aber auch Lässigkeit in diesem Lebensalter. Es weht einen geradezu an.

Und was ist mit Oulx (Skiort bei Turin)? Nun, da ist der Erzählende allein hingereist, fest entschlossen, sich dort umzubringen. Aber es wird nichts draus, das Ansinnen versandet. Und dann ist da ja noch diese verwirrend Schöne in der Pizzeria… Das Ganze mündet in eine einwöchige Sauferei und Fresserei. Auch keine Offenbarung. Aber doch irgendwie tröstlich.

Alles nur schön und eindrucksvoll

Der merkwürdige Dreiklang „Bangkok, Friedberg, Marrakesch“ verheißt gleichfalls abstruse Nicht-Erlebnisse. Eine Bekannte präsentiert Fotostapel von ihrer gerade mal fünftägigen Bangkok-Reise und vermag zu jedem Bild nicht mehr zu sagen, als dass dies und jenes schön und eindrucksvoll gewesen sei. Quälend für den Zuhörer.

Sich daran erinnernd, hebt der Erzähler, damals Student der Altphilologie, zu einer kleinen Suada über inhaltslose, sinnfreie Reise-Erinnerungen an: „Diese Erzählungen können zum Prahlen dienen, dann sind sie am unangenehmsten. Oft führen sie schlicht zur Förderung des Selbstwertgefühls beim Erzählenden (…) Die Zuhörer reagieren, indem sie Dinge ausrufen wie: Das ist ja schön, das ist ja toll, daß du das erlebt hast…“ Und so weiter, desillusioniert bis auf den Grund. Da grinst einen das Nichts an.

Schließlich Weimar, wo der Berichtende als junger Schriftsteller eintrifft – in der damaligen „Kulturstadt Europas“ (1999). Ein wahnwitziger Massentourismus ergießt sich (vermeintlich „auf Goethes Spuren“) in die kleine Stadt, dazwischen lungern immer wieder Neonazi-Trüppchen und Einheimische, die sich bedrängt fühlen, alle Fremden misstrauisch beäugen oder gar anblaffen. Nochmals eine Karikatur des Reisens und seiner Wirkungen.

Das bleibt man doch besser gleich zu Hause, oder?

Andreas Maier: „Die Städte“. Roman. Suhrkamp. 192 Seiten. 22 Euro.




Die Leute sind oft anders, als wir meinen – Juli Zehs neuer Roman „Über Menschen“

Dora muss raus. Einfach weg von allem. Irgendwo neu beginnen. Raus aus dem hysterisch überdrehten Berlin, der Endlosschleife immergleicher Gespräche über gesunde Ernährung und korrekte Mülltrennung. Weg von ihrem Freund Robert, der sich vom Klima-Aktivisten zum Corona-Schamanen gewandelt hat und Gefolgschaft erwartet.

Seit die Pandemie da ist und die Menschen Masken tragen, kommt alles ins Rutschen. Beziehungen und Gewissheiten lösen sich auf. Die Werbe-Agentur, in der sie eben noch als Star-Texterin verehrt und gut bezahlt wurde, verdonnert Dora zum Homeoffice und wird ihr später per Mail die Kündigung aussprechen. Da ist Dora aber längst schon abgehauen, hat die Café-Latte-Schickeria, die Cancel-Culture- und Gender-Sternchen-Debatten abgeschüttelt wie lästige Fliegen, hat schnell ein paar Sachen und ihren Hund eingepackt und ist nach Bracken gefahren, einem (fiktiven) Kaff in der Prignitz.

Hier, in diesem Landkreis von Brandenburg, wo die Arbeit ausstirbt sind und die Zukunft keine Perspektive hat, die Fremdenfeindlichkeit zum Alltag gehört und die AfD besonders viele Wählerstimmen einheimst, hat sich Dora vor einiger Zeit ein altes Haus gekauft. Aus einer Laune heraus. Vielleicht auch, weil sie schon vor der Corona-Katastrophe ahnte, dass demnächst alles den Bach runter gehen und ihr bisherigen Leben zerbröseln wird wie ein trockener Keks.

„Ich bin hier der Dorf-Nazi“

Jetzt ist Dora in Bracken, allein mit sich, einem langsam dahin schmelzenden Bankkonto und einem verwilderten Garten, den sie schweißtreibend beackern muss. Und mit einem Nachbarn, Gottfried, genannt Gote, der jetzt, wo sie gerade die Sense schwingt und sich überlegt, wo sie Tomaten pflanzen könnte, seinen stiernackigen Glatzkopf über die Mauer reckt, sie anblafft, er werde ihren Hund platt machen, wenn er noch einmal seine Saatkartoffeln ausgräbt, um dann grinsend hinzuzufügen: „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“

In ihrem neuen Roman „Über Menschen“ zerfleddert Juli Zeh genüsslich Vorurteile, kratzt beharrlich an fest getackerten Deutungsmustern, zeigt auf hinterhältig-heitere und kurios-komische Weise, dass es sich lohnt weiterzumachen, trotz Krise und Katastrophe, apokalyptischem Geraune und populistischer Propaganda. Die Welt ist schillernder und vielfältiger, als wir sie uns mit unserem simplen Schubladenken ausmalen, die Menschen widersprüchlicher und liebenswerter, als wir uns eingestehen, wenn wir mit unserem Schwarz-weiß-Denken Freund und Freund von einander scheiden und uns den Kontakt und das Gespräch mit Leuten ersparen, die anders ticken und denken als wir.

Zwei AfD-Typen sind schwul und pflanzen Cannabis

Alle haben Dora vor den dickschädeligen Menschen und dem dumpfen Rechtsradikalismus in der Provinz gewarnt. Aber dann geschehen Dinge, die Doras Weltbild ins Wanken bringen. Gote mag ein Nazi sein, aber er ist auch der fürsorgliche Vater eines kleinen Mädchens, ein sensibler Vogelkundler und ein Nachbar, der zupackt, für Dora Möbel schreinert und Wände streicht, einfach so, ohne irgendeine Gegenleistung zu fordern oder zu erwarten. Und die beiden Typen von gegenüber, die einen AfD-Aufkleber auf ihrem Pick-Up haben und sich über die blöden Politiker und weltfremden Entscheidungen im fernen Berlin aufregen, sind in Wahrheit ein schwules Paar und pflanzen nicht nur Blumen, sondern auch Cannabis.

Juli Zeh, die selbst mit ihrer Familie im Havelland lebt, weiß, wovon sie schreibt. Sie kennt ihre Provinz-Pappenheimer genau. Als sprachgewandte Schriftstellerin, die als Gast im Literarischen Quartett sitzt, durchschaut sie die Eitelkeiten und Einbildungen des intellektuellen Betriebes, als Richterin am Verfassungsgericht im Land Brandenburg weiß sie um  Schwächen und Ängste, Befangenheit und Fehlbarkeit von Mensch und Politik.

Im Roman „Unterleuten“ gelang ihr 2016 eine garstige Posse über Berliner Aussteiger und Selbstgerechtigkeit, über Verlierer und Gewinner der Wende, die das Leben dort, wo ländliche Idylle sein könnte, in eine selbst gezimmerte Hölle verwandeln. „Über Menschen“ fokussiert sich noch mehr auf die Nöte und Sorgen der so genannten kleinen Leute, die man heute nicht mehr ungestraft als „normal“ bezeichnen darf, wenn man nicht (wie Wolfgang Thierse) von Sprach-Polizisten als „identitätsfeindlich“ abgekanzelt werden und sich den Vorwurf einhandeln will, man würde andere gesellschaftliche Gruppen diskriminieren.

In der Provinz bleiben, weil es die Heimat ist

Natürlich gibt es bei Juli Zeh auch Nazis, die sich als „Übermenschen“ verstehen (aber keine Ahnung haben, wer Nietzsche war und was er mit dem Begriff meinte). Aber vor allem zeichnet sie satirisch zugespitzt und hart am Rande des Klischees Menschen, die uns berühren und bewegen, weil sie als allein erziehende Mütter (wie Nachbarin Sadie) nachts zur Arbeit ins ferne Berlin pendeln, um ihre Kinder ernähren zu können, oder mal eben (wie Nachbar Heinrich) mit einer Landmaschine vorbeikommen, um Doras verkrauteten Acker in eine blühende Landschaft zu verwandeln.

Es sind Menschen, die in der Provinz ausharren, weil es ihre Heimat ist, die bleiben, auch wenn die Landarzt-Praxen dichtmachen und die nächste Einkaufsmöglichkeit 18 Kilometer entfernt ist. Sie tragen keine Masken und fürchten sich nicht vor Corona. Aber sie sind genauso viel wert wie der sich im Berliner Biotop in Selbstmitleid verzehrende Gutmensch Robert. Oder der kultivierte Vater von Dora, der bei einem Rotwein gern über „Anspruchsdenken“ philosophiert und meint, das sei die wahre Pandemie. Das Gefühl der Leute, ein Anrecht zu besitzen auf mehr Sicherheit und mehr Komfort führe, weil man nie bekommt, was man will, zu Wehleidigkeit, Apokalypse-Ängsten und Verschwörungs-Theorien. Vielleicht hat er recht. Aber hilft das Dora, die jetzt zwar ein Haus auf dem Lande, aber keinen Job mehr hat? Oder Gote, der manchmal wüst herumpöbelt, aber dringend jemanden braucht, wenn sein Tumor aufs Gehirn drückt und er bewusstlos im Gras liegt? Mehr miteinander reden und einander besser zuhören: Das wäre vielleicht ein Anfang.

Juli Zeh: „Über Menschen“. Roman. Luchterhand, München 2021, 416 S., 22 Euro.




Wie Heimat zu erfahren und zu schildern sei: Judith Kuckarts Dortmunder Hörfilm „Hörde mon Amour“

Blick auf die Siedlung Am Sommerberg/Am Winterberg in Dortmund-Hörde. (Screenshot aus dem besprochenen Film / © Judith Kuckart)

Dortmund vergibt bekanntlich (und endlich) ein Literaturstipendium. Das temporäre Amt, das andernorts meist Stadtschreiber(in) heißt, nennt sich hier Stadtbeschreiber*in. Die literarisch etablierte Judith Kuckart hat den Anfang gemacht. Ihr Dortmunder Aufenthalt begann im August und dauert bis Ende Januar 2021. Leider wurde auch ihre Tätigkeit von Corona eingeschränkt. Anders als vorgesehen, hat sie keine theatrale Umsetzung ihrer Ortserkundungen verwirklichen können, sondern einen rund einstündigen „Hörfilm“ produziert. Es ist ein „Heimatfilm“ ganz eigener Art.

Die 1959 in Schwelm geborene Judith Kuckart hat als Kind – aus traurigen familiären Gründen – „vier oder fünf Sommer“ im Dortmunder Ortsteil Hörde verbracht und kennt also noch das Alltagsleben in der früheren Stahlwerksgegend. In jenen Jahren war sie etwa 9 bis 14 Jahre alt. „Hörde war eine Schule fürs Leben“, sagt sie. Und Hörde sei für immer Teil ihrer „inneren Landschaft“. Ein „Downtown“ Dortmund, also eine zentrale Innenstadt, habe es für sie damals nicht gegeben. Folglich trägt der Film den Vorort liebevoll im Titel: „Hörde mon Amour“.

Westfälische Witterung

2017, als der Kongress der Autorenvereinigung PEN in Dortmund stattfand, hatte die heute in Berlin lebende Judith Kuckart Gelegenheit, erneut westfälische Witterung aufzunehmen. Zwar hat sie für die Stipendienzeit in der Nordstadt am Dortmunder Borsigplatz gewohnt, sich aber auf den Spuren ihrer Kindheitserinnerungen weit überwiegend wieder „auf den Hügeln von Hörde“ umgetan. Das 1340 gegründete (und 1928 nach Dortmund eingemeindete) Hörde hat schon immer ein gewisses Eigenleben geführt und lange Zeit mit Dortmund auf Kriegsfuß gestanden. Auch daraus bezieht der ebenso eindringliche wie wohltuend ruhige Film untergründige Spannungsmomente.

Die Autorin und Dortmunder Stadtbeschreiberin Judith Kuckart – hier in Berlin, März 2019. (Foto: Burkhard Peter)

Äußerst langsam und behutsam tastet die Kamera (Martin Rottenkolber) Einzelheiten ab, die Erinnerung in sich bergen (könnten): die Siedlung „Am Sommerberg“/„Am Winterberg“ im vogelperspektivischen Überblick; sodann geht’s Fassade für Fassade an verwitterten Häusern entlang. Auch sieht man eine typische Wohnung daselbst mit allen Einzelheiten, die nicht gerade auf Wohlstand hindeuten und wirken, als seien sie rücklings aus der Zeit gerutscht. Hinzu kommt ein verfallenes, inzwischen auch verwunschenes früheres Schwimmbad („Schallacker“), dessen Areal zur Stätte des Urban Gardening mutiert ist. Lauter wehmütige Ansichten von zumeist menschenleeren Orten. Kein Wunder, wenn dabei Kopfkino entsteht, zumal als Bezugspunkt ein kartographierter, aber nicht existierender Phantom-Ort bei New York aufgerufen wird, der zur Kultstätte für Jugendliche von weither geraten ist. Auch Hörde ist nicht zuletzt ein imaginäres Gelände.

„Schäbiges Paradies“

Nicht in den Bildern, wohl aber in den Texten dieses „Hörfilms“ scheint auf, wie sehr hier einst das pralle, wenn auch oft etwas ärmliche Leben sich begeben hat. Im besagten Schwimmbad, so heißt es, sei gleichsam alles Lebendige geschehen, es seien auf den Liegedecken in diesem „schäbigen Paradies“ auch Kinder gezeugt worden. Mittlerweile gibt es einen machtvollen und scharfen Kontrast, ein ganz anderes Hörde, das gleichfalls, wenn auch eher schaudernd, ins Auge gefasst wird: die Gegend rings um den künstlich erstellten Phoenixsee mit ziemlich seelenlosen Neubauten zu exorbitanten Preisen. Dies sind keine Kindheitsräume mehr, aber vielleicht Orte für unstete „Wandermenschen“, die allüberall ihresgleichen finden.

Judith Kuckart erinnert sich hingegen lieber an die Jahre um 1968, als die Frauen in der Hörder Siedlung ganztags im Morgenmantel umher gingen, die bescheidenen Haushalte führten und Kinder versorgten, während die Männer bei Hoesch malochten oder in der Kneipe zechten. Eine 1979 aus Jamaika zugewanderte Frau bedauert den späteren Wandel gleich zu Beginn des Films: Früher sei ihr der Lichtschein des Hochofenabstichs stets wie eine wärmende, tröstende Sonne erschienen, später sei hier und in anderen Stadtteilen jedoch „alles den Bach runtergegangen“. Um in Hörde herzlich und herzhaft heimisch zu werden, muss man wahrlich nicht dort geboren sein.

Wo wir uns sicher bewegen können

Fixsterne in Kuckarts Hörder Kindheitssommern waren mehrere Tanten, die dort gelebt haben. Eine von ihnen ist mit 24 Jahren gestorben, ihr kurz vorher geborenes Baby hielt sie bis zuletzt fest umklammert. „Oma Schüren“ (in Dortmund heißen Großeltern familiär häufig nach dem Stadtteil) ist gegen Ende einer Kinovorführung in der – bis heute als letztes Vorort-Lichtspielhaus existierenden – „Postkutsche“ in Aplerbeck gestorben. Heute kann niemand mehr sagen, welchen Film die Großmutter zuletzt gesehen hat.

Man ahnt, dass der Ton zum Film sich keineswegs in „Dönekes“ erschöpft, sondern wesentlich tiefer lotet, manchmal ganz unversehens. Nach und nach stellt sich mit zunehmender, freilich allemal sanfter Dringlichkeit die Frage, was eigentlich „Heimat“ sei und wie von ihr zu erzählen wäre. „Heimat ist der Raum, in dem wir uns immer sicher bewegen können“, heißt es an einer Stelle. Ob es zugleich ein konkreter Ort ist, steht allerdings dahin. Überhaupt ergeben sich viele Fragen: Ist die Heimat ein Ort oder ein Gefühl? Kann man sesshaft werden in der Sehnsucht nach Heimat? Kann man eine Heimat gründen oder entwerfen? Kann Sexualität eine Heimat sein? Und so fort. Hier lagert Stoff fürs eine oder andere weitere Buch im Sinne des „autofiktionalen“ Erzählens, der Selberlebensbeschreibung, angereichert mit fiktionalen Elementen, wie sie seit einiger Zeit wieder vermehrt Teile der Literatur prägt (und nicht die schlechtesten).

Um das Erzählte noch genauer zu verankern, versichert sich Judith Kuckart der Kenntnisse einiger langjährig ortsansässiger „Heimatexpert(inn)en“. Jede(r) von ihnen trägt ureigene Bruchstücke zum Mosaik der Heimatlichkeit bei. Und nein: Das berühmte Diktum von Ernst Bloch („…so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“) kommt an keiner Stelle vor.

„Hörde Mon Amour“. – „Hörfilm“ von Judith Kuckart, 2020. Zu sehen auf dem YouTube-Kanal des Dortmunder Literaturhauses: 

https://www.youtube.com/watch?v=v9iAHql-NJI

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Im Mai 2021 soll Anna Herzig übernehmen

P.S.: Als nächste Dortmunder Stadtbeschreiberin wird – vermutlich ab Mai 2021 – Anna Herzig aus Salzburg in der Stadt sein. Sie hat keine Dortmunder Kindheitserfahrungen, will aber hier an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der in einem Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt…




Das Ruhrgebiet und Dortmund entdecken – drei neue Bücher über Besonderheiten der Region

Mal eben kurz „reingeschmeckt“

Seien wir ehrlich: Regional- und Stadtführer, ob nun im Ruhrgebiet oder anderswo, sind meist rasch verderbliche Ware. Vorwiegend als Häppchen-Lektüre liegen sie im Eingangsbereich der Buchhandlungen, für den schnellen Zugriff gedacht. Doch sie haben auch ihren Nutzen.

Birgit Ebbert müht sich in ihrem Band „Das gibt’s nur im Ruhrgebiet“ redlich, im quadratischen Format satte 120 Hinweise auf Attraktionen zu sammeln, die der Rest der Welt so nicht zu bieten habe. Hie und da merkt man den Zwang, lauter Superlative und einmalige Spezialitäten hervorzaubern zu müssen. Nicht immer gelingt es.

Da findet sich auch weit Hergeholtes. Beispiel: Könne man nicht zu den blauen Städten Marokkos reisen, so gebe es eben Gelsenkirchen, wo nahezu alles in Blau gehalten sei. Ach ja. Andere Mitteilungen klingen recht kühn, so jene, dass Essen d e n bedeutendsten Kirchenschatz Europas aufweise. Da wird man im Vatikan und an einigen anderen Orten aufhorchen. Oder auch nicht. Na, egal. Wir wollen kein Wasser in den Messwein gießen.

Mit manchmal gar zu knappen Texten, vielfach leider ohne näheren Adressen- und sonstigen Besucherservice, werden die wesentlichen Lokalitäten und Besonderheiten des gesamten Reviers vorgestellt – tauglich für den allerersten Überblick. Es ist nicht nur von den üblichen Stätten und Phänomenen wie der Essener Welterbe-Zeche Zollverein, dem gigantischen Oberhausener Einkaufszentrum CentrO oder dem Dortmunder Riesen-Weihnachtsbaum die Rede, sondern z. B. auch von regionalem Brauchtum. Wer mal kurz ins Revier „reinschmecken“ möchte, könnte hier richtig liegen.

Birgit Ebbert: „Das gibt’s nur im Ruhrgebiet“. Emons Verlag, 144 Seiten, 12 Euro.

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„Klugscheißer“-Wissen von Beckett bis Phoenixsee

Wenden wir uns der einwohnerstärksten und z. B. fußballerisch führenden Stadt des Ruhrgebiets zu. Das kann nur Dortmund sein. Hierzu sind gleich zwei neue Bücher erschienen, beide von Katrin Pinetzki. Die Kollegin, als Kultur-Pressesprecherin der Stadt Dortmund tätig, hat gelegentlich auch für die Revierpassagen geschrieben. So viel Transparenz muss vorangeschickt werden.

„Dortmund für Klugscheißer“ heißt der Band, der schon seit dem Frühjahr auf dem Markt ist und eine Städte-Serie des Verlags erweitert. Verglichen mit dem oben erwähnten Ruhrgebiets-Guide, ist das Buch deutlich flotter aufgemacht und bebildert. Auch hier müssen kurze Texte genügen, doch angesichts des strafferen Konzepts, das eben nicht alles und jedes einsammeln will, ist das kein Schaden.

Der schnelle, hie und da statistisch angereicherte Streifzug durch viele Bereiche der Stadt ist unterhaltsam geschrieben. Gewiss: Als altgedienter Bewohner Dortmunds wird man nur wenige Überraschungen vorfinden. Zwar soll auch mit einigen „populären Irrtümern“ aufgeräumt werden (ein gar beliebtes Unterfangen), doch dürften aufgeweckte Einheimische auch hierbei in aller Regel Bescheid wissen. Aber es gibt ja auch noch Ahnungslose und Zugereiste. Und überhaupt.

Etlichen Details merkt man an, dass die (übrigens in Gelsenkirchen geborene) Autorin längst bestens mit Dortmunder Gegebenheiten vertraut ist. Zum Exempel wissen nicht alle, dass Dortmund in den Anfangstagen des Internets eine prägende Rolle gespielt hat. Auch ist das Gedicht „Dortmunder“ des großen irischen Weltdramatikers Samuel Beckett bestimmt nicht allgemein bekannt. Es soll angeblich auf Erlebnissen Becketts im lokalen Bordellviertel beruhen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Apropos: Man hätte hier gerne wenigstens ein Gedichtzitat gelesen. Und noch eine Anmerkung: Dass der inzwischen allseits baulich eingehegte Phoenixsee im Wortsinne Dortmunds Naherholungsziel Nummer eins sei, darf man denn doch bezweifeln.

Am Ende dürften Ortsfremde oder Neulinge jedenfalls das Gefühl haben, nun schon ein paar Dinge über die Stadt zu wissen. Dies und ein wenig Kurzweil – mehr will das Buch ja auch gar nicht bewirken. Hat geklappt.

Katrin Pinetzki: „Dortmund für Klugscheißer“. Klartext Verlag, 104 Seiten, 14,95 Euro.

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Glück aus der Westfalenmetropole

Die emsige Katrin Pinetzki hat in Sachen Westfalenmetropole bereits nachgelegt. Ganz frisch erschienen: „Unsere Glücksmomente. Geschichten aus Dortmund“.

Nachdem sie 2017 „Dunkle Geschichten (Schön und schaurig)“ aus dieser Stadt erzählt hat, hat sie jetzt helle und hoffnungsvolle Stoffe aufgespürt, und zwar buchstäblich von der Geburt bis zum Tod. Der Reigen der 19 Themen wird mit einem Geburtshaus im Ortsteil Brünninghausen eröffnet und schließt mit einem Hospiz am Ostpark. Glücksmomente kann man überall erfahren.

Dazwischen geht es beispielsweise um Lachyoga, Pralinen aus Hörde, den vielleicht allerbesten BVB-Kenner Gerd Kolbe, das Turbo Prop Theater und seine beliebten „Schmuddels“, den lyrischen Lokalmatador – vulgo Reimschmied – Fritz Eckenga (halten allerdings zu Gnaden: Mich muss man noch überzeugen, dass Eckenga so überaus gut wie der selige Robert Gernhardt sei), die wundersame Rettung der einstigen Fluss-Kloake Emscher oder die örtliche „Willkommenskultur“ anno 2015.

Dies ist also kein Reiseführer, sondern ein Band mit kurzen und prägnanten Stories bzw. Reportagen. Nach und nach entsteht so ein kleines Panorama des Stadtlebens, das sich eben aus lauter erzählenswerten Geschichten zusammensetzt. Wobei sich auch und gerade im gewöhnlichen Alltag ungeahnte – Achtung, inflationäres Modewort! – Narrative verbergen. Jawoll. Das musste mal gesagt sein.

Wie sie im Vorwort verrät, musste Katrin Pinetzki manche Recherche und manches Gespräch für dieses Buch unter Corona-Bedingungen bewältigen, also teilweise aus der Distanz. Das merkt man den munteren Texten freilich nicht an.

Katrin Pinetzki: „Unsere Glücksmomente. Geschichten aus Dortmund“. Wartberg Verlag, 80 Seiten, 12 Euro.




Im Zeichen des Mammuts – Dortmunds Naturmuseum nach sechs Jahren endlich wieder geöffnet

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann und Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau halten dem Wahrzeichen des Naturmuseums (aus vielen Originalteilchen zusammengesetztes Skelett einer Mammut-Kuh) ihre Schutzmasken vor. Sierau ließ es sich nicht nehmen, den hindernisreichen Umbau des Hauses als „Mammut-Aufgabe“ zu bezeichnen. (Foto: Bernd Berke)

Eine Stadt, die etwas auf sich hält, sollte beispielsweise mehrere Kunstmuseen haben, außerdem diverse Häuser zur (Kultur)-Geschichte – und möglichst ein naturkundliches Ausstellungs-Institut. In diesem Sinne rückt Dortmund jetzt beim Image-Wettbewerb der Kommunen endlich wieder in eine der vorderen Reihen auf: Nach schier unglaublichen sechs Jahren Umbauzeit (nur zwei hätten es sein sollen) eröffnet das Naturmuseum wieder, in gründlich veränderter Gestalt und deutlich attraktiver als ehedem.

Eigentlich ist – neben dem althergebrachten Stadtwappen-Adler – das Nashorn (Maskottchen des Konzerthauses) zum Dortmunder Werbetier avanciert, doch nun bekommt der Dickhäuter ebenso schwergewichtige Konkurrenz von einer Mammut-Dame. In mühseliger Kleinstarbeit hat man ihr Skelett fürs Museum zusammengesetzt, aus zahllosen originalen Einzelteilen, die (gleichsam als „Beifang“) auf dem Gebiet der heutigen Nordsee gefunden wurden. Vor rund 30.000 Jahren war dort noch trockenes Land. Schon angesichts eines solchen Zeitmaßes erscheint die sechsjährige Umbauzeit seit 2014 denn doch als (allerdings kostspielige) Petitesse. Und es geht ja museal noch viel weiter zurück: von den Eiszeiten (Quartär – hierhin gehört das Mammut) über das Zeitalter der Saurier (Kreidezeit) bis in die Frühzeit der Kohle-Entstehung (Karbon).

Kindgerechtes Marketing: Das Mammut gibt’s auch schon als Stofftier. (Foto: Bernd Berke)

Ach ja, übrigens: Nähere Einzelheiten zur Genese des bundesweit beispiellosen Dortmunder Mammuts finden sich hier. Und noch viel, viel mehr steht im „Mammutbuch“, das von den Freunden und Förderern des Naturmuseums neu herausgebracht wurde.

„(Bitte nicht) am Dino packen!“

Das zweite spektakuläre Hauptstück des Hauses ist nicht original, sondern ein nachempfundenes Dinosaurier-Modell. Die Dortmunder kennen das mächtige Wesen noch aus dem alten Naturkundemuseum, wie es vormals geheißen hat. Dortmund Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) sagte heute zur Eröffnung, er sei in den letzten Jahren vielfach darauf angesprochen worden, wann denn der Dino (und all die anderen Exponate) wieder zu sehen sein würden. Er musste die Menschen wieder und wieder vertrösten. Heute aber rief er launig und spontan in Ruhri-Diktion aus: „Jetzt kann man wieder am Dino packen!“ Da freilich musste er sich von den Museumsleuten höflich korrigieren lassen. Nicht nur, aber derzeit vor allem „wegen Corona“ dürfen etliche Objekte und Mitmach-Stationen noch nicht so berührt werden, wie man es sich gewünscht hätte.

Viele Kalamitäten beim Umbau – nur kein Vulkanausbruch

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann skizzierte kurz die schier endlose Abfolge von Pech und Pannen in der Umbauzeit. Mal ging eine Baufirma pleite, mal gab’s keinen Strom, kein Internet, keine Heizung oder kein Wasser, dann wieder hatte man eine Überschwemmung. „Nur einen Vulkanausbruch – den hatten wir nicht…“

So präsentiert sich jetzt der Eingangsbereich des Naturmuseums. (Foto: Bernd Berke)

Die Museumschefin erläuterte das veränderte Konzept: Während das Museum früher die wissenschaftliche Systematik in Biologie und Geologie nüchtern abgearbeitet habe, sei der Rundgang heute im Wesentlichen regionalspezifisch und möglichst sinnlich arrangiert. Man setzt also konsequent in der Lebenswelt Dortmunds und des Umlandes an, ganz konkret zum Beispiel bei den Dortmunder Großgrünflächen Westfalenpark, Rombergpark, Hauptfriedhof und Fredenbaum. Diese Parklandschaften und andere Lebensräume sind (unter dem Obertitel „Stadt – Land – Fluss“) Ausgangspunkte naturgeschichtlicher Erkundungen und Erzählungen, die sich immer mehr verzweigen.

Die Vielfalt reicht bis in Alltagsfragen hinein, beispielsweise: Was muss ich bei der Haltung eines Meerschweinchens beachten? Andererseits rührt man natürlich auch an die großen Fragen der Entstehung des Lebens und der Ökologie. Wollte man hier all die vielen Schubladen mit pointiertem Zusatzwissen aufziehen und die Tafeln lesen, so hätte man sehr reichlich zu tun. Besser wär’s, man käme mehrmals wieder.

Vermittlung durch Vitrinen bleibt eher die Ausnahme

Ja, es gibt auch einige Vitrinen (etwa mit präparierten Vögeln oder Eichhörnchen und dergleichen Getier), doch derlei traditionelle Vermittlung ist eher die Ausnahme, auch wirkt das Inventar „lebendiger“, denn alles ist ungleich besser ausgeleuchtet als früher in den notorisch schummrigen Museen. Wo immer es ging, hat man versucht, Informationen zeitgemäß mit anschaulichen Dioramen, Touchscreens, Videos oder Hörstationen aufzubereiten. In der Pflanzenabteilung darf man ausgewählte Düfte riechen, in einem großen Aquarium schwimmen heimische Fische. Auf der geologischen Etage, die einem vielleicht nicht gar so nah liegt wie die Tierwelt, werden Fossilien durch farbliche Gestaltungen und überraschende Zusammenhänge „zum Sprechen gebracht“. So liegen etwa die uralten Ammoniten nicht einfach nichtssagend herum, sondern sie werden buchstäblich ansprechend präsentiert. Zudem ergeben sich auf den verschiedenen Stockwerken immer wieder reizvolle Perspektiven, die auch dem ästhetischen Empfinden Genüge tun.

Auch eine Katze leistete ihren naturgemäßen Beitrag

Nicht nur die Museumsdirektorin und ihr Team haben seit 2014 einiges geleistet, selbst die Katze von Frau Dr. Dr. Möllmann war indirekt beteiligt. Sie hat Mäuse gefangen, deren filigrane Skelette sodann präpariert wurden und nun in einem speziellen Schaukasten zu sehen sind; selbstverständlich im wissenschaftlichen Kontext.

Gut denkbar, dass das Naturmuseum, wie zuvor das Naturkundemuseum, wieder zum besucherstärksten Haus in Dortmund wird (wenn man vom Deutschen Fußballmuseum einmal absieht). Nicht nur nebenher bedeutet es auch eine kulturelle Aufwertung der gelegentlich als problematisch verschrienen Dortmunder Nordstadt.

Naturmuseum Dortmund. Münsterstraße 271. Ab Dienstag, 8. September 2020, jeweils dienstags bis sonntags 10-17 Uhr (zu diesen Zeiten ist auch das neue Museumscafé „Ammonit“ geöffnet). Eintritt in die Dauerausstellung frei. Neu seit 22. September: tägliche Öffnungszeit um eine Stunde erweitert, also Di bis So 10-18 Uhr

Reservierung erforderlich: Tickets über www.naturmuseum-dortmund.de

Tel.: 0231 / 50-24 856. Mail: naturmuseum@stadtdo.de

Internet: www.naturmuseum.dortmund.de

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Einlass-Regelung/Reservierung

Es muss vorab online für jede Person (unabhängig vom Alter) eine Reservierung vorgenommen werden, und zwar auf dieser Seite:

www.naturmuseum-dortmund.de

Die Reservierungen sind jeweils auf ein bestimmtes Einlass-Zeitfenster begrenzt. Dies bedeutet, dass der Zugang zum Museum nur zu dieser Zeit gestattet wird. Durch die Limitierung der Reservierungen soll gewährleistet werden, dass die aktuell maximal zulässige Personenanzahl im Naturmuseum zu keinem Zeitpunkt überschritten wird.

Vorerst werden nur Reservierungs-Möglichkeiten für jeweils zwei Wochen online gestellt.

 

 




Es wimmelt die Revier-Kultur – und alles ist so wunderbar

Für den ersten Überblick: Einleitende Doppelseite des Bandes, auf der es noch nicht so wimmelt, wie auf den nachfolgenden. (Bild: © Klartext-Verlag / Junior Klartext / Zeichnung Jesse Krauß)

Ah, Wimmelbücher! Die enthalten doch jene klein- bis kleinstteilig gezeichneten Tableaus, auf denen man immer und immer wieder noch etwas Neues, bisher Unbeachtetes entdecken kann. So auch im Band „Unterwegs im Ruhrgebiet“, der sich im Untertitel „Das große Wimmelbuch der Ruhr-Kultur“ nennt und vor allem (aber nicht nur) Kinder ansprechen soll.

Blättert man ein wenig auf den 22 großen Pappseiten hin und her, wird einem schon bald klar, dass etwaige Mängel der Region konsequent ausgespart sind: Hier wird geschwelgt – in Fülle und Vielfalt der Kulturstätten sowie in touristischen Attraktionen des Reviers. Dazwischen tummeln sich zuhauf die wunderbaren, stets vergnügten und allzeit kreativen Menschlein, die hier gut und gerne leben. Da könnten die Leute aus Stuttgart und München ganz schön neidisch werden. Von Berlin ganz zu schweigen.

Die Attraktionen liegen hier ganz nah beieinander

Natürlich rücken, um derlei Wow-Effekte zu erzielen, die lohnenden Locations ganz eng zueinander, da befindet sich die riesige Essener Weltkulturerbe-Zeche Zollverein beispielsweise direkt neben dem gleichfalls gigantischen Oberhausener Ausstellungsort Gasometer und dem LWL-Archäologiemuseum in Herne. Das ist nicht so ganz realistisch. Zwar gibt es in dieser Region wirklich etliche kulturelle Anziehungspunkte. Doch in Wahrheit muss man sich, um diese Orte hintereinander zu erreichen, mit oft unzureichenden Nahverkehrsplänen und mangelhaften Verbindungen herumschlagen; es sei denn, man zöge den Stau auf der A 40 oder der A 42 vor. Okay, das war jetzt nicht falsch, aber gemein – und für Kinder wohl erst mal zweitrangig (abgesehen vom notorischen Rücksitz-Gequengel „Wann sind wir endlich da-haa?!“).

Ein Ansatzpunkt der genregemäß detailfreudig gezeichneten und kolorierten Szenarien (fleißiger Urheber: Jesse Krauß) ist die kunterbunt illuminierte „Extraschicht“ als alljährliche Leistungsschau zur Revierkultur. Da waren natürlich bis tief in die Nacht Sonderbusse unterwegs und alles war ganz prima in der problemfreien Zone Ruhrgebiet.

Im Geiste des Regionalverbands Ruhr

Die kurzen Begleittexte dürften dem städteübergreifenden Regionalverband Ruhr (RVR) ausnehmend gut gefallen. Das Verbandsgebäude nimmt denn auch in den Zeichnungen einen prominenten Platz als planerisches Hauptquartier ein. Auch hierzu könnte man etwas anmerken, aber lassen wir das an dieser Stelle. Statt dessen zitieren wir diese Lobhudelei: „Der Regionalverband Ruhr ist das, was die elf Städte und vier Kreise der Metropole seit 1920 zusammenhält. Herzlichen Glückwunsch zum 100. Geburtstag!“

Nur zur Klarstellung: 1920 hieß das Gebilde noch nicht Regionalverband Ruhr, sondern anfangs noch Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk und von 1979 bis 2004 Kommunalverband Ruhrgebiet. Egal. Das interessiert draußen im Lande die Wenigsten, vor allem nicht die Kinder; auch dürften die es nicht gar so aufregend finden, dass RVR-Verbandsdirektorin Karola Geiß-Netthöfel auf einem Bild dem Bundespräsidenten Steinmeier (sicherlich vor Corona!) die Hand reicht. Oder ist das nur eine Halluzination? Auch nicht so wichtig.

Titelseite des besprochenen Buches (Bild: © Klartext-Verlag)

Das Ruhrgebiet erscheint hier generell als das, was es immer noch nicht ist: als vereinigte „Ruhrstadt“, von der man beim RVR seit vielen Jahren träumt. Freilich: Der Regionalverband und die Funke-Mediengruppe (zu der wiederum der Klartext-Verlag gehört) residieren in Essen – und so erscheint diese Stadt auch hier als Kraftzentrum des gesamten Reviers. Folglich hat etwa das Kreativ- und Museumszentrum „Dortmunder U“ im Osten des Ruhrgebiets einen vergleichsweise kleinen Auftritt. Aus der Essener Perspektive ist halt auch das Schalke-Hemd mal wieder näher als der BVB-Rock. Apropos Religion: Dem Essener Ruhrbistum ist eine eigene Doppelseite gewidmet. Halleluja!

Riskante Fahrt durch Gelsenkirchen-Ückendorf

Vom spezifischen Reiz eines Wimmelbuchs haben wir unterdessen noch gar nicht gesprochen. Hier kann man sich auf Bildersuche begeben. Welche Orte und Gebäude erkennt man? Welche Figuren oder Konstellationen tauchen auf verschiedenen Seiten wiederholt auf? Gibt es etwa „running gags“ oder sonstige Kreuz- und Querbezüge? Wo haben sich lustige Tiere versteckt? Und so fort. Na, dann sucht mal schön!

Nicht alles ist unbedingt nachahmenswert. Was soll man zum Beispiel vom tollkühnen Skater halten, der auf äußerst schmaler Spur zwischen Bus und Straßenbahn dahersaust? Und was ist mit dem Mädchen, das am Metallgeländer turnt und dabei fast vor den Linienbus tritt? Geht’s denn in der Bochumer Straße von Gelsenkirchen-Ückendorf „in echt“ so riskant zu?

Am Ende ist das Ganze ein utopisches Projekt

Das generelle Erscheinungsbild ist jedenfalls bis in die Einzelheiten durchweg positiv: Das Revier ist demnach durchzogen von veritablen Radfahrer*innen-Autobahnen, herrlich durchgrünt und reich an sauberen Gewässern aller Art, vom Baldeneysee bis zum lieblich renaturierten Emscher-Fluss. Bewohnt wird die kulturgesättigte Gegend von lauter genuss- und lesefreudigen Menschen, zudem ist sie ein Hort von Bildung und Wissenschaft, doch auch der musealen Besinnung – nicht zuletzt aufs eigene Erbe der allerdings gründlich überwundenen Zechen- und Stahl-Ära. Dazu urige Stadtviertel, quicklebendig urbane Quartiere – was will man mehr?

Ach, wer in dieser menschenfreundlichen, ökologischen, gewiss klimaneutralen Stadtlandschaft wohnen könnte! Wenn doch das Revier tatsächlich durchweg ein solch bunter Abenteuerspielplatz der Lebensfreude wäre! Insofern erweist sich das Buch im Grunde als utopisches Projekt. So könnte es vielleicht sein, wenn… Ja, wenn.

Jesse Krauß  (Illustrator) / Melanie Kemner (Herausgeberin): „Unterwegs im Ruhrgebiet. Das große Wimmelbuch der Ruhr-Kultur“. Klartext-Verlag, Essen. 22 großformatige Seiten, jeweils ganz- oder doppelseitige Illustrationen mit kurzen Texten. Pappband, 16,95 Euro.




Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart: Heftige Kindheit im Schatten der Hörder Hochöfen

„Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart, deren letzter Roman von 2019 sinnigerweise „Kein Sturm, nur Wetter“ heißt. (Aufnahme vom März 2019 in Berlin: © Burkhard Peter)

Dortmunds erste Stadtbeschreiberin Judith Kuckart hat sich heute im Literaturhaus am Neuen Graben 78 vorgestellt. Ihren Lebensmittelpunkt hat die renommierte Autorin seit etlichen Jahren in Berlin, doch kann sie auf Dortmunder Erinnerungen zurückgreifen. Genauer: auf Kindheitserinnerungen aus dem Stadtteil Hörde, wo es, wie sie sagt, damals ziemlich heftig zugegangen ist.

Irgendwann liefen dort ziemlich viele 15- oder 16-jährige Mädchen herum, die bereits schwanger waren. Da beschloss ihre Familie denn doch, dass diese Gegend nicht ganz das Richtige für Judith sei – und zog wieder zurück in ihre betulichere Geburtsstadt Schwelm.

Ohne Sattel auf dem Fahrrad

Zuvor hatte Judith Kuckart ein paar gleichsam typische Ruhrgebiets-Kindheitsjahre im Malocherviertel erlebt. „Ich habe in Hörde Fahrradfahren gelernt – ohne Sattel.“ Auch habe sie damals tagtäglich aus der Nähe gesehen, wie kompliziert es zwischen Männern und Frauen zugeht. Gar nicht zu vergessen das Milieu der knochenharten Arbeitswelt: Ein Onkel habe am Hochofen gearbeitet und sei schon mit 40 Jahren gestorben.

Die damalige Wohnadresse: Am Winterberg 72 a. Die Straße lag im Schatten der gewaltigen Hoesch-Hochöfen, heute erstreckt sich auf dem früheren Werksgelände der Phoenixsee. Vor zwei Jahren, als ein Bundeskongress der Schriftstellervereinigung P.E.N. sie wieder einmal nach Dortmund führte, hat Judith Kuckart (Jahrgang 1959) in Hörde eine Cousine besucht, die sich mit der Gentrifizierung rund um den künstlichen See so gar nicht abfinden mag.

Niemand sitzt mehr auf den Stufen

Jedenfalls stellten beide fest, dass in diesen Straßenzügen – ganz anders als früher – niemand draußen auf den Stufen saß, um nachbarschaftlich zu plaudern. Es ist eine dieser Beobachtungen, aus denen schließlich Literatur erwachsen kann. Judith Kuckart fragt sich, ob es heute Berührungspunkte zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen gebe. Oder liegt hier eine eklatante gesellschaftliche Spaltung vor? Kuckart wird versuchen, es herauszufinden, mit ihren Mitteln. Einsam Spaziergänge um den Phoenixsee seien ihre Sache nicht, sie wolle mit vielen Menschen reden.

Derlei sinnfällige Veränderungen eines Stadtteils, so Kuckart, könnten ein Ansatzpunkt für ihre Stadtbeschreiberinnen-Arbeit in Dortmund sein, die im Mai beginnen und bis Oktober dauern wird. Schon vor ihrer Bewerbung ums Dortmunder Stipendium hat sie fürs Romanprojekt „Die Unsichtbaren“ eine Figur entwickelt, die aus Dortmund-Hörde stammt. Auch hierzu dürften sich weitere Recherchen anlagern. Sprich: Die Kindheit und ihre Schauplätze sind keineswegs vergessen, da regt sich immer noch einiges im Gemüt. Mehr noch: Als die Presseleute nicht allesamt Ralf Rothmanns Ruhrgebiets-Roman „Milch und Kohle“ (2000) kennen, ruft sie aus: „Na, ihr seid mir ja schöne Dortmunder!“

Interessanter als Heidelberg

Und überhaupt. Sie bewerbe sich eigentlich nicht mehr um Stadtschreiber-Ämter, in diesem Falle aber habe sie es getan, „w e i l es um Dortmund geht. Heidelberg hätte mich zum Beispiel nicht so interessiert.“ Obwohl sie dort schon gearbeitet hat – als Mitglied der Tanzcompagnie von Johann Kresnik. Tanz und Choreographie waren nämlich ihr ursprüngliches Metier, bevor sie immer mehr zum Schreiben kam. Also kennt sie sich auch mit Bühnenpraxis aus, was in ihrer Dortmunder Zeit durchaus eine Rolle spielen könnte. An einer Stelle fällt das Wort Erzähltheater. Bürgerinnen und Bürger sollen dabei mitmachen. Hört sich schon mal vielversprechend an.

Ein Satz, der Schülern gefallen dürfte

Damit nicht genug der medialen Auffächerung. Kuckart denkt auch schon an ein visuell angereichertes Dortmunder Tagebuch, das eventuell im Internet erscheinen könnte. Und sie kann sich gut vorstellen, hie und da in Schulen am Unterricht mitzuwirken. In Hamburg hat sie mal mit Achtklässlern einen „Schulhausroman“ erarbeitet, in dem ein verschwundener Lehrer gesucht wurde. Mit einer Aussage, die offensichtlich von Herzen kommt, dürfte Judith Kuckart manche Schüler rasch auf ihre Seite bringen: „Warum müssen Kinder im Achtklässler-Alter überhaupt zur Schule gehen? Furchtbar!“

Um die Dortmunder Gretchenfrage aufzuwerfen und flugs zu beantworten: Ja, Judith Kuckart kennt sich auch mit Fußball aus. Das erwähnte P.E.N.-Treffen nutzte sie seinerzeit auch, um den BVB gegen den 1. FC Köln spielen zu sehen. Einschlägige Texte gehören hin und wieder ebenso zu ihrem Repertoire wie auch schon mal eine Lesung im Stadion.

Bestimmt nicht wegen des Geldes beworben

Die Dotierung des Stipendiums beläuft sich monatlich auf 1800 Euro. Dazu befragt, erklärt Judith Kuckart sehr glaubhaft, sie habe sich gewiss nicht wegen des Geldes beworben. Sie wird sich auch nicht in einem schicken Viertel ansiedeln, sondern höchstwahrscheinlich eine (seit jeher schwarzgelb dekorierte) Schreibwohnung in der bundesweit bekannt-berüchtigten Dortmunder Nordstadt beziehen. „Heftige“ Zustände kennt sie ja von damals aus Hörde.

Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann (Kulturdezernent und Kämmerer in Personalunion) versichert, mit 1800 Euro bewege man sich finanziell im „oberen Drittel“ vergleichbarer Stipendien. Man habe sich in dieser Angelegenheit von Autoren und anderen Kennern des Literaturbetriebs eingehend beraten lassen.

Keinen Auftrag zu erfüllen

Stüdemann betont außerdem, dass – anders als bei vielen sonstigen Stadtschreiber-Posten – der Preisträgerin nichts Konkretes abgefordert werde. Sie habe keinen Auftrag zu erfüllen, sondern könne sich nach Belieben in der Stadt umsehen. Die ungewöhnliche Bezeichnung Stadtbeschreiberin lässt (im Vergleich zur Stadtschreiberin) ja schon ahnen, dass es hier nicht um Dienstbarkeiten für die Kommune geht, sondern ums Wahrnehmen und Aufzeichnen.

Judith Kuckart macht deutlich, dass es ihr nicht um „Meinungen“ über Dortmunder Verhältnisse zu tun sei, auch nicht um investigative Nachforschungen („Das kann ich gar nicht“), sondern just um möglichst genaue Beobachtungen und hernach ums Erzählen. Nur dann könne Verborgenes sichtbar gemacht werden. Und nun lasst uns mal ganz wohlwollend abwarten, wie die angenehm unprätentiöse Schriftstellerin ihre Vorhaben umsetzen wird.




Jonathan Franzen: Der Kampf ums Klima ist bereits verloren

Beim Weltwirtschaftsforums in Davos hatte jeder seine eigene Wahrheit. Während Klima-Aktivistin Greta Thunberg davon sprach, dass die Welt in Flammen stehe und sie eine sofortige, radikale Reduktion aller Emissionen anmahnte, verbreite US-Präsident Donald Trump heiteren Optimismus, lobte seine eigene Politik und wies die Propheten des Untergangs aufs Schärfste zurück. Schade, dass der Schriftsteller und Vogelkundler Jonathan Franzen nicht nach Davos eingeladen war.

Der Autor, der seit dem Erfolg von „Die Korrekturen“ in der ersten Liga der Weltliteratur spielt, hat sich immer wieder in die Umwelt-, Klima- und Artenschutz-Debatte eingemischt: Sein Essay „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ hat erhebliche Sprengkraft.

Franzen möchte, dass wir der schmerzlichen Wahrheit ins Auge sehen: Das Spiel ist aus, wir haben den „Point of No Return“ erreicht, wir werden den Klimawandel nicht mehr verhindern. Auch wenn sich die Politiker noch heute aufraffen, die Emissionen mit sofortiger Wirkung radikal zu reduzieren und die Weltwirtschaft umzubauen: Es ist zu spät. Bis nachhaltige Effekte eintreten, würde es Jahre dauern, die wir nicht mehr haben.

Die Katastrophe wird kommen und wird fürchterlich sein: Dürre, Brände, Hunger, gigantische Flüchtlingsströme, gegen die alles bisherige nur ein harmloses Vorspiel war. Trump und alle Klimaleugner oder „Umweltsünder“ tun Franzen nur noch leid. Genauso alle Klima-Aktivisten, die ihre Kraft verschleudern und ihre Hoffnungen auf unrealistische Ziele richten, um dann in zehn Jahren, wenn immer noch nichts Grundlegendes passiert ist, zu resignieren.

Möglichst lange hinauszögern und halbwegs erträglich machen

Franzen aber will – trotz allem – Hoffnung verbreiten, er möchte, und das ist seine eigentliche Botschaft, dass Klimaaktivisten und Umweltschützer ihr Handeln darauf richten, das Inferno möglichst lange hinauszuzögern, es erträglich zu machen, sich auch wieder anderen, erreichbaren Themen zuwenden: dem Artenschutz, der Aufforstung, dem Umweltprojekt vor der Haustür, das man überschauen und begleiten kann, das die Gemeinschaft und letztlich die Demokratie stärkt.

Im Sommer 2019 war Franzen, der als junger Autor eine Zeitlang in Berlin gelebt hat, wieder in der Gegend, um in Ruhe zu schreiben, Vögel zu beobachten, in den Wäldern nach seltenen Wildtieren Ausschau zu halten. Es war heiß und trocken, und bei einer Radtour von Berlin nach Jüterbog ist er mitten ins Feuer-Inferno geraten, das plötzlich vor ihm ausbrach und dann tagelang in den Wäldern wütete. Franzen hat direkt vor Ort miterlebt, wie schnell sich die Feuerwalze ausbreitete, wie wehrlos die Feuerwehr den Naturkräften gegenüberstand und das Feuer nicht löschen, sondern nur begleiten, abwarten und auf Regen hoffen konnte.

Brände um Jüterbog stehen für die globale Katastrophe

Die Brände um Jüterbog sind für Franzen eine Metapher für die unaufhaltbare Katastrophe auf dem ganzen Planeten. Sie waren auch der Anlass, um für den „New Yorker“ den jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Essay zu schreiben, der dem Autor einen gigantischen Shit-Storm eingebracht hat: vor allem von Klimaaktivisten. Denn es regt sie auf, dass Franzen behauptet, die Klimakatastrophe sei nicht mehr aufzuhalten, es nütze nichts, jeden Tag in einer liberal-demokratischen Zeitung zu betonen, man müsse jetzt die Ärmel aufzukrempeln und anpacken, damit wir in zehn Jahre Zeit die Klimaziele erreichen.

Nein, wir haben keine Zeit mehr, sagt Franzen, die Uhr ist abgelaufen, alle Warnungen und Prognosen, die der Club Of Rome im Buch über die „Grenzen des Wachstums“ schon vor über 45 Jahren formuliert hat, sind eingetroffen.

Die große Wut der Aktivisten 

Es nervt die Klimaaktivisten, wenn Franzen darauf hinweist, dass selbst bei Erreichen einiger Klimaziele, z. B. der Begrenzung auf zwei Grad Erwärmung, die Katastrophe laut Klimaforschern allenfalls „theoretisch“ noch abzuwenden ist, aber „praktisch“ eher nicht. Wenn Franzen einzelnen Klima- und Umwelt-Projekten attestiert, kompletter Blödsinn zu sein, Geld und Ressourcen zu verschwenden (wie bei der Bio-Dieselverordnung der EU, die zur Entwaldung von Indonesien zugunsten von öden Palmöl-Plantagen geführt hat), rasten sie aus. Es ist wunderbar, New York in ein grünes Utopia zu verwandeln, aber was nützt es, wenn die Texaner weiterhin Öl fördern und Pick-ups fahren?

Franzens Fazit: Wir sollten uns nicht länger belügen, sondern die bittere Wahrheit akzeptieren. Jeder muss für sich eine Entscheidung treffen: Was kann ich tun, um durch Konsumverhalten, Energieverbrauch usw. die Katastrophe ein wenig hinauszuzögern, das Überleben ein bisschen erträglicher zu machen.

Stärkung der Demokratie dringend nötig

Weil Katastrophen einher gehen mit brutaler Waffengewalt und Auflösung aller staatlichen und rechtlichen Verbindlichkeiten, ist für Franzen die Stärkung der Demokratie das oberste Ziel: Überall faire Wahlen garantieren, Vermögensunterschiede abschaffen, Hassmaschinen abschalten, Gleichberechtigung aller Rassen und Geschlechter herstellen, Pressefreiheit, humane Einwanderungspolitik, Respekt vor den Gesetzen: all das ist gesellschaftliche Klimapolitik, nur so können wir die Katastrophe meistern und abfedern – und nur dann hätte Franzen die „Hoffnung, dass die Zukunft, selbst wenn sie zweifellos schlechter sein wird als die Gegenwart, in mancher Hinsicht auch besser sein könnte.“

Jonathan Franzen: „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? –Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können.“ Ein Essay. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Mit einem Interview von Wieland Freund. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2020. 64 Seiten, 8 Euro.

 




„Mammuts mag jeder!“ – Hammer Ausstellung versetzt uns in die letzte Eiszeit und ihre Tierwelt

Ein „Bildungs-Erlebnis“ versprechen die Veranstalter der neuen Hammer Ausstellung „Eiszeit Safari“ (modisch ohne Bindestrich). Betonung auf Bildung; Betonung gleichermaßen auf Erlebnis.

So ähnlich könnte es ausgesehen haben – vor rund 15.000 bis 30.000 Jahren: Im Vordergrund ein fürs Museum rekonstruiertes Wollnashorn, dahinter ein weibliches Mammut, ganz hinten links das Skelett eines (nicht ganz ausgewachsenen) Mammut-Bullen. (Foto: Bernd Berke)

So ähnlich könnten wesentliche Teile der Fauna ausgesehen haben – damals, vor rund 15.000 bis 30.000 Jahren: Rechts im Vordergrund ein fürs Museum rekonstruiertes Wollnashorn, dahinter ein Nashorn-Skelett, sodann ein zotteliges weibliches Mammut und ganz hinten links das Skelett eines (nicht ganz ausgewachsenen) Mammut-Bullen. (Foto: Bernd Berke)

Die Schau führt uns etwa 15.000 bis 30.000 Jahre zurück, als weite Teile des heutigen europäischen Kontinents unter einer Eisdecke lagen. Betritt man die Räume im Obergeschoss des Gustav-Lübcke-Museums, so steht man zwar nicht Aug‘ in Aug‘ mit tausend, aber doch mit etlichen Tieren. Ko-Kuratorin Dr. Sarah Nelly Friedland gibt dazu gleich ein griffiges Motto aus: „Mammuts mag jeder!“

Präparate nach dem Stand der Forschung

Und tatsächlich fühlt man sich hier ein wenig in eine Safari-Situation versetzt – nur eben nicht mit Löwen, Elefanten und Giraffen, sondern mit den beherrschenden Tieren (sozusagen den „Big Five“) jener Vorzeit, als da beispielsweise gewesen sind: Mammut, Wollnashorn, Höhlenbär, Riesenhirsch und Steppenbison.

All diese Exemplare, über 60 an der Zahl, sind – teilweise sehr lebendig wirkend – von erfahrenen Herstellern in den Niederlanden und Spanien rekonstruiert und präpariert worden; nicht einfach nach Gusto, sondern nach wissenschaftlichen Vorgaben, dem Stand der Forschung entsprechend. In schützende Container verpackt, wurden all diese Tiere der Wanderschau mit fünf Lastwagen nach Hamm verfrachtet. Ergänzend finden sich einige Beispiele zur damaligen Vegetation, ausgewählte Zeugnisse der frühen Kultur und Mitmach-Stationen, an denen man z. B. mit spitzen Steinsplittern ritzen und schnitzen oder mit den Händen Tierfelle ertasten kann. Zum virtuellen Zugang kommen wir später noch.

Mysteriöse Geräuschkulisse

Es ist eine (mit moderaten Gruselmomenten angereicherte) Wohlfühl-Ausstellung, gedacht für die ganze Familie, mit verschiedenen Ansatzpunkten und Begleitheften für Kinder und Erwachsene. Vor den oder jenen gefletschten Zähnen oder der schieren Größe mancher Tiere könnte man sich fürchten, aber auch die unentwegt eingespielte Geräuschkulisse mit geheimnisvollen „Huuhuuu“-Rufen klingt für Menschenwesen nach steter Gefahr. Das ganze Arrangement wirkt ein wenig „amerikanisiert“, es ist auch ein Show-Aspekt dabei. Aber sei’s drum. Man wird nicht getäuscht, sondern bei den Sinnen gepackt. Und zu trocken soll es ja auch nicht geraten.

Die damaligen Menschen, hier repräsentiert von zwei Figuren, die man Urs und Lena getauft hat, hatten es in ihrem Alltag nicht leicht. Ihr Leben muss einem ständigen Survival-Training unter erschwerten Bedingungen geglichen haben. Aber was heißt hier Training? Es war höchst lebensgefährlicher Ernst.

Ein paar ausgewählte archäologische Fundstücke (Schmuck, Kleidungsreste) deuten freilich auch schon auf die Frühzeit eines sozialen, gelegentlich gar geselligen Lebens hin. Überdies gibt es beispielsweise Anzeichen dafür, dass damals Alte und Kranke gepflegt worden sind. Auch Höhlenmalerei dürfte es gegeben haben, nur ist sie unter hiesigen Bedingungen nicht so erhalten geblieben wie in Frankreich oder Spanien.

„Sie waren wie wir“

Besonders dann, wenn die jagdbaren Tiere jahreszeitlich massenhaft Gelände und Gebiete wechselten, haben sich die Menschen an verheißungsvollen Treffpunkten verabredet – nicht nur zum Halali, sondern auch im Sinne des gegenseitigen Kennenlernens, der Fortpflanzung und eines erweiterten Genpools. Nach allem, was man weiß und vermutet, könnte dabei die Monogamie die vorherrschende Beziehungsform gewesen sein. Kuratorin Sarah Nelly Friedland ist ohnehin überzeugt, dass ein Mensch von damals, trüge er nur moderne Kleidung und spräche er nicht in seinem eiszeitlichen Idiom, uns kaum als „andersartig“ auffallen würde. Kurzum: „Sie waren wie wir.“

Sie soll bei Bedarf auch gejagt, er soll auch Nahrhaftes gesammelt haben: Dieses Paar (hilfsweise Urs und Lena genannt) repräsentiert in der Ausstellung die Eiszeit-Menschen. (Foto: Bernd Berke)

Sie soll bei Bedarf auch gejagt, er soll auch Nahrhaftes gesammelt haben: Dieses Figurenpaar (hilfsweise Urs und Lena genannt) repräsentiert in der Ausstellung die Eiszeit-Menschen. (Foto: Bernd Berke)

Und die Verteilung der Geschlechterrollen? Sei vermutlich auch nicht so starr gewesen. Frau Friedland ist überzeugt, dass (je nach Erfordernissen des Augenblicks) die Frauen auch schon mal gejagt und die Männer gesammelt haben.

Wobei auch das Wort Jagd eine Differenzierung verträgt. Tiere wurden nämlich längst nicht nur durch steinerne Geschosse zur Strecke gebracht, sondern vielfach auch durch Fallenstellerei. Statt der Bezeichnung Jäger bietet sich dafür der Begriff Wildbeuter an.

Natürlich geht es auch ums Klima

Und wie kalt ist es in der besagten Eiszeit gewesen? Nun, im Winter schon ziemlich arg. Doch in den Sommern konnte es sich wohl auch schon mal auf 20 Grad erwärmen. Das Gebiet des heutigen Westfalen darf man sich denn auch nicht als dauerhaft vereist vorstellen, sondern als karg bewachsene Steppe. In den fast waldlosen Weiten war übrigens der Besitz von kostbarem Holz (etwa für Speere) ein Glücksfall. Viel später, als sich weite Lande wieder bewaldeten, bedeutete genau dies das Ende einiger Tierarten. Sie konnten sich nicht mehr so frei bewegen, wie es hätte sein müssen. Verkürzt gesagt: Sie kamen nicht mehr richtig durch…

Überhaupt kommt man beim Thema Eiszeit natürlich nicht um die Klimadebatte herum, hie und da hebt die Ausstellung explizit darauf ab, u. a. mit einer wohlfeilen Fotomontage, die den Kölner Dom halb überflutet an einem südlichen Sonnenstrand zeigt, und mit einem Globus, der den Erdzustand bei heftig gestiegenem Meeresspiegel vor Augen führt. Auch das sind Gruselmomente.

Der Unterschied zwischen Eiszeit und Eiszeitalter

Damit es kein Vertun gibt: Auch wir leben – allen Debatten um Klimawandel und Erderwärmung zum Trotz – zwar in einer Warmzeit, dies aber im größeren Zusammenhang eines Eiszeitalters, das fachbegrifflich von einer Eiszeit zu unterscheiden ist. Für ein Eiszeitalter genügt es auf weite Sicht vieler Millionen Jahre, wenn zumindest eine Polkappe vereist ist. Das ist einstweilen noch der doppelte Fall. Aber wer weiß, wie lange noch. Zur Einschätzung der Dimensionen noch diese Zahlen: „Unser“ Eiszeitalter hat vor rund 33 Millionen Jahren begonnen, die letzte wirkliche Kaltzeit endete vor rund 11.600 Jahren. Eigentlich kein Stoff für die täglichen Nachrichten. Und doch…

Nach bisher eingependelten Rhythmen der Erdgeschichte stünde in 2000 bis 3000 oder auch erst in 15.000 Jahren der Beginn einer neuerlichen Eiszeit an. Über die Vorausdatierung streiten sich noch die Experten. Außerdem kann man sich gar nicht mehr so sicher sein, dass die Vorhersagen überhaupt eintreffen. Wenn die Menschheit so weitermacht wie jetzt, kommen vielleicht gar keine kältere Zeiten mehr. Apropos: Vor rund 160.000 Jahren haben in einer Warmzeit Nilpferde an den Flüssen gelebt, die wir heute Rhein und Neckar nennen.

Filmische Ergänzungen durch eine App

Die Wanderausstellung ist in Kooperation mit den federführenden Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim (gleichsam rockiges Kürzel: REM) entstanden. Ein Clou der Schau: Man hat eigens eine App entwickelt, mit der man (über Smartphone oder Tablet) die Hauptpunkte der Schau ansteuern und nach dem Scannen der Stations-Symbole mit einschlägigen Filmen und Tönen anreichern kann. Da wird beispielsweise vorgeführt, wie die Menschen damals wohl ihr Fleisch gekocht oder gebraten haben. Das Ganze funktioniert auch mit den Ausstellungsführern in Papierform, sie können ebenfalls via Kapitelnummer mit dem Smartphone angereichert werden. Damit in Hamm nicht alle Besucher mit tönenden Apparaten herumgehen, werden Kopfhörer ausgeteilt – und Leihgeräte, falls man selbst nicht ausgerüstet sein sollte.

Eine weitere Besonderheit stößt (!) wahrscheinlich erst Mitte Januar 2020 zur Ausstellung im Lübcke-Museum (neuer Direktor seit dem Sommer: der aus Neuss nach Westfalen gewechselte Dr. Ulf Sölter), und zwar ein veritabler Mammut-Stoßzahn, vor mehreren Jahren just auf Hammer Stadtgebiet gefunden und mittlerweile von Fachleuten des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) museumstauglich aufbereitet. Wie hieß doch gleich die Losung? „Mammuts mag jeder!“

„Eiszeit Safari“. Eine Erlebnis-Ausstellung. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel. 02381 / 17-5714. Vom 1. Dezember 2019 bis zum 5. Juli 2020. Geöffnet Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Heiligabend, Weihnachtsfeiertag, Silvester und Neujahr geschlossen. Eintritt 9 €, ermäßigt 7 €, Familienkarte 22 € (bis zu 2 Erwachsene und 3 Kinder). Umfangreiches Begleitprogramm, u.a. auch kindgerechte Aktionen („Fit für die Eiszeit“) im örtlichen Maximilianpark.

www.museum-hamm.de

 

 

 




„text & talk“, Gedicht und Gebäck – ein sonntäglicher Ausflug zur NRW-Messe der unabhängigen Buchverlage

Büchermarkt - Foto: Herholz

Büchermarkt am Kulturgut Haus Nottbeck – Foto: Herholz

Etwas Melancholie lag bereits über diesem Sonntag, bevor meine Frau und ich uns gestern aufmachten, um im münsterländischen Oelde das Kulturgut Haus Nottbeck zu besuchen. Diese traurige Nachdenklichkeit wollte sich auch kaum auflösen, als wir unter grau verhangenem Himmel mittags in Nottbeck ankamen.

Und das obwohl dieses Kulturgut ein rundum schöner Ort ist, Architektur und Kultur eingebettet in kleinhügelige Obstwiesenlandschaft. Obst, dem man zu dieser Jahreszeit hier nirgends entgehen kann: In Oelde dreht sich Anfang September alles um die markengeschützte Stromberger Pflaume, der Pflaumenmarkt lockt und die neue Pflaumenkönigin heißt Annika I. Asseburg.

Buchmessenzelt – Foto: Herholz

An diesem Sonntag ist auf Haus Nottbeck nicht nur das Kulturcafé dauerhaft geöffnet. Man kann auch draußen unter Sonnensegeln  resp. Regendächern  Gegrilltes erstehen oder eben Pflaumenkuchen, weitgehend wespenfrei.

Der Blick aufs Museum ist von den Sonnenschirmen des Büchermarktes leicht verstellt, vollkommen verdeckt ist das Gartenhaus durch eben jenes weiße Zelt, in dem die Buchmesse logiert. „Buchmesse“ – ein ziemlich groß geratenes Wort für eine Art Partyzelt, in dem 27 Verlage und einige wirklich große Kleinverleger Platz genommen haben. Aber warum soll nicht auch dies hier als „Buchmesse“ firmieren, wo doch heute jeder gewöhnliche Literaturabend gleich Event ist und Gala heißt?

Hier in der Diaspora

Dass hier auf dieser Messe in der Diaspora allerdings Lizenzgespräche stattfänden, Auslandsrechte verkauft, Übersetzungen eingestielt oder Filmrechte verscherbelt würden, dergleichen war nirgendwo zu hören oder zu sehen. Allein einige Autorinnen/Autoren auf Verlagssuche versuchten da und dort ihre Manuskripte loszuschlagen, und nur kurz ihrem eitlen Self-Marketing lauschend schlichen wir uns lieber davon – aus diesem wunderlichen Potemkinschen Zelt in herbstlicher Literaturlandschaft.

Frantz Wittkamp am Stand der Galerie Wittkamp – Foto: Herholz

Bewunderswert umso mehr die Verleger, Mitarbeiter und Freunde, die an ihren Tischen beharrlich auf verständige Leserinnen und Leser warten, vielleicht sogar auf Käufer der ausliegenden Druckerzeugnisse. An einem der belebteren Tische hatte ich Frantz Wittkamp erkannt, dessen Vierzeiler ich so mag:
„Ich möchte etwas Schönes schreiben.
Es müsste auch bedeutend sei.
Ich weiß, man soll nicht übertreiben.
Mir fällt auch Gott sei Dank nichts ein.“
(aus: frantz wittkamp: tage und gedichte. Coppenrath Verlag, Münster 2006)

An anderen Tischen die wackeren Verleger/Herausgeber der münsterschen Literaturzeitschrift „am erker“ oder der Grafiker und Lyriker H.D. Gölzenleuchter (Edition Wort und Bild), der eigene und fremde Texte mit seinen beeindruckenden Holzschnitten illustriert. So gäbe es noch viele zu nennen, die auf diesem heterogenen Marktplatz anwesend waren oder eben leider nicht (wie etwa der Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann oder der Rigodon Verlag mit seinem solitären „Schreibheft“). Auch Verleger und Grafiker aus den Niederlanden waren zu Gast und anscheinend kurzerhand nach NRW eingemeindet wurden auch der Chemnitzer Eichenspinner Verlag sowie der Satyr Verlag Berlin.

Zu lesen beginnen

Das gemischte Kulturgut-Publikum aus Radlerpulks, Familienausflüglern, Flohmarktstöberern allerdings bevorzugte an diesem Sonntagmittag eher den Rundgang über den Büchermarkt in Innenhof und Saal, talkte (vulgo: plauderte) lieber ausgiebig an den Tischen vor dem Kulturcafé. Auch meine Frau und ich ließen uns schließlich zu Krakauer/Bratwurst/Pommes hinreißen und genossen den aufklarenden Himmel, die laue Wärme, das ruhige Treiben im Innenhof. Muße, Leute schauen, Kaffee trinken, zu lesen beginnen.

Verlagstisch – freundlich & hochroth – Foto: Herholz

Während meine Frau sich alsbald in Michael Klaus‘ Roman „Tage auf dem Balkon“ vertiefte (eben erst am Tischchen des Ardey Verlags erstanden), las ich mich fest in „Ein symphonischer Text“ von Leon Skottnik, erschienen im hochroth Verlag. Als europäisches Kollektiv und digitales wie reales Netz vertreibt hochroth mit Standorten u. a. in Bielefeld/München/Wien/Paris weitgehend unbekannte Lyrik aus Skandinavien, darunter auch „Minderheitenlyrik“ wie die der Sámi.

Meine aus dem Ruhrgebiet mitgeschleppte Melancholie allerdings wollte auch lesend nicht wirklich verfliegen, wurde aber immerhin gelindert und befeuert zugleich mit diesen Versen Skottniks:

„Du trinkst deinen Kaffee/ in einem kleinen Restaurant mit großen Fenstern/ Draußen hatte man Galgen aufgestellt/ und knüpfte/ knüpft/ wird die Verlierer aufknüpfen/ Du sitzt vor dem Fenster/ bis du endlich blind wirst/ und die Häuser und Kirchen/ mit einer Kraft zerschlägst/ die nur dir zu eigen ist/ Und mit einer Kraft/ die seinesgleichen sucht/ schleppst du Stein für Stein/ und alle Eidechsen, die darin wohnen/ auf den Felsen zum Brunnen/ eine Stadt errichtend/ In der Hoffnung/ dass Menschen kommen werden um hier zu leben“.
(aus dem Text „Durchführung“. In:  Leon Skottnik: Ein symphonischer Text. hochroth Bielefeld 2018)

 




„Stadtbeschreiber*in 2020“ in Dortmund ausgeschrieben – Halbherziges Sponsoring schlägt kluges Mäzenatentum

Erst hatte das Ruhrgebiet gar keinen Stadtschreiber, nun hat es gleich drei, wenn  auch in wechselnder Gestalt: den Stadtschreiber Ruhr, den Straßenschreiber Oberhausen sowie die neu ausgeschriebene Autorinnen- und-Autoren-ABM in Dortmund, die genderkorrekt als „Stadtbeschreiber*in“ etikettiert wurde. Dieses Literaturstipendium ist nicht allzu schlecht ausgestattet, doch wird der/die „Stadtbeschreiber*in“ kräftig ins Korsett von Marketing und Kulturbetrieb geschnürt – wie so viele Stadtschreiber anderswo auch.

Jürgen Brocan bei der Literaturpreisverleihung Ruhr 2016. Foto: Jörg Briese

Jürgen Brôcan bei der Literaturpreisverleihung Ruhr 2016. Foto: Jörg Briese

Es ist erst wenige Tage her, da hat der Dortmunder Schriftsteller Jürgen Brôcan (Literaturpreis Ruhr 2016) hier bei den Revierpassagen in einer Polemik Dortmund eine Stadt genannt, „die auf ihre Schriftsteller sch….“. Eine Abwasserkanalsanierung und der dazugehörige Lärm machten ihm für Wochen jeden Schreibversuch in seiner Wohnung zur Höllenqual. Brôcan konterte mit Lesungsboykott und buchstäblicher Dortmund-Abstinenz:

„Eins weiß ich aber sicher: Ich werde in Dortmund keine Lesung aus meinen Büchern mehr veranstalten – außer der einen bereits vertraglich vereinbarten – und ich werde keine weiteren Texte mehr über diese Stadt schreiben, die ich mehr als einmal zu einer der interessantesten der Welt erklärt habe; denn ein solches Prädikat verdient sie nicht länger.“

Vollmöbliert

Ganz unabhängig davon, aber vor allem um des guten Rufs, sprich: Stadtmarketings willen, möchte die Stadt  Dortmund jetzt eine „Stadtbeschreiber*innen“-Stelle einrichten: „Deutschsprachige Autorinnen und Autoren sind eingeladen, sich bis zum 30. September 2019 zu bewerben, um im Folgejahr sechs Monate in Dortmund zu leben und zu arbeiten.“
Na, wenn das keine Verlockung ist.
„Es wird eine möblierte Wohnung entgeltfrei in der Nähe des Literaturhauses zur Verfügung gestellt (voraussichtlich von Mai bis Oktober 2020). Das Stipendium beinhaltet eine monatliche Zahlung in Höhe von 1.800 Euro. Es besteht Residenzpflicht während der Dauer des Stipendiums.“

Wohnhaft in DO

Über solche Stipendien ist viel gelästert worden. Obwohl Dortmund hier finanziell (brutto!) mehr bietet als viele andere Stadt(be)schreiber-Anbieter des öffentlich subventionierten Literaturbetriebs, drängt sich eine Frage unweigerlich auf: Wie soll z.B. ein verheirateter Autor aus Berlin oder München die laufenden Kosten für Wohnung, Familie, Steuern, Sozialabgaben und Versicherungen am Heimatort noch angemessen bestreiten, wenn Dortmund den Autor gern für ein halbes Jahr ganz für sich allein hätte – und zwar mit Haut und Haar?

„Das Stipendium wird vom Kulturbüro Dortmund in enger Kooperation mit dem Literaturhaus Dortmund vergeben und fördert die Einführung (sic! GH) des/der Stadtbeschreiber/in in die Stadtgesellschaft und die regionale Literaturszene. (…) Eine engagierte Kontaktaufnahme in die (sic! GH) lokale Literaturszene wird vorausgesetzt und unterstützt (mehrere Lesungen – zum Teil mit anderen Autoren/innen, Zusammenarbeit u.a. mit der Volkshochschule Dortmund, der Stadt- und Landesbibliothek, Schulen und weiteren Akteuren/innen der Stadtgesellschaft).“

Solch Über-Forderungskatalog riecht ziemlich streng danach, dass man sich den Stadtbeschreiber als vogelfreien ledigen Knecht vorzustellen hat, der Formen der Selbstausbeutung unter dem Mäntelchen der Literaturförderung bereitwillig hinnimmt. Dem Schrift- als Bittsteller wäre dann wohl deutlich eher Resilienz als Residenz dringend anzuraten.

Abgestandene Aufbruchsrhetorik und Innovationssimulation

Screenshot „Stadtbeschreiber*in“

„Das Stipendium bezieht sich auf die Transformation der Stadt Dortmund vom Produktionsort der Montanindustrie zum Standort von Wissenschaft, IT, Logistik und Dienstleistungen sowie den damit verbundenen ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen.“

Gemeint ist wahrscheinlich: Das Schreiben des Stipendiaten soll möglichst Bezug nehmen auf … Doch warum sich mit Sprache abmühen, wenn es um Literatur geht? Wundern kann das nur jene, die nicht ahnen, was alles schiefgehen kann, wenn Politik sich in den Kopf gesetzt hat, Literaten zu fördern oder jene Subventionspoeten, die sie dafür halten. Doch es geht immer noch schlimmer:

„Die Ausschreibung richtet sich an Autor/innen, die sich – nicht im Sinne einer Chronik, sondern in literarischer Form – mit der Transformation des Urbanen und ihren Mentalitätsverschiebungen, alternativen Lebensentwürfen und Sinnkonstruktionen im Wandel auseinandersetzen.“ Dass Autoren sich in literarischer Form auseinandersetzen, hätte man getrost voraussetzen dürfen, aber was genau setzt man voraus, wenn man von „Transformation des Urbanen“, „Mentalitätsverschiebungen“ oder „Sinnkonstruktionen im Wandel“ philosophastert? So schnattern Gänse, die dazugehören wollen, jedenfalls zu jenen Gänsen, die auch so schnattern und auch nicht wissen, was sie eigentlich mitteilen wollen. Siehe dazu auch das Imponiervokabular von Urbane Künste Ruhr oder den Jargon der Peinlichkeit bei Ecce.

Sprachmüll und Impuls-Verleih

Ganz im Nebel des Ungefähren entschwindet die Ausschreibung mit den folgenden Worten: „Ihre schöpferische Qualität soll den Diskursen der Neuen Urbanität aktuelle Impulse verleihen.“ Kürzt man diesen Satz, wird der Bullshit nur umso deutlicher: Qualität soll Diskursen Impulse verleihen! Ja, wenn’s weiter nichts ist. Richtig übel aber dürfte es werden, wenn Kommunalpolitiker und Kulturbeamte irgendwann den Stadtbeschreiber an diesem Sprachmüll messen und also einfordern werden, dass er neben ihrer Aufgeblasenheit auch Selbstgeblähtes medienwirksam vertritt.

No content to go, please!

Es ist aber nicht die Aufgabe der Autoren, der Literatur und Literaturförderung, die Schmiermittel für Wirtschaftsförderung und Politikrepräsentation zu liefern. Stadtwerbung, Marketing-Kompatibilität und daraus notwendig folgende Political Correctness waren noch nie Gütekriterien für Literatur, ganz im Gegenteil. Marketing will immer gelungenen Image-Transfer. Städte möchten in der Außendarstellung gern als jung, dynamisch und zukunftsweisend wahrgenommen werden. Literatur ist dies alles bestenfalls mit ironischem Gestus. Literatur spricht eher übers Scheitern, über Abgründe und Krisenverlierer. Mit Literatur ist kein Staat und keine Stadt zu machen, auch keine sofort lösliche Wirtschaftsförderung.

Literatur nützt einer Stadt nicht unmittelbar; am besten wirbt die noch mit toten Autoren, siehe „Goethestadt Bad Lauchstädt“. Bestenfalls aber nützt es einer Kommune, wenn dort eine ästhetisch wie politisch komplexe Literatur entsteht, gelesen und diskutiert wird. So wächst kritisches Selbstbewusstsein der Bürger. Dies zu fördern, setzt allerdings ein mäzenatisches, also Freiräume für Fantasie schaffendes Verständnis von Kunst und Kultur voraus, damit auch souveräne und sprachfähige Politiker, die wiederum selbst zu fördern bereit wären, was uns alle intellektuell nicht unterfordert.




Von der Eiszeit bis zur Digitalisierung – eine umfangreiche Geschichte der Ostsee

Seltsame Wesen sollen einst an den Gestaden der heutigen Ostsee gelebt haben. Der römische Naturforscher und Universalgelehrte Gaius Plinius Secundus Maior (ca. 23-79 n. Chr) vermochte über mutmaßliche Menschen des hohen Nordens freilich nur vom Hörensagen zu schreiben: 

Man erzähle von Inseln, „auf denen Menschen mit Pferdefüßen geboren werden (…) und von anderen, auf denen die Bewohner ihre sonst nackten Körper durch ihre übergroßen Ohren völlig bedecken sollen.“

Klingt ein bisschen spekulativ, oder? Die Landstriche wurden von Süden her erst recht spät entdeckt. Dieser Umstand ließ viel Raum für Phantasien, die das gänzlich Unbekannte und Fremde zu imaginieren suchten. Erst 1539 fertigte der Schwede Olaus Magnus, Bischof von Uppsala und Kartograph, eine einigermaßen brauchbare Landkarte an, die den wirklichen Umrissen schon ähnelt.

Heute wissen wir’s etwas besser. Manche, wie der Kieler Historiker Prof. Martin Krieger (Spezialgebiet: Geschichte Nordeuropas), kennen sich so gut mit der Materie aus, dass sie ein Buch daraus machen, welches über weite Strecken als Standardwerk gelten darf und sich als vorbereitende oder begleitende Lektüre zum nächsten Ostsee-Urlaub empfiehlt: „Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte“ ist eine umfassende Darstellung so gut wie aller Aspekte, die das relativ kleine Meer (es würde ungefähr zweimal in die Nordsee und rund 300 Mal in den Atlantik passen) betreffen. Manches kann freilich nicht tiefgreifend erläutert, sondern nur gestreift werden. Wie denn auch anders?

Lange unter einer Eisschicht verborgen

Zunächst die erdgeschichtliche Dimension: Als im heutigen Frankreich und Spanien schon die Höhlenmaler zugange waren, lastete auf dem späteren Ostsee-Areal noch eine dicke Eisschicht. Die nachfolgende Erderwärmung war dazumal eine günstige Entwicklung, sie ermöglichte Leben und später die dauerhafte Besiedlung des europäischen Nordostens. Die Ostsee-Anrainer hießen später Norddeutschland, Dänemark, Schweden, Polen und Baltikum sowie Finnland, auch gehörte ein Teil Russlands um St. Petersburg hinzu.

Im Vergleich zu südlichen Gefilden des Kontinents war der Nordosten stets mit ziemlicher Verspätung an der Reihe, auch die Christianisierung vollzog sich hier erst mit großer Verzögerung. Kehrseite: Die Gegenden rund um dieses oft stille, zuweilen aber auch tosend gefahrvolle Meer galten mitsamt den Bewohnern als urtümlich. Ein rätselhafter Ostsee-Fund, nämlich eine Buddha-Figur aus dem 6. Jhdt. n. Chr., scheint jedoch darauf hinzudeuten, dass es schon zu jener frühen Zeit keine völlige Isolation von aller Welt gegeben haben kann.

Als Schiffe in Heringsschwärmen steckenblieben

Und so entwirft der Kieler Professor ein historisches Ostsee-Panorama, das über die Stein-, Bronze- und Eisenzeit sowie die (auch nicht so leicht einzugrenzende) Wikingerzeit zunächst bis zur Hanse reicht. Hier halten wir kurz inne. Wir erfahren, dass es sich gar nicht um einen festgefügten Städtebund gehandelt habe, sondern eher um lose Verbindungen ohne Gründungsakt oder übergreifende Verträge. Deshalb könne man auch nicht exakt sagen, welche Stadt zu welcher Zeit dazugehört hat. Jedenfalls begann im 13. Jahrhundert der Aufstieg Lübecks, und die Hansekogge ersetzte alsbald zunehmend die alten Formen der Wikinger-Schiffe, denn in den bauchigen Koggen ließ sich erheblich mehr Ware transportieren, was den aufblühenden Handel begünstigte.

Eine vielleicht nur unwesentlich übertriebene zeitgenössische Darstellung des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus besagt, die Heringsschwärme seien damals so ungeheuer dicht gewesen, dass Schiffe sie kaum durchdringen konnten, manche seien buchstäblich im Fisch steckengeblieben…

Backsteingotik, Reformation und Aufklärung

Und weiter geht’s durch die Epochen: die Zeit des Deutschen Ordens (Besiedlung und Kolonisierung ostwärts), das Aufkommen der Backsteingotik, die auch im Norden furchtbar grassierende Pest, sodann die Reformation, der Dreißigjährige Krieg, der Fernhandel im Zeichen des Kolonialismus (in dem die Ostseeregion wegen der gar zum umständlichen Seewege nach Indien eher eine Nebenrolle spielte). Allerdings gab es auch dänische Sklavenhändler, die Waffen produzierten, für den Gegenwert in Afrika Sklaven kauften, die wiederum auf karibischen Inseln beim Zuckeranbau ausgebeutet wurden. Eine schreckliche Frühform der „Globalisierung“.

Großen Anteil an der Entwicklung eines Regionalbewusstseins (nicht nur rund um die Ostsee) hatte in der Aufklärung Johann Gottfried Herder, der jeder Region einen unvergleichlichen Eigenwert beimaß. Dass mit Immanuel Kant einer der größten Köpfe der Aufklärung just an der Ostsee, nämlich in Königsberg höchst sesshaft war, dürfte sich herumgesprochen haben.

1793 eröffnet mit Heiligendamm das erste Seebad

1793 beginnt eine bis heute reichende Entwicklung, die auch einen Ausgangspunkt des Buches bildet, nämlich die Entstehung der Urlaubsregion Ostsee. Im genannten Jahr eröffnete das Seebad Heiligendamm in Mecklenburg. Auch hierbei pflegte man sorgsam das Bild von der Ostsee als einer unverdorbenen und ursprünglichen Landschaft.

Allerdings ging auch die Industrialisierung nicht spurlos an der Ostsee vorbei. Kanäle und Eisenbahnbau durchschnitten die Landschaft, es wurden große Werften und andere Betriebe gegründet.

Relativ kurz abgehandelt werden die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Dazu heißt es, die Ostsee sei – mit wenigen Ausnahmen (Stichwort: Kieler Matrosenaufstand) – eher ein Nebenschauplatz gewesen. Wahrscheinlich ergibt es ja auch wenig Sinn, im Rahmen einer Gesamtschau näher auf grundstürzende Ereignisse einzugehen, für die man keine einzelnen Kapitel, sondern ganze Bücher braucht.

Weiterer Haltepunkt ist die „Wende“ um 1989, in deren Gefolge rund um die Ostsee alte, im Kalten Krieg abgeschnittene Handelswege wieder bedeutsam wurden. Man kann nur hoffen, dass das so bleibt.

Im Schlussteil, der „Bedrohungen und Chancen der Zukunft“ abwägt, geht Krieger seltsamerweise nicht auf den Klimawandel und einen womöglich ansteigenden Meeresspiegel ein, sondern – für sich schon bedrohlich genug – auf Vermüllung und Überfischung der Ostsee. Und die Chancen? Sieht Krieger vornehmlich darin, dass rund um Helsinki und Stockholm, aber auch in Dänemark und im Baltikum die Digitalisierung rasante Fortschritte mache. Deutschland wird dabei nicht eigens erwähnt…

Übrigens: Gerade angesichts der hervorragenden Druckqualität hätte man sich noch mehr prägnante Bebilderung gewünscht. Vielleicht in einer späteren Auflage?

Martin Krieger: „Die Ostsee. Raum – Kultur – Geschichte“. Reclam Verlag, 296 Seiten mit 7 Karten und 65 Abbildungen, Literaturverzeichnis und Register. Gebundene Ausgabe, Großformat (ca. 27 x 21 cm). 39 €.

 




Vom üblen Abwasserkanal zum munteren Bächlein – eine Radtour entlang der Emscher

Impression vom Emscherquellhof in Holzwickede bei Dortmund. (Foto: Gerd Puls)

Impression vom Emscherquellhof in Holzwickede bei Dortmund. (Foto: Gerd Puls)

Gastautor Gerd Puls über den renaturierten Wasserlauf, der früher so dreckig war wie kein anderer:

Unscheinbar, aber idyllisch. Ein Gehöft, ein Quellteich am Rande Holzwickedes. Emscherquellhof. Zuerst ein paar Tropfen, ein Rinnsal bloß, ein schmaler Bach, ein Graben, mehr nicht. Holzwickede, vor den Toren Dortmunds. Tor zum Sauerland nennen manche ihre schmucke Gemeinde. Gerade mal 17.000 Menschen leben hier, viele pendeln zur Arbeit ein. Im Norden der Dortmunder Flughafen, Stadtteil Wickede, wenige Meter von hier zum Holzwickeder Bahnhof.

Zurück zur Emscher, etwas südlich geht es, der Bachlauf schlängelt sich durch den Ort. An der Sparkasse das kleine Denkmal, die Emscher, Quelle und Verlauf, die Orte rechts und links des Flüsschens, ein Schulkind mit Ranzen, hier geboren, hier zu Haus.

Der Holzwickeder Markt. Nur am ersten Adventswochenende findet hier vor dem historischen Rathaus ein rummeliger, dennoch stimmungsvoller Weihnachtsmarkt statt, ausgerichtet von Holzwickeder Vereinen, Schulen, Organisationen. Zusammengehörigkeit, Heimatverbundenheit, hier trifft man sich. Wen es im Laufe seines Lebens woandershin verschlagen hat, der kommt oft extra zum Weihnachtsmarkt von weither angereist.

Schaurig schöne Anblicke, doch es gibt Abwechslung

Der kleine Emscher-Park, der schöne Baumbestand, an der Kirche vorbei, weiter Richtung Westen. Du kannst prima mit dem Rad die Emscher entlang, lautete die Empfehlung. Emscher-Radweg. In Nullkommanix durch Sölderholz, Sölde, alles längst Dortmund, Aplerbeck, und zack, bist du am Phoenixsee. Also versuch ich es und halte die Augen auf. Schön hier, schaurig schön, manchmal ein wenig uniform und trist bei der dichten Bebauung. Doch Abwechslung gibt es, vom Rad aus gut zu registrieren: alte Industrie, neue Logistikflächen, Straßenzüge, Siedlungen, Wohnblocks und schmucke Einfamilienhäuser.

Die Dortmunder Stadtgrenze ist rasch erreicht, Westfalens größte Stadt, flächenmäßig weit vorne bei Deutschlands Städten. Eine ganze Menge Stadtteile, etliche mit dörflichem Charakter. Von Barop, Brackel, Bövinghausen über Lanstrop und Lindenhorst bis Wambel, Wellinghofen, Westerfilde.

Ich radle. Sölde, Sölderholz, Aplerbeck. Als ich in den 1970ern in Dortmund studierte, Kunst und Pädagogik, schanzte mir ein Professor einen kleinen Auftrag zu. Die Kranich-Apotheke in Aplerbeck möchte ein neues Emblem. Für Briefbögen und Schaufenster, kannst du das machen? Also pingelte ich einen stilisierten Kronenkranich hin für 50 Mark, und der Apotheker hatte ein billiges hübsches Erkennungszeichen, heute noch prangt es in Gold prächtig und filigran an Fenster und Fassade.

Früher hieß es: „Der gehört nach Aplerbeck“

Dann die psychiatrische Landesklinik, später im Lehrerberuf hatte ich hin und wieder dort zu tun. Irgendein gemeinsames Gutachten, ein Kind, dem man dort helfen konnte. Als ich selbst Kind war, klang das manchmal gar nicht schön. Der gehört nach Aplerbeck, hieß es, wenn einer mal ein wenig Unsinn gemacht und über die Stränge geschlagen hatte. Toleranz und Akzeptanz sahen anders aus.

Links der Phoenixsee im Stadtteil Hörde, an Wochenenden beliebtes Ausflugsziel. All die Parkplätze dann knüppelvoll. Ruhrgebietsfreizeit, einmal den Rundweg, oder halb und dann ins Eiscafé. Mit der Emscher hat der Phoenixsee nichts zu tun, sie fließt bloß nah vorbei. Sumpfiges Gelände noch vor 200 Jahren. Eine Mulde, Sumpf, Morast und Mücken. Bevor man hier das gigantische Stahlwerk errichtete, das vor ein paar Jahren dem künstlichen Teich seinen Namen gab. Ein flaches Gewässer, das künstlich mit Sauerstoff versorgt werden muss, damit es nicht umkippt. Von der gewaltigen Stahlschmiede steht längst nichts mehr, nur die Thomasbirne an der Promenade als Wahrzeichen und Erinnerungsstück.

Stahlwerk wanderte von Hörde nach China

Das Stahlwerk ist längst demontiert, ab per Schiff, in China wieder aufgebaut. Hörde, Dortmund, das Ruhrgebiet hat es verkraften müssen. Der Niedergang, Verlust von Kohle und Stahl. Die Hörder Burg, direkt am See, das Gebäude der ehemaligen Stiftsbrauerei, damals die biertrinkenden Mönche, sich zuprostend, fett an der Fassade. Der frühere Dortmunder Dreiklang: Kohle, Stahl und Bier.

Ich sehe mich um. Wohin ist die Emscher entschwunden. Verläuft sie unterirdisch? Nachdem das Stahlwerk platt war, hat der See etwas gebracht für den Stadtteil Hörde. Quadratische Häuser säumen das Ufer, hier wohnen Fußballer des BVB und andere Leute, die es sich leisten können. Moderne Architektur, viel Glas nach Süden hin, Sonnensegel und Weinreben gar. Fast wie im Urlaub, Eisdielen locken. Büroflächen, Gewerbeansiedlungen, die Sparkasse hat ein großzügiges Schulungszentrum errichtet.

Rostiger Hochofen als „Tatort“-Kulisse

Weiter die Pedale treten, es geht durch Hördes Zentrum. Die Überreste von Phoenix West, immer noch eindrucksvolle Industrieruine. Endlos die braunen Backsteinmauern, Hallen sind neu zu nutzen. Flächen reichlich, eine neue, überbreite Zubringerstraße, hier sind Ansiedlungen möglich. Die rostigen Streben des letzten Hochofens locken Fotografen an. Schaurig bizarre „Tatort“-Kulisse bei manchem Sonntagskrimi. Zwischendurch dröhnen Motoren bei illegalen Autorennen, surren ferngesteuerte Drohnen hoch in die Dortmunder Luft. Zeichen dafür, dass man alt geworden ist. Damals, in Kindertagen, als die Emscherbrühe dreckig und stinkend in ihrem Kanalbett schwappte, ließen wir harmlose Papierdrachen steigen.

Neu nebenan die kleine Brauereimanufaktur, Bergmann-Bier, alte Tradition. An guten Wochenenden und wenn Borussia spielt, ist der Schankraum proppenvoll. Das Bier schmeckt gut. Ich könnte noch ein Stück weiter radeln durch Dortmunds Süden, Hombruch, Lütgendortmund, bevor die Emscher das Stadtgebiet verlässt, sich nach Norden windet und doch die Richtung hält, nach Westen, zum Rhein hin.

Bitte keine brüllendheißen Sommer

Besser zurück, für heute reicht es. Bewegung an der frischen Luft. Ein Stück Heimat, ein schöner Weg die Emscher entlang. Früher der dreckigste Fluss überhaupt. 80 Kilometer stinkender Abwasserkanal, Kloake, Köttelbecke. Transportvehikel für Schlamm, Dreck, Gestank und Giftmüll, den es überall gab, wo viele Menschen waren, wo mächtig malocht wurde, egal ob Kohle oder Stahl, Chemie oder sonst was, und bei Hochwasser überschwemmte die übel riechende Brühe ganze Stadtteile. Vergangenheit.

Heute ein munterer Bach, die Abwässer unter die Erde verbannt. Renaturiert lautet das Zauberwort, egal ob in Holzwickede, Aplerbeck, Hörde oder den Ruhrgebietsstädten, die bis zur Mündung folgen.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Sommer nicht dauernd brüllendheiß und knüppeltrocken werden und die Emscher eines Tages versiegt und verschwindet.

Verlauf der Emscher quer durchs Ruhrgebiet – Hinweistafel der Emschergenossenschaft. (Foto: Gerd Puls)

Verlauf der Emscher und der Radstrecke quer durchs Ruhrgebiet, dargestellt auf einer Hinweistafel der Emschergenossenschaft. (© Emschergenossenschaft / Foto Gerd Puls)

 




Das Ruhrgebiet als Heimat – zwischen Grau und Grün, zwischen Solidarität und gelegentlicher Kulturferne

Der Dortmunder Phoenixsee mit Florianturm im Hintergrund. (Foto vom März 2016: Bernd Berke)

Ein weithin sichtbares Beispiel für den Strukturwandel im Ruhrgebiet: Teil des Dortmunder Phoenixsees mit Florianturm im Hintergrund. (Foto, März 2016: Bernd Berke)

Gastautor Heinrich Peuckmann über das Ruhrgebiet als Heimat:

Wenn auf der Kamener Zeche Monopol Kokskohle abgestochen wurde, rannte meine Mutter in den Garten und trug die zum Trocknen aufgehängte Wäsche ins Haus. Kurz darauf segelten nämlich Rußpartikel durch die Luft und wäre sie nicht schnell genug gewesen, hätte sie noch einmal waschen müssen.

Abends schimmerte der Himmel im Westen rosa und wir wussten, dies ist kein Abendrot wie an der Nordsee. Jetzt fließt bei Phoenix in Dortmund wieder flüssiger Stahl aus der Thomasbirne, dort, wo sich jetzt ein wunderbarer See erstreckt. Die Emscher, die in meiner Nähe entspringt, habe ich eines Tages lila gesehen. Giftig lila. Unglaublich, welche Abwässer in den armen Fluss gekippt worden sind. Und die wunderbaren Fußballspiele mit meinen Freunden fanden nie bei strahlendem Sonnenschein statt. Bei uns war es immer diesig.

Integration und Toleranz – sogar für Bayern

Das ist also meine Heimat und da kann ein normaler Mensch nur denken: weg hier, so schnell und so weit wie möglich. Aber ich bin immer noch hier. Was ist los mit mir? Liebe ich verstaubte Luft und eine zerstörte Umwelt? Nein, natürlich nicht. Denn diese Kindheitsbilder sind ja nur der eine Teil des Ruhrgebiets. Jener freilich, der außerhalb als einziges Bild zur Kenntnis genommen wurde und immer noch wird.

Aber das Ruhrgebiet ist mehr als das. Solidarität, oft beschworen, vor allem in den Sonntagsreden von Politikern, gibt es hier wirklich. Ich weiß, wenn ich irgendwann im Dreck liege, kommt jemand angelaufen, um mir zu helfen. Ob es mir nützt, ist eine andere Frage, aber versuchen wird er es.

Solidarität zeigt sich auch beim Umgang mit Migranten, mit den Türken etwa, die hier in großer Zahl leben. Bei uns gibt es keine „Ruhr-Pegida“, undenkbar, bis jetzt jedenfalls. Wir sind doch seit jeher Schmelztiegel. Als es losging mit Kohle und Stahl, sind die Arbeiter von überall hergekommen, aus Schlesien, Ostpreußen und – ja – aus Bayern. Bis heute gibt es hier Alpenvereine, Leute in krachledernen Hosen, die furchtbar schreien, was sie jodeln nennen, aber egal, wir ertragen das. Wie so vieles.

Das Stahlwerk abgerissen, der Phornixsee nur als Großbaustelle vorhanden: Aufnahme vom 18. September 2009. (Foto: Bernd Berke)

Nach dem Abriss des Stahlwerks war das Gelände des späteren Phoenixsees eine Großbaustelle. Aufnahme vom 18. September 2009, Blick vom Florianturm herab.. (Foto: Bernd Berke)

Geholfen bei der Integration hat übrigens der Fußball, was erklärt, weshalb er bei uns eine so wichtige Rolle spielt. Dieser oder jener kam aus Polen und katholisch war er auch noch, aber lass ihn in Ruhe. Der schwärmt für Borussia oder Schalke. Wenn ich heute türkischstämmige Jugendliche nach ihrem Lieblingsverein befrage, nennen sie einen aus dem Ruhrgebiet, dazu einen aus Istanbul. Was dann doch ein Problem aufzeigt. Halb geglückt die Integration, aber noch nicht ganz. Das bestätigt auch die wachsende Zahl an AfD-Wählern, auch wenn dahinter weniger Ausländerhass steckt als eine sich verschärfende soziale Situation. Während Dresden kaum Migranten hat, wir dagegen jede Menge, darunter auch welche, die unsere Freunde sind, ist das Problem bei uns mit deutlich weniger AfD-Wählern immer noch überschaubar.

 

Und wir können Ironie vertragen. Gut, wir verstehen sie nicht immer, das stimmt, aber wenn, dann können wir lachen. Sogar über uns selbst. Wer kann das schon? Dafür nehme ich sogar, schweren Herzens, die Kulturferne in Kauf. „Wat willze mit dat Buch?“

Anquatschen, wie wir das nennen, kann man im Ruhrgebiet jeden. Wir sind offen bis zur Treuherzigkeit. Und grün ist es geworden seit dem Ende von Kohle und Stahl. Oberhausen, eine Stadt mit Rekordverschuldung, gehört zu den grünsten Städten Deutschlands. Als ich eine Gruppe Schriftsteller durch Dortmund führte, habe ich zum Schluss gesagt, dass es einen Satz gibt, den wir nicht mehr hören wollen. „Das ist aber grün hier.“ Wir leben nicht mehr auf der Kohlenhalde, habe ich erklärt. Worauf eine Kollegin antwortete: „Dass es hier grün ist, wusste ich. Aber dass es sooo grün ist …“

Wie kommt es dann, dass ich in meinen Geschichten so gerne vom alten Ruhrgebiet berichte? Ich bin doch kein Nostalgiker, im Gegenteil, ich bin froh, wie schön der halb bewältigte Strukturwandel Teile des Ruhrgebiets gemacht hat. Das ist dann wohl Heimat, denke ich. Denn was sollte sie anders sein als die Erinnerung an eine geglückte Kindheit, selbst in Lärm und Staub?

 

 




In den Teich gesetzt…

Einst war's ein Teich, heute ist es eine Art Steppe im Becken. (Foto im Dezember 2018: Bernd Berke)

Einst war’s ein Teich, heute ist es eine Art Steppe. Im Hintergrund die imposanten Bauten im Eingangsbereich des Dortmunder Hauptfriedhofs. (Foto, Dezember 2018: Bernd Berke)

Zu berichten ist von einer schier endlosen Geschichte des Missvergnügens. Nein, bewahre, wir meinen nicht etwa den „Fortgang“ der Arbeiten am Berliner Flughafen BER. Aber auch etwas, das nicht und nicht fertig werden will.

Es geht um den einst recht schmucken Teich im Eingangsbereich des Dortmunder Hauptfriedhofs, welcher übrigens nach Hamburg-Ohlsdorf der zweitgrößte der Republik * sein soll. Aber das nur lokalpatriotisch nebenbei.

Schon gegen Ende 2016 wurde der bei Friedhofsbesuchern (nicht zuletzt wegen der schwarzen Trauerschwäne) beliebte Teich trockengelegt, weil er zusehends Wasser verloren hatte. Nanu?

Als der Trauerschwan noch übers Wasser glitt. (Foto, Dezember 2015: Bernd Berke)

Als der schwarze Trauerschwan noch übers Wasser glitt. (Foto, Dez. 2015: Bernd Berke)

Langwierig gestaltete sich die Suche nach den Ursachen, einige Zeit kostete auch die vermeintliche Abhilfe, nämlich die Abdichtung von Rissen.

Und tatsächlich. Eines Tages schien es vollbracht zu sein. Ende 2017 ließ man frohen Mutes neues Wasser einlaufen. Doch wieder versickerte es. Wie lautet doch die alte Weisheit: Ein bisschen Schwund ist immer. Jedenfalls war abermals Ursachenforschung angesagt.

Wie die Ruhrnachrichten zwischendurch aufgeregt vermeldeten, rann das Wasser doch nicht – wie bis dato gedacht – durch die Seitenwände, sondern durch Risse im Boden. Aber wo waren die genau?

Und wieder durften Experten ‚ran… Mehr noch: Die Friedhofsverwaltung ließ sogar einen Wünschelrutengänger tätig werden, der prompt eine Wasserader entdeckte, mit deren Hilfe man den Teich irgendwann neu zu befüllen gedenkt. Irgendwann.

Jetzt haben wir Ende 2018. Und noch immer sieht das, was früher ein Teich gewesen ist, erbärmlich aus. Es hat sich im Becken eine ziemlich unansehnliche Vegetation ausgebreitet. Nun verstehen wir auch recht konkret, was die Redewendung bedeutet, man habe etwas „in den Teich gesetzt“.

Dass dort eines Tages wieder Schwäne über einen Wasserspiegel gleiten, vermag man sich kaum noch vorzustellen. Aber wer weiß: Vielleicht schaffen sie es ja sogar noch vor Fertigstellung des Berliner Airports.

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  • * andere Quellen nennen als zweitgrößte deutsche Grabesstätte Stahnsdorf bei Berlin.

Ein Bild aus besseren Tagen. (Foto, Dezember 2015: Bernd Berke)

Ein Bild aus besseren Tagen. (Foto, Dezember 2015: Bernd Berke)

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The times, they are a-changin': Im Juli 2019 ist wieder Wasser drin... (Foto: Bernd Berke)

The times, they are a-changin‘: Im Juli 2019 ist wieder Wasser drin… (Foto: Bernd Berke)




„Stop and Go“: Dortmunder DASA zeigt Ausstellung über Mobilität, Entschleunigung und Stillstand

„Stop and Go": Plakatmotiv der DASA-Ausstellung zur Mobilität. (© DASA)

„Stop and Go“: Plakatmotiv der DASA-Ausstellung zur Mobilität. (© DASA)

…und schon wieder lockt die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA mit einer neuen Schau. Seit September widmet man sich mit „Tüftelgenies“ den Erfindungen der Menschheit (vom Faustkeil bis zum Computer), jetzt geht es auf einem anderen Areal im zweiten Stock des weitläufigen Hauses um Mobilität im vielerlei Hinsicht.

Ein Kasten voller „Knöllchen"... (Foto: Bernd Berke)

Ein Kasten voller „Knöllchen“ (Foto: Bernd Berke)

„Stop and Go“ lautet der Obertitel der insgesamt zehn Themeninseln, die vor allem mit etlichen Audio- und Videostationen animieren sollen. Gleich eingangs kann man sich entscheiden, durch welche Tür man die Ausstellung betreten möchte – je nachdem, ob man mit dem Auto, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad zur DASA gekommen ist; wie denn überhaupt regelmäßig beim individuellen Verhalten angeknüpft wird. Es ist ja ohnehin ein DASA-Bekenntnis: die Leute da abholen, wo sie sind. Projektleiter Philipp Horst und sein Team (Ria Glaue, Luisa Kern, Magdalena Roß) haben das Motto recht konsequent umgesetzt.

Die Lust an der Raserei und der Stau

Die vielfältigen Verkehrsthemen werden nicht nur mit Infos und Statistiken, sondern auch assoziativ umkreist. So reicht das Spektrum beim Kfz von der überwiegend arbeitsbedingten Mobilität (Pendler und Berufe wie S-Bahn-Fahrer) über die Lust an der Raserei, die man im Fahrsimulator oder mit einer Carrera-Bahn gefahrlos erproben kann, bis hin zu allfälligen Staus, deren Entstehung sich hier per Touchscreen virtuell beeinflussen lässt. Ach, könnte man den zähfließenden Verkehr in der Wirklichkeit doch auch so willentlich steuern! Wissenschaftlich belegt ist jedenfalls, dass täglich absehbare Staus längst nicht so stressig sind wie unvorhergesehene.

Wenn Grundschüler ihren Schulweg zeichnen... (Foto: Bernd Berke)

Wenn Grundschüler ihren Schulweg zeichnen… (Foto: Bernd Berke)

Dann also lieber öffentliche Verkehrsmitteln nutzen? Wer sich in diesen Teil der Ausstellung begibt, vernimmt über Kopfhörer einige kleine Erzählungen über Bequemlichkeits-Vorteile und (anregende, peinliche oder gar bedrohliche) menschliche Begegnungen, über Unzulänglichkeiten und Verspätungen. Ja, man bekommt sogar ein paar dosierte Geruchsproben verabreicht – abgestandene Pizza, lästiges Parfüm. Bäh! Nun ja, wenn die Fahrt ansonsten dem Umweltschutz dient… Nachhaltiger als jedes Auto ist natürlich auch das Fahrrad. Freilich veranschaulichen Karten (Rätselspiel: Welche Stadt hat welches Radwegenetz?), dass es meistenteils noch sehr an der Infrastruktur hapert und dass Radfahren im urbanen Raum deshalb ziemlich gefährlich sein kann.

Schaubild in der DASA-Ausstellung: Dandy führt seine Schildkröte spazieren. (Foto: Bernd Berke)

Schaubild in der DASA-Ausstellung: Dandy führt seine Schildkröte spazieren. (Foto: Bernd Berke)

Auch freiwillige und erholsame Entschleunigung wird ins Visier genommen. Kinder haben ihre Wege zur Grundschule nachgezeichnet. Kein Wunder: Wer mit dem Auto gebracht wird, nimmt viel weniger Details aus der Umgebung wahr als die Fußgänger. Derlei Erkenntnisse bekräftigt auch die Promenadologie, jene noch recht junge Wissenschaft vom Gehen. Übrigens: Im 19. Jahrhundert führte manch ein flanierender Dandy wahrhaftig eine Schildkröte spazieren, um zu demonstrieren, wie viel Zeit er zur Verfügung hatte. Schon damals war’s ein Statuszeichnen.

Parkflächen-Wahnsinn

Vorhin war von Staus die Rede. Der zwangsläufig häufig ruhende Verkehr kommt mehrmals vor, beispielsweise auch, wenn es um den Wahnsinn des Parkflächenverbrauchs geht. Alle Besucher können Ideen beisteuern, wie man sonst noch mit all dem Grund und Boden von Straßen und Parkplätzen umgehen könnte: als Bühne für Kreativität nutzen, offen oder heimlich Anpflanzungen vornehmen, bis zum nächsten Regen den Asphalt bunt besprühen… Und was fällt Ihnen ein?

Sinnfällig zudem eine transparente Box mit Hunderten von „Knöllchen“ aus Dortmunder Herstellung. Wer argwöhnt, die Stadt wolle immerzu nur in Bürgers Geldbeutel greifen, wird staunen, wenn er hört, dass jede(r) Kontrolleur(in) pro Tag im Schnitt nur 12 Zettel verteilt. Für die Kommune ist es also ein herbes Minusgeschäft. Es geht eben vorwiegend um „Erziehung“.

Götzendienst am Auto: vergoldeter und mächtig getunter Opel Corsa. (Foto: Bernd Berke)

Götzendienst am Auto: vergoldeter und mächtig getunter Opel Corsa. (Foto: Bernd Berke)

Apropos Pädagogik: Die Grundlinien der Ausstellung laufen auf Abschaffung des herkömmlichen Automobils hinaus, man spürt immer mal wieder mehr oder weniger sanfte Anstöße zur Verhaltensänderung im Sinne der PS-Abstinenz. Umweltverbände dürften sicherlich weitgehend einverstanden sein, die Autolobby wohl weniger. Dabei spielen die übelsten Verpester im Weltverkehr hier noch gar keine Rolle, nämlich Kreuzfahrtschiffe und Flugzeuge.

Viel Stoff auf begrenzter Fläche

Die Auto-Vergötterung wird längst nur noch (allenfalls) mit nachsichtigem Lächeln zur Kenntnis genommen, sie materialisiert sich hier in einem vergoldeten und aufgemotzten Opel Corsa. Ein „Hingucker“, von dem man sich allerdings gern schnell wieder abwendet. Es muss doch wohl schon elend lange her sein, dass so etwas als „cool“ gegolten hat.

Kaum minder auffällige Gegenstücke zum Corsa sind ein nostalgischer VW-Bus von 1972 mit Camper-Zubehör, der für Freiheitsträume nicht nur der Hippie-Generation steht, und ein vielleicht zukunftsträchtiges Solarmobil der Bochumer Uni, immerhin rund 120 km/h schnell und mit erstaunlichen 700 Kilometern Reichweite pro Aufladung. Und da man schon einmal dabei ist, geht’s u. a. noch um Carsharing und autonomes Fahren. Sehr viel Stoff auf relativ kleiner Fläche.

Vielleicht zukunftsträchtig: Solarauto der Bochumer Uni. (Foto: Bernd Berke)

Vielleicht zukunftsträchtig: schnittiges Solarauto der Bochumer Ruhr-Uni. (Foto: Bernd Berke)

Kultverdächtig ist derweil noch ein ganz anderes Automodell: Am Eingang stehen einige Bobby Cars, mit denen höchstens Sechsjährige (die ansonsten thematisch deutlich überfordert sind) durch die Schau sausen und Wimmelbilder auf Kinderaugenhöhe ansteuern dürfen. Ich wage mal die Prognose, dass das Treiben rasch chaotische Formen annehmen kann und gelegentlich reglementiert, wenn nicht gar unterbunden werden muss.

„Stop an Go“. Eine Ausstellung zur Mobilität. DASA (Arbeitswelt Ausstellung), Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25 (Nähe TU / Universität). Vom 26. Oktober 2018 bis zum 14. Juli 2019. Mo-Fr 9-17 Uhr, Sa/So/Feiertage 10-18 Uhr. Eintritt (inklusive Begleitheft): Erwachsene 8 €, ermäßigt 5 €, Schulklassen pro Kopf 2 €. — Tel.: 0231 / 90 71 26 45.

Weitere Infos: www.dasa-dortmund.de

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P.S.: Tags zuvor rein privat mit mehreren Kindern die anfangs erwähnte Ausstellung „Tüftelgenies“ (noch bis zum 31. März 2019) zu wichtigen Erfindungen der Menschheit besucht. Die teilweise pfiffig gemachte Schau bietet einige interessante Einblicke, die vermutlich haften bleiben, sie ist tatsächlich auch schon für Sieben- oder Achtjährige geeignet, allerdings sehr schnell überfüllt.

Gewiss, es war ein museumsträchtiger, weil regnerischer Ferientag, aber nächste Woche kommen dann auch wieder Schulklassen. Es bleibt sich vom Andrang her ungefähr gleich. Eng wird’s vor allem dann, wenn mal wieder mehrere Stationen nicht funktionieren und erst einmal repariert werden müssen. Darf man auf Besserung hoffen?




Wie eine späte Heimkehr: Essener Ruhr Museum zeigt stilbildende Revier-Fotografien von Albert Renger-Patzsch

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Blick in die Ausstellung mit Fotografien von Albert Renger-Patzsch. (© Ruhr Museum / Foto: Rainer Rothenberg)

Über Jahrzehnte hinweg hat dieser Mann den Blick geprägt, mit dem viele Menschen die Landschaft des Ruhrgebiets wahrgenommen haben: Albert Renger-Patzsch (1897-1966) ist wahrhaftig ein stilbildender Fotograf gewesen. Jetzt widmet ihm das Essener Ruhr Museum auf dem Gelände der Zeche Zollverein eine Ausstellung, die just hierher gehört: „Die Ruhrgebietsfotografien“ waren ab Ende 2016 zunächst in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen, jetzt ist die Ausstellung – in stark erweiterter Form – gleichsam heimgekehrt.

Renger-Patzsch, sonst vorwiegend als Auftrags-Fotograf unterwegs, hat die Ruhrgebietslandschaften als sein größtes freies Projekt in Angriff genommen. Es sind keine Ansichten eines kurzfristig Zugereisten. Renger-Patzsch war mit dem Revier vertraut. Der Fotograf lebte von Ende 1929 bis zum Oktober 1944 (als sein Haus bei Luftangriffen zerstört wurde) in der Essener Künstlersiedlung Margarethenhöhe.

Schon vor seiner Umsiedlung ins Ruhrgebiet war der gebürtige Würzburger prominent gewesen, insbesondere durch seinen vielbeachteten Bildband „Die Welt ist schön“ von 1928, der mit Pflanzen-, Tier- und vor allem Objektaufnahmen bereits die neusachliche Sicht auf die Welt kultivierte.

Entdeckung der „Zwischenstadt“

Die jetzt in Essen gezeigten Serien seiner Ruhrgebiets-Aufnahmen sind vorwiegend zwischen 1927 und 1935 entstanden. Im Kontrast zwischen noch ländlichen Stadträndern und gewaltig aufkommenden Industrie-Giganten hat er völlig neuartige Räume bzw. Raum(un)ordnungen entdeckt und festgehalten. Viel später hat man für derlei schwer beschreibliches Niemandsland den Begriff „Zwischenstadt“ verwendet.

Und tatsächlich: Seine Bilder von Zechengebäuden und Halden-Landschaften, Vorstadt-Siedlungen und Schrebergärten zeigen ein damals atemberaubend neues Amalgam aus schwindender Natur und ungeheuerlich wachsender Industrie. Das hat es in dieser Form in ganz Deutschland nicht so beispielhaft monumental gegeben, auch in Europa suchten solche Konglomerate ihresgleichen.

„Fotograf der Dinge“ – wertfrei und objektiv?

Als Fotograf im Umkreis der Neuen Sachlichkeit hat sich Renger-Patzsch (ganz anders als etwa Erich Grisar, dem das Ruhr Museum und im Gefolge die Dortmunder Zeche Zollverein zuvor eine Ausstellung gewidmet haben) absolut nicht für Arbeitsbedingungen oder gar für Klassenkämpfe interessiert. Seine Bilder sind denn auch menschenleer, er ist ein „Fotograf der Dinge“.

Wohl erst mit heutigem Blick sieht man die Trostlosigkeit und die argen Verletzungen, die der Landschaft zugefügt wurden. Renger-Patzsch hingegen hat offenkundig noch den bizarrsten Industrie-Wüsteneien ästhetische Valeurs abgewonnen. Auch das macht diese Bilder so scheinbar zeitenthoben und klassisch. Ja, seine Sichtweise mutet weitgehend emotionslos, „objektiv“ und „wertfrei“ an, doch könnte man gegen die letzten beiden Zuschreibungen eine ganze Menge einwenden.

Ruhrgebiet früherer Zeiten

Es ist dies eine Wiederbegegnung mit dem „alten“ Revier, wie es bis in die 1960er Jahre hinein Bestand hatte, insofern liegen die 20er und 30er gar nicht so immens weit zurück. Die Ansammlungen von Schloten zwischen einer kahlen Baumreihe oder direkt hinter einer Arbeitersiedlung im Essener Nordend wirken durchaus imposant, die zuweilen monströsen Halden haben etwas von großer Geste.

Wertungen sind diesen Bildern allerdings fremd, auch die gewiss dürftigen Häuser wirken wie selbstverständlich hingestellt. Und wenn sich ein Zechenturm samt Schornsteinen direkt hinter einem geduckten Fachwerkhaus erhebt oder einige Kühe vor Schlotkulisse stehen, so sind das beileibe keine kritischen Stellungnahmen, sondern: Es ist, wie es ist.

Keine sonderlichen Schwierigkeiten nach 1933

Jedenfalls war sein bildkünstlerisches Werk auch nach 1933 sozusagen „anschlussfähig“, er scheint in der Nazi-Zeit keine sonderlichen Schwierigkeiten gehabt zu haben und konnte sogar für die paramilitärische NS-Organisation Todt tätig werden. Andererseits hatte er lediglich im Winter 1933/34 einen Lehrauftrag an der Essener Folkwang-Schule für Gestaltung. Hat er sich bewusst entzogen?

Ergänzt werden die zentral präsentierten Ruhrgebietslandschaften mit rund 200 weiteren Fotografien von Albert Renger-Patzsch, die sich in einigen Seitenkabinetten gruppieren und ebenfalls mehrheitlich Vintage-Prints, also Originalabzüge sind. Es handelt sich überwiegend um Auftragsarbeiten, entstanden ab den 1920ern bis in die 1960er Jahre, beispielsweise für die Bochumer Edel-Tischlerei Dieckerhoff oder fürs Museum Folkwang, wo Renger-Patzsch seinerzeit ein eigenes Atelier hatte.

Rare Porträtaufnahmen

Hinzu kommen Aufnahmen der Villa Hügel, des Essener Münsters (Domkirche), der Gartenstadt Margarethenhöhe und von markanten Zechenbauten, nicht zuletzt vom jetzigen Ausstellungsort, der Zeche Zollverein – und aus der kriegszerstörten Stadt Essen. Als sein Haus in der Margarethenhöhe zerstört wurde, zog die Familie zum Künstler Hermann Kätelhön nach Wamel (Möhnesee) bei Soest.

Die Ausstellung, gemeinsam kuratiert von Stefanie Grebe (Essen) und Simone Förster (München), hält noch eine weitere Spezialität bereit: Überraschend für den sonst so sehr auf Dinge fixierten Renger-Patzsch, finden sich auch einige Porträtaufnahmen, die zwar gleichfalls von meisterlichem Handwerk und von Kunstfertigkeit zeugen, aber bei weitem nicht so stilbildend sind wie eben seine (Zwischen)stadtlandschaften. Interessant auf jeden Fall einige der Dargestellten: Die Skala reicht vom berühmten Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus (Hagen, 1920) über Großindustrielle wie Hugo Stinnes (Mülheim/Ruhr, 1930) bis zum 1935 porträtierten jungen Juristen bei den Rheinischen Stahlwerken in Essen. Er hieß übrigens Gustav Heinemann und wurde Jahrzehnte später Bundespräsident.

Kölner Galerie und Münchner Stiftung

Nun soll noch geklärt werden, wer all die fotografischen Schätze gesammelt und bewahrt hat. Es waren Ann und Jürgen Wilde, die schon sehr zeitig Fotografie als Kunst betrachtet und präsentiert haben, als die Marktpreise noch nicht verrückt gespielt haben. Bereits 1974 zeigten sie in ihrer Kölner Galerie Ruhrgebietsbilder von Albert Renger-Patzsch, dessen Werk sie auch hernach gepflegt haben. Seit 2010 ist die Stiftung Ann und Jürgen Wilde der Münchner Pinakothek der Moderne angegliedert, womit sich auch der Ort der Erstausstellung erklärt. Im Ruhrgebiet freilich wird man diese Ausstellung ganz anders rezipieren als an der Isar.

Albert Renger-Patzsch: Die Ruhrgebietsfotografien. Essen, Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181 (Navigation: Fritz-Schupp-Allee, 45141 Essen). 8. Oktober 2018 bis 3. Februar 2019. Geöffnet Mo bis So 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, ermäßigt 4 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie für Studierende unter 25. Katalog (336 Seiten, ca. 200 Schwarzweiß-Abb.) 29,80 €. Weitere Infos: www.ruhrmuseum.de und Tel.: 0201 / 24 681 444.

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Nachbemerkung:

Aus Urheberrechtsgründen mussten die Fotos einzelner Werke zu dieser Ausstellung leider sechs Wochen nach Ende der Schau gelöscht werden. Somit steht jetzt nur noch der Text fast ohne bildliche Anschauung hier – bis auf einen einzige, sehr ungenauen Blick auf Stellwände. Ob wohl auch die Print-Medien Bilder in ihren Online-Auftritten getilgt haben?




Begrenzt verfügbar: Wie Dortmund seine Besucher enttäuscht

„Dortmunder U": Auf der Dachterrasse gibt's nicht mal einen Kaffee. (Foto: Bernd Berke)

„Dortmunder U“: Auf der Dachterrasse gibt’s nicht mal einen Kaffee. (Foto: Bernd Berke)

Reisender, kommst du nach Dortmund, so mach dich auf herbe Enttäuschungen gefasst. Und zwar gerade an gewissen Stätten, die der Alteingesessene seinen Gästen von außerhalb eigentlich gerne zeigen möchte. Eigentlich.

Da wäre zum Beispiel der 1959 als Bundesgartenschau eröffnete Westfalenpark. Herrje, wie war man damals stolz auf dieses relativ weitläufige Grün, als der Pott wirklich noch kochte und ungemein rußte. Und heute? Kann man nie sicher sein, dass die paar Hauptattraktionen des Parks zugänglich oder nutzbar sind. Lange, lange Zeit konnte man nicht mit dem Aufzug auf den Florianturm (ein Hauptwahrzeichen der Stadt) fahren, um vom prinzipiell drehbaren Restaurant oder von einer Plattform aus die tatsächlich phänomenale Fernsicht auf Stadt und Land zu genießen.

Ein weiteres Wahrzeichen der Stadt: der Florianturm im Westfalenpark. (Foto: Bernd Berke)

Weiteres Wahrzeichen der Stadt, auch nicht immer zugänglich: Florianturm im Westfalenpark. (Foto: Bernd Berke)

Schlimmer noch: Die Gastronomie zu Füßen des Turms war zuweilen eine schiere Katastrophe, für die man sich bei seinen Gästen entschuldigen musste (obwohl man ja nichts dafür konnte). Und das mächtige Sonnensegel, unter dem früher Konzerte gegeben wurden? Bereits seit 2012 eine für Besucher gesperrte, baulich marode Schadstelle. Immerhin scheint hier nach beiläufig sechs Jahren Abhilfe in Sicht zu sein.

Es herrscht ein starres Schema

Kurze Impression vom letzten Sonntag, vom Wetter her ein geradezu idealer Tag für den Westfalenpark, auf den man auch mal flexibel reagieren müsste, was die Personalplanung angeht. Doch nein, es herrscht allzeit ein starres Schema. Die Seilbahn-Gondeln fahren – wie so oft – gar nicht, das Park-Bimmelbähnchen macht ebenso vor 18 Uhr Schluss wie der Bootsverleih. Peinlich, peinlich. Der 2. September lag zwar nach den Sommerferien, müsste aber doch noch zur Hauptsaison zählen; zumal, wenn die Witterung so einladend ist. Aber hier gelten rigoros begrenzte, servicefeindliche Arbeitszeiten. Obwohl die Kräfte, die da zugegen sind, wohl vielfach nur aushilfsweise arbeiten. Auskünfte simpelster Art können sie jedenfalls oft nicht erteilen.

Seit etlichen Jahren nicht mehr zu sehen: imposantes Sauriermodell im Naturkundemuseum. (Foto vom Januar 2011: Bernd Berke)

Seit etlichen Jahren nicht mehr zu sehen: imposante Sauriermodelle im Naturkundemuseum. (Foto vom Januar 2011: Bernd Berke)

Dann eben ins Naturkundemuseum? Von wegen! Das einst besucherstärkste Museum der Kommune wird seit etlichen Jahren umgebaut. Und umgebaut. Und umgebaut… Im September 2014 wurde das Haus geschlossen, 2016 wollte man es wieder öffnen. Haha, guter Scherz. Zahlreiche Planungs- und Baupannen führten zu Verzögerungen und entsprechenden Kostensteigerungen. Jetzt geht die Rede, dass es im September 2019 also nun aber wirklich so weit sein soll, dass… Warten wir’s ab.

Oh nein, jetzt bitte keine billigen Vergleichs-Scherze über die „Fertigstellung“ des Berliner Flughafens BER am Sankt-Nimmerleinstag. Und bitte auch keine hämischen Anspielungen auf den Slogan „Dortmund überrascht. Dich.“ Der stimmt halt nicht immer so, wie er gedacht war.

Gekonnte Touristen-Abschreckung

Angesichts solcher Flops mögen vielleicht manche erwägen, ihren auswärtigen Besuch dann eben zum Kultur- und Kreativzentrum „Dortmunder U“ zu lotsen, wo man von der Dachterrasse wirklich interessante Blick-Perspektiven auf die gesamte (Innen)-Stadt erhaschen kann. Doch ach, dort fordert eine schnarrende Lautsprecherstimme dringlich dazu auf, den Ausguck spätestens um 18 Uhr zu verlassen. Auch vorher heißt es schon: bitte Thermoskanne, Bütterken oder dergleichen mitbringen. Denn Gastronomie gibt es dort oben nicht. Welch eine Touristen-Abschreckungsmaßnahme, bundesweit vermutlich einzigartig! Immerhin ein Superlativ, wenn auch nicht allzu werbetauglich.

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P.S.: Der Wahrheit die Ehre: Ein paar andere Anziehungspunkte bleiben natürlich noch übrig – Westfalenstadion mit Stadion Rote Erde, Westfalenhalle, Botanischer Garten Rombergpark, Zoo, Industriemuseum Zeche Zollern, Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Konzerthaus, Oper und Schauspielhaus, Pferderennbahn, Phoenixsee, Hohensyburg, diverse Wasserschlösser und weitere Sehenswürdigkeiten, die nicht in dieser kurzen Aufzählung vorkommen. Oder hakt es da auch irgendwo?




Kleines Genrebild vom Bauernhof

„Ich wollt', ich wär' ein Huhn..." (Foto: Bernd Berke)

„Ich wollt‘, ich wär‘ ein Huhn…“ (Foto: Bernd Berke)

Gar nicht so furchtbar weit von heimischen Gefilden entfernt, doch in einer anderen Welt gelegen: Zwei Wochen Urlaub auf einem Bauernhof in Ostsee-Nähe zeigen einem sehr sinnfällig, wie man sich von naturnahen Vorgängen entfremdet hat. Nicht einmal Kindern mag alles gleich gefallen.

Aufstehen! Ungefähr um 4:30 Uhr krähen lauthals drei bis vier Hähne. Schweine, Kaninchen, Esel, Enten, Rinder, Pferde und Ziegen haben jeweils ihren Platz und tragen im Laufe des langen Tages das Ihre zum allgemeinen Geräusch- und Geruchs-Aufkommen bei. Wie anders und keimfrei liest man’s meistens in den zahllosen Landleben-Magazinen.

Es gibt hier noch etliche Tiere mehr. Wie aufgeregt Hühner rennen können! Wie durchdringend Gänse kreischen können! Wie schnell und kraftvoll ein Esel zu galoppieren vermag! Auch fünf Katzen und fünf Hunde treiben mittenmang ihr Wesen. Die niedlichste, zutraulichste Katze kann auch völlig anders. Sie springt einem Vorstehhund schon mal beherzt auf den Rücken, als wollte sie ihn zureiten. Allzeit kratzbereit.

Und die Menschen? Zwei Helfer sind einander offenbar spinnefeind. „Lass mich in Ruhe, ich muss arbeiten“, raunzt die knorrige P. den öfter mal tagelang sturzbetrunkenen J. an, der in einem Wohnwagen auf dem weitläufigen Hofgelände lebt. Ein Duo, das jedes rustikal polternde Bauerntheater weit hinter sich lässt. Sie erinnern eher schon an den frühen Kroetz – oder gar an Beckett.

Dem Trunkenbold zur Mahnung: Gestern ist einer, der nahebei unter ähnlichen Bedingungen in einem Wohnwagen hauste, am exzessiven Suff gestorben. Ein Stoff wie aus einer Moritat. Die Bauersleute wollen es ihrem derzeit wenig hilfreichen Helfer eindringlich erzählen, auf dass er sich besinne. Auch so ein Narrativ. Zusatzfrage: Darf man jemanden heute noch „Knecht“ bzw. „Magd“ nennen oder ist das im politisch korrekten Sinne verpönt?

Die etwaige Anschaffung eines neuen Traktors ist ein weiteres Thema des Monats. Was bringt das alte Modell noch, was darf das neue kosten? Überhaupt wird notgedrungen hart kalkuliert. Wo gibt es günstige Gelegenheiten? Wo kann man diese oder jene Unterstützung bekommen, wie erhält man spezielle Subventionen? Welche Zimmer kann man vermieten? Wie lange muss das Hofcafé geöffnet bleiben? Auf welchen Märkten muss man präsent sein? Die partielle Missernte dieses Dürresommers verschärft die eh schon angespannte Situation noch. Der Laptop, gefüttert mit allen wichtigen Eckdaten, läuft quasi permanent heiß.

Woher kam eigentlich nochmal das Wort Kultur? Hat es denn nichts mit Kultivieren, also letztlich mit Ackerbau (aka Agrikultur) zu tun?




Durchs „Schwarze Gold“ wurde Europa hell und bunt: Schau auf Zeche Zollverein zelebriert das Kohle-Zeitalter

Bergmann und Grubenpferd als "Arbeitskameraden", Ruhrgebiet, 1937. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok)

Bergmann und Grubenpferd als „Arbeitskameraden“, Ruhrgebiet, 1937. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok)

Im Dezember ist Schicht im Schacht, dann wird mit Schließung der Bottroper Zeche Prosper-Haniel das Steinkohle-Zeitalter im Ruhrgebiet und damit in ganz Deutschland enden. Da sollte man sich noch einmal bewusst machen, was die Kohle eigentlich bedeutet hat. Jetzt gibt es Gelegenheit. Und wie!

Eine geradezu ausufernde Ausstellung in Essen schickt sich an, uns die Sinne zu öffnen, wenn man sich denn von der betäubenden Menge und Vielfalt nicht ins Bockshorn jagen lässt: „Das Zeitalter der Kohle“ heißt sie, laut Untertitel erzählt sie (wohl auch wegen entsprechender Fördermittel) „eine europäische Geschichte“, und zwar so ungefähr seit 1800 bis heute. Die Macher wissen nicht einmal so ganz genau, ob sie nun rund 1000 oder 1200 Exponate zeigen. Ist ja im Endeffekt auch zweitrangig.

Treibstoff der Moderne

Ohne Kohle keine Moderne. Auf diese knappe Formel könnte man den „Parcours“ (so sportlich benennen sie in Essen den Rundgang) auf mehreren Ebenen in der gigantischen Mischanlage der Zeche Zollverein bringen. Beispielsweise hätte es ohne Kohle keine künstlichen Farbstoffe gegeben. Plakativ gesagt: Die Welt wurde bunt, während die Bergleute unter Tage schwarz wurden. Eine grandiose Installation aus etwa 3000 bis 4000 Original-Fläschchen mit derlei Farbstoffen führt das Ausmaß vor Augen. Auch hier hat wohl niemand exakt nachgezählt, es kommt halt auf den optischen Gesamteindruck an.

Aus Kohle entstanden: Tausende Fläschchen mit künstlicher Farbe als Installation in der Essener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Aus Kohle entstandene Substanzen: Mehrere Tausend Fläschchen mit künstlicher Farbe als Installation in der Essener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Die Welt wurde nicht nur bunter, sondern auch heller, denn die Gaslaternen, die damals immer mehr Städte erleuchteten, hätte es ohne Kohle so ebenfalls nicht gegeben. Ohne Kohle und ihre Nebenprodukte wären schließlich auch die Anfänge der modernen Chemie undenkbar gewesen. Da reden wir unter anderem von lebenswichtigen Medikamenten. Und von Düngemitteln. Von Bakelit. Und und und.

Keim des einigen Kontinents

Weit mehr noch: Mit Kohle wurden Dampfmaschinen angetrieben, hernach auch Dampflokomotiven und Dampfschiffe. Also änderte sich die Verkehrs-Infrastruktur grundlegend. Mit Kohle-Energie wurden sodann auch die verheerenden Kriege des 20. Jahrhunderts geführt, Kohle und Stahl galten als besonders „kriegswichtig“. Diesem Aspekt ist ein Extra-Kapitel der Ausstellung gewidmet.

Ein Mobile aus bergmännischen Arbeitsgeräten. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Ein Mobile aus bergmännischen Arbeitsgeräten. (© Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Und wie war das noch mit Europa? Nun, die Kohle, sprich die Gründung der Montanunion im Jahr 1951, stand am Beginn des europäische Einigungsprozesses. Der Impuls, der dahinter stand: Nie wieder sollten auf diesem Kontinent Kriege um Energie geführt werden. Ohne Kohle auch keine EU? Hört sich gewagt an, aber in den Anfängen ist was dran. In Essen kann man jetzt das staunenswert gut erhaltene Gründungsdokument des europäischen Kohleverbundes sehen – u. a. mit den Unterschriften von Robert Schuman und Konrad Adenauer, der nicht als Kanzler, sondern in seiner damals zusätzlichen Eigenschaft als Außenminister signierte.

Gewichtiger Auftakt zur Ausstellung: sieben Tonnen schwerer Kohlebrocken, zumindest der größte in Deutschland. (Foto: Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Gewichtiger Auftakt zum Rundgang: sieben Tonnen schwerer Kohlebrocken, zumindest in Deutschland der größte. (Foto: Ruhr Museum / Deimel + Wittmar)

Gewaltige Geschichten

Man ahnt: Die Bedeutung der Kohle kann schwerlich überschätzt werden, sie hat tatsächlich ein ganzes Zeitalter geprägt, im Ruhrgebiet und anderswo bis tief in die Sozialstrukturen und in den Alltag hinein. Gewaltige Geschichten von Migration, Klassenkämpfen und Naturzerstörung sind hierbei zu erzählen. Was freilich gleichfalls stimmt: Die Kohlegewinnung hat auch einige Waldstücke gerettet, denn sonst wäre viel mehr Holz verbrannt worden.

All diese Phänomene – und einige Verzweigungen mehr – werden in der Schau aufgegriffen, für die das Ruhr Museum und das Deutsche Bergbau-Museum Bochum ihre eh schon gehörigen Kräfte vereint haben, als Hauptförderer tritt zudem die RAG-Stiftung in Erscheinung. Der Gesamtetat beträgt deutlich über 2 Millionen Euro, bei 80.000 Besuchern wäre man finanziell „aus dem Schneider“. Heinrich Theodor Grütter, Chef des Ruhr Museums, wäre sicherlich noch zufriedener, wenn um die 100.000 kämen.

Originellster Zugang zur Schau: die 150 Meter lange Fahrt mit der Standseilbahn, hier ein Blick auf die Strecke. (Foto: Bernd Berke)

Originellster Zugang zur Schau: die 150 Meter lange Fahrt mit der Standseilbahn, hier ein Blick auf die Strecke. (Foto: Bernd Berke)

Zugang auch per Standseilbahn

Falls es so viele Besucher sein werden, so müssten sie sich beim originellsten Zugang per Standseilbahn (150 Meter) gewiss auf längere Wartezeiten einrichten, denn hier können immer nur wenige Leute auf einmal zusteigen. Aber man kann ja auch mit dem Aufzug ganz nach oben fahren, wo die Schau beginnt und dann etagenweise abwärts führt. So geht es sich allemal bequemer, als wenn man „bergauf“ müsste. Außerdem ist es themengerecht, denn man kann sich dabei Gänge und Fahrten in die Tiefe besser vorstellen. Rein theoretisch, versteht sich.

Der immense Aufwand ist jedenfalls angemessen. Denn derart vielfältig ist die Themenpalette, dass natürlich selbst über 1000 Ausstellungsstücke bei weitem nicht ausreichen, das Spektrum in aller Breite und Tiefe darzustellen. So erschöpft sich selbst diese streckenweise strapaziöse Groß-Inszenierung notgedrungen in lauter Hinweisen und Anspielungen, die füglich zu ergänzen wären. Will man mehr Durchblick und Zusammenhang, so wird man sich wohl den Katalog zulegen und/oder eine Führung buchen müssen. Auch wäre ein mehrfacher Besuch ratsam. Dann kann man sich auch eingehender den Grundsatzfragen widmen, wie etwa der, warum Menschen eigentlich auf die wahnwitzige Idee gekommen sind, derart brachial in die Tiefen der Erde vorzudringen.

Technikgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges: Dampfzylinder der Feuermaschine Saline Königsborn (heute Unna), 1797/99. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok - Foto: Rainer Rothenberg)

Technikgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges: Dampfzylinder der Feuermaschine Saline Königsborn (heute Unna), 1797/99. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok – Foto: Rainer Rothenberg)

Kohlegürtel von England bis zur Ukraine

Um 1750/1800 begann zwar in einem europäischen West-Ost-Gürtel, der schließlich von England über Nordfrankreich, Belgien und das Ruhrgebiet bis in die Ukraine reichte, das eigentliche Kohle-Zeitalter mit zusehends intensiverem Abbau. Doch blickt die Ausstellung gleich eingangs noch viel weiter zurück, nämlich um einige Millionen Jahre, als das nachmalige „Schwarze Gold“ ursprünglich aus Farnwäldern entstanden ist. Man hat eine australische Sorte aufgetrieben, die den damaligen Gewächsen recht ähnlich sein soll. Daneben thront ein kolossales Stück Kohle, es ist wohl mindestens das größte in Deutschland, wenn nicht noch weiterer Superlative würdig: Sieben Tonnen wiegt der Würfel, er wäre längst gebröckelt, hielte ihn nicht Epoxidharz zusammen. Das Schaustück wurde – abseits der üblichen Produktion – anno 2016 abgebaut.

Ein Mobile aus Arbeitswerkzeug

So ist man denn eingestimmt auf die Inszenierungen der (Stuttgarter) Gestaltungs-Agentur „Space 4“, die sich beispielsweise ein Riesen-Mobile aus bergmännischem Gerät ausgedacht und implantiert hat. Überhaupt bietet die Ausstellung etliche imponierende Schauwerte und Punkte zum Innehalten. So manches Objekt verströmt überdies die Aura des Authentischen, die über das rein Museale hinausweist. Leitidee im Kernbestand der Ausstellung ist die vielfältige Bedeutung von Feuer, Wasser, Luft und Erde für den Bergbau. Man geht also ganz elementar ans Thema heran.

Lebensrettender Schuh

Welche weiteren Stücke soll man aus der Fülle nun besonders hervorheben? Das Ensemble der historischen Gaslaternen, die über den Köpfen der Besucher schweben? Die Wandtapete mit Darstellung der Eisenbahn von St. Ètienne nach Lyon? Die internationale Gemäldegalerie mit Porträts steinreich gewordener „Schlotbarone“? Die vielen prägnanten Fotografien, die vom Alltag der Bergleute und von nahezu mörderischen Arbeitsbedingungen zeugen? Vielleicht jenen unscheinbaren Arbeitsschuh des Hauers Fritz Wienpahl, der 1930 in der Castroper Zeche Victor verschüttet wurde und just diesen Schuh als lebensrettendes Trinkgefäß verwenden konnte? Die gewaltigen Gerätschaften auf dem Freigelände um die Mischanlage, die als eine Art Skulpturenpark präsentiert werden? Oder jenes Dokument, welches belegt, dass sich schon 1962 in Essen eine Interessengeminschaft gegen Luftverschmutzung im Revier formierte?

Dieser Arbeitsschuh war für den verschütteten Hauer Fritz Wienpahl 1930 in Castrop das lebensrettende Trinkgefäß. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok - Foto: Rainer Rothenberg)

Dieser Arbeitsschuh war für den verschütteten Hauer Fritz Wienpahl 1930 in Castrop das lebensrettende Trinkgefäß. (© Deutsches Bergbau-Museum Bochum, montan.dok – Foto: Rainer Rothenberg)

Wehmut und Zukunft

Doch vergessen wir nicht die eher unspektakulären Momente, die das Ganze einrahmen: Ganz zu Beginn blicken wir in die gleichermaßen erschöpften und stolzen Gesichter von Bergleuten direkt nach der Schicht; am Schluss sehen wir Video-Aufzeichnungen ehemaliger Kumpel, die darüber nachdenken, was das Ende des Bergbaus für sie und für die Region bedeutet. Einer sagt fassungslos: „Da stehsse da. Wat machsse denn jetz?“ Überhaupt vernimmt man da viel Wehmut und Resignation, gegen die all die vielen Kohle-Kulturprojekte dieses Jahres unter dem Strukturwandel-Motto „Glückauf Zukunft!“ angehen wollen. Es möge nützen.

Der Abschied von der Kohle vollzog sich in unseren Breiten übrigens deutlich glimpflicher als in England. Dort fielen die Menschen in der berüchtigten Thatcher-Ära tatsächlich ins „Bergfreie“ und in die Verarmung. Auch dazu gibt es Exponate in Essen, so einen Solidaritätsaufruf aus dem Ruhrgebiet für die britischen Kollegen – und ein Plakat zum Benefizkonzert der Gruppe „Clash“ von 1984.

„Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte“. 27. April bis 11. November 2018. Essen, Unesco-Weltkulturerbe Zeche Zollverein, Areal C (Kokerei), Mischanlage (C 70), Eingang am Wiegeturm, Arendahls Wiese.

Geöffnet täglich Mo-So 10-18 Uhr, Eintritt 10 €, ermäßigt 7 €, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 sowie Studierende unter 25.

Öffentliche Führungen Mo-So 11 Uhr, 90 Minuten, 3€ pro Person plus Eintritt (Infos/Buchungen Tel. 0201 / 24681-444 und per Mail: besucherdienst@ruhrmuseum.de), Audioguide 3 €. Katalog (Klartext Verlag) 24,95 €. Umfangreiches Begleitprogramm mit Vorträgen, Exkursionen usw.

Mehr Infos: www.zeitalterderkohle.de

 

 




Diese wunderbare Vielfalt auf dem Planeten – mit den Reisefilmen auf 3sat wachsen Neugier, Staunen und Verstehen

Jüngst habe ich ein Filmgenre für mich (wieder)entdeckt, dem ich zuvor – aus unerfindlichen Gründen – wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe.

Teilstück der legendären Route 66, die heute abseits der Hauptstrecken liegt. (Foto: © ZDF/SRF, RTS)

Teilstück der legendären Route 66, die heute abseits der Hauptstrecken liegt. (Foto: © ZDF/SRF, RTS)

Es begab sich auf dem Umweg über die Internet-Seite www.sendungverpasst.de Wenn man da einmal zu stöbern beginnt, findet man so allerlei Sehenswertes in den diversen Mediatheken. Ich bin vor allem bei 3sat hängen geblieben, genauer: bei den zahlreichen Dokumentarfilmen über fremde und zumeist ferne Länder.

So bin ich jetzt in wenigen Tagen filmisch nach Tasmanien, Tokio und über die legendäre Route 66 quer durch die USA sowie durch den nordwestkanadischen Polarwinter gereist. Mal schauen, wohin es mich demnächst so treibt, wahrscheinlich erst einmal zum Aufwärmen in die Südsee. Auch wenn das alles natürlich keine echten Reisen ersetzen, sondern bestenfalls anregen kann, nimmt man auf solchen Wegen doch schon ein paar Eindrücke mit.

Von Tasmanien bis kurz vor den Nordpol

Nehmen wir den Filmen die Befunde einfach mal ab: Welche wunderbaren, inzwischen freilich auch schon bedrohten Refugien seltene Tierarten in Tasmanien vorfinden, wie sehr sich Einzelne dafür engagieren! Wie verblüffend regelhaft rund 37 Millionen Japaner in der weiteren Agglomeration von Tokio miteinander und einsamst ohne einander leben, so dass sich viele von ihnen Gesprächspartner(innen) stundenweise mieten, während sie mit ihren direkten Nachbarn oft kein einziges Wort wechseln. Wie staunenswert aufgeräumt und wie wenig aggressiv diese Megalopolis erscheint.

Straße im Tokioter Vergnügungsviertel Kabukicho. (Foto: © ZDF/SR/Stephan Düfel)

Straße im Tokioter Vergnügungsviertel Kabukicho. (Foto: © ZDF/SR/Stephan Düfel)

Und weiter: Was für sympathisch eigenwillige Leute entlang der längst nostalgisch gewordenen Route 66 leben, die durch acht Bundesstaaten von Chicago bis Los Angeles führt. Vergesst mal allen sonstigen Ärger über „die“ Amis, solche Zuschreibungen sind eh meistens Quatsch; hier begegnet man jedenfalls prächtigen Typen! Und wie heroisch die Menschen im äußersten Nordwesten Kanadas irrsinnige Temperaturen mit Blizzards als schiere Alltagszutaten ertragen, so dass sie bei Minus 15 Grad schon aufatmen und den nahenden Frühling wittern. Man sollte daran denken, wenn man das nächste Mal über lachhaft kleine Schneehügelchen jammert.

Mit wachen Sinnen unterwegs

Obwohl 3sat als renommierter Kultursender gilt, sind die vier erwähnten Dokus nicht einmal sonderlich tiefgründig, sie dringen (in jeweils nur rund 45 Minuten) kaum wesentlich in verborgene Schichten des gesellschaftlichen Lebens vor, sie folgen ihren mehr oder weniger vorgezeichneten Spuren aber mit wachen Sinnen und ausgeprägt ästhetischem Sensus, immer bereit, am Wegesrand noch etwas Neues wahrzunehmen.

Jeder dieser Filme bringt Besonderheiten ans Licht, die es so nur in den jeweiligen Gegenden gibt. Doch eines haben sie letztlich alle gemeinsam: Man begreift noch einmal neu die ungeheure Vielfalt auf diesem Planeten, die sich hoffentlich durch jede Globalisierung hindurch fortsetzen wird. Man lernt, verschiedenste Fähigkeiten zu bewundern, etwaige spezielle Schwächen zu verstehen und überhaupt tausend Lebensformen nicht nur zu tolerieren, sondern zu schätzen. Ein Grundgefühl dabei: Freundliche, warmherzige Menschen, die gleich für sich einnehmen, gibt es gottlob überall. Und auch solche, deren Eigenarten oder Schroffheiten man eben zu akzeptieren hat. Dass unser gutes altes Europa bei all dem nicht im Zentrum, sondern gleichrangig neben anderen Weltzonen steht, versteht sich von selbst.

Und nun schaut. Oder noch besser: reist.




Glanz und Elend der Zechen-Ära im Revier – die wehmütige WDR-Dokumentation „Der lange Abschied von der Kohle“

Zahllose Veranstaltungen im Ruhrgebiet werden sich 2018 mit dem Ende der Steinkohle-Ära befassen. Mit der letzten Schicht auf der Bottroper Zeche Prosper-Haniel wird im Dezember nicht nur die Förderung im Ruhrgebiet, sondern zugleich in ganz Deutschland enden.

Drei von vielen: Die Bergleute Bernd Blosze, Matthias Ehmke und Ilhan Yaldiz (von links) zwei Wochen vor Schließung "ihrer" Zeche Auguste Victoria in Marl. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Drei von vielen: die Bergleute Bernd Blosze, Matthias Ehmke und Ilhan Yaldiz (von links) in der Waschkaue – zwei Wochen vor Schließung „ihrer“ Zeche Auguste Victoria in Marl. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Größtes Erinnerungs-Projekt dürfte die gemeinsame Ausstellung des Essener Ruhrmuseums und des Deutschen Bergbaumuseums in Bochum sein. Für einen gewichtigen Jahresauftakt zum Thema sorgt jetzt schon einmal der 90-minütige Dokumentarfilm „Der lange Abschied von der Kohle“ (WDR, 5. Januar 2018, 20.15 Uhr und in der Mediathek).

Werner Kubny und Petra Neunkirchen haben für diesen Film Bergleute durch die letzten Monate vor der Schließung der Zeche Auguste Victoria in Marl (bis zum 18. Dezember 2015) begleitet und diesen Stoff mit etlichen Gesprächen und Geschichten zum Ruhrbergbau angereichert.

Obwohl man es seit Jahrzehnten immer deutlicher kommen sah: Fürs Ruhrgebiet ist das politisch gewollte, endgültige Aus für die Steinkohle wahrhaftig ein historischer Moment und allemal ein Anlass zum Innehalten. Naturgemäß kommen dabei – auch in dieser Dokumentation – Wehmut und eine gewisse Nostalgie auf. Übrigens: Warum läuft ein solcher Film eigentlich nicht zur besten oder wenigstens zur zweitbesten Zeit im bundesweiten ARD-Hauptprogramm?

Dieser großartige Zusammenhalt unter Bergleuten

Ein Leitgedanke bzw. leitendes Gefühl des gesamten Films ist der ungeheure Zusammenhalt unter den Bergleuten – ganz gleich, woher sie kamen. Ein paar türkische Kollegen legen davon Zeugnis ab. Bessere Integration geht schwerlich. Nicht nur „auf Zeche“ selbst, auch in der Nachbarschaft der Kolonie (und in mancherlei Arbeitskämpfen) hielt man unverbrüchlich zusammen. Und man war stolz auf seine Arbeit. Selbst die letzten Lehrlinge in Marl, die sich demnächst andere Jobs suchen müssen, sind bereits von diesem Gemeinschaftsgeist ergriffen und bedauern, dass das alles ein Ende haben wird.

Unter Tage musste sich einer hundertprozentig auf den anderen verlassen können. Das schweißte wohl dermaßen zusammen, dass einer im Rückblick sogar meint: „Das kannste mit dem schönsten Mädchen im Bett nich‘ erleben…“ Über fortschreitende Entsolidarisierung, Ellenbogen-Mentalität und Mobbing in anderen Bereichen der Wirtschaft mag man da am liebsten gar nicht nachdenken. Man sollte es aber!

Als das Revier noch die Triebkraft des Wachstums war

1956, im Jahr der größten Steinkohleförderung, waren im Ruhrgebiet noch 148 (!) Zechen in Betrieb, in denen fast 500.000 Menschen arbeiteten, die für damalige Verhältnisse relativ gut entlohnt wurden. Damals war das Revier mit seinen Berg- und Stahlwerken der stärkste Motor fürs bundesdeutsche „Wirtschaftswunder“. Aus der Keimzelle „Montanunion“ entstand auch der politische und wirtschaftliche Zusammenschluss (west)europäischer Staaten, zuerst als EWG, dann als EG, schließlich als EU.

Gewaltige Anlage, von oben betrachtet: Zeche Auguste Victoria in Marl, Schacht 8. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Gewaltige Anlage, von oben betrachtet: Zeche Auguste Victoria in Marl, Schacht 8. (Foto: © WDR / Werner Kubny Filmproduktion / Bastian Barenbrock)

Schon bald aber, noch in den späten 50er Jahren, wurden im Revier die ersten Feierschichten gefahren und es kam vereinzelt zu Zechenschließungen. Die erste ganz große Krise, die letztlich zur Gründung des Einheitskonzerns RAG (Ruhrkohle AG) führte, erfasste den Bergbau um 1966.

All diese Entwicklungen werden in der WDR-Doku gesprächsweise und mit historischen Filmausschnitten aufbereitet. Gelegentlich mit breit ausladender, feierlicher Musik unterlegt (Komponist Rainer Quade / Bochumer Sinfoniker), hat der Film einige seiner stärksten Momente, wenn die Kamera einfach nur in die Gesichter der Bergleute blickt.

Man möchte pathetisch werden – aber das passt nicht

Man könnte mit einigem Pathos darüber reden und sie als „Helden der Arbeit“ preisen, doch das wäre diesen Menschen nicht angemessen. Sie sind allesamt bodenständig und erdverbunden geblieben, wie es ihr knochenharter Beruf nun einmal mit sich bringt. Sie stehen für das, was das Ruhrgebiet einmal ausgemacht hat. Selbst der hippe DJ aus Gelsenkirchen findet, dass man die alten Zechenbauten als Stätten der Identifikation erhalten solle. Durch Eltern und Großeltern haben viele noch eine Ahnung vom einstigen Revier. Es war schmutzig, aber es war die Heimat.

Dass Kubny und Neunkirchen sich nur durchs westliche und mittlere Ruhrgebiet um Essen, Gelsenkirchen, Bottrop, Duisburg, Herne, Dorsten und Marl bewegen, dass sie das (nord)östliche Revier um Bochum, Dortmund, Lünen, Hamm und Ahlen gänzlich außen vor lassen – geschenkt. Dass sie nicht einmal die Dortmunder Jugendstil-Zeche Zollern mit dem Westfälischen Industriemuseum aufgesucht haben – auch geschenkt. Dass sie als einzigen kumpeltauglichen Fußballverein nur Schalke 04 gelten lassen – ebenfalls zähneknirschend geschenkt. Das müssen sie mit ihrem Gewissen ausmachen.

Der Dreck, die Mühsal, die Unglücke

Sie entschädigen mit grandiosen Aufnahmen der gewaltigen Industrieanlagen, die teilweise dem Verfall preisgegeben sind, teilweise aber auch mit neuem, oft kulturträchtigem Leben gefüllt werden. Andernorts holt sich das Grün die Brachen zurück. Neben solcher Industrie-Ästhetik werden freilich auch die Schattenseiten des einst so dreckig verrußten Reviers nicht verschwiegen. Ein kurzes Kapitel handelt vom schweren Leben der Ruhrgebiets-Frauen, die die Wäsche nur unter größten Mühen sauber bekamen – ohne Maschinenhilfe, dafür aber mit vielen quirligen Kindern auf engstem Wohnraum. Und die Blagen hatten, wie man früher so sagte, mächtig Kohldampf.

Von Staublunge, Unfällen und Unglücken ganz zu schweigen. Einer erinnert sich, sichtlich bewegt, wie er mit den Jahren nach und nach neun Kollegen und Freunde für immer verloren hat. Hier ist nur noch Schweigen angebracht.